Elisabeth Scheibelhofer Raumsensible Migrationsforschung
Elisabeth Scheibelhofer
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Elisabeth Scheibelhofer Raumsensible Migrationsforschung
Elisabeth Scheibelhofer
Raumsensible Migrationsforschung Methodologische Überlegungen und ihre empirische Relevanz für die Migrationssoziologie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Katrin Emmerich VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17826-4
Inhalt
1
Einleitungȹ ........................................................................................................... ȹ9
TEIL IȲ Sozialwissenschaftliche Raumtheorien und Migrationsforschungȹ ..................................................................... ȹ25 Ř
Der Raum und seine steile Karriere im soziologischen Diskursȹ .............. ȹŘ7
Ř.1 Alltägliche Raumannahmen und ihre Fundierung in historischen Raumkonzeptenȹ ................................................................... ȹ28 Ř.Ř Sozialwissenschaftliche Konzepte des Raumsȹ ............................................ ȹ3ū Ř.Ř.1 Annahmen zu Raum in den Anfängen soziologischen Denkensȹ........................................................................ ȹ32 Ř.Ř.1.1 Emile Durkheimȹ......................................................................... ȹ32 Ř.Ř.1.Ř Georg Simmelȹ ............................................................................. ȹ35 Ř.Ř.Ř Das Wiederaufleben der Raumthematik in der Soziologieȹ ............. ȹ45 Ř.Ř.Ř.1 Pierre Bourdieuȹ .......................................................................... ȹ45 Ř.Ř.Ř.Ř Anthony Giddensȹ ...................................................................... ȹ5ū Ř.Ř.ř Neue Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Raumdebatteȹ ............. ȹ54 Ř.Ř.ř.1 Sozialgeographische Raumdebattenȹ ....................................... ȹ54 Ř.Ř.ř.Ř Systemtheoretische Raumüberlegungenȹ ................................ ȹŰū Ř.Ř.ř.ř Phänomenologie und Raumȹ .................................................... ȹŰ4 Ř.Ř.ř.Ś Dritte Räume und die Verflüssigung sozialer Beziehungenȹ ................................................................ ȹŰŰ Ř.Ř.ř.ś Jüngste Entwicklungen in der Raumsoziologieȹ .................... ȹűŪ Ř.Ř.Ś Exkurs: Der Zusammenhang zwischen Zeitund Raumsoziologieȹ ............................................................................. ȹűų Ř.ř Zusammenfassung relevanter raumtheoretischer Annahmen aus Sicht der Migrationsforschungȹ............................................................... ȹ82 Ř.ř.1 Raum als soziales Konstruktȹ ................................................................ ȹ82 Ř.ř.Ř Raum als Machtfrageȹ ............................................................................ ȹ83 Ř.ř.Ř Zur Bedeutung von Kopräsenz für soziale Beziehungenȹ ................ ȹ8Ű Ř.ř.Ś Begriffsklärung für eine raumsensible Migrationsforschungȹ ......... ȹ88
6
Inhalt
ř
Die Raumthematik in der Migrationsforschungȹ ........................................ ȹ9ś
ř.1 Raumbezogene Aspekte in der Geschichte der Migrationsforschungȹ ............................................................................... ȹų5 ř.Ř Reflexion des Raumbegriffs in der zeitgenössischen Migrationsforschungȹ .................................................................................... ȹūū2 ř.Ř.1 Assimilationsforschungȹ ...................................................................... ȹūū3 ř.Ř.Ř Segregation und ethnische Schichtungȹ ............................................ ȹū2ū ř.Ř.ř Integrations- und Multikulturalismusforschungȹ ............................ ȹū2ű ř.ř Die Thematisierung von Raum in der neueren Migrationsforschungȹ .................................................................................... ȹū3Ű ř.ř.1 Die Anfänge transnationaler Migrationsforschung in den USAȹ............................................................................................ ȹū3Ű ř.ř.Ř Unterschiede in der US-amerikanischen und europäischen Transmigrationsforschungȹ ................................ ȹū3ų ř.ř.ř Kritik am Konzept der transnationalen Migrationȹ ......................... ȹū43 ř.ř.Ś Transmigration und Raumkonzeptionenȹ ......................................... ȹū48 ř.Ś Zusammenfassung: Die Raumthematik in der Migrationsforschungȹ .................................................................................... ȹū54 ř.Ś.1 Die Geschichte der Migrationsforschung als Wegweiser in ein absolutistisches Raumdenkenȹ................................................. ȹū54 ř.Ś.Ř Folgen raumspezifischer Homogenitätsannahmen für die Migrationsforschungȹ .............................................................. ȹū5ų ř.Ś.ř Zum Zusammenhang zwischen territorialer Segregation und sozialer Segmentationȹ ................................................................. ȹūŰ3 ř.Ś.Ś Der Beitrag der Transmigrationsforschung zur Reflexion des Raumes in der Migrationsforschungȹ ................ ȹūŰ5 TEIL II Entwicklung einer raumsensiblen Migrationsforschungȹ ............. ȹūŰű Ś
Methodologische Bemerkungenȹ ................................................................. ȹ169
Ś.1 Empiriebasierte Theoriebildung der Grounded Theoryȹ ......................... ȹūŰų Ś.Ř Die handlungstheoretischen Annahmen des Symbolischen Interaktionismusȹ ........................................................... ȹūű2 Ś.ř Zur Unterscheidung zwischen den Perspektiven der Untersuchten und den Perspektiven der SozialwissenschaftlerInnenȹ................................................................... ȹūű4
Inhalt ś
7
Raumsensible Migrationsforschungȹ........................................................... ȹ177
ś.1 Handlungsleitende Raumkonzepte der Untersuchten im Alltagshandelnȹ ......................................................................................... ȹū82 ś.1.1 Essentialistische Raumkonzepteȹ ....................................................... ȹū83 ś.1.Ř Relationale Konzepteȹ .......................................................................... ȹūų3 ś.1.ř Konstruktivistische Konzepteȹ ............................................................ ȹ2ŪŪ ś.1.Ś Zusammenfassungȹ .............................................................................. ȹ2Ū8 ś.Ř Raumkonstruktionen der MigrationsforscherInnenȹ ................................ ȹ2ūŪ ś.Ř.1 Essentialistische Raumkonzepteȹ ....................................................... ȹ2ūū ś.Ř.Ř Relationale Konzepteȹ .......................................................................... ȹ222 ś.Ř.ř Konstruktivistische Konzepteȹ ............................................................ ȹ235 ś.Ř.Ś Zusammenfassungȹ .............................................................................. ȹ24ų ś.ř Systemimmanente Raumkonzeptionenȹ ..................................................... ȹ25ū ś.ř.1 Der Nationalstaat und seine sozialen Institutionenȹ ....................... ȹ252 ś.ř.Ř Ein alternativer analytischer Zugang: Der Skalingansatzȹ ............. ȹ25ų ś.ř.ř Zusammenfassungȹ .............................................................................. ȹ2űū 6
Zusammenfassungȹ ........................................................................................ ȹŘ77
6.1 Ein raumsensibler Forschungsansatz in der Migrationsforschungȹ ......................................................................... ȹ2űų 6.1.1 Raumsoziologische Differenzierungenȹ ............................................ ȹ2űų 6.1.Ř Reflexionsebenen einer raumsensiblen Methodologie in der Migrationsforschungȹ ............................................................... ȹ284 6.1.ř Graphische Übersicht zu den Analyseebenen in der Migrationsforschung und Raumannahmenȹ ......................... ȹ2ų4 6.Ř Das Potential einer raumsensiblen Migrationsforschung im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursȹ...................................... ȹ2ųű Bibliographieȹ ......................................................................................................... ȹŘ99 Verzeichnis der GraphikenȲ ...............................................................................Ȳř17
1
Einleitung
Im Zuge eines Forschungsprojektes zur Frage der Mobilitäts- und Migrationsperspektiven von WissenschaftlerInnen, die zum Interviewzeitpunkt im Ausland arbeiteten, konfrontierte mich eine Interviewpartnerin mit einer Aussage, die mir zum damaligen Zeitpunkt unverständlich war und die mit ein Ausgangspunkt für meine Beschäftigung mit dem Thema sozialwissenschaftlicher Raumtheorien geworden ist. Frau Jungwirth1 schilderte im Laufe dieses Gesprächs die Schwierigkeiten, die ihre Lebensführung mit sich brachte: Seit mehr als zehn Jahren spielte sich ihr Alltag in vielfältiger Weise sowohl in New York als auch an verschiedenen Orten in Österreich ab. Dies brachte nicht nur eine aufwändige Reisetätigkeit für sie mit sich, sondern auch hohe organisatorische Ansprüche. Anschließend an eine ausführliche Schilderung der damit verbundenen Lebensumstände meinte sie: VJ: Natürlich, dieses Dilemma zwischen Österreich und New York und wo leben und hin und her und wo in der Zukunft is etwas, das sich als roter Faden natürlich durchgezogen hat und aa immer wieder Probleme aufwirft, nur – wie sehr genau diese Frage a konstruierte aa is – des hab i vorher überhaupt nie des war – des war ganz a – ES: wie sehr genau diese Frage auch eine konstruierte is VJ: ja, also wie sehr ich die Geographie auch als solche als Kategorie konstruier in meinem Leben und als zwei Polaritäten heraus arbeit und – genauso konstruier wie alle also (…) i sehe Wien als ein Komplex, als ein Cluster, produzier und polarisier von dem, was für mich New York darstellt. Das is natürlich genauso konstruiert wie wie alles andere. (Interview mit Vera Jungwirth, S. 4Ű)
Das Erstaunliche an dieser Aussage ist, dass Frau Jungwirth trotz ihrer alltäglichen Betroffenheit aus einer Metaperspektive heraus die eigene Konstruktionsleistung thematisiert. Diese Konstruktionsleistung ist es, welche die 1Ȳ Die Namen sind anonymisiert, nähere Angaben zu dem Forschungsprojekt finden sich in Kapitel ś.
E. Scheibelhofer, Raumsensible Migrationsforschung, DOI 10.1007/978-3-531-94007-6_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1ȳEinleitung
Räume erschafft, die als „Polaritäten“ herausgearbeitet werden und schließlich die Grundlage für das Handeln von mobilen Personen wie WissenschaftlerInnen und MigrantInnen (wobei sich diese Gruppen durchaus überschneiden können) bildenŘ. Diese Aussage von Frau Jungwirthř sowie meine parallele Beschäftigung mit transnationaler Migration und der Auswanderung von ÖsterreicherInnen in die USA haben schließlich in das vorliegende Buch gemündet, in dem ich eine raumsensible Methodologie für die Migrationssoziologie vorschlageŚ. Dieser methodologische Ansatz beruht darauf, eine raumtheoretische Reflexion auf allen Analyseebenen der Migrationsforschung beispielhaft in dessen Konsequenzen zu beschreiben. Damit wird ein Beitrag dazu geleistet, momentan in der einschlägigen Literatur diskutierte methodologische Schwierigkeiten zu überwinden. Zu diesen zählt allen voran der methodologische Nationalismus (Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2), der „nationale“ Blick (Beck 2ŪŪ2) oder auch das Problem des „nationalen Gruppismus“ (Brubaker 2ŪŪű). Diese Beiträge der letzten Jahre haben gemein, dass sie die national bzw. ethnisch fokussierte Herangehensweise von SozialwissenschaftlerInnen auf Migrationsthemen kritisierenś. Nationale bzw. ethnische Einschränkungen der Forschung stehen dabei in einem klaren Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte der Sozialwissenschaften6 und der Migrationsforschung im Besonderen (wie später noch genauer beschrieben wird). Doch empirische Forschung hat gezeigt, dass
ŘȲ Dabei ist hier bereits als Vorgriff auf die folgenden Überlegungen aus raumsoziologischer Perspektive anzufügen, dass diese Raumkonstruktionen in einer Wechselbeziehung mit gesellschaftlichen Verhältnissen stehen und daher nicht von einzelnen AkteurInnen beliebig erdacht werden. řȲ Eine detaillierte Analyse dieses Fallbeispiels findet sich in Kapitel ś.1.1 des vorliegenden Buches. ŚȲ Das vorliegende Buch basiert dabei auf der Ř009 an der Universität Wien, Fakultät für Sozialwissenschaften eingereichten Habilitation. śȲ Die Beiträge in den hier angesprochenen Debatten beziehen sich auch auf andere Bereiche sozialwissenschaftlicher Forschung. Aufgrund des spezifischen Interesses der vorliegenden Arbeit wird auf diese Bereiche hier jedoch nicht eingegangen. 6Ȳ Gerade in der Migrationsforschung ist die Forderung nach interdisziplinärem Arbeiten kein leeres Schlagwort geblieben. Aufgrund des Charakters von Migration und Lebenswirklichkeiten von Personen mit Migrationshintergrund haben viele sozialwissenschaftliche Disziplinen (neben der Soziologie sind hier insbesondere die Politikwissenschaft, Anthropologie, Psychologie, Sprachwissenschaft und die cultural studies im englischsprachigen Raum zu nennen) wichtige Erkenntnisse geliefert. Im Folgenden ist daher meist von (sozialwissenschaftlicher) Migrationswissenschaft die Rede, teilweise auch von der Migrationssoziologie, so die Argumentation Besonderheiten des soziologischen Diskurses rund um Migration betrifft.
1ȳEinleitung
11
MigrantInnen häufig in sozialen Verflechtungszusammenhängen leben, die sich territorial betrachtet nicht innerhalb eines Nationalstaates befinden. Diese methodologischen Problematiken werden momentan zunehmend in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Themenfeldern diskutiert, der Beitrag eines raumtheoretisch fundierten Standpunktes diesbezüglich wurde jedoch bislang noch nicht systematisch beleuchtet. Um diese methodologischen Schwierigkeiten zu bewältigen, mache ich für die Migrationsforschung daher den Vorschlag, Raumannahmen in der Migrationsforschung während des gesamten Forschungsprozesses zu reflektieren. Darunter ist zu verstehen, dass MigrationsforscherInnen raumtheoretisch informiert Forschungsinteressen formulieren, Datenerhebungsinstrumente entwerfen und die Daten entsprechend auswerten, sowie die Ergebnisse ebenfalls auf die jeweils rekonstruierten Raumannahmen der AkteurInnen und die damit verbundenen soziale Folgen beleuchten. Inwiefern ein derartiges raumsensibles Vorgehen zu neuen Einsichten beitragen kann, zeigt etwa das Beispiel von Untersuchungen zur Zweiten Generation von MigrantInnen7, die aufgrund theoretischer Vorannahmen davon ausgehen, dass Hinweise auf eine binationale Orientierung ausschließlich zu Defiziten für eine erfolgreiche Ausgestaltung der Lebensbezüge im Ankunftsland (der Eltern) führen. In derartigen Überlegungen wird deutlich, dass ausschließlich ein nationaler Rahmen für soziale Beziehungen von vornherein angenommen wird und gleichzeitig die Ressourcen einer Person als prinzipiell limitiert konzipiert werden. Daher werden soziale Beziehungen in das Herkunftsland bzw. mit Angehörigen derselben ethnischen Minderheit oder das Erlernen der Herkunftssprache bereits als Fehlinvestitionen interpretiert, was einen sozialen Aufstieg und die umfassende Integration in einen Nationalstaat verhindere. Derartige Arbeiten ruhen auf einem impliziten Verständnis von Nationalstaaten als soziale Container auf, was zur Folge hat, dass hiervon abweichende relevante soziale Räume der AkteurInnen selbst in der Forschung kaum als solche repräsentiert werden können. Dabei ist unbestritten, dass MigrantInnen Situationen des „Dazwischen“ und der mangelnden Zugehörigkeit als große Belastung empfinden können und aus derartigen Situationen soziale Exklusion resultiert. Eine Reflexion der gängigen Raumannahmen in der Migrationsforschung kann jedoch dazu führen, die Heterogenität migrantischer Lebenswirklichkeiten adäquater zu repräsentieren, was bedeutet, dass multiple Zugehörigkeiten und uneindeutige Positionierungen auch positive Aspekte für die Untersuchten beinhalten können. Ähnliches gilt 7Ȳ
Genaue Ausführungen zu dieser Thematik finden sich in Kapitel ś.Ř.1.
1Ř
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für neue Formen der WanderungŞ und Mobilität: MigrationsforscherInnen haben häufig Schwierigkeiten damit, die Vielfältigkeit von Wanderungs- und Bewegungsformen analytisch zu erfassen, da die sozialen Beziehungen und entscheidenden Faktoren für Migration und Mobilität häufig in einem komplexen räumlichen, politischen, historischen und sozialen Zusammenhang stehen. Raumtheoretisch informierte Zugänge zu Migration können hier helfen, die empirisch beobachtbaren Realitäten adäquater zu erfassen, als dies momentan häufig geschieht. Aufbauend auf diesen Analysen lautet mein Vorschlag daher, eine raumsensible methodologische Vorgehensweise zu wählen, die auf drei Reflexionsebenen angesiedelt ist: ȡ
Auf der Ebene der SozialwissenschaftlerInnen; hier erhebt sich die Frage, mit welchen Raumannahmen Migrationsforschungen durchgeführt wird; Auf der Ebene der untersuchten Personen; dabei stellt sich die Frage, mit welchen (großteils) impliziten Raumannahmen MigrantInnen und hochmobile Personen operieren und welche Handlungsspielräume sich dadurch für sie eröffnen; Auf der Ebene sozialer Systeme; auf dieser strukturellen Dimension zeigt sich, dass wohlfahrtsstaatlichen Regelungen und Zuwanderungsregelungen meist nationalstaatliche, containerhafte Raumannahmen zugrunde liegen. Dies hat wiederum direkte Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten der MigrantInnen.
ȡ
ȡ
Diese von mir eingeführte Begrifflichkeit der „raumsensiblen Migrationsforschung“ wäre jedoch nicht anschlussfähig, würde sie nicht auf die bereits existenten theoretischen Überlegungen aus der Raumsoziologie und anderen raumtheoretisch engagierten sozialwissenschaftlichen Disziplinen zurückgreifen. Diese reichhaltigen Wissensbestände sind bislang in der Migrationssoziologie nicht systematisch diskutiert worden, weshalb das Buch auch an dieser Stelle Neues in die migrationssoziologische Diskussion einbringt. Trotz des Neuigkeitswertes des hier vorgestellten methodologischen Argumentes baut die vorliegende Arbeit auch auf einer Vielzahl von existierenden migrationsspezifischen Vorarbeiten auf. Die Bezugnahme auf den Raum in der Migrationsforschung könnte vor dem Hintergrund eines sozialwissenschaftlich unspezifischen Raumverständnisses (im Gegensatz zu dem hier vorgestellten raumtheoretisch differenzierten und somit raumsensiblen Ansatz) ŞȲ
Die Begriffe Wanderung und Migration werden im Folgenden synonym verwendet.
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1ř
kaum mehr einen Neuigkeitswert beanspruchen: So stellte Wilbur Zelinsky in einem anderen Zusammenhang bereits vor einigen Jahrzehnten fest, dass die Migrationsforschung ein nachhaltiges Problem aufgrund ihres raumtheoretisch unreflektierten Raumverständnisses hat: Throughout the migrational literature, space is almost always treated as an absolute, with distances between points reckoned as constant. (Zelinsky ūųűū, 22Ű)
Die Migrationsforschung zeichnet sich so über weite Strecken bis heute durch eine gerade in der Soziologie verblüffende raumtheoretisch unspezifische Vorgehensweise aus. So finden sich in kaum einer migrationssoziologischen Arbeit explizite Überlegungen zu den Raumkonstruktionen, mit denen die ForscherInnen selbst an die Arbeit gegangen sind, noch über die (impliziten) Raumannahmen und deren strukturierende Wirkungen auf die untersuchten AkteurInnen. Diese Diagnose ist umso bemerkenswerter als der Forschungsbereich der Raumsoziologie in den letzten Jahren durchaus an Bedeutung und damit Sichtbarkeit zugenommen hat. Allgemein formuliert ist es dabei die Zielsetzung raumsoziologischer Forschung, zu Erkenntnissen über neue Formen der Vergemeinschaftung zu gelangen (vgl. Noller 2ŪŪŪ, 44). Der sog. „spatial turn“ (vgl. etwa Döring und Thielmann 2ŪŪ8; Soja ūųųų) hat inzwischen viele Bereiche der sozialwissenschaftlichen Forschung erfasst und verändert. Gerade in der kulturwissenschaftlichen Forschung ist die Beachtung und Bearbeitung von Raumfragen in den letzten Jahren zu einem in unterschiedlichsten Subdisziplinen bearbeiteten Feld geworden. Der Großteil der Migrationsforschung hat sich hingegen kaum mit dem Raum als relationalem und somit sozialem Konstrukt auseinander gesetzt. Daher ist auch in der Migrationssoziologie meist nach wie vor unreflektiert von essentialistisch gedachten und erlebten Räumen die Rede – etwa dem Nationalstaat oder den lokalen Lebensräumen von MigrantInnen. An dieser Stelle lässt sich auch ein Zusammenhang mit der Kritik am methodologischen Nationalismus9 der Migrationsforschung herstellen, wie sie etwa von Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller (Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2) formuliert wurde. Sie haben in ihrem viel beachteten Artikel dargelegt, wie die gängi-
9Ȳ Der Begriff des methodologischen Nationalismus geht in der momentanen Diskussion auf Anthony Smith (Smith 1979, ŞŞ und 191) zurück – welcher in seiner Begriffsbildung wiederum auf die Arbeit von Herminio Martins „Time and Theory in Sociology“ in „Approaches to Sociology. An Introduction to Major Trends in British Sociology“ (J. Rex als Herausgeber, erschienen bei Routledge, London, 197Ś) verweist (vgl. Smith 1979, Ř1ś).
1Ś
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ge Integrations- und Assimilationsforschung theoretisch und empirisch von staatszentristischen Annahmen ausgehen und somit Lebensrealitäten vieler MigrantInnen nicht (zur Gänze) adäquat abbilden können. Inzwischen ist eine Debatte darüber im Gange, wie sich der methodologische Nationalismus manifestiert und wie er sich in der empirischen Forschung vermeiden lässt10. Interessanterweise sind dabei die Möglichkeiten, die sich durch eine raumsensible Migrationsforschung auftun, bislang nur von einigen wenigen MigrationsforscherInnen thematisiert worden. Im Unterschied zu der hier vorliegenden Arbeit wurden dabei bislang entweder grundlegende Analysen zu Raum vorgestellt und auf Migrationsphänomene bezogen bzw. einzelne raumtheoretische Konzepte aufgegriffen und für die Bearbeitung migrationsspezifischer Fragestellungen herangezogen (Caglar 2ŪŪŰ; Faist 2ŪŪ4a; Glick Schiller 2ŪŪų; Mitchell ūųųű; Pries ūųųŰ; Pries 2ŪŪ8; Voigt-Graf 2ŪŪ4). Ein methodologischer raumsensibler Zugang wie er in dem vorliegenden Buch vorgestellt wird, liegt bislang jedoch nicht vor. Dabei werden die negativen Folgen der bisher gängigen raumunspezifischen Migrationsforschung seit Längerem diskutiert: Die Lebenswirklichkeiten vieler MigrantInnen, die etwa zwischen zwei Ländern hin- und herpendeln, werden so in der klassischen Migrationssoziologie nur am Rande wahrgenommen; auch die Frage der Auswirkungen transnationaler Lebensstile kann auf diese Art und Weise nicht adäquat erfasst werden. Gleichzeitig mangelt es selbst in der Transmigrationsforschung an einem raumsensiblen Vorgehen, wobei auch hier die bereits oben erwähnten AutorInnen die Ausnahme von der Regel sind: So hat sich etwa Ludger Pries in einer Reihe von Publikationen mit dem Zusammenhang zwischen geographischen und sozialen Räumen in Bezug auf Migration auseinander gesetzt vgl. Pries ūųųŰ; ūųųű; 2ŪŪūa; 2ŪŪ5; 2ŪŪ8); auch Thomas Faist und seine Überlegungen zu transstaatlichem (Faist 2ŪŪŪa; Faist 2ŪŪū) und sozialem Raum (Faist 2ŪŪ5) sind an dieser Stelle zu nennen (bezogen auf Migration siehe auch Faist ūųųų; Faist 2ŪŪ4a), sowie die skalierungstheoretischen Forschungszugänge, die Nina Glick Schiller (Glick Schiller 2ŪŪ8) und Ayse Caglar (Caglar 2ŪŪŰ) für die Migrationsforschung angewandt haben (zuletzt auch in einem gemeinsamen Sammelband (Glick Schiller und Caglar 2ŪūŪ).
10Ȳ Dies wird etwa deutlich in den einschlägigen Publikationen von Daniel Chernilo (Chernilo Ř006; Chernilo Ř007) und einschlägigen momentan aktuellen Programmen für soziologische Konferenzen (vgl. etwa das Programm des RC0ś bei der International Sociological Association Konferenz im Juli Ř010 in Göteborg oder die internationale Konferenz der Bielefeld Graduate School mit dem Titel „Beyond Methodological Nationalism“ abgehalten im April Ř010).
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1ś
In diesem Kontext ist auch die nach wie vor bestehende Bedeutung des Nationalstaats hervorzuheben. Weder im Diskurs rund um Transnationalismus noch um die Bedeutung von sozialen Räumen und deren Veränderung geht es somit darum, die nicht zu unterschätzende Bedeutung des Staates für MigrantInnen, deren Organisationen und das gesamte Migrationsgeschehen herab zu setzen. Aufgrund der im Forschungsbereich der Transmigration untersuchten empirischen Phänomene bieten sich in diesem Zugang besonders raumtheoretische Zugänge an. Das Gros der Transmigrationsforschung begnügt sich jedoch damit, nun nicht mehr nur einen einzigen nationalstaatlichen Container als Lebenswelt und Begrenzung sozialer Beziehungen von MigrantInnen zu betrachten, sondern (meist) zwei derartige Räume anzunehmen – ohne jedoch die Raumkonzepte, die mit derartigen Formen der Migration verbunden sind, genauer zu untersuchen. Somit reihen sich auch die meisten Forschungen im Bereich der transnationalen Migration in die raumunspezifische Vorgehensweise ein, die sich in der Migrationsforschung allgemein findet. Dies fällt bereits daran auf, dass es an einer Bestimmung dessen fehlt, was einen sozialen Raum ausmacht und wie er in die soziologische Analyse mit einbezogen wird. Diese Fragen sind zwar in jeder soziologischen Analyse relevant, im Fall der Migrationssoziologie sind sie es allerdings noch offensichtlicher als in anderen Bereichen. Somit werden in der Migrationssoziologie momentan meist soziale Praktiken analysiert, die Personen miteinander verbinden, welche sich zum Teil geographisch gesehen weit entfernt voneinander aufhalten; aufgrund dieser empirisch beobachtbaren Umstände haben wir es wie bereits erwähnt auch mit Analysen zu tun, die neue soziale Räume konstatieren, welche sich aus diesen Interaktionen aufbauen. Dabei beschränkt sich die Migrationsforschung keineswegs ausschließlich auf die Ebene der AkteurInnen, sondern beschäftigt sich ebenso mit meso- und makroanalytischen Fragestellungen. In diesem Zusammenhang wird auch auf Prozesse der Globalisierung hingewiesen, wobei darunter die Zunahme der sozialen, ökonomischen und ökologischen Verflechtungszusammenhänge (Elias ūų8Ū, (1939), 3ū4) zwischen Menschen, Gruppen und Regionen gemeint ist11. Der Begriff der Globalisierung exis11Ȳ
Norbert Elias hat den Begriff der Verflechtungszusammenhänge folgendermaßen definiert: „Pläne und Handlungen, emotionale und rationale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander. Diese fundamentale Verflechtung der einzelnen, menschlichen Pläne und Handlungen kann Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Inderdependenz der Menschen, ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine
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tiert zwar bereits seit den ūųŰŪer Jahren, doch erst in den ūųųŪer Jahren hat sein Höhenflug im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs begonnen (Dürrschmidt 2ŪŪ2, ű). Inzwischen sind die Beiträge und Diskussionsstränge kaum mehr zu überblicken, die sich rund um die Globalisierungsdebatte aufgefächert haben – wobei Gleiches für die inzwischen zwei Jahrzehnte lang andauernde Kritik an dem Ansatz gilt. Für die hier angestellten Überlegungen sind folgende Argumente, die im Kontext globalisierungstheoretischer Diskussionen stehen, von besonderem Interesse: Helmuth Berking hat darauf hingewiesen, dass wir es im Globalisierungsdiskurs immer auch mit der Raumthematik zu tun haben1Ř „geht es doch in der Hauptsache um die Frage nach den räumlichen Organisationsformen sozialer Beziehungen“ (Berking 2ŪŪŰ, ű). Auf die Sozialwissenschaften hatte dies außerordentliche Auswirkungen, da im Zuge des Globalisierungsdiskurses versucht wurde, Raumüberlegungen in die grundlegenden Begrifflichkeiten zu integrieren. Der eingangs erwähnte ‚Boom‘ an raumtheoretischen Arbeiten in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen ist wohl auch in diesem Kontext zu sehen. Bei der momentanen Untersuchung der räumlichen Organisation sozialer Beziehungen wird dabei allseits das Container-Modell1ř von Raum kritisch gesehen (Beck 2ŪŪ2; Berking 2ŪŪŰa; Löw 2ŪŪū). Den Beiträgen im globalisierungstheoretischen Diskurs ist es zu verdanken (Albrow ūųųŰ; Appadurai ūųųŰ; Beck 2ŪŪūb; Castells 2ŪŪŪ; Robertson ūųų2; Sassen ūųųū; Urry 2ŪŪŪ), dass sich eine kritische Sicht auf die verschiedenen Spielformen des methodologischen Nationalismus inzwischen verbreitet hat. Dieser kritische Globalisierungsdiskurs brachte auch Raumannahmen auf, die von der zunehmenden Bedeutungslosigkeit von Orten und Räumen ausgingen und das Globale als grenzen- und ortlos, als Ströme von Informationen, Personen und Objekten konzeptionieren (vgl. etwa Urry 2ŪŪ3). Helmuth Berking hat zuletzt jedoch auf die Unstimmigkeiten einer derartigen theoretischen Fassung von Raum und Globalisierung und die entsprechenden empirischen Ergebnisse hingewiesen (Berking 2ŪŪŰ). Er warnt in dem erwähnten Beitrag davor, die Bedeutung von Räumen und Orten im Ordnung, die zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden. Es ist diese Verflechtungsordnung, die den Gang des geschichtlichen Wandels bestimmt; sie ist es, die dem Prozeß der Zivilisation zugrunde liegt.“ (Elias, ebd., ř1Ś) 1ŘȲ Wenigstens in einer impliziten Form, wie Doreen Massey ausführt (Massey 1999a, 16), da es durchaus auch einen raumfernen Globalisierungsdiskurs gibt, in dem fälschlicherweise örtliche Besonderheiten nicht berücksichtigt werden und somit die Schwierigkeit auftritt, dass die potentielle Vielfalt künftiger Entwicklungen nicht berücksichtigt wird. 1řȲ Zur Bedeutung des Begriffs Container-Raum siehe Kapitel Ř.ř.Ś.
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Kontext von Globalisierung gering zu schätzen, da auch unter globalisierten Lebensbedingungen die lokalen Rahmenbedingungen und die daraus entstehenden sozialen Realitäten einen ernst zunehmenden Einfluss auf das soziale Geschehen haben, die es sozialwissenschaftlich zu untersuchen gilt. Eine derartige Kritik an Globalisierungsdiskursen fußt dabei auf einer genaueren Betrachtung der Beziehung zwischen Lokalem und Globalem, die nur scheinbar einander entgegen stehen (Hannerz 2ŪŪű). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich die Verwobenheit, die das Lokale und das Globale miteinander verbindet (vgl. hierzu Robertson ūųų5, der mit dem Begriff der Glokalisierung auf eine Institutionalisierung des Globalen im Lokalen hinweist). Das Lokale ist nach Ulf Hannerz jene Einheit, an dem sich die Bedeutungsräume von unterschiedlichen Menschen überlagern und an dem Lokales von anderswo – mit anderen Worten: Globales – anzutreffen sein kann (Hannerz 2ŪŪű, ūūŪ). Doreen Massey präzisiert zur Bedeutung des Lokalen: Trotz intensiver Bemühungen um eine raumtheoretische Fundierung der Gesellschaftstheorie bleibt festzuhalten, dass in den Sozial- und Geisteswissenschaften, und möglicherweise auch in der darüber hinausgehenden künstlerischen Praxis, das Nachdenken über diese Frage aktiv behindert wird. Eines dieser typischen Hindernisse ist die permanente Gegenüberstellung von Raum und Ort, augenfällig insbesondere in solchen Konzepten, in denen der Ort als privilegierte Quelle von Bedeutung situiert wird. „Ort“ oder „Lokalität“ werden dann häufig mit Begriffen wie „real“, „verankert“, „alltäglich“ oder „gelebt“ assoziiert. Lokale Orte, Lokalitäten gelten als authentisch, weil, so die Grundüberzeugung, sich in ihnen das Alltagsleben abspielt. (Massey 2ŪŪŰ, 2ű)
Sie weist jedoch darauf hin, dass diese „geographische Imagination (…) konzeptionell inkohärent und politisch gefährlich“ (ebd., 28) ist. Vielmehr sind sowohl das Lokale als auch das Globale von ihrer Qualität her Teil der Realität und des Alltags. Eine begriffliche Gegenüberstellung, die eine vermeintliche Dualität zwischen Lokalem und Globalem verstärkt, ist daher theoretisch irreführend und eine für empirische Studien wenig hilfreiche Ausgangsannahme (siehe hierzu auch Massey ūųųųb; Massey 2ŪŪ5). In diesem Kontext sind auch die Arbeiten von Arjun Appadurai zu nennen, der sich mit der Bedeutung von Imagination im Zuge der Globalisierung auseinandersetzt (Appadurai ūųųŰ). Seine These lautet, dass wir es heute mit neuen Formen der Imagination zu tun haben, die es uns erlauben, uns in neuer Weise dar- und vorzustellen. Dabei kommt neben der tatsächlichen Migration rasch zirkulierenden Bildern, Informationen und Waren eine herausragende Rolle im Kontext von Globalisierung
1Ş
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zu. Für Migration und Mobilität bedeutet dies, dass sich Personen mental in unterschiedlichen, imaginierten Soziosphären bewegen können. Dies ist für Formen der zirkulären Migration oder auch im Rahmen transnationaler Lebensstile durchaus von Bedeutung, da hieraus neue soziale Verflechtungszusammenhänge entstehen. In dieser globalisierungskritischen Perspektive ist auch sozialer Wandel von Schnelllebigkeit gekennzeichnet. Mit der Frage nach dem sozialen Wandel stellt sich auch die Frage, welche Rolle Räume für die soziale Positionierung spielen. Doreen Massey nimmt dabei an, dass Identitätspolitiken an dieser Stelle ausschlaggebend sind (Massey 2ŪŪŰ). Genauso wie für Raum nimmt sie auch für Identitäten an, dass diese relational zu sehen sind, jedoch häufig in essentialistischer Weise instrumentalisiert werden. Die Umdeutung von räumlichen Identitäten ist demnach (…) eng mit einer politischen Perspektive verbunden, wie zum Beispiel dem Widerstand gegen parochiale oder nationalistische räumliche Ansprüche, die mit Vorliebe auf der Basis externer, essentieller (und in der Folge exklusiver) Merkmale der Zugehörigkeit erhoben werden. (Massey 2ŪŪŰ, 25ȹf.)
Doreen Massey geht dabei zwar nicht explizit auf die Stellung von MigrantInnen oder Fremden in einer Gesellschaft ein, doch sind diese Thesen nur unschwer auf die hier interessierenden Thematiken umzulegen. Mit Pierre Bourdieu gesprochen kann etwa angenommen werden, dass über Raumkonstruktionen symbolische Grenzen gezogen werden, die definieren, welche Personen zugehörig sind und welche nicht (Bourdieu ūųųū; Hall ūųų5). Auf den Zusammenhang zwischen ethnisierten Unterscheidungen als einer Form kultureller Identität und der Rekonfiguration nationaler Räume im Kontext von Globalisierung weist Helmuth Berking hin (Berking 2ŪŪ3). Dass Raumfragen immer auch auf den Ein- und den Ausschluss von Personen bzw. Gruppen verweisen, hat Markus Schroer (Schroer 2ŪŪŰ) gezeigt. Demnach zeichnet sich die momentane gesellschaftliche Situation dadurch aus, dass wir es mit der Vernichtung sozialer Grenzen zu tun haben, was jedoch nicht etwa größere Freiheiten zur Folge hat, sondern vielmehr gleichzeitig neue soziale Unterscheidungen an Bedeutung gewinnen. Seine theoretischen Überlegungen macht er dabei auch an einem Beispiel aus dem Bereich der Migration fest: Nicht zuletzt aufgrund der grenzüberschreitenden Mediennutzung entstehen seiner Ansicht nach hybride Lebenswelten, die dazu führen, dass sich durch den intensiven Austausch (gewanderter und nicht-gewanderter Personen) neue Räume herausbilden (vgl. Schroer 2ŪŪŰ, 2ūŪȹf.).
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Auch Ulrich Beck arbeitet in seinem Entwurf einer kosmopolitischen Soziologie (Beck 2ŪŪ2; Beck 2ŪŪ4a; Beck 2ŪŪ4b; Beck 2ŪŪ5; Beck und Grande 2ŪūŪ) immer wieder mit Beispielen aus der Migrationsforschung. Fast mutet es befremdlich an, dass sich Beck dabei zwar häufig mit der Zeit als sozialer Dimension (wenigstens am Rande) auseinandersetzt, räumliche Konstruktionen als theoretischer Erklärungsansatz von ihm jedoch nicht thematisiert werden. Interessant wären derartige raumtheoretische Anleihen allemal für das Becksche Unternehmen in Sachen Kosmopolitismus, etwa dann, wenn Beck Rechtfertigungsstrategien sozialer Ungleichheit beschreibt (Beck 2ŪŪ2). Hier kommt er zu dem Schluss, dass für die Erklärung (und Akzeptanz) weltweiter Ungleichheiten ein nationalstaatliches Prinzip stillschweigend vorausgesetzt wird: Während innerhalb eines Nationalstaats von Gleichheit ausgegangen wird und soziale Ungleichheit als Folge unterschiedlicher Leistungen angesehen wird, wird die zwischennationale Unvergleichbarkeit sozialer Ungleichheiten postuliert. Mit diesem mentalen „Trick“ einer Beschränkung auf die nationale Ebene wird die vergleichsweise große weltweite soziale Ungleichheit unsichtbar – sowohl in der sozialwissenschaftlichen Forschung als auch in gesellschaftspolitischen Debatten (vgl. Beck 2ŪŪ2, ŰŪ). In seiner Analyse unterscheidet Ulrich Beck (vor allem in früheren Publikationen zum Kosmopolitismus) zwischen der Akteursperspektive und der Beobachterperspektive. Letztere beschreibt er im Falle einer nationalen Einschränkung als methodologischen Nationalismus (vgl. hierzu etwa Beck und Grande 2ŪŪ4; Schroer 2ŪŪŰ). Während Ulrich Beck in diesen Publikationen vor allem die Sozialwissenschaften und ihre nationale Beschränkung im Zugang beschrieb, sind inzwischen vor allem die AkteurInnen selbst und ihr „nationaler Blick“ zu seinen AdressatInnen geworden (Beck 2ŪŪŰ): Nationalismus hat demnach mit aktuellen empirisch beobachtbaren Vorgängen seiner Ansicht nach nichts mehr zu tun (Beck 2ŪŪŰ, 253), wohingegen der von ihm vorgeschlagene Kosmopolitismus für Realismus in der heutigen Welt stehe. Diese neuere Sichtweise Becks ist jedoch in einem kritischen Licht zu sehen, gerade wenn es um die Untersuchung der Lebensrealitäten von MigrantInnen geht: Hier ist zu bemerken, dass die Bedeutung des Nationalstaats auf unterschiedlichsten Ebenen häufig direkt und mit massiven Auswirkungen in die alltägliche Lebensrealität hineinreicht und Handlungsspielräume entscheidend beeinflusst. Daher braucht es meiner Ansicht nach einen methodologischen Zugang, der das Nationalstaatliche in seiner (faktischen, aber auch symbolischen) Bedeutung kontextualisiert (siehe dazu auch Sassen ūųųŰa; Weiß 2ŪūŪ); ein Baustein auf dem Weg dahin scheint mir ein raumsensibler Zugang in der Migrationsforschung zu sein, wie ich ihn im Folgenden skizziere. Dabei ist auch klar zu
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sehen, was auf dem Spiel steht, falls wir weiterhin in Migrationsfragen mit einem raumunspezifischen Forschungszugang operieren: Wenn Untersuchungen von unterschiedlichen, oftmals intuitiven und unzutreffenden Raumverständnissen ausgehen, so hat dies handfeste Konsequenzen: Etwa, dass wir Lebensrealitäten von bestimmten MigrantInnen nicht mehr adäquat untersuchen und verstehen können; oder auch, dass es uns als SozialwissenschaftlerInnen nicht gelingt, existierende gesellschaftliche Ungleichheiten aufzuzeigen. Bezogen auf Migrationsforschung – und hier ganz speziell auf Transmigrationsforschung – hat Katharyne Mitchell bereits vor mehr als zehn Jahren darauf hingewiesen, dass die Transmigrationsforschung zum damaligen Zeitpunkt aufgrund der Nichtbeachtung räumlicher Anordnungen TransmigrantInnen und deren politische Veränderungskraft „from below“ zu unreflektiert beschrieben (Mitchell ūųųű): Die von allen Seiten eingeforderten Konzepte, die nicht essentialisierend wirken sollten, führten nun zur Betonung der Subjektivität, wodurch Pluralität, Hybridität und Existenzformen des „Dazwischen“ in den Vordergrund der Betrachtungen gerückt wurden (Mitchell ūųųű, ūŪű). Mitchell argumentiert, dass die so entstandenen Theorien den Wunschvorstellungen der AutorInnen entspringen und kaum noch etwas mit empirisch beobachtbaren Realitäten zu tun haben. Die Lösung für dieses Dilemma sieht sie in einer neuen, raumtheoretisch fundierten Migrationsforschung, die unterschiedliche Raumeffekte, wie etwa mächtige unterdrückende sozioökonomische Strukturen, mit in Betracht ziehen1Ś. Der vorliegende Beitrag zielt nun darauf ab, einen methodologischen Vorschlag zu unterbreiten, der raumtheoretisch informiert in der Migrationsforschung einen Beitrag zur Überwindung einschlägiger Probleme wie jenem des methodologischen Nationalismus leisten soll. Auf Basis bereits existierender sozialwissenschaftlicher Raumkonzepte und -theorien wird damit eine raumsensible Vorgehensweise in der Migrationsforschung ausgearbeitet und anhand (eigener) empirischer Beispiele verdeutlicht. In diesem Beitrag geht es darum, auf Basis der reichhaltigen raumtheoretischen Überlegungen, die bereits in unterschiedlichsten sozialwissenschaftlichen Disziplinen ausgearbeitet wurden, einen raumtheoretisch differenzierten Zugang auch in der Migrationssoziologie einzuführen. Nach einem Überblick über die wichtigsten raumtheoretischen Konzepte in den Sozialwissenschaf1ŚȲ Diese Kritik und Sichtweise wurde u.ȹa. von David Featherstone, Richard Phillips und Johanna Waters (Featherstone, Phillips et al. Ř007) aufgegriffen: Zehn Jahre nachdem Katharyne Mitchell ihren Beitrag publiziert hatte, initiierten die genannten AutorInnen eine Sammelpublikation zur Frage der Raumbezüge in transnationalen Migrationsnetzwerken.
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ten und einer Diskussion des Umgangs mit der Raumthematik in der Migrationsforschung wird eine Unterscheidung in drei unterschiedliche Ebenen vorgeschlagen, auf denen Raum in migrationssoziologischen Zusammenhängen reflektiert wird: Die Ebene der AkteurInnen, der untersuchenden MigrationswissenschaftlerInnen und die Ebene sozialer Systeme. Auf jeder dieser Ebenen lassen sich unterschiedliche Raumannahmen identifizieren (die aus der raumtheoretischen Debatte abgeleitet werden): Erstens ein materialistisches und essentialistisches Raumdenken; zweitens ein relationales Raumverständnis und drittens ein konstruktivistischer Zugang zu Raum. Anhand von Beispielen aus meiner eigenen empirischen Arbeit sowie aus Sekundäranalysen mobilitäts- und migrationswissenschaftlicher Studien wird anschließend verdeutlicht, inwiefern sich auf Ebene der AkteurIn nen Handlungsoptionen und Deutungszusammenhänge erst in ihrem Zusammenhang mit (impliziten) Raumannahmen adäquat verstehen lassen; auf Ebene der analysierenden WissenschaftlerInnen wird gezeigt, dass die Reflexion der eigenen raumtheoretischen Annahmen dazu beiträgt, Fehlinterpretationen zu verhindern und gesellschaftliche Möglichkeiten des politischen, sozioökonomischen und kulturellen Zugangs zu erfassen, die mit Positionierungen im Raum verbunden sind. Dabei geht es im hier vorgestellten Ansatz einer raumsensiblen Migrationsforschung nicht darum, jahrzehntelang betriebene Integrations-, Assimilations-, Segregations- und Transmigrationsforschung in ihrem Stellenwert herabzusetzen; schließlich sind viele Fragestellungen und Erkenntnisse aus diesen vielfältigen Forschungsansätzen hervorgegangen. Der hier formulierte Ansatz einer raumsensiblen Migrationsforschung baut vielmehr auf diesen Erkenntnissen auf und zielt auf eine Ergänzung unseres Analyserepertoires ab, indem in erster Linie danach gefragt wird, welche Raumvorstellungen bereits in den Untersuchungsanlagen und in den Arbeitshypothesen der MigrationsforscherInnen mittransportiert werden. So könnte etwa ein unreflektiertes Übernehmen nationalstaatlicher politisch motivierter Parameter für das Messen von Integrations- und Assimilationsgraden zumindest hinterfragt und gegebenenfalls bei der Interpretation der eigenen Daten in Rechnung gestellt werden. Neben dem Containerkonzept von Raum ist auch ein relationales Verständnis in der Migrationssoziologie anzutreffen. In der Transmigrationsforschung haben zudem einige AutorInnen den Raumbegriff eingehend theoretisch reflektiert und diese Überlegungen in die empirische Forschung eingebracht. Sie machen auf den Unterschied zwischen territorialen und sozialen Räumen aufmerksam. Das vorliegende Buch leistet daher den Beitrag, einen Überblick zu klassischen und neuen raumtheoretischen Arbeiten in den Sozialwissenschaften
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zu geben. Dabei würde es das vorliegende Buch sprengen, das gesamte raumtheoretische Spektrum an Ansätzen abzuarbeiten, doch die grundsätzlichen Argumentationslinien werden aufgezeigt, um so zu einem raumtheoretisch fundierten Standpunkt zu gelangen. Erst im Anschluss daran ist es möglich, eine raumtheoretisch informierte Vorgehensweise in der Migrationssoziologie einzuschlagen. Ziel des ersten Teiles ist es daher, raumtheoretisches Hintergrundwissen in kurzer und prägnanter Form derart aufzuarbeiten, dass interessierte MigrationsforscherInnen nach Lektüre der betreffenden Kapitel einen Überblick über die gängigen sozialwissenschaftlichen Raumtheorien erhalten und auf dieser Grundlage Raumannahmen in ihrer eigenen Forschung mitreflektieren. Es ist hingegen nicht die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit, ein methodologisches raumtheoretisches Konzept für die Migrationsforschung generell vorzulegen, da ich davon ausgehe, dass – je nach spezifischem Forschungsinteresse und Fragestellungen – jeweils divergierende raumtheoretische Überlegungen sinnvoll in den Forschungsprozess einzubeziehen sind. Die Auseinandersetzung mit raumtheoretischen Arbeiten zeigt allerdings, dass eine Unterscheidung divergierender Raumkonzepte zentral ist, die bislang in der Migrationssoziologie kaum getroffen wurde. Dabei sind gerade MigrantIn nen in ihrem Alltagsleben häufig mit Raumvorgaben konfrontiert, die sich aus nationalstaatlichen Reglements ergeben. Dies wird insbesondere dann sichtbar, wenn eigensinnige Praktiken gefunden werden, um sich trotz existierender aufenthaltsrechtlicher und wohlfahrtsstaatlicher Vorgaben unvorhergesehene Handlungsspielräume zu schaffen. Dies mündet häufig in Formen des Pendelns oder der (imaginierten) Rückkehr bzw. Weiterwanderung zu einem künftigen Zeitpunkt. Der Inhalt des Buches gliedert sich daher folgendermaßen auf: Im ersten Teil des Buches wird der Stand der Forschung in den beiden Forschungsbereichen nachgezeichnet. Nach der Einleitung wird im zweiten Kapitel die Karriere des Raumbegriffes in der Soziologie und benachbarten Disziplinen aufgegriffen. In diesem Kapitel ist es das Anliegen, die Basis für eine raumtheoretisch informierte Migrationsforschung zu legen. Zunächst wird deutlich, wie sehr die Geschichte der Soziologie die Sicht auf die Raumthematik geprägt hat. Neben klassischen Raumannahmen von Emile Durkheim und Georg Simmel wird an dieser Stelle vor allem auf die Arbeiten von Pierre Bourdieu, Anthony Giddens sowie Beiträgen aus der Sozialgeographie eingegangen. Außerdem wird die Stellung der Systemtheorie in der Raumdiskussion beschrieben sowie phänomenologische Ansätze und dritte Räume bzw. verflüssigte Räume analysiert. Auf eine Diskussion der jüngsten Beiträge aus der deutschsprachigen
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Raumsoziologie folgt ein Exkurs, der auf die enge Verwobenheit von raumund zeittheoretischen Betrachtungen hinweist. Das dritte Kapitel widmet sich der Frage, wie in der Migrationsforschung mit der Dimension des Raums umgegangen wird. Dabei wird herausgearbeitet, wie sich die heutige Migrationssoziologie nur adäquat verstehen lässt, wenn eine wissenschaftshistorische Perspektive eingenommen wird: Erst durch die Betrachtung impliziter und expliziter raumtheoretischer Annahmen seit den Anfängen der Migrationssoziologie – insbesondere in der Chicago School – werden heute noch dominante Ausrichtungen eines materialistischen Raumverständnisses einsichtig. Diese zeigen sich in der klassischen Assimilations- und Integrationsforschung sowie in der Segregationsforschung und vielen Untersuchungen zur Frage ethnischer Schichtung. Im zweiten Teil geht es auf Grundlage der im ersten Teil ausgearbeiteten raumtheoretischen und migrationssoziologischen Entwicklungen um die Erarbeitung eines raumsensiblen methodologischen Zugangs in der Migrationsforschung. Dabei wird im vierten Kapitel deutlich, dass die vorliegenden Überlegungen im Unterschied zu existierenden raumsoziologischen Konzepten von einem handlungstheoretischen Ansatz ausgehen, die sich stark am Symbolischen Interaktionismus orientieren. Weiters sind die Arbeiten von Alfred Schütz eine wichtige Grundlage, wobei hier insbesondere die Unterscheidung zwischen Konstruktionen ersten und zweiten Grades (Schütz ūųűū) für die Entwicklung eines raumsensiblen Zugangs von tragender Bedeutung sein wird. Im fünften Kapitel wird ein raumsensibler Zugang für die Migrationsforschung schließlich auf Basis existierender empirischer Forschungsarbeiten entworfen. Dabei werden drei grundlegende Raumkonzepte (Container-Raum, relationaler und konstruktivistischer Raum) beschrieben und im Anschluss beispielhaft an migrationswissenschaftlichen Arbeiten ausgeführt. Für dieses Unterfangen wird zwischen drei unterschiedlichen Analyseebenen differenziert, wie sie bereits in diesem einleitenden Kapitel beschrieben wurden. Die empirischen Beispiele zeigen für die genannten Untersuchungsdimensionen, wie unterschiedliche Raumannahmen in unser Forschen, Denken und Handeln eingebettet sind. Es wird deutlich, welche strukturellen Bedingungen die Raumannahmen von MigrantInnen und hochmobilen Personen prägen – und damit auch ihre alltäglichen Handlungen. Im sechsten Kapitel erfolgt eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der vorhergegangenen Abschnitts. Abschließend widmet sich ein Abschnitt der Frage, welches Potential von einem raumsensiblen Zugang in der Migrationsforschung zu erwarten ist: Dieser Ansatz kann einen Beitrag zur
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Überwindung des methodologischen Nationalismus leisten, indem (national geprägte) Raumannahmen während des gesamten Untersuchungsablaufes hinterfragt werden. Dies führt dazu, dass bereits während der Erstellung eines Untersuchungsdesigns (implizite) Raumannahmen, die etwa in die Definition von Untersuchungseinheiten eingelassen sind, hinterfragt werden; in der Analyse selbst kann über einen raumsensiblen Zugang erreicht werden, dass die Lebensrealitäten von MigrantInnen in ihrer Vielfalt in Forschungsarbeiten repräsentiert werden; schließlich kann ein kritischer gesellschaftstheoretischer Zugang in der Migrationsforschung gestärkt werden, der (grenzüberschreitende) soziale Ungleichheiten sichtbar macht. Die Berücksichtigung raumtheoretischer Erkenntnisse in der Migrationssoziologie kann somit einen Beitrag dazu leisten, gesellschaftlich relevante Raumannahmen dahin gehend zu hinterfragen, welche gesellschaftlichen Funktionen sie erfüllen. Eine raumsensible Migrationsforschung macht sich daran, diese Funktionen, ihre Bedingungen und Folgen für MigrantInnen und Sesshafte zu verstehen und zu beschreiben – quer zu und in Verbindung mit anderen Themenstellungen der Migrationsforschung.
TEIL I Sozialwissenschaftliche Raumtheorien und Migrationsforschung
2
Der Raum und seine steile Karriere im soziologischen Diskurs
Das Thema Raum hat in den letzten Jahren eine beeindruckende Karriere auch innerhalb der Soziologie gemacht, nachdem der Raum als Dimension des Sozialen in der Soziologie jahrzehntelang vernachlässigt wurde (vgl. hierzu ausführlich Urry ūųųŰ). Diese wissenschaftssoziologische Geschichte lässt sich wohl einerseits damit begründen, dass die Beschäftigung mit dem Thema Zeit bei soziologischen Klassikern zunächst einmal im Vordergrund stand. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass von einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung im Sinne der Moderne ausgegangen wurde, die sich fast zwangsläufig im Laufe der Zeit vollziehen würde. Raum dagegen erschien als eine Dimension des Stillstands, Raum hieß es zu überwinden – weshalb er für die soziologische Analyse zunächst einmal als uninteressant angesehen wurde. Diese Vernachlässigung der Raumdimension in der Soziologie ist nun aber schon längst Geschichte. Inzwischen hat sich die Situation eher umgekehrt: Eine Fülle von Publikationen beschäftigt sich mit der Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven. Einerseits ist auffällig, wie viele Sammlungen mit als klassisch erachteten Texten zur Raumthematik momentan herausgegeben werden (Dünne und Günzel 2ŪŪŰ; Heuner 2ŪŪű) – was auf einen vorhandenen Markt für derartige Publikationen schließen lässt. Andererseits erscheinen Monographien und Sammelbände zum Thema Raum und Soziologie (Dünne und Günzel 2ŪŪŰ; Krämer-Badoni 2ŪŪ3; Löw 2ŪŪū; Schroer 2ŪŪŰ), sowie zu Raum und diversen disziplinären Ausrichtungen in den Sozialwissenschaften (Löw, Steets et al. 2ŪŪű; Sturm 2ŪŪŪ). Erstaunlich ist jedoch, dass gerade für die Migrationssoziologie bislang noch keine einschlägige Monographie vorliegt, die sich mit der Raumthematik bezogen auf diesen Bereich der Sozialwissenschaften beschäftigt. Genau dies ist das Anliegen der vorliegenden Arbeit. Dabei lässt sich gut auf bereits geleisteten Beiträgen zur Geschichte der Raumvorstellungen und den Implikationen von Raumkonzepten für die Sozialwissenschaften aufbauen (vgl. Gosztonyi ūųűŰ). Im Folgenden werde ich daher nur sehr kurz auf diese Basis eingehen und sie nur soweit darlegen, wie sie für meine eigene Argumentation bezogen auf Raum und Migration nötig sind.
E. Scheibelhofer, Raumsensible Migrationsforschung, DOI 10.1007/978-3-531-94007-6_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
ŘŞ 2.1
ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs Alltägliche Raumannahmen und ihre Fundierung in historischen Raumkonzepten
Bis in die gegenwärtige soziologische Raumdebatte hinein zieht sich der Vergleich zwischen relationalen und konstruktivistischen Raumkonzepten auf der einen und euklidischen Raumvorstellungen auf der anderen Seite. Die Grundlagen für diese Begrifflichkeiten haben ihre Wurzeln weit vor Christi Geburt, wurden in unterschiedlichen Disziplinen erarbeitet und sind so hier kaum auch nur ansatzweise erschöpfend darstellbar. Für ein derartiges Unterfangen sei etwa auf die umfangreichen Arbeiten von Alexander Gosztonyi verwiesen (Gosztonyi ūųűŰ), für einen raumsoziologischen Ansatz haben Martina Löw (Löw 2ŪŪū) und Markus Schroer (Schroer 2ŪŪŰ) umfangreiche Arbeiten zu den Grundlagen heutiger Raumvorstellungen vorgelegt. Da es im vorliegenden Buch jedoch um die Herstellung der Grundlagen für eine raumsensible Methodologie und ihre Darlegung bezüglich der Migrationsforschung geht, können an dieser Stelle nur Streiflichter auf diesen Bereich der Geistes- und Kulturgeschichte wiedergegeben werden. Von Euklid von Alexandrien (3. Jh. v. Chr.) sind die Schriften „Elemente“ erhalten (vgl. Gosztonyi1ś ūųűŰ, ū2ŪŪȹff.). Die Grundlagen der „Elemente“ bilden drei Postulate, in denen Fundamentalkonstruktionen gefordert werden: Erstens die Verbindung zweier Punkte durch eine Gerade; zweitens die Verlängerung dieser Geraden und drittens das Schlagen eines Kreises um einen gegebenen Punkt mit gegebenem Radius. Die „Elemente“ beziehen sich dabei auf Konstruktionen von Figuren, wobei in diesen Konstruktionen Raum als eine sinnliche Größe „erzeugt“ wird (Gosztonyi ebd., ū2Ūū). Aus der ideellen Welt kommend wird Materielles realisiert oder erzeugt, das sich räumlich niederschlägt. Die mathematischen Zusammenhänge werden als Abbilder der intellektuellen Seinsformen betrachtet – sie sind gewissermaßen „formgebende Prinzipien, die der sinnlichen Welt die Gestalt verleihen“ (ebd.). Wie die Phänomenologin Elisabeth Ströker betont, wird der euklidische Raum durch die Leiblichkeit bildhaft und symbolisch erfassbar (vgl. Gosztonyi, ebd. ū2ū2), was dazu führt, dass er in unserem Alltagsbewusstsein als „Normalraum“ gilt. Daher wird Raum in unserem Alltagsverständnis kaum infrage gestellt, sondern von uns als gegebene, natürliche Umgebung wahrgenommen und nicht als eine Dimension unseres Handelns, die sozial konstruiert wäre. Nicht nur im Alltagsverständnis, sondern auch in vielen Subdisziplinen der Soziologie 1śȲ
Die folgenden Absätze beziehen sich – wenn nicht anders ausgeführt – auf Alexander Gosztonyis Arbeiten (Gosztonyi 1976).
Ř.1ȳAlltägliĖe Raumannahmen
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findet sich ein vergleichbarer Zugang zu Raum, wie später für die Migrationssoziologie noch zu erläutern sein wird. Im Folgenden wird in dieser Arbeit daher vom euklidischen Raum gesprochen, wenn Raumannahmen angesprochen werden, die wir im Alltag meist unhinterfragt als Hintergrundfolie annehmen: Eine gegebene Konstante, die vermessbar und von unserer Anschauung unabhängig real ist. Für diese im Alltag und teilweise auch in der Sozialwissenschaft nach wie vor relevanten unhinterfragten Hintergrundfolien sind auch die Newtonschen Vorstellungen von einem absoluten Raum prägend: In der naturwissenschaftlichen Kontroverse des ūű. Jahrhunderts setzte sich Isaac Newton mit seinen Vorstellungen einer absoluten, mathematischen und linearen16 Zeit gegenüber relativistischen Vorstellungen – wie sie etwa Gottfried Wilhelm Leibniz formuliert hat – durch (vgl. Schroer 2ŪŪŰ, 34). Newton konzipiert Raum dagegen als unabhängig von den ihn umgebenden Dingen und als sich in die Unendlichkeit erstreckend. Raum unterliegt demnach an jedem Punkt denselben physikalischen Gesetzen und ist daher linear vermess- und berechenbar. Dieser absolute Raum bleibt unverändert bestehen, auch wenn er mit Objekten befüllt oder entleert wird. Seine Eigenschaften bleiben konstant, auch wenn sich seine Umgebung verändert. Obwohl die Vorstellung dieses absoluten Raums schon zu Lebzeiten Newtons heftig umstritten war, verteidigte dieser seine Sichtweise weiterhin – und zwar mit theologisch-metaphysischen Argumenten, wie Markus Schroer (Schroer 2ŪŪŰ, 3ű) ausführt und mit einem Zitat aus den „Principien“ belegt: Er ist weder die Ewigkeit noch die Unendlichkeit, aber ist ewig und unendlich; er ist weder die Dauer noch der Raum, aber er währt fort und ist gegenwärtig; er währt stets fort und ist überall gegenwärtig, er existiert stets und überall er macht den Raum und die Dauer aus. (…) Jeder Mensch, so weit er ein fühlendes Wesen ist, ist während seines ganzen Lebens und in allen verschiedenen Organen seiner Sinne ein und derselbe Mensch. Ebenso ist Gott überall und beständig ein und derselbe Gott. Er ist überall gegenwärtig, und zwar nicht nur virtuell, sondern auch substantiell; denn man kann nicht wirken, wenn man nicht ist. (Newton ūųŰ3, 5Ūų, zit. nach Schroer 2ŪŪŰ, 3ű)
Diese Verquickung räumlicher und göttlicher Eigenschaften bei Isaac Newton ist im soziopolitischen Kontext des Absolutismus zu verstehen. Obwohl aus 16Ȳ
Diese Linearität hatte in der Folge schwerwiegende Konsequenzen, die bis heute nachwirken, da sich daran das moderne Fortschrittsdenken festmacht.
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs
heutiger Perspektive der absolute Raum nicht nur in den Naturwissenschaften längst eine antiquierte Vorstellung ist, hat er als Hintergrundfolie in vielen empirischen Studien – und erst recht zur Vereinfachung unser aller Alltagsleben – noch lange nicht ausgedient. Im Folgenden werden nun philosophische und mathematische Raumvorstellungen kurz angeschnitten, die von diesem absoluten Raumverständnis Newtons abweichen und für die weitere sozialwissenschaftliche Diskussion von Bedeutung sind. Hier ist zuallererst der bereits erwähnte Zeitgenosse Newtons zu nennen: Gottfried Wilhelm Leibniz. Er geht davon aus, dass weder Raum noch Zeit eine substantielle Realität besitzen (vgl. Schroer 2ŪŪŰ, 3ų). Wie Ernst Cassirer ausführt, sind sie „ideelle Ordnungsformen der Erscheinungen, die in einer konstruktiven schöpferischen Kraft des menschlichen Geistes“ (Cassirer ūųŰų, ū58, zit. nach Schroer 2ŪŪŰ, 3ų) begründet sind. Dies hat direkt mit Immanuel Kants „Anschauungsformen“ zu tun, was wiederum zur Folge hat, dass die Annahmen von Gottfried Wilhelm Leibniz mit einer empiristischen Auffassung von Raum und Zeit nicht vereinbar sind: Immanuel Kant setzt sich sowohl mit den Raumvorstellungen von Isaac Newton als auch jenen von Leibniz auseinander, wobei er zunächst noch unentschieden ist, welcher Konzeption er selbst letztendlich zustimmen kann (vgl. Löw 2ŪŪū, 28). Schließlich entwickelt Kant eine eigene Position, die jedoch der Idee vom absoluten Raum näher steht als einem relationalen Konzept: Kants Raumvorstellung verneint die Vorstellung, Raum besäße eine eigene Realität (vgl. Löw 2ŪŪū, 2ų). Raum ist bei ihm ein ordnendes Prinzip basierend auf der euklidischen Geometrie, das jeder Erfahrung vorausgeht. Raum ist nach Kant als eine Kategorie zu verstehen, die Menschen durch ihre Vorstellung schaffen und die ihnen erlaubt, das Wahrgenommene einzuordnen. Auch Kant baut somit seine Theorie auf der Vorstellung auf, es gäbe nur eine mögliche Geometrie – und zwar die euklidische. Während wir im Alltag nach wie vor von einer (impliziten) euklidischen Raumvorstellung ausgehen, hat es in der Philosophie, der Mathematik, der Physik und der Logik immer wieder und schon sehr früh Hinweise darauf gegeben, dass die Euklidik durchaus auch zu hinterfragen ist. Allerdings ist an dieser Stelle – wie bereits am Beginn des Kapitels erwähnt – nicht der Ort, um diese Ausführungen weiter zu vertiefen. Nur kurz sei daher erwähnt, dass mit neuen mathematischen Erkenntnissen ab ū83Ū vermehrt klar wurde, dass auch andere Formen der Geometrie existieren müssen (vgl. Löw 2ŪŪū, 3Ūȹf.). Zu einem fundamental anderen Raumverständnis, das auch auf die Sozialwissenschaften nach wie vor einen großen Einfluss hat, zählen die Arbeiten von Albert Einstein zur Relativitätstheorie. Im Gegensatz zu euklidischen
Ř.ŘȳSozialwissensĖaĞliĖe Konzepte des Raums
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und absoluten Vorstellungen von Raum (die Einstein selbst mit dem Begriff des Container-Raumverständnisses versieht17) wird mit seinen Arbeiten auch deutlich, dass Raum erst durch die Materie in seiner spezifischen Struktur bestimmt wird. Einstein führt den Begriff des Feldes ein, was den Vorteil hat, dass Raum auch physikalisch als „Lagerungsqualität der Körperwelt“ (vgl. Löw 2ŪŪū, 3ū) oder von der Anordnung von Objekten und Menschen her denkbar wird. Über die Kategorie des Feldes versucht er damit, eine Einheit von Raum und Materie herzuleiten. Zur allgemeinen Beziehung zwischen Mathematik und Realität meinte Albert Einstein in seinem Vortrag „Geometrie und Erfahrung“: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit“ (Einstein ūų2ū, zit. nach Gosztonyi ūųűŰ, ū2ūų).
2.2
Sozialwissenschaftliche Konzepte des Raums
Martina Löw hat darauf hingewiesen, wie eng sozialwissenschaftliche und naturwissenschaftliche Entwicklungen zum Thema Raum miteinander verknüpft sind (vgl. Löw 2ŪŪū). Genauer gesagt lassen sich SozialwissenschaftlerInnen gerne von Entwicklungen im Bereich der Formal- und Naturwissenschaften inspirieren, wie dies am Beispiel der Relativitätstheorien oder auch in jüngster Zeit mit Bezug auf die chaostheoretische Forschung deutlich wird. Martina Löw bemerkt zu diesem Phänomen, dass es dabei nicht um ein simples „Abkupfern“ geht, sondern dass wissenssoziologisch eher davon auszugehen ist, dass spezifische gesellschaftliche Ausgangsbedingungen dazu angetan sind, bestimmte Ideen – in welchen Wissenschaftsdisziplinen auch immer – zu forcieren. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, in welchem Verhältnis relationale bzw. relative Raumkonzepte zu absoluten Raumvorstellungen stehen. Meiner Ansicht nach macht es dabei wenig Sinn, von einer linearen „Verbesserung“ der unterschiedlichen Raumkonzepte auszugehen: So sind rezentere Raumkonzepte nicht unbedingt „richtiger“ als ihre Vorgänger, und absolutistische Raumvorstellungen haben nach wie vor ihre Berechtigung – gerade wenn es um die Interpretation von empirischem Datenmaterial in den Sozialwissenschaften geht. Die unterschiedlichen Raumvorstellungen verweisen 17Ȳ
Einstein hat diesen Begriff aus dem Englischen entliehen in seiner Schrift „Relativität und Raumproblem“, die in dem Band „Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie“ im Jahr 1917 erschienen ist (zit. nach Günzel Ř007, 16).
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs
vielmehr auf gesellschaftliche Veränderungen, in deren Kontext sie entstanden sind. Sie sollten – so mein Vorschlag – als Werkzeuge u.ȹa. in einer raumsensiblen migrationssoziologischen Forschung dienen, um die jeweils adäquaten Raumkonzepte in der Analyse im Blick zu haben. Dadurch ließen sich bereits identifizierte Probleme der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung, wie etwa der von Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller beschriebene methodologische Nationalismus, angehen (Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2). Im Folgenden werden bedeutende sozialwissenschaftliche Konzepte zum Thema Raum in drei Abschnitten gegliedert vorgestellt: Zunächst werden die soziologischen Klassiker (Durkheim und Simmel) in den Blick genommen, im Anschluss daran die modernen soziologischen Beiträge (Bourdieu und Giddens) sowie wichtige Beiträge aus der sozialgeographischen Raumdebatte. Auch der systemtheoretische Blick auf die Raumthematik wird kurz diskutiert sowie die diesbezügliche phänomenologische Herangehensweise. Die Verflüssigung von Räumen und neueste raumsoziologische Beiträge wie jener von Martina Löw bilden vor einem Exkurs zur Beziehung zwischen der Raum- und Zeitdimension den Abschluss dieses Überblicks zu raumtheoretischen Arbeiten. In den letzten Jahren sind eine Reihe von Publikationen im Bereich der Raumsoziologie entstanden, die sich mit einigen der im Folgenden bearbeiteten Bereichen intensiv auseinandergesetzt haben. Für die folgenden Ausführungen beziehe ich mich im Folgenden besonders auf die raumsoziologischen Arbeiten von Martina Löw (Löw 2ŪŪū), John Urry (Urry ūųųŰ) und Markus Schroer (Schroer 2ŪŪŰ).
2.2.ŗ
Annahmen zu Raum in den Anfängen soziologischen Denkens
Ř.Ř.1.1 Emile Durkheim In seinem Werk zu den elementaren Formen religiösen Lebens geht Emile Durkheim explizit auf Vorstellungen von Raum ein (Durkheim ūųų4, 3Ūȹff.). Dabei stellt er sich gegen die Kantsche Raumvorstellung, wonach der Raum „absolut und homogen“ (ebd., 3Ū) sei. Die Unterscheidungen des Raumes entstehen nach Emile Durkheim vielmehr aus „affektiven Werten“, die Menschen ihnen zuschreiben (ebd.). Der soziale Ursprung des Raumes zeigt sich darin, dass die Mitglieder einer Gesellschaft von denselben Raumvorstellungen ausgehen. Als Beispiel von differenten Raumvorstellungen in unterschiedlichen Gesellschaften führt Emile Durkheim Beispiele aus Australien und Nordamerika an, die von für uns fremdartigen Raumbegriffen ausgehen (ebd., 3Ūȹf.).
Ř.ŘȳSozialwissensĖaĞliĖe Konzepte des Raums
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Bei Emile Durkheim lassen sich nach Markus Schroer ein erkenntnistheoretischer und ein gesellschaftstheoretischer Zugang zu Raum ausmachen (Schroer 2ŪŪŰ). Erkenntnistheoretisch beschäftigte Durkheim demnach die Frage, was Raum ist und wie er demnach zu konzeptionieren sei. In seiner gesellschaftstheoretischen Perspektive ist Raum hingegen eng mit der Weiterentwicklung von Sozialem verknüpft. Sowohl in der einen als auch in der anderen Perspektive führt Durkheim aus, dass „sich die jeweilige Organisation der Gesellschaft im Raum niederschlägt“ (Schroer 2ŪŪŰ, 48). Emile Durkheim widersetzte sich damit eindeutig den Strömungen seiner Zeit, was etwa die Arbeiten aus der Politischen Geographie oder der Anthropogeographie angeht (siehe auch für die weiteren Ausführungen zu Durkheim Schroer 2ŪŪŰ). Während die gängige wissenschaftliche Vorgehensweise darin bestand, die Auswirkungen eines Raumarrangements auf soziale Strukturen zu untersuchen, ist Durkheim bestrebt zu zeigen, dass nicht nur die materiellen Dinge von Gesellschaften werden, sondern auch elementare Formen des Denkens gesellschaftlich geprägt sind. Zu Letzterem zählt er auch Raum und Zeit (vgl. Durkheim ūųų4, 2űȹf.). Durkheim stellt sich somit gegen die Raumvorstellungen Kants, wonach Raum „a priori“ gegeben sei. Vielmehr ist Raum nach Durkheim gesellschaftlich hergestellt und geformt. Er kommt daher zu der Auffassung, dass die Ordnung des Denkens der räumlichen Ordnung folgt – und nicht etwa umgekehrt (vgl. Schroer 2ŪŪŰ, 4ų). Einteilungen des Raumes etwa in Nord/Süd oder Ost/West entspringen demnach nicht etwa Qualitäten, die dem Raum ex ante inhärent wären, und von Menschen nur mehr entdeckt und anschließend mit Namen versehen worden wären. Vielmehr handelt es sich um Unterscheidungen, die auf kollektiven Zuschreibungen beruhen (vgl. Schroer 2ŪŪŰ, 4ų). Um überhaupt zu existieren, muss der Raum dabei in verschiedene Teile zerteilt sein – ansonsten würde er in unserer Vorstellung keine Bedeutung haben. Analog dazu ist die Vorstellung Durkheims zu sehen, dass Gesellschaft nur dann funktioniert, wenn Personen und Dinge klassifiziert und in unterschiedliche Gruppen eingeordnet werden können. Erst mit Unterscheidung und Einordnung beginnt für Durkheim Soziales. Diese Unterscheidungen werden mit der Weiter- und Höherentwicklung von Gesellschaften immer feiner und komplexer, wobei die Gesellschaftsentwicklung in einem Übergang von einfachen zu höheren Gesellschaftsformen geschieht. Dabei kommt der jeweiligen Organisationsform des Raums eine wichtige Bedeutung zu: Einfache Gesellschaften sind demnach relativ klein und wenig ausdifferenziert. Sie bestehen aus Familien, Clans oder Horden, die untereinander keinen Austausch pflegen. Jeder dieser Teile lebt sozusagen für sich – der Wechsel von
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs
einem Clan in den anderen (etwa durch Heirat) findet kaum statt. Die gesellschaftliche Entwicklung zeichnet sich für Durkheim dadurch aus, dass sich diese geschlossenen Kreise zunehmend einander öffnen und so neue räumliche Organisationsformen zustande kommen. Dabei nimmt die Entstehung von Städten einen herausragenden Stellenwert ein. Allerdings ist es Durkheim trotz dieses Zugangs nicht möglich, Gesellschaft jenseits von Nationalstaaten zu denken, wie Schroer festhält (ebd., 53): Schroer beschreibt die Raumvorstellung Durkheims als ein „Schachtel-in-der-Schachtel“-Prinzip und bezieht sich dabei auf seine Studien zur sozialen Arbeitsteilung, in denen Durkheim Gesellschaften folgendermaßen beschreibt: Alle Völker, die die Klanphase überschritten haben, setzen sich somit aus territorialen Distrikten zusammen (Märkten, Gemeinden usw.), die sich, genauso wie die römische gens Teil der Kurien wurde, mit anderen Distrikten gleicher oder größerer Art verschachteln, welche hier Hundertschaften, dort Kreis oder Bezirk genannt werden und die ihrerseits wieder von noch umfangreicheren umfasst werden (Grafschaft, Provinz, départments), deren Zusammenschluss die Gesellschaft bildet. (Durkheim ūųų2, 24ūȹf.)
In seinen Vorlesungen zur Soziologie der Moral (Durkheim ūųųū) führt Durkheim außerdem aus, wie Gesellschaften mit zunehmendem Entwicklungsgrad über immer dichtere Kommunikations- und Verkehrswege die einzelnen Elemente zunehmend miteinander verbinden, was dazu führt, dass dazwischen liegende Räume überwunden werden (siehe Schroer 2ŪŪŰ, 5Ű). Hierbei ist interessant, dass dieser Aspekt auch heute noch – etwa in der Transnationalismusdebatte – immer wieder Erwähnung findet: Durch verbesserte Kommunikations- und Transportmittel nehmen transnationale soziale Beziehungen zu, so die im Weiteren noch zu diskutierende These. Überaus aktuell mutet da folgende Passage aus „Über soziale Arbeitsteilung“ an, die Schroer (Schroer 2ŪŪŰ) zu Recht mit dem Thema der Globalisierung in aktuellen Texten in Zusammenhang bringt: Selbst der Bewohner der Kleinstadt lebt von nun an weniger ausschließlich das Leben der kleinen, ihn unmittelbar umgebenden Gruppe. Er knüpft auch mit entfernten Ortschaften umso zahlreichere Beziehungen, je weiter die Konzentrationsbewegung fortgeschritten ist. Seine häufigeren Reisen, die aktive Korrespondenz, die er austauscht, die Geschäfte, die ihn nach außen führen usw., lenken seinen Blick von dem ab, was rund um ihn vorgeht. Das Zentrum seines Lebens und seiner Beschäftigungen befindet sich nicht mehr ausschließlich an seinem Wohnort. Er
Ř.ŘȳSozialwissensĖaĞliĖe Konzepte des Raums
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interessiert sich also weniger für seine Nachbarn, weil sie einen geringeren Platz in seiner Existenz einnehmen. Überdies hat die kleine Stadt auch deshalb einen geringeren Einfluß auf ihn, weil sein Leben diesen engen Rahmen überschreitet, weil seine Interessen und seine Gefühlsbindungen weit über sie hinausreichen. (Durkheim ūųų2, 3Ű3)
Neben der von Schroer angeführten Globalisierungsdebatte finden sich auch in einschlägigen Texten zu transnationaler Migration ähnliche Beschreibungen sozialer Beziehungen. Auch für diese gilt, was Schroer im Vergleich zu heutigen Globalisierungstexten anmerkt: Während Durkheim die Ausweitung sozialer Beziehungen innerhalb eines Nationalstaats thematisiert, beschäftigt sich die aktuelle Literatur mit der Frage, wie soziale Beziehungen aussehen, die über Nationalstaaten hinausreichen (Schroer 2ŪŪŰ: 5ű). Anschließend an diese Beobachtung beschäftigt sich Durkheim mit der Frage, wie Gesellschaften weiter zusammengehalten werden, wenn keine eng miteinander verbundenen Einheiten wie Stämme, Clans o.ȹä. prägend sind (vgl. Schroer 2ŪŪŰ, 5ű). Durkheim sieht diesen sozialen Zusammenhalt durch Berufsgruppen gesichert – wobei er von der Annahme ausgeht, dass die Expansion der Gesellschaft zwar auf der einen Seite positive Effekte hat, da etwa jedes Individuum die eigene Lebensweise viel differenzierter bestimmen kann; andererseits sieht er auch die Unsicherheit, die sich damit auftut und die belastend wirkt. Es braucht daher neue Formen der sozialen Einbindung, etwa über berufliche Gruppen. Zusammenfassend kann bereits bei Durkheim festgestellt werden, dass er von einem einzigen Raum ausgeht, den er nicht in einen geographischen hie und einen sozialen da aufspaltet. Seine Annahme ist hingegen, dass räumliche Anordnungen soziale Strukturen widerspiegeln – ein Gedanke, der auch für die nachfolgende und zeitgenössische Raumsoziologie inspirierend ist.
Ř.Ř.1.Ř Georg Simmel Georg Simmel stellt unbestritten den für die Soziologie des Raumes wichtigsten Klassiker dar. In seinen über viele Jahre hinweg erstellten Arbeiten zu dem Thema nimmt er zur Beschaffenheit und Bedeutung von Raum unterschiedliche Gesichtspunkte ein. Diese Differenzen in Georg Simmels Arbeiten wurden seither unterschiedlich gewertet, wobei meine eigene Interpretation dahin geht, dass Georg Simmel je nach Fragestellung, mit der er es zu tun hat, sich dem Thema Raum auf unterschiedliche Weise nähert. In der heutigen
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Rezeption Simmels hat dies zur Folge, dass er von VertreterInnen unterschiedlichster Raumkonzepte in der Soziologie jeweils als Referenzpunkt herangezogen wird. Am deutlichsten beschäftigt sich Georg Simmel mit dem Thema Raum im neunten Kapitel seines Werkes „Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ (Simmel ūųų2, (19ŪŲ), Ű88): Hier stellt er fest, dass nicht die Form räumlicher Nähe oder Distanz die besonderen Erscheinungen der Nachbarschaft oder Fremdheit schaffen, sondern dass diese Phänomene durch seelische Inhalte erzeugte Tatsachen sind. Er kommt daher zu dem Schluss, dass Raum nur eine Tätigkeit der Seele ist, nur die menschliche Art, an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden. (Simmel ūųų2, (19ŪŲ), Ű8ų)
Wichtig ist daran, dass zunächst einmal die Beziehungsart nicht durch räumliche Distanz determiniert ist. Demnach gibt es für Simmel durchaus die Möglichkeit von engen, bedeutungsvollen sozialen Beziehungen über weite Distanzen hinweg. Allerdings sind diese mit diversen Schwierigkeiten konfrontiert, da etwa der sinnliche Austausch über den wechselseitigen Blick aufeinander nicht stattfinden kann. Dieser Austausch über die Sinne ist für Georg Simmel jedoch eine wichtige Voraussetzung für den Vertrauensaufbau und dessen Erhalt im sozialen Austausch zwischen Menschen. In seinem Kapitel zur räumlichen Ordnung der Gesellschaft stellt er fest, dass die Erforschung einer spezifischen Art der Vergesellschaftung danach verlangt, auch die Raumbedingungen zu untersuchen, die zu den Besonderheiten dieser Form des Sozialen gehören. Damit setzt Georg Simmel die Frage nach Raum als zentrales Element der Vergesellschaftung. Um dieses Thema bearbeitbar zu machen, beschreibt er in dem genannten Text zunächst die Grundqualitäten der Raumform (ebd.): Erstens nimmt Georg Simmel die Ausschließlichkeit des Raumes an; dies bedeutet, dass er von der Existenz eines einzigen Raumes ausgeht, von dem alle wahrgenommenen Räume Ausschnitte sind. Dafür bringt er das Beispiel des Staates, auf dessen Territorium kein zweiter Staat errichtet sein kann. Auch Städte sieht er für diese Ausschließlichkeit des Raumes als Beispiel, jedoch im Gegensatz zum Staat erstreckt sich seiner Meinung nach das „Wirkungsgebiet“ der Stadt „mit geistigen, ökonomischen, politischen Wellenzügen über das ganze Land“ (ebd., Űųū). Allerdings schränkt Simmel ein, dass sich diese Wellenbewegungen, die von einer Stadt ausgehen, nur bis an die staatlichen
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Grenzen, innerhalb derer sich die Stadt befindet, ausbreiten können. Dem Staat hingegen schreibt er die Fähigkeit, derartige Wellenbewegungen auszusenden, nicht zu1Ş. Innerhalb einer Stadt kann Raum hingegen gleichzeitig von unterschiedlichen Einheiten eingenommen werden, wobei Simmel hier das Beispiel der Zünfte anführt, die sich über ihre unterschiedlichen „Funktionen“ voneinander unterschieden und so als „soziologische Gebilde nicht räumlich, wenn auch örtlich bestimmt waren“ (ebd., Űų2). Zweitens beschreibt Simmel die Qualität, dass sich Raum „für unsere praktische Ausnutzung in Stücke zerlegt“. Diese Stücke sehen wir als Einheiten – was wiederum Grenzen hervorbringt. Hier weist Simmel auf eine Wechselwirkung hin: Grenzen bringen gleichzeitig auch die Stücke hervor, in die sich Raum zerlegen lässt. Als Beispiel führt er wiederum das Staatengebilde an, wobei er hervorhebt, dass die Grenzziehungen zwischen unterschiedlichen Staaten willkürlich sind und nicht naturgegeben. Hier lässt sich denn auch eine Erklärung dafür finden, warum die alltagspraktische Annahme der Gültigkeit nationaler Container nach wie vor derart überwältigend ist: So ist eine Gesellschaft dadurch, dass ihr Existenzraum von scharf bewussten Grenzen eingefasst ist, als eine auch innerlich zusammengehörige charakterisiert, und umgekehrt: Die wechselwirkende Einheit, die funktionelle Beziehung jedes Elementes zu jedem gewinnt ihren räumlichen Ausdruck in der einrahmenden Grenze. Es gibt vielleicht nichts, was die Kraft insbesondere des staatlichen Zusammenhaltens so stark erweist, als dass diese soziologische Zentripetalität, diese schließlich doch nur seelische Kohärenz von Persönlichkeiten zu einem wie sinnlich empfundenen Bilde einer fest umschließenden Grenzlinie aufwächst (ebd., Űų4).
Allerdings geht Simmel davon aus, dass trotz der Formung des Raums durch unseren Geist auch geographische Besonderheiten – wie etwa Gebirgstäler – spezifische sozialpsychologische Auswirkungen auf ihre BewohnerInnen haben. Dabei erklärt er den „Konservativismus“, den er diesen Menschen attestiert, mit der erschwerten Erreichbarkeit und dem daraus resultierenden verminderten Austausch mit Anderen. Auch hier jedoch macht sich die Dualität der Simmelschen Argumentation wieder bemerkbar: Anhand der Grenzziehung macht er direkt im Anschluss deutlich, dass
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Auf diese Besonderheit weist Markus Schroer (Schroer Ř006) hin und stellt einen interessanten Konnex zur momentanen Diskussion rund um transnationale soziale Räume her.
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs das idealistische Prinzip, dass der Raum unsere Vorstellung ist, genauer: Dass er durch unsere synthetische Tätigkeit, durch die wir das Empfindungsmaterial formen, zustande kommt – spezialisiert sich hier so, dass die Raumgestaltung, die wir Grenze nennen, eine soziologische Funktion ist (ebd., Űųű).
Drittens hebt Simmel die Eigenschaft der Fixierung hervor, die für die gesellschaftliche Ausgestaltung von Bedeutung ist. Als Beispiel führt er hier nomadische versus ansässige Lebensformen an (ebd., űŪ5). Generell hält er fest: Je primitiver die Geistesverfassung ist, desto weniger kann für sie Zugehörigkeit ohne lokale Gegenwärtigkeit bestehen und desto mehr sind dem entsprechend auch die realen Verhältnisse auf diese persönliche Anwesenheit der Gruppenmitglieder angelegt; mit größerer geistiger Biegsamkeit und Spannweite werden die Angelegenheiten so geordnet, dass die wesentlichen Bestimmungen der Zugehörigkeit auch bei räumlicher Abwesenheit bewahrt werden können; so dass schließlich bei durchgedrungener Geldwirtschaft und Arbeitsteilung eine immer weitergehende „Vertretung“ der unmittelbaren Leistungen die Anwesenheit der Individuen bis zu einem hohen Grade entbehrlich macht. (ebd., űŪŰ)
Diese Überlegungen Simmels führen direkt zu dem immer noch viel diskutierten Thema der Bedeutung von Anwesenheit für soziale Interaktionen19. Viertens ist die Nähe oder Distanz im Raum, die zwischen Personen besteht, von Bedeutung. Dabei unterscheidet Simmel soziale Beziehungen, die körperliche Nähe nicht erfordern, wie etwa wirtschaftliche oder wissenschaftliche Transaktionen, weil ihre Inhalte seiner Auffassung nach rein logisch und daher „schriftlich restlos ausdrückbar“ (ebd., űūű) sind. Konträr dazu sieht er die Eigenheit sozialer Beziehungen, die nicht derart eindeutig sind und die daher der Kopräsenz bedürfen. Dabei betont er den „sinnlicheren Charakter der lokalen Nähe“ (ebd., ű2Ū) im Gegensatz zu Beziehungen auf Distanz. Letztere sind intellektuell fordernder, wenn auch kühler aufgrund der Sachlichkeit der ausgetauschten Argumente. In seinen Ausführungen zum sozialen Leben in der Stadt kommt Simmel zu der nach wie vor heftig debattiertenŘ0 Einschätzung, dass Raum an Bedeutung verliert, da sich soziale Organisation von Raum mehr und mehr loslöst. Durch die Reichhaltigkeit sozialer Beziehungen und die Präsenz vieler Stimuli 19Ȳ
Siehe hierzu auch in Kapitel Ř.Ř.Ř.Ř, in welchem die Bedeutung von An- und Abwesenheit unter heutigen Bedingungen diskutiert wird. Ř0Ȳ Vgl. zu einem Überblick zu diesem Diskurs etwa Berking (Berking Ř006).
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in der Großstadt müssen Menschen Strategien entwickeln, wie sie unter derartigen Bedingungen zusammenleben können. Die Strategien bestehen etwa in einem distanzierten Umgang miteinander und der Entwicklung einer gewissen Abhärtung gegenüber Gefühlen (Simmel ūųų2, (19ŪŲ), ű2ū). Ohne diese Fähigkeiten wären Menschen außerstande, mit Erfahrungen, die mit einer hohen Bevölkerungsdichte verbunden sind, umzugehen. Die urbane Persönlichkeit ist daher reserviert, ungebunden, und blasiert. Gleichzeitig garantiert die Stadt den Individuen einen vergleichsweise hohen Grad an persönlicher Freiheit, da die Stadt im Unterschied zu klein strukturierten Gemeinschaften mehr Freiraum für innere und äußere Entwicklung lässt. Es ist die räumliche Form der Stadt, die die einzigartige Entwicklung der Individuen zulässt, die in einem weitmaschigen Netz sozialer Kontakte leben. Außerdem basiert diese Lebensweise nach Simmel (ebd.) auf der Geldökonomie, die die Quelle und der Ausdruck der Rationalität und Intellektualität der Stadt ist. Besonders die Geldwirtschaft bringt die Erfordernisse von Pünktlichkeit und Präzision des modernen Lebens hervor, da Menschen ihre Aktivitäten und Beziehungen eher kalkulierend angehen. Jede soziale Interaktion muss so unter Bedingungen der Geldökonomie in einer spezifischen Weise aufeinander abgestimmt werden, sodass ein präzises Zeitmessen und Pünktlichkeit zu einer Verringerung der Spontanität führen. Eine fünfte Qualität von Raum tut sich auf, wenn Simmel auf die Mobilität von Menschen Bezug nimmt und diese im Gegensatz zu einem „ruhenden Nebeineinander“ (ebd., ű48) beschreibt. Hier geht er von der Frage aus, „welche Formen der Vergesellschaftung sich bei einer wandernden Gruppe im Unterschied“ zu einer räumlich fixierten Gruppe feststellen lassen. Dabei diskutiert er zunächst das gesellschaftliche Gefüge wandernder Stämme anhand von Jägern und Sammlern – und kommt schließlich zu seinem berühmten Aufsatz über den Fremden, der auch als Exkurs zum Thema Raum und Mobilität gelesen werden kann. In hoch entwickelten Gesellschaften finden sich demnach Mechanismen, wie trotz größerer räumlicher Distanzen Vergesellschaftung passiert: Um in einer räumlich weit ausgedehnten Gruppe die von einander entfernten Elemente dynamisch zusammenzuhalten, bilden hoch entwickelte Epochen ein System mannigfaltiger Mittel aus, vor allem alles Gleichmäßige der objektiven Kultur, das von dem Bewußtsein, es sei hier eben dasselbe, was es an jedem Punkt des gleichen Kreises ist, begleitet wird. (Simmel ūųų2, (19ŪŲ), ű55)
Zu diesen Gleichmäßigkeiten zählt Simmel Sprache, Gesetz, staatliche und kirchliche Institutionen sowie die in einer Gesellschaft beobachtbaren Lebens-
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weisen. Ein wichtiger Vergleichspunkt ist dabei das Phänomen des Wanderns, des Nicht-Sesshaften – und schließlich des Fremdseins. Den Fremden definiert er dabei als jenen, der potentiell weiter wandern könnte, seine Wanderung jedoch unterbricht und in der Fremde verbleibt. Er hat somit im Vergleich zu den Sesshaften die „Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden“ (ebd., űŰ4), woraus sich sei ne spezifische soziale Positionierung ergibt. Anschließend an diese fünf Raumqualitäten expliziert Simmel vier Raumkonfigurationen. Dabei unterscheidet er zunächst die Veränderung der Organisation weg von familiären Bindungen hin zu staatlichen Gebilden. Dies ist insofern wichtig, als „der Raum als Grundlage der Organisation diejenige Unparteilichkeit und Gleichmäßigkeit des Verhaltens (besitzt), die ihn zum Korrelat der Staatsmacht (…) geeignet macht“ (ebd., űű2). Neben dieser politischen Ebene wird diese räumliche Veränderung auch für wirtschaftliches Handeln beschrieben. In einem weiteren argumentativen Schritt bezeichnet Simmel die Gebietshoheit und die Herrschaftsausübung, die in spezielle Formen im räumlichen Ausdruck münden. Er führt auch aus, dass sich gesellschaftliche Konglomerate „in bestimmte räumliche Gebilde umsetzen“ (ebd., űűų) – wie etwa die Familie, ein Club oder eine religiöse Gemeinschaft. Diese sozialen Gebilde haben gemein, dass sie über feste geographische Lokalitäten verfügen. Zuletzt unterscheidet Simmel noch den „leeren Raum“ (ebd., ű84) von allen bisher beschriebenen Raumgebilden. Dieser gewinnt etwa dann an Bedeutung, wenn Völker in früheren Zeiten danach trachteten, ihr Gebiet nicht direkt an jenes anderer Gruppen anschließen zu lassen, sondern von unbewohnter Wildnis umgeben zu sein. Diese „Leere“ entspringt einem Schutzbedürfnis, das Simmel mit jener Sehnsucht Einzelner vergleicht, die darin ebenfalls einen Schutz vor anderen empfinden (ebd., ű84ȹf.). Genauso kann es aber auch sein, dass ein unbewohnter Landstrich potentiell von zwei Parteien beansprucht wird. Jedenfalls hebt Simmel die Funktion eines „neutralen“ Raums hervor als einen Ort, an dem sich Streitparteien treffen können, ohne belastetes Territorium betreten zu müssen. Daher kommt Simmel zu dem folgenden Schluss: Von allen Potenzen des Lebens ist der Raum am meisten die zur Anschauung gewordene Unparteilichkeit; fast alle andren Inhalte und Formen unseres Milieus haben durch ihre spezifischen Eigenschaften irgendwie andre Bedeutungen und Chancen für die eine als für die andre Person oder Partei, und nur der Raum eröffnet sich jeglichem Dasein ohne irgendein Präjudiz. (ebd., ű88)
In diesem Text zeigt sich somit deutlich, dass Simmels Ausführungen zum Thema Raum in allerlei Richtungen lesbar sind. Einerseits weist er darauf hin,
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dass es sich bei Raum ausschließlich um eine Tätigkeit der Seele handelt – andererseits gesteht er Raum per se eine Menge Eigenschaften zu, während sich der Raum bei Simmel doch auch jeglichem Dasein ohne irgendein Präjudiz eröffnet – er ist also vorhanden von sich aus, ohne Zutun der Handelnden. Dass beide Deutungen möglich sind, wird noch deutlicher, wenn auch andere Texte Simmels zum Thema Raum gelesen werden. In seinem Essay mit dem Titel „Die Großstädte und das Geistesleben“ (Simmel ūų5ű, (19ŪŲ)) beschäftigt sich Simmel u.ȹa. mit den psychologischen Grundlagen großstädtischen Zusammenlebens, wobei er von der Überlegung ausgeht, dass „der Mensch ein Unterschiedswesen“ ist, das heißt, sein Bewusstsein wird von der Unterschiedlichkeit des Moments im Vergleich zum vergangenen Augenblick angeregt. John Urry deutet diesen Text daher so, dass er nicht sosehr das städtische Leben im Sinne einer räumlichen Form der Stadt analysiert; vielmehr sieht er einen Zusammenhang zu Karl Marx und Friedrich Engels und deren Manifest der Kommunistischen Partei (Marx und Engels ūų33, (1ŲŮŲ)), indem die Effekte moderner Mobilitätsmuster auf das Sozialleben beschrieben werden (Urry ūųųŰ, 3ű5). Die Großstadt wird bei Simmel also als ein von Menschen geschaffenes soziales Phänomen beschrieben, das auf das soziale Verhalten der in ihr Lebenden fundamentale Auswirkungen hat. Diese Lesart würde der Deutung des Simmelschen Raumkonzeptes, wie es Markus Schroer vorlegt, entgegen kommen. Schroer kritisiert dabei zunächst einmal, dass „Die Großstädte und das Geistesleben“ zwar zu den am häufigsten rezipierten Texten Simmels zählt – gleichzeitig jedoch vor allem in der Stadtsoziologie kaum der Konnex zu anderen Schriften Simmels hergestellt wird, weshalb die Verbindung zu seiner Soziologie des Raums fehle (Schroer 2ŪŪŰ, Űū). Schroer verweist daher auf die fünf Raumqualitäten und vier Raumgebilde Simmels, um von der Idee eines normativen Raumkonzepts, das sich aus Simmels Schriften begründen ließe, abzurücken. Dass Simmels Position mit raumdeterministischen Interpretationen nicht in Einklang zu bringen ist, belegt Schroer dabei auch mit einem Simmelschen Text, der vor dem „Raum und die räumliche Ordnung der Gesellschaft“ entstanden ist: In „Über räumliche Projektionen socialer Formen“ (Simmel ūųų5, (19Ū3)) macht Simmel klar, dass es ihm darum geht, wie Menschen durch ihre Lebensweisen Raum bestimmen (Schroer 2ŪŪŰ, Űū). Auch Schroer gesteht zwar ein, dass Simmel nicht „durchgehend konsequent“ mit dem Thema Raum in dem soeben zitierten Sinne verfahren ist; jedoch widerspricht er der ebenfalls gängigen Deutung, dass Simmel zwischen materialistischen und konstruktivistischen Raumkonzepten hin- und herschwanke (ebd., Ű2). Schroer hingegen vertritt die These, dass Simmel das Untersuchungsgebiet einer Raumsoziolo-
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gie in zwei Bereiche aufteilt: Einerseits den Bereich, wie Menschen oder Gruppen Raum formen und zweitens wie Raum auf den Lebensvollzug rück- bzw. einwirkt. Schroer führt an, dass Simmel auch in diesem zweiten Punkt davon ausgeht, dass Raum immer sozial konfiguriert wird und nicht jenseits des Sozialen etwa als Materiales besteht: „Simmel analysiert die Projektionen in den Raum und die Art und Weise, wie diese wieder auf das Leben und die Form der sozialen Gruppen zurückwirken. Nie jedoch in dem Sinne, dass der Raum selbst als Ursache für bestimmte Ereignisse angesehen werden könnte“ (Schroer 2ŪŪŰ, Ű3). Dem lässt sich jedoch auch das bereits zitierte Beispiel entgegenhalten, in dem Simmel die charakterlichen und sozialen Besonderheiten von BewohnerInnen von Bergtälern beschreibt. Auf diesen Punkt geht Schroer allerdings nicht weiter ein – wohl aber beschäftigt ihn die spannende Frage, wie Simmel zu der Auffassung gelangt, dass es einen „leeren Raum“ geben könnte. Dies erklärt Schroer damit, dass Simmel von einer euklidischen Raumvorstellung ausgeht, die aber immer relational und sozial bleibt. Zur Frage von welchem Raumkonzept Simmel nun tatsächlich ausgeht finden sich bis heute divergierende Einschätzungen in der einschlägigen Fachliteratur. Dieter Läpple (Läpple ūųųū) bezieht sich dazu neben dem bereits diskutierten Text zur räumlichen Ordnung vor allem auf Simmels Ausführungen in der „Philosophie des Geldes“ (Simmel ūų58, (19ŪŲ)) und kommt zu dem Schluss, dass die Ansätze einer Raumanalyse bei Simmel von einer Theorie der Modernisierung überlagert werden, in der die Bedeutung des Geldes jene des Raumes zurückdrängt. Dabei bezieht er sich auf den ausgiebig rezipierten Text Elisabeth Konaus (Konau ūųűű) und ihre Diagnose, dass sich bei Simmel Gesellschaft mit zunehmender Entwicklung vom Raum „emanzipiere“ (Konau ūųűű). Dieser Einschätzung schließt sich Läpple an, wenn er meint: Wir stoßen also selbst beim ‚Kronzeugen‘ einer ‚Soziologie des Raumes‘ auf die These von der Emanzipation gesellschaftlicher Entwicklung vom ‚Raum‘. Mit der Herausbildung immer abstrakterer Formen der Vergesellschaftung, wie Geld und Recht, verliert nach Simmel der ‚Raum‘ zunehmend seine Funktion als ‚Grundlage sozialer Organisation‘ (vgl. Simmel ūųŪ8, Űų5). Einschränkend zu dieser Interpretation muß allerdings angemerkt werden, dass Simmel dabei von einer stark geographischen Interpretation des Raumes ausgeht, wobei er den ‚Raum‘ primär als Standortraum bestimmt (Läpple ūųųū).
Auch Martina Löw (Löw 2ŪŪū, Űūȹf.) kommt in ihrer in den letzten Jahren viel beachteten Monographie „Raumsoziologie“ im Anschluss an die Ausführun-
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gen Läpples zu der Einschätzung, dass es sich bei Simmels Raumkonzept um ein euklidisches und absolutistisches Raumverständnis handelt. Löw sieht jedoch Simmels Beitrag an jenem Punkt als gehaltvoll an, wo er „Räume (…) als materiell vorzufindende Objekte“ (Löw 2ŪŪū, Ű2) bestimmbar macht. Die dafür nötige individuelle und kollektive Verknüpfungsleistung beschreibe Simmel demnach als Leistungen, die es erst ermöglichen, dass gesellschaftlich vorstrukturierte Formen produziert werden. Damit kann Löw für ihre eigene theoretische Ausarbeitung wichtige Grundlagen aus ihrer Deutung Simmels ziehen, kritisiert seine Raumkonzeptionen jedoch gleichzeitig als unzureichend für die Ausformulierung einer Raumsoziologie. Andrea Glauser (Glauser 2ŪŪŰ) hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass Martina Löw Georg Simmel an dieser Stelle verkürzt rezipiert, da bei Simmel Raum nicht immer an Objekte gebunden sein muss. Löws Kritik der reinen euklidischen und absolutistischen Raumkonzeption bei Simmel ist daher kritisch zu hinterfragen. Löw ist mit dieser Interpretation Simmels allerdings nicht alleine: Gabriele Sturm (Sturm 2ŪŪŪ) geht ebenfalls auf Simmel ein, wobei auch sie das Hauptaugenmerk bei ihm auf die Emanzipation von Raum mit zunehmender historischer gesellschaftlicher Differenzierung legt (vgl. Sturm 2ŪŪŪ, ū5ű). Sturm konstatiert nach einer Betrachtung seiner Schriften zur Geldwirtschaft und zu den Raumqualitäten bzw. -gebilden, dass „in Simmels doppelschrittiger Raumkonzeption sein Verhaftetsein im damals unhinterfragten ‚absoluten Raum‘ Newton-Kantscher Prägung“ (ebd., ū5ų) deutlich wird. Und so stimmt auch sie schließlich der bereits erwähnten Bewertung Elisabeth Konaus (ūųűű) zu, dass mit der Emanzipation vom Raum auch gleichzeitig die Beschäftigung mit dem Raum für die Analyse moderner Gesellschaften ein Ende findetŘ1: „Wenn nur primitive Gesellschaften auf räumliche Nähe, Anwesenheit und sinnliche Anschauung angewiesen sind und entwickelte Gesellschaften mit Abstraktionsfähigkeit und sachlicher Differenzierung immer raumunabhängiger werden, braucht sich niemand mehr mit Raum zu beschäftigen“ (Sturm 2ŪŪŪ, ū5ų). Dennoch gesteht Sturm Simmel zu, dass er zumindest ein ‚vollständiges‘ Konzept des Raumes entwickelt hat, das mit materialen Elementen sowie mit konstitutiven Sozialbeziehungen operiert. Derart zwiespältige Einschätzungen von Simmels Beitrag wurden jüngst von Andrea Glauser (Glauser 2ŪŪŰ) anhand bisher kaum beachteter Schriften Simmels erneut thematisiert. Sie bestreitet auf dieser Basis, dass Simmels Raumkonzept einer absolutistischen Position nahe komme und bezieht sich Ř1Ȳ Zu diesem Punkt vgl. auch Urry (Urry 1996, ř7Ś), der meint, dass Simmel dazu tendiert, soziale Organisation von Raum unabhängig zu konzipieren.
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in ihrer Argumentation auf die Vorlesungen Simmels zu Kant einerseits und auf seine beiden Essays „Philosophie der Landschaft“ (Simmel ūų84b, (19ŪŲ)) und „Brücke und Tür“ (Simmel ūų84a, (19ŪŲ)) andererseits. Sie unterstreicht, dass Simmel selbst die Vorstellung von Raum als Container in seinen KantVorlesungen kritisiert hat (Glauser 2ŪŪŰ). Zum Vorwurf, Simmel würde ein euklidisches Raumkonzept nutzen, führt sie die beiden Essays als Beispiele an, wie Simmel selbst den Blick auf die Landschaft einerseits konstruiert und die Frage nach der Unterscheidung andererseits diskutiert. Dabei kommt sie zum Schluss, dass Simmel Raum als „Anschauungsform“ (ebd., 258) definiert und dabei Raum im Unterschied zu Kant unabhängig von einer Bindung an Euklidik sieht. Insgesamt sieht jedoch auch Glauser Widersprüche in der Raumtheorie Simmels und begründet dies mit der längjährigen Beschäftigung des Autors mit unterschiedlichen Problemstellungen, weshalb eine Raumkonzeption „aus einem Guss“ nicht gegeben sei. Wofür sie meiner Ansicht nach zu Recht plädiert, ist eine präzisere Auseinandersetzung mit den vielschichtigen Texten Simmels, die bei vielen AutorInnen innerhalb weniger Paragraphen abgehandelt und sodann beiseite gestellt werden. Eine interessante Deutung der generellen Bedeutung Simmels für die Raumsoziologie legt Schroer (Schroer 2ŪŪŰ, ű8) vor, indem er die Raumqualitäten und -gebilde bei Simmel als die zentralen Zugänge zu dessen Raumverständnis hervorhebt. Er schlägt vor, dass den ersten vier Raumqualitäten (Ausschließlichkeit, Zerlegbarkeit/Begrenzung, Fixierung und Nähe/Distanz) jeweils ein Raumgebilde (Staat, Gebietshoheiten/Zentralität, Verortung in fester Lokalität und leerer Raum) gegenüberstehen – und sich für die letzte Raumqualität (Bewegung/Wanderung) auf der Seite der Raumgebilde nicht ohne Grund eine Leerstelle befindet. Diese Leerstelle sieht Schroer darin begründet, dass Simmel Wanderung in seinem historischen Kontext noch nur als Bewegung von einem Container in einen anderen deuten konnte, wohingegen wir heute hier problemlos transnationale Räume einsetzen könnten. Die Stärke der Raumsoziologie Simmels sieht Schroer resümierend darin, dass er weder dem Raumdeterminismus noch dem Raumvoluntarismus (ebd.) anheimfällt. Dieser Einschätzung der Bedeutung der Arbeiten Simmels stimme ich zu – wenn auch nicht derart ungeteilt wie dies Schroer vornimmt: Bei einer Zusammenschau der hier kurz zusammengefassten Texte Simmels kommt Raum in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen vor. Ganz deutlich macht Simmel dabei zwar einerseits seinen Anspruch, Raum als soziale und mentale Leistung zu sehen – was nicht auch zuletzt in seinen Vorlesungen zu Kant deutlich wird (Simmel ūųū3); andererseits ist es schwierig, all seine Beispiele unter die Dualität einzureihen, die Schroer wie oben beschrie-
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ben vorschlägt – etwa wenn wir an das bereits diskutierte Beispiel der Wirkung von Bergtälern denken. So scheint es mir doch zulässig, abschließend festzuhalten, dass die unterschiedlichen Auslegungen der Simmelschen Texte zu Raum auch in seinen Schriften selbst begründet und (nicht nur) auf deren unzureichende Rezeption zurückzuführen sind. Gleichzeitig greifen jedoch meiner Ansicht nach auch jene Einschätzungen von Simmels herausragender Leistung für die Raumthematik zu kurz, welche die Annahme der abnehmenden Bedeutung der Raumdimension und seine teilweise absolute Setzung von Raum überbetonen. Dies wird Simmels Bemühungen letztendlich nicht gerecht und auch nicht der Bedeutung seines raumsoziologischen Beitrags, der sich in einschlägigen Arbeiten bis heute zeigt.
2.2.2
Das Wiederaufleben der Raumthematik in der Soziologie
Wie bereits ausgeführt hat die Raumthematik die Soziologie historisch gesehen ungleich weniger beschäftigt als das Thema der ZeitŘŘ. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich allerdings vor allem zwei Soziologen der Raumdimension zugewandt, die in diesem Bereich nicht nur bedeutende Beiträge geleistet haben, sondern Raum auch zentral in ihre theoretischen Entwürfe eingearbeitet haben. Im vorliegenden Kapitel werden die Arbeiten von Pierre Bourdieu und Anthony Giddens daher ausführlich besprochen.
Ř.Ř.Ř.1 Pierre Bourdieu In Pierre Bourdieus Texten fällt auf, dass zwar der Begriff des Raumes immer wieder eine Rolle spielt, jedoch in teilweise anderen Bedeutungszusammenhängen als dies bisher diskutiert wurde. Zusammenfassend gesagt konstituieren sich bei ihm soziale Räume, die er als Felder bezeichnet, aus der Plazierung menschlicher Individuen. Besonders aufschlussreich für sein spezifisches Raumverständnis innerhalb des soziologischen Denkens ist dabei der Text „Physischer, sozialer und angeeigneter Raum“ aus dem Jahr ūųųū, in dem er gleich zu Beginn klarstellt, dass
ŘŘȲ Zum Zusammenhang der beiden grundlegenden Thematiken Raum und Zeit in der Soziologie siehe Kapitel Ř.Ř.Ś.
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs (…) menschliche Wesen zugleich biologische Individuen und soziale Akteure sind, die in ihrer und durch ihre Beziehung zu einem sozialen Raum, oder, besser, zu Feldern als solchen konstituiert werden. Als biologisch individuierte Körper sind sie, wie physische Gegenstände, örtlich gebunden (verfügen nicht über physische Ubiquität, die es ihnen erlaubte, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein) und nehmen einen Platz ein. (Bourdieu ūųųū, 2Ű)
Hier erinnern die Ausführungen an Simmels Raumqualitäten, in denen Simmel die Qualität der Ausschließlichkeit beschreibt: Ein Körper kann nur an einem einzigen Platz verweilen, und wo ein Körper ist, kann zur selben Zeit kein anderer sein. Gleichzeitig schlägt Bourdieu mit diesen einleitenden Ausführungen eine für die Soziologie wichtige Brücke zur Verortung des sozialen Raumes ausgehend von „biologisch individuierten Körpern“. Damit ist gewährleistet, dass seine Theorie des Raumes nicht in einer Ortlosigkeit mündet, die etwa an gewissen globalisierungstheoretischen Ansätzen immer wieder kritisiert wirdŘř. Im Kapitel „Sozialer Raum und Feld der Macht“ (Bourdieu ūųų8) betont Bourdieu, dass die Beschäftigung mit dem Thema Raum für die Soziologie vorrangig sein sollte, um „mit der Tendenz zu brechen, substantialistisch über die soziale Welt nachzudenken“ (ebd., 48). Er geht von einer relationalen Auffassung des Sozialen aus, d.ȹh. dass Personen und Gruppen soziale Positionen in Relation zueinander einnehmen. Bourdieu gesteht zwar ein, dass die empirische Untersuchung dieses Phänomens eine schwierige Aufgabe ist, weil diese Relationen nicht sichtbar und direkt messbar sind – gleichzeitig weist er jedoch darauf hin, dass es sich bei diesem sozialen Raum dennoch um die „realste Realität“ handelt. Den Begriff des Feldes möchte er verwendet wissen, da es Kräfte sind, die sich in diesem Feld oder Raum gegenüberstehen: Je nach Position im sozialen Raum sind Personen oder Gruppen mit Ressourcen ausgestattet, die sie (auch) rivalisierend einsetzen, um so ihre Stellung zu erhalten oder zu verbessern (Bourdieu ūųų8, 4ųȹf.). Dieser theoretische Ansatz kann auch erklären, warum sich soziale Stellungen eher verfestigen denn verflüssigen: Wie Bourdieu in seiner Vorlesung „Sozialer Raum und ‚Klassen‘“ (Bourdieu ūų85, 22) ausführt, fließen die unterschiedlichen Formen des Kapitals am ehesten dorthin, wo sie bereits vorhanden sind. Pierre Bourdieu geht also davon aus, dass sich die Körper in Relation zueinander positionieren, und zwar innerhalb einer Rangordnung, die dadurch ŘřȲ Dieses Thema wurde – auf Basis der Argumentation von Berking (Berking Ř006) – bereits in der Einleitung behandelt.
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wiederum (re-)produziert wird. So entstehen Differenzierungen bzw. soziale Positionen, die nur jeweils von einem Körper eingenommen werden können, wobei hier Bourdieu eine Parallelität zwischen dem von ihm beschriebenen sozialen Raum und dem physischen Raum sieht: Auch in diesem physischen Raum kann ein Ort nur von einem Ding besetzt werden. Darüber hinaus besteht auch ein Zusammenhang zwischen sozialem und physischem Raum: Laut Bourdieu schlägt sich der soziale Raum im physischen Raum nieder – als eine bestimmte Verteilung von AkteurInnen und Eigenschaften (Bourdieu ūųųū). Unterschiede, die wir im physischen Raum feststellen können, lassen daher Rückschlüsse auf soziale Differenzierungen zu. Diesen sozialen Raum nennt Bourdieu auch „reifizierten“ (also: verdinglichten) oder „angeeigneten physischen“ Raum. Für die Lokalisierung im sozialen Raum ist laut Bourdieu besonders der Wohnort oder auch der Arbeitsort aussagekräftig, den Personen im physischen Raum besetzen. Hilfreich ist der von ihm geprägte Begriff des „Naturalisierungseffektes“: Darunter versteht Bourdieu, dass der soziale Hintergrund physischer Räume im Alltag häufig nicht als solcher wahrgenommen wird, weil wir derartig an die Annahme einer gegebenen, natürlichen Umgebung gewohnt sind. Hierfür bringt Bourdieu etwa das Beispiel der „natürlichen Grenze“ (vgl. Bourdieu ūųųū, 2ű). Die herausragende Bedeutung der Stellung im physischen Raum für die sozialwissenschaftliche Analyse in seinem Denken wird verständlich, wenn der Zusammenhang mit Bourdieus anthropologischen Forschungsarbeiten insbesondere zum kabylischen Haus hergestellt wird. Auf diese Arbeiten verweist Bourdieu selbst – so auch in dem soeben zitierten Text (ebd., 2ű). Dabei arbeitete Bourdieu die soziale Stellung der beobachteten Personen anhand ihrer Aufenthaltsorte im Haus bzw. im Dorf heraus, wobei er dabei zwischen untergeordneten und übergeordneten, vorderseitigen und rückwärtigen Positionierungen im physischen Raum unterscheidet, die er als Indikatoren für soziale Positionierungen verwendet. Bourdieu sieht die Übertragbarkeit dieser Forschungsergebnisse auf moderne Gesellschaften zum einen relativ positiv: Er geht davon aus, dass sich von physischen Plazierungen „auch heute noch, wenn auch auf immer diskretere Weise“ (ebd.) auf soziale schließen lässt – und nennt hierfür als Beispiel die Arbeitsaufteilung zwischen den Geschlechtern oder die Positionierungen innerhalb eines Schulkontextes. Diese Einschätzung dürfte er einige Jahre später revidiert haben, da er in „Sozialer Raum und Feld der Macht“ (ūųų8) meint, es sei Hauptaufgabe der Sozialwissenschaft, sich mit sozialen Räumen auseinanderzusetzen, in denen sich Klassen abgrenzen lassen, die jedoch nicht direkt empirisch beobachtbar sind, sondern „nur auf dem Papier bestehen“ (Bourdieu ūųų8, 4ų). Konkret müsste es der Sozial-
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wissenschaft darum gehen, das jeweilige Differenzierungsprinzip einer Gesellschaft zu rekonstruieren und aufzudecken, mit dem sich der empirisch beobachtete Raum theoretisch herstellen ließe. Wörtlich fährt er dann fort: Dass dieses Differenzierungsprinzip zu allen Zeiten und an allen Orten das gleiche wäre, im China der Ming-Kaiser wie im heutigen China oder gar im heutigen Deutschland, Russland oder Algerien, ist nicht anzunehmen. (Bourdieu ūųų8, 4ų)
Trotz all dieser Unterschiede geht er davon aus, dass sich jede menschliche Gesellschaft als sozialer Raum von Relationen konstituiert. Die an Bourdieu geäußerte Kritik, sein Konzept wäre zu zeitlos und invariabel, ist daher im Lichte dieses später entstandenen Textes zumindest zu hinterfragen. Wichtig für Bourdieus Theorie, die in dem wissenschaftlichen Bestseller „Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ (Bourdieu ūų82) mündet, ist schließlich der Gedanke, dass diese sozialen Positionierungen und ihr physischer Niederschlag sich in die mentalen Strukturen und Körper der Menschen einschreiben. Aufgrund der Präferenzsysteme, die sich je nach Position im Raum ausbilden, werden spezifische Handlungen gesetzt und andere unterlassen. Bourdieu weist auch darauf hin, dass architektonischen Räumen eine besondere Stellung zukommt, da bauliche Gegebenheiten AkteurInnen, die sich in diesen Umgebungen aufhalten, in bestimmte Haltungen und Bewegungen regelrecht hineinzwingen können. Die Problematik sieht Bourdieu nun darin, den physischen Raum als solchen zu benennen, da er meist bereits angeeignet ist, das heißt zum sozialen Raum geworden ist; dennoch wird er im Alltag als physischer Raum wahrgenommen. Erschwerend kommt hinzu, dass wir den sozialen Raum in unserem Sprachgebrauch kaum anders als mit Begriffen des physischen Raumes beschreiben können. Bourdieu legt daher Wert auf eine strikte Trennung zwischen sozialem und physischem Raum, wobei er den sozialen Raum als Zusammenstellung von Subräumen oder -feldern beschreibt – etwa dem wirtschaftlichen, intellektuellen oder künstlerischen Feld (ebd., 28, vgl. auch Richter ūųųű, ūűū). Ein weiteres wichtiges theoretisches Konzept stellt der sog. „Club-Effekt“ dar (Bourdieu ūų82, 32): Bourdieu weist darauf hin, dass die Teilnahme an den exklusivsten Zirkeln nicht nur ökonomisches und kulturelles Kapital voraussetzen, sondern vor allem symbolisches Kapital. Damit lassen sich höchst effizient jene Personen aus privilegierten Zonen ausschließen und fernhalten, die als nicht zugehörig angesehen werden. ‚Gated communities‘ wären hierfür ein Beispiel, die den Zutritt in eine Nachbarschaft für Nicht-Erwünschte meist erfolgreich verhindern. So gibt es favorisierte Orte in Feldern und als Gegenpart
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zu ihnen Ghettos, die nicht mit Kapitalien verbunden sind. Die Anwesenheit in derartigen Zonen führt zu Deprivation und Stigmatisierung, was sich auch in die Körper einschreibt. Auffallend ist in den Beispielen, die Pierre Bourdieu heranzieht, dass er vor allem von Zugang zu Hochkultur spricht, nicht jedoch von der Teilnahme in anderen (sub-) kulturellen Szenen und hieraus gewonnenen Kapitalien aus bestimmten Gruppenbeziehungen. Dass es aber auch in den von ihm benannten Ghettos Kapitalien gibt, die ebenfalls einen Einfluss auf die soziale Positionierung haben, wird in der momentanen raumsoziologischen Diskussion zu Recht als Kritik an Bourdieu angeführt (vgl. hierzu Schroer 2ŪŪŰ). Personen oder Gruppen können für sich selbst auch „Raumprofite“ (ebd., 3Ū) lukrieren, wenn sie etwa (auf individueller Ebene) im Biographieverlauf oder über die Generationen hinweg eine Verlagerung ihres Wohnsitzes von weniger privilegierten in privilegiertere Areale vollziehen können. Auf der kollektiven Ebene handelt es sich um politische Strategien wie etwa in der Wohnbaupolitik, die dazu führen, dass exklusivere Wohnviertel etwa mit sozialem Wohnbau durchmischt werden. Hier kommt Bourdieu auch auf die für die Migrationsforschung in der Folge noch weiter diskutierte Bedeutung von Segregation zu sprechen und meint, dass diese zugleich „Ursache und Wirkung des exklusiven Gebrauchs eines Raumes“ (ebd.) ist. Außerdem merkt er zu diesem Thema an, dass es sich bei der Herrschaft über Raum um eine der privilegiertesten Formen der Herrschaftsausübung generell handelt. Innerhalb der Raumprofite unterscheidet Bourdieu zwischen Situationsund Positionsprofiten einerseits und Raumbelegungsprofiten (ebd., 3ū) andererseits. Unter Ersteren sind die Vorteile zu verstehen, die sich durch die Lage einer Wohnung in einem bevorzugten Gebiet ergeben: Etwa die Ruhe oder die Sauberkeit dieser Wohnviertel oder den Besitz einer renommierten Wohnadresse. Diese Formen tragen auch zu der zweiten zu unterscheidenden Form von Raumprofiten bei, den Positionsprofiten. Drittens bietet die Möglichkeit, Raum zu belegen, die Chance, auch Raum zu gestalten, der nicht direkt bewohnt wird. Bourdieu bringt hierfür das eindrucksvolle Beispiel der „smiling perspectives“, worunter schöne landschaftliche Aussichten zu verstehen sind, durch die sich englische Herrensitze gelegentlich auszeichnen. Allerdings schränkt Bourdieu die direkte Zuordnung von Aufenthaltsorten zu sozialen Positionierungen auch ein: So bringt er das Beispiel eines Dienstmädchens, das zwar in einem noblen Pariser Arrondissement gemeldet ist, aber dennoch von der noblen Adresse nicht in dem Maße Profite lukrieren kann, wie ihre DienstgeberInnen. Dies liegt daran, dass dem Dienstmäd-
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chen nicht alle hierzu nötigen Kapitalien zur Verfügung stehen. Daher kommt Bourdieu zu dem viel zitierten Satz (…) es ist der Habitus, der das Habitat macht, in dem Sinne, dass er bestimmte Präferenzen für einen mehr oder weniger adäquaten Gebrauch des Habitats ausbildet. (ebd., 32)
Diese Überlegung ist insofern bedeutend für die Segregationsforschung innerhalb der Migrationssoziologie, da hier – wie später noch eingehend zu diskutieren sein wird – häufig von der Annahme ausgegangen wird, dass ein gemischtes Wohnviertel Integrationseffekte hervorbringen würde. Dies ist nach Bourdieus Ausführungen zumindest infrage zu stellenŘŚ. Pierre Bourdieus Überlegungen zu Raum sind also insgesamt betrachtet gesamtgesellschaftliche Analysen, in denen unter der Metapher des „sozialen Raums“ tatsächlich nichts anderes diskutiert wird als Gesellschaft selbst (Neckel 2ŪŪű). Interessant und überraschend ist dabei sein Ansatz, den relationalen sozialen Raum als das unhinterfragt Existente und den physischen Raum als wissenschaftstheoretisches Problem zu setzen: Da physischer Raum, der nicht durch Menschen verändert wurde, auf diesem Planeten kaum mehr existiert, ist er nur als Abstraktion zu denken. In seiner fundierten Kritik an Bourdieus Ansatz hebt Markus Schroer (2ŪŪŰ) hervor, dass die Raumkonzeption seltsam ahistorisch ausfällt – und äußert die Vermutung, dass der Grund dafür wohl in den strukturalistischen Wurzeln dieses Ansatzes zu suchen ist (vgl. Schroer 2ŪŪŰ, ūŪ3). Er weist auch darauf hin, dass „das Typische der funktional differenzierten Gesellschaft (…) gerade darin bestehen [könnte], dass sich ihre Zusammensetzung nicht mehr unmittelbar in Raumstrukturen niederschlägt“ (ebd.). Bezogen auf Prozesse der Migration ist aus diesen Raumüberlegungen abzuleiten, dass ein direktes Umlegen von physischen „Lagerungszuständen“ auf soziale Positionen in hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaften nicht zielführend ist. Wie später noch auszuführen sein wirdŘś, liegt hier auch ein Hinweis darauf vor, dass nach eingehender Prüfung raumspezifischer Zusammenhänge ein jeweils der Forschungsfrage angepasstes raumsensibles Instrumentarium (wenn sinnvoll) zur Anwendung kommen sollte.
ŘŚȲ
Vgl. hierzu Kapitel ř.Ř.1 weiter unten. Vgl. hierzu Kapitel ř.Ś.
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Ř.Ř.Ř.Ř Anthony Giddens In Anthony Giddens’ ūų84 im Original erschienenen Buch „Die Konstitution der Gesellschaft“ nimmt das Thema der Räumlichkeit und Zeitlichkeit von Gesellschaft einen prominenten Platz ein. In seiner Strukturationstheorie stellt er zunächst einmal fest, dass Zeit und Raum entgegen der lieb gewonnenen Praxis in den Sozialwissenschaften nicht mehr als Randbedingungen behandelt werden dürfen, sondern als zentrale Kategorien in eine adäquate Theoriebildung einzugehen haben (Giddens ūųų5, ūŰū). Während Strukturen als Raum und Zeit überdauernde Regeln und Ressourcen angesehen werden, konzipiert Anthony Giddens Systeme als ein Geflecht von raum-zeitlichen, routinierten oder institutionalisierten Handlungen. Anthony Giddens plaziert sein Kapitel zu „Zeit, Raum und Regionalisierung“ als Teil seiner Theorie sozialer Strukturierung und beginnt das Kapitel mit einem Exkurs zum Thema Zeitgeographie. Dies hat den Zweck, die „‚Situiertheit‘ von Interaktion in Raum und Zeit“ (Giddens ūųų5, (19ŲŮ), ūŰū) genauer zu studieren, um Raum und Zeit nicht mehr als Rahmenbedingungen sozialen Handelns zu betrachten. Besonders wichtig sind ihm hierfür die zeitgeographischen Arbeiten von Torsten Hägerstrand (vgl. ebd.), die sich mit Alltagsroutinen und ihrer raum-zeitlichen Ausdehnung beschäftigen. Dabei wird die Körperlichkeit und die biographische Endlichkeit menschlichen Handelns in Betracht gezogen, wobei Ähnlichkeiten zu Simmels RaumqualitätenŘ6 auffallend sind – eine Parallele, die Giddens jedoch unerwähnt lässt. Die empirische Umsetzung mutet dann jedoch soziologisch betrachtet recht banal an, wenn Wege der untersuchten Personen über einen Tag betrachtet aufgezeichnet werden. Auch wird anhand dieser Studien kaum deutlich, wie Raum und Zeit sozial geprägt sind und ihrerseits wiederum prägend sind, da etwa die Raumund Zeitachsen absolut gesetzt werden, anstatt eine Rekonstruktion sozialer Ordnungsprinzipien anzugehen. Letzteres hatte sich Anthony Giddens jedoch in seiner Einleitung explizit vorgenommen – ein Anspruch, der an dieser Stelle eindeutig nicht eingelöst werden kann, was der folgende Absatz auf den Punkt bringt: Die meisten Sozialwissenschaften behandeln Raum und Zeit als bloße Randbedingungen des Handelns und akzeptieren unbedacht eine Konzeption der Uhrzeit als messbare Uhrzeit, wie sie für die moderne westliche Kultur charakteristisch ist. (Giddens ebd.) Ř6Ȳ
Vgl. Kapitel Ř.Ř.1.Ř.
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Anthony Giddens selbst kritisiert an Hägerstrands Arbeiten, dass sie sich zu wenig mit sozialem Handeln und seinen Mechanismen auseinander setzen und Machttheorien kaum einbezogen werden (vgl. ebd., ūŰ8ȹff.). Auch die Bedeutung der Anwesenheit in sozialen Interaktionen sieht Giddens als nicht ausreichend geklärt an und setzt an dieser Stelle mit seiner eigenen Theoriebildung zur Strukturierung ein. So definiert er den Begriff des Ortes konkret als jenen Raum, der „als Bezugsrahmen für Interaktion verfügbar gemacht wird“ (vgl. ebd., ūűŪ). Dabei kann ein Ort derart unterschiedliche Ausprägungen bezeichnen wie etwa ein Zimmer, eine Straßenecke, die Räumlichkeiten einer Firma oder einen Nationalstaat. Orte teilen sich zudem in Regionen auf, welche durch routinisierte Praktiken entstehen. Die laut Giddens in allen Gesellschaften fundamentalste Aufteilung von Orten in Regionen besteht in der Sequenzierung in Tag und Nacht. Außerdem unterscheidet Giddens zwischen vorder- und rückseitigen Regionen, womit er einerseits die „Fassade“ meint, die wir etwa im Berufsalltag unter Umständen zur Schau stellen müssen und rückwärtigen Regionen, die für die Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Außenprojektionen notwendig sind. Dabei bezieht sich Giddens auch auf Erving Goffmans Diskussion vorder- und rückseitiger Regionen und sein dramatologisches Modell (vgl. hierzu auch Willems ūųų8). Aufbauend auf Hägerstrands Ergebnissen schlägt Giddens vor, zwischen Sozial- und Systemintegration zu unterscheiden (Giddens ūų8ū), wobei mit dem ersten Begriff die Interaktion unter der Bedingung der Kopräsenz gemeint ist (Giddens ūųų5, ūųŰ). Vermittels der Raum-Zeit-Wege, die Individuen in einer Gesellschaft tagtäglich zurücklegen, verbindet sich die Sozial- mit der Systemintegration. Letztere entsteht durch diese Wege, indem Institutionen und Systeme durch sie geschaffen werden. Über diese theoretische Fassung möchte Giddens die problematische Trennung in Mikro- und Makrosoziologie überwinden – ein Ansinnen, das aufgrund seines handlungstheoretischen Ansatzes unbedingt notwendig ist. So zeichnen sich etwa einfach strukturierte Stammesgesellschaften dadurch aus, dass Sozial- und Systemintegration zusammenfallen (ebd., ūųű). An dieser Stelle geht Giddens auf die Frage ein, wie sich soziale Beziehungen durch den Einsatz elektronisch vermittelter Kommunikation gestalten – ein Thema, das in der Migrationsforschung momentan immer wieder aufgegriffen wird, vor allem in Bezug auf Fragen nach grenzüberschreitenden sozialen Netzwerken von MigrantInnen: Daher wird im Folgenden der Frage nachgegangen wie soziale Beziehungen generell unter Bedingungen der Abwesenheit erfolgen können und wie sich diese durch neue Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten verändert haben.
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Zuvor soll jedoch die bereits angeklungene Kritik an Giddens’ Raumbegriff zusammengefasst werden: Obwohl Giddens die Raum- und Zeitebenen als zentral für die sozialwissenschaftliche Analyse und Theoriebildung setzt, überzeugen seine Ansätze dahin gehend nur wenig. Wie John Urry bereits ūųųŰ ausgeführt hat, zeigt sich bei Giddens, dass er den Raum kaum als zu gestaltende Ressource wahrnimmt, die er auch nicht differenziert für unterschiedliche Gesellschaften oder soziale Gruppen diskutiert. Generell bleibt der Eindruck, dass die Ansprüche, die er an eine raumsensible Soziologie stellt, durchaus gerechtfertigt sind; wie er sie jedoch selbst einlöst, bleibt ein wenig hilfreiches Stückwerk, was etwa die Regionalisierung, den Bezug auf Arbeiten von ZeitgeographInnen oder auch die Überlegungen zu Raum und Macht angeht. Allerdings prägte Giddens im Kontext seiner Arbeit auch ein Instrumentarium an raumbezogenen Begrifflichkeiten, das für migrationssoziologische Unternehmungen hilfreich sein kann, was insbesondere auf seine Anmerkungen zu den Möglichkeiten sozialer Beziehungen ohne faceto-face-Kontakte zutrifft, wie im Folgenden diskutiert wird. Zur Frage der Bedeutung von Anwesenheit in sozialen Beziehungen Für die Herstellung unterschiedlicher Regionen im Alltag ist die „Anwesenheits-Verfügbarkeit“ (Giddens ūųų5, ūű5) – geläufiger ist der Terminus der faceto-face-Beziehungen (Giddens ūųűų, 2Ū3) – ein wichtiges Kriterium. Anthony Giddens (auch in ūų8ū, 4Ū) definiert dieses Konzept durch eine Differenzierung zwischen Präsenz und Verfügbarkeit: Damit teilt er Gesellschaften in unterschiedliche Grade der gleichzeitigen Präsenz und Erreichbarkeit der einzelnen Mitglieder füreinander ein, wonach sich Gesellschaften bis vor zweihundert Jahren durch ein hohes Maß an Anwesenheit bei gleichzeitiger Verfügbarkeit auszeichneten. Durch die Entwicklung von Kommunikationsmedien (angefangen mit dem Buchdruck) und Transportmöglichkeiten hat sich dies grundlegend geändert. Nun ist physische Präsenz nicht mehr unbedingte Voraussetzung, um kommunikativ eingebunden zu sein. So ist es ein Kennzeichen moderner Gesellschaften, dass sich soziale Praktiken über Zeit und Raum erstrecken, sodass abwesende Personen in Interaktionen mit eingeschlossen werden. Die Strukturierung von Raum und Zeit ist damit vermehrt von einer sich verändernden Kontrolle über Information abhängig. Der Prozess der Verstädterung hat dabei nach Giddens einen großen Einfluss auf diese historische Entwicklung gehabt. Anthony Giddens bezeichnet dieses Phänomen als Raum-Zeit-Ausdehnung (vgl. Giddens ūųų5, 235) – ein Begriff, der seither in der einschlägigen Fachliteratur vielfach rezipiert wurde.
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Peter A. Berger (Berger ūųų5) hat an dieser Fragestellung weiter gearbeitet und verweist zunächst einmal darauf, dass gleichzeitige Anwesenheit durchaus voraussetzungsvoll ist: Neben einem Zeiteinteilungssystem, das zumindest allen als verbindlich bekannt ist, müssen Orte benannt werden können, sodass sie auch füreinander Fremde klar kommunizierbar und somit identifizierbar sind. Berger bezieht sich dabei ausgehend von Giddens vor allem auf Georg Simmel und Niklas Luhmann, was ihn zu der Feststellung führt, dass bei gleichzeitiger Anwesenheit Nicht-Kommunikation kaum möglich ist. Wie dies unter Bedingungen des sozialen Zwanges dennoch bewerkstelligt werden kann, hat Erving Goffman (Goffman ūų8ų) in seinen Arbeiten zu den Praktiken der Aufrechterhaltung des Selbst in geschlossenen Anstalten oder in überfüllten Zügen untersucht. Berger stimmt Giddens in seiner Diagnose zu, dass wir momentan ein Auseinandertreten von Sozial- und Systemintegration beobachten können. Berger stellt fest, dass Kopräsenz nach wie vor ein unverzichtbares Element des sozialen Lebens ist, weil Anwesenheit für Kommunikation und Vertrauensbildung eine große Bedeutung hat, die nicht durch andere Praktiken bei Abwesenheit ersetzt werden kann. Diese Überlegungen zur Veränderung sozialer Beziehungen unter Bedingungen der Abwesenheit lassen viele migrationssoziologische Arbeiten diesbezüglich in einem neuen Licht erscheinen: Oft wird als Grundlage für die veränderten Lebenszusammenhänge von MigrantInnen (Stichwort: multilokale Lebensführung) die Entwicklungen in Kommunikationstechnologien und Transport- und Reisemöglichkeiten gesehen. Derartige Setzungen sind vor dem Hintergrund raumsoziologischer Überlegungen jedoch zumindest zu hinterfragen, um nicht einer technikdeterministischen Argumentationslogik zu verfallen (vgl. etwa Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2, 322). Dennoch lassen empirische Ergebnisse der Transmigrationsforschung darauf schließen, dass sich unterschiedlichste Beziehungsformen auch ohne permanente Kopräsenz bedeutungsvoll gestalten können (vgl. etwa jüngst die Argumentation diesbezüglich bei Mau 2ŪŪű, űűȹf.).
2.2.ř
Neue Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Raumdebatte
Ř.Ř.ř.1 Sozialgeographische Raumdebatten Im Gegensatz zur Soziologie haben in der Sozialgeographie bereits in den ūų8Ūer und ūųųŪer Jahren ausgedehnte Debatten rund um das Thema des Sozialen und des Raumes stattgefunden. An dieser Stelle kann zu diesem viel-
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fältigen und breiten Bereich kein erschöpfender Überblick gegeben werden, sondern lediglich auf jene Arbeiten hingewiesen werden, die für die Migrationsforschung besonders ergiebig erscheinen. Allerdings kann auf eine Reihe von bereits existierenden Überblicksarbeiten hingewiesen werden (Benko und Strohmayer ūųųű; Thrift ūųųŰ; Thrift 2ŪŪ2; Warf und Arias 2ŪŪ8), die ihrerseits jedoch keinen migrationsspezifischen Blickwinkel einbringen. Besonders beeindruckend sind dabei die Arbeiten von David Harvey, da er sich auch ausführlich mit der Thematik der Mobilität, vom Reisen bis hin zu Wanderungen, beschäftigt. David Harveys Arbeiten ruhen dabei auf den Überlegungen Henri Lefebvres auf, der bereits in den ūųűŪer Jahren sein einflussreiches Werk „The Production of Space“ publiziert hat (Lefebvre ūųųū, (19űŮ)). In seinem marxistischen Ansatz sieht Lefebvre den Raum als soziales Produkt (neben einem natürlichen Raum, den er ebenfalls beschreibt), der in einem engen Zusammenhang mit der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise zu sehen ist. Auch David Harvey (Harvey ūųųŪ, (19Ų9); Harvey ūųų3; Harvey 2ŪŪ2) stellt in seinen Arbeiten direkte Verbindungslinien zwischen spätkapitalistischer Produktionsweise und Mobilitätsanforderungen her – ein theoretischer Ansatz, der sich auch in Teilen der Migrationsforschung wiederfindet (vgl. hierzu ausführlicher weiter unten in diesem Kapitel). Der Geograph David Harvey hat hierfür in seinen Arbeiten eine Reihe raumspezifischer Überlegungen angestellt, die für die Migrationsforschung von Interesse sind: Er geht etwa von der Fragestellung aus, wie sich Gebrauch und Bedeutung von Raum und Zeit mit dem Übergang vom Fordismus zur „flexiblen Akkumulation“ (Harvey ūųų4, 48) verändert haben. Dabei stellt er die These auf, dass die ūųűŪer und ūų8Ūer Jahre durch eine intensive Verdichtung von Raum und Zeit gekennzeichnet waren. Dies führte laut Harvey zu einer „flexiblen Akkumulation“, die sich etablieren konnte, weil neue Organisationsformen und Technologien in der Warenproduktion eingeführt wurden. Zielsetzung war dabei in den ūųűŪer Jahren, die Probleme des Fordismus-Keynesianismus zu lösen und eine zusätzliche Steigerung der Produktivität durch höhere Flexibilität zu erreichen. Die organisatorischen Neuerungen zielten dabei auf eine vertikale Desintegration ab, was sich etwa in der Unterkontraktierung oder Auftragsvergabe an Zulieferer zeigte. Harvey behauptet, dass der Zusammenbruch räumlicher Barrieren nicht zu einer verminderten Bedeutung des Raumes geführt hat. Er weist vielmehr darauf hin, dass es einen zunehmenden Wettbewerb zwischen Räumen und Orten gibt (siehe dazu auch Urry ūųųŰ, 3ųŪ), der dazu beiträgt, die Produktivität und den Warenumsatz zu steigern. Diese Beschleunigung in Produktion und Konsum hat dabei tiefgreifende Auswirkungen auf die psychischen Reaktionen der Menschen. Harvey vergleicht
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das Spektrum dieser Reaktionen mit jenen, die Simmel in seiner Analyse des modernen Stadtlebens beschrieben hatte: Ausblendung der Sinnesreize, Verneinung, Kultivierung einer blasierten Einstellung, kurzsichtige Spezialisierung, Rückkehr zu Bildern einer verlorenen Vergangenheit und übermäßige Vereinfachung sowohl im Selbstbild als auch in der Interpretation der Außenwelt (vgl. ebd., 5ū). Die Auswirkungen auf den Einzelnen lassen sich in einem Paradoxon zusammenfassen: Einerseits erhöht sich der Handlungsspielraum enorm – andererseits wird die Suche nach Beständigem zur Lebenskondition. So wird das Zuhause zu einem „privaten Museum, das einen Schutzwall gegen die Verheerungen bieten soll, die aus der Verdichtung von Raum und Zeit“ (Harvey ūųų4, 5ų) resultieren. David Harvey nimmt insgesamt eine pessimistische Haltung ein, was die sozialen Auswirkungen der Beschleunigung und der Kontraktion von Raum und Zeit angeht. Er sieht sie als direkte Folge einer kapitalistischen Logik, da mit der Verringerung der Zeit- und Raumdistanzen die Kapitalvermehrung gestärkt werden kann. Diese Überlegungen sind direkt anschlussfähig zu den einflussreichsten Arbeiten in der Transmigrationsdebatte und deren theoretischem Fundament (vgl. später in Kapitel 3.3): Auch Linda Basch, Nina Glick Schiller und Cristina Szanton-Blanc verstehen transnationale Migration als ein Phänomen, das nur mit Blick auf die Strukturen eines global agierenden Kapitalismus zu verstehen ist (Basch, Glick Schiller und Szanton-Blanc ūųų4). Demnach müssen Arbeitskräfte möglichst flexibel dorthin gelenkt werden, wo sie momentan gebraucht werden – und dabei werden häufig schlecht bezahlte, vielfältig ausbeutbare „Humanressourcen“ gesucht. In dieser Weise argumentiert auch Arlie Hochschild, wenn sie die Migration von Hauspersonal (insbesondere in der Kinderbetreuung innerhalb privater Haushalte) weltweit diskutiert (Hochschild 2ŪŪŪ). Auch für Deutschland sieht Helma Lutz diesen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Migration in der „Neuen Dienstmädchenfrage“ (Lutz 2ŪŪ3), wie sie die Wanderung von Frauen nennt, die sich in derartigen Beschäftigungssituationen befinden. Hier ist augenscheinlich, dass die gegenwärtige Organisation des Arbeitsmarktes und das veränderte Geschlechterverhältnis den Bedarf an günstigen Arbeitskräften, die ohne sozialrechtliche Absicherung tätig sind, steigern. Hintergrund dieser Entwicklungen ist gleichwohl eine gesamtgesellschaftliche Veränderung: Das Alleinverdienermodell funktioniert sowohl in den USA als auch in Westeuropa nicht mehr, Frauen sind zunehmend berufstätig, wie sie gleichzeitig mit der Berufstätigkeit auch die Reproduktionsarbeit or-
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ganisieren können Ř7. In dieser Konstellation sind es wiederum Frauen, diesmal jedoch Migrantinnen, die die Versorgung des Haushalts, der Kinder, der Alten und Kranken gegen Bezahlung übernehmen. Dass das Ausmaß dieser Form der Migration in einem engen Zusammenhang zu den Anforderungen des „Zweiten Arbeitsmarktes“ steht, zeigt ein Vergleich zwischen einzelnen Ländern in Europa (Bartram 2ŪŪ5). Verallgemeinernd beschreibt Harvey den Endeffekt der Verdichtung von Raum und Zeit als Paradoxon, das in der „Fragmentierung, Verunsicherung und zu kurzlebigen Ungleichentwicklungen innerhalb eines für die Kapitalflüsse hochgradig vereinheitlichten Weltwirtschaftsraumes“ liegt (Harvey ūųų4, Ű3). Auf einer Mikroebene spiegelt sich dieses Paradoxon in jenen sozialen Prozessen wider, die Ulrich Beck (Beck ūųų4) auch gemeinsam mit Anthony Giddens und Scott Lash (Beck, Giddens et al. ūųųŰ) mit den Prozessen der Reflexiven Modernisierung beschrieben haben: Im Zuge der Weiterentwicklung der Moderne untergräbt sich diese selbst und führt dazu, dass sie ihre eigene Basis zerstört und somit in eine Reflexive Modernisierung hineinwächst (Beck 2ŪŪūa; Wohlrab-Sahr ūųųű). Für den Einzelnen bedeutet dies einen Optionenreichtum, der sich etwa in der – nur scheinbar beliebig gestaltbaren Bastelbiographie (Beck 2ŪŪūa; Beck und Beck-Gernsheim ūųų3) – äußert. Damit einher geht eine tief greifende Verunsicherung auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Auch David Harvey stellt die Frage, wie sich in dieser unsteten Collagewelt eine sichere soziale Ordnung herstellen bzw. aufrecht erhalten lässt. In diesem Sinn könnten transnationale Praktiken von MigrantInnen so gedeutet werden, dass sie Versuche darstellen, die eigene soziale Verankerung abzusichern. Dies kann sich dann auf unterschiedliche Weise äußern – sei es auf ökonomischer, kultureller, religiöser oder identitätsstiftender Ebene. David Harvey hat weiters den Begriff der „implodierenden Räumlichkeit“ geprägt, womit er die Verdichtung von Raum und Zeit bezeichnet. Er zeigt die Auswirkungen der veränderten Transportmöglichkeiten auf die Mobilität des Einzelnen eindrücklich, indem er auf eine Darstellung von Bradley (ūų88, zit. nach Harvey ūų8ų, 42) zurückgreift, welche die Zunahme der Mobilität über Generationen hinweg verdeutlicht:
Ř7Ȳ
Dabei belegen empirische Studien nach wie vor deutlich, dass diese Organisationsaufgabe klar bei den erwerbstätigen Frauen angesiedelt ist – und nicht etwa mit den Beziehungspartnern und Vätern zu ähnlich großen Teilen getragen wird (vgl. etwa Haas Ř00ř).
śŞ Graphik ŗ
ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs Entwicklung der physischen Mobilität im Generationenvergleich
Quelle: Bradley ūų88, zit. n. Harvey ūų8ų, 42.
Neben der mit jeder Generation zunehmenden Mobilität beschreibt Harvey auch die Veränderungen, die sich durch die Möglichkeiten der Satellitenkommunikation ergeben haben: Durch diese technologischen Veränderungen sind die Kosten für Ferngespräche derart stark gefallen, dass sich die kilometermäßige Distanz zwischen den beiden GesprächspartnerInnen nicht mehr auf den Preis eines Telefonats auswirkt (Harvey ūųų4, 5ų).
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Wie eine Reihe von Untersuchungen zeigt (Cottle 2ŪŪŪ; Gillespie 2ŪŪŪ; Kevins ūųų8), werden diese technischen Möglichkeiten von MigrantInnen in vielfältiger Weise genutzt, um einen regelmäßigen sozialen Kontakt über weite geographische Distanzen hinweg aufrecht zu erhalten. Damit ist auch ein nicht zu unterschätzender Markt verbunden, der gerade auch auf transnationale Erfahrungshintergründe der MigrantInnen zurückgreift. Dies verdeutlicht etwa auch das folgende Bild: Es zeigt ein Plakat, das im April 2ŪŪ4 in Londoner U-Bahnen für einen privaten Telefonie-Anbieter geworben hat. Rechts neben der Fotografie der jungen Frau steht ihr angeblicher Name („Nigina Akram“) sowie eine Berufsbezeichnung („fashion designer“). Graphik 2
Werbedarstellung eines Telekommunikationsanbieters
Quelle: Eigene Aufnahme
Anrufe nach Indien werden als derart günstig angepriesen, dass der jungen Frau die Worte in den Mund gelegt werden, ihre Familie sei mit diesen günstigen Telefoniepreisen niemals weit entfernt. Somit wird in dieser Werbung der Bezug zwischen geringen Anrufkosten und reduzierter intimer Distanz hergestellt. Eine ähnliche Loslösung von Kosten und zurückgelegtem Weg ist beim Transport von Waren zu beobachten: Bei der Luftfracht sind die Kosten in den letzten Jahrzehnten extrem gesunken, wozu vor allem die Einführung des Containers im Transportwesen beigetragen hat (vgl. Harvey ūųų4, 5ų). Diese Beispiele zeigen, wie soziale Beziehungen heute über einen ausgedehnten geographischen Raum hinweg unterhalten werden – einerseits durch Transportmöglichkeiten, andererseits durch Kommunikationsmittel und deren Verfügbarkeit für einen Teil der Weltbevölkerung. Auf diesen relationalen Aspekt haben – im Übrigen mit einem starken Rekurs auf David Harvey – Stephen Graham und Patsy Healey hingewiesen (Graham und Healey ūųųų).
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Trotz dieser erstaunlichen Veränderungen ist wichtig festzuhalten, dass diese veränderten technischen Möglichkeiten von MigrantInnen für ihre jeweiligen alltagspraktischen Routinen „eigensinnig“ŘŞ genutzt werden. Welche Folgen dies für soziale Netzwerke und Zugang zu bestimmten Ressourcen hat, ist nach wie vor ein wichtiger Forschungsgegenstand für die Migrationsforschung (Cyrus 2ŪŪ3; Hess 2ŪŪ3b). Auf einem anderen Gebiet – nämlich jenem der Massenmedien – haben sich ebenfalls bedeutsame Veränderungen eingestellt: Via Satellitenfernsehen können riesige Bildermengen in den unterschiedlichsten Weltgegenden gleichzeitig empfangen werden, was Harvey zu der Einschätzung bringt, dass „sich die Welt räumlich zu einer Serie von Bildern auf dem Bildschirm verdichtet“ (Harvey ūų8ų, ŰŪ). Am wichtigsten daran ist der Effekt, dass damit Wünsche nach Konsum und spezifischen Formen der Lebensführung geweckt werden. Für Migration bedeutet Fernsehen die Erweiterung einer Projektionsfläche, die jedoch in ihrer Wirkung keine einfache Push-Pull-Variable wird. Der Effekt ist um einiges subtiler und dennoch nicht zu vernachlässigen: Von mir interviewte ÖsterreicherInnen etwa, die nach New York ausgewandert sind, sprachen häufig von einem Gefühl der Bekanntheit und des Nach-HauseKommens, als sie das erste Mal in Manhattan waren (Scheibelhofer 2ŪŪ3). Dies steht im Zusammenhang mit den unzähligen Filmen und TV-Serien, die New York als Kulisse verwenden und die in Österreich via Fernsehen seit Jahrzehnten konsumiert werden können. Auch der Massentourismus spielt in der Verdichtung von Raum und Zeit, wie David Harvey sie beschreibt, eine wichtige Rolle. Trotz dieser Beispiele für das Verschwinden von Grenzen werden Standortfragen immer wichtiger. Kleinste Unterschiede in den Raumkonnotationen werden für eine erhöhte Wertschöpfung ausgenutzt und so Räume, Regionen, Länder gegeneinander ausgespielt. „Geographische Mobilität und Dezentralisierung werden gegen die Macht der Gewerkschaften eingesetzt, die früher in den großen Betrieben der Massenproduktion konzentriert war“, konstatiert Harvey (Harvey ūų8ų, Űū). Ziel heutiger „Standortentwicklung“ ist es dagegen, Entwicklung innerhalb eines speziellen Raumes zu fördern, wie etwa die laufenden EUStrukturprogramme in Europa beispielhaft zeigen. Damit gewinnen die Standortqualitäten an Bedeutung, während Grenzen in sich verdichtenden ŘŞȲ An dieser Stelle tut sich auch eine Verbindung zu den Überlegungen von Michel de Certeau auf, der in seinen Analysen von unsichtbaren Praktiken der Individuen berichtet, die sich Räume in ihrer eigenen Art und Weise aneignen und so auch gegen herrschende Machtstrukturen agieren (de Certeau 19ŞŞ).
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Raum- und Zeithorizonten Ř9 an Bedeutung verlieren. Der verstärkte Wettbewerb zwischen Regionen dürfte auch künftig zur Herausbildung weiter ausdifferenzierter Räume führen, die innerhalb eines homogener werdenden internationalen Wirtschaftssystems bestehenř0. Eine besondere Bedeutung kommt bei der Verdichtung von Raum und Zeit nach Harvey der vervielfältigten Waren- und Kulturwelt zu. Dadurch, dass wir regionale Waren auf dem ganzen Globus in Windeseile verteilen können bzw. täuschend echte Kopien etwa von Bildern herstellen, verändert sich die alltägliche Erfahrung: Von den Nahrungsmitteln bis hin zu kulinarischen Gewohnheiten, Musik und Fernsehen, [haben wir, ergänzt E.ȺS.] heute die Möglichkeit, die Geographie der Welt ersatzweise, das heißt in Gestalt von Simulakra, zu erleben. Die Einbindung von Simulakra in das alltägliche Leben bringt unterschiedliche (Waren-)Welten zur selben Zeit in ein und demselben Raum zusammen. (Harvey ūų8ų, Űų)
Für alltägliche Praktiken von MigrantInnen ist diese Beobachtung weitreichend: Es können an verschiedenen Orten Simulakra derselben Kulturware – wie etwa Bilder, Filme oder Musik – hergestellt, verteilt und konsumiert werden. Über Satellitenfernsehen und Internet werden Bilder gleichzeitig in unterschiedlichen Teilen der Welt ausgestrahlt, und Personen können sich per Email, Telefon oder webbasierten sozialen Netzwerken über ihre Erfahrungen damit austauschen. So lassen sich geistige Inhalte mit materiellen Objekten verbinden, die dann zu einer Gesamtheit eines einzigen sozialen Raumes synthetisiert werden.
Ř.Ř.ř.Ř Systemtheoretische Raumüberlegungen Im Gegensatz zu bereits diskutierter soziologischer Theoriebildung hat Niklas Luhmann das Thema des Raumes randständig behandelt. Er geht auf die Thematik in seiner Begriffsbildung nicht weiter ein (vgl. etwa zusammenfassend Nassehi 2ŪŪ2), und falls Raumbezüge in seinem Werk aufscheinen, so sind diese als „explizite Raumkonnotationen“ (Ziemann 2ŪŪ3, ū3ū) zu werten. SoŘ9Ȳ Wie sich derartige Überlegungen in migrationsspezifischen Fragestellungen als sinnvoll erweisen wird in Kapitel ś.ř.Ř dargelegt. ř0Ȳ Was derartige Überlegungen bezogen auf Migration bedeuten, zeigen die jüngsten Arbeiten von Nina Glick Schiller und Ayse Caglar in Kapitel ś.ř.Ř.
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ziale Systeme sind in dieser systemtheoretischen Fassung keine raumgebundene Erscheinung, sondern sie sind bekanntlich mit dem kommunikativen Prozessieren von Sinn beschäftigt (vgl. hierzu auch Stichweh 2ŪŪ3). Dieses Verhandeln von Sinn folgt dabei keiner räumlichen Logik der Unterscheidung, sondern ausschließlich einer sachlichen, zeitlichen und sozialen (Ziemann 2ŪŪ3, ū33). Luhmann geht noch einen Schritt weiter und hält fest, dass die Systemtheorie als Grundlage der Gesellschaft so zu formulieren [ist], dass sie in der Bestimmung der Gesellschaftsgrenzen nicht auf Raum und Zeit angewiesen ist (Luhmann ūųųű, 3Ū, Fn. 24, zitiert nach Stichweh 2ŪŪ3, ų4).
Aus dieser Anforderung an die Systemtheorie folgert Luhmann weiters eine „Verringerung der Bedeutung von Raum für die Kommunikation der Funktionssysteme“ (Luhmann ūųų5, 2ŰŪ, zit. nach Stichweh 2ŪŪ3, ų4). Bei näherem Hinsehen kommt Raum jedoch auch in systemtheoretischen Arbeiten eine Bedeutung zu, und zwar auf zweierlei Arten, wie Rudolf Stichweh ausgeführt hat: Entweder als nicht der Gesellschaft zugehörige Umwelt oder als Medium der Kommunikation bzw. der Wahrnehmung (vgl. Stichweh ūųų8, 34Ű). Diese Form des Umgangs mit der Raumthematik hat KritikerInnen unter anderem dazu angeleitet, Luhmann dafür zu kritisieren, dass er den Raum kaum beachtet und wenn doch, ihn hauptsächlich als materiellen Raum fasst (vgl. etwa Schroer 2ŪŪŰ, ū55). Die Systemtheorie ist jedoch nicht an dieser Stelle des Raumdiskurses stehen geblieben, sondern hat sich vor allem dank der bereits zitierten Arbeiten Rudolf Stichwehs im vergangenen Jahrzehnt bedeutend weiter entwickelt. Dabei stellt er in neueren Publikationen zum Thema (Stichweh ūųų8; Stichweh 2ŪŪ3) zunächst einmal fest, woher die Raumignoranz (auch in der Systemtheorie) herrührt – und stößt dabei auf die „Distanznahme“ der Soziologie gegenüber dem Raum. Luhmann hinterfragt er dahin gehend, inwiefern tatsächlich von einem Bedeutungsverlust des Raumes auszugehen ist, und nimmt seinerseits an, dass Luhmann in seiner theoretischen Auseinandersetzung mit der Thematik ausschließlich die räumliche Struktur territorialer politischer Systeme im Sinn hatte. Raumfragen für die Soziologie aufgrund dessen generell als abgearbeitet zu betrachten, sieht Stichweh jedoch als wenig geglückte Position an. Im Gegensatz zu Luhmann fordert Stichweh daher für die Systemtheorie ein, auch die Raumdimension durchgängig in der Theoriebildung zu berücksichtigen (Stichweh 2ŪŪ3). So weicht Stichweh auch von dem Luhmannschen Ansatz ab, Raum verlöre zunehmend an Bedeutung (ebd.). Allerdings kritisiert er die gängige Annahme, Raum sei sozial konstruiert als soziologisch wenig
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spannenden Gemeinplatz. Seiner Ansicht nach lautet die ertragreichere Fragestellung, „was spezifisch an jenen Konstruktionen ist, die sich auf Raum (und Zeit) beziehen“ (Stichweh 2ŪŪ3, ų5). Interessant ist dabei an Stichwehs Ausführungen, dass er auf die Bedeutung der Kommunikation auch in Bezug auf die Herstellung und Aufrechterhaltung von Räumen verweist. Auch dass in empirisch zu beobachtenden „Kommunikationen und Konstruktionsleistungen, die auf Raum und Zeit referieren […] Exteriorität oder Externalität“ (ebd.) von Raum und Zeit unterstellt wird und dies in einer soziologischen Analyse berücksichtigt werden muss, sind Hinweise, die über Luhmanns raumtheoretische Beiträge hinausgehen. Armin Nassehi führt diesen Zugang noch weiter aus und bringt Beispiele dafür, inwiefern die kommunikative Verwendung von räumlichen Unterscheidungen sinnhafte Operationen darstellen, die für nachfolgende Kommunikationen einen Unterschied machen – und somit zum Forschungsthema für SoziologInnen werden (vgl. Nassehi 2ŪŪ2, 2ū8). Explizit beschreibt er Räume als kommunikative Konstruktionen, wobei der physische Raum zwar bestehen bleibt, jedoch als „Sonderfall“ (ebd., 22Ū). Klaus Kuhm (Kuhm 2ŪŪŪ) widmet sich in seinem Beitrag ebenfalls der Frage, welche Funktionen die Thematisierung von Raum in Kommunikationen übernehmen kann. Er kommt in seinen Überlegungen zu der Feststellung, dass die Funktion von Räumlichkeit heute darin liegt, das Maß der in einem sozialen System zugelassenen Relationierungen von Kommunikationen über die Symbolisierung von Raumgrenzen zu limitieren und Interdependenzen in Sozialsystemen zu unterbrechen (Kuhm 2ŪŪŪ, 334).
Mit anderen Worten wird Raum heute Kuhm zufolge gesellschaftlich dazu eingesetzt, Komplexität zu reduzieren und somit Unsicherheiten abzudämpfen, also in systemtheoretischer Diktion ausgedrückt: Kontingenz gering zu halten. Migrationssoziologisch würde dies etwa bedeuten, dass Fragen des sozioökonomischen Zugangs auf territoriale Weise beantwortet werden und aufgrund dieser alltäglichen und allgemein akzeptierten Verräumlichungslogik nicht weiter hinterfragt werden. Kritisch ist an diesen neueren systemtheoretischen Ausführungen zu sehen, dass sie wichtige Diskussionsbeiträge aus anderen theoretischen Richtungen zum Thema nicht berücksichtigen. Dies zeigt sich etwa bei dem Vorschlag, zwischen einem natürlichen und einem künstlichen (sprich: sozial konstruierten) Raum zu unterscheiden. Hier hat sich in den Beiträgen zur Raumdebatte bereits gezeigt, dass eine derartige Differenzierung zumindest eingehend zu
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hinterfragen ist. Die neuere systemtheoretische Raumdiskussion fällt vollends hinter klassische Beiträge, wie jenen von Georg Simmel zurück, wenn Stichweh „beobachtungsleitende Unterscheidungen“ (Stichweh 2ŪŪ3, ųŰ) wie Nähe und Ferne, innen und außen oder natürliche und künstliche Grenzen einführt.
Ř.Ř.ř.ř Phänomenologie und Raum In Anlehnung an Edmund Husserl (Husserl ūųű3) lässt sic h der Bezug zwischen Körper bzw. Leibř1 und Raum besonders deutlich in den Schriften von Alfred Schütz (Schütz ūų8ū; Srubar ūų8ū) ablesen. Die sinnhafte Erfahrung der physischen Welt kommt durch das Erleben des eigenen Körpers im Handlungsvollzug zustande. Dabei kommt der Bewegung des eigenen Körpers eine hervorzuhebende Bedeutung zu (Waldenfels ūųųű). Der Sinn der Bewegung selbst ist dabei eine Bewusstseinsleistung, der Leib hingegen ist „als Funktionszusammenhang zwischen inneren Abläufen und in die Außenwelt gerichteten Bewegungen zu begreifen“ (Werlen ūųų5, 23ű). Über die leibliche Erfahrung kann das Extensive der raum-zeitlichen Welt erst in die Erfahrung mit einbezogen werden (vgl. Werlen ūųų5, 23űȹff.). Das Erleben der Bewegung wird als eine Erfahrung des Raumes umgedeutet, und in der Folge wird auch die Räumlichkeit aller anderen Dinge entdeckt (Schütz ūų8ū, ū8ų). Menschen machen daher die Erfahrung, dass die physische Welt und der eigene Körper etwas gemein haben – und zwar die Ausdehnung. Durch den eigenen Körper ist der Einzelne auch gleichzeitig Teil dieser Welt. Eine Person setzt sich über die Erfahrung des eigenen Leibes in der physisch-materiellen Außenwelt in Bezug zu dieser – und orientiert sich somit in der Welt. Daher liegt in der phänomenologischen Auffassung von Raum eine relationale Konzeption des Raumes vor: Handelnde stellen eine Relation zu anderen physisch-materiellen Körpern her, indem sie Ableitungen von der Erfahrung der eigenen Körperlichkeit vornehmen. Damit ist gemeint, dass die Relationen in bezug auf die Konstitution der eigenen Körperlichkeit und die Fähigkeiten und Eigenschaften des eigenen Körpers definiert werden. (Werlen ūųų5, 238)
ř1Ȳ Die Unterscheidung zwischen „Körper haben“ und „Leib sein“ (Plessner 196ś) beschreibt die zwei unterschiedlichen Formen, die der Körper analytisch einnehmen kann: Der Begriff Körper steht für das Objekt des Körpers, der angegriffen und gefühlt werden kann, wohingegen der Begriff des Leibes auf die eigene Körperlichkeit, auf das eigene Spüren verweist, ohne dass die fünf Sinne dabei zum Einsatz kommen (Jäger Ř006).
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Aufbauend auf phänomenologischen Überlegungen zur Bedeutung des Körpers hat Ulf Matthiesen (Matthiesen 2ŪŪ3) ein „Theorie- und Forschungskonzept einer strukturalen Hermeneutik des Raums“ (ebd., 252) ausgearbeitet. Das Kernstück seiner theoretischen Arbeit ist dabei eine Auffächerung in acht Raumdimensionen, wobei auch hier Körperräume im Mittelpunkt stehen, von dem ausgehend sich andere Raumebenen differenzieren lassen. Dabei legt Matthiesen Wert darauf, nicht in theoriestrategische Simplifizierungen zu verfallen, wobei er Arbeiten kritisiert, die Raum etwa ausschließlich über Kommunikation herleiten wollen oder nur mit körperbasierten Raumvorstellungen arbeiten (ebd., 253). Seinen eigenen Vorschlag acht unterschiedlicher Raumdimensionen beschreibt er hingegen selbst als eine „starke, riskante Forschungsthese“ (ebd.). Diese besteht neben den Körperräumen in der Annahme eines globalen Lebensraums (damit ist der gesamte Planet gemeint), symbolischer Welten (Sinn-, Sprach- und Wissenswelten), gesellschaftlicher Räume (dazu zählen beispielsweise Wirtschaftsräume und Milieus), Kulturlandschaften, gebaute Räume, der Raum der Dinge (etwa technosoziale Zusatzräume) und Governance- und Planungsräume (vgl. ebd., 254). Die Ausformulierung lässt bereits vermuten, in welchen empirischen Forschungszusammenhängen Ulf Matthiesen sich diesen theoretischen Ausführungen angenähert hat: Stadtentwicklung und Milieuforschung in regional- und stadtstruktureller Fassung sind die hauptsächlichen Forschungsagenden, mit denen sich der Ethnologe befasst. In empirischen Untersuchungen wird laut Matthiesen nicht immer allen Raumdimensionen dieselbe Bedeutung zukommen. Vielmehr werden unterschiedliche Mischungen in der jeweiligen Analyse erwartet, je nach Fragestellung und Forschungsinteresse. Auch im Anschluss an phänomenologische Untersuchungen zu Körper und Körper-Räumen stellt Markus Schroer bezogen auf Raumkonzeptionen der Gegenwart fest, dass die Vorstellung, Gesellschaft als Container zu konzipieren, daher rührt, dass Gesellschaft als Körper gedacht wurde (Schroer 2ŪŪŰ, 2űűȹff.). Mit der Modernisierung werden sowohl Raum als auch Körper als Container gedacht, die über klare Grenzen verfügen, ein Innen und ein Außen, Zugehöriges und Fremdes. Schroers These lautet dahin gehend, dass diese Grenzen momentan aufgehoben werden und durch neue Grenzen ersetzt werden, was auch durch Prozesse des Überlappens und Überschneidens passiert. Großräumige Anlagen werden dabei seltener, vielmehr gehe die gesellschaftliche Entwicklung hin zu kleinräumigen Rückzugsmöglichkeiten, wobei dem Körper dabei eine besondere Stellung zukommt:
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs Als das letzte mögliche Rückzugsgebiet, auf dem über Ein- und Ausgänge streng gewacht wird, wird dabei der Körper inszeniert. (Schroer 2ŪŪŰ, 2ű8)
Klare Grenzen kommen bei den heute praktizierten Körperüberwachungen schnell abhanden, und eine zunehmende Verunsicherung hinsichtlich der Grenzen des Körpers ist in unterschiedlichsten Forschungsbereichen zu beobachten (Hitzler und Pfadenhauer ūųųű; Honer ūų85).
Ř.Ř.ř.Ś Dritte Räume und die Verflüssigung sozialer Beziehungen Edward Soja (Soja ūųųŰ; Soja ūųųų) hat darauf hingewiesen, dass seit dem Ende der ūųŰŪer Jahre vor allem die Arbeiten von Henri Lefebvre (Lefebvre ūųųū, (19űŮ)) und Michel Foucault (Foucault ūųųū) dazu beigetragen haben, dass wir von einer Neukonzeptionierung des sozialen Raums in den Sozialwissenschaften sprechen können. In seinem bereits erwähnten Buch „The Production of Space“ hat Henri Lefebvre dafür plädiert, die Kategorie Raum in der kritischen Theorie zu berücksichtigen (Lefebvre ūųųū, (19űŮ)). Dahinter steht die Annahme, dass gesellschaftliche Bedingungen Räume strukturieren und gleichzeitig Raumstrukturen auf soziale Strukturen zurückwirken. Diese Dualität gilt es nach Autoren wie Lefebvre in der Theoriebildung zu erfassen, ohne in einem räumlichen Determinismus zu enden (vgl. zu diesem Argumentationsstrang in der Debatte Strüver 2ŪŪ5). Eine weitere Quelle der Theoriebildung zu dritten Räumen stellen die Arbeiten von Michel Foucault dar (Foucault ūųųū). Ausgehend von der Tradition des französischen Strukturalismus ist er damit beschäftigt, Relationen zwischen Raum und Zeit typologisierend zu erfassen. Dabei ist ihm daran gelegen, aufbauend auf einem phänomenologischen Verständnis von Raum, diesen als heterogen und ambivalent zu beschreiben (vgl. Foucault ūųųū, 3ű). Dabei unterscheidet er einen ersten, inneren Raum – jenen unserer Träume und Leidenschaften – von einem „Raum des Außen“ (ebd., 38). Letzterer zeichnet sich dadurch aus, dass wir in einem sozialen Beziehungsgefüge stehen und gesellschaftliche Plazierungen einnehmen. Dabei unterscheidet Foucault wiederum zwei Arten äußerer Räume voneinander: Die „Utopien“ – worunter Plazierungen ohne wirkliche Orte zu verstehen sind – und „Heterotopien“, die als Gegensatz zu Ersteren anzusehen sind. Heterotopien sind realisierte Utopien, es sind reale Orte, die jedoch gleichzeitig außerhalb aller anderen realen Orte existieren.
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Unterschiedliche Gesellschaftsformen haben nach Foucault im Laufe der Geschichte auch verschiedene Heterotopien entwickelt: In Urgesellschaften sind dies Krisenheterotopien und somit Orte, die Individuen vorbehalten sind, die sich in Ausnahmezuständen befinden – etwa heranwachsende oder menstruierende Frauen, Frauen im Wochenbett oder die Alten. In modernen Gesellschaften hingegen verschwinden diese Orte und werden durch „Abweichungsheterotopien“ ersetzt. An diesen Orten werden Individuen verwahrt, die in ihrem Verhalten sozialen Normen zuwiderhandeln. Beispiele hierfür sind psychiatrische Kliniken, Gefängnisse oder Altersheime. Dass diese beiden Formen von Heterotopien nicht klar voneinander abgrenzbar sind, räumt Foucault selbst implizit ein. In seiner Beschreibung unterschiedlicher öffentlicher Orte und Räume – Foucaults Heterotopologie – macht er deutlich, dass sowohl materielle als auch soziale Aspekte entscheidend für eine gesellschaftlich relevante Analyse von Raum sind. Immer wieder hebt er dabei die Heterogenität von Räumen hervor und betont die unterschiedliche Konstruktion sowie die divergierenden Bedeutungen von Räumen in verschiedenen Gesellschaften. Die Überlegungen Foucaults sowie die Kritik Lefebvres an einer dichotomen Unterscheidung zwischen einem „gelebten Raum“ (hierunter ist ein essentialistisches Raumkonzept zu verstehen) und einem „imaginierten Raum“ (relationale und konstruktivistische Annahmen) werden von Edward Soja noch zugespitzt, indem er essentialistische Räume als „erste oder wahrgenommene Räume“ bezeichnet (Soja ūų8ų; Soja ūųųŰ; Soja ūųųų); zweite oder erdachte Räume („conceived spaces“) hingegen beziehen sich bei Soja auf subjektive oder imaginierte Räume (vgl. Soja ūųųų, 2ŰŰ). Dritte Räume schließlich gehen auf Konzepte des Anderen zurück, wie sie in postkolonialer, postmoderner, feministischer und poststruktureller Kritik zu finden sind (vgl. Soja ūųųų, 2Ű8). Diese Ansätze haben gemein, dass sie darauf abzielen, die Dualität unseres Denkens und unserer darauf aufbauenden methodologischen Herangehensweisen aufzubrechen (vgl. hierzu auch die Konzeptionen der ethnoscapes von Appadurai ūųųŰ). Homi Bhaba (Bhaba 2ŪŪŪ, (199Ů)) spricht zwar ebenfalls von dritten Räumen, jedoch in einem von Soja zu unterscheidenden Sinn. Bhaba bezieht sich mit diesem Begriff vor allem auf die Analyse von Kultur und ihrer Lokalisierung, wobei er festhält, dass alle Formen von Kultur permanenter Veränderung und Mischung unterliegen. Dabei sind die neu entstandenen, hybriden Kulturformen ihrerseits nicht ausschließlich auf zwei bereits existierende „Kulturen“ rückführbar, sondern es entsteht originär Neues. Die Lokalität dieser innovativen sozialen Form benennt Bhaba als dritten Raum, der für
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die Entstehung von neuen, abweichenden, nicht zuletzt politischen Positionen im migrantischen Leben Voraussetzung sind. Diese dritten Räume sind nach Bhaba der Ort, an dem Folgendes eintritt: Eine Anerkennung der zwischenräumlichen, disjunktiven Räume und Zeichen, die für das Auftauchen der neuen historischen Subjekte der transnationalen Phase des Spätkapitalismus von entscheidender Bedeutung sind (vgl. Bhaba 2ŪŪŪ, 325).
Bhaba geht es in seiner Raumdiskussion explizit um die Erarbeitung einer politischen Handlungsposition von MigrantInnen. Diese findet sich in diesem dritten Raum des Dazwischen. Dabei weist Bhaba ausdrücklich auf die Bedeutung der Zeitlichkeit hin, da sich Minoritätengemeinschaften ihre kollektiven Identifikationen nur im Zuge von Übersetzungsarbeit herstellen können – und diese Leistung benötigt neben Raum auch Zeit (vgl. ebd., 34Ű). Die genannten Positionen zu dritten und imaginierten Räumen stimmen darin überein, dass wir es mit neuen Formen des Sozialen zu tun haben, die sich nicht auf materiale Räume hie und soziale Räume da reduzieren lassen. Damit erhebt sich die Frage, wie in den Sozialwissenschaften mit dieser Vielfalt umzugehen ist. John Urry beantwortet dies damit, dass wir es mit einer neuen Logik, die er als globale Komplexität bezeichnet, zu tun haben (vgl. Urry 2ŪŪŪ; 2ŪŪ3 und 2ŪŪ4). Dies bedeutet, dass gewohnte regulierende, stabile Strukturen Soziales nicht mehr in der von den Sozialwissenschaften konzeptualisierten Art und Weise beeinflussen (Urry 2ŪŪ4) und somit auch die traditionellen (Analyse-)Einheiten der Sozialwissenschaften zu hinterfragen sind. Vielmehr haben wir es nun nach Urry mit neuen Determinanten zu tun: Die kosmopolitischenřŘ Flüssigkeiten („fluids“) werden zur treibenden Kraft der Zweiten Moderne, was auch zu einer Verflüssigung der Zeit- und Raumstrukturen führt. Sie sind nicht mehr festzumachen oder fix gegeneinander abgrenzbar. Urrys Überlegungen stehen damit auch in einem engen Zusammenhang zu Konzepten eines „Raums der Ströme“ (Castells 2ŪŪ5, 2ŪŪū), in welchem davon ausgegangen wird, dass unsere heutigen Gesellschaften als Netzwerke von Organisationen und Institutionen zu verstehen sind. Durch diese Netzwerke fließen unterschiedlichste Dinge – Informationen, Waren, aber auch Menschen. An bestimmten Punkten bilden sich sog. „nodes“ – etwa in globalen Städten. Durch die Konzeption von Raum als eine Anordnung von Flüssen, Netzwerken und Knotenpunkten soll eine Einbeziehung der řŘȲ Vgl. zur Unterscheidung der Begriffsverwendung des Kosmopolitischen bei Beck und Urry (siehe Beck Ř00Ř, 9Řȹf.) sowie zum Beckschen Begriff die Einleitung des vorliegenden Buches.
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zunehmenden sozialen Austauschbeziehungen theoretisch fassbar gemacht werden (Faist 2ŪŪ5; Voigt-Graf 2ŪŪ4). Diese Konzeption fußt auch auf der Akteur-Netzwerk-Theorie, wie Michel Callon (Callon ūų8Ű) und Bruno Latour (Latour ūųų3) sie entworfen haben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass nicht nur Menschen als AkteurInnen gesehen werden, sondern auch Objekte. Für hochmobile Personen hat Magdalena Nowicka etwa gezeigt, dass Einrichtungsgegenständen, Wohnungen und Häuser häufig eine besondere Bedeutung für die Herstellung von Referenzpunkten („focal points“), von denen die Interviewten eher sprachen als von ihrem „Zu Hause“, zukommt (vgl. Nowicka 2ŪŪŰb). John Urry schlägt aufgrund derartiger Überlegungen in seiner Terminologie vor, die Analyse auf Flüssigkeiten, Netzwerke und Regionen zu fokussieren. Kritisch ist jedoch bei einem derartigen Ansatz anzumerken, dass der skizzierte Analyserahmen bezogen auf Raum-Zeit-Strukturen nicht gänzlich widerspruchsfrei ist. Wenn Verflüssigung ein Hauptmerkmal ist, wie kann es dann noch Sinn machen, gleichzeitig von Regionen zu sprechenȺ? Verändert sich in dieser Sichtweise nicht auch der NetzwerkgedankeȺ? Wie werden Netzwerke in diesem Kontext definiertȺ? Auch die Frage des Stellenwertes des geographischen Raums in seiner Theoriebildung ist nicht gänzlich geklärt, wie Magdalena Nowicka (Nowicka 2ŪŪŰa) in ihrem Beitrag ausgeführt hat. Ebenso ist es schwierig, John Urrys Ideen für empirisches Arbeiten zu operationalisieren, zumal er sich vor allem an die Darstellung chaostheoretischer Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften hält. Sein hauptsächliches Beispiel für eine notwendige chaostheoretische Wende in den Sozialwissenschaften bildet der Transformationsprozess der UdSSR. Thomas Faist (Faist 2ŪŪŪb) kritisiert an raumtheoretischen Annahmen einer Verflüssigung des Sozialen, dass migrantische (insbesondere transnationale) Lebenswirklichkeiten damit nicht hinreichend erfasst werden können. Dies liegt seiner Argumentation nach darin begründet, dass sich MigrantInnen – bis auf wenige Ausnahmen der tatsächlich hypermobilen Elite – in einem national geprägten Umfeld bewegen, das keineswegs in irgendeiner Form delokalisiert ist (vgl. zu der Diskussion um delokalisierte Lebenswelten auch die Ausführungen in der Einleitung des vorliegenden Buches). Migrantische Lebenswirklichkeiten lassen sich demnach nur sinnvoll rekonstruieren, wenn sie in spezifische lokale Kontexte eingebunden verstanden werden – auch wenn es sich dabei um Lokalitäten in zwei oder mehr Nationalstaaten handelt. Faist kritisiert daher zwar ein containerhaftes Verständnis von „Kultur“, das von einem statischen und ortsgebundenen Gruppenverständnis geprägt ist (ebd., 2ū5); anstatt dieses Containerkonzept jedoch zu verwerfen, sieht er die
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beiden Raumkonzepte als durchaus kompatibel an, da auch ein dynamisches Verständnis des Kulturellen territoriale Grenzziehungen wie diejenigen des Nationalstaats mit einbeziehen sollten, die in einem containerhaften Konzept angelegt sindřř.
Ř.Ř.ř.ś Jüngste Entwicklungen in der Raumsoziologie In den letzten Jahren hat sich eine Richtung in der raumsoziologischen Forschung etabliert, die letztlich zur Entwicklung von Methodologien für eine Raumsoziologie geführt haben. Martina Löw ist in diesen Belangen wohl die herausragendste Denkerin, die mit ihrer „Raumsoziologie“ (Löw 2ŪŪū) inzwischen viele SozialwissenschafterInnen beeinflusst hat. Ihre Arbeiten bauen einerseits stark auf bereits erwähnten raumspezifischen Arbeiten auf. Weitere wichtige Impulse für ihr raumsoziologisches Denken kommen von Gabriele Sturm und Dieter Läpple, deren eigene Konzeptionen hier zunächst kurz dargestellt werden, bevor auf Martina Löws Arbeiten näher eingegangen wird. Diesen genannten drei AutorInnen ist jedenfalls gemeinsam, dass sie alle von Räumen ausgehen, die sozial konstituiert und in ihrem Charakter relational sind, verbunden mit zeitlichen Prozessen und materialen Anteilen. Dieter Läpple kritisierte bereits ūųųū die mangelnde sozialwissenschaftliche Konzeption von Raum, wobei er von einer engen Verknüpfung der Raumund Zeitproblematik sowohl in sozialen wie in natürlichen Zusammenhängen ausgeht. Das Raumproblem müsste daher seiner Meinung nach „gleichermaßen ein konstitutives Moment jeglicher menschlichen Vergesellschaftung und dementsprechend auch Bestandteil einer Gesellschaftstheorie sein“ (ebd., ūŰ2). Für das Alltagsverständnis von Raum kommt Dieter Läpple zu dem Schluss, dass die „Raumvorstellungen der meisten Menschen unserer Zivilisation mehr oder weniger stark ‚kolonisiert‘ sind durch die physikalische Raumanschauung der klassischen Physik in der Form des dreidimensionalen euklidischen Raumes“ (Läpple ūųųū, ūŰ4). Soweit erinnern die Ausführungen des Ökonomen Läpple stark an die Überlegungen von Anthony Giddens, allerdings mündet diese Forderung bei Läpple in einem methodologischen Konzept, das die materielle Struktur von Raum als Substrat ökonomisch-sozialer Funktionszusammenhänge zu erklären sucht. Dazu stellt Läpple dem Konzept des Behälterraumes jenes eines relationalen Raumes gegenüber, wobei er selbst angibt, sich bei LetzteřřȲ Eine ausführliche Diskussion der diesbezüglichen Arbeiten von Thomas Faist findet sich in Kapitel ř.ř.Ś.
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rem an den Ausführungen von Albert Einstein zu orientieren (vgl. ebd., ū8ų). Demnach ist Raum ohne körperliche Objekte nicht denkbar, weil Raum anders gesagt genau die Ordnung zwischen gelagerten Körpern darstellt, also durch das „Ordnungsgefüge des Rauminhalts definiert ist“ (ebd., ūų3). Daher spricht Läpple im Folgenden vom relationalen Ordnungsraum – eine Begriffsbestimmung, die später bei Martina Löw an Bedeutung gewinnen wird. Läpple schlägt weiters vor, in den Gesellschaftswissenschaften von einem „Matrix-Raum“řŚ auszugehen. Damit meint er, dass sich gesellschaftliche Räume eindeutig von physikalischen Räumen unterscheiden – was auch in der Theoriebildung berücksichtigt werden sollte. Der Matrix-Raum setzt sich aus einem „banalen“ Raum zusammen, der das erdräumliche Gefüge von Lagen und Standorten von körperlichen Objekten wiedergibt (ebd., ūų5). Eine Raumanalyse, die sich auf diesen „banalen“ Raum beschränkt, lässt jedoch keine Schlüsse darüber zu, welche gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen zu der Raumkonstellation geführt haben; auch die gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge und Beziehungen der einzelnen Raumelemente können so noch nicht in den Blick genommen werden. Läpple kritisiert viele sozialwissenschaftliche Ansätze dafür, dass sie fälschlicherweise von einem Zusammenfallen politischer, sozialer und ökonomischer Räume ausgehen. Er plädiert hingegen für einen Zugang, der die Vielzahl gesellschaftlicher Räume sichtbar macht (vgl. ebd., ūų8). Daher entwickelt Läpple weitere Dimensionen seines Matrix-Raumes, um diese sozialen Raumdimensionen bearbeitbar zu machen. Hierzu zählen (vgl. für die folgenden Ausführungen Läpple ūųųū, ūųŰȹf.): 1. Das materiell-physische Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse: Damit sind von Menschen geschaffene Artefakte (wie etwa Verkehrswege, Arbeits- und Wohnstätten oder Kommunikationswege) gemeint, was auch die kulturell überformte Natur betrifft. Oft sind diese Artefakte örtlich gebunden und sind in die „Biosphären-Totalität“ eingebunden. Zu Letzterer zählt Läpple Gebirgszüge, Ozeane und Landschaften. Ř. Die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen: Die gesellschaftliche Praxis aller Menschen ist hier gemeint, die Läpple nach Klassen- und Machtverhältnissen strukturiert annimmt. Ebenso geht er von Unterschieden aus, die sich aus „lokalen Traditionen und Identitäten“ ergeben. řŚȲ Überlegungen zu einem Matrix-Raum bezieht Läpple dabei von Alexander Gosztonyi (Gosztonyi 1976).
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ř. Ein normatives Regulationssystem: Bestehend aus Normen, die teilweise institutionalisiert sind in Form von gesetzlichen Regelungen. Hinzu kommen Macht- und Kontrollbeziehungen sowie soziale Normen, die den gesellschaftlichen Umgang miteinander regeln. Die Gesamtheit dieses Regulationssystems vermittelt zwischen dem vorhin genannten materiellen Substrat und den gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen. Ś. Mit Maurice Halbwachs (Halbwachs ūų85, (19Űű)) geht Läpple davon aus, dass weiters ein Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem besteht, das mit dem materiellen Substrat verbunden ist. Ohne Kenntnis dieser Zeichensysteme ist die Nutzung von Raum unmöglich oder zumindest eingeschränkt. Dieses Wissen impliziert auch Erinnerung, und verkörpert damit nach Halbwachs auch ein „kollektives Gedächtnis“. Im Unterschied zu anderen AutorInnen hebt Dieter Läpple gerade die Unterscheidung in Mikro-, Makro- und Mesoebene als eine sinnvolle Differenzierung hervor, um zwischen unterschiedlichen Analyseniveaus zu unterscheiden. Eine derartige Vorgehensweise scheint jedoch im Lichte der seither geführten Debatte (vgl. etwa Giddens ūųų5) fragwürdig. Gerade auch in Bezug auf die Kritik der Globalisierungsdebatte, in der das Lokale häufig dem Globalen fälschlicherweise kontrastierend gegenübergestellt wird, mutet der Vorschlag Läpples nicht mehr zeitgemäß anřś. In der Analyse von Läpple werden diese vier Komponenten einzeln betrachtet und zueinander in Bezug gesetzt. Dabei ist die Praxis der AkteurInnen der entscheidende Faktor, weil erst durch das soziale Handeln und Interagieren der Raum seine gesellschaftliche Bedeutung entfaltet. Durch diese Praxis wird Raum reproduziert und auch verändert, indem Menschen in ihm leben und handeln. Die Thesen Läpples zu einem sozialen Raum, der sich aus gesellschaftlichen Zusammenhängen heraus aufbaut, reproduziert und verändert, ohne jedoch ein materielles „Substrat“ auszuschließen, hat in der weiteren sozialwissenschaftlichen Debatte einen großen Einfluss gehabt. Auf seinen Thesen bauen die Arbeiten von Gabriele Sturm und Martina Löw direkt auf, indem sie an seiner Ausarbeitung eines gesellschaftlichen Matrix-Raums anschließen. Gabriele Sturm (2ŪŪŪ) entwickelt in ihrer Habilitationsschrift im Bereich der Raumplanung eine sozialwissenschaftliche Methodologie zur Analyse von Raum. Dabei geht sie wie Läpple von der Notwendigkeit aus, Raum theořśȲ
Zur letztgenannten Debatte siehe die Ausführungen in der Einleitung.
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retisch zu rekonstruieren und nicht als gegeben zu betrachten. Sie entwickelt ein „dynamisches Analysemodell“ (Sturm 2ŪŪŪ, ū85), was der Simultanität und Vernetztheit sozialen Lebens Rechnung tragen soll. Sie entwickelt daher ein Quadrantenmodell, das sich auf einer Zeitspirale in unterschiedliche Richtungen entwickeln kann (ebd., ūųŪȹff.). Graphik ř
Methodologisches Quadrantenmodell für Raum
Quelle: Gabriele Sturm 2ŪŪŪ, ūųų.
Die Inhalte der vier Quadranten in dem methodologischen Entwurf Gabriele Sturms orientieren sich an dem zuvor genannten Matrix-Raum Dieter Läpples: Aus dem Zeichen- und Symbolsystem bei Läpple wird hier der „kulturelle Ausdruck“; aus der gesellschaftlichen Praxis das „historische Konstituieren“; aus dem materiell-physischen Raumsubstrat wird die „materiale Gestalt“ und aus dem normativen Regulationssystem bei Läpple wird in Sturms Modells die „strukturierende Regulation“. Sturms Entwurf geht jedoch über die Umbenennung der Raumdimensionen Läpples insofern hinaus, als sie diese vier Qua-
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dranten einrahmt durch eine Zeitspirale. Dadurch bindet sie die gegenseitige Abhängigkeit von Raum- und Zeitanalysen in ihrem Entwurf mit ein, wobei die Möglichkeit der Drehung verdeutlichen soll, dass „beliebig viele Schichten aufeinander“ (ebd., 2ŪŪ) entstehen können, die das historische Bilden von Raum widerspiegeln. Wenig nachvollziehbar bleibt die Unterscheidung, die Sturm vornimmt, in eine Bewegung mit und gegen den Uhrzeigersinn – die Ausführungen sind hier eher kursorisch (vgl. Sturm 2ŪŪŪ, ūųŰ); dennoch ist der Gedanke bestechend, dass in diesem Modell sowohl verändernde als auch bewahrende Momente enthalten sind. Die Ausdrücke „dynamisch“ und „gekannt“ bezieht Sturm aus ihrer Analyse von Immanuel Kants Philosophie des Raumes. Dabei ordnet sie die beiden unteren Segmente des Kreises (materiale Gestalt und strukturierende Regulation) einer „gekannten Basis“ zu, die somit eher stabil bleibt, während die beiden oberen Teile (kultureller Ausdruck und historisches Konstituieren) als veränderlicher Überbau betrachtet werden. Mit der Diskussion von Georg Simmels Raumüberlegungen verbindet Sturm wiederum die beiden letzten Begrifflichkeiten in ihrem Modell: Hier werden die beiden linken Anteile des Kreises als „rezeptiv“ angesehen, die beiden anderen als „aktiv“. Immer wieder verweist Gabriele Sturm (Sturm 2ŪŪŪ, ūŪ) in ihrer Arbeit darauf, dass permanent unterschiedliche Raumkonzepte nebeneinander existieren. Sie führt dies darauf zurück, dass wir im Alltag kontextabhängig unterschiedliches intersubjektiv erzeugtes Wissen über Raum aktivieren, das jeweils von biographischem Wissen und Körpererfahrungen beeinflusst wird. Raumkonzepte begründen sich demnach auf unterschiedlichen menschlichen Relevanzsystemen, die wiederum zu differenten Raumvorstellungen führen. Aufgrund dieser Annahmen warnt Sturm (ebd.) zu Recht davor, ausschließlich von einem einzigen Raumkonzept in der sozialwissenschaftlichen Forschung auszugehen. Gemeinsam mit Ingrid Breckner (Breckner und Sturm ūųųű) kritisiert sie, wenn in den Sozialwissenschaften unhinterfragt Raumkonzepte aus den Naturwissenschaften übernommen werden, um ältere Raumvorstellungen sodann als überkommen abzuqualifizieren. Meiner Meinung nach ist diese Kritik völlig berechtigt, ebenso die Annahme, auf der sie beruht: Dass nämlich gleichzeitig kontext- und situationsabhängig nebeneinander unterschiedliche Raumvorstellungen zum Tragen kommen können. Breckner und Sturm plädieren daher in ihrer Arbeit zu Raumerfahrung dafür, dass sich „die Komplexität dieses Gegenstandes (…) nur mittels eines gesellschaftstheoretischen Raumkonzepts“ (Breckner und Sturm ūųųű, 2ū8) erfassen lässt, das „objektive und subjektive, strukturelle und prozessuale sowie materielle und ideelle Komponenten der Konstitution von Raum integriert“ (ebd.). Doch was
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bedeutet es nun, dass SozialwissenschaftlerInnen beginnen, mit derartigen Raumkonzepten zu arbeiten, die sich von absoluten Vorstellungen lösenȺ? Martina Löw weist darauf hin, dass wir daraus nicht ableiten sollten, nun mit einem adäquateren Raumkonzept als frühere Forschungen zu operieren. Vielmehr liegt dies an der Verbreitung von Denkmodellen, die sich innerhalb der Wissenschaft sowie in anderen gesellschaftlichen Subsystemen durchsetzen – und dann wiederum von neuen Anschauungen abgelöst werden (vgl. hierzu Löw 2ŪŪū, 23). Martina Löw (Löw 2ŪŪū) arbeitet u.ȹa. mit dem von Sturm entworfenen methodologischen Vorhaben weiter und bringt anschauliche und ausführliche Beispiele empirischer Forschung, um einen raumsoziologischen Zugang zu beschreiben. Die Analyse sozialwissenschaftlicher VordenkerInnen bringt sie dazu, eine Unterscheidung zwischen relativistischen Raumkonzepten und absolutistischen Raumannahmen einzuführen (vgl. Löw 2ŪŪū, Ű3ȹff.). Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie als unveränderlich vorgegeben konzipiert werden, wobei Löw hier drei Formen unterscheidet: den ortsbezogenen Raum, der als konkreter Ort gedacht wird, wie es etwa Peter Berger und Thomas Luckmann vorschlagen (Berger und Luckmann ūųű2, (19ŰŰ), zit. nach Löw 2ŪŪū, 35); zweitens territoriale Raumannahmen, die Raum über Merkmale wie Ausdehnung, Bevölkerungsdichte oder Nutzungsmöglichkeiten definieren; drittens subsumiert Löw auch den Kantschen Raumbegriff unter absolutistische Raumkonzepte, da der Raum bei Kant zwar ein ordnendes Prinzip ist, das vom Menschen erschaffen wurde, jedoch nur nach den Grundlagen der Euklidik operiert. Martina Löws eigenes Anliegen ist es, einen relationalen Raumbegriff für die Soziologie zu entwickeln. Sie geht dabei von einem einzigen Raum aus, der verschiedene Komponenten aufweist. Löw wendet sich damit explizit gegen Strömungen in der Soziologie, die einen sozialen Raum von einem materiellen unterscheiden. Raum ist bei ihr durchgängig sozial, wiewohl Elemente, die zu Raum verknüpft werden, materiale Qualitäten aufweisen. Doch der Raum entsteht erst über die Relationenbildung zwischen diesen Objekten – und dieser Prozess ist wiederum ein sozialer (vgl. Löw 2ŪŪū, 228). Diesen Ansatz begründet sie damit, dass eine Trennung in einen sozialen und einen materiell vorgegebenen Raum nahe legt, es gäbe einen Raum jenseits der sozialen Welt. Eine derartige Gegenüberstellung ist insofern problematisch für den Übergang zwischen menschlichen Einflüssen auf Raum und Raumarrangements, als dass uns menschlich geformte Artefakte analytisch als unabhängig von sozial geformten Tatsachen gegenübertreten. Löw nimmt damit Simmels Argument ernst, wonach nicht die Form räumlicher Nähe oder Distanz bestimmte so-
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ziale Erscheinungen (etwa Nachbarschaft bzw. Fremdheit) schafft, sondern wonach diese Erscheinungen durch seelische Inhalte erzeugte Tatsachen sind. Dieses Argument ist für Migrationsforschung und Raumüberlegungen wichtig, weil damit die seelischen Inhalte – um mit Simmels Diktion zu argumentieren – Vergemeinschaftungsformen bestimmen und nicht geographische Nähe oder Distanz per se. Löw selbst bezieht sich in ihren Ausführungen im Weiteren auch auf die Geographie sowie die Stadt- und Regionalforschung. Sie stellt fest, dass es in diesen Bereichen bis in die ūų8Ūer Jahre ein massives Defizit in der Betrachtung von Räumen gegeben hat. So kritisieren schon Barry Wellmann und Barry Leighton (Wellman und Leighton ūųűų, 3ŰŰ, zit. nach Löw 2ŪŪū, 5ū), dass Nachbarschaften als Container verstanden werden und setzen dies mit einem Raumdeterminismus gleich, in dem Raum strukturierende Wirkung über soziale Beziehungen zugeschrieben wird. So wurde in Teilen der Stadtsoziologie nicht darüber reflektiert, dass ein Netzwerk einer Gemeinschaft über verschiedene Stadtteile hinweg auch einen Raum bilden kann. Weder in der an die Chicagoer Schule anschließenden US-amerikanischen Stadtsoziologie noch in der deutschen Regionalsoziologie wurden solche Fragen in Betracht gezogen, wie Martina Löw (Löw 2ŪŪū, 5ū) feststellt. Ein Bruch mit dieser kritisierten stadtsoziologischen Tradition erfolgt erst in den ūųųŪer Jahren mit der feministisch orientierten Forschung zum Thema der Geschlechterverhältnisse und Raumstrukturen. Feministische Stadtforschung und -planung rückt den Raum ins Zentrum des Interesses und geht zur Dekonstruktion dieser Kategorie über (Dörhöfer und Terlinden ūųų8, zit. nach Löw 2ŪŪū, 5ű). In diesem stadtsoziologischen Kontext ist insbesondere auch auf die Arbeiten von Manuel Castells (Castells ūųűű, 19űŬ) hinzuweisen, der aufbauend auf den Aussagen Henri Lefebvres (Lefebvre ūųű2, (19űŪ)) die bis dahin geleisteten Analysen des Städtischen eingehend kritisiert. Auf dieser Grundlage entwickelte Castells seinen Zugang zum Städtischen, der die Bedeutung der Reproduktion gesellschaftlichen Lebens in den Mittelpunkt stadtsoziologischer Analysen stellt (Häußermann und Kemper 2ŪŪ5). Martina Löw bezieht sich für ihr raumsoziologisches Modell in der Folge zwar auch auf die Strukturationstheorie bei Giddens (vgl. Löw 2ŪŪū, 3ű), kritisiert jedoch an seinem Entwurf, dass er darauf verzichtet, Raum auch als durch Handeln hervorgebracht zu verstehen und diesen wiederum selbst als produzierend zu entwerfen. An dieser Stelle ist Löw eindeutig zuzustimmen, da der Analyse mit dem Giddens’schen raumtheoretischen Ansatz wie bereits oben diskutiert enge Grenzen gesetzt sind. Dies gilt etwa für das Anliegen, transnationale Migrationspraktiken anhand des Giddens’schen Modells
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zu analysieren. Aufgrund dieser Kritikpunkte bezieht sich Martina Löw in ihrer „Raumsoziologie“ auf Giddens’ Strukturationstheorie, was dazu verhilft, nicht in den Widerspruch zwischen „gegebenen“ und „imaginierten“ (Raum-) Strukturen zu verfallen. Um die genannten Defizite in der Giddens’schen Raumkonzeption zu umgehen, führt Löw eine Unterscheidung zwischen der Syntheseleistung und dem Spacing (ins Deutsche übersetzt: Plazieren) ein. Unter Syntheseleistungen sind „Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse gefasst, durch die Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst werden“ (Löw 2ŪŪū, 23Ū). Etwa wenn wir von einer Familie sprechen, einer Schule, einer bestimmten (ethnischen) Gruppe oder auch von einer Nation. Als „Spacing“ definiert Löw „das Plazieren von sozialen Gütern und Menschen in Relation zu anderen“ (ebd.). Als Beispiele hierfür sind etwa das Aufstellen von Ortstafeln oder von Waren im Supermarkt zu nennen oder das Vernetzen von Computern zu Räumen. Dabei kann nur plaziert werden, was in der jeweiligen Situation verfügbar ist – wodurch Körperliches und Materielles jenseits sozialer Konstruktionsleistungen im Konzept inkludiert werden. Martina Löw versucht so den Widerstreit zwischen Essentialismus und Konstruktivismus zu überwinden, indem sie sowohl sozial Entstandenes sowie Materielles jenseits einer sozialen Konstruktion in ihre Theoriebildung einführt. Weiters kann nur dort plaziert werden, wo es einen Ort gibt. Orte müssen ebenfalls benannt werden, können geschaffen werden und auch leer stehen. Die beiden Prozesse der Syntheseleistung und des Plazierens geschehen in vorarrangierten Räumen und somit in strukturierten Kontexten. Allerdings können diese Prozesse auch diesen bestehenden Arrangements zuwider laufen. Eine wichtige definitorische Klarstellung, die Löw leistet, betrifft die Unterscheidung zwischen Strukturen und Strukturprinzipien. Zu Letzteren zählt sie Klasse und Geschlecht. Sie durchziehen Strukturen, zu denen Raum und Zeit gehören. Strukturen beeinflussen und verändern das Handeln, doch der Prozess kann auch umgekehrt laufen. Den Zusammenhang zwischen Handeln und Raumstrukturen stellt Löw zum Beispiel über repetitive alltägliche Handlungen her, die Raumstrukturen reproduzieren. Räumliche Strukturen sind wie zeitliche Strukturen ein Teil gesellschaftlicher Strukturen. Raumvorstellungen werden durch Sozialisations-, Bildungs- und Erfahrungsprozesse beeinflusst. Heute wandelt sich die räumliche Sozialisation folgendermaßen: Es entsteht eine ‚verinselte‘ Vergesellschaftung, die Raum als einzelne funktionsgebundene Inseln erfahrbar macht, die über schnelle Bewegung (Auto fahren, öffentliche Verkehrs-
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs mittel) verbunden sind und durch Syntheseleistungen zu Räumen verknüpft werden. (…) Die zeitlich nicht verzögerte Kommunikation zwischen Menschen, die miteinander keine räumliche Einheit teilen, ist ein prägender Faktor. (ebd., 2Ű5)
Dadurch werden euklidische Raumvorstellungen nicht völlig verdrängt, sondern durch relationale Raumvorstellungen im Alltagsleben ergänzt. Raum wird damit auch als diskontinuierlich, konstituierbar und bewegt erfahren. An einem einzigen Ort können sich mehrere, einander überlappende Räume herausbilden. Dadurch entsteht neben dem Bild, im Raum zu leben, auch die Möglichkeit, in einem fließenden Netzwerk zu navigieren (ebd., 2Űű). Diese Wandlung von Raumvorstellung wird durch Prozesse der Globalisierung, ein geändertes Freizeitverhalten und erhöhte (Langstrecken-)Reisetätigkeit noch verstärkt. Für migrantische Lebensbezüge kann dieses verinselte und vernetzte Raumverständnis eine besondere Rolle spielen. Daher erscheinen diese Überlegungen zu Raumkonzepten als geeigneter Anknüpfungspunkt für entsprechende Fragestellungen in der Migrationsforschung, der bislang noch nicht aufgegriffen wurde. Besonders interessant sind Martina Löws Überlegungen zu einer Raumsoziologie, weil damit ein akteurzentrierter und handlungsbezogener Ansatz vorliegt. Die Raumsoziologie Löws arbeitet dabei mit einem relationalen Raumbegriff, in dem jedoch gleichzeitig Platz ist für ein euklidisches Raumverständnis, das im Alltag nach wie vor präsent ist und Handeln strukturiert. Ein Hauptkritikpunkt an Teilen der Debatte zu Transmigration könnte damit ausgeräumt werden: Jener soziale Raum, der durch Transmigration geschaffen wird, ist somit weder enträumlicht noch ist er entkörperlicht. Er wird damit auf geistige Inhalte und soziales Handeln rückführbar. Für die empirische Arbeit mit dem von ihr entwickelten relationalen Raumbegriff kommt Löw selbst zu dem Schluss, dass künftige Forschung erst zeigen muss, inwiefern sich ihre Ausführungen umsetzen lassen (vgl. ebd., 23ū). Für den Bereich der Migrationsforschung gibt es bislang nur einige wenige Arbeiten, die mit ihrem relationalen Raumbegriff und dem damit verbundenen analytischen Instrumentarium arbeiten (für eine Ausnahme siehe etwa Petendra 2ŪŪ4). Dies dürfte nach meiner Einschätzung daran liegen, dass die Konzepte Löws eine Engführung der Analyse bewirken würden, die für die meisten migrationsspezifischen Forschungsprojekte nicht die Bearbeitung der jeweiligen zentralen Untersuchungsfragen zulassen. Im Folgenden wird daher ein raumtheoretisch informiertes methodologisches Vorgehen vorgeschlagen, das die Offenheit und Flexibilität von Forschungsanlagen entsprechend der jeweiligen bearbeiteten Fragestellungen in den Mittelpunkt stellt.
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Exkurs: Der Zusammenhang zwischen Zeit- und Raumsoziologie
John Urry hat Mitte der ūųųŪer Jahre eindringlich darauf hingewiesen, dass Raum kaum ohne eine Diskussion von Zeit auskommt (Urry ūųųŰ). In einem historischen Überblick zur Geschichte des Zeitbegriffs in der Soziologie zeigt er die enge Verknüpfung gesellschaftlicher Entwicklung und ihrer Analyse mit dem Verständnis des Zeitbegriffs und der Veränderung zeitlicher Regime. Damit erhebt sich die Frage, wie Zeit soziologisch (und in der Zusammenschau mit dem Raum) zu fassen ist: Norbert Elias weist in seinem Essay „Über die Zeit“ (Elias ūų88, (19ŲŮ)) nach, dass Zeit eine menschliche Syntheseleistung ist, durch die zunächst unverbundene Geschehensabläufe in einer spezifischen Weise aufeinander bezogen werden: Ein Geschehensablauf wird dabei in einen sozialen Prozess als Bezugsrahmen gesetzt. Beispielhaft sind hierfür etwa die Bewegungen von Sonne und Mond zu nennen, die später durch menschliche Artefakte – wie Uhren oder Kalender – ersetzt werden. Dieser Bezugsrahmen hat einen standardisierenden Charakter für andere Geschehensabläufe. Notwendig für einen derartigen sozialen Prozess ist das menschliche Erinnerungsvermögen sowie die menschliche Fähigkeit der Synthese. Norbert Elias geht auch auf den Zusammenhang von Zeit und Raum ein und stellt sich gegen Auffassungen, wonach diese als zwei voneinander unabhängige Größen zu behandeln wären. Er kommt daher zu folgender Auffassung: Jede Veränderung im ‚Raum‘ ist eine Veränderung in der ‚Zeit‘, jede Veränderung in der ‚Zeit‘ ist eine Veränderung im ‚Raum‘. Man lasse sich nicht durch die Annahme irreführen, man könne im ‚Raum‘ stillsitzen, während ‚die Zeit‘ vergeht: man selbst ist es, der dabei älter wird (ebd., ű4).
Wilbur Zelinsky (Zelinsky ūųűū) führte die beobachtbaren sozialen Folgen aus, mit denen wir es aufgrund einer sozial geprägten Zeit zu tun haben: Durch die zunehmende Lebenserwartung etwa verändert sich die Bedeutung eines Lebensjahres und ganze Lebensphasen werden neu bemessen – oder gar erfunden, wie etwa die Arbeiten von Philippe Ariès und seiner Analyse der Geschichte der Kindheit zeigen (Ariès ūųű5). Insbesondere auf den Arbeiten Edmund Husserls zur „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ (Husserl ūų8Ū, (19ŬŲ)) aufbauend, hat Armin Nassehi (Nassehi 2ŪŪ8, (1993)) eine gesellschaftstheoretische Analyse vorgelegt. Soziale Zeit wird von ihm als Produkt kommunikativer Akte im Sinne
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs
der Systemtheorie konzipiert. Von Husserl übernimmt er den stringenten Praxisbezug – und somit ist es die Praxis selbst, die eine Zeitstruktur hervorbringt, welche sich in modernen Gesellschaften dadurch auszeichnet, dass unterschiedliche Zeitregimes nebeneinander bestehen. Diese Differenzen führen zum zentralen empirischen Problem der sozialen Synchronisation, welches wiederum nach Ansicht Nassehis nur durch eine adäquate zeittheoretische Herangehensweise analytisch in den Griff zu bekommen ist. Einen anderen Zugang wählt Hartmut Rosa (Rosa 2ŪŪ5) in seinem Werk. Er bedient sich zeitsoziologischer Überlegungen, um den Begriff der sozialen Beschleunigung herauszuarbeiten (ebd., 4ŰŪ). Auch Rosa bezieht sich in seiner Arbeit auf die Prozesshaftigkeit alles Sozialen als Ausgangspunkt seiner Überlegungen und auch er unternimmt einen historischen Rückblick über die unterschiedlichen Zeit-Formen in Gesellschaften. Modernisierung ist in seiner kulturhistorischen Analyse schließlich als eine Geschichte der zunehmenden Beschleunigung zu verstehen, was sich – so Rosa – in den klassischen soziologischen Diagnosen ebenfalls niedergeschlagen hat. Rosa macht jedoch darauf aufmerksam, dass sich die spezifischen sozioökonomischen und politischen Veränderungen der Gegenwart nur dann erschließen, wenn zwischen drei Dimensionen der Beschleunigung unterschieden wird: Erstens der technischen Beschleunigung, zweitens der Beschleunigung des sozialen Wandels sowie drittens der Beschleunigung des Lebenstempos. Diese drei Dimensionen sind insofern miteinander in Verbindung zu sehen, als etwa die technische Beschleunigung dazu führt, dass das Lebenstempo zumindest theoretisch reduziert wird, weil durch die Verkürzung von Bearbeitungsprozessen Lebenszeit frei gespielt wird. Dieser Fall lässt sich empirisch jedoch kaum beobachten, da die Steigerungsraten in der Produktion in unterschiedlichsten Lebensbereichen gleichzeitig noch stärker zunehmen als die technischen Beschleunigungsraten. Daher wird das Lebenstempo trotz technischen Fortschritts immer höher. Die Beschleunigung des sozialen Wandels führt auf Seiten der Individuen dazu, dass sie sich einem zunehmenden Anpassungs- und Veränderungsdruck ausgesetzt sehen (ebd., 4Ű8). Für die politische Dimension kommt Rosa zu dem Schluss, dass mit der Spätmoderne ein Prozess der Entzeitlichung eingesetzt hat: Aufgrund der Ungleichzeitigkeit mit sozioökonomischen Prozessen sind politische Richtungsbestimmungen kaum mehr möglich; politisches Beharren kommt einer Entschleunigung gleich, weshalb Politik in der Spätmoderne einen situativen, reaktiven Charakter angenommen hat. Während die Bedeutung von Zeit und ihre soziale Konstruktion in der Soziologie allgemein zumindest bis in die ūųűŪer Jahre wenig Beachtung fand,
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stellt dieses Thema ein durchaus viel bearbeitetes Gebiet der Migrationsforschung dar. Hier steht die biographische Konstruktion von Wanderung und deren Einbettung in die Perspektive der MigrantInnen selbst im Mittelpunkt des Interesses (vgl. für die folgenden Ausführungen auch Scheibelhofer 2ŪŪ3). Mit der Renaissance der Biographieforschung in den ūųűŪer Jahren ging eine verstärkte Aufmerksamkeit für Fragen einher, die sich mit der Subjektivität der Person und ihrem Anteil an der Aneignung und Bewältigung gesellschaftlicher Wirklichkeit (Brose ūųųŪ) befassen. Ziel einer interpretativ orientierten Biographieforschung ist es seither, einen Zugang zu sozialer Realität zu gewinnen, der zwar die Individualität und Persönlichkeit der einzelnen Person berücksichtigt, gleichzeitig jedoch deren Einbettung in die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmungen nicht außer Acht lässt (Beham ūųų8). So werden soziale Einflüsse herausgearbeitet, die sowohl auf den gesellschaftlichen Gegebenheiten als auch auf den individuellen Gestaltungsmöglichkeiten beruhen. Besondere Bedeutung erlangte diese Forschungsperspektive in der feministisch orientierten Sozialwissenschaft, da hier ‚ganzheitliche Herangehensweisen‘ gewählt werden, um sowohl die Lebenssituation als auch die persönlichen Erfahrungen der AkteurInnen in die Forschung mit einfließen zu lassen. Neben der Betonung des subjektiven Anteils an der Konstruktion sozialer Wirklichkeit ermöglicht es die Biographieforschung auch, die zeitliche Dimension in sozialwissenschaftlichen Studien zu thematisieren, indem der lebenszeitliche Horizont in der Bearbeitung der Fragestellungen beachtet wird. Die Verknüpfung biographischer Studien mit dem Thema der Migration kann dabei auf eine lange Tradition verweisen (vgl. Thomas und Znaniecki ūų58) und setzt sich auch in neueren Studien fort. Dies liegt nicht zuletzt im Charakter von Wanderungen begründet, die generell eine Umorientierung im Alltagsleben erfordern und häufig eine tiefgreifende Veränderung der gesamten Lebensverhältnisse bedeutet (Meister ūųųű). Biographische Ansätze bieten somit die eine Möglichkeit, subjektive Erfahrungen mit der Analyse gesellschaftlichen Wandels zu verknüpfen (vgl. etwa Breckner 2ŪŪ5). Mittels biographischer Studien kann der Frage nachgegangen werden, welche Formen von Sozialität mit alltäglichen Praktiken von MigrantInnen verbunden sind. Auch lassen sich heute gesellschaftliche Veränderungen kaum mehr in ihrer Vielschichtigkeit erfassen, wenn nicht die Perspektive des Lebensverlaufs und der jeweils individuellen Rekonstruktionen der Lebensgeschichte in das Gesamtbild mit einbezogen werden. Die Brüche und neuen Kontinuitäten, die durch die Freisetzung und die institutionellen Anforderungen an einzelne Personen entstehen, können so in ihrer Vielfalt
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs
und tief greifenden Bedeutung über einen biographischen Zugang zu individueller Sinnzuschreibung rekonstruiert werden. Diesen Exkurs abschließend ist somit festzuhalten, dass der Raum und die Zeit sozial strukturiert sind und in einer soziologischen Analyse nicht sinnvoll ohne einander gedacht werden können.
2.3
Zusammenfassung relevanter raumtheoretischer Annahmen aus Sicht der Migrationsforschung
In diesem Kapitel werden in aller Kürze jene Überlegungen aus der raumsoziologischen Debatte zusammengefasst, die für die Migrationsforschung direkte Auswirkungen haben. Den Abschluss des Kapitels bildet eine Zusammenfassung und Beschreibung der unterschiedlichen Raumkonzepte, die die Basis für die Entwicklung einer raumsensiblen Methodologie in der Migrationsforschung in der Folge darstellen.
2.ř.ŗ
Raum als soziales Konstrukt
Wie die Ausführungen zu Georg Simmels Arbeiten gezeigt haben, ist in der Soziologie davon auszugehen, dass Raum durch soziales Handeln hergestellt wird und durch Syntheseprozesse des Erinnerns und Kombinierens aktualisiert werden. Raum ist damit ein soziales Konstrukt, das aus Handlungen von Menschen resultiert und den damit verbundenen Bedeutungsinhalten. Für meine migrationssoziologischen Ausführungen wichtig sind Simmels vielschichtige Arbeiten zum Thema Raum besonders an jenen Punkten, an denen er hervorhebt, dass nicht geographische Nähe oder Distanz Erscheinungen wie Freundschaft oder Fremdheit schaffen, sondern dass es sich bei diesen sozialen Umständen um seelische Inhalte handelt. „Raum“ ist für Simmel demnach „nur eine Tätigkeit der Seele, nur die menschliche Art, an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden“ (Simmel ūųų2, (19ŪŲ), Ű8ų). Für Simmel gibt es mit fortschreitender sozialer Entwicklung vermehrt die Möglichkeit, unter Bedingungen der Abwesenheit bedeutungsvolle soziale Beziehungen aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Eng verbunden mit der Etablierung der Geldwirtschaft und der Arbeitsteilung diagnostiziert Simmel in der modernen Gesellschaft eine größere geistige Biegsamkeit, die dazu beiträgt, dass in Bereichen wie der Wissenschaft oder der Wirtschaft
Ř.řȳZusammenfassung relevanter raumtheoretisĖer Annahmen
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Transaktionen getätigt werden können ohne dass Kopräsenz nötig wäre. Die Möglichkeiten, Inhalte „schriftlich restlos“ (Simmel ūųų2, (19ŪŲ), űūű) auszudrücken, sind dafür seiner Ansicht nach hilfreich. Allerdings sind derartigen Beziehungen dort Grenzen gesetzt, wo sie derart unklar werden, dass der sinnliche Austausch über den Blick zwischen den InteraktionspartnerInnen als wichtiges Mittel des Vertrauensaufbaus unersetzlich wird. Das gegenseitige Sich-Anblicken bezeichnet Simmel daher als die „unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht“ (Simmel ūųų2, (19ŪŲ), ű23). Wie dann dennoch bedeutungsvolle soziale Beziehungen, die über geschäftliche oder wissenschaftliche hinausreichen, aufrecht erhalten werden können, deutet Simmel in seinem Aufsatz über den Fremden an: Trotz geringer Kopräsenz kann hier eine Gruppe über „alles Gleichmäßige der objektiven Kultur“ (ebd., ű55) zusammengehalten werden. Unter diesen Gleichmäßigkeiten sind Sprache, Gesetz bzw. staatliche und kirchliche Institutionen sowie bestimmte Lebensweisen zu verstehen. Bezogen auf aktuelle Untersuchungen zu transnationalen Gemeinschaften gewinnen hier dann derartige „Gleichmäßigkeiten“ an Bedeutung, die etwa über Massenmedien zugänglich gemacht werden oder über das Internet. Zentrales Thema bei Simmel ist damit, wie Menschen durch ihre Lebensweisen Raum bestimmen (vgl. Schroer 2ŪŪŰ, Űū). Außerdem ist bereits bei Georg Simmel die doppelte Struktur von Raum angelegt, die AutorInnen wie Anthony Giddens oder Martina Löw später noch deutlicher herausgearbeitet haben: Jener Raum, der durch Menschenhand erschaffen bzw. durch den menschlichen Geist imaginiert wurde, wirkt als solcher auch auf soziales Handeln zurück: Dies erklärt auch, warum uns der Raum im Alltagshandeln meist als essentialistisch, gegeben und unveränderbar gegenübertritt. So wirkt der Raum auf den Lebensvollzug und prägt diesen mit. Was Georg Simmel somit bereits in seinen Kant-Vorlesungen kritisiert, sind Vorstellungen vom Raum in den Sozialwissenschaften, der euklidischen Gesetzmäßigkeiten folgen würde (vgl. Glauser 2ŪŪŰ). Raum ist für ihn eine „Anschauungsform“ (Glauser 2ŪŪŰ, 258), auch wenn in seinen über viele Jahre hinweg entstandenen Arbeiten durchaus widersprüchliche Aspekte zum Thema Raum zu entdecken sind (vgl. hierzu die eingehende Diskussion in Kapitel 2.2.ū2).
2.ř.2
Raum als Machtfrage
Pierre Bourdieu hat in seinen Arbeiten den engen Konnex zwischen der Verfügungsmacht über Raum und der sozialen Stellung in der Gesellschaft herausgearbeitet. Er geht dabei von einer relationalen Auffassung des Sozialen
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs
aus, d.ȹh. Personen und Gruppen haben soziale Positionen in Beziehung zueinander inne. Durch diese Relationen spannen sich soziale Felder auf, wobei der Begriff die Kräfte verdeutlicht, die hier am Werk sind. Je nach Position im sozialen Raum sind Personen oder Gruppen mit Ressourcen ausgestattet, die sie auch rivalisierend zueinander einsetzen können. Bei derartigen Interaktionen steht dabei immer im Vordergrund, die eigene günstige Position zu erhalten oder weiter zu stabilisieren. Diese Positionserhaltung wird noch dadurch erleichtert, dass Kapitalien eher dorthin zufließen, wo bereits eine Machtfülle vorhanden ist. Körper positionieren sich demnach also in Relation zueinander innerhalb einer Rangordnung, die dadurch wiederum reproduziert wird. Um dies zu verdeutlichen, arbeitet Bourdieu mit zwei unterschiedlichen Raumformen: dem sozialen und dem physischen Raum. Diese beiden Raumformen stehen in folgendem Verhältnis zueinander: Der soziale Raum schlägt sich im physischen Raum nieder, weshalb Bourdieu davon ausgeht, dass im Umkehrschluss Unterschiede im physischen Raum Auskünfte über soziale Ungleichheiten geben. Die Analyse wird jedoch dadurch erschwert, dass wir im Alltag einem „Naturalisierungseffekt“ unterliegen. Dies bedeutet, dass wir generell von einer „natürlichen“ Umwelt ausgehen und so den sozialen Hintergrund physischer Räume ausblenden. Auch ist fraglich, ob sich moderne Gesellschaften nicht zunehmend dadurch auszeichnen, dass der physische Aufenthaltsort immer weniger über den sozialen Status aussagt. Bourdieu vertritt hier im Laufe seiner Forschungsarbeit unterschiedliche Auffassungen: So ging er Anfang der ūųųŪer Jahre noch davon aus, dass sich von physischen Plazierungen „auch heute noch, wenn auch auf immer diskretere Weise“ (Bourdieu ūųųū, 2ű) auf soziale Stellungen schließen lässt. Kein Jahrzehnt später plädiert er hingegen dafür, dass die Soziologie Klassen „auf dem Papier“ (Bourdieu ūųų8, 4ų) voneinander abgrenzen müsse, da diese Abgrenzungen nicht mehr empirisch beobachtbar seien. Bekanntermaßen geht Bourdieu davon aus, dass sich soziale Positionierungen über die Körper auch in die mentalen Strukturen der Menschen einschreiben. Aufgrund von Präferenzsystemen, die sich je nach Positionierung im sozialen Raum ausbilden, werden spezifische Handlungen gesetzt und andere unterlassen. Daher kommt Bourdieu zu dem Schluss, dass der angeeignete Raum einer der Orte [ist], an denen sich Macht bestätigt und vollzieht, und zwar in ihrer sicher subtilsten Form: der symbolischen Gewalt als nicht wahrgenommener Gewalt. (Bourdieu ūųųū, 2ű)
Ř.řȳZusammenfassung relevanter raumtheoretisĖer Annahmen
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Einen weiteren Mechanismus, wie Machtstrukturen über Räume aufrecht erhalten werden, bezeichnet der „Club-Effekt“ (ebd., 32): Hier muss erst gar nicht mit physischer Gewalt der Ausschluss unerwünschter Personen aus bestimmten Kreisen erzwungen werden, sondern aufgrund des nicht vorhandenen symbolischen Kapitalsř6 ist vielen Personen der Zutritt zu derart exklusiven Zirkel von vornherein verwehrt. Als Gegenstück zu diesen Clubs sieht Bourdieu Ghettos, in denen sich Personen versammeln, die über keinerlei Kapitalien verfügen. Die pure Anwesenheit in derartigen Zonen führt bereits zu Stigmatisierung und Deprivation, die sich – wie bereits erwähnt – auch in die Körper der Betroffenen einschreiben. Es versteht sich von selbst, dass Personen aus dem Aufenthalt in derartigen Ghettos keine Raumprofite herausgeschlagen werden können. Die Segregation von Wohnorten sieht Bourdieu dabei gleichzeitig als „Ursache und Wirkung des exklusiven Gebrauchs von Raum“ (ebd., 3Ū), wobei diese Form der Herrschaft über Raum seiner Ansicht nach eine der privilegiertesten Formen der Herrschaftsausübung generell ist. Dabei reicht es auch nicht, einfach den Wohnort zu wechseln, um in der sozialen Hierarchie aufzusteigen, da die Inklusions- und Exklusionsmechanismen subtiler und über unterschiedlichste Kapitalienformen laufen. Wie im folgenden Abschnitt diskutiert wird, hat Pierre Bourdieus Raumund Kapitalientheorie die Migrationsforschung in den letzten Jahren in viel facher Hinsicht beeinflusst. So wird etwa der soziale Raum im Sinne Bourdieus untersucht, in dem sich MigrantInnen bewegen (vgl. etwa Stieger 2ŪŪ3; Seukwa 2ŪŪű), um die Perspektive der MigrantInnen selbst in den Vordergrund zu rücken und nicht nur von den (angenommenen) Parametern der Ankunftsgesellschaft auszugehen. Andererseits helfen seine theoretischen Überlegungen besonders in Bezug auf die Konstruktion grenzüberschreitender „Klassen auf dem Papier“, wie Anja Weiß (Weiß 2ŪŪŰ) mit ihren Überlegungen zu einer empirischen Untersuchung gezeigt hat. Räume entstehen also durch die Verknüpfungsleistungen von Menschen selbst, wobei mit dieser Verknüpfung „meistens auch eine Plazierung“ (Löw 2ŪŪū, ū58) einhergeht. Diese Plazierung geschieht unter vorstrukturierten gesellschaftlichen Bedingungen und hat letztlich Einfluss auf Stigmatisierung und die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung sozialer Unterschiede. Markus Schroer weist darauf hin, dass sowohl Prozesse des Öffnens von Räumen als auch die Schaffung von Räumen unter Gesichtspunkten der damit jeweils verř6Ȳ Darüber hinaus sind hier meist auch das ökonomische und das kulturelle Kapital gleichfalls nicht vorhanden.
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bundenen Ressourcenverteilung zu beobachten ist (Schroer 2ŪŪŰ). Mit diesen Vorgängen geht auch die Erschaffung von neuen sozialen Grenzziehungen einher, wobei deren Herstellung viel Arbeit bedürfen, wie Schroer ausführt. Er macht zu Recht deutlich, dass Raumkonzepte soziologisch als Machtinstrumente zu verstehen sind, die soziale Funktionen erfüllen. Den engen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Raum verdeutlicht auch Kevin Cox (Cox ūųųű, ūű) wenn er meint, dass ‚space‘, in the form of sets of locational opportunities and constraints, needs to be viewed, just as much as ‚place‘ does, in the context of social structures by virtue of which agents are both empowered and constrained. At the same time, the changes set in motion by new rounds of deskilling, monetarism, and changes in transportation and in the spatial divisions of labor of firms are also enacted with respect to agents, not just workers but also capitals, which are necessarily and sometimes by choice embedded in particular places. Both in more metaphorical senses, therefore, and in literal senses, ‚space‘ needs to be put in its ‚place‘.
Raum – und damit Machtstrukturen sowie deren Veränderung – in der Migrationssoziologie unter zu belichten würde bedeuten, diesen sozialwissenschaftlichen Bereich nicht ernsthaft voranzutreiben. Ein raumsensibler Ansatz in der Migrationsforschung versetzt uns hingegen in die Lage, auch unter heutigen Bedingungen gesellschaftskritische Analysen zu betreiben. Dies bedeutet etwa, Bezeichnungen aus dem politisch-administrativen Vokabular grundsätzlich und ausschließlich zu übernehmen, oder Untersuchungsgruppen nicht unhinterfragt nach ethnischen oder nationalstaatlichen Grenzziehungen zu definieren. Damit kann ein Beitrag geleistet werden, Machtbeziehungen zu analysieren und offen zu legen anstatt sie durch sozialwissenschaftliche Forschung (ungewollt) zu bestärken.
2.ř.2
Zur Bedeutung von Kopräsenz für soziale Beziehungen
In der Migrationsforschung, die sich mit dem Aufbrechen von Containerräumen befasst (vgl. etwa Castles 2ŪŪŪ; Glick Schiller, Caglar et al. 2ŪŪŰ), wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die veränderten Lebensräume der MigrantInnen auch durch technologische Neuerungen unterstützt werden. Entwicklungen im Bereich der Telekommunikation oder im Transportwesen (Harvey ūųų3) haben etwa dazu geführt, dass wir ohne (bzw. relativ kleinen) Verzögerungen mit Personen auf vielfältige Weise im Austausch stehen kön-
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nen, die sich mitunter einige Flugstunden entfernt von uns aufhalten. Dabei kommt neben der Echtzeit-Kommunikation und dem Warentransport auch dem Austausch von Simulakra eine wichtige Bedeutung zu, weil dadurch eine soziale Beziehung in originärer Form auch über weite Distanzen möglich ist. Mit den diesbezüglichen Auswirkungen auf MigrantInnen beschäftigten sich bereits eine Vielzahl von Forschungsprojekten in den letzten Jahren, die sich etwa mit den Folgen von Medien in einem transnationalen Raum (Karim ūųųų; Robins ūųų8), grenzüberschreitender Kulturproduktion und -konsumation (Vertovec 2ŪŪ2) sowie der Form des kulturellen Transfers (Aksoy und Robins 2ŪŪ2) beschäftigen. Generell stimme ich mit einer kritischen Sicht der Annahme überein, wonach die technologischen Entwicklungen im Kommunikations- und Transportbereich als Ursache für veränderte Lebenswelten von MigrantInnen zu sehen seien. Derartiges suggerieren stehsatzähnliche Formulierungen in einschlägigen Publikationen, in denen die technologischen Entwicklungen und deren Verbreitung meist in einem Atemzug mit den Veränderungen migrantischer Lebenswelten genannt werden. Die komplexen Beziehungen zwischen technologischen Innovationen und sozialen Veränderungen zählen hingegen zu den zentralen Fragestellungen der Techniksoziologie. Obwohl auch hier die Einschätzungen über den Einfluss technologischer Innovationen auf soziale Beziehungen generell auseinandergehen, scheint mir eine Position, wie sie etwa Werner Rammert (Rammert 2ŪŪű) vertritt, für die hier zur Debatte stehende Frage hilfreich und angemessen: Technologische Entwicklungen bieten Möglichkeiten, rufen aber allein durch ihre Existenz noch keine sozialen Veränderungen hervorř7. Für die Migrationsforschung bedeutet dies, dass vereinfachende Aussagen über die Auswirkungen technologischer Entwicklungen im Kommunikations- und Transportwesen vermieden werden sollten. Fraglich ist weiters, ob intime oder sehr enge soziale Beziehungen – etwa innerhalb der eigenen Familie – über Formen der Kommunikation aufgebaut und erhalten werden können, die über Distanz hinweg operieren. Bisherige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass hier der Austausch von Simulakra oder die Kommunikation ohne Kopräsenz nicht ausreicht, um Bedürfnisse der körperlichen und sinnlichen Nähe von face-to-face Beziehungen zu
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Um soziale Veränderungen, die aus technischer Innovation angetrieben werden kann, zu verstehen, bedarf es laut Rammert eines komplexeren Analysezugangs; es handelt sich also um eine Forschungsfrage, die hier von Fall zu Fall zu klären ist.
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ŘȳDer Raum und seine steile Karriere im soziologisĖen Diskurs
befriedigenřŞ. Telefongespräche, Emails oder Online-Kommunikationsmöglichkeiten werden von MigrantInnen zwar teilweise sehr intensiv genutzt, allerdings werden sie von den untersuchten Personen als Hilfsmittel wahrgenommen, die die Interaktion unter Bedingungen der Kopräsenz nicht ersetzen können (Nowicka 2ŪŪŰb; Weingärtner 2ŪŪ8).
2.ř.4
Begriffsklärung für eine raumsensible Migrationsforschung
Bereits in den soeben genannten entscheidenden Punkten, die sich meiner Ansicht nach aus der Diskussion der Raumdimension in Hinblick auf Migrationsforschung ergeben, schimmert die Vieldeutigkeit und Unklarheit durch, was denn nun unter dem Raum soziologisch zu verstehen ist. Dazu ist festzuhalten, dass es – wie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit kurz angerissen – in den unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen eine lange historische Debatte zu ebendieser Frage gibt: Wie sollen wir uns Raum theoretisch vorstellen, was bedeutet Raum in einem sozialwissenschaftlichen Kontext – und wie lässt er sich in unsere Analysen mit einbeziehenȺ? Für mein Anliegen, über eine Reflexion der unterschiedlichen Raumdimensionen neue Impulse für die Migrationsforschung zu gewinnen, sind dabei einige spezifische Überlegungen zur Frage, was unter Raum zu verstehen ist, besonders hilfreich. Diese werden im Folgenden nochmals zusammengefasst: Wie Gabriele Sturm (Sturm 2ŪŪŪ) betont hat, macht es wenig Sinn, sich in die Schlacht zu werfen, um das eine richtige theoretische Raumkonzept zu verteidigen. Es wäre eine wissenssoziologische Untersuchung wert nachzuvollziehen, wie die jeweils präferierten Raumtheorien historisch betrachtet mit den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und dem jeweiligen Forschungsstand (auch in anderen Disziplinen) zusammenhängen. Ein treffendes Beispiel dafür ist die Verbreitung der Theorien Albert Einsteins in der sozialwissenschaftlichen Forschung; ein weiteres, rezenteres, die Aufnahme chaostheoretischer Überlegungen in soziologischen Entwürfen von Theorien der Gegenwartsgesellschaft (vgl. dazu kritisch Berking 2ŪŪŰa; Urry 2ŪŪ3). Dies bedeutet, dass nicht davon auszugehen ist, es gäbe ein einziges, korrektes theoretisches Raumverständnis, dem wir uns über die Jahre hinweg mit „zunehmendem Wissen“ zwangsläufig annähern würden. Es ist daher auch nicht sinnvoll, ein einziges methodologisches Modell für eine raumsensible MigrařŞȲ Hiervon ist die Möglichkeit zu unterscheiden, dass face-to-face Interaktionen etwa durch internetbasierte Kommunikation unterstützt bzw. ergänzt werden kann.
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tionsforschung vorzuschlagen, da je nach Erkenntnisinteresse und empirisch untersuchtem Realitätsausschnitt unterschiedliche Raumkonzepte sinnvollerweise eingesetzt werden, wie weiter unten in Kapitel 5 ausgeführt wird. Der essentialistische Raum Albert Einstein hat für dieses Verständnis des Raums den treffenden englischen Begriff des Containers verwendet (Einstein ūųŰŪ), um eine Raumvorstellung zu beschreiben, in der Räume unabhängig von ihrer Umgebung und ihrer „Befüllung“ existieren. Räume sind somit verwert- und benennbare stabile Einheiten, die an jedem Ort der Erde denselben physikalischen Gesetzen unterliegen. Sie können somit auch leer vorgestellt werden. Dieses absolutistische, behälterförmige Raumverständnis, das im Alltag weit verbreitet ist, vertrug sich auch in den empirischen Sozialwissenschaften gut mit der häufig nicht weiter reflektierten Vorstellung, dass Gesellschaften innerhalb von Nationalstaaten organisiert seien und sich daher auch auf eine bestimmte Art und Weise untersuchen lassen. Dabei wurde bereits vielfach ausgeführt, dass gerade in der Soziologie die Raumthematik lange Zeit kaum beachtet wurde (Urry ūųųŰ) – was mit der Ausrichtung der Klassiker der Soziologie an der Thematik des sozialen Fortschritts liegt. Zeit war daher die weitaus interessantere Dimension, mit der sich SoziologInnen über weite Strecken eingehend beschäftigten. Obwohl der Raum also nicht explizit soziologisch betrachtet wurde, gab es doch ein implizites Raumverständnis, das die empirische Forschung prägte. Ein solches essentialistisches Raumverständnis ist auch heute noch eine wichtige Grundlage für das Alltagshandeln sowie für die Herangehensweise vieler SozialwissenschaftlerInnen, wovon auch der Großteil der MigrationsforscherInnen nicht auszunehmen ist. Gleichzeitig ist eine Explosion an raumtheoretischen Arbeiten in der Soziologie und in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen in den letzten Jahren zu beobachten (vgl. hierzu die Ausführungen in der Einleitung). Andererseits wäre es sinnlos, zwanghaft containerhafte Raumvorstellungen aus dem migrationssoziologischen Analyserahmen auszuschließen: Die untersuchten Personen gehen oftmals von ebendiesen essentialistischen Vorstellungen aus – wenn sie etwa Differenzen zwischen unterschiedlichen sozialen Systemen an Orten festmachen und diese in ihrer Argumentation einander gegenüber stellen (Cyrus 2ŪŪ3)ř9. Eine Herausforderung, vor der eine raumsensible Migrationsforschung damit steht, liegt darin, Raumkonzepte, auf deren Grundlage die Untersuchten ř9Ȳ
Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel ś.1.1.
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agieren, zu rekonstruieren und auf ihre Bedingungen und Konsequenzen hin zu hinterfragen – jedoch ohne sie dabei als überkommene Raumvorstellungen abzuwerten. Das Kriterium für die Qualität einer raumsensiblen Migrationsforschung ist damit nicht, mit welchen Raumkonzepten die SozialwissenschaftlerInnen arbeiten, sondern ob sie in Hinblick auf ihre Forschungsfrage und auf das bearbeitete Forschungsfeld mit den adäquaten Raumkonzepten operieren. Um diese Frage zu beantworten, bedarf es der Rekonstruktion der im Forschungsfeld selbst handlungsleitenden und -strukturierenden Raumkonzepte. Dabei werden neben dem essentialistischen Raumansatz auch relationale Raumkonzepte eine Rolle spielen: Der relationale Raum Die herausragende Bedeutung an Georg Simmels raumsoziologischen Überlegungen liegt u.ȹa. darin, dass er bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt deutlich gemacht hat, dass Raum nicht an und für sich besteht, sondern erst durch die menschliche „Tätigkeit der Seele“ (Simmel ūųų2, (19ŪŲ), Ű8ų) zustande kommt, da wir nicht umhin können „an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden“ (ebd.). Soziale Beziehungen sind nach Georg Simmel nicht von physischer Nähe und Ferne abhängig, was er eindrücklich am Beispiel der Nachbarschaft verdeutlicht: Wir sind es gewohnt, unsere NachbarInnen teilweise häufiger als unsere besten FreundInnen zu sehen und dennoch steht kaum jemand mit seinen direkten NachbarInnen in einem bedeutungsvollen sozialen Austausch (zumindest, was die Situation in städtischen Gebieten anlangt). Enge soziale Beziehungen bestehen in modernen, entwickelten Gesellschaften gerade über geographische Distanzen hinweg, wobei jedoch der Interaktion unter Bedingungen der Anwesenheit eine besondere Bedeutung zukommt, da Georg Simmel den wechselseitigen Blick aufeinander als unersetzlich für den Vertrauensaufbau und -erhalt in derartigen sozialen Beziehungen ansieht. Pierre Bourdieu macht in seinen Arbeiten zu sozialem Raum klar, dass Personen oder Gruppen soziale Positionen nur in Relation zu anderen einnehmen können (Bourdieu ūųųū). Er führt den Begriff des Feldes ein, um auf die Kräfte hinzuweisen, die gesellschaftlich in diesen Positionierungen wirksam werden (Bourdieu ūųų8). Je nach Stellung in einem sozialen Feld sind die AkteurInnen mit Ressourcen ausgestattet, die sie (auch) zur Verteidigung dieser Positionen einsetzen können. Diese Kräfte sind es, die dazu führen, dass sich Statuspositionen eher verfestigen denn verändern. Dem menschlichen Körper kommt nicht nur in den Arbeiten von Pierre Bourdieu ein zentraler Stellenwert zu; auch bei phänomenologischen Den-
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kerInnen ist er der Ausgangspunkt des Raumverständnisses. So geht bei Alfred Schütz die sinnhafte Erfahrung der physischen Welt auf das Erleben der eigenen Körperlichkeit im Handlungsvollzug zurück (Schütz ūų8ū). Nur die leibliche Erfahrung der Bewegung ermöglicht es uns, eine Ausdehnung in Raum und Zeit als Grundvoraussetzung wahrzunehmen. Erst über diese Erfahrung können wir uns in der physischen Welt orientieren, weil wir uns in Relation zu Dingen und Menschen setzen. In einer phänomenologisch geprägten Sicht ist daher der Körper der Ausgangspunkt unterschiedlicher Raumebenen, was dazu führt, dass Theoriebildung immer wieder von der menschlichen Erfahrung des Körperlichen ausgeht. Dies ist in der Migrationsdebatte insbesondere an jenen Punkten wichtig, wo an Diskurse zur (angeblich zunehmenden) Emanzipation von Orten und einer Ablösung vom Räumlichen (vgl. etwa kritisch hierzu Berking 2ŪŪŰ) die Rede ist. Ein relationales Raumverständnis wird in den Arbeiten von Dieter Läpple (Läpple ūųųū) und im Anschluss an ihn auch von Gabriele Sturm (Sturm 2ŪŪŪ) und Martina Löw (Löw 2ŪŪū) forciert. In Anlehnung an Albert Einstein spricht Läpple von einem „relationalen Ordnungsraum“, weil er auch für die Gesellschaftswissenschaften davon ausgeht, dass Raum ohne körperliche Objekte nicht existiert und Raum erst durch die Relationen zwischen Objekten entsteht. Dieses relationale Raumverständnis findet sich auch bei Gabriele Sturm und Martina Löw wieder, wobei Letztere die mentalen Verknüpfungsleistungen hervorhebt, die für die Raumkonstitution notwendig sind. Martina Löw bezieht sich in ihrer Ausarbeitung einer Raumsoziologie auf Sturms Raummethodologie der Raum-Quadranten und betont die Wichtigkeit, in den Sozialwissenschaften von einem einzigen Raum auszugehen, da es nur zu Verwirrungen führe, einen physisch-materiellen Raum von sozialen Räumen zu trennen. Dieses Argument ist insofern einleuchtend, als es global kaum Flächen gibt, die nicht durch menschliche Eingriffe über- bzw. geformt sind (vgl. etwa Becker und Jahn 2ŪŪŰ). Ergebnisse aus der empirischen Migrationsforschung legen nahe, dass relationale Annahmen auch häufig die Grundlage für Bedeutungszuschreibungen und sozialen Handlungen sind. So sind etwa Kettenwanderung oder familiär bedingte Auswanderung durchaus als Phänomene zu betrachten, denen eine relationale Komponente zugrunde liegt. Dabei ist interessant, dass diese sozialen Beziehungen häufig als vorgegeben und unveränderbar wahrgenommen werden, aufgrund derer Wanderungsund Remigrationsentscheidungen getroffen werden: Die Diskussion ausgewählter empirischer Ergebnisse hat gezeigt, dass derartige relationale Räume durchaus ihren Niederschlag in Migrationsbiographien finden.
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Konstruktivistische Ansätze in der sozialwissenschaftlichen Raumtheorie Neben relationalen Ansätzen ist auch eine Gruppe von Raumauffassungen auszumachen, die von einem essentialistischen Raumverständnis abzugrenzen ist. In der raumsoziologischen Literatur wird typischerweise eine Trennung in absolutistische und relativistische Raumkonzepte vorgenommen (vgl. etwa Löw 2ŪŪū), wobei die Diskussion gezeigt hat, dass sich Raumkonzepte verändern, weitere hinzukommen können und andere an Bedeutung einbüßen können. Im Zusammenhang mit Migrationsphänomenen erscheint es mir wichtig, auf eine Form von Raumannahmen hinzuweisen, die ebenfalls relativistisch, doch nicht unbedingt relational sein muss: Dabei handelt es sich um die Annahme, dass Raum sozial konstruiert ist, und zwar unabhängig von dem Menschen vorgegebenen „Tatsachen“. Unter diesem SchlagwortŚ0 fasse ich somit all jene Ansätze zusammen, die weder von einem materialistischen Verständnis von Raum, noch vornehmlich von relationalen Überlegungen ausgehen. Hierzu zählen etwa Ansätze wie sie John Urry aus der Chaostheorie in die sozialwissenschaftliche Forschung importiert hat (Urry 2ŪŪ3) und diese an Beispielen aus der Migrations- und Mobilitätsforschung deutlich macht (vgl. hierzu auch Wallace 2ŪŪ3). Andererseits sind hier Ansätze wie jener von Andreas Pott (Pott 2ŪŪ2a) zu nennen, der seinen raumtheoretischen Ansatz in der Migrationsforschung ausschließlich auf kommunikativen Akten aufbaut. Allerdings ist einschränkend zu sagen, dass derartige konstruktivistische Ansätze momentan eindeutig in der Minderheit sind – sowohl in Bezug auf die sozialwissenschaftliche Theoriebildung als auch auf die empirische Evidenz, die sich in der Migrationsforschung findet. Dennoch erscheint es mir wichtig, eine zumindest gedankliche Trennlinie zu machen, um aufzuzeigen, dass es mit essentialistischen und relationalen Vorstellungen alleine nicht getan ist, wenn es darum geht, sozialwissenschaftlich relevante Raumkonzepte aufzuzeigen. Meiner Ansicht nach könnte es in Zukunft durchaus sein, dass derartige konstruktivistische Annahmen bezüglich Raum im Alltagsleben von MigrantInnen an Bedeutung gewinnen – und daher auch in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung weiter berücksichtigt werden. Allerdings hat sich bei der vorhergehenden Analyse gezeigt, dass MigrantInnen und hochmobile Personen, deren Argumentationen auf konstruktivistischen RaumvorstellunŚ0Ȳ Der Begriff konstruktivistisch mag in diesem Zusammenhang durchaus kritisch diskutiert werden – ihm kommt hier der Stellenwert einer Arbeitshypothese zu, um die Differenzierung aufzuzeigen, die hier diskutiert wird. Gerechtfertigt scheint mir der Ausdruck insofern, als relationale Ansätze im Alltagsverständnis häufig „natürliche Beziehungen“ unterstellen – etwa im Fall von MigrantInnennetzwerken, die auf familiären Verbindungen aufruhen oder ethnic communities.
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gen basieren, hoch gebildet und meist auch in entsprechenden beruflichen Positionen tätig sind. Gerade in diesem Bereich dürften sich auch Personen finden, die politische Anliegen vertreten, und diese auf Basis derartiger konstruktivistischer Raumüberlegungen argumentieren. Diese Vermutungen haben den Stellenwert erster Hypothesen, die jedenfalls noch künftiger Forschungsanstrengungen bedürfen.
3
Die Raumthematik in der Migrationsforschung
In diesem Abschnitt wird nun der Umgang mit der Raumthematik in der Migrationsforschung – mit Schwerpunkt auf der soziologischen Beschäftigung mit dem Thema – betrachtet. Ausgehend von einem historischen Überblick gehe ich im Anschluss dazu über, den momentanen Umgang mit Raumvorstellungen in der Migrationssoziologie zu beleuchten. Dabei zeigt sich eine Kontinuität zwischen den historischen Anfängen der Migrationsforschung und den heute zu beobachtenden Hauptrichtungen – der Integrations-, Assimilations- und Segregationsforschung. Im Anschluss daran beleuchte ich Forschungsstränge innerhalb der Migrationsforschung, die sich (mehr oder weniger explizit) mit raumtheoretischen Annahmen auseinander setzen. Hier ist insbesondere die Transmigrationsforschung zu nennen, auf die ich am Ende des vorliegenden Kapitels genauer eingehe.
3.1
Raumbezogene Aspekte in der Geschichte der Migrationsforschung
Mit einem historischen Rückblick auf die Entwicklung der Migrationsforschung bezogen auf Raumannahmen der ForscherInnen ließe sich gut und gerne ein mehrbändiges Werk füllen. An dieser Stelle geht es mir jedoch weniger um eine historische Analyse (die noch en détail und in dieser Ausführlichkeit ausständig ist), als um die Herstellung einer tragfähigen Basis, auf der anschließend der momentane Umgang mit Raumdimensionen in der Migrationsforschung betrachtet werden kann. Um dies zu leisten, kann auf bereits existierende Vorarbeiten zurückgegriffen werden, wobei an dieser Stelle insbesondere der inzwischen vielfach zitierte und diskutierte Artikel zum methodologischen Nationalismus von Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller (Wimmer und Glick Schiller, 2ŪŪ2) eine wichtige Vorarbeit darstellt, auf die sich die folgenden Ausführungen stützen. Die beiden AutorInnen kritisieren darin eine spezifische Ausprägung von Raumdeterminismus (ohne dies als solchen zu benennen – raumtheoretische Überlegungen werden von
E. Scheibelhofer, Raumsensible Migrationsforschung, DOI 10.1007/978-3-531-94007-6_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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den AutorInnen nicht angestellt) und zeigen, wie dieser historisch in den Sozialwissenschaften gewachsen ist – nämlich über die A-priori-Setzung des Nationalstaats, den sie unter dem inzwischen einschlägig bekannten Begriff des „methodologischen Nationalismus“ diskutieren. Der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist dabei, dass die Sozialwissenschaften aus historischen Gründen den Nationalstaat als die natürlich gegebene Form von Gesellschaft voraussetzen und implizit annehmen. Durch diese Verfälschung und Einschränkung einer sozialwissenschaftlichen Perspektive können etliche empirisch bedeutsame Phänomene nicht als forschungsrelevant wahrgenommen werden, weil die methodologischen Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind. Ihre Analyse beruht dabei auf einer historischen Rückschau des Migrationsgeschehens (vor allem der USA und einiger europäischer Länder) und der jeweiligen Interpretation der zeitgenössischen Forschung. Dabei unterscheiden Wimmer und Glick Schiller (Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2) vier Perioden: ū8űŪ bis zum Ersten Weltkrieg, die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, jene zwischen dem Zweiten Weltkrieg und ūų8ų sowie ūųųŪ bis dato (vgl. für die folgenden Absätze Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2, 3ū2ȹff.). Die erste Periode (ū8űŪȺ–Ⱥūųū8) ist dabei durch eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften gekennzeichnet, die durch ökonomische Krisen unterbrochen wurde. Außerdem handelt es sich um eine Zeit der Stärkung der Nationalstaaten: Nationale Märkte konnten zu diesem Zeitpunkt mit Hilfe von Bahnverbindungen besser aufgebaut werden, da landwirtschaftliche und andere Produkte einfacher über weite Strecken transportiert und gehandelt werden konnten. Auf der rechtlichen Ebene wurden die letzten Reste feudaler Einschränkungen ökonomischen Handelns beseitigt und die EinwohnerInnen vor dem Gesetz einander zunehmend gleichgestellt. Nationale Bildungssysteme und Gesundheitswesen sowie Bürgerpflichten und -rechte führten insgesamt betrachtet dazu, dass sich zunehmend soziale Gebilde festigten, die als Nationen bezeichnet werden können. Diese Entwicklungen sowohl auf ökonomischer, sozialer als auch auf politischer Ebene führten zu einer Stärkung der Nationalstaaten selbst und gleichzeitig auch zu intensiver Globalisierung im Sinne einer Zunahme der Austauschbeziehungen zwischen Nationalstaaten. Arbeitsmigration führte viele Menschen etwa über weite Strecken von einem Kontinent zum anderen – und ganz im Gegensatz zur heutigen Situation wurden diese Wanderungen kaum von rechtlichen Einwanderungsbestimmungen berührt, nicht einmal Reisepässe existierten zu diesem Zeitpunkt. Die MigrantInnen bewegten sich somit je nach ökonomischer Lage zwischen ihrem Herkunftsland und jenen Regionen, in denen Arbeitskräfte gesucht wurden.
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Verringerte sich die Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft, kehrten sie meist in ihr Herkunftsland zurück (vgl. ebd., 3ū3). Es verwundert daher nicht, dass Ernst Georg Ravenstein (ū885, ū88ų) in seiner historisch gesehen erstmaligen systematischen Wanderungsanalyse nicht zwischen nationaler und internationaler Wanderung unterschieden hatŚ1. Seine Gesetze der Wanderung behandeln alle Formen der Mobilität ohne Unterscheidung nach Ausgangs- oder Zielort. Die erklärende Variable ist bei Ravenstein die Verteilung ökonomischer Möglichkeiten im physikalischen Raum. Die MigrantInnen richten ihre Mobilität entsprechend ihrer Arbeitsmarktchancen aus – und wandern daher aus ländlichen Gebieten in die Städte und von ärmeren Regionen in reichere. Ravenstein unterscheidet sich damit eindeutig von anderen sozialwissenschaftlichen Vordenkern dieser Periode, die laut Wimmer und Glick Schiller an der Formierung und Festigung der Idee des Nationalstaats durch ihre Arbeiten mitgewirkt haben. Die Sozialwissenschaften entstanden zeitgleich mit dieser intensiven Phase der Formierung der Nationalstaaten und konnten sich demnach dem bestehenden Zeitgeist kaum entziehen. In diese Zeit fällt die Nationenwerdung in vielen Regionen der westlichen Hemisphäre; die Bevölkerung eines bestimmten geographischen Ausschnitts wurde somit als eine Nation wahrgenommen, die sich durch eine gemeinsame Geschichte und Vorfahren auszeichnete (vgl. ebd., 3ū4). Die zeitgenössischen Sozialwissenschaften konnten sich aus diesem Diskurs (noch) nicht freimachen, um etwa die Bildung der Nationalstaaten kritisch zu hinterfragen. Stattdessen wurden sie selbst von der politischen und intellektuellen Rekonzeptualisierung des Nationalstaats (und damit auch der MigrantInnen) mit geformt – und prägten diese Begriffe in der Folge auch selbst mit. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei dem bestimmenden Thema der damaligen gesellschaftswissenschaftlichen Arbeiten zu – dem gesellschaftlichen Fortschritt. Für Emile Durkheim und Max Weber ging es etwa darum, die sozialen Prozesse am Weg von traditionellen hin zu modernen Gesellschaften zu beschreiben. Somit wurden Themen wie das Zusammenspiel zwischen Nationalstaaten und ihren Kolonien oder der autochthonen und der (transnational) wandernden Bevölkerung systematisch ausgeblendet, was zu einem homogenisierenden Bild von nationalen Gesellschaften beitrug. Ś1Ȳ Eine derartige Zusammenschau nationaler und internationaler Wanderung wird in der aktuellen Diskussion immer wieder eingefordert, da aktuelle Forschungsergebnisse die Vermutung nahe legen, dass internationale Wanderungen im Lebensverlauf häufig auf nationale folgen (vgl. etwa Castles Ř000).
9Ş
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
Diese Wahrnehmung einer Nation und ihrer Bevölkerung hatte auch nachhaltige Auswirkungen auf die Konzeption von MigrantInnen in sozialwissenschaftlicher Theoriebildung: Die nationale Bevölkerung konnte laut Wimmer und Glick Schiller aufgrund der Differenz von anderen Personen unterschieden werden, die jeweils anderen Rassen und/oder Nationalitäten zugeordnet wurden und im Wettkampf der Nationen oftmals als „untergeordnet“ beschrieben und somit beurteilt wurden (vgl. ebd., 3ū4) sowie die soeben angebrachte Kritik an dieser vereinfachenden Darstellung. An dieser Stelle ist die Kritik der beiden zitierten AutorInnen jedoch kritisch zu hinterfragen. Wie etwa Daniel Chernilo (vgl. Chernilo 2ŪŪŰ) ausgeführt hat, ist das Argument, die klassische soziologische Theoriebildung hätte zum methodologischen Nationalismus entscheidend beigetragen, zumindest differenzierter zu betrachten. Er zeigt, dass die soziologische Theoriebildung den Nationalstaat keineswegs als ‚natürliches‘ Endprodukt gesellschaftlicher Entwicklung darstellte, sondern dass Fragen zur ambivalenten Geschichte des Nationalstaates und seinen Hauptmerkmalen im Mittelpunkt der Bemühungen standen. Zu Max Weber hält der Autor etwa fest Max Weber (…) was clearly aware of the fact that nations and states hardly ever coincide in historic reality and also that they co-existed with alternative forms of modern socio-political organization (Chernilo 2ŪŪŰ, ūŰ).
Für Emile Durkheim wiederum arbeitet Chernilo heraus, dass dieser den Nationalstaat in seiner sozialen und politischen Form nur soweit legitimiert sah, als seine moralische Grundlage interner Solidarität auf einer Art Weltpatriotismus beruht. Hier zeigt sich, dass der theoretische methodologische Nationalismus, wie ihn Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller bei den Klassikern des Faches anprangern, in dieser Form nicht aufrecht zu erhalten ist. Die zweite Phase der Entwicklung des methodologischen Nationalismus in den Sozialwissenschaften von ūųūų bis ūų45, die von Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller identifiziert wird, zeichnet sich durch das Ende der bisherigen weitgehenden Reisefreiheit aus. Nationale Ökonomien hatten unter Wirtschaftskrisen, dem Zweiten Weltkrieg und dem darauf folgenden Wiederaufbau gelitten. Hinzu kamen ethnische Säuberungen nach dem Ersten Weltkrieg, sodass nationale Zugehörigkeiten zu Überlebensfragen werden konnten. Auch die MigrantInnen selbst mussten sich zunehmend auf soziale Beziehungen in nationalen Territorien beschränken, da durch die kriegerischen Auseinandersetzungen viele transnationale familiäre und andere Beziehungen unterbrochen worden waren. So war es in dieser Periode häufig
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ungleich schwieriger, grenzüberschreitende Brief-, Geld- und Warensendungen zu tätigen, was die Lebensumstände von MigrantInnen und ihren Familien erschwerte und nachhaltig veränderte. Auch die Wirtschaftskrise machte es schwierig, Waren oder Geld abzuzweigen, um sie wie früher an Familienmitglieder zu schicken. Nur das transnationale Politikverständnis überlebte, in dem ein „Nationalismus auf Distanz“ (Glick Schiller und Fouron 2ŪŪū) gelebt werden konnte. In dieser Periode entwickelte sich auch weitgehend der von Wimmer und Glick Schiller (2ŪŪ2) beschriebene methodologische Nationalismus, an dessen Entstehung die Sozialwissenschaften einen beträchtlichen Anteil hatten. An dieser Stelle ist insbesondere die tragende Rolle der Chicago School of Sociology hervorzuheben, da unter Robert Park, William Thomas, Florian Znaniecki und anderen erstmals ein systematischer Zugang zu Migrationsforschung auf einer breiten empirischen Basis vorgelegt wurde: Bei einem Blick in die migrationssoziologisch relevante Literatur fällt auf, dass Raum als soziales Konstrukt kaum thematisiert wird. Ausnahmen bilden dabei einerseits die bereits oben besprochenen Arbeiten Georg Simmels, allen voran sein Exkurs zum „Fremden“ŚŘ. Georg Simmel übte auch einen prägenden intellektuellen Einfluss auf seinen Studenten Robert Ezra Park aus (vgl. zur Rolle Parks für Raumbezüge in der Soziologie Löw et al. 2ŪŪű, 3ūȹf.). Zusammen mit William Isaac Thomas machte es sich Park zur Aufgabe, anhand empirischer Arbeiten vor allem in Chicago das soziale Phänomen sozialer Ungleichheit theoretisch zu erklären. Ihr Vorgehen beruht dabei auf einer intensiven Arbeit mit sowohl quantitativen als auch qualitativen Daten. Dabei kam biographischen Daten ein besonderer Stellenwert zu, da sie mithilfe einschlägiger Dokumente versuchten, die Verknüpfung von sozialer Ungleichheit und dem Wechsel des Wohnortes aus einem ländlichen Gebiet in die Stadt herzustellen. Eine wichtige Grundlage für die späteren community studies stellten dabei die umfassenden Untersuchungen zur Lage polnischer EinwandererInnen in die USA dar, die William Thomas zusammen mit Florian Znaniecki (Thomas und Znaniecki ūų58) zwischen ūųū8 und ūų2Ū verfasst haben. Diese Arbeiten haben aufgrund unterschiedlichster Daten (vor allem persönlicher Briefe zwischen Ausgewanderten und in Polen Verbliebenen und Gemeindedaten) dazu beigetragen, dass ein differenziertes Verständnis für die vielschichtigen Lebenslagen der untersuchten MigrantInnen erarbeitet werden konnte. Bahnbrechend war die Studie insofern, als konsequent die Perspektive der Untersuchten nachgezeichnet wurde, um die strukturellen Umstände ihres Migrationsprozesses nachzuzeichnen. ŚŘȲ
Siehe hierzu die Ausführungen zu Simmel in Kapitel Ř.Ř.1.Ř.
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Die von Robert Park weiterentwickelten Gemeindestudien begründeten gemeinsam mit Ernest Burgess und Roderick McKenzie auch sozialökologische Stadtforschung. In diesem Rahmen wird der Gedanke entwickelt, dass Überlegungen aus der Tier- und Pflanzenökologie auf menschliche Gesellschaften übertragbar seien. Burgess (Burgess ūųŰ8, (19Ŭů), 53) führt dabei etwa aus, dass das Wachstum von Städten mit dem Metabolismus des Körpers zu vergleichen sei. Bezogen auf die Stadt bedeutet dies, dass Menschen in das Leben der Stadt „inkorporiert“ werden – eine Ausdrucksweise, die sich noch heute immer wieder in der Migrationsforschung findet, obwohl die Gleichsetzung der Funktionsweisen zwischen Metabolismus und der Stadt heute kaum mehr als Hintergrundfolie für sozialwissenschaftliche Analysen herangezogen würde. In dieser humanökologischen Logik erlangen Menschen eine „Kultur“ qua Geburt (vgl. Burgess ebd.) in ein bestimmtes soziales Umfeld hinein. Ein Wechsel dieses Umfelds bringt Desorganisation und in der Folge Reorganisation und damit Anpassung an die nunmehr vorgefundene kulturelle Umgebung mit sich. Menschen passen sich demnach in je spezifischer Art und Weise an ihre Umwelt an, was zu den Unterschieden der Quartiere und Stadtviertel beiträgt. Basierend auf Ethnizität und sozialer Zugehörigkeit bauen sich demnach homogene Gemeinschaften auf. Wichtig ist Park in diesem sozialökologischen Zusammenhang, dass Raum primär keine geographische Verteilung ist, sondern eine soziale: Die Humanökologie, wie sie die Soziologen verstehen, betont nicht so sehr die geographische Struktur, sondern den Raum. In der Gesellschaft lebt man nicht nur zusammen, sondern lebt gleichzeitig getrennt, und menschliche Beziehungen können immer (…) auch durch den Begriff der Distanz bestimmt werden. (Park ūųű4, (19Ŭů), ųŪ)Śř
In diesem Zitat wird der Einfluss von Georg Simmels Arbeiten deutlich. Bezogen auf die Analyse von städtischen Strukturen entfernt sich Park von der Denkschule seines ehemaligen Lehrers, wenn er etwa Gemeinden über Größe und Dichte bzw. über Gleichheit und Verschiedenheit beschreibt. Wie in der Pflanzenwelt auch müssten sich Neuankömmlinge in einer sozialökologischen Perspektive an die für sie neue Umgebung anpassen. Das Gemeindeleben ist nach Park daher wie eine Art „Stoffwechsel“ zu verstehen:
ŚřȲ Zitiert nach: Robert Park 197Ś (ŗş25), The Urban Community as a Spatial Pattern and a Moral Order, in: Publications of the American Sociological Association, vol. Ř0.
ř.1ȳRaumbezogene Aspekte in der GesĖiĖte der MigrationsforsĖung 101 Es assimiliert ständig neue Individuen und scheidet ebenso beständig durch den Tod oder andere Ursachen Ältere aus. Aber die Assimilation ist kein einfacher Vorgang, sie benötigt vor allem Zeit. (Park ūųű4, (19Ŭů), ų3)ŚŚ
Bereits hier ist die in der Migrationsforschung lange Zeit präsente Annahme zu finden, dass Assimilation – wenn auch kompliziert – über kurz oder lang auf jeden Fall eintritt – ein Punkt, auf den noch später hier einzugehen sein wirdŚś. Aus heutiger Sicht zumindest negativ überraschend wirken schließlich die weiteren Passagen, in denen sich Park Gedanken zu Ursachen und Auswirkungen von Segregation ehemaliger MigrantInnen macht: Bevölkerungssegregationen (…) entstehen zuerst auf einer sprachlichen und kulturellen Basis und dann aufgrund von Rassen. Innerhalb dieser Immigrantenkolonien und rassischen Ghettos finden unweigerlich weitere Vorgänge der Auswahl statt, welche in diesem Falle auf beruflichen Interessen, Intelligenzgraden und persönlichem Ehrgeiz basieren. Daraus ergibt sich, dass die Stärkeren, Energiereicheren und Ehrgeizigeren sehr bald ihre Ghettos und Immigrantensiedlungen verlassen, um dann in eine zweite Immigrantensiedlung zu ziehen oder vielleicht auch in eine kosmopolitische Gegend, in der Mitglieder verschiedener Immigrantengruppen zusammentreffen und nebeneinander leben. (Park ūųű4, (19Ŭů), ų4)Ś6
Diese naive bis rassistische Zuschreibung von diskriminierenden Attributen verwundert in einem sozialwissenschaftlichen Diskurs – vor allem, wenn parallel Texte von Georg Simmel wie etwa „Der Fremde“ (Simmel ūųų2, (19ŪŲ)) an die Seite derartiger Passagen gestellt werden. Dass kaum gesellschaftliche Ursachen wie Diskriminierung und Rassismus angesprochen werden, verwundert doch und macht es (erfreulicherweise) schwierig, durchgängige Argumentationsstränge zu heutiger Migrationsforschung zu legen. Der historische Hintergrund dieser Migrations- und Gemeindestudien von Park und seinen Kollegen ist dabei bemerkenswert: Die Frage der Veränderungen in der Stadt durch Immigration war für das Forschungsterrain Chicago kaum zu übersehen: Von ū85Ū bis ūų3Ū wuchs die Stadtbevölkerung von 3ŪȹŪŪŪ EinwohnerInnen auf etwa 3ȹ33űȹŪŪŪ an – und verhundertfachte sich somit in nur 8Ū Jahren (Treibel ūųųų, 85). Mit dieser rasanten Zunahme der Bevölkerung, die aus unterschiedlichen Herkunftsländern nach Chicago kamen, stellte sich ŚŚȲ
Siehe vorhergehende Fußnote. Vgl. Kapitel ř.Ř im vorliegenden Buch. Ś6Ȳ Zur Zitierung siehe oben. ŚśȲ
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aus einer humanökologischen Perspektive die Frage der Veränderung der Siedlungsanordnungen. Ernest Burgess veranschaulichte in seiner berühmten Arbeit die Siedlungsgebiete der Zugewanderten und der bereits Ansässigen in folgender Weise: Graphik 4
Modell von Burgess (ūų25, 55) zu den Stadtgebieten Chicagos
Quelle: Treibel ūųųų, 8Ű.
Das Modell von Burgess (Burgess ūųŰ8, (19Ŭů), 55) beruht auf der Idee, dass sich die Wohnorte in konzentrischen Kreisen rund um das Stadtzentrum Chicagos anordnen lassen, was die Expansion der Stadt beschreibt: Direkt nach dem „Loop“ der innerstädtischen Geschäftsviertel ordnen sich die Slums und deklassierten Wohngebiete der sozial Unterprivilegierten und einiger Immigrantengruppen an: Hier hatten sich die ersten Einwanderergenerationen niedergelassen, die aus Sizilien, Griechenland, China und Deutschland gekommen waren. An diese Übergangszone schließt nach Burgess die Zone der Arbeitersiedlungen an. Hier wohnten vorzugsweise Facharbeiter aus Deutsch-
ř.1ȳRaumbezogene Aspekte in der GesĖiĖte der MigrationsforsĖung 10ř land, die aufstiegsorientiert waren und die die Ghettos und Slums nun bereits hinter sich lassen konnten, wobei generell ein Umzug in ein besseres Viertel meist erst der Zweiten Generation gelang. Von hier ausgehend zieht sich der „black belt“ (der als frei und ungeordnet beschrieben wird) bis in das „bright light area“ (vgl. Burgess ebd., 5Ű). Der vierte Kreis umfasst Eigenheime und Wohnungen der arrivierten Bevölkerungsgruppen, die noch umgeben werden von der fünften Zone, in der sich Einfamilienhäuser („bungalows“) befinden. Diese beiden letzten Stadtareale sind es, in die es die künftigen Immigrantengenerationen laut Burgess letztendlich hinzieht. Mit der Untersuchung der Wohnviertel lässt sich für die Vertreter der Chicago School auch das Ausmaß der Assimilation untersuchen, da die Wohngebiete den sozialen Status der dort lebenden ethnischen Gruppen widerspiegeln. Am Ende des langen – jedoch nach Mei nung der SozialforscherInnen unaufhaltsamen – Anpassungsprozesses über die Immigrantengenerationen hinweg würden sich demnach die unterschiedlichen Gruppen zwangsläufig auf alle Stadtviertel verteilen, sodass keine ethnisch segregierten Viertel – und keine soziale Segregation – mehr erkennbar wären. Dieses Endstadium wird auch in Parks „race-relations-cycle“ (Park ūųŰ4, (19ůŪ), ū5Ū) klar, in dem ein anfänglicher Kontakt zu Wettbewerb bzw. Konflikt und schließlich zu Akkomodation der Zugewanderten führt. In Folgegenerationen kommt es zur Assimilation, die die vollkommene Angleichung des kulturellen Erlebens mit einschließt. Wie Annette Treibel (Treibel 2ŪŪ3) anmerkt, wird Parks Konzept in der sozialwissenschaftlichen Diskussion heute eher als programmatisches denn als wissenschaftliches Konzept eingeschätzt, da er soziologische Begriffsbildung und anthropologische Aussagen mit politischen Forderungen in seiner Arbeit vermischte. Der Assimilationsbegriff, wie ihn Park somit prägte, wird bereits seit Langem kritisiert. Hartmut Esser (Esser ūų8Ū) betont dabei, dass der Prozess der Angleichung keineswegs immer in der unterschiedslosen Auflösung zunächst ethnisch und sozial differenter Gruppen enden muss. Er bringt somit auch weniger positive Verläufe in die Diskussion ein, wenn er mit prägnanten Worten schreibt: Auch längerfristig gesehen können die Vorgänge nämlich durchaus auch in ein Kasten-System, in dauernden Konflikt oder auch in dauerhafte Unterordnung einer Gruppe münden. Kurz: Assimilation ist alles andere als ‚unvermeidlich‘ (Esser ūų8Ū, 48).
Die Sichtweise von Park, Burgess und ihren Kollegen im Hinblick auf (implizite) raumtheoretische Annahmen in ihren Arbeiten lässt sich wie folgt
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
zusammenfassen. Die Forschungen der Chicago School haben insgesamt betrachtet viele als national konnotierte Werte transportiert. So wurde etwa angenommen, dass territorial basierte Nationalstaaten jeweils ihre eigene, stabile Wohnbevölkerung hätten (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2, 3ūŰ). Hier wurde der Nationalstaat somit als ein sozialer und territorialer Container angesehen, in den eine Person hineingeboren wird. Durch diesen „natürlichen Vorgang“ wird das Individuum mit einer bestimmten – nationalen oder ethnischen – „Kultur“ ausgestattet. Eine stabile nationale, lokal verankerte Bevölkerung wird zugewanderten Gruppen gegenübergestellt, die je nach Herkunftsland mit divergierenden Charakteristika versehen werden. ImmigrantInnen sehen sich daher durchgängig mit der schwierigen Situation konfrontiert, ihre „Wurzeln“ verloren zu haben und sich in einem langwierigen Prozess in der Aufnahmegesellschaft zurechtfinden zu müssen. Die Chicago School trug mit diesen Auffassungen wesentlich dazu bei, dass sich in der Migrationsforschung ein Containermodell durchsetzen konnte, in dem die geographische Herkunft mit einer nationalen, ethnischen bzw. rassischen Kategorisierung einhergeht. Obwohl viele Schlussfolgerungen aus den Arbeiten der Chicago School heute kaum mehr Beachtung finden, werden einige Konzepte nach wie vor in der Migrationsforschung verwendet. Dies trifft etwa auf Studien zu, die sich mit der Verteilung von MigrantInnen in städtischen Vierteln beschäftigen. Begriffe wie die „Segregation als die Konzentration bestimmter Gruppen in spezifischen Stadtvierteln oder die Sukzession für die Beschreibung des Nutzungswandels bestimmter Viertel“ (Krämer-Badoni ūųųū, 2Ū, zit. nach Löw et al. 2ŪŪű, 3Ű) haben so ihre Ursprünge in dieser für die Soziologie bedeutenden Forschungstradition. Allerdings gehen die Sozialökologen der Chicago School mit Räumen in der empirischen Forschung wie mit materiell zu befüllenden Containern um, die natürlich gegeben sind (vgl. auch Berking und Löw 2ŪŪ5). Andreas Pott übt daher an der Chicago School die Kritik, sie „verräumliche“ (Pott 2ŪŪ2a, ųŰ) soziale Probleme: Aufbauend auf ihren Arbeiten habe sich ein Koloniekonzept in der Migrationsforschung etabliert, das eine „Engführung von Stadtviertel (Wohnraum, Vereinsgebäuden etc.) und ethnischer Gemeinschaft („Kultur“ der Migranten, Ethnizität etc.)“ (ebd.) forciere. Er kritisiert zu Recht die unhinterfragte, konzeptionell angelegte „Verbindung von räumlich-materiellen Objekten mit sozialer Bedeutung“, was die sozialwissenschaftlich spannende Frage nach der Verknüpfungsleistung etwa zwischen ethnischer Gruppe und einem spezifischen Stadtteil nicht aufkommen lässt. Bevor jedoch weiter in die Details heutiger Migrationsforschung eingegangen wird, soll zunächst der Intention
ř.1ȳRaumbezogene Aspekte in der GesĖiĖte der MigrationsforsĖung 10ś dieses Abschnitts folgend die weitere historische Entwicklung der Raumthematik in der Migrationsforschung nachgezeichnet werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte es der Kalte Krieg mit sich, dass eine kritische Sicht auf die Wirkungen nationalstaatlichen Denkens kaum mehr möglich war – sowohl politisch als auch migrationssoziologisch. Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller formulieren dies folgendermaßen: During the period after the Second World War known as the cold war the blind spot became blindness, an almost complete erasure of the historical memories of transnational and global processes within which nation-states were formed and the role of migration within that formation. Modernization theory made it look as if Western Europe and the USA had developed national identities and modern states within their own territorial confines (Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2, 3ūűȹf.).
Die AutorInnen weisen darauf hin, dass gerade in dieser Ära die Sozialwissenschaften sozusagen reif wurden. Das gesellschaftliche Umfeld prägte sie mit – und vice versa. Dabei ist für Europa hervorzuheben, dass auch in Konkurrenz mit der Sowjetunion sozialdemokratische Ideologien entwickelt wurden und eine Form des sozialen Wohlfahrtsstaats, die allesamt nicht nur auf der Idee nationaler Einheiten aufbauten, sondern die Vorstellung von Solidargemeinschaften forcierten. Die Mitgliedschaft in derartigen Solidargemeinschaften wird seither als Privileg angesehen, wobei die Staatsgrenzen vorgeben, wem dieses Privileg zuteil wird. Der Kalte Krieg wirkte sich auch beträchtlich auf die diversen Migrationsregime aus: MigrantInnen wurden nun generell vermehrt als Sicherheitsrisiko gesehen, was zu verstärkten Grenzkontrollen und peniblen Untersuchungen der Einwanderungsmotive führte. Während Großbritannien, Frankreich und die Niederlande Arbeitskräfte aus ihren (ehemaligen) Kolonien anzuziehen versuchten, wurden von Westdeutschland und zeitverzögert auch von Österreich bekanntlich sog. „GastarbeiterInnen“ angeworben. Wie Wimmer und Glick Schiller ausführen (ebd., 3ū8), wandten die USA beide genannten Strategien an, um dem Arbeitskräftemangel der zu diesem Zeitpunkt boomenden Wirtschaft zu beheben. So wurde einerseits die puertoricanische koloniale Bevölkerung angeworben und andererseits das Bracero-Programm forciert, um mexikanische Arbeitskräfte vor allem in die US-amerikanische landwirtschaftliche Industrie zu bringen. Diese unterschiedlichen historischen Wurzeln der neueren Migrationsgeschichte trugen auch zu einem divergierenden theoretischen Verständnis von Migration in den Sozialwissenschaften bei. So stand in den USA die Frage der Assimilation im Vordergrund, wobei ein Verständnis vorherrschte, wonach
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
die eingewanderten Bevölkerungsgruppen in ihrem Herkunftsland verankert wären und erst nach und nach in den USA assimilierten. Die sozialwissenschaftliche Forschung konzentrierte sich daher auf die Frage nach den Graden und Raten der Assimilation der unterschiedlichen nationalen Populationen. In Westdeutschland hingegen wurden GastarbeiterInnen angeworben, während Anstrengungen unternommen wurden, eine nationale Kultur aufzubauen, die sich von der Ideologie des Nationalsozialismus distanzierte. Die Bevölkerung Deutschlands wurde so nach wie vor als eine Nation verstanden, die auf einer gemeinsamen Kultur und Vergangenheit aufbaute. Die Sozialwissenschaften akzeptierten diese Sicht einer homogenen Bevölkerung und unterließen es, auf die unterschiedlichen Migrantenströme hinzuweisen, die Deutschland bereits vor dem Ersten Weltkrieg absorbiert hatte (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2, 3ūų). Auch das Verständnis von ArbeitsmigrantInnen, die sich als „Gäste“ kurzfristig im Land aufhalten und anschließend für immer in ihr Herkunftsland zurückreisen sollten, wurde von den Sozialwissenschaften unhinterfragt akzeptiert – was dazu führte, dass „die Gastarbeiter“ zunächst einmal kein Thema für die deutschsprachige sozialwissenschaftliche Forschung waren. Erst als deutlich wurde, dass die empirisch beobachtbare Entwicklung anders verlief als zunächst ersonnen – und wie hinlänglich bekannt viele der ArbeitsmigrantInnen sowohl in Deutschland als auch in Österreich verblieben – widmeten sich auch SozialwissenschaftlerInnen dieser Thematik. In welcher Weise sie dies taten, unterscheidet sich interessanterweise grundlegend von der konzeptionellen Herangehensweise ihrer US-amerikanischen KollegInnen: Die Differenz zwischen autochthoner und zugewanderter Bevölkerung wurde weiterhin nicht infrage gestellt – weshalb Fragen nach Fortschritten der Assimilation wie in den USA in diesem Kontext nicht gestellt wurden. Vielmehr versuchte die deutsche Forschung herauszufinden, wo in der Klassenstruktur EinwandererInnen in Deutschland einzuordnen waren und wie sich diese Zuordnungen auf das nationale soziale Gefüge auswirkten. Gerade anhand der (von Wimmer und Glick Schiller noch weiter anhand unterschiedlicher nationaler Modi ausgeführten) Unterschiede in der sozialwissenschaftlichen Bearbeitung der Migrationsthematik begründen Wimmer und Glick Schiller ihre These des methodologischen Nationalismus. Aufgrund dieser AnalyseŚ7 werden drei Varianten des methodologischen Nationalismus beschrieben (Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2, 3Ū8): Ś7Ȳ
Wobei die vierte von ihnen ausdifferenzierte Phase die Zeit von 19Ş9 bis dato umfasst, in der sie die Entwicklung transnationaler Migrationstheorien als vorherrschend ansehen; vgl. weiteres Ausführungen zu Transmigration in Kapitel ř.ř.
ř.1ȳRaumbezogene Aspekte in der GesĖiĖte der MigrationsforsĖung 107 1. Unter Ignoranz verstehen sie jene Form des methodologischen Nationalismus, die ihrer Ansicht nach vor allem in der Theoriebildung bedeutend istŚŞ. Die Theorien der Moderne setzen den nationalen Charakter von Gesellschaften voraus, ohne ihn systematisch zu hinterfragen – und bilden so die Basis für eine konsequente Blindheit gegenüber der Frage, in welchem Verhältnis soziale Beziehungen zu einem Nationalstaat stehen. Ř. Die Form der Naturalisierung beeinträchtigt nach Wimmer und Glick Schiller (ebd., 3Ū4) insbesondere die empirische Forschung: Hier werden national definierte Gesellschaften als natürlich gegebene Forschungseinheiten angenommen, ohne dass nationale Diskurse, Loyalitäten oder die Entstehungsgeschichten nationaler Erzählungen hinterfragt werdenŚ9. ř. Die territoriale Beschränkung bezeichnet das Phänomen, dass sich die Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten Gesellschaft nur im Rahmen von Nationalstaaten vorstellen, was nach Wimmer und Glick Schiller zu einer Überfülle von Studien geführt hat, die soziale Prozesse innerhalb eines bestimmten Nationalstaates untersucht haben. Alle sozialen Phänomene, die über diese nationalen Grenzen hinweg beobachtbar waren, wurden hingegen ausgeblendet und sind somit nicht Teil der Forschungsagenden. Der Hauptpunkt ihrer Argumentation liegt darin, dass wir uns erst teilweise des Problems klar werden: „However, this does not mean that we have broken free from the influence of methodological nationalism. We are still struggling to understand how our vision is being shaped and distorted by our own location in the grid of nation-states and the constraints this places on our scientific perspectives.“ (ebd., 324). Obwohl die Arbeit von Wimmer und Glick Schiller (2ŪŪ2) aus Überlegungen zu transnationaler Migration hervorgeht, zeigt sie auch als eine der wenigen bisher erschienenen einschlägigen Analysen, wie die Migrationsforschung von einem containerhaften einerseits aber andererseits auch von einem relationalen Raumverständnis geprägt wurde. Auch wenn an dieser Arbeit – wie die AutorInnen selbst zugestehen – die Kürze der Betrachtungen und damit notwendigerweise einhergehende wenig detaillierte Beschreibung einzelner historischer Perioden zu kritisieren sind, stellt ihre Analyse doch eine wichtige Grundlage für das Verständnis heutiger (implizit angewandter) RaumŚŞȲ Vgl. hierzu die weiter oben beschriebene kritische Sichtweise, die etwa David Chernilo in Bezug auf die theoretische Ebene formuliert hat (Chernilo Ř006; Chernilo Ř007). Ś9Ȳ Helmuth Berking verwendet für die kognitive Ausprägung den Begriff des kategorialen Staatszentrismus (Berking Ř00Ş, 1Řś).
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
konzepte in der Migrationsforschung dar. Die historisch wichtigen Beiträge in der Migrationssoziologie haben somit aufgrund ihres überwiegend containerhaften Verständnisses wenig zu einem reflektierten Verständnis von Raum beigetragen. Dies hängt – wie soeben kurz ausgeführt – mit der Entstehungsgeschichte der Migrationsforschung als Hilfswissenschaft des Nationalstaats zusammenś0. Allerdings sind diese historisch bedeutsamen Arbeiten im Bereich der Migrationsforschung in ihrem „zeitgeistigen“ und politischen Kontext zu sehen – Umstände, die es den AutorInnen schwer machten, Migration nicht ausschließlich aus der Perspektive eines methodologischen Nationalismus zu betrachten. Nun ließe sich jedoch der Spieß auch umdrehen: Die Frage nach der empirischen Faktizität des Wanderungsgeschehens jenseits der Nationalstaaten ist in diesem Zusammenhang ebenso zu beleuchten: Hat es vor der zweiten Hälfte des 2Ū. Jahrhunderts Migrationsprozesse gegeben, die über Nationalstaaten hinausreichtenȺ? Wäre diese Frage mit einem „Nein“ zu beantworten, wären containerhafte Betrachtungsweisen für die empirische Beforschung der Migrationsphänomene gerechtfertigt. Einschlägige empirische Daten zeigt etwa ein Diskussionsstrang im Bereich der historischen Migrationsforschung auf: Anscheinend gab es durchaus schon zu dem angesprochenen Zeitpunkt nachhaltige grenzüberschreitende Praktiken von MigrantInnen, die durchaus einer eingehenden Betrachtung bedürfen. Hierfür sprechen etwa Arbeiten zu historischen Migrationsformen, wie etwa jene von David Gerber (Gerber 2ŪŪū) oder Hermann Zeitlhofer (Zeitlhofer 2ŪŪ5), die sich aufgrund der Debatten rund um Transnationalismus mit geänderten Fragestellungen bereits vielfach analysierten Datensätzen unter einer transnationalen Forschungsperspektive zuwenden und zu aufschlussreichen neuen Ergebnissen kommen. Zeitlhofer untersucht etwa die Frage der zirkulären und saisonalen Wanderung von LandarbeiterInnen in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und kommt zum Schluss, dass auch hier die Kontakte mit der Herkunftsregion und jener, in der immer wieder gearbeitet wurde, beständig und regelmäßig waren, sodass eine doppelte Einbindung als wichtiges Element dieser Migrationsform zu sehen ist. David Gerber (2ŪŪū, űū) zeigt, dass die Einwanderungswelle im ūų. Jahrhundert in den USA in einem transnationalen Kontext stattfand, wenn auch unter Bedingungen des Austauschs über Briefe. Dabei konnten die MigrantInnen auf die neuen, ausgedehnten und routinisierten europäischen und
ś0Ȳ Diese Kritik wurde inzwischen wiederholt geübt (vgl. etwa Castles Ř000; Wimmer und Glick Schiller Ř00Ř).
ř.1ȳRaumbezogene Aspekte in der GesĖiĖte der MigrationsforsĖung 109 nordamerikanischen Postsysteme zurückgreifen, die am Beginn des ūų. Jahrhunderts zum ersten Mal miteinander verbunden wurden. Eine weitere Möglichkeit, der Frage nachzugehen, ob es sich bei dauerhaft grenzüberschreitenden Migrationserfahrungen um ein historisch gesehen neues Phänomen handelt, besteht darin, vergleichend zu arbeiten. Nancy Foner (Foner ūųųű) hat sich einem solchen Unterfangen gestellt und in ihrer detailreichen Gegenüberstellung die transnationalen Praktiken heutiger EinwandererInnen New Yorks mit den Praktiken der MigrantInnen verglichen, die sich gegen Ende des ūų. Jahrhunderts in der Stadt angesiedelt haben. Auch sie kommt zu dem Schluss, dass es transnationale Migration bereits in dieser frühen Zuwanderungsperiode gegeben hat. Allerdings weist sie darauf hin, dass sich heutige Transmigration in einigen Punkten qualitativ von früheren Wanderungserfahrungen unterscheidet – so etwa, wenn es um politische und ökonomische Aktivitäten sowie die Frequenz des sozialen Austauschs geht. Dennoch sieht sie eine Kontinuität dieser grenzüberschreitenden sozialen Beziehungen, sodass auch sie zu dem Schluss kommt, dass es sich bei transnationalen Lebenszusammenhängen von MigrantInnen um kein historisch neues Phänomen handelt. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Neue der zeitgenössischen migrantischen Praktiken, die über nationale Container hinausreichen, in der Dichte und Intensität des sozialen Austauschs liegt. Die Mittel der Telekommunikation und die für viele erschwinglichen, schnellen Transportmittel ermöglichen einen sozialen Austausch mit ihren Herkunftsländern, der vor einigen Jahrzehnten noch nicht möglich warś1. Obwohl auch MigrantInnen früherer Perioden oft in engem Kontakt mit Personen aus ihren Ursprungsländern standen, war der Aspekt der Zeitverzögerung im Austausch doch ein beträchtlicher. Es ist daher auszuschließen, dass die soziale Realität der Wanderung im ūų. und beginnenden 2Ū. Jahrhundert nicht auch schon Anlass zur Hinterfragung eines national geprägten analytischen Blickes in den Sozialwissenschaften gegeben hätte. Heute ist es auf dieser Basis in der Sozialforschung durchaus üblich, auf die mangelnde Sensibilität früherer SozialwissenschaftlerInnen hinzuweisen und ihre Arbeiten dahin gehend zu kritisieren, dass sie empirisches Datenmaterial, das eindeutig auf Spuren grenzüberschreitender sozialer Verflechtungszusammenhänge (Elias ūų8Ū (1939), 3ū4) hinwies, ignorierten. Allerdings ist es aufgrund unseres heutigen Diskussionsstandes unvergleichbar einfacher, empirisches Material nun unter diesen neuen Geś1Ȳ Eine eingehende Diskussion des Einflusses technologischer Innovationen auf diese sozialen Beziehungen findet sich in Kapitel Ř.Ř.Ř.Ř.
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
sichtspunkten zu beurteilen, das bis dato nicht analysiert bzw. unter anderen Prämissen gedeutet wurde. Meiner Ansicht nach sollte daher hier der Blick nicht bewertend, wohl aber kritisch sein, um die Entstehungsgeschichte des methodologischen Nationalismus in der Migrationsforschung nachzuvollziehen, da heutige Arbeiten in diesem Bereich nach wie vor von früheren Erkenntnissen und Theorien geprägt sind. Dies gilt insbesondere für die Assimilationsforschung, wie sie etwa von Milton Gordon (Gordon ūųŰ4) in seinem Werk „Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion and National Origins“ ausgearbeitet wurde. Gordon ging in dieser für seine Zeit ausgesprochen detailliert ausgearbeiteten Assimilationstheorie von einer homogenen Aufnahmegesellschaft aus, um zu seiner Theoriebildung zu gelangen, die momentan wieder verstärkt rezipiert wird. Assimilationstheorien haben dabei interessante wissenschaftliche Konjunkturen aufzuweisen: Wurden sie in den USA in den ūųŰŪer Jahren durch die Bürgerrechtsbewegungen zurückgedrängt, erfuhren sie in den ūųűŪer Jahren erneut einen Aufschwung (Glick Schiller 2ŪŪű). Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied im Vergleich zu jenen Konzepten, wie Gordon sie formulierte (Glick Schiller ebd., ū4): While even the first wave assimilationists had noted that ethnic identities and institutions were often formed as part of the initial settlement process, the second wave of US migration scholars accepted this cultural pluralism as a constitutive element of the national society.
Wie Glick Schiller (2ŪŪű) in ihrer Analyse, die auf die USA fokussiert, weiter ausführt, zeichneten sich die ūų8Ūer Jahre in der Migrationsforschung dadurch aus, dass ein diskursiver Wechsel von der Bezeichnung unterschiedlicher nationaler Minderheiten hin zur Benennung ethnischer Gruppen vollzogen wurde. Diesen ethnischen Gruppen wurden kulturelle Unterschiede zugeschrieben – allerdings bewegten sie sich nach Auffassung pluralistischer oder multikulturalistischer Theoriebildung ausschließlich innerhalb der US-amerikanischen nationalen Grenzen (vgl. Glick Schiller 2ŪŪű, ū4). Ethnische Gruppen wurden damit zu den unhinterfragten Analyseeinheiten der Migrationsforschung, wodurch SozialwissenschaftlerInnen auch in dieser Periode empirische Daten zu grenzüberschreitenden sozialen Beziehungen von MigrantInnen meist nicht in ihre Analysen aufnahmen. Mit Zeitverzögerung hat sich auch in einem Teil der westeuropäischen Migrationsforschung die Rede von „ethnischen Gruppen“ gegenüber nationalen Minderheiten durchgesetzt (vgl. etwa Bookman 2ŪŪ2; Portes, Escobar et al. 2ŪŪ8); allerdings hat hier die politische Setzung
ř.1ȳRaumbezogene Aspekte in der GesĖiĖte der MigrationsforsĖung 111 der Europäischen Union über die Förderung und Zuteilung von Ressourcen auch eine abweichende Einteilung in unterschiedliche Gruppen die sozialwissenschaftliche Forschung beeinflusst (Glick Schiller, Caglar et al. 2ŪŪŰ): Die Europäische Union unterscheidet zwischen nationalen Minderheiten, grenzüberschreitenden nationalen Minderheiten, indigenen, sprachlichen und zugewanderten Minderheiten (Bauböck 2ŪŪ2). Dabei ist sowohl die aus dem US-Amerikanischen kommende Unterscheidung nach ethnischen Minderheiten oder ethnischen communities sowie die eher in der Europäischen Union gebräuchliche Unterscheidung nach nationaler „Herkunft“ zu hinterfragen. Bei beiden handelt es sich um soziale Konstruktionen, die im Zuge von politischen Konflikten oder im Rahmen des Migrationsprozesses erst ausgebildet bzw. mit Bedeutung versehen werden (Glick Schiller 2ŪŪű, ū5). Allerdings haben diese theoretischen Setzungen nicht in der gesamten sozialwissenschaftlichen Forschung bis dato dazu geführt, dass soziale Beziehungen, die den nationalen Container einzelner Nationalstaaten überschritten, ignoriert wurden: So haben sich in den letzten Jahren zunehmend MigrationsforscherInnen mit Phänomenen transnationaler Migration beschäftigt, bevor dieser Begriff mit der bahnbrechenden Arbeit von mit Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc (Basch, Glick Schiller et al. ūųų4) im migrationswissenschaftlichen Diskurs Beachtung fand. Allerdings gibt es durchaus auch Arbeiten von PionierInnen, die bereits zu früheren Zeitpunkten ähnlich gelagerte empirische Untersuchungen durchführten: Gerade in Europa hat sich etwa Mirjana Morokvasic (Morokvasic ūųų4) bereits am Beginn der ūųųŪer Jahre mit transnationalen Phänomenen beschäftigt, wobei sie unterschiedliche Formen der Pendelmigration von PolInnen, die in Deutschland arbeiteten, untersuchte. Morokvasic beschreibt in ihrer Studie beeindruckend, wie ein neuer grenzüberschreitender Raum durch die Praktiken des Hin- und Herfahrens entsteht – so unterschiedlich die Voraussetzungen und Motive der InterviewpartnerInnen für diese Mobilitätspraktiken auch sein mögen. Allerdings stellt sie fest, dass die Aufenthalte in Deutschland zeitlich derart limitiert sind, dass ein Aufbau neuer bedeutungsvoller sozialer Beziehungen kaum möglich ist. So beschreibt sie unter anderem, dass Wohnungen in Deutschland, die sich mehrere Polinnen teilen, eher den Charakter einer Schlafstätte haben und daher keinen hohen emotionalen Stellenwert zugemessen bekommen. Die Zukunftsperspektiven und Wünsche der Interviewpartnerinnen sind ebenfalls klar auf Polen gerichtet – auch wenn für den Erhalt bzw. die Verbesserung der dortigen Lebensumstände ein längerfristiges Pendeln in Kauf genommen wird.
11Ř 3.2
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung Reflexion des Raumbegriffs in der zeitgenössischen Migrationsforschung
Die momentane Migrationsforschung baut beträchtlich und wenig überraschend auf den klassischen Theorien zu Migration auf. Für die hier bearbeitete Fragestellung bedeutet dies, dass in vielen migrationstheoretischen Forschungszusammenhängen das Thema Raum nicht explizit betrachtet wird. Implizit wird nach wie vor meist von einem essentialistischen Raumkonzept ausgegangen, in dem sich Menschen von einem Ort zum anderen bewegen und am jeweiligen Aufenthaltspunkt von SozialwissenschaftlerInnen befragt, untersucht und/oder beobachtet werden. Mit jenen Ausnahmen, die in Kapitel 3.3 behandelt werden, gehen die meisten migrationstheoretischen Arbeiten somit weiterhin implizit und explizit von einem nationalstaatlichen Container aus, der die Untersuchungseinheiten, die Fragestellungen – und somit auch die Forschungsergebnisse – bestimmtśŘ. In diesem Abschnitt wird das Raumverständnis und seine Folgen in unterschiedlichen Teilbereichen der Migrationsforschung untersucht. Dazu wird zwischen Assimilationsforschung, Segregations- und Integrationsforschung sowie der weiter unten behandelten Transmigrationsforschung unterschieden, wobei diese Ausdifferenzierung einerseits auf unterschiedliche nationale Forschungstraditionen zurückgeht, wie bereits im vorhergehenden Kapitel zur historischen Entwicklung der Migrationsforschung angeklungen ist. Diese nationalen Unterschiede im Migrationsgeschehen und die Deutungen durch SozialwissenschaftlerInnen beeinflusst noch heute unsere jeweiligen Vorstellungen von Migration und damit auch die Art und Weise, wie Forschungsfragen gestellt werden (vgl. hierzu auch Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2). Die Bedeutung der Begrifflichkeiten ist – wie bereits vielfach ausgeführt wurde – auch keineswegs präzise voneinander abzugrenzen, da nach jeweiligen Diskurszusammenhängen und Theorietraditionen Unterschiedliches mit identischen Begrifflichkeiten bezeichnet wird. Im Folgenden wird unter Assimilation die Anpassung von MigrantInnen an die Aufnahmegesellschaft in unterschiedlichen Dimensionen verstanden. Integration wird – Hartmut Essers Ausführungen folgend – als der Zusammenhalt der Teile eines Systems definiert (Esser 2ŪŪŪ, 2Ű2). Wie bereits erwähnt, ist Integration als das eine Ende eines theoretischen Kontinuums zu sehen, an dessen anderem Ende die durchgängige Segmentation steht. Im Fall der Segmentation stehen daher Teile eines Systems unverbunden śŘȲ
Zur einschlägigen Kritik und daran anknüpfenden Debatten siehe Kapitel ř.Ř.ř.
ř.ŘȳReĚexion des Raumbegriěs
11ř
nebeneinander. Dabei ist es hilfreich, zwischen Sozial- und Systemintegration konzeptionell zu unterscheiden (vgl. Esser 2ŪŪ4, 45ȹff.): Aufbauend auf der Unterscheidung von David Lockwood bezogen auf die Theorie sozialer Systeme ist mit dem Konzept der Systemintegration das Ergebnis eines anonymen Zusammenspiels und Funktionierens zwischen Institutionen, Organisationen und Mechanismen wie dem Staat, dem Rechtssystem oder den Märkten gemeint (Bosswick und Heckmann 2ŪŪŰ; Lockwood ūųŰ4, zit. nach Bosswick und Heckmann 2ŪŪŰ, 2). Sozialintegration hingegen bezieht sich auf die Inklusion von Personen in einem System, auf soziale Beziehungen zwischen Individuen sowie deren Gruppenformationen untereinander (Bosswick und Heckmann 2ŪŪŰ). Hartmut Esser hat bezüglich der Integration von MigrantInnen in eine Gesellschaft die folgenden Unterscheidungen verdeutlicht, die es seiner Ansicht nach analytisch klar voneinander zu unterscheiden gilt: Die Sozialintegration von MigrantInnen in eine aufnehmende Gesellschaft; die Konsequenzen der sozialen Integration für die sozialen Strukturen dieser Gesellschaft sowie die Konsequenzen der Sozialintegration für die Systemintegration der aufnehmenden Gesellschaft (vgl. Esser 2ŪŪ4, 45). Bereits anhand dieser ersten Unterscheidungen wird deutlich, wie eng verbunden heutige Migrationsforschung mit nationalstaatlichem Denken ist, was im Folgenden noch weiter zu beleuchten sein wird. Abschließend wird im nächsten Abschnitt auf das Raumverständnis der Multikulturalismusforschung eingegangen, die bereits in anderen Diskussionszusammenhängen für einen essentialisierenden Zugang zu Kultur kritisiert wurde.
ř.2.ŗ
Assimilationsforschung
Unter Assimilation wird üblicherweise die Anpassung der MigrantInnen an die Aufnahmegesellschaft verstanden. Ob diese Anpassung vornehmlich einseitig von den MigrantInnen zu leisten ist oder auch auf entsprechende Bedingungen im Aufnahmeland angewiesen ist, bleibt dabei nach wie vor ein Diskussionspunkt auch innerhalb der Migrationsforschung selbst (eine kritische Diskussion derartiger Positionen findet sich etwa bei Castles 2ŪŪŪ). Jedenfalls wird der Grad der Assimilation üblicherweise an Parametern gemessen, die an MigrantInnen festgemacht werden: Inwiefern Zugewanderte die Landessprache erlernt (und die ihrer Eltern und Großeltern aufgegeben) haben bzw. inwiefern sie kulturelle und soziale Merkmale der einheimischen Bevölkerung angenommen haben und sich mit diesen Merkmalen identifi-
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
zieren. KritikerInnen des Konzepts verweisen auf die Frage nach den damit verbundenen hegemonialen Vorstellungen einer autochthonen Bevölkerung und angeblich existierenden „Normalitätsfolien“, an die sich die Zugewanderten anzupassen hätten (vgl. kritisch hierzu etwa Heckmann ūųų2; Nauck ūų88; Pott 2ŪŪ2a; Seifert ūųų5). Diese Debatte wird jedoch an dieser Stelle nur erwähnt, da im Folgenden jene Kritikpunkte an der Assimilationsforschung im Mittelpunkt stehen werden, die sich spezifisch mit der Frage nach der (impliziten) Behandlung von Raum im jeweiligen Forschungszugang beschäftigt. In ihrem Beitrag „Jenseits der ‚ethnischen Gruppe‘ als Objekt des Wissens: Lokalität, Globalität und Inkorporationsmuster von Migranten“ (Glick Schiller, Caglar et al. 2ŪŪŰ, ūŪ5) führen die AutorInnen etwa aus, dass die Assimilationsforschung in den USA und die Integrationsforschung in Europa bislang den Aspekt der Lokalität vernachlässigt haben. Dies führen sie auf die Arbeiten der Chicago School zu Migration und Stadt zurück, da ausgehend von diesen Analysen allgemeingültige Theorien zu ethnischen Ghettos und Assimilierungsprozessen entwickelt wurden. Diese Modelle wurden von späteren MigrationsforscherInnen oftmals unhinterfragt übernommen und auf andere Kontexte angewandt. Warum dem spezifischen Ort, an dem sich MigrantInnen niederlassen, so wenig Bedeutung beigemessen wird, liegt nach Ansicht der genannten AutorInnen darin begründet, dass „die Migrationsforschung Migrantenpopulationen unter dem Aspekt ihrer ‚Ethnizität‘ [betrachtet]. Im Mittelpunkt von Analyse und Vergleich steht das Land, in dem sie sich niederlassen“ (ebd., ūŪŰ). Auf der anderen Seite sortieren MigrationsforscherInnen MigrantInnen nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Nationalität und untersuchen ihre Eingliederung in das jeweilige Einwanderungsland differenziert nach zugeordneter Ethnizität oder Nationalität. Diese Vorgehensweise führen die AutorInnen wiederum darauf zurück, dass im Alltagsverständnis diejenigen als ethnisch klassifiziert werden, deren Herkunft von der dominanten Kultur abweicht. Angenommen wird, dass MigrantInnen aus ein- und demselben Herkunftsland auch von derselben „Kultur, Geschichte und Identität geprägt werden, die Teil ihrer Heimatgesellschaft/ihres Herkunftslandes ist“ (ebd., ūŪű). Die AutorInnen machen darauf aufmerksam, dass die in der Migrationsforschung verwendeten Begrifflichkeiten der Ethnizität und ethnischen Identität die historische Logik der Macht reflektieren. Die Frage nach Assimilation der unterschiedlichen ethnischen bzw. nationalen Gruppen hat laut den AutorInnen in den USA während der vergangenen Jahre einen großen Aufschwung erlebt. Dennoch wird die Forschungsperspektive verkürzt und eng gehalten, indem MigrationsforscherInnen weiter nach Graden der Assimilation einzelner derart voneinander unterschiedener Gruppierungen im jeweiligen Aufnahme-
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land fragen. Dadurch können jedoch andere Formen der Vergesellschaftung, die nicht über die Ethnisierung bzw. Nationalisierung im Zuge des Migrationsprozesses verlaufen, übersehen werden. Wie dieser Gefahr entgegen gewirkt werden kann, zeigen die AutorInnen eindrücklich in ihrer Studie zu Inkorporationsmustern, die auf religiösen Netzwerken basierenśř. Zu gänzlich anderen theoretischen Überlegungen führen Hartmut Essers Arbeiten, die zumindest die deutschsprachige Diskussion rund um Assimilation und Integration nachhaltig geprägt haben (Esser ūų8Ū; Esser ūųųŪa; Esser ūųųŪb; Esser 2ŪŪ3; Esser 2ŪŪŰa; Esser 2ŪŪŰb; Esser und Friedrichs ūųųŪ). Bekanntlich unterscheidet Esser kurz genannt unterschiedliche Dimensionen von Assimilation folgendermaßen: die kognitive Assimilation umfasst den Erwerb von Fähigkeiten der Mehrheitsgesellschaft, die strukturelle Assimilation bedeutet die Angleichung in Bezug auf Ausbildung, Erwerbsstatus, Wohnumfeld, die soziale Assimilation bezeichnet das Ausmaß der formellen und informellen interethnischen Beziehungen mit der Mehrheitsgesellschaft und die identifikative Assimilation meint die Zugehörigkeit der ImmigrantInnen selbst. Diese Dimensionen baut Esser auf einem handlungstheoretischen Ansatz auf und bringt seine Überlegungen folgendermaßen auf den PunktśŚ: Assimilation findet dann statt, wenn eine ‚Angleichung‘ im Interesse der Akteure und von den Opportunitäten und Restriktionen des Handelns her möglich ist. Andernfalls bleibt es – u.ȹU. auch dauerhaft – bei ethnischer Segmentation bzw. es kommt zu ‚alternativen‘ Handlungen, zu denen u.ȹU. auch eine Rückwanderung gehört (Esser ūųųŪb, 3Ű; zitiert nach Pott 2ŪŪ2a, 48).
Damit stellt Esser – wie viele andere AutorInnen auch – Assimilation und Segmentation in einen direkten kausalen Zusammenhang. Allerdings ist Ethnizität bei Esser keine natürlich gegebene Eigenschaft, die etwa qua Geburt ‚erworben‘ würde, sondern eine soziale Handlungskategorie, die aktiviert werden kann. Damit ist eine soziale Konstruktionsleistung deutlich im theoretischen Konzept Hartmut Essers verankert – was den großen Reiz seiner Theorie auch für kulturwissenschaftliche Arbeiten im Bereich der Migrationsforschung ausmacht. Dass dieser konstruktivistische Ansatz bei Essers empirischen Untersuchungen nicht derart eingelöst werden kann, hat Andreas Pott (Pott 2ŪŪ2b) bereits herausgearbeitet. Hierbei bezieht er sich beispielhaft śřȲ
Genauere Ausführungen zu dieser Arbeit finden sich in Kapitel ś.ř.Ř. An dieser Stelle werden die vielfach referierten und diskutierten Konzepte Essers als bekannt vorausgesetzt. śŚȲ
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
auf eine Analyse Essers (Esser ūųųŪa), die sich mit dem Stellenwert von Ethnizität bei türkischen und jugoslawischen ZuwandererInnen der ersten und zweiten Generation auseinandersetzt. In seinem Beitrag diskutiert Hartmut Esser die Frage, wie Assimilationsprozesse der beiden Gruppen im Generationenvergleich verlaufen. Esser stellt in dieser Analyse der These einer mit den Generationen fortschreitenden Angleichung an die Mehrheitsgesellschaft die alternative Annahme der Segmentation gegenüber. Ziel seiner empirischen Analyse ist es, ein Modell zu entwickeln, in dem auf möglichst einfache Weise Assimilation bzw. Segmentation als erwartbare Folge unterschiedlicher Bedingungskonstellationen erklärt werden können und aus dem die Besonderheiten der dargestellten empirischen Ergebnisse des Verhaltens (…) verständlich werden mögen (ebd., űŰ).
Die empirische Untersuchung führt dabei zu Daten, die deutliche Unterschiede zwischen TürkInnen und JugoslawInnen belegen: Bei den untersuchten TürkInnen wurden Segmentationstendenzen in allen Bereichen (kognitive, soziale und identifikative Assimilation) und über beide erhobenen Generationen hinweg festgestellt; nur bei den JugoslawInnen zeigten sich wiederum deutliche Unterschiede zwischen den Generationen, wohingegen bei den TürkInnen nur ein Fortschritt (auf geringerem Niveau) auf Ebene der kognitiven Assimilation verzeichnet wurde (in Bezug auf die Freundschaftsstruktur und die ethnische Orientierung war „eine über die Generationen hinweg stabile ethnische Segmentation festzustellen“ (ebd., űű)). Das zugrunde liegende Datenmaterial ist folgendermaßen beschaffen: Es handelt sich um Auswertungen einer Fragebogenerhebung, die (Selbst-) Einschätzungen von MigrantIn nen zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Inhalt hatte. Dabei wurden die bereits genannten vier Dimensionen von Assimilation nach Essers Modell wie folgt operationalisiert: die kognitive Assimilation über die Selbsteinschätzung der eigenen Sprachkenntnisse; die strukturelle über die berufliche Position (nur im Falle der Elterngeneration, da die zweite Generation noch nicht in den Arbeitsmarkt eingetreten war); die soziale Assimilation über das Ausmaß interethnischer Kontakte und Freundschaften sowie die identifikative Assimilation über Angaben zur Zugehörigkeit zu Herkunfts- bzw. Aufnahmegesellschaft. Esser entwirft also Assimilation als ein Kontinuum, an dessen einem Ende die vollständige Assimilation in allen vier Dimensionen steht, wohingegen das andere Extrem die Segmentation bildet. An dieser Stelle ist kritisch anzumerken, dass hier bereits analytisch vorgegeben wird, dass etwa eine Identifikation mit dem Herkunftsland, interethnische Freundschaften oder
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Sprachkenntnisse des Herkunftslandes der Eltern als Belege für Segmentation gewertet werden. Wie bereits erwähnt, führt Esser in seinen theoretischen Überlegungen aus, dass er von einem handlungszentrierten Ansatz ausgeht. Das heißt, er konzipiert die Aneignung von Sprachkompetenzen oder die Aufnahme von Interaktionen als Handlungen bzw. als direkte Folgen von Handlungen. Esser weist jedoch darauf hin, dass er nicht davon ausgeht, es würden alle Entscheidungen, die zu Handlungen führen, unbedingt rational geleitet sein; dies ist schon deshalb infrage zu stellen, weil oftmals Handlungen aufgrund ungesicherter Vermutungen (ebd., 8Ū) oder unvollständiger Informationen erfolgen. Dennoch wählt er einen methodischen Zugang, der die Analyse von Handlungsprozessen ausschließt, und (im besten Fall) das Endergebnis derartiger Handlungen im Sinne von Auswahlprozessen untersucht. Dies geschieht über eine Fragebogenerhebung, die nur ein einziges Mal durchgeführt wird. Damit ist man bei der Auswertung der Datensätze auf viele Vorannahmen angewiesen, da die sozialen Prozesse, die zu den Selbsteinschätzungen und Angaben der InterviewpartnerInnen geführt haben, über die angewandten Methoden nicht in den Blick genommen werden können. Somit kommt dem theoretischen Hintergrundwissen sowie der jeweiligen fachlichen Ausrichtung des/r Migrationsforschers/in eine herausragende Bedeutung zu, welche potentiell möglichen Interpretationen der Daten vorgenommen werden. Hier geht Esser freilich als langjährig erfahrener und umsichtiger Forscher an die Interpretation heran, da er die Möglichkeit bedeutungsvoller sozialer Beziehungen, die über den nationalen Container hinausreichen, durchaus in seine Überlegungen mit einbezieht. Allerdings bewertet er sie nur dann als positiv, wenn sie nicht gleichzeitig eine geringere Anpassungsleistung an das Aufnahmeland bedeuten. Diese Möglichkeit bezieht er theoretisch auch in seine Untersuchung mit ein. Er schickt jedoch voraus, dass genügend Ressourcen vorhanden sein müssen, um etwa über entsprechende Kompetenzen in mehr als einer Sprache zu verfügen. Dasselbe gilt nach Esser auch für soziale Beziehungen innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe im Gegensatz zu sozialen Bindungen zu anderen ethnischen Gruppe (ebd., 8Ū). Diese Einschätzungen trifft Esser unter der Annahme, dass Handlungsentscheidungen immer unter Bedingungen knapper Ressourcen gefällt werden und dass für bestimmte Ergebnisse unterschiedlicher Aufwand getrieben werden muss. Dabei ist die Höhe des Aufwands auch von den Umständen abhängig, unter denen Individuen handeln (für soziale Beziehungen braucht es etwa mindestens eine zweite Person, die willens ist, eine wechselseitige Beziehung aufzubauen). Ausgehend von diesen Überlegungen stellt Esser
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
eine Reihe weiterer Gedankengänge an, um zu Interpretationsfolien interethnischer Beziehungen zu gelangen. Offen bleibt hier jedoch die Frage, ob das Erlernen einer Sprache tatsächlich einer derartigen Logik folgt, die einem Rational Choice-Ansatz nahe steht. Auch für die Beschaffenheit sozialer Beziehungen lassen sich andere theoretische Hintergrundannahmen aufstellen als Esser vorschlägt. Auf seinen theoretischen Überlegungen basierend interpretiert Esser (neben anderen Ergebnissen) die Unterschiede in den Daten zwischen den beiden Gruppen (TürkInnen und JugoslawInnen): Der interethnische Aufwand für die Herstellung von sozialen Beziehungen zur autochthonen Bevölkerung könnte für TürkInnen größer ausfallen als für JugoslawInnen, da sie sich einer höheren absoluten oder relativen Anzahl eigenethnischer InteraktionspartnerInnen gegenübersehen; plausibler erscheint dem Autor selbst jedoch die Annahme, dass TürkInnen größere „zwischenethnische Distanzen“ in Deutschland überwinden müssen als JugoslawInnen. Aufgrund dieser Ergebnisse seiner Überlegungen kommt Esser zu folgendem Schluss: Soziale Prozesse sind nie nur eine Frage der Zeit oder übersubjektiver makrosoziologischer Trends. Es müssen sich vielmehr Parameter verändern, die das Handeln der Menschen in der jeweiligen Situation bestimmen. (…) Manchmal ändern sich die Parameter so, dass das äußere Ergebnis konstant bleibt. Und gelegentlich gibt es – wie bei den Folgegenerationen von Migranten, die keinen Schließungsprozessen unterliegen – mit der Zeit sowohl mehr zufällige, als auch „eigendynamische“ Abläufe einer Veränderung der Handlungsbedingungen, die auf den ersten Blick wie eine zeitbezogene Automatik aussehen. Es sind aber weder die „Zeit“, noch ein „System“, sondern immer nur in selbst geschaffenen Situationen handelnde Menschen, die hier am Werke sind. (Esser ūųųŪa, ūŪŪ; Hervorhebungen durch E.ȺS.)
Dieser Schlusssatz könnte – im Gegensatz zu Essers eigener Deutung – auch so verstanden werden, dass das methodische Vorgehen bei einer derartigen Forschungsfrage zu überdenken ist: Anstatt Selbsteinschätzungen der MigrantInnen zur Bearbeitung eines derartigen Forschungsinteresses zu einem einzigen Zeitpunkt abzufragen, wäre es dann ratsam, ein offeneres methodisches Vorgehen zu wählen. So ließen sich die Bedeutungshorizonte der untersuchten Personen selbst zunächst einmal rekonstruieren; da ein derart großes Augenmerk auf das soziale Interagieren in Essers handlungstheoretischem Ansatz gelegt wird, liegt es nahe, Interviews auch mit anderen Formen der Datenerhebung wie etwa Beobachtungen zu kombinieren. Ein Vorgehen, das von der sozialen Konstruktion sozialer Räume ausgeht, könnte dazu verhel-
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fen, die ethnischen Gruppen nicht unhinterfragt als homogene Einheiten ex ante zu setzen, wie Esser dies in seiner empirischen Studie tut: So fällt auf, dass hier die Nationalitäten einander gegenüber gestellt werden, ohne dass gruppeninterne Unterschiede (religiöse, ethnische, sprachliche Unterschiedeśś) diskutiert werden. Auch strukturelle Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (Herkunft aus städtischem bzw. ländlichen Bereich; Bildungsbiographie der ersten Generation, Berufstätigkeit der ersten Generation vor und nach der Immigration) werden nicht weiter in die Untersuchung mit einbezogen. Die Schwierigkeit derartiger – durchaus üblicher – Untersuchungsanlagen liegt darin, dass die hiermit erzielten sozialwissenschaftlichen Ergebnisse die homogenisierenden Alltagskonstruktionen in Bezug auf MigrantInnen noch verstärken, indem von kultureller, nationaler und/oder ethnisch beschriebener Gruppenzuordnung ausgegangen wird anstatt derartige Bilder, die diskriminierend wirken, mittels sozialwissenschaftlicher Forschung zu hinterfragen. Eine ähnlich gelagerte Kritik an Essers empirischer Umsetzung hat bereits Andreas Pott (Pott 2ŪŪ2a, 5Ű) ins Treffen geführt. Er stellt die theoretischen Ansprüche des Modells der forschungspraktischen Umsetzung gegenüber und kommt zu dem Schluss Erst durch eine Analyse der für die einzelnen Migranten relevanten Lebens- und Handlungssituationen sowie der jeweiligen Situationswahrnehmungen und -interpretationen könnte (…) der Einfluß der angenommenen Handlungsparameter überprüft werden.
Dabei bezieht sich Pott auf die in der oben zitierten empirischen Studie zusätzlich herangezogenen Hypothesen, mit deren Hilfe schließlich die empirischen Daten widerspruchsfrei erklärt werden können. Er weist außerdem darauf hin, dass Esser die Konstellation wonach trotz interethnischer Beziehungsstruktur der eigenen Ethnizität Handlungsrelevanz zukommen könnte, bereits durch die gewählte Operationalisierung in der Untersuchung von vornherein ausschließt (Pott 2ŪŪ2b, 5ű). Dies geschieht dadurch, dass die Handlungsrelevanz von Ethnizität über das Item der ethnisch definierten Beziehungsstruktur erhoben wird. Im Zusammenhang mit dem beschriebenen Vorgehen Hartmut Essers und der daran geübten Kritik ist auch darauf hinzuweisen, dass die Schwierigkeiten, einen raumsensiblen Zugang zu Migrationsforschung zu finden, im Bereich quantitativ zu bearbeitender Fragestellungen unter Umständen śśȲ
Vgl. hierzu beispielsweise die Untersuchung von Katharina Brizi° (Brizi° Ř00ś).
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schwieriger zu überwinden sind, als im Bereich qualitativer Untersuchungsanlagen. Dies ist darin begründet, dass qualitative Ansätze es eher erlauben, die sozialen Beziehungen aus Perspektive der AkteurInnen zu untersuchen. Diese Forschungsfragen einer raumsensiblen Migrationsforschung sind allerdings zum momentanen Zeitpunkt noch nicht hinreichend beantwortet, da eine eingehende (sekundäranalytische) Untersuchung der Raumannahmen und ihrer Auswirkungen in quantitativen Migrationsuntersuchungen noch nicht vorliegt. An dieser Stelle ist es somit wichtig, auf den existierenden Forschungsbedarf in diesem Bereich hinzuweisen, in dessen Rahmen etwa Mehrebenenanalysen bzw. Clusteranalysen in der Migrationsforschung zu betrachten sind. An dieser Stelle kann ich allerdings bereits jetzt auf netzwerktheoretische Arbeiten im Bereich der quantitativen Migrationsforschung hinweisen, die den Raum in ihren Untersuchungen berücksichtigen: In Janine Dahindens Studie zur Frage von transnationalen Lebensstilen und -aspekten in einer Schweizer Stadt (Dahinden 2ŪŪų) hat sie sich etwa dazu entschlossen, zunächst einmal nicht nach MigrantInnen und einheimischer Bevölkerung zu unterscheiden. Stattdessen hat Janine Dahinden ihr Sample aufgrund eines spezifischen territorialen Ausschnitts festgelegt, eine quantitative Netzwerkanalyse durchgeführt (und diese durch qualitative Interviews ergänzt) und diese im Hinblick auf Idealtypen transnationaler Lebensumstände hin ausgewertet. Erst dann untersuchte sie, wie sich autochthone Personen und solche mit Migrationshintergrund auf diese Typen verteilen. Durch dieses methodische Vorgehen (siehe hierzu auch Dahinden 2ŪūŪ) kann sie erklären, wie diese Typen zustande kommen, ohne von vornherein in eine Tendenz des „Gruppismus“ (Brubaker 2ŪŪ4) zu verfallen: Sie beruhen auf den sozialen Positionierungen und der jeweiligen Integration in lokale und transnationale Räume. Über den quantitativen Netzwerkansatz können zudem relationale Räume erhoben und abgebildet werden, die für die Untersuchten relevant sind, ohne dass bestimmte territoriale Gebiete von den ForscherInnen bereits vorgegeben werden. Somit ist es durchaus nicht nur qualitativen Untersuchungsanlagen vorbehalten, auf ihre Raumsensibilität hin ausgearbeitet zu werden. Allerdings ermöglicht der Charakter der Offenheit des methodologischen Zugangs im interpretativen Paradigma die Berücksichtigung einer raumsensiblen Vorgehensweise.
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Segregation und ethnische Schichtung
In Assimilationsmodellen wird der Adaptierung üblicherweise die (partielle) Segmentation gegenüber gestellt. Die Bedeutung ethnischer Segmentation (und residentieller Segregation) für eine soziale Unterschichtung wird nach wie vor (und nicht nur in Fachkreisen) debattiert. Aus einer raumtheoretischen Perspektive tut sich zudem ein weiterer Aspekt auf: So kann Segregation auch als eine Form gesellschaftlicher Differenzierung betrachtet werden, die entlang einer räumlich strukturierten Ordnung angelegt ist (vgl. Löw et al. 2ŪŪű, 43). Das sozialwissenschaftliche Interesse an ethnischer Segregation geht dabei auf die bereits diskutierten Studien der Chicago School zurück, in denen die Wohnorte der ImmigrantInnen als Indikatoren für die soziale Mobilität angenommen wurden. Auch heute noch stellt der Wohnort die ausschlaggebende Variable für die Beurteilung von Segregation in der Migrationsforschung dar. Dabei ist die residentielle Segregation nach Esser (Esser ūų85) als eine ungeplante Folge absichtsvollen Handelns der MigrantInnen zu werten. Um Diskriminierungserfahrungen zu minimieren oder aufgrund der existierenden innerethnischen Beziehungen werden Wohnorte gewählt, in denen auch viele andere „co-ethnics“ wohnen. Dadurch kann die Lebensführung erheblich erleichtert werden, was etwa den Austausch in ethnischen Vereinen oder die Versorgung mit Waren aus dem Herkunftsland angeht. Nach assimilationstheoretischer Auffassung sollten diese Aspekte der Wohnortwahl mit einer ersten Basisorientierung im Ankunftsland in den Hintergrund treten – und MigrantInnen sich nach einer gewissen Zeit andere Unterkünfte suchen – und zwar entsprechend den allgemeinen Präferenzen der autochthonen Bevölkerung. Nur wenn strukturelle Diskriminierung vonseiten der Aufnahmegesellschaft eine soziale Eingliederung behindert, verbleiben ImmigrantInnen auf Dauer in diesen Vierteln, womit von verfestigter Segregation oder ethnischen Kolonien gesprochen werden kann. Diese Verhärtung der Segregation sieht Hartmut Esser – wie andere AssimilationstheoretikerInnen auch – in jedem Fall als einen Indikator für soziale Ungleichheit und ethnische Unterschichtung. Ethnische Kolonien sind damit ein Zeichen für mangelnde Assimilation und zumindest partielle Segregation; sie stehen somit für gesellschaftliche Entwicklungen, die problematisch zu werten sind. Haben sich ethnische Kolonien erst einmal etabliert, wirken sie auf vielfältige Weise weiter segregierend: Laut Esser (Esser ūų8Ű) finden MigrantInnen in derartigen Wohngebieten alternative „Opportunitäten“ (ebd., ūū3, aber auch bereits Esser ūų8Ū, ū4ųȹff.) innerhalb ihrer ethnischen Gruppe im Gegensatz zu assimilativen Interaktionsmöglichkeiten in anderen Wohnvierteln, in denen
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eine Vermischung mit der autochthonen Bevölkerung wahrscheinlicher wäre. So bewirken ethnische Kolonien die weitere Isolation von MigrantInnen, da sich das potentielle Kontaktfeld verengt (Bremer 2ŪŪŪ, ūű5). Da ein „Sowohl-Als auch“ in dieser assimilationstheoretischen Sichtweise kaum berücksichtigt wird, führen alternative Handlungsopportunitäten fast ausschließlich zur weiteren Verfestigung innerethnischer Beziehungen. Diese Bezirke mit hohen MigrantInnenanteilen zeichnen sich meist durch eine Anhäufung negativer Eigenschaften aus: So finden sich in diesen Vierteln meist vergleichsweise schlechter ausgestattete Wohnmöglichkeiten und Bildungseinrichtungen; die Arbeitsplätze in der näheren Umgebung sind meist wenig prestigeträchtig, und die Wahrnehmung derartiger Viertel durch die Öffentlichkeit eher negativ geprägt (Esser ūų8Ű). Empirisch festzustellen ist auch, dass in derart strukturell schlechter ausgestatteten Vierteln von der Kommunalpolitik meist weniger investiert wird als in anderen städtischen Bereichen. Viele SozialwissenschaftlerInnen haben daher nicht zu Unrecht auf die Gefahr von Konflikten hingewiesen, die sich aufgrund derartiger Wohnortsegregation bilden könnten. Wilhelm Heitmeyer geht diesbezüglich so weit, von einem Zerfall der Gesellschaft zu sprechen: Der schwerwiegendste Ausdruck von Desintegration im städtischen Kontext ist die residentielle Segregation. Als Verräumlichung sozialer Ungleichheit bedeutet sie unterschiedliche Chancen der Nutzung und Zugangsmöglichkeiten zu Orten, Eigentum etc. sowie der Definitionsmacht über die Ästhetisierung und Symbolisierung spezifischer Orte. (Heitmeyer ūųų8, 44Ű; Hervorhebungen durch den Autor)
Generell sieht Wilhelm Heitmeyer Segregation mit Integration als unvereinbar an, da es zu einer „Binnenintegration“ komme und damit im Vergleich zur ‚Mehrheitsgesellschaft‘ zu einer dauerhaften Unterschichtung führe. Weiters entstünden damit neue Abhängigkeiten von „religiösen und ethnischen Gemeinschaften“ (ebd., 444). Daher müsste räumliche Segregation auf jeden Fall vermieden werden, um gesellschaftliche Integration zu fördern. Den Schlussfolgerungen Wilhelm Heitmeyers widersprechen jedoch Untersuchungsergebnisse betreffend der Teilnahme in ethnischen und autochthonen Vereinen in Deutschland: So untersucht etwa Salentin (Salentin 2ŪŪ4) das Teilnahmeverhalten von MigrantInnen in Deutschland an einem breiten Spektrum von Vereinen und kommt zum Ergebnis, dass nur religiöse migrantische Institutionen regelmäßig von vielen MigrantInnen genutzt werden; gleich danach rangieren jedoch deutsche Sportvereine, die ebenfalls häufig von Menschen mit Migrationshintergrund frequentiert werden. Viel
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weniger gut besucht sind dagegen ihre direkten ethnischen Konkurrenten, die zwar vorhanden sind, aber viel weniger Zulauf haben. Auch andere einschlägige Verbände wie Parteien, frauenspezifische und kulturelle Vereine werden allesamt nur von sehr wenigen MigrantInnen frequentiert. Das Ergebnis der Untersuchung ist also für die assimilationstheoretische Diskussion durchaus verblüffend: MigrantInnen sind demnach in weit geringerem Ausmaß als vermutet in migrantische Organisationen eingebunden, obwohl immer wieder für dieselbe Population Wohnortsegregation nachgewiesen wird. Eine weitere Herausforderung für einen assimilationstheoretischen Erklärungsansatz liegt darin, dass sich MigrantInnen, die in ethnischen Vereinen involviert sind, sich ungleich mehr in die deutsche Mehrheitsgesellschaft eingebunden fühlen als andere MigrantInnen (Salentin 2ŪŪ4). Diese Beispiele sind Hinweise auf eine Debatte, die seit Jahren zu dem Thema geführt wird, wie ethnische Segregation für die Integration von MigrantInnen in die Ankunftsgesellschaft zu beurteilen ist. Neben negativen Auswirkungen von Segregation finden sich auch Positionen, die gegenteilige Schlussfolgerungen forcieren: Schon Georg Elwert (Elwert ūų82) hat in seinem viel zitierten Artikel etwa darauf hingewiesen, dass durch die Integration in eine ethnische Gemeinschaft das Selbstbewusstsein und die Handlungsfähigkeit von MigrantInnen gestärkt werden. So entstünden Möglichkeiten gegenseitiger Hilfestellungen und Netzwerke, innerhalb derer sich MigrantInnen besser mit der aufnehmenden Gesellschaft generell auseinandersetzen können. Häußermann und Siebel weisen darauf hin, dass sich diese Diskussion insgesamt auflöst, wenn man die Unterscheidung von ethnischer und sozioökonomischer Differenzierung im Auge behält. Sie führen aus, dass das Argument, die Strukturen in ethnisch homogenen Zuwanderervierteln seien benachteiligend, durchaus zutreffend sei – allerdings sei dies eine Folge schlechter struktureller Voraussetzungen und keine Folge ethnischer Segregation, die auf die Entscheidungen der MigrantInnen zurückzuführen wären (Häußermann und Siebel 2ŪŪ2, Ű2ȹff.). So entscheidet sich kaum eine Person oder eine Familie dafür, in strukturell benachteiligten Gebieten zu wohnen; vielmehr beugen sich Zugewanderte meist bestimmten rassistischen Diskriminierungen des Wohnungsmarktes. Ethnische Segregation ist daher (meist) nicht freiwilliger Natur, sondern Folge struktureller Bedingungen der Aufnahmegesellschaft selbst. Damit wird aus der Frage einer (angeblich individuell gewollten) ethnischen Segregation eine soziostrukturelle Angelegenheit: Wenn MigrantInnen kaum eine andere Wahl haben als sich in benachteiligten Gebieten anzusiedeln und diese Quartiere in vielfältiger Weise schlechter ausgestattet sind als andere nahe gelegene Wohngebiete, so handelt es sich
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hierbei eher um eine Frage der politischen Verteilung und diskriminierender gesellschaftlicher Strukturen. Für die Frage, wie mit dem Aspekt Raum umgegangen wird, zeigt sich in dieser Diskussion, dass meist von Effekten räumlicher Nähe ausgegangen wird (vgl. auch Petendra 2ŪŪ4, 54). KritikerInnen nehmen dabei an, dass gemischte Wohngebiete zu sozialen Kontakten zwischen Zugewanderten und Autochthonen führen würden („Kontakthypothese“); die BefürworterInnen wiederum führen ins Treffen, dass gemischt bewohnte Gebiete Konflikte zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen begünstigen („Konflikthypothese“). Mit Verweis auf die Überlegungen von Georg Simmelś6 lässt sich dazu jedoch sagen, dass räumliche Nähe weder auf die eine noch auf die andere Weise Auslöser für soziale Kontakte ist. Hier werden im Diskurs vielmehr unterschiedliche Dimensionen des Raums miteinander vermischt und dem Behälterraum-Konzept unhinterfragt das Wort geredet. Auch Häußermann und Siebel weisen daher zu Recht darauf hin, dass geographische Nähe keinesfalls kulturelle oder persönliche Nähe erzeugt (Häußermann und Siebel 2ŪŪ2). Es müssen also andere Daten herangezogen werden, um zu klären, mit wem die EinwohnerInnen tatsächlich in Kontakt stehen und welchen Stellenwert dabei NachbarInnen einnehmen. Die Frage der ethnischen Segregation erscheint auch in einem anderen Licht, wenn man die Bedeutungszunahme des Lokalen in seiner globalen Einbettung mit berücksichtigt. Helmuth Berking (Berking 2ŪŪŰb) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Handlungszusammenhänge vieler Gruppen heute nur mehr als Komposition überregionaler und grenzüberschreitender Entwicklungen bei gleichzeitiger Einbettung in lokale Strukturen zu verstehen sind. Diese Sichtweise ist jedoch mit der theoretischen Fokussierung auf (Wohn-)Segregation kaum mehr in Einklang zu bringen, da in Beiträgen wie dem von Berking die Heterogenität von Lebensbezügen hervorgehoben wird – ohne dass sie dadurch beliebig werden würden. Die Vielfältigkeit der Lebensrealitäten wird auch in Diskursen der kulturellen Pluralisierung hervorgehoben. Dass diese Vielfalt nicht unbedingt in eine Gleichheit übergeführt werden muss, um soziale Ungleichheit zu überwinden, steht in dieser Denkrichtung im Vordergrund (vgl. etwa Glazer ūųųű; Grosfoguel und Cordero-Guzmán ūųų8). Faktoren wie die unterschiedlichen Wanderungsverläufe ethnischer Gruppen sowie die Tatsache anhaltender Diskriminierung in der Aufnahmegesellschaft sollten – so die Argumentation von dieser Seite – in den Analysen von Eingliederungsprozessen mit berückś6Ȳ
Genauere Ausführungen zu seinen Arbeiten finden sich in Kapitel Ř.Ř.1.Ř.
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sichtigt werden. Von einem Integrationsverlauf auszugehen, der für alle Gruppierungen über historische Umwälzungen hinweg einheitlich verläuft, ist auf Basis dieser Argumentation kaum mehr möglich. Die soeben diskutierten Einwände an Konzepten der Segregationsforschung gingen auch an der deutschsprachigen soziologischen Migrationsdebatte nicht spurlos vorbei. So präzisiert Hartmut Esser (Esser 2ŪŪū, űū), dass er unter Assimilation nicht Unterschiedslosigkeit verstehe, sondern eine „Angleichung“ ethnischer Gruppen über Generationen hinweg. Damit berücksichtigt er auch, dass die Aufnahmegesellschaft ebenfalls in sich heterogen ist. Assimilation bedeutet für Esser daher (Esser 2ŪŪū, ű2), dass Einheimische und Zugewanderte in gleicher Weise an den Rechten und Ressourcen teilhaben. Allerdings können dennoch sozialen Ungleichheiten weiter bestehen bleiben, ebenso wie kulturelle Pluralität der MigrantInnen. In diesem neueren Text führt Esser zudem aus, dass die emotionale Unterstützung des Aufnahmelandes nicht unbedingt zu einer ebensolchen Distanzierung vom Herkunftsland führen muss. Damit öffnet Esser seinen Assimilationsbegriff im Vergleich zu seinen früheren Texten an bestimmten Stellen, bleibt jedoch in anderen Bereichen bei seinen bereits skizzierten Annahmen. Dies betrifft insbesondere die These, dass Zugewanderte ihren Spracherwerb und den ihrer Kinder sowie soziale Beziehungen vor dem Hintergrund der Ressourcenknappheit vollziehen müsstenś7. So geht Esser (Esser 2ŪŪŰb, 543) davon aus, dass der Erwerb der Zweitsprache insbesondere von folgenden Faktoren beeinflusst wird: den Bedingungen der Familien- und Migrationsbiographie, dem ethnischen Kontext und dem Kontakt mit der Zweitsprache bereits im Herkunftsland. Muttersprachlichen Kompetenzen misst Esser keine Bedeutung bei der Erlernung der Zweitsprache zu. Die Bilingualität sieht Esser insofern als problematisch an, als „die meisten Bedingungen für den Zweitspracherwerb einerseits und für die Beibehaltung der Muttersprache andererseits gegenläufig sind“ (ebd., 543). Daher gehe die Erhaltung der Muttersprache in der Regel nur mit Einbußen in der Erlernung der Zweitsprache einher. Für die Integration in Schule und Arbeitsmarkt sieht Esser auf Grundlage vorliegender internationaler Untersuchungen zu Bilingualität ebenfalls keine bedeutenden VorteileśŞ.
ś7Ȳ Ausgenommen sind davon höchstens die materiell und symbolisch bestausgestatteten mobilen Personen. śŞȲ Mit Ausnahme eines hohen Verwendungswertes der Muttersprache und bei gleichzeitig hohem generellen Humankapital.
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Allerdings wird auch diese zunächst einmal konsistente Argumentation von neueren Forschungsergebnissen infrage gestellt: So zeigen Untersuchungen zum Spracherwerb, dass jene Kinder mit Migrationshintergrund beim Erwerb der zweiten Sprache im Vorteil sind, die die Sprache des Herkunftslandes ihrer Eltern sehr gut beherrschen. Die Untersuchung von Katharina Brizi° (Brizi° 2ŪŪ5) hat etwa deutlich gemacht, dass die Problematik bereits im Kontext des Spracherwerbs der Eltern begründet ist: Sie hat türkische Zuwanderer und Zuwanderinnen in Österreich und deren Nachkommen in Bezug auf deren Spracherwerb vergleichend mit anderen Personen mit Migrationshintergrund untersucht. Hierbei zeigt sich, dass die Sprachgeschichte im Herkunftsland der Eltern immense Auswirkungen auf die Folgegenerationen hat: Die überhastet durchgeführten Neuerungen im Türkischen im Zuge einer umfassenden Sprachreform in den ūų2Ūer und ūų3Ūer Jahren haben gerade bei den ländlichen, bildungsfernen Bevölkerungsgruppen zu einem Sprachverlust geführt, der bis heute auf ihre Nachkommen wirkt (vgl. Brizi° 2ŪŪ5, ų4ȹff.). Hinzu kommt, dass insbesondere Personen, in deren Familien Minderheitensprachen gesprochen wurden oder in deren Familien Sprachwechsel (etwa vom Kurdischen zum Türkischen) stattgefunden haben, ebenfalls eher mit Sprachschwierigkeiten schon in der „Muttersprache“ zu kämpfen haben (vgl. ebd., 3Ūųȹff.). Durch die erschwerte Beherrschung der Muttersprache haben diese Kinder auch keine stabile Grundlage, auf der sie aufbauend weitere Sprachen (wie das Deutsche) erlernen könnten. Dabei ist zu beachten, dass die Zuwanderung aus der Türkei nach Österreich zum überwiegenden Teil aus exakt jenen ländlichen, unterprivilegierten Regionen stammt, die besonders von dieser Sprachverarmung betroffen sind und in denen viele Personen kaum Schulausbildung genossen haben. Dies trifft auch auf viele Eltern in der empirischen Untersuchung zu, die Brizi° analysiert hat. Die Studie von Katharina Brizi° legt damit nahe, dass es wenig Sinn macht, die Erlernung des Deutschen einzufordern, ohne nicht gleichzeitig Unterricht in jener Sprache anzubieten, die innerhalb der Familien gesprochen wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Eltern selbst oft Sprachwechsel hinter sich haben und daher das Türkische nur fehlerhaft sprechen. Hier wird deutlich, dass der Spracherwerb anscheinend nicht nach Rational Choice-kompatiblen Grundsätzen verläuft, wie das andere Argumentationen nahe legen. Die These einer Vergeudung von Ressourcen beim Erlernen der Muttersprache ist somit aufgrund derartiger soziolinguistischer Untersuchungen ernsthaft in Zweifel zu ziehen.
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Integrations- und Multikulturalismusforschung
Adrian Favell (Favell 2ŪŪ5) hat unlängst zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff Integration sowohl in der politischen als auch in der akademischen Debatte eine große Bandbreite an Inhalten aufweist. Von einwanderungspolitischen Maßnahmen per se bis hin zu Schritten, die den langen Prozess nach dem Zuzug beschreiben, lässt sich hier eine lange Liste von Inhalten zusammenstellen, die unter diesem Begriff abgehandelt wird. Dabei verdient der Umstand Beachtung, wann und warum jeweils derartige Listen mit dem Titel „Integration“ zusammengestellt werden (Favell 2ŪŪ5, 42): In den letzten Jahren haben Begriffe wie Inklusion oder Partizipation eine erstaunliche Karriere gemacht – Bezeichnungen, mit denen wiederum jeweils thematische Teilbereiche angesprochen werden, die zuvor unter dem Integrationstitel verhandelt wurde. Diese in der Debatte neueren Begriffe haben den Vorteil, weniger polarisierend und nicht durch die langjährigen Diskussionen derart aufgeladen zu sein; andererseits sind sie weit davon entfernt, die Tragweite an Bedeutungen mitzutransportieren, die dem Integrationsbegriff anhaftet. Außerdem rufen sie auch nicht das Endziel einer gesamten, in ihren Einzelteilen integrierten Gesellschaft hervor. Favell argumentiert, dass es diese Mischung aus einer Unmenge von Aspekten und einer umfassenden Vision gesellschaftlicher Entwicklung sei, die zur Popularität des Begriffs Integration sowohl auf politischer als auch akademischer Ebene beigetragen haben. Außerdem haben die Maßnahmen und Prozesse, die unter dem Begriff versammelt werden, alle miteinander gemein, dass sie von einem einzelnen nationalstaatlichen Akteur bewirkt werden können. Der Begriff Integration wird dabei nicht zuletzt von MigrantInnenvereinigungen und anderen ethnischen Gruppierungen verwendet, um ihrer Kritik an Rassismus und sozialem Ausschluss Ausdruck zu verleihen. Oft ist in diesem – wie auch im akademischen – Sprachgebrauch Integration mit dem Begriff der Assimilation gleichzusetzen. Von Assimilation zu sprechen wird in Europa jedoch üblicherweise vermieden, da biologistische Untertöne, die an nationalsozialistische Zeiten erinnern, nach wie vor zu Recht abschrecken. Dabei sollte der kritische Einwand gegen den Integrationsbegriff jedoch nicht weniger zählen: Laut Favell handelt es sich beim Integrationsbegriff keineswegs um einen politisch weniger aufgeladenen Ausdruck – möge er auf den ersten Blick auch ‚unschuldiger‘ wirken (ebd., 45). Er führt die europäische Vorliebe für den Integrationsbegriff auf eine Neigung zur historischen Kontinuität, die durch die Immigrationswellen nach dem Zweiten Weltkrieg infrage gestellt wird, zurück. Die lange Geschichte der Nationenwerdung europäi-
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
scher Staaten klingt hier immer noch nach, und Integration bedeutet in diesem Kontext, dass nationale und institutionelle Strukturen stark genug sind, um unterschiedlichste Populationen und Gruppierungen zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzubringen. Der Staat wird also als Akteur imaginiert, der das Potential dazu hat, Neuankömmlinge zu „unauffälligen“ StaatsbürgerInnen zu machen. Die dahinterliegende europäische Staatengeschichte unterscheidet sich an diesem Punkt deutlich von den USA und Kanada: Letztere waren in ihrer Entstehungsgeschichte als moderne Staaten auf Zuwanderung angewiesen und konnten sich erst durch diesen Zuzug als „moderne“ Nationalstaaten konstituieren. In Europa hingegen mussten sich vergleichsweise kleine Nationalstaaten in unmittelbarer Nähe voneinander (auch ideologisch) abgrenzen und ihre jeweils eigene nationale Identität konstruieren. Dabei spielte Einwanderung historisch keine Rolle für die europäische Nationenwerdung, da im Mittelpunkt dieser nationalen Fiktionen die spezifische Ausformung des Territoriums, die permanente Bestätigung des Einheimischen versus des Fremden und die kulturelle Einzigartigkeit der nationalen Bevölkerung standen. Es ist auch wenig überraschend, dass diese historischen Unterschiede in der Migrationspolitik bis heute nachwirken, da sich noch immer die Frage stellt, welche Stellung MigrantInnen in einem derart gewachsenen nationalen Gefüge einnehmen können, so sie nicht das Fremde und Andersartige repräsentieren. Für die europäische Integrationsforschung sieht Favell das Problem, dass the incentive structures of policy thinking and comparative research on the integration of immigrants in Europe are still very much set by the imperatives of the singular nation-state-society, which recognizes this and only this as the fundamental problematic at stake here. (Favell 2ŪŪ5, 4Ű)
Aus einer raumsensiblen Forschungsperspektive heraus wird somit deutlich, mit welchen (impliziten) Raumannahmen hier operiert wird: Die Orientierung der international vergleichenden Integrationsforschung geht somit von einem nationalstaatlichen Containerdenken aus. Damit stellt sich diese Forschung in den Dienst des Nationalstaats, indem seine gestaltende Kraft dargestellt und somit untermauert wird. Forschungsagenden, die vom nationalstaatlichen Containerdenken abweichen, haben es dagegen unvergleichlich schwerer, Finanzierungsquellen zu finden. Demgegenüber werden SozialwissenschaftlerInnen, die ihre Arbeit dem herrschenden Container-Paradigma unterordnen, für ihre Arbeit belohnt, indem sie öffentliche Anerkennung erfahren
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und ihre Studien weiter finanziert werden. Hierzu bemerkt Favell, dass es durchaus zu Erfahrungen der „Disziplinierung“ als ForscherIn kommen kann, wenn man derart verstrickt ist in öffentliche Debatten und Interaktionen mit staatlichen Geldgebern (ebd., 4ű). Wie sehr die migrationsspezifischen Debatten dabei national verhaftet sind, zeigt ein kurzer Blick auf die typischen Schlagwörter, welche in den unterschiedlichen europäischen Ländern verwendet werden: Während in Frankreich von „Citoyenneté“ und Republikanismus die Rede ist, dominieren in Großbritannien die Ausdrücke der race relations und des Multikulturalismus. Favell (ebd.) weist darauf hin, dass diese Begriffe in Diskurse eingebettet sind, die lang existierende Narrationen reflektieren und reproduzieren, was das „Wesen“ einer Nation und ihrer Zukunft betrifft. Dabei haben jedoch gerade die Forschungsprogramme der Europäischen Union und der zunehmende internationale Austausch zwischen SozialwissenschaftlerInnen dazu beigetragen, dass es ein mehr oder minder gründliches gegenseitiges Verstehen der jeweils eingesetzten Konzepte und Begrifflichkeiten gibt. Dies ist auch notwendig, da internationale Forschung meist nur dann gefördert wird, wenn vergleichend gearbeitet wird. Favell stellt zum Effekt dieser forschungspolitischen Ausrichtungen die These auf, dass dies dazu geführt habe, in nationalen Typen zu denken. So konnte die Eigenart eines jeden Nationalstaats reproduziert werden, ohne durch den Vergleich mit anderen Ländern infrage gestellt zu werden. Nach Ansicht von Favell wird dadurch jedoch nur die ideologische Fiktion der einzelnen Nationalstaaten reproduziert und gestärkt anstatt sie mit wissenschaftlichen Methoden zu hinterfragen (ebd., 4ų). Eine weitere Schwierigkeit der international vergleichenden Integrationsforschung liegt darin, dass häufig Skalen erstellt werden, anhand derer in der Folge unterschiedliche Parameter gemessen werden. Favell bringt hier das Beispiel der multikulturellen Integration, die auf den ersten Blick etwa in Frankreich und in Großbritannien weit fortgeschritten erscheint. Bei komparativer Forschung werden derartige Untersuchungsergebnisse meist direkt in Politikempfehlungen für jene europäischen Länder umgemünzt, die auf einer Integrationsskala nicht derart gut abschneiden wie die beiden genannten Länder. Erst bei einer tiefer gehenden Analyse der jeweiligen Rahmenbedingungen multikultureller Integration zeigt sich jedoch, welche höchst unterschiedlichen Faktoren für das vermeintlich wünschenswerte Ergebnis mit verantwortlich sind: Für Frankreich gilt es etwa zu berücksichtigen, dass es Neuankömmlingen große Leistungen abverlangt, was ihre Eingliederung anlangt; England wiederum sticht zwar durch seine multikulturellen
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Lebensformenś9, die jedoch mit durch die härtesten Grenzkontrollen in Europa einhergehen. Favell (ebd., 5ū) meint dazu, dass diese paradox erscheinenden Ergebnisse damit zu erklären sind, dass beide genannten Länder das Prinzip des „Multikulturalismus-in-einer-Nation“ verfolgen: Das Ergebnis ist ein multikultureller Nationalismus, der nur jene Vielfalt zulässt, die mit der eigenen Version kosmopolitischer Kultur kompatibel ist. Diese Länder erscheinen dann als offen und bunt, obwohl sie gleichzeitig erstaunlich intolerant gegenüber spezifischen kulturellen Unterschieden sind. Eine andere Schattenseite zeigt sich auch darin, dass in diesen Ländern trotz ihrer multikulturellen Ausprägungen starke fremdenfeindliche Tendenzen registriert werden. Daher – und diese Schlussfolgerung ist für die hier verfolgte Argumentation wichtig – kommt Favell (ebd., 4ų) zu dem Schluss: There are clear costs involved in the stubborn maintenance of the fiction of exclusive nation-state agency over the multicultural aspects of these locations.
Neben diesen Kritikpunkten ist auch zu bemerken, dass integrationsspezifische Studien kaum von den Wahrnehmungen der Untersuchten selbst ausgehen. Meist fokussieren diese Studien ausschließlich auf politische Maßnahmen oder institutionelle Rahmenbedingungen, kaum jedoch auf die Erfahrungen der MigrantInnen selbst. Favell (ebd., 52) schlägt daher vor, Surveys und Mikrozensusdaten auch dahin gehend anzulegen bzw. zu nutzen, Werte, Einstellungen, Diskurse und soziales Verhalten in Indizes zur Integration mit einzubeziehen. Dieser Vorschlag ist aus methodologischer Sicht jedoch fragwürdig, da sich bekanntermaßen Diskurse ebenso wenig abfragen lassen wie soziales Handeln – sondern nur Rekonstruktionen hiervon ausschnittweise in quantitativen Fragebögen eingeholt werden können. Aufschlussreicher sind hier jene Kritikpunkte, die Favell zu komparativer internationaler Integrationsforschung vorbringt, wenn er sich mit der Vergleichbarkeit der Daten auseinandersetzt. Dabei bezieht er sich vor allem auf die jährlichen OECD-Berichte SOPEMI, wobei er ausführt, der Bericht sei „notoriously hampered by the fact that the expert respondents each figures for its own country based on different national means of data-gathering“ (vgl. Favell ebd., 53). Diese Schwierigkeit bezieht sich dabei nicht nur auf die Migrationsforschung, sondern ist wohlbekanntes Faktum in der international vergleichenden Sozialwissenschaft: Meist muss hier auf Datenbestände zurückgegriffen werden, ś9Ȳ Eine Einschätzung, die jedoch spätestens seit den Anschlägen vom Juli Ř00ś auch in der sozialwissenschaftlichen Debatte nicht mehr unumstritten ist.
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die nicht länderübergreifend nach denselben Kriterien für wissenschaftliche Zwecke erstellt werden, zumal jährliche Erhebungen kaum in allen gesellschaftlich relevanten Belangen durchgeführt werden. Daher behelfen sich die hiermit befassten SozialforscherInnen mit der Sammlung administrativer Daten, die jedoch jeweils aufgrund der Logik der erfassenden Verwaltungsinstitution strukturiert sind. Außerdem liegen diesen Daten meist national unterschiedliche Definitionen der interessierenden Gruppierungen vor. Für die Migrationsforschung beginnt die Problematik bei grundlegenden Begrifflichkeiten und dem damit verbundenen Datenmaterial: Wenn es um Integration geht, stellt sich etwa die Frage, wie die Grundgesamtheit zu definieren ist, die erforscht werden soll: Nationale Zensusdaten haben da bekanntlich ihre jeweils eigene Logik, in welche Untergruppen Personen mit Migrationshintergrund eingeteilt und somit erfasst werden (vgl. zu dieser Problematik etwa Faßmann u.ȹa., 2ŪŪų). Dies kann etwa die legale ausländische Wohnbevölkerung sein oder ImmigrantInnen, illegale bzw. undokumentierte AusländerInnen, Drittstaatsangehörige, ethnische Minderheiten, neue oder naturalisierte StaatsbürgerInnen oder racial minorities (vgl. Favell ebd., 55). Nun ließe sich als Lösung vorschlagen, MigrantInnen als Untersuchungsgruppe als AusländerInnen vorzugeben, die im Land leben, jedoch StaatsbürgerInnen anderer Staaten sind. Dies bringt jedoch erwartungsgemäß eine Fülle von Problemen mit sich – etwa die Situation, die für Frankreich wohlbekannt ist, wonach mit der Einbürgerung ein migrantischer Hintergrund in administrativen Erhebungen nicht mehr erhoben wird (vgl. etwa Schnapper et al. 2ŪŪ3). Fragestellungen nach dem Integrationsverlauf nach einer Einbürgerung sind somit mit einem massiven Datenproblem konfrontiert; andererseits wird hier argumentiert, dass es auch als positiv angesehen werden kann, keine Unterteilungen in StaatsbürgerInnen unterschiedlicher Klassen über Datenerhebungen vorzunehmen, um diskriminierende Etikettierungen zu vermeiden. Allerdings erschwert dies die soziologische Analyse von sozialer Ungleichheit erheblich. Daher lässt sich auch kein wissenschaftliches ExpertInnenwissen auf Basis von Zensusdaten zur Verfügung stellen, auf dem etwa integrationspolitische Maßnahmen ansetzen könnten (Kymlicka ūųų5). Ist die Frage nach der Definition der Untersuchungsgruppe einmal in einem Forschungskontext geklärt, stellt sich bereits die nächste Schwierigkeit: Jene der Vergleichsgruppe. Im Vergleich zu welcher Gruppe soll die Integration der ImmigrantInnen bemessen werdenȺ? An der gesamten Wohnbevölkerung eines NationalstaatsȺ? Einer RegionȺ? Sollen die MigrantInnen nur mit der autochthonen Bevölkerung verglichen werdenȺ? Und: Wie weit zurück soll man in den Generationen gehen, um festzustellen, ob eine Person einen
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
Migrationshintergrund in der Familie aufweist oder nichtȺ? Auch hier zeigt sich wiederum die bereits diskutierte Problematik, wonach sich SozialwissenschaftlerInnen meist mit administrativen Daten behelfen müssen und aus diesen heraus ihre Untersuchungseinheiten bilden. Auch in diesem Punkt ist es wichtig festzuhalten, dass Forschungsanlagen stark nach den Traditionen des jeweiligen Nationalstaats ausgerichtet sind, zumal diese historische Entwicklung ebenso das Datenmaterial mit geprägt hat. Aufgrund der genannten Umstände ist das ideologische Konzept des untersuchten Nationalstaats in die Fundamente derartiger Studien eingelassen (vgl. Favell 2ŪŪ5, 5Ű). Dieses Konzept beinhaltet auch die Annahme, dass die analysierte Gesellschaft in einem einzigen nationalstaatlichen Container gefasst ist. Für ein reflektiertes wissenschaftliches Vorgehen ist es daher unabdingbar, sich dieser Prämissen, die bereits im Datenmaterial verborgen sind, bewusst zu sein, um die sich daraus ableitenden Auswirkungen auf die Ergebnisse der Untersuchung einschätzen zu können. Andernfalls bestätigen Untersuchungen fälschlicherweise die ideologisch gefärbten Annahmen über einen Nationalstaat und sein Integrationspotential, anstatt dies auf empirischer Basis so unvoreingenommen wie möglich zu untersuchen. Allerdings finden sich momentan noch wenige Untersuchungen, die mit Zensusdaten o.ȹä. arbeiten und die sich derart mit der Qualität ihrer Daten in der hier beschriebenen Weise auseinandersetzen (für Ausnahmen zu dazu siehe etwa die Beiträge in den Sammelbänden von Fassmann et al., 2ŪŪų und Heckmann et al. 2ŪŪ3). Vielmehr lässt sich eine andere Strategie in einem Gutteil der einschlägigen Studien identifizieren, wie Favell ausführt (ebd., 5Ű): Um den Spagat zwischen einer fortwährenden öffentlichen Stabilisierung des Bildes homogener Nationalstaaten und dem Idealismus kosmopolitischen Multikulturalismus zu schaffen, argumentieren ExpertInnen, dass europäische Länder zu Einwanderungsländern werden. Gerade in EU-Mitgliedsländern, die sich kaum als Immigrationsdestinationen sahen und die überwiegend von rechtsgerichteten Regierungen geführt wurden bzw. werden, haben sich ForscherInnen zunehmend in diese Richtung öffentlich geäußert. Bei einem Vergleich der national verfügbaren Daten zeigt sich für die Bundesrepublik im Gegensatz zu Frankreich, dass auch detaillierte Informationen bezüglich nationaler Herkunft, Sprache, Identität oder Teilhabe verfügbar sind, wie zum Beispiel im sozioökonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaft (vgl. Favell 2ŪŪ5, 5ű). Dennoch entkommen auch bundesdeutsche ForscherInnen kaum der nationalstaatlich dominanten Ideologie, wenn es um die Form der Integration geht, die sozialwissenschaftlich formu-
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liert und gleichzeitig als politisches Ziel verfolgt wird. Favell bringt hierfür folgendes Beispiel: German research, however, does not escape the pervasively nation-centred frame which dominates its political debates. Negative evidence of non-integration – such as ethnic concentration or the failure of second and third generations to speak German – tends to get constructed as evidence of segregation or marginalization, in contrast with more successful state-centred integration or assimilation. These close typologies of immigrant trajectories – which reinforce the idea of full national integration as the ideal – can be found in research going on in all kinds of countries. (Favell 2ŪŪ5, 58)
Favell legt der akademischen Forschung daher nahe, sich selbst kritischer zu hinterfragen, was die Analyse der – seiner Einschätzung nach relativ kleinen – Immigrantenpopulationen in Westeuropa angeht. WissenschaftlerInnen sollten sich nicht im nationalstaatlichen Projekt der Imaginierung einheitlicher westlicher „Kulturen“ einspannen lassen, was wiederum einen erhöhten Grad an Reflexion des wissenschaftlichen Vorgehens erfordert, um die beeinflussenden Faktoren der eigenen intellektuellen Arbeit besser in Rechnung zu stellen (Favell 2ŪŪ5, ŰŪ). Wie dies zu bewerkstelligen sei – gerade in Bezug auf die Erforschung von Integration – zeigt er in seinem Text kurz auf: Hierzu diskutiert er neuere Erkenntnisse aus der Transnationalismusforschung, wobei jedoch in seiner Darstellung nicht klar wird, wie dieser Forschungsansatz tatsächlich zu einem höheren Grad der Reflexion im wissenschaftlichen Handeln beiträgt. Vielmehr erscheint die Transnationalismusforschung60 in Favells Abhandlung hauptsächlich als eine Zusammenschau diverser Analyseergebnisse im Sinne einer Alternative zu herkömmlichen Forschungsansätzen der Integrationsforschung (ebd., ŰŪ). Derartige Ansätze, die versuchen, das Thema der Integration unabhängig von nationalstaatlichen Ideologien anzugehen, sind jedoch in der einschlägigen Forschungsszene eindeutig in der Minderheit. Insgesamt stellt sich für diesen Forschungsbereich also die Frage, wie es gelingen könnte, aus einer Epistemologie auszusteigen, die von der nationalstaatlichen Idee geprägt ist – ohne zu leugnen, dass der Nationalstaat eine Form der Organisation darstellt, die von weitreichender Bedeutung ist. Trotz der hier formulierten Kritik ist es jedoch wichtig, den enormen Beitrag zu sehen, den die Migrationsforschung zum Thema Integration geliefert 60Ȳ Zu einer eingehenden Diskussion dieses Forschungsansatzes siehe in Kapitel ř.ř der vorliegenden Arbeit.
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
hat. Nur auf Basis dieser wissenschaftlichen Arbeiten konnte deutlich gemacht werden, wie Zuwanderer und Zuwanderinnen sowie ihre Nachkommen nach wie vor strukturell in der Teilhabe an Bildung, Arbeitsmarkt, im Wohnwesen oder dem Gesundheitssystem benachteiligt werden. Es ist der Integrationsforschung zu verdanken, dass wir über die (wenigen) existierenden Daten verfügen, um aufzuzeigen, mit welchen Hindernissen MigrantInnen und deren Nachkommen in heutigen Gesellschaften zu kämpfen haben. Dies ist umso wichtiger, als Zuwanderung ein bleibendes Merkmal sowohl der USamerikanischen als auch der europäischen Gesellschaften sein wird. Auf diesem Gebiet wird es weiterhin notwendig sein, dass die Sozialwissenschaften interdisziplinär arbeiten, um Vor- und Fehlurteilen entgegen zu wirken – sei es nun in der politischen oder öffentlichen Debatte. Sowohl bei Konzeptionen der Integration als auch des Multikulturalismus ist zu bemerken, dass diese Prozesse hauptsächlich unter der Vorannahme operieren, dass Nationalstaaten als geschlossene Container sozialen Handelns funktionieren. Stephen Castles (Castles 2ŪŪŪ) bemerkt dazu, dass nicht alle Nationalstaaten in den letzten Jahren an der Vorstellung der graduellen Assimilation (oder der vollständigen Integration und damit einer Angleichung an die autochthone Bevölkerung) festgehalten haben: So gibt es etwa in den USA, Kanada und Australien Initiativen, die auf eine pluralistische Politik abzielten. Dazu trug vor allem die Feststellung bei, dass MigrantInnen ethnische Gemeinschaften formen, d.ȹh. sich nicht assimilieren, ihre Muttersprache behalten und sich in bestimmten Berufen sowie an bestimmten Wohnorten konzentrieren (Castles 2ŪŪŪ, ū3ű). Doch wodurch zeichnet sich nun ein pluralistischer Ansatz ausȺ? Castles formuliert die Unterscheidung zu assimilationstheoretischen Ansätzen wie folgt: Ethnokultureller Pluralismus geht davon aus, dass ethnische Gemeinschaften sich nicht im Nationalstaat auflösen und unsichtbar werden. Stattdessen verfügen ihre Angehörigen über dieselben Rechte, wie die seit Generationen ansässige Bevölkerung. Meist wird von ethnischen Gemeinschaften jedoch verlangt, dass ihr Verhalten mit grundsätzlichen Werten des Landes, in dem sie leben, übereinstimmen (Castles 2ŪŪŪ, ū38ȹff.). Im Unterschied zu Ländern, die einem assimilativen Modell folgen, werden im pluralistischen Ansatz jene, die sich legal permanent im Land aufhalten, darin unterstützt, auch die Staatsbürgerschaft anzunehmen, sowie ihre Familien nachzuholen. Dabei wird der pluralistische Ansatz quasi auch zum Selbstläufer: Wenn Politiken darauf abzielen, Zugewanderte möglichst rasch mit umfassenden Rechten auszustatten, unterstützt dies wiederum die Durchführung pluralistischer Ansätze, zumal aus MigrantInnen WählerInnen werden. Derartige politische Ansätze sind dabei als direkte Reaktion auf
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das offensichtliche Scheitern assimilativer Politik etwa in den USA zu sehen (vgl. Castles 2ŪŪŪ, ū3ų). Stephen Castles geht hier noch einen Schritt weiter und unterscheidet zwei pluralistische Ansätze voneinander: Einen „Laissez-faire“-Ansatz (Castles ebd.), der vor allem in den USA praktiziert wird und sich dadurch auszeichnet, dass Differenz zwar akzeptiert wird, es jedoch gleichzeitig nicht als die Rolle des Staates angesehen wird, Zugewanderte etwa bei der Wohnungssuche zu unterstützen bzw. ethnische Gemeinschaften zu fördern. Die zweite Variante umfasst multikulturelle Ansätze, die sich explizit mit der Frage auseinandersetzen, wie nationale Strukturen und eine nationale Identität für pluralistische Vorstellungen Platz machen können. Dies setzt voraus, dass die Mehrheitsgesellschaft kulturelle Vielfalt akzeptiert, ja gar als förderungswürdig ansieht. Derartige politische Ansätze identifiziert Stephen Castles in Schweden, Kanada und Australien, wobei hier die Rolle des Wohlfahrtsstaates maßgeblich ist (vgl. ebd.). In der politischen Umsetzung sind pluralistische Ansätze nicht unumstritten: Seit Mitte der ūųųŪer Jahre bewegen sich Kanada und Australien wiederum von ihren multikulturell orientierten Maßnahmen weg und auch in Schweden wurde dieser Ansatz für soziale Probleme verantwortlich gesehen (vgl. Castles 2ŪŪŪ, ū4Ū). Multikulturelle Ansätze haben aber nicht nur eine politische Bedeutung, sondern haben auch den sozialwissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte stark geprägt. In dieser Auseinandersetzung sind insbesondere die Arbeiten von Charles Taylor (Taylor ūųų2) und Will Kymlicka (Kymlicka ūųų5) zu nennen, was die diesbezügliche Theoriebildung anlangt. In der einschlägigen Diskussion wird an multikulturellen bzw. pluralistischen Ansätzen seit Jahren kritisiert, dass sie Separatismus legitimieren und somit Werte der Moderne, insbesondere der Säkularisierung und der Geschlechtergerechtigkeit, gefährden (zur Kritik an dem Ansatz siehe etwa Grillo 2ŪŪű). Andreas Reckwitz (Reckwitz 2ŪŪū) hat etwa überzeugend herausgearbeitet, dass den Fassungen des Multikulturalismus von Taylor als auch von Kymlicka jeweils ein essentialistischer Kulturbegriff zugrunde liegt: Personengruppen wird eine bestimmte „Kultur“ zugeschrieben und somit Gruppen voneinander präzise entlang kultureller (bei Kymlicka bedeutet dies auch entlang territorialer) Grenzen abgezirkelt. Reckwitz argumentiert daher für ein neues Verständnis von Multikulturalismus, in dem ein bedeutungsorientierter Kulturbegriff grundlegend ist. Dies ermöglicht es, Personen bzw. Gruppen nicht ganzheitlich einer „Kultur“ unterzuordnen, sondern erlaubt eine situative, kontextbezogene Analyse. Somit können dieselben AkteurInnen unterschiedliche
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Codes und lebensweltliche Wissensvorräte aktivieren, was zu dem Modell „kultureller Interferenzen“ (Reckwitz 2ŪŪū) von Multikulturalismus führt. In derartigen neueren Beiträgen zur Frage gesellschaftlicher Entwicklung unter den Bedingungen anhaltender Migration werden somit zunehmend Vorstellungen von „Super-diversity“ (Vertovec 2ŪŪű), Hybridität und MelangeEffekten (Pieterse ūųų5; Pieterse ūųų8) verhandelt. Hiermit wird in der laufenden wissenschaftlichen Diskussion sichtbar, dass eine Ausdifferenzierung hin zu unterschiedlichen Formen der Wanderung und Sesshaftigkeit von Personen mit Migrationshintergrund stattfindet. In diesem Zusammenhang der Ausdifferenzierung theoretischer Ansätze in der Migrationsforschung ist der Bereich der Transnationalismusforschung zu sehen, der im folgenden Kapitel betrachtet wird.
3.3
Die Thematisierung von Raum in der neueren Migrationsforschung
Empirische Migrationsforschung hat spätestens seit den ūų8Ūer Jahren deutlich gezeigt, dass das Alltagsleben von MigrantInnen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen nicht mehr auf einen Nationalstaat beschränkt ist. Viele MigrationsforscherInnen kamen daher zu dem Schluss, dass es neue theoretische Konzepte bräuchte, um diese Formen der Lebensführung zu verstehen. Transnationale Migrationsforschung hat in den letzten Jahren somit einerseits eine Fülle an interessantem Datenmaterial hervorgebracht und lieferte wichtige Anregungen für die Debatte rund um die nationalstaatliche Prägung sozialwissenschaftlicher Analysen. Wichtige Beiträge bezüglich einer Reflexion von Raumkonzepten wurden im Zuge dieser Überlegungen vor allem von Ayse Caglar, Nina Glick Schiller (zuletzt haben diese beiden Wissenschaftlerinnen 2ŪūŪ einen Sammelband diesbezüglich herausgebracht), Ludger Pries (Pries ūųųŰ; Pries 2ŪŪ5; Pries 2ŪŪ8) und Thomas Faist (Faist 2ŪŪŪc; Faist 2ŪŪū; Faist 2ŪŪ4) über diese Debatte in die Migrationsforschung eingebracht. Dennoch werden vermehrt auch einige theoretische wie methodologische Defizite der Transmigrationsforschung sichtbar.
ř.ř.ŗ
Die Anfänge transnationaler Migrationsforschung in den USA
In den vergangenen Jahren etablierte sich eine neue Sichtweise auf das Thema Migration: Gegen Ende des 2Ū. Jahrhunderts deuten sich quantitative wie qua-
ř.řȳDie Thematisierung von Raum in der neueren MigrationsforsĖung 1ř7 litative Veränderungen in Untersuchungen zum Migrationsverhalten an, die mit den bislang entwickelten Modellen analytisch nicht mehr fassbar sind – so die Argumentation der VertreterInnen einer transnationalen Migrationsforschung61. Um die Dynamik zu beschreiben, die sich aus diesen sozialen Veränderungen ergibt, wurde im Laufe der ūų8Ūer Jahre unter anderem eine neue Forschungsrichtung eingeschlagen, die unter dem Titel der transnationalen Migrationsforschung inzwischen eine Vielzahl von Ansätzen vereinigt. In den USA war die Transmigrationsforschung von der Analyse der sog. neuen ImmigrantInnengruppen geprägt, was sich noch immer auch in rezenteren Publikationen manifestiert. Mit dem transnationalen Konzept betonten SozialwissenschaftlerInnen ausdrücklich die vielschichtigen Beziehungen, die MigrantInnen mit ihrem Herkunfts- und Zielland verbinden, wodurch sich der Fokus der Fragestellungen in Richtung der Erforschung entstehender transnationaler sozialer Verbindungen verschob6Ř. Die Studien von Linda Basch, Nina Glick Schiller und Cristina Szanton Blanc haben zu einer breiten Debatte rund um Transmigration beigetragen. Diese Analysen beschäftigen sich mit ethnic communities in den Vereinigten Staaten, deren Mitglieder aus dem karibischen Raum, Haiti und den Philippinen nach New York emigriert sind. Diese Analysen haben gemein, dass transnationale Migration als ein gesellschaftliches Produkt des globalen kapitalistischen Wirtschaftssystems gesehen wird (vgl. beispielsweise Amit-Talai ūųųű, Basch, Glick Schiller et al. ūųų4). Dabei betonen Alejandro Portes, Luis Guarnizo und Patricia Landolt, dass es sich um globalisierte Handlungsstrategien nach dem bottom-up Prinzip handelt (Portes, Guarnizo et al. ūųųų). Diese sozialen Praktiken tragen nach Meinung dieser AutorInnen eine fast schon revolutionäre Kraft in sich: (the) potential of subverting one of the fundamental premises of capitalist globalization, namely that labor stays local, whereas capital ranges global (Portes et al. ūųųų, 22ű).
Einen Zugang zu Transmigration, der auf der Form der physischen Mobilität beruht, schlägt Ludger Pries vor: Transmigrants differ from emigrants and immigrants, and from return-migrants, just because they move back and forth between different places and develop their 61Ȳ
Für dieses Kapitel siehe auch Scheibelhofer (Scheibelhofer Ř001, řřȹff.). Zur Frage, ob es sich bei transnationaler Migration um ein empirisch neu auftretendes Phänomen handelt siehe Kapitel ř.1. 6ŘȲ
1řŞ
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
social space of everyday life, their work trajectories and biographical projects in this new and emerging configuration of social practices, symbols and artefacts that span different places. (Pries 2ŪŪūa, 2ū)
Diese Begriffsbestimmung ist eng verbunden mit einer Besonderheit der Studien, die bei Ludger Pries die Grundlage für diese Verallgemeinerungen darstellen: In seiner empirischen Forschung hat er sich vor allem mit der Transmigration zwischen USA und Mexiko beschäftigt, wobei in diesem Fall die physische permanente Mobilität zwischen den beiden Staaten hervorsticht. Der Vorteil einer solchen präzisen Beschränkung des Verständnisses transnationaler Migration liegt darin, dass sie relativ einfach zu beobachten und zu quantifizieren ist. Für manche Fragestellungen mag dies jedoch nicht das zentrale Anliegen sein – etwa wenn es um transnationale Räume geht, die nachhaltig über Informationsaustausch ohne permanente physische Mobilität entstehen. Dennoch können sich die Personen in zwei Nationalstaaten gleichzeitig als sozial präsent wahrnehmen und in das soziale Geschehen eingebunden sein. Die Debatte über die Verwendung des Begriffs des Transnationalen ist nach wie vor im Gange: Luis Guarnizo, Alejandro Portes und William Haller kritisieren etwa die Tendenz, jede Form des grenzüberschreitenden Austauschs als „transnational“ zu beschreiben, was sie am Fall von Geldtransfers, den sog. remittances deutlich machen (Guarnizo, Portes et al. 2ŪŪ3, ū2ū2). Sie schlagen vor, nur jene Phänomene als transnational zu bezeichnen, die einen regelmäßigen grenzüberschreitenden Austausch beinhalten. Ein weiterer, bislang ungelöster Kritikpunkt an der Transmigrationsforschung betrifft die Thematisierung des Nationalen: So wird in dem Diskurs einerseits die Beschränkung der Analyse auf einen Nationalstaat sowie die daraus hervorgehende Terminologie kritisiert; gleichzeitig ist das Nationale allein durch den Begriff bereits wieder in ein und derselben Weise starr mit Migration verbunden. Dazu ist zu sagen, dass es durchaus etwas für sich hat, von Nationalstaaten zu sprechen und deren Verbindung über transnationale Praktiken von Individuen oder im Kontext von Organisationen (vgl. hierzu auch Pries und Sezgin 2ŪūŪ). Für die MigrantInnen selbst spielen die sozialen Konstrukte der Nationalstaaten mit ihren kulturellen Zuschreibungen, Grenzkontrollen und Zugangsbeschränkungen eine tagtäglich wieder bestätigte wichtige Rolle. Während laut Michael Kearney (Kearney ūųų5, 548) globale Prozesse großteils dezentral von Nationalstaaten in einem weltumspannenden Kontext ablaufen, sind transnationale Prozesse in Nationalstaaten verankert und transzendieren einen oder mehrere Nationalstaaten. Manche SozialwissenschaftlerInnen haben darauf hingewiesen, dass die MigrantInnen zwar in
ř.řȳDie Thematisierung von Raum in der neueren MigrationsforsĖung 1ř9 unterschiedlichen Nationalstaaten agieren, ohne dass dabei allerdings nicht nationale Belange berührt würden (vgl. etwa Ehrkamp 2ŪŪ2). Aus dieser Überlegung leiten sich Vorschläge ab, von translokaler Migration zu sprechen, anstatt den inzwischen schon beladenen Begriff „transnational“ zu verwenden. Meiner Ansicht nach macht sich an diesem Punkt bemerkbar, dass die Kritik am methodologischen Nationalismus der klassischen Migrationsforschung nicht weiter verfolgt wurde in Bezug auf die Raumkonzepte, die mit einem bestimmten Forschungsinteresse verbunden sind. So müsste es Teil jedes Forschungsprojektes sein, sich zunächst einmal mit der Frage zu beschäftigen, welche Raumebenen in einer Untersuchung tatsächlich eine Rolle spielen. Erst wenn Ergebnisse zu dieser analytischen Frage vorliegen, lässt sich entscheiden, ob es sich um eine transnationale, translokale oder andersgeartete Untersuchung handelt.
ř.ř.2
Unterschiede in der US-amerikanischen und europäischen Transmigrationsforschung
Beinahe fünfzehn Jahre nachdem Linda Basch und ihre Ko-Autorinnen den Begriff der Transmigration erfolgreich in die Debatte eingebracht haben, ist in der europäischen Migrationsforschung ein regelrechter Boom an Studien festzustellen, die sich mit vielfältigen Themen des Wanderungsgeschehens aus einem transnationalen Blickwinkel heraus auseinandersetzen. In den ūųųŪer Jahren haben sich viele empirische Studien in Großbritannien mit Transnationalismus auseinandergesetzt (Jacobson ūųų8; Khanum 2ŪŪū; Robins und Aksoy 2ŪŪū), wohingegen in anderen europäischen Ländern noch kaum mit dem Konzept gearbeitet wurde. So existierten bis zum Jahr 2ŪŪŪ für den deutschsprachigen Raum kaum einschlägige Publikationen. Die ersten derartigen Arbeiten in Deutschland befassten sich mit transnationalen Praktiken von türkischen MigrantInnen und ihren politischen, kulturellen und ökonomischen Aspekten (Bade, Dietzel-Papakyriakou et al. 2ŪŪŪ; Jurgens 2ŪŪū; Schmidtke 2ŪŪū). In den letzten Jahren hat jedoch eine starke Verbreitung einer transnationalen Forschungsperspektive auch in der bundesdeutschen Migrationsforschung stattgefunden (Nowicka 2ŪŪŰb; Verwiebe 2ŪŪŰ; Weiß 2ŪŪ5). Zu Fragen der Transmigration in Österreich lebender Migrantinnen gibt es bislang nur sehr wenige Studien: Hierzu zählen etwa die Arbeiten zur Arbeits- und Lebenssituation von PolInnen (Fassmann 2ŪŪ2), UkrainerInnen (Haidinger 2ŪŪ4) oder der politischen Partizipation von MigrantInnen im Herkunftsland als auch in jenem Land, in dem sie (zeitweise) leben (Strasser
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
2ŪŪų). Das wachsende Interesse an der Thematik in Europa zeigt sich auch an laufenden Forschungsprojekten, Konferenzen und Workshops, die zu transnationalen Migrationsthemen abgehalten werden. Inzwischen sind auch erste Institutionalisierungsschritte erkennbar: Neuere Einführungs- und Überblickswerke zu Migrationsforschung beinhalten nun meist auch einschlägige Kapitel (Oswald 2ŪŪű; Pries 2ŪŪūb), genauso wie internationale Fachtagungen meist auch auf Transmigration eingehen. Mit der zunehmenden Beschäftigung mit transnationaler Migration in Europa haben ForscherInnen zu Recht darauf hingewiesen, dass die Konzepte aus dem US-amerikanischen Raum nicht direkt auf die Situation in Europa übertragen werden können, da die Rahmenbedingungen unterschiedlich sind. Einige Ansätze gibt es bereits, die sich mit diesen Differenzen für (Trans-) Migration in europäischen Ländern auseinandersetzen: Auf der Basis einer Untersuchung der Bedeutung transnationaler Praktiken für Identitätskonstruktionen von TürkInnen, die in Berlin leben, kam etwa Jeffrey Jurgens (Jurgens 2ŪŪū) zu dem Schluss, dass die Bedeutung des Hin- und Herreisens für diese Untersuchungsgruppe weniger Relevanz hat, als dies etwa bei mexikanischen TransmigrantInnen in den USA festgestellt wurde. Dies erklärt sich laut Jurgens allein schon aus den Distanzen, die zurückgelegt werden müssen, und den damit verbundenen Reisekosten. Weiters sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen ein wichtiger Parameter: Gerade für die Frage, wann Mobilität legal bzw. illegal ist, spielen die gesetzlichen Vergaben in den jeweiligen Ländern eine große Rolle. Je nach einwanderungspolitischer Lage ist zu beobachten, wie sich MigrantInnen mit Hilfskonstruktionen häufig zumindest einen halblegalen Aufenthaltsstatus „zusammenbasteln“ können. Die Strategie, mit Touristenvisa, die üblicherweise auf drei Monate befristet sind, zwischen dem Herkunfts- und dem Arbeitsplatz hin- und herzupendeln (vgl. Rogers 2ŪŪ2), ist etwa in deutschen und österreichischen Studien zur Arbeitsmigration von Frauen, die in privaten Haushalten beschäftigt sind, belegt worden (Haidinger 2ŪŪ4; Lutz 2ŪŪ3). Dabei wird ein zentraler Punkt sichtbar: Die Formen der Migration werden auch im Fall transnationaler Praktiken deutlich von den einwanderungsrelevanten Gesetzgebungen, den wohlfahrtsstaatlichen Regelungen und der Beschaffenheit des Arbeitsmarktes (etwa Nachfrage nach gering qualifizierter, undokumentierter Arbeitskraft) beeinflusst. Die MigrantInnen selbst handeln entlang dieser Vorgaben, finden jedoch kreative Wege, wie sie mit diesen Barrieren umgehen können. Aufgrund der bestehenden Unterschiede zwischen den europäischen und US-amerikanischen Bedingungen für Migration schlägt Alisdair Rogers daher
ř.řȳDie Thematisierung von Raum in der neueren MigrationsforsĖung 1Ś1 vor, ein neues Konzept der „migration in between the nation-states“ einzuführen (Rogers 2ŪŪ2). Rogers betont, dass sich Transmigration in Europa durch andere Merkmale auszeichnet als in den USA, weil differierende geographische und legale Rahmenbedingungen die Basis für das Wanderungsgeschehen sind. Rogers kritisiert Basch, Glick Schiller et al. zu Recht dafür, dass sie auf lokale geographische Gegebenheiten nicht Bezug nehmen. Er fordert ein, dass derartige Unterschiede berücksichtigt werden, ohne in eine dualistische Gegenüberstellung nach dem Muster ‚global‘ versus ‚lokal‘ zu verfallen. Rogers kommt daher zu dem Schluss, dass wir Forschungszugänge brauchen, die eine Vielfalt an Orten, Zonen und Regionen von Transnationalismus zulassen (Rogers 2ŪŪ2, 4). Daher führt er eine regionalspezifische Überlegung ein, wonach das derzeitige transnationale Migrationsgeschehen in Europa mit der Transformation der früheren Sowjetunion einerseits und der anhaltenden Veränderung der Europäischen Union auf der anderen Seite in Verbindung zu sehen ist. Ein weiterer Faktor, der zu unterschiedlichen Formen der (Trans-)Migration in Europa und den USA führt, liegt in den differierenden demographischen Entwicklungen der nächsten Jahre: Nach UN-Schätzungen aus dem Jahr 2ŪŪŪ (zit. nach Rogers 2ŪŪ2, Ű) müssten 4ű europäische Länder ihre Zuwanderungsraten verdreifachen, um den derzeitigen Anteil ihrer Arbeitskräfte an der Gesamtbevölkerung bis 2Ū5Ū aufrecht zu erhalten. In den USA wird im selben Zeitraum hingegen eine Zunahme der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter erwartet. Die derzeitigen politischen Maßnahmen der Europäischen Union zielen jedoch darauf ab, sich gegenüber den sogenannten Drittstaaten möglichst abzuschotten. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach jungen Arbeitskräften, die aus ebendiesen Ländern kommen – ein Interessenskonflikt, der in Zukunft noch verstärkt durch saisonale und andere Formen temporärer Migration gelöst werden könnte. Dadurch entstehen Rahmenbedingungen, die Praktiken der Transmigration noch fördern würden – legale wie illegale (Rogers 2ŪŪ2, ūŰ). Diese Deutung der Folgen der momentan widersprüchlichen EU-Politik erscheint insgesamt schlüssig. Einwanderungsregelungen sind dabei nur eine – wenn auch sehr wichtige Ebene6ř. Gleichzeitig müssen jedoch arbeitsmarktspezifische Erfordernisse sowie sozialstaatliche Regelungen in ihren Auswirkungen betrachtet werden, um zu einer adäquaten Einschätzung der politischen Maßnahmen auf (Trans-)Migration zu kommen. In 6řȲ
Dabei sei etwa an die Ausführungen von Stephen Castles erinnert, in denen er deutlich macht, wie neue Schließungsmechanismen auf politischer Ebene wiederum zu innovativen Formen der Einwanderung führen (Castles Ř00Ś).
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diesem Zusammenhang erscheint das Argument von Henk van Houtum und Roos Pijpers überzeugend, wenn sie der Darstellung widersprechen, Europa wäre im Begriff, sich in eine „Festung Europa“ zu verwandeln (van Houtum und Pijpers 2ŪŪ5). Dies würde bedeuten, dass tatsächlich jedem/r der Zutritt effektiv verwehrt wird, der/die das Territorium nicht betreten soll. Van Houtum und Pijpers sprechen vielmehr von einer „gated community“, die zwar Zäune aufgestellt hat, in die aber Tore eingelassen sind (etwa für Hochqualifizierte oder Familiennachzug) – einen tatsächlichen Ausschluss aller Übrigen gibt es jedoch nicht – zumal die Zäune zwischen den Toren nicht unüberwindbar sind – und somit auch Möglichkeiten für illegale Zuwanderung bestehen6Ś. Zusammenfassend spricht Ali Rogers von einem „Eastern and Western transnationalism“ (Rogers 2ŪŪ2, 8ȹff), wenn es darum geht, unterschiedliche Muster transnationaler Praktiken auch innerhalb Europas auszumachen: Unter dem östlichen Transnationalismus versteht er sowohl jene Form der Migration, die durch wandernde Menschen als auch durch wandernde Grenzen und/oder verstärkte Grenzkontrollen zustande kommt. In Westeuropa zeichnet sich Transmigration hingegen durch die klassische Diaspora aus, zu der er auch die Auswanderung aus Griechenland, Irland und Italien zählt. Zur letztgenannten Gruppe zählen auch MigrantInnen aus dem Maghreb in Frankreich, TürkInnen und KurdInnen in Deutschland sowie SüdostasiatInnen in Großbritannien. Diese Typologie weist auf einen weiteren Unterschied hin: Die USA und die Europäische Union blicken auf divergierende historische Entwicklungen zurück, was Ein- und Auswanderung anlangt. Selbst innerhalb der Europäischen Union sind die historischen Entwicklungen derart heterogen, dass sich kaum sinnvoll von einer europäischen Migrationsordnung aus einer historischen Perspektive betrachtet sprechen lässt (vgl. Leitner ūųųű).
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Mit der zunehmenden Computerisierung der Grenzüberwachung, des Sicherheits- und Einwanderungswesens verändern sich zudem die existierenden institutionellen Arrangements momentan grundlegend (vgl. Haug Ř000; Pries 1996, Ś69). Zugang, Mobilität und Einwanderung wird oft nicht mehr am Grenzbalken entschieden, sondern an Flughäfen, in Auffanglagern des Ausreiselandes oder in virtuellen Räumen des e-government, das auch die Einwanderungsbehören vermehrt erfasst. Zugang wird laut Dana Diminescu (Diminescu Ř00ś) sowohl für MigrantInnen wie Sesshafte durch elektronische Mittel beschränkt bzw. gewährt.
ř.řȳDie Thematisierung von Raum in der neueren MigrationsforsĖung 1Śř ř.ř.ř
Kritik am Konzept der transnationalen Migration
Die Debatte rund um Transmigration zeichnet sich nach wie vor dadurch aus, dass eine anhaltende Diskussion um Sinnhaftigkeit und Relevanz des damit verbundenen Forschungsprogrammes verbunden ist. Dabei wurden treffende Kritikpunkte und Bedenken in die Debatte eingebracht, die das Potential haben, kostbare Anstöße zu einer Weiterentwicklung der Migrationsforschung generell zu liefern. Ein ernst zu nehmender Einwand zielt etwa darauf ab, dass der Anteil von TransmigrantInnen verschwindend gering ist im Vergleich zur Gesamtheit des heutigen Migrationsgeschehens (Haug 2ŪŪŪ; Pries 2ŪŪ5b). Während inzwischen weitgehend Konsens darüber hergestellt ist, dass Transmigration nur einen kleinen Teil aller MigrantInnen direkt betrifft, schließen KritikerInnen daraus, dass der finanzielle und personelle Aufwand, mit dem derzeit Transmigrationsforschung betrieben wird, nicht zu rechtfertigen ist. Peggy Levitt, Josh deWind und Steven Vertovec weisen hingegen darauf hin, dass es zwar nur eine sehr kleine Gruppe von TransmigrantInnen gibt, transnationale Praktiken jedoch eine viel größere Anzahl von Personen betreffen (Levitt, DeWind et al. 2ŪŪ3). Den Zusammenhang zwischen Transmigration und Migration im herkömmlichen Sinn sehen Luis Guarnizo, Alejandro Portes und William Haller aufgrund ihrer empirischen Arbeiten ähnlich wie die zuvor genannten AutorInnen: Bereits eine kleine Anzahl transnationaler MigrantInnen hat einen signifikanten Einfluss auf das gesamte Migrationsgeschehen (Guarnizo, Portes et al. 2ŪŪ3), weil sie auch andere MigrantInnen und Sesshafte in ihren transnationalen sozialen Raum mit einbeziehen (vgl. auch Faist ūųųű; Faist 2ŪŪŪb). Ein weiteres Argument ist, dass transnationale Praktiken in Zukunft aller Voraussicht nach noch zunehmen werden – weshalb es meiner Ansicht nach durchaus gerechtfertigt ist, sich mit dem Thema intensiv auseinanderzusetzen. Weniger sinnvoll scheint hingegen das Auseinanderdividieren klassischer und transnationaler Migrationsforschung. Vielmehr wäre es angebracht, Methodologien zu entwickeln, die den ForscherInnen eine perspektivisch offene Herangehensweise an die empirisch zu beobachtende Vielfalt von Wanderungsphänomenen gestattet. Neben der quantitativen Bedeutung wird diskutiert, inwiefern transnationale Praktiken, Handlungsorientierungen und Identitätskonstruktionen über die Erste Generation hinaus nachhaltig vorhanden und wirksam sind. Zu diesem Thema gibt es unterschiedliche empirische Forschungsergebnisse, die je nach Argumentationslinie ins Feld geführt werden. Während die einen betonen, dass Transmigration mit jeder Generation an Bedeutung verliert, weil sich
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
die Kinder und Kindeskinder immer mehr an der Ankunftsregion der (Groß-) Eltern orientieren, gibt es andererseits auch Beispiele von Personen mit Migrationshintergrund vorhergehender Generationen, die ihre eigenen transnationalen Aktivitäten und Zugehörigkeiten etablieren. Steven Vertovec hebt den Einfluss der Erfahrungen der Elterngeneration hervor, wenn er meint, dass individuals within post-migration second and subsequent generations will probably not maintain the everyday orientations and practices of their migrant forebears, but such parental orientations and practices are apt to have an enduring impression on their identities, interests and socio-cultural activities (Vertovec 2ŪŪ3, 45).
Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um unterschiedliche Rahmenbedingungen handelt, die hier einen entscheidenden Einfluss auf Handlungsorientierungen und Identitätsprojekte der Folgegenerationen haben. Aussagekräftige Vergleichsstudien zu diesem Thema sind jedoch noch nicht durchgeführt worden. Mit der Thematik der Folgegenerationen rückt ein weiteres Problemfeld transnationaler Forschung ins Blickfeld: Wenn wir uns dafür entscheiden, Migrationsforschung durch diese theoretische Brille zu betrachten, vernachlässigen wir tendenziell andere Faktoren, die einen noch größeren Einfluss auf die Lebensbedingungen und -gestaltung von Personen mit Migrationshintergrund haben könnten. Annette Treibel (Treibel ūųųų, 23Ű) kritisiert daher, dass das Verständnis von Individuen im transnationalen Konzept ein selbstbestimmtes Migrationsverhalten voraussetzt und Elemente wie Flucht und Vertreibung ausblendet. Darin bestünde die Gefahr, „durch ein stark individualisiertes Bild die sozialen, rechtlichen und ökonomischen Bedingungen der Migration aus dem Auge zu verlieren“ (ebd.). Mit der Idee einer sozialen Verankerung in zwei Ländern würde sich dann auch nicht mehr die Frage der Entwurzelung stellen, wie sie laut Treibel einen Angelpunkt der Migrationssoziologie darstellen sollte – sondern die Verwurzelung in unterschiedlichen Ländern. Mirjana Morokvasic (Morokvasic 2ŪŪ3, ū2ū) geht in ihrer Kritik an der Transmigrationsforschung in eine ähnliche Richtung: Sie verweist auf die Tendenz, Differenzen, Hierarchien, Geschlechterunterschiede und damit verbundene Diskriminierungen nicht zu thematisieren und damit zu verdecken. Hartmut Esser (Esser 2ŪŪ4) fügt dieser langen Liste an Kritikpunkten hinzu, dass es keiner neuen Modelle in der Migrationsforschung bedürfe: Um Transmigration zu analysieren, sei es ausreichend, sich mit etablierten Zugängen – allen voran seinem eigenen (Esser ūų8Ū) – an die Analyse der Beobachtungen zu machen. Transmigration ist in dieser Sichtweise ein Zwischen-
ř.řȳDie Thematisierung von Raum in der neueren MigrationsforsĖung 1Śś stadium des positiv verlaufenden Integrationsprozesses oder Ergebnis einer fehlgeschlagenen Integration. Hauptaugenmerk sollte demnach weiterhin auf den Chancen für Integration von MigrantInnen liegen, um strukturelle Diskriminierungen aufzuzeigen: Wo können MigrantInnen teilhaben und welche Investitionen tätigen sie daher im Hinblick auf eine Chance zu sozialem Aufstieg und IntegrationȺ? Im Falle transnationaler Praktiken deutet Hartmut Esser diese Investitionen im Herkunftsland bzw. in den Spracherwerb als eine Kosten-Nutzen-Rechnung zu Ungunsten des Aufnahmelandes. Mit derartigen Überlegungen, die allesamt auf sein eigenes Theoriemodell zu Migration zurückgehen, sieht Hartmut Esser alle Fragen heutiger europäischer Migration abgedeckt und somit das Kapitel transnationaler Migration als erledigt an. Kritisch ist an dieser Haltung anzumerken, dass Esser außer acht lässt, dass Integration ein zu enger Blickwinkel ist, um das gesamte Spektrum von Migrationsphänomenen abzudecken. Das Potential einer Transmigrationsforschung, das auch darin liegt, neue Fragestellungen aufzuwerfen, wird bei ihm nicht weiter diskutiert, weil er sich direkt auf die Frage konzentriert, ob mit seiner Theorie der Migration auch die angeblich neuen empirischen Phänomene erklärbar sind, die in der Transmigrationsliteratur beschrieben werden. Auch Michael Bommes betrachtet die Sinnhaftigkeit einer Transmigrationsforschung durchaus kritisch (Bommes 2ŪŪ3): Er argumentiert, dass die diesbezügliche Debatte keine eigene Theorie hervorgebracht hat; weiters bestreitet er, dass neue empirische Felder eröffnet worden seien über diese Perspektive6ś. Bommes sieht die Transnationalismusforschung vielmehr als eine Ergänzung zur Assimilations- und Integrationsforschung innerhalb der Migrationswissenschaft. Somit streitet er den Wert dieser Forschungsrichtung nicht gänzlich ab, wie dies Essers Position entspricht, sondern schreibt ihr den Stellenwert zu, der These der Assimilationsforschung zu widersprechen, wonach alle Ebenen der Assimilation parallel verlaufen würden und untereinander eng miteinander verknüpft wären. Einschränkend bemerkt Bommes jedoch, dass diese These bislang nur aufgestellt wurde – die Beweisführung stünde jedoch noch aus. Der Autor sieht die Transnationalismusforschung somit in der Tradition des multikulturalistischen Ansatzes. Seiner Ansicht nach hat sich auch in letzterem Fall bereits gezeigt, dass selbst die Heterogenität der nationalen Gesellschaft Anpassungsleistungen im Sinne der Assimilation brauche. Insgesamt nimmt Bommes einen funktionalistischen, systemischen Blickwinkel auf die Thematik Migration ein. Auffällig ist dabei, dass er die Frage 6śȲ Zu seiner raumtheoretischen Kritik an dem Ansatz siehe die Ausführungen im folgenden Kapitel.
1Ś6
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
nach den Perspektiven der MigrantInnen selbst sofort wieder in die Assimilationsüberlegung zurück führt. Man könnte ihm also selbst den Vorwurf machen, den er an anderer Stelle erhoben hat (Bommes ūųųŰ), nämlich dass er mit seiner spezifischen theoretischen Ausrichtung MigrantInnen gesellschaftlich in ihrem Bild mit erzeugt und dadurch ihre marginalisierte Stellung noch verfestigt. Wie ist nun mit diesen Einwänden umzugehenȺ? Sinnvolle Ausgangspunkte scheinen aus meiner Einschätzung heraus folgende Überlegungen zu sein: Zunächst einmal ist es positiv zu bewerten, dass die Kritik am Konzept der Transmigrationsforschung befruchtend für die Weiterentwicklung dieses Forschungsfeldes gewirkt hat. In den letzten Jahren scheint mir die Diskussion zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen jedoch ins Stocken gekommen zu sein, was sich darin äußert, dass immer wieder dieselben Argumente vorgebracht werden, ohne dass daraus eine Diskussion mit Erkenntnisgewinn hervorginge. Vielmehr vermittelt die Diskussion zunehmend den Eindruck, es ginge hier um einen Stellungskampf, der letztendlich auf forschungsstrategische Ressourcenverteilung hinausläuft – und bei dem der tatsächliche Erkenntnisgewinn nicht im Vordergrund steht. Meiner Ansicht nach wäre es daher an der Zeit, die Diskussion nicht mehr im Sinne eines Verdrängungswettbewerbs zu führen nach dem Motto „EineR wird überleben“. Hartmut Esser (Esser 2ŪŪ4) betont zu Recht, dass es in den Sozialwissenschaften Modeerscheinungen gibt66, die auf ihre Erklärungskraft hin abgetestet werden müssen. Doch genau hier geht Essers Kritik teilweise am Kernargument vorbei, wonach sich durch transnationale Praktiken neue soziale Realitäten herausbilden, die soziale Beziehungen, Identitätskonstruktionen und Handlungsorientierungen verändern. Wie bereits herausgearbeitet führt die Beschränkung der Analysen auf die Praktiken in einem einzigen Nationalstaat dazu, dass uns unter Umständen ein beträchtliches Stück der sozialen Realität entgeht, das für viele MigrantInnen relevant ist. Konsequenterweise sollte es darum gehen, Modelle zu Migration in einer Form weiter zu entwickeln, dass sie einen möglichst großen Erklärungswert hinsichtlich der empirischen Lebensrealitäten aufweisen. Dies ist auch der Punkt, an dem die Einwände von Annette Treibel kritisch werden: Definitionen von Begriffen sind Instrumente, die im Zuge der wissenschaftlichen Weiterentwicklung angepasst, differenziert und erweitert werden, wenn sich 66Ȳ
Dabei sind diese Modeerscheinungen und der Umgang mit ihnen nicht nur mit eitler Selbstsucht einiger ForscherInnen zu erklären, sondern mit den Mechanismen des Wissenschaftsbetriebs, in dem Profilierung und Abgrenzung eingefordert und forciert wird.
ř.řȳDie Thematisierung von Raum in der neueren MigrationsforsĖung 1Ś7 aufgrund sozialwissenschaftlicher Forschung zeigt, dass sie nicht mehr zutreffend sind. Würden wir den anderen Weg gehen und jene Sachverhalte aus unserer Untersuchung ausschließen, die nicht in unsere Definitionen passen, liefe die Migrationssoziologie zunehmend Gefahr, die Augen vor einem Teil der sozialen Realität zu verschließen. Allerdings sind die geäußerten Einwände ein wichtiger Hinweis darauf, dass eine transnationale Perspektive auf Migration den Blick auf strukturelle Benachteiligungen verlieren kann, indem durchgängig und ausschließlich auf die Ressourcen der MigrantInnen fokussiert wird. Dabei haben Alejandro Portes, Cristina Escobar und Renelinda Arana (Portes, Escobar et al. 2ŪŪ8) etwa gezeigt, wie sich Untersuchungen sowohl transnationaler als auch assimilationstheoretischer Annahmen gewinnbringend bedienen können: Die AutorInnen gingen der Frage nach, inwiefern transnationales Engagement von ethnischen Vereinen in den USA die politische Integration neu zugezogener MigrantInnen beeinflusst. Dabei stellte sich heraus, dass es kaum einen Konflikt zwischen transnationalem Aktivismus und politischer Eingliederung in den USA zu verzeichnen gibt. Dies sollte nun aber nicht dahin gehend missverstanden werden, zu fordern, dass jedes Forschungsvorhaben zwangsläufig sowohl transnationale als auch assimilationsspezifische Aspekte sozialer Realität abbilden müsste. Meiner Ansicht nach sollte es vielmehr darum gehen, differenzierte Theorien und Methodologien zu entwickeln, um unterschiedlichste Facetten heutiger Lebensweisen zu untersuchen – je nach Erkenntnisinteresse und Forschungsgegenstand. Der kritische Blick auf und über den nationalstaatlichen Container hinaus sollte dabei ein Bestandteil der Forschung sein, der nicht unbedingt in Konkurrenz zu anderen Forschungsausrichtungen gesehen werden sollte. Ein anderer wichtiger Einwand zielt auf die erkenntnistheoretische Fundierung transnationaler Forschung ab: Wenn der Schwerpunkt auf Hybridbildungen, Translokalität und Transmigration liegt, so nehmen Erklärungen, die auf kulturelle Unterschiede rekurrieren, einen wichtigen Stellenwert in der Analyse ein. Während einige SozialforscherInnen wie Thomas Faist (Faist ūųųų; Faist 2ŪŪŪb; Faist 2ŪŪŪc), Ludger Pries (Pries ūųųŰ; Pries ūųųű; Pries 2ŪŪ2) oder Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller (2ŪŪ2) auf die Defizite von Konzepten wie Nation, Bevölkerung und Kultur hinweisen, die in geschlossenen Containern operieren, haben wir noch immer Schwierigkeiten, die Einsicht analytisch umzusetzen, dass Kulturen fließend und veränderlich sind. An diesem Punkt braucht es derzeit dringend weitere Überlegungen und Forschungen, wie mit dieser Problematik sinnvoll umgegangen werden kann.
1ŚŞ ř.ř.4
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung Transmigration und Raumkonzeptionen
Michael Bommes hat in seinem bereits zitierten Beitrag (Bommes 2ŪŪ3) das theoretische Defizit der Transnationalismusforschung bereits benannt: Besonders eklatant zeigt sich hier, dass es kaum SozialwissenschaftlerInnen dieser Ausrichtung gibt, die sich mit raumtheoretischen Überlegungen auseinandersetzen. Dabei muss jedoch aus meiner Sicht auf einige Ausnahmen hingewiesen werden, die sich im Rahmen der Transmigrationsforschung bereits mit der Raumthematik auseinandersetzen: Hierzu zählen vor allem Ayse Caglar, Thomas Faist, Nina Glick Schiller, Katharyne Mitchell, Ludger Pries und Carmen Voigt-Graf. Dabei zeichnet sich der Beitrag von Katharyne Mitchell (Mitchell ūųųű) dadurch aus, dass sie bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt darauf verwiesen hat, dass die Rezeption besonders der sozialgeographischen Arbeiten zu einer verbesserten theoretischen Fundierung der Transmigrationsforschung beitragen könnte67. Das Anliegen von Carmen Voigt-Graf (Voigt-Graf 2ŪŪ4) liegt wiederum darin, eine Ebene der Vergleichbarkeit transmigrantischer Forschung über die Raumdimension einzuführen. Sie entwickelt ein Modell, in dem unterschiedliche Formen von transnationalen Aktivitäten dargestellt werden können. Dennoch gelingt es ihr nicht, über diesen Beitrag die Transmigrationsforschung nachhaltig zu beeinflussen. Einer der wenigen Migrationsforscher, die sich bislang seit Jahren konzentriert um eine theoretische Fundierung der Transnationalismusforschung bemüht haben, ist Ludger Pries. Auch er konzentriert sich dabei auf die Frage, mit welchen Raumkonstrukten wir es empirisch zu tun haben und wie sich dies auf veränderte empirische Realitäten auswirkt. Auch die Frage eines adäquaten Forschungszugangs von MigrationsforscherInnen wird in diesen Beiträgen thematisiert (Pries ūųųŰ; Pries 2ŪŪūc; Pries 2ŪŪ8). Ludger Pries verwendet den Begriff der sozialen Räume und schlägt eine Unterscheidung in die folgenden Dimensionen transnationaler sozialer Räume vor (Pries 2ŪŪūc): ȡ ȡ ȡ ȡ
67Ȳ
Politisch-legale Rahmenbedingungen; Materielle Infrastruktur (auch: Massenmedien und Kommunikationstechnologien); Soziale Strukturen und Institutionen sowie Identitäten und Lebensprojekte.
Vgl. hierzu auch die Ausführungen im Einleitungskapitel des vorliegenden Buches.
ř.řȳDie Thematisierung von Raum in der neueren MigrationsforsĖung 1Ś9 Der Vorteil einer derartigen theoretischen Konzeption liegt darin, dass über diese unterschiedlichen Dimensionen verschiedenen Forschungsinteressen nachgegangen werden kann und gleichzeitig die soziale Räumlichkeit hinterfragt wird. Weiters können alle vier Dimensionen für eine Fragestellung analysiert werden. Transnationale soziale Räume können so auf einer breiteren Basis untersucht werden, als dies mithilfe existierender theoretischer Rahmungen (vgl. etwa Basch, Glick Schiller et al. ūųų4) möglich ist. In seinen neuesten Arbeiten in diesem Bereich geht Ludger Pries einen bedeutenden Schritt weiter und versucht, existierende Erkenntnisse zu Raumkonzepten mit Transmigrationsforschung zu verbinden (Pries 2ŪŪ5; Pries 2ŪŪ8). Dabei geht er über die gängige Forderung hinaus, unsere Raumkonzepte in ihren geographischen und zeitlichen Ausprägungen zu überdenken. Er bezieht sich dabei hauptsächlich auf Erfahrungsräume (Pries 2ŪŪ5, ūűū), die Menschen besetzen und in denen sie sich physisch und mental bewegen. Diese Bewegung geschieht nicht bewusst und wird auch nicht von einer Reflexion begleitet, wie Struktur, Klassifikation oder Konstitution des Raumes beschaffen sind. Erfahrungsräume sind laut Pries – zurückgehend auf Kindheitserfahrungen – in konzentrischen Kreisen angeordnet. Von diesem Erfahrungsraum unterscheidet er relativistische und absolutistische Zugänge zur Raumkonstitution (ebd.). Die Annahme von Pries, wonach sich Raumerfahrung biographisch in konzentrischen Kreisen erweiternd aufbaut, wird dabei einerseits von phänomenologischen Ansätzen in der Raumtheorie gestützt6Ş, andererseits liegen Studien aus der Kindheits- und Jugendforschung zum Thema Raum vor, die hierzu Widersprüchliches dokumentieren. Letztere entwickeln etwa die bereits genannte Annahme weiter, wonach Kinder, die in der Großstadt leben, mit einem „verinselten Raumkonzept“ operieren (Zeiher und Zeiher ūųų4). Dies ergibt sich daraus, dass sie verschiedene Orte zwar gut kennen, diese flächenräumlich jedoch oft weit voneinander entfernt sind. Die Zwischenräume sind ihnen hingegen gänzlich unbekannt, weil etwa der Weg zur Schule mit der U-Bahn zurückgelegt wird oder der Weg zum Spielplatz mit dem Autobus. Obwohl Helga und Hartmut Zeiher ihre Ergebnisse aus der Untersuchung der Raumerfahrung von Kindern gewinnen, wäre es durchaus denkbar, dass auch für TransmigrantInnen ein verinseltes Raumerlebnis von Bedeutung ist: Der geographische Raum mit seinen Eigenheiten, der zwischen zwei Orten liegt, ist kaum von Interesse. Leider liegen bislang jedoch keine migrationsspezifischen Studien vor, die auf die Beschaffenheit der Raumerfahrungen und damit verbundener Raumkonstitution in diesem speziellen Sinne eingehen. 6ŞȲ
Vgl. hierzu Kapitel Ř.Ř.ř.ř.
1ś0
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
Mit seiner Monographie „Die Transnationalisierung der sozialen Welt“ hat Ludger Pries 2ŪŪ8 schließlich ein Werk vorgelegt, in dem er argumentiert, dass wir es heute auf allen Ebenen der Vergesellschaftung mit zunehmenden Vernetzungen und daraus entstehenden neuen Formen des Sozialen zu tun haben. Ludger Pries arbeitet ausgehend von dem umfassenden empirischen Datenmaterial zu Transmigration zwischen Mexiko und den USA ab, wie sich durch die Handlungszusammenhänge von MigrantInnen transnationale soziale Räume aufspannen und Lebensumstände auch sesshafter Personen somit neu strukturiert werden. Neben alltäglichen Lebenswelten wird auch für Organisationen und Institutionen dargestellt, inwiefern ein Konzept transnationaler Sozialräume zu wichtigen sozialwissenschaftlichen Einsichten führen kann. In diesem Kontext setzt er sich auch mit der Frage des Verhältnisses zwischen Sozial- und Flächenraum auseinander und bestreitet die immer wieder laut werdende Behauptung, wonach sich geographisch-räumliche Bindungen der Menschen auflösen würden (vgl. ebd., ű8). Pries hält dem anhand empirischer Beispiele entgegen, dass Orte nach wie vor „als Bezugspunkte für Lebenserfahrungen, für individuelle und kollektive Identitäten und für Zukunftsprojekte“ (ebd.) auch heute eine tragende Rolle spielen. Im Anschluss daran arbeitet er eine Raumkonzeption aus, in der Raum analytisch in drei unterschiedliche Dimensionen eingeteilt wird: Dabei geht er davon aus, dass Raumvorstellungen „erfahrungs- und wahrnehmungsbasierte Konstruktionen von Anordnungsbeziehungen zwischen Elementen“ sind (ebd., 8ų), wobei neben dieser sozialen Dimension auch eine flächenräumliche Dimension besteht, da sich die Vorstellungen von Anordnungsbeziehungen generell auf wahrgenommenen Entfernungen, Ausdehnungen, Verteilungen etc. begründen. Die dritte Dimension ist jene der Zeitlichkeit: Raumerfahrungen wachsen erst im Zeitverlauf und jede räumliche Bewegung erfolgt in der Zeit. Dabei macht Pries klar, dass es sich hierbei um drei Analyseperspektiven auf ein und denselben Gegenstand handelt, nämlich einen holistisch gedachten „Sozialraum“. Im Unterschied zu seinem Ansatz findet sich in den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen meist eine Auseinandersetzung mit in der Regel einem bis maximal zwei dieser genannten Dimensionen. In der Raumkonzeption von Pries ist dabei besonders hervorzuheben, dass er symbolischen Repräsentationen ebenfalls Bedeutung beimisst, was in den sozialen Beziehungen der TransmigrantInnen immer wieder von Belang ist. Dabei hebt er (sozial-)psychologische Arbeiten zu „subjektiven Raumideen und Raumproduktionen der Menschen“ (ebd., ų4) hervor. In diesem Kontext sind auch die sog. „mental maps“ zu nennen, in denen Orte, Personen oder Objekte aufgrund von Erfahrungen emotional und/oder normativ mit Bedeutungen belegt werden.
ř.řȳDie Thematisierung von Raum in der neueren MigrationsforsĖung 1ś1 Aufgrund einer Zusammenschau empirischer Ergebnisse aus der Transmigrationsforschung und seinem Vorschlag einer analytischen Trennung der drei genannten Raumdimensionen kommt Pries zu folgendem Schluss: Es wäre ein fataler Fehler, wenn SozialwissenschaftlerInnen davon ausgingen, beobachtbare Globalisierungstendenzen würden Raumbezüge des Sozialen immer unwichtiger werden lassen. Stattdessen ist zu beobachten, wie flächenräumliche „Muster von Sozialräumen“ (ebd., ūūū) neu angeordnet werden – und auf diese Weise sogar an Bedeutung für die Analyse von Gesellschaft gewinnen. So gelangt Pries zu einer Replik auf die häufig geäußerte Kritik an der Transmigrationsforschung, sie würde selbst nicht über den methodologischen Nationalismus hinauswachsen können: Seiner Ansicht nach muss nach wie vor die „Bindungskraft von Flächenräumen als Nationalstaaten“ (ebd.) als ein wichtiger Faktor in die sozialwissenschaftliche Analyse eingehen. Allerdings sollte dies geschehen, ohne gleichzeitig in den Fehler zu verfallen, Nationalstaaten als in sich ruhende und von außen unbeeinflusste, abgeschlossene Container zu konzipieren. Daher spricht Pries nach wie vor von einer „sozial- und flächenräumlichen Verschachtelung in Form der ‚Container-Gesellschaften‘“ (ebd.). In der weiteren Argumentation gelingt es Pries schließlich, unterschiedliche Ebenen sozialer Realität in seine Theorie der Transnationalisierung einzubinden: Die genannten Dimensionen des Sozialraumes werden neben der Mikroebene (lebensweltliche Ebene) auch auf einer Mesoebene (Organisationen wie Unternehmen) und einer Makroebene (Institutionen wie jene der Familie) verfolgt (vgl. Pries 2ŪŪ8, 23Ű). Während in der Arbeit von Ludger Pries der Stellenwert von Container-Räumen für MigrantInnen (sowie für andere AkteurInnen und soziale Gruppen) sehr deutlich herausgearbeitet wird, wird die Bedeutung von relationalen und konstruktivistischen Raumannahmen für das Handeln kaum thematisiert. An dieser Stelle leistet die vorliegende Arbeit einen weiteren Schritt mit der Entwicklung einer raumsensiblen Methodologie für die Migrationsforschung. Ein weiterer wichtiger Ansatz der Integration raumsoziologischer Überlegungen in die Transmigrationsforschung stammt von Thomas Faist (vgl. etwa in Faist 2ŪŪŪb, 3Ūų), der sich intensiv mit der Frage beschäftigt hat, wie transnationale soziale Räume entstehen. Hierzu stellt er sein eigenes analytisches Bezugssystem vor, das darauf abzielt, jene Faktoren zu identifizieren, die die Entstehung und die Entwicklung transnationaler sozialer Räume beeinflussen. In guter soziologischer Tradition gliedert auch er seine Überlegungen nach Mikro-, Meso- und Makroebene: Auf der untersten Dimension sieht er die Wünsche und Hoffnungen von Menschen, die den Fokus transnationaler Lebensprojekte darstellen. Dabei ist auf dieser Untersuchungsebene vor allem
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řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
der Frage nachzugehen, wie sich die Wertvorstellungen und Wünsche der MigrantInnen und der Rückkehr-MigrantInnen im Zeitverlauf verändern. Auf der Mesoebene geht es darum, soziale und symbolische Beziehungen zu analysieren, die zur Entstehung transnationaler sozialer Räume beitragen. Hier sind nach Faist auch die Schlüsselkonzepte transnationaler Verbindlichkeiten, Reziprozität und Solidarität angesiedelt. Auch transnationale Kreislaufbeziehungen und transnationale Gemeinschaften sind auf dieser mittleren Ebene sozialer Organisation zu finden. Dementsprechend beschäftigen sich Analysefragen dieser Dimension etwa mit Fragen nach der Entstehung dauerhafter Netzwerke innerhalb von Migrationssystemen. Die Makroebene bezieht schließlich Opportunitätsstrukturen transnationaler sozialer Räume in die Überlegungen mit ein, wobei hier der Schwerpunkt auf der Analyse von Projekten und Austauschbeziehungen von bzw. zwischen Nationalstaaten liegt, um das Bestehen transnationaler sozialer Räume auf nationaler und internationaler Ebene zu erklären. Auf allen drei Ebenen haben diese transnationalen sozialen Räume laut Faist gemein, dass sie sich aus folgenden Komponenten zusammensetzen: relatively permanent flows of people, goods, ideas, symbols, and services across international borders that tie stayers and movers and corresponding networks and non-state organizations; regulated by emigration and immigration state policies (Faist 2ŪŪŪb, 3Ūų).
Dieser Definition folgend entwirft Faist eine Typologie transnationaler sozialer Räume: Erstens spricht er von transnationalen Verwandtschaftsgruppen, die auf Gegenseitigkeit aufbauen und innerhalb derer etwa soziale Normen betreffend Geldrücksendungen von MigrantInnen existieren. Zweitens identifiziert Faist transnationale Kreisläufe, die auf Austausch beruhen und die die weitverzweigten „strong“ und vor allem „weak ties“ der Beteiligten zu nutzen wissen. Drittens sind transnationale Gemeinschaften („communities“) zu nennen, die sich durch die Solidarität ihrer Mitglieder untereinander und von ihnen geteilte Wertvorstellungen, Ansichten und Symbole auszeichnen. Beispiele für den letztgenannten Typus sind etwa die kurdische oder palästinensische Diaspora. In einem späteren Beitrag wird diese Typologie um einen vierten Typus – jenen der transnationalen Organisation – erweitert (Faist 2ŪŪ4b)69. Weiters hat Thomas Faist (Faist 2ŪŪŪa; Faist 2ŪŪū) in einschlä69Ȳ In einem weiteren Beitrag richtet Faist sein Augenmerk auf die Frage des Grades der Formalisierung transnationaler sozialer Räume und kommt so zu einer Typologie, die einerseits
ř.řȳDie Thematisierung von Raum in der neueren MigrationsforsĖung 1śř gigen Beiträgen darauf aufmerksam gemacht, dass die Begriffsbildung in der Transmigrationsforschung unter Umständen zu überdenken ist: Er führt das Konzept der „transstaatlichen Räume“ ein, um der Problematik, die mit dem Begriff der Nation verbunden ist, konzeptionell beizukommen. Für MigrantInnen sind in seiner Sichtweise gerade jene Bereiche entscheidend, die jeweils auf Ebene des Staates geregelt werden: Zugang zu Staatsbürgerschaft und Teilhabemöglichkeiten in der Zivilgesellschaft gehören etwa hierzu. Wenn wir uns nun die bisher geleistete Theoriebildung zu transnationalen sozialen Räumen im Diskurs der Transmigrationsforschung zusammenfassend vor Augen führen, so zeigt sich, dass die existierende Theoriebildung stark von einzelnen Fallstudien beeinflusst ist. Davon ausgehend wird auch auf einer Metaebene Modellbildung betrieben, die mit der Zielsetzung verknüpft ist, transnationale Phänomene von einer hoch aggregierten Ebene (zum Beispiel ausgehend von Beziehungen zwischen Nationalstaaten) bis hinunter zu Identitätsbildungen einzelner Personen in einen Rahmen zu gießen. So wird der Containerraum als Denkfigur nicht verlassen, sondern gedoppelt oder vervielfacht wird, wie die folgende schematische Darstellung verdeutlicht: Graphik 5
Vervielfältigung der Verbindungen zwischen geographischen und sozialen Räumen
Damit bleibt der nächste Schritt in der theoretischen Verortung der Transmigration noch offen: Nämlich die neuere Literatur aus der Raumsoziologie in der Migrationssoziologie zu rezipieren und daraus (auch) Schlüsse für die Transmigrationsdebatte zu ziehen. Der Anspruch, soziale Wirklichkeit besser verstehen zu können, ist immer auch auf adäquate Konzepte angewiesen. Erst damit können Daten aufeinschwache Formalisierung aufweisen in Form von Netzwerken und andererseits starke Bindungen wie es bei Institutionen der Fall ist (Faist Ř00Śa).
1śŚ
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
ander bezogen und Einsichten gewonnen werden, die letzten Endes zu einer tragfähigen Wissensbasis über die Konstitution unserer Gesellschaften beitragen können. Momentan kann dieser Anspruch auch auf dem Gebiet transnationaler Migrationsforschung nicht eingelöst werden, weil an entscheidenden Stellen der theoretische Unterbau für eine Weiterentwicklung des Forschungsfeldes fehlt. So besteht die Gefahr, dem „nationalen Container-Denken“ in den Sozialwissenschaften in der Durchführung von Forschungsprojekten dann doch nicht zu entkommen oder ungewollt die vorhandenen Raumentwürfe durch Wiederholung zu verstärken, anstatt ihre Konstruktion und die damit verbundenen sozialen Ungleichheiten aufzuzeigen. Raumsensible Theoriebildung wird bislang in der Transmigrationsforschung nur von einigen wenigen ForscherInnen betrieben. Im Großteil der existierenden Arbeiten zu transnationaler Migration findet sich jedoch keine theoretische Reflexion des Raumverständnisses, mit dem die AutorInnen arbeiten.
3.4
Zusammenfassung: Die Raumthematik in der Migrationsforschung
ř.4.ŗ
Die Geschichte der Migrationsforschung als Wegweiser in ein absolutistisches Raumdenken
Wie Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller (Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2) in ihrer viel beachteten Arbeit zum „methodologischen Nationalismus“ festgestellt haben, sind die Sozialwissenschaften und hier insbesondere die Migrationsforschung aus historischen Gründen eng mit einem territorialen methodologischen Ansatz verbunden. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es in der Geschichte der Wanderungssoziologie durchaus auch Ansätze gegeben hat, die vom nationalstaatlichen Denken kaum geprägt waren. Zu diesen Studien zählen etwa die Arbeiten von Ernst Georg Ravenstein, der von einem theoretischen Ansatz ausgeht, in dem Nationalstaaten kaum ein nennenswerter Stellenwert beigemessen wird (Ravenstein ū885; Ravenstein ū88ų). Dabei sind jedoch auch die empirischen Vorkommnisse zu berücksichtigen, vor deren Hintergrund Ravenstein die Gesetze der Wanderung formulierte: Am Ende des ū8. Jahrhunderts dominierte eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften, die durch ökonomische Krisen immer wieder unterbrochen wurde. Gleichzeitig bildeten sich nach und nach in Europa einzelne Nationalstaaten heraus, die ihre jeweils eigenen internen Märkte aufbauten, nicht zuletzt unterstützt durch Bahnverbindungen, mit deren Hilfe etwa landwirt-
ř.ŚȳZusammenfassung: Die Raumthematik in der MigrationsforsĖung 1śś schaftliche Produkte schneller von einem Ort zum anderen geschafft werden konnten. Auf der rechtlichen Ebene wurden die letzten Reste feudaler Herrschaft abgeschafft, die BewohnerInnen mit gleichen Rechten und Pflichten als StaatsbürgerInnen ausgestattet und durch nationale Bildungssysteme und Gesundheitseinrichtungen versorgt. Dies trug dazu bei, dass sich langsam Nationen und StaatsbürgerInnen ausmachen ließen, was zu einer Stärkung von Nationalstaaten beitrug und gleichzeitig die Globalisierung forcierte. Es ist auch empirisch festzustellen, dass sich Wanderungsbewegungen ab diesem Zeitpunkt vermehrt dorthin richteten, wo Arbeit gebraucht wurde – durchaus auch über weite Strecken hinweg. Diese Migrationsströme wurden noch nicht durch nationalstaatlich geprägte Einwanderungsbestimmungen begleitet – auch das Passwesen war noch nicht eingeführt. Vor diesem historischen Migrationsgeschehen ist aus heutiger Sicht gut nachzuvollziehen, dass Ravenstein in seinen Überlegungen nicht von der Bedeutung einzelner Nationalstaaten ausgeht, was sich etwa darin manifestiert, dass er nicht zwischen staatlich gesehen interner und grenzüberschreitender Migration unterscheidet. Die entscheidende Komponente in seinen Gesetzen der Wanderung ist hingegen die Nachfrage nach Arbeitskräften. Die wandernden Personen richten ihre Mobilität entsprechend ihren Arbeitsmarktchancen aus, weshalb Bewegungen von ländlichen Gebieten in die Stadt bzw. von ärmeren Landstrichen in reichere Zonen verlaufen. Im Gegensatz zu dem Argument von Wimmer und Glick Schiller hat Daniel Chernilo inzwischen gut dokumentiert ausgearbeitet, dass den soziologischen Klassikern wie Emile Durkheim oder Max Weber nicht vorzuwerfen ist, sie hätten in ihrer Theoriebildung dem methodologischen Nationalismus zugearbeitet (Chernilo 2ŪŪŰ; Chernilo 2ŪŪű). Vielmehr sieht David Chernilo das Problem darin, dass in der soziologischen Theoriebildung zu lange von einer normativen Idee einer gleichmäßig verlaufenden Modernisierung ausgegangen wurde, die die gesamte Menschheit erfassen würde. Doch auch in dieser Sichtweise wurden Nationalstaaten als eine Organisationsform neben anderen gesehen. Obwohl somit die Hypothese der „Ignoranz“ im Rahmen der soziologischen Theoriebildung (vgl. Wimmer/Glick Schiller 2ŪŪ2) infrage zu stellen ist, bleibt dennoch nachzuvollziehen, wie sich die empirische Migrationsforschung historisch zum methodologischen Nationalismus verhalten hat: Die Periode zwischen dem Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterscheidet sich grundlegend von der vorhin geschilderten sozialen und ökonomischen Situation, insbesondere, was die Lebensumstände der MigrantInnen anlangt: Die Wirtschaftskrisen und die beiden Weltkriege hatten den nationalen Ökonomien geschadet. Durch ethnische Säuberungen war die
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nationale Zugehörigkeit in vielen Fällen zu einer Überlebensfrage geworden und MigrantInnen hatten nicht mehr die Möglichkeiten, grenzüberschreitende soziale Beziehungen zu pflegen, wie das mitunter vor dem Ersten Weltkrieg möglich war. Durch das Kriegsgeschehen waren familiäre Kontakte unterbrochen, die schwierigere ökonomische Lage erlaubte es zudem nur Wenigen, wie zu früheren Zeiten Geldsendungen an Daheimgebliebene zu tätigen. Somit waren die sozialen Beziehungen vieler MigrantInnen in dieser Periode durchaus mit den nationalen Grenzen jener Nationalstaaten ident, in denen sie lebten. In dieser Periode entwickelte sich auch der methodologische Nationalismus in den Sozialwissenschaften zu seiner vollen Blüte, wie Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller (Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2) ausführen. Für die Migrationsforschung von besonderer Bedeutung waren dabei die Arbeiten der Chicago School, die einen systematischen Zugang zu einer breiten migrationsspezifischen empirischen Basis entwarf. Sowohl für die Raumsoziologie als auch für die Migrationsforschung stellen die Pionierarbeiten der Chicago School einen wichtigen Referenzpunkt dar. Der ehemalige Student Georg Simmels, Robert E. Park konzentrierte sich gemeinsam mit William I. Thomas darauf, anhand empirischer Daten soziale Ungleichheiten in Chicago zu untersuchen. Dabei spielte Migration gewissermaßen zwangläufig eine bedeutende Rolle, da sich die Einwohnerzahl der Stadt zwischen ū85Ū und ūų3Ū verhundertfachte (vgl. Treibel ūųųų, 85). Die damit verbundenen siedlungs- und arbeitsmarktspezifischen Fragen bearbeiteten Park und Thomas mittels unterschiedlichster Vorgehensweisen, die die Analyse qualitativer und quantitativer Daten und darauf aufbauende Analysen mit einschlossen. Dabei war es eine ihrer grundlegenden Ideen, dass sich sozialer Wandel auch über die Wohnorte nachvollziehen lässt, was eine wichtige Basis für die späteren community studies darstellte. Zu dieser Basis zählt auch die bahnbrechende Studie, die William Thomas zusammen mit Florian Znaniecki (Thomas und Znaniecki ūų58) erarbeitet hat70. An ihrem Werk ist besonders interessant, dass die biographische Perspektive der MigrantInnen ein zentraler Stellenwert in der Methodologie eingeräumt wird und mittels Methodentriangulation soziale Prozesse dargestellt werden, die mit der Auswanderung verbunden sind. Dieser prozesshafte Zugang ermöglicht es Thomas und Znaniecki auch, Daten sowohl aus Polen als auch aus den USA in ihre Forschung zu integrieren. Ein derartiges Vorgehen kann auch
70Ȳ
Vgl. weiter oben in Kapitel ř.1.
ř.ŚȳZusammenfassung: Die Raumthematik in der MigrationsforsĖung 1ś7 als Vorläufer eines multi-sited approach71 in der Migrationsforschung angesehen werden und ist auch bezüglich einer raumsensiblen Vorgehensweise als hervorstechendes Werk in den Sozialwissenschaften anzusehen, weil sie die relationalen Aspekte von Migration in den Vordergrund stellen. Diese Arbeiten von Thomas und Znaniecki waren gleichzeitig innerhalb der Chicago School eine wichtige Grundlage für die dort in den ūų2Ūer Jahren entwickelten community studies. Robert E. Park arbeitete hierzu gemeinsam mit Ernest W. Burgess und Roderick D. McKenzie an einer sozialökologischen Forschungsrichtung weiter, die von dem Grundgedanken inspiriert war, dass sich in menschlichen Gesellschaften dieselben Prozesse wie in der Pflanzen- und Tierwelt wiederfänden. Das Wachstum von Städten wurde daher etwa mit dem Metabolismus von Pflanzen verglichen: So wurden ZuwandererInnen in Städte „inkorporiert“ – eine Ausdrucksweise, die lange Zeit durchaus gängig in der Migrationsforschung war. In der humanökologischen Logik wurden Menschen in eine bestimmte Kultur hineingeboren (vgl. Burgess ūųŰ8, (19Ŭů), 53); mit einer Auswanderung ergeben sich aus dieser Perspektive heraus zwangsläufig Probleme, weil der Wechsel in ein anderes soziales Umfeld Desorganisation zur Folge hat, auf die eine Reorganisation, d.ȹh. eine Anpassung an die nunmehrige kulturelle Umgebung, folgt. Aus der Perspektive der Stadt betrachtet ist das Gemeindeleben laut Park wie ein Stoffwechselkreislauf der Natur zu verstehen: Es werden Neuankömmlinge „assimiliert“ und somit eingegliedert, andere Individuen werden ausgeschieden, etwa durch Tod oder andere Prozesse. Je nach Ethnizität – sprich: angeborener kultureller Charakteristika – siedeln sich Menschen in Quartieren und Stadtgebieten an, wodurch sich ethnisch und sozial ausdifferenzierte Gebiete in einer Stadt benennen lassen. Dabei ist sozialer Aufstieg immer auch mit einem Wechsel des Wohnortes verbunden, was im Umkehrschluss zu der analytischen Vorgehensweise führt, dass der Wohnort einer bestimmten Gruppe Aufschluss gibt über das Ausmaß an Assimilation, da die Wohngebiete den sozialen Status widerspiegeln. Die Untersuchungen der community studies haben dabei auf vielen national konnotierten Werten aufgebaut und diese durch ihre Forschungsanlage auch weiter verstärkt. So wurde etwa angenommen, dass territorial beschreibbare Nationalstaaten jeweils ihre eigene, stabile Wohnbevölkerung haben, die qua Geburt kulturell homogenen Zuwachs erfährt. Zugewanderte Personen sind von dieser Warte aus betrachtet Menschen mit kulturellen Merkmalen, die sich 71Ȳ Vgl. hierzu Marcus (Marcus 199ś) sowie neuere Arbeiten zu einer globalen Ethnographie (Gille und Ó Riain Ř00Ř).
1śŞ
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
aufgrund ihrer nationalen Abstammung bestimmen lassen. Außerdem sind MigrantInnen mit dem schwierigen Prozess der Assimilation beschäftigt, der über Generationen fortdauert. Heutige Migrationsforschung geht zwar selten von sozialökologischen Annahmen im Sinne der Chicago School aus, im öffentlichen Diskurs sind derartige Grundannahmen jedoch noch immer präsent. In einer historischen Betrachtung der Migrationsforschung zeigen sich nationale Unterschiede im Umgang mit der Raumthematik: In den USA beschäftigte sich die Forschung lange Zeit mit der detaillierten Untersuchung der Assimilationsgrade, die an den Eingewanderten festgestellt werden konnten (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2, 3ūų). Die USA wurden insgesamt als ein Territorium wahrgenommen, dessen aktuelle Bevölkerung zu einem Großteil aus ehemaligen MigrantInnen bestand – das heißt, dass man grundsätzlich von der Idee einer – wenn auch Generationen dauernden – Assimilation der Zugewanderten ausging. Ganz anders gestaltet sich die Herangehensweise in Deutschland (und zeitlich verzögert auch in Österreich): Seit den ūų5Ūer Jahren wurden in der Bundesrepublik sog. Gastarbeiter angeworben, von denen auch SozialwissenschaftlerInnen lange Zeit annahmen, dass sie nach kurzen Arbeitsaufenthalten wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. An diesem Beispiel zeigt sich, wie unterschiedliche Vorstellungen von Raum sozial wirksam werden, die sozialwissenschaftliche Forschung beeinflussen – und wie lange es dauert, bis wir uns jeweils freimachen können von etablierten Ansichten: So hat es bis in die ūųųŪer Jahre gedauert, bis ein breiter Diskurs im deutschsprachigen Raum einsetzte, der das Bild des Gastarbeiters infrage stellte. An dieser Stelle wäre allerdings weiterer Forschungsbedarf vonnöten, um spezifischere Aussagen darüber zu treffen, inwiefern sich die Raumannahmen in Ländern entwickelt haben, die sich selbst als Einwanderungsnationen sehen im Gegensatz zu Staaten, die nach wie vor vornehmlich von einer nationalen Zugehörigkeit ausgehen, die sich von der Nationalität vorhergehender Generationen ableitet. Dass MigrationsforscherInnen auf beiden Seiten des Atlantiks lange Zeit Schwierigkeiten damit hatten, sich von containerhaften Raumvorstellungen zu lösen, belegt die historische und vergleichende Transmigrationsforschung eindrucksvoll: Nachdem die Arbeiten von Basch, Glick Schiller und Szanton Blanc in den ūųųŪer Jahren den Grundstein für eine richtiggehende Welle von transnationalen Fallstudien gelegt hatten7Ř, inspirierte dieser Forschungs7ŘȲ
Dabei ist anzumerken, dass einzelne SozialwissenschaftlerInnen schon zu einem viel früheren Zeitpunkt ähnliche Phänomene beschrieben haben: So hat Mirjana Morokvasic bereits am Beginn der 1990er Jahre in einschlägigen Publikationen auf die Bedeutung des
ř.ŚȳZusammenfassung: Die Raumthematik in der MigrationsforsĖung 1ś9 zugang auch historisch orientierte MigrationswissenschaftlerInnen. Dabei zeigt sich, dass schon im ū8. und ūų. Jahrhundert MigrantInnen in ihren sozialen Beziehungen längst (über nationale Grenzen hinweg) ihr Alltagsleben gestalteten. Dies zeigen etwa die Arbeiten von Nancy Foner (Foner ūųųű), wenn sie die transnationalen Praktiken heutiger EinwandererInnen in den USA mit jenen der Zuwanderungswellen im ūų. Jahrhundert vergleicht. Ähnliche Schlüsse ziehen auch David Gerber (Gerber 2ŪŪū) und Hermann Zeitlhofer (Zeitlhofer 2ŪŪ5) aufgrund ihrer Untersuchungen: Gerber hat sich mit den Lebenszusammenhängen europäischer EmigrantInnen in den USA während der Einwanderungswelle des ūų. Jahrhunderts auseinandergesetzt und zeigt, wie diese Personen in einem transnationalen Raum lebten, der mit Hilfe der damals erstmals verbundenen Postsysteme der USA und Europa erfrecht erhalten wurde. Hermann Zeitlhofer hat sich hingegen mit der Migration von WanderarbeiterInnen in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie beschäftigt. Dabei zeigt sich, dass die bereits vielfach analysierten Datensätze unter diesem veränderten analytischen Blickwinkel von Pendelmigration, Rückkehrund saisonaler Wanderung überraschende neue Einsichten preisgeben: Der Autor kommt zu dem Schluss, dass sich diese WanderarbeiterInnen immer wieder zwischen einzelnen Orten hin- und herbewegten und dass schon zu diesem Zeitpunkt eine beachtliche Vielfalt von Migrationsbewegungen existierte. Diese Erkenntnisse zeigen, dass die Sozialwissenschaften gut daran tun, ihre räumlich prädeterminierten Annahmen methodologisch systematisch zu hinterfragen.
ř.4.2
Folgen raumspezifischer Homogenitätsannahmen für die Migrationsforschung
Die nach wie vor dominierend bearbeiteten Themen der Migrationsforschung sind die Assimilations-, Segregations- und Integrationsforschung7ř. Dabei werden teilweise dieselben sozialen Phänomene mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten beschrieben, was vor allem auf die unterschiedlichen historischen Entwicklungen in der Migrationsforschung zurückzuführen ist. Während im
Pendelns hingewiesen (Morokvasic 199Ś). Diese Arbeiten wurden jedoch nicht in jenem Ausmaß rezipiert, wie die anfängliche (und inzwischen als etabliert zu bezeichnende) Transmigrationsforschung. 7řȲ In der Folge verwende ich für diese weitläufigen Forschungsgebiete den Begriff Assimilations-/Integrationsforschung.
160
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
deutschsprachigen Raum der Begriff der Assimilation zögerlich verwendet wird, sind US-amerikanische ForscherInnen beim Einsatz dieses Begriffes weniger vorbelastet. Für die vorliegenden Überlegungen ist es insbesondere interessant, sich die Annahmen über Raum zu vergegenwärtigen, die den Begrifflichkeiten und theoretischen Modellen, mit denen in der Assimilations-/ Integrationsforschung gearbeitet wird, inhärent sind. Außerdem habe ich gezeigt, welche Folgen ein raumtheoretisch unreflektiertes Vorgehen in diesen Bereichen der Migrationsforschung hatte, um schließlich bereits existierende Gegenentwürfe in jenen Forschungsbereichen aufzuzeigen, die sich von ihrer theoretischen und empirischen Ausrichtung her besonders für eine Reflexion der Raumannahmen eignen. Für Letzteres ist insbesondere die transnationale Migrationsforschung zu nennen. Eine implizite Annahme eines Großteils der der Assimilations-/Integrationsforschung ist jene einer kulturell, ethnisch und sozial homogenen Mehrheitsgesellschaft. Die zweite Annahme ist, dass von außen Fremde zuziehen, die sich ebenfalls in derartige in sich geschlossene, homogene Gruppen einteilen lassen. Das heißt, auch für die ImmigrantInnen wird angenommen, dass sie sich kulturell, sozial und historisch als eine Einheit zusammenfassen lassen. Nur so ist die Basis dafür gegeben, dass es uns in sozialwissenschaftlichen Diskursen weithin unhinterfragt möglich ist, von ethnischen bzw. nationalen Gruppen und ihrer Assimilation bzw. Integration zu sprechen. Sowohl die Homogenitätsannahme der aufnehmenden Gesellschaft als auch der einzelnen zuwandernden Gruppen wurde bereits weiter oben ausführlich diskutiert und kritisiert (vgl. etwa Pieterse ūųų8). Dabei erscheint mir der Hinweis wichtig, dass diese Homogenisierungsannahmen nur so lange aufrecht zu erhalten sind, als wir Raumkomponenten außer Acht lassen: Sobald soziale Beziehungen untersucht werden oder Herkunft über mehrere Generationen hinweg zum Gegenstand der Analyse gemacht wird, sind derartige homogenisierende Ansätze zum Scheitern verurteilt, da die Heterogenität der sozialen Realität zeigt, dass simplifizierende Gruppenbeschreibungen nicht mehr adäquat sind. Allerdings können derartige Ergebnisse nur schwer sichtbar werden, wenn Forschungsvorhaben bereits mit assimilations- bzw. einseitigen integrationstheoretischen Vorgaben konzipiert werden. Dies ist etwa der Fall, wenn der Grad der Assimilation hauptsächlich an Eigenschaften der ImmigrantInnen gemessen: Inwiefern sie die Landessprache erlernt haben (bzw. eine weitere Umgangssprache innerhalb der Familie aufgegeben haben); ob sie kulturelle und sozialstrukturelle Merkmale der einheimischen Bevöl kerung angenommen haben bzw. sich mit diesen identifizieren. All jene Aspekte sozialen Lebens, die nicht in diese Schemata eingefügt werden
ř.ŚȳZusammenfassung: Die Raumthematik in der MigrationsforsĖung 161 können, werden demnach entweder ignoriert oder als Hemmschuh für die Integration/Assimilation angesehen. Letzteres zeigt sich etwa deutlich beim Thema der Sprachaneignung: Hier ver treten einflussreiche Migrationsforscher wie Hartmut Esser (Esser 2ŪŪŰb) die Ansicht, dass die Kenntnis der Herkunftssprache in den Folgegenerationen die Integration im Inland bis auf zu vernachlässigende Ausnahmen behindert: Ausgehend von einem Rational Choice-Ansatz wird argumentiert, dass die Ressourcen, die einer Person zur Verfügung stehen, begrenzt sind und dass daher sorgsam überlegt werden muss, in welche Sprachen, soziale Beziehungen, etc. investiert werde7Ś. Das Erlernen der Sprache der (Groß-)Eltern ist in dieser Perspektive somit eine Fehlinvestition unter Bedingungen der Einwanderung, die keinesfalls zu einer verbesserten Integration beitragen kann – sei es nun im schulischen, beruflichen oder privaten Bereich. Sprachwissenschaftliche Studien wie jene von Katharina Brizi° dokumentieren jedoch, dass hier von anderweitig widerlegten Prämissen den Ablauf des Spracherwerbs betreffend ausgegangen wird (Brizi° 2ŪŪ5): Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass es für das Spracherlernen wichtig ist, die Herkunftssprache (der Eltern) sehr gut zu beherrschen, um sich auf dieser Basis weitere Sprachen anzueignen7ś. Dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, ohne detaillierte und disziplinenübergreifende Forschung mit einem Blick auf jene Bereiche, die von Integrations-/Assimilationsforschung häufig von vornherein ausgeschlossen oder nur partiell werden, empirisch gehaltvolle Aussagen zu treffen. Hier läuft die Migrationssoziologie im Fall eines wissenschaftlichen Alleingangs auch Gefahr, existierende Machtkonstellationen durch die hervorgebrachten Forschungsergebnisse noch zu fördern – wenn etwa aufgrund der o.ȹg. Überlegungen politische Empfehlungen oder Vorschläge in öffentlichen Debatten gemacht werden, was etwa die Förderung muttersprachlicher Kompetenzen in Bildungseinrichtungen wie Kindergarten oder Schule anlangt. Nur allzu oft wird noch immer davon ausgegangen, dass dies ein schädigender Faktor in der Sprach- und Sozialentwicklung von Jugendlichen darstellt, wohingegen der Spracherwerb des Aufnahmelandes im Vordergrund steht (Esser 2ŪŪŰb). Wie etliche MigrationsforscherInnen Sprachkompetenzen aus dem Herkunfts7ŚȲ Esser nimmt von dieser Regel nur einige Wenige aus, die aufgrund einer äußerst günstigen Ressourcenausstattung auf unterschiedlichsten Ebenen in die Beherrschung zweier Sprachen investieren können ohne Benachteiligung zu riskieren. 7śȲ Die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Erkenntnis besonders für jene Personen mit Migrationshintergrund ableiten, deren Eltern selbst Verwerfungen in ihrer Herkunftssprache erlebt haben (bis hin zum Sprachtod), werden in dieser Debatte ebenfalls nicht außer acht gelassen (vgl. Brizi° Ř00ś).
16Ř
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
land der Eltern als negatives Zeichen bezogen auf die Integration/Assimilation werten, werden durchaus auch innerethnische soziale Beziehungen als Zeichen des Rückzugs in die eigene ethnische Gruppe – und somit als Segregation – gewertet (Schütze 2ŪŪŰ). Ein raumtheoretisch fundierter Zugang kann hier helfen, derartige Schwächen der Forschung zu erkennen. Arbeiten wie jene von Andreas Pott zeigen beispielsweise, dass die diskutierten Annahmen der empirischen Realität nur teilweise entsprechen (vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 5.2.3). Potts Rekonstruktion der Bedeutung von Ethnizität im Bildungsaufstieg basierend auf einem raumtheoretischen Zugang zeigt an, welche unterschiedlichen Bedeutungskonnotationen mit zunächst ähnlich wirkenden sozialen Beziehungsgeflechten verbunden sein können. Auch dies spricht wiederum dafür, die impliziten raumtheoretischen Annahmen zu hinterfragen, mit denen wir als MigrationsforscherInnen bereits ins Feld gehen. Für die Integrationsforschung hat Adrian Favell in seinem Beitrag darauf hingewiesen, wie eng die Migrationswissenschaften mit politischen Interessen der untersuchten Nationen verbunden sind (Favell 2ŪŪ5). Von besonderer Bedeutung ist hier der Hinweis, dass es in den letzten Jahren aufgrund der Förderstrukturen in Europa und den USA zu einer engen Zusammenarbeit zwischen staatlichen AuftraggeberInnen und SozialwissenschaftlerInnen gekommen ist. Sowohl in der politischen als auch in der wissenschaftlichen Diskussion steht der Integrationsbegriff hoch im Kurs – was zu der Problematik führt, dass häufig nicht klar ist, wo der Ausdruck als Teil eines politischen Programms zu verstehen ist und wann er als wissenschaftliches Konzept verwendet wird. Die Gründe für die generelle Vorliebe für den Integrationsbegriff in Europa ortet Favell dabei in der Bedeutungskonnotation, die den Eindruck einer historischen Kontinuität vermittelt: Die Nationalstaaten bleiben als solche in ihrem Charakter unverändert, auch unter Bedingungen der Einwanderung. Dem Nationalstaat und seinen Einrichtungen wird dabei das Potential zugeschrieben, die Eingewanderten der Mehrheitsbevölkerung anzugleichen, sie sozusagen zu ununterscheidbaren Teilen eines Ganzen zu machen – sodass die Einheitlichkeit weiterhin bestehen bleiben kann. Wenn sozialwissenschaftliche Forschung diese Sichtweise teilt und in diesem Sinne Integrationsforschung betreibt, ist nicht davon auszugehen, dass sie die Vielfalt migrantischer Lebenswirklichkeiten und damit verbundene Fragen sozialer Ungleichheit adäquat untersuchen kann. Vielmehr ist sie dann ein willfähriger Helfer nationalstaatlicher Interessen. Allerdings sind auch einige Faktoren zu bedenken, die es SozialwissenschaftlerInnen erschweren, aus diesem Fahrwasser nationalstaatlich geprägter Denkmuster auszubrechen: Sie sind erstens von Fördergeldern abhängig,
ř.ŚȳZusammenfassung: Die Raumthematik in der MigrationsforsĖung 16ř um ihre Forschungsarbeiten durchzuführen, was bedeutet, dass sie ihre Forschungsanträge und -ergebnisse in einer Art und Weise verfassen müssen, die den – meist nationalstaatlichen Fördergebern – entsprechen. In Europa ist für Migrationsangelegenheiten auch die Europäische Union ein wichtiger Geldgeber. Obwohl es sich hier um einen supranationalen Forschungssponsor handelt, werden auch innerhalb der Förderprogramme der EU durchaus nationalstaatliche Grenzen in der Migration betont – etwa wenn es um die „Integration“ von MigrantInnen geht, um den ökonomischen Beitrag, den sie leisten können oder die Weiterentwicklung der Europäischen Union. Leider liegen bislang noch keine Analysen vor, die Fragen danach genauer auf den Grund gehen, wie sich die Vorgaben derartiger Forschungsprogramme auf die Ausrichtung migrationswissenschaftlicher Untersuchungen auswirken.
ř.4.ř
Zum Zusammenhang zwischen territorialer Segregation und sozialer Segmentation
Ein thematischer Bereich in der Migrationsforschung, der seit den Arbeiten der Chicago School bearbeitet wird, stellt die Frage nach der wohnortspezifischen Segregation bzw. der Durchmischung von Wohngebieten dar. Vor allem im städteplanerischen und -baulichen Umfeld ist nach wie vor auch die Überzeugung anzutreffen, dass soziale Beziehungen durch bauliche Arrangements gefördert werden könnten. Hier wird häufig von einem direkten Zusammenhang zwischen geographischer Nähe und sozialen Bezügen ausgegangen (vgl. etwa Häußermann und Siebel 2ŪŪ4, ūūūȹff.). Diese in Teilbereichen langsame Rezeption soziologischer Forschung ist umso erstaunlicher als Georg Simmel schon vor hundert Jahren darauf hingewiesen hat, dass physische nicht unbedingt zu sozialer Nähe führen muss. Nichtsdestotrotz wird sowohl die „Kontakthypothese“ als auch die „Konflikthypothese“ weiterhin zum Ausgangspunkt von empirischer Forschung gemacht. Wie die empirisch bedeutsamen Beziehungskonstellationen aus der Akteursperspektive der ImmigrantInnen beschaffen sind, wird dabei teilweise ausschnittweise betrachtet. Mit sozialer Segmentation ist hingegen ein Prozess der Abschließung sozialer Gruppen von der umgebenden Gesellschaft gemeint. Ein weiterer bedeutender Themenkomplex in Bezug auf das Wohnumfeld geht der Frage nach, inwiefern das Verweilen in Wohnviertel mit hohem AusländerInnenanteil ein Indikator für Segregation ist. Wilhelm Heitmeyer befindet etwa, dass die örtliche Segregation nicht mit Integration in die Mehrheitsgesellschaft einhergehen kann, weil diese Abschottung zu einer „Bin-
16Ś
řȳDie Raumthematik in der MigrationsforsĖung
nenintegration“ führe, was einer Verfestigung der sozialen Ungleichheit der Eingewanderten gleichkomme (Heitmeyer ūųų8). Allerdings lassen sich auch überzeugende Argumente für eine alternative Position in dieser Fragestellung finden: Demnach ist zunächst einmal zu klären, ob die untersuchten Personen tatsächlich freiwillig in sog. „Ausländerviertel“ wohnen – oder ob sie aufgrund struktureller Benachteiligungen auf dem Wohnungsmarkt nicht vielmehr dazu gezwungen sind. Zweitens ist die Frage, ob derartige strukturell vergleichsweise benachteiligte Gebiete nicht aufgrund politischer Entscheidungen unterversorgt sind: Häufig wird in die Bildungsstätten dieser Bereiche sowie andere öffentliche Einrichtungen weniger investiert als in vergleichbare jedoch sozioökonomisch besser gestellte Bezirke. Damit wandelt sich der Erklärungsansatz hin zu folgendem Zusammenhang: Es sind somit nicht mehr „die MigrantInnen“, die einander gegenseitig am sozialen Aufstieg hindern, sondern die unzureichende strukturelle Ausstattung sowie die Folgen gesellschaftlicher Diskriminierung, die zu den negativen Auswirkungen führen, welche den sog. „Ausländervierteln“ zugeschrieben werden: Hierzu zählen etwa die statistisch gesehen vergleichsweise geringere Schulausbildung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, schlechtere Chancen für den Berufseinstieg, geringeres Einkommen und vielfach beeinträchtigte Wohn- und Lebensbedingungen. Die enge Verknüpfung von Wohnvierteln mit hohem Zuwandereranteil und Segregation wird auch von einer anderen Seite her infrage gestellt: In den letzten Jahren hat eine Vielzahl sozialwissenschaftlicher Arbeiten darauf hingewiesen, dass wir trotz beeindruckender gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen wie Individualisierung und vor allem Globalisierung nicht den Fehler begehen sollten, das Lokale in seiner Bedeutung zu unterschätzen. Helmuth Berking hebt in seinem Beitrag zu dieser Diskussion etwa hervor, dass wir es mit einer Vielzahl unterschiedlicher sozialer Einbettungen zu tun haben (Berking 2ŪŪŰ). Diese entstehen dadurch, dass überregionale und transnationale Entwicklungen in den jeweiligen lokalen Kontext eingebettet zu sehen sind. Aus dieser Analyseperspektive heraus macht es wenig Sinn weiterhin wie in der Assimilations- und Integrationsforschung üblich von vorgegebenen Containern für soziales Handeln (die Nachbarschaft, ein Wohnviertel, ein Nationalstaat, etc.) auszugehen, da auch überregionale soziale Beziehungen in einen lokalen Kontext eingebunden werden. Eine raumsensible Forschungsperspektive in der Migrationsforschung kann hier einen wichtigen Beitrag leisten: Diese Reflexionsebene erlaubt es uns, etwa nach Raumprofiten im Sinne Pierre Bourdieus zu fragen, anstatt
ř.ŚȳZusammenfassung: Die Raumthematik in der MigrationsforsĖung 16ś jene Personen mit Migrationshintergrund als defizitär zu beschreiben, die einem bestimmten Wohnortkontext nicht entkommen können.
ř.4.4
Der Beitrag der Transmigrationsforschung zur Reflexion des Raumes in der Migrationsforschung
Obwohl die Transmigrationsforschung generell eindrückliche Beispiele dafür liefert, dass die Migrationsforschung ihre eigenen raumtheoretischen Annahmen zugunsten einer adäquateren Herangehensweise an die Untersuchung des empirisch beobachtbaren Migrationsgeschehens hinterfragen sollte, haben sich bislang wenige TransmigrationsforscherInnen explizit mit der Raumthematik auseinandergesetzt76. Meiner Ansicht nach liegt hier ein großes Potential für die weitere Theoriebildung, da Raumfragen eine Möglichkeit bieten, die Transmigrationsforschung konzeptionell wie empirisch weiter zu entwickeln. Die Reflexion von Raumdimensionen auf Ebene der MigrationsforscherInnen, der untersuchten Personen und der in den Migrationsprozess involvierten sozialen Institutionen bietet hier eine Möglichkeit, nach der Hinterfragung des methodologischen Nationalismus einen Schritt weiter zu gehen in der migrationssoziologischen Theoriebildung. Durch ein derartiges raumsensibles Vorgehen in der Migrationsforschung kann gewährleistet werden, dass SozialwissenschaftlerInnen nicht mit wenig angemessenen Raumvorstellungen empirisch beobachtbare soziale Realitäten schlichtweg übersehen. Dabei liefern migrationswissenschaftliche Studien der letzten Jahre eindrückliche Beispiele dafür, welche Folgen ein unreflektierter Umgang mit Raumdimensionen hat. Bei einer Kritik existierender Arbeiten ist jedoch die bereits diskutierte historische Bedingtheit der Raumvergessenheit der Migrationsforschung einerseits mit zu beachten; andererseits lohnt jeweils die Frage, welche zusätzlichen Erkenntnisgewinn eine raumsensible Analyse im Einzelfall einbringen würde. Diese Fragestellungen sind mit der vorliegenden Arbeit auf keinen Fall abgehandelt, sondern werden erst in Zukunft weiter zu bearbeiten sind.
76Ȳ
Als Ausnahmen sei hier insbesondere auf die Arbeiten von Ayse Caglar (Caglar Ř006), Thomas Faist (Faist Ř00Śa), Nina Glick Schiller (Glick Schiller Ř00Ş), Katharyne Mitchell (Mitchell 1997), Ludger Pries (Pries Ř00Ş) und Carmen Voigt-Graf (Voigt-Graf Ř00Ś) verwiesen.
TEIL II Entwicklung einer raumsensiblen Migrationsforschung
4
Methodologische Bemerkungen
Aufgrund der bisherigen Ausführungen ließe sich nun argumentieren, dass es ausreicht, die vorliegenden raumsoziologischen Überlegungen in der Migrationsforschung bekannt zu machen und empirische Studien durchzuführen, die anhand der bereits ausgearbeiteten methodologischen Konzepte aus der raumtheoretisch orientierten Sozialwissenschaft (etwa von Dieter Läpple oder Gabriele Sturm) vorgehen. Von meinem methodologischen Standpunkt aus betrachtet ist auf diesem Wege jedoch keine Lösung der Problematik zu erreichen, da ich von einem spezifischen Verständnis des Sozialen ausgehe, das ich im Folgenden in aller Kürze anhand der Beschreibung einiger Eckpfeiler umreißen möchte77. Diesen methodologischen Ausführungen ist eine Darstellung der Forschungsperspektive der Grounded Theory vorangestellt, die meine empirischen und theoretischen Arbeiten prägt.
4.1
Empiriebasierte Theoriebildung der Grounded Theory
Das Zustandekommen der vorliegenden Arbeit entspringt der Forschungslogik und der darauf basierenden Forschungspraxis der Grounded Theory. Ausgangspunkt der beschriebenen Überlegungen war der Beginn meiner Dissertation im Jahr ūųų8 (Scheibelhofer 2ŪŪū), als ich erste Interviews mit in New York lebenden ÖsterreicherInnen führte, die nach ūųŰ5 ausgewandert sind. Dabei stellte ich unterschiedlichste soziale Praktiken der Mobilität bei diesen Personen fest, die ich zunächst generalisierend als „Ausgewanderte“ bezeichnete. Bald zeigte sich in den Erzählungen dieser Personen, dass sich einige von ihnen parallel in Österreich und in den USA verorteten – obwohl
77Ȳ Dabei ist gegen die genannten methodologischen Entwürfe per se nichts einzuwenden. Allerdings zeigt sich an diesen beispielhaft genannten Arbeiten, dass diese Entwürfe nur dann sinnvoll einzusetzen sind, wenn die soziale Konstruktion von Raum die zentrale Forschungsfrage ist, die untersucht wird. In den meisten migrationssoziologischen Arbeiten ist dies jedoch nicht der Fall.
E. Scheibelhofer, Raumsensible Migrationsforschung, DOI 10.1007/978-3-531-94007-6_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
170
ŚȳMethodologisĖe Bemerkungen
sie nach gängigen Definitionen der Migration7Ş seit Jahren oder Jahrzehnten „ausgewandert“ waren. Im einem später folgenden Forschungsprojekt zu österreichischen ForscherInnen im Ausland (Scheibelhofer 2ŪŪ5; Scheibelhofer 2ŪŪŰc; Scheibelhofer 2ŪŪų) wurde ich wieder durch die erhobenen Daten auf transnationale Lebensstile von WissenschaftlerInnen gestoßen. Hilfreich war dabei, dass aufgrund meiner Erfahrungen aus der Dissertation die Untersuchung von Anfang an so angelegt war, dass auch grenzüberschreitende Beziehungen in der Datenerhebung systematisch berücksichtigt wurden. So ist die Beschäftigung mit der hier nun ausgearbeiteten Thema eine zirkuläre79 – die immer wieder zwischen der eigenen empirischen Erhebung und Dateninterpretation und der Lektüre hierzu existierender Arbeiten abwechselt. Eine derartige Organisation der Forschungsarbeit zeichnet die Arbeit der Grounded Theory seit deren Anfängen aus. Das ausschlaggebende Moment, mich mit dem Thema des Raumes im Zusammenhang mit Migration auseinanderzusetzen, wurde bereits in der Einleitung beschrieben (hier zitierte ich eine Interviewpartnerin, die ich im Zuge eines Forschungsprojektes im Jahr 2ŪŪ2 interviewt habe und die ihre eigenen Raumkonzepte im Alltag auf faszinierende – und für mich damals überraschende – Art und Weise thematisierte). Diese Interviewpassage hat das Forschungsteam in der Analyse des Datenmaterials lange beschäftigt und eröffnete für mich rückblickend gesehen den Zugang zum Thema Raum und Migration. Erst aufgrund dieses Impulses aus der empirischen Arbeit heraus wandte ich mich der theoretischen Aufarbeitung und der migrationsspezifischen Sekundärliteratur zu dieser Thematik zu. Hier fand ich, dass eine derartige raumsensible Perspektive bislang kaum thematisiert wurde, was mich schließlich zu der Entscheidung veranlasste, mich weiter mit der Frage des Raumes aus sozialwissenschaftlicher Sicht bezogen auf die empirische Migrationsforschung auseinander zu setzen. Ein derart zirkuläres Vorgehen ist dabei in der Grounded Theory üblich: Bereits Anselm Strauss publizierte aufgrund eines solchen Vorgehens die Monographie „Mirrors and Masks. The Search for Identity“ (Strauss ūų5ų), in 7ŞȲ
Vgl. etwa Treibel: „Migration ist der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen. So verstandene Migration setzt erwerbs-, familienbedingte, politische oder biographisch bedingte Wanderungsmotive und einen relativ dauerhaften Aufenthalt in der neuen Region oder Gesellschaft voraus; er schließt den mehr oder weniger kurzfristigen Aufenthalt zu touristischen Zwecken aus“ (Treibel 1999, Ř1). 79Ȳ Zum prozesshaften Vorgehen in der interpretativen Sozialforschung vgl. Froschauer und Lueger, Ř009.
Ś.1ȳEmpiriebasierte Theoriebildung der Grounded Theory
171
der er sich ausgehend von empirischem Material mit der Frage der Identitätsentwicklung von Erwachsenen auseinandersetzt. Auch in „Images of the American City“ (Strauss ūųŰū) schlägt Strauss einen vergleichbaren zirkulären Erkenntnisweg ein, indem er über die Analyse von unterschiedlichen Datenmaterialien und die Interpretation von Sekundärliteratur zur Stadtentwicklung zu einer neuen These des Städtischen in Amerika gelangt. Dabei zeigt sich die Besonderheit des Umgangs mit Theorie in der Grounded Theory, ebenso wie in einem weiteren in diesem Kontext zu nennenden Werk desselben Autors „The contexts of social mobility“ (Strauss ūųűū). Theoretische Beiträge können nicht für sich stehen, sondern müssen sich an der Empirie beweisen. Dennoch muss bereits Erdachtes und Erforschtes nicht grundsätzlich ignoriert werden, da dieses Wissen andernfalls möglicherweise implizit und somit unkontrolliert in die Arbeit mit einfließt. Der erkenntnistheoretische Weg in der Grounded Theory führt daher von empirischen Daten und ihrer Interpretation zu Theorie und Sekundärliteratur und dann wieder zurück zur Empirie, wo sich jedes „empirisch begründete Theoriestück“ im Sinne der Grounded Theory von Neuem beweisen muss. Die Entwicklung eines raumsensiblen Ansatzes ist mit dieser Arbeit somit auch nicht als abgeschlossen zu betrachten, sondern als eine Fortführung bereits geleisteter Arbeiten in diesem Bereich. Mit anderen Worten, gerade weil die Migrationsforschung offensichtlich bislang noch nicht ausreichend Theoriebildung zur Raumthematik betrieben hat, werde ich im folgenden fünften Kapitel diesen raumsensiblen Ansatz auf der Basis von bereits bestehenden – und wo möglich mit eigenen – Forschungsergebnissen belegen. Allerdings wird es vieler weiterer Forschungsanstrengungen bedürfen, um die entwickelten Dimensionen einer raumsensiblen Migrationssoziologie empirisch und theoretisch zu vertiefen. Mein eigenes Verständnis der Grounded Theory orientiert sich dabei jedoch nicht nur an den klassischen Autoren – den „Erfindern“ der Grounded Theory – sondern ist geprägt von meiner Beschäftigung mit Arbeiten aus verschiedenen Bereichen der Wissenssoziologie (Berger und Luckmann ūųű2, (19ŰŰ); Lueger 2ŪŪū; Reichertz 2ŪŪ4; Soeffner 2ŪŪŰ) und der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik (Froschauer und Lueger 2ŪŪ3; Lueger 2ŪŪū). Daraus entstand eine reflexive Vorgehensweise, die auf den Annahmen eines Konstruktivismus aufruht und die – mit anderen theoretischen Wurzeln – auch im angloamerikanischen Raum seit einigen Jahren VertreterInnen gefunden hat (Charmaz 2ŪŪŰ; Clarke 2ŪŪ5).
17Ř 4.2
ŚȳMethodologisĖe Bemerkungen Die handlungstheoretischen Annahmen des Symbolischen Interaktionismus
Die bereits erwähnten Vertreter der Chicago School haben nicht nur im Bereich der Migrationsforschung Herausragendes geschaffen. Auch in der Konzeption des Gegenstands der Soziologie gilt diese Forschungstradition und ihr Einfluss auf spätere, prägende SoziologInnen bis heute als eine der wichtigsten Grundpfeiler der Verstehenden Soziologie (Richter 2ŪŪ2, ű5). Dabei haben sich Sozialforscher wie Robert Park, Ernest Burgess und Herbert Blumer maßgeblich auf die Prämissen des Pragmatismus als einer Philosophie der Handlung bezogen, wobei insbesondere George Herbert Mead und John Dewey eine entscheidende Rolle darin zukommt, die pragmatistischen Grundideen in die soziologische Theoriebildung einzubinden. Diese beiden Sozialforscher haben den Stellenwert der Kreativität für menschliches Handeln hervorgehoben, da nur durch diese spezifische Intelligenzleistung neue Möglichkeiten des Agierens gefunden werden können (vgl. Joas ūų88, 423). John Dewey ist außerdem die Betonung der zwischenmenschlichen Kommunikation als Schlüssel zur Lösung kollektiver Probleme zu verdanken. Kommunikation wird bei ihm zum Verbindungsglied zwischen dem Individuum und der universellen Geltung von allgemeinen Symbolsystemen (vgl. Rühl 2ŪŪ8). William Thomas ist die prägende Verbindung zwischen Pragmatismus und soziologischer Theoriebildung zu verdanken. Thomas blieb dabei – entsprechend seiner disziplinären Ausbildung – einem ethnographischen Vorgehen in der Forschung treu. Ein wichtiger theoretischer Beitrag von William Thomas, den er im Zuge der Arbeiten gemeinsam mit Florian Znaniecki zu „The Polish Peasant in Europe and America“ (und hier vor allem im methodologischen Vorwort) leistet, betrifft die Frage der Situationsdefinition durch Individuen. Bereits durchlebte Situationen und deren erfolgreiche Situationsdefinitionen prägen demnach die aktuellen Orientierungen, mit denen Individuen in soziale Interaktionen eintreten. Dabei kommt der Definition einer Situation bereits eine bedeutende Rolle für den weiteren Verlauf des sozialen Handelns zu. Diese Definition zeichnet sich dadurch aus, dass sie riskant ist und die Bestimmung unterschiedlicher Situationen durch ein und dieselbe Person häufig in sich nicht kohärent ist. Dadurch wird eine Flexibilität gewährleistet, die gesellschaftlich wichtig ist, da Individuen permanent mit für sie neuartigen Situationen konfrontiert sind. Auch soziale Institutionen sieht William Thomas nicht als starre Gebilde an, sondern als Einheiten, die einer permanenten Veränderung unterworfen sind. In dieser Konzeption ist die Veränderung traditionaler Gesellschaften hin zu
Ś.ŘȳDie handlungstheoretisĖen Annahmen
17ř
moderneren Lebensformen auch eine Chance zur kreativen Neuorganisation (vgl. Joas ūų88, 43ū). Interessant ist an dieser theoretischen Fassung auch, dass Kontinuitäten wie etwa die fortdauernde Bedeutung von ethnischen Zuschreibungen in völlig veränderten Kontexten denkbar werden. Bei der Umsetzung dieser Annahmen in der empirischen Forschung war es für Thomas entscheidend, die jeweils adäquaten Datenquellen zu nutzen, die für die interessierenden Fragestellungen am besten Auskunft geben können. Dies zeigt sich in beeindruckender Weise in seiner Kombination unterschiedlichster natürlicher Datenmaterialien, die er zusammen mit Znaniecki in „The Polish Peasant in Europe and America“ analysierteŞ0. Für heutige sozialwissenschaftliche Forschung ist aus diesen Überlegungen nach wie vor abzuleiten, dass das methodische und methodologische Vorgehen keinen Selbstzweck zu erfüllen hat, sondern der jeweiligen Fragestellung untergeordnet ist. Daraus lässt sich auch eine Entscheidungshilfe ableiten, wann etwaige methodologische raumtheoretische Entwürfe sinnvoll zum Einsatz gebracht werden können. Abgesehen davon geht eine weitere wichtige Basisannahme für das interpretative Paradigma auf Thomas zurück – das bekannte „Thomas-Theorem“ (Thomas und Thomas ūų28, 522)Ş1. Es besagt, dass Situationen, die Menschen als wahr definieren, in ihren Konsequenzen wahr sind. Für raumspezifische Überlegungen hat dies enorme Konsequenzen: Es macht deutlich, welche kaum zu unterschätzenden Auswirkungen räumliche Annahmen (etwa der Nationalstaat, die „natürliche“ Gegebenheit einer autochthonen Bevölkerung, etc.) für die Wahrnehmung von Migration in einer Gesellschaft haben. Die Rekonstruktion räumlicher Annahmen wird also immer Teil der Migrationswissenschaft sein müssen, wenn die einschlägige Forschung nicht Gefahr laufen will, zu einer Hilfswissenschaft des Nationalstaates zu werden. Für die Auseinandersetzung mit dem Thema des Raumes in der Migrationsforschung bedeuten diese Überlegungen auch, dass die Situationsdefinitionen der AkteurInnen zunächst einmal hinterfragt werden müssen, und zwar dahin gehend, welche Annahmen diese Personen über Situationen, in denen sie handeln, haben.
Ş0Ȳ Ş1Ȳ
Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel ř.1. Zu einer Kritik der Rezeption siehe Robert K. Merton (Merton 199ś).
17Ś 4.3
ŚȳMethodologisĖe Bemerkungen Zur Unterscheidung zwischen den Perspektiven der Untersuchten und den Perspektiven der SozialwissenschaftlerInnen
Alf red Schütz (Schütz ūųűū, Ű8) hat in seiner Abhandlung zur Begriffs- und Theoriebildung in den Sozialwissenschaften darauf hingewiesen, dass eine Unterscheidung in Konstruktionen ersten und zweiten Grades eine grundlegende Operation für die Sozialwissenschaften darstellt: Um die soziale Wirklichkeit zu erfassen, müssen die vom Sozialwissenschaftler konstruierten gedanklichen Gegenstände auf denen aufbauen, die im Alltagsverstand des Menschen konstruiert werden, der sein tägliches Leben in der Sozialwelt lebt. Daher sind die Konstruktionen der Sozialwissenschaften sozusagen Konstruktionen zweiten Grades, das heißt Konstruktionen von Konstruktionen jener Handelnden im Sozialfeld, deren Verhalten der Sozialwissenschaftler beobachten und erklären muß, und zwar in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln seiner Wissenschaft.
Bezogen auf die Raumthematik in der Migrationsforschung bedeutet dies, dass sich SozialwissenschaftlerInnen mit den Raumkonstruktionen der untersuchten Personen befassen sollten, indem sie diese als Konstruktionen ersten Grades bearbeiten. In den Arbeiten von Alfred Schütz selbst ist ein solches Verständnis der Thematik freilich noch nicht angelegt, da er Raum als materialen, fix vorgegebenen Hintergrund von sozialen Handlungen sieht und daher nicht weiter in seine Überlegungen mit einbezieht. Deutlich wird dies etwa in der posthum publizierten Schrift zu den „Strukturen der Lebenswelt“ (Schütz und Luckmann ūųų4, (19ű9), Ű3ȹf.): Hier spricht Schütz von Raum und Zeit, die sich um den Menschen „als Mittelpunkt“ herum „anordnet“ (ebd.). Noch deutlicher wird sein essentialistisches Raumverständnis in dem Text, wenn Schütz fortfährt, dass ausgehend vom menschlichen Körper alle Dinge in Bezug zu diesem Mittelpunkt des Koordinatensystems angeordnet sind (ebd., Ű4). Damit ist es für Schütz zwar notwendig, den Menschen selbst als Ausgangspunkt anzunehmen, um Räume zu beschreiben; der Raum als Anordnung von Elementen wird jedoch nicht relational konstituiert, sondern besteht aus physisch beschreibbaren Gegebenheiten, die auch ohne das sie betrachtende Individuum vorhanden wären. Daraus folgt, dass sie sich auch nicht weiter durch den Bezug auf einen Menschen verändern. Im Licht der vorangehenden Diskussion ist jedoch deutlich geworden, dass Raumkonzepte (auch) Machtinstrumente sind – auch oder gerade wenn sie nicht bewusst als solche eingesetzt werden. Es ist daher anzunehmen, dass
Ś.řȳZur UntersĖeidung zwisĖen den Perspektiven
17ś
die meisten untersuchten Personen von Containerraumkonzepten in ihrem Alltagshandeln ausgehen, wobei entsprechende empirische Untersuchungen noch fehlen, die eine breite Grundlage für eine entsprechende Diskussion und Schlussfolgerung darstellen würden. Bestehende empirische Belege aus migrationssoziologischen Studien deuten jedoch darauf hin, dass Personen mit Wanderungserfahrungen auch von relationalen oder – wenn auch in selteneren Fällen – von konstruktivistischen Raumvorstellungen ausgehen könnenŞŘ. Obwohl Alfred Schütz (Schütz ūųűū) selbst kaum direkt zu einer raumsensiblen Analyse beitragen kann, liefern seine Überlegungen insbesondere zur Konstruktion erster und zweiter Ordnung für die weiteren konzeptuellen Ausführungen bezüglich einer raumsensiblen Soziologie eine wichtige Differenzierung: Eine raumsensible Migrationsforschung unterscheidet daher zwischen einer raumtheoretischen Reflexion der Perspektive der WissenschaftlerInnen und der Untersuchung der (meist impliziten) Raumannahmen der untersuchten AkteurInnen. Diese beiden Ebenen strukturieren daher die Ausführungen in den nun folgenden Kapiteln zu einer raumsensiblen Migrationsforschung. Aus einer wissenssoziologischen Perspektive heraus lässt sich argumentieren, dass weite Teile der Migrationsforschung ausgehend von einem unreflektierten Alltagsverständnis von Räumen arbeiten. Forschungsstrategien wie sie von Peter Berger und Thomas Luckmann (Berger und Luckmann ūųųŰ, (19Ű9)) sowie anderen WissenssoziologInnen vorgeschlagen werden, könnten hier einen Weg zur Überwindung des beschriebenen methodologischen Nationalismus aufzeigen: Auf die Überlegungen von Alfred Schütz gestützt entwickelten Peter Berger und Thomas Luckmann den Zugang der Wissenssoziologie weiter, um die Analyse der Lebenswelt in der Soziologie zu etablieren. Damit gelang es diesen beiden Autoren, den Prozess, im Zuge dessen jede Art von Wissen sozial als Teil der Realität angesehen wird, soziologisch ertragreich in den Blick zu bekommen. Aufgabe einer Wissenssoziologie ist es seither auch, jene Prozesse nachzuvollziehen, die wir im Alltagsleben nicht wahrnehmen können, da unsere Realitätsannahmen für gewöhnlich unhinterfragt bleiben. Dabei ist eine derartige raumsensible Migrationsforschung, die von der interpretativen Soziologie informiert ist, davon geprägt, nicht vorab methodologische Schablonen zu entwerfen, sondern alltägliche Gewissheiten aufzubrechen, indem sie systematisch hinterfragt werden. Welche Fragen dies in einem spezifischen migrationssoziologischen Vorhaben sein müssten, ist ŞŘȲ
Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel ś.1.ř.
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ŚȳMethodologisĖe Bemerkungen
dabei daher nicht vorab zu definieren. Es kann somit eine methodologische Position der raumsensiblen Migrationsanalyse entworfen werden, die jene Ebenen aufzeigt, auf denen raumsensible Migrationsforschung ansetzen kann. Außerdem lässt sich anhand der existierenden sozialwissenschaftlichen Literatur zum Thema Raum ein raumtheoretisch informierter Standpunkt erarbeiten, der MigrationswissenschaftlerInnen entsprechend den bearbeiteten Fragestellungen hilfreiche theoretische Ansätze vermitteln kann.
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Raumsensible Migrationsforschung
Auf Basis der beschriebenen Defizite der Migrationsforschung und meines Erachtens nach hilfreichen Ansätzen aus der Raumsoziologie lege ich im Folgenden dar, wie eine raumsensible Migrationsforschung methodologisch arbeiten kann. Dazu unterscheide ich drei Ebenen der Analyse: Jene der Alltagshandlungen und -sinnkonstruktionen der Handelnden selbst; die Ebene der Raumkonstruktionen der forschenden MigrationswissenschaftlerInnen und drittens die Ebene von Systemen und Institutionen und deren Wirkungen auf Raumkonstruktionen der untersuchten AkteurInnen. Im Folgenden wird für jede der genannten drei Analyseebenen expliziert, wie sich eine raumsensible Migrationsforschung von einer herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Herangehensweise unterscheidet. Für alle drei Analyseebenen wird wiederum zwischen den im raumtheoretischen Abschnitt herausgearbeiteten unterschiedlichen Raumkonzepten differenziert. Im Gegensatz zu absolutistischen Konzepten schlage ich vor, die relativistischen Raumvorstellungen aus analytischen Gründen nochmals zu unterteilen und zwar einerseits in relationale Raumkonzeptionen und andererseits in konstruktivistische Ansätze. Bei relationalen Vorstellungen stehen die sozialen Beziehungen zu anderen Personen und deren Auswirkungen auf Migration im Vordergrund. Dabei kommt insbesondere auch familiären Verbindungen ein hoher Stellenwert in der Wanderungssoziologie zu, wobei Beispiele aus der empirischen Forschung zeigen, dass derartige soziale Verbindungen häufig von den AkteurInnen als vorgegeben und unveränderlich wahrgenommen werden – zwei Attribute, die normalerweise mit absolutistischen Raumkonzepten in Zusammenhang gebracht werden. Die Wahrnehmung von Raum als sozialer Konstruktion hingegen scheint insbesondere den Blick für politischen Aktivismus zu öffnen – eine Thematik, die im Zusammenhang mit Migrationsforschung immer wieder aufgegriffen wird, weshalb die Unterscheidung für eine raumsensible Methodologie im Bereich der Migrationsforschung noch weiter auszuloten ist und daher in der Folge anhand einschlägiger Beispiele aus der empirischen Forschung beschrieben wird. Absolutistische Konzepte werden auch als essentialistische bzw. materielle oder Containerraum-Kon-
E. Scheibelhofer, Raumsensible Migrationsforschung, DOI 10.1007/978-3-531-94007-6_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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śȳRaumsensible MigrationsforsĖung
zepte benannt (vgl. hierzu Kapitel 2.2). Vor dem Hintergrund eines bereits skizzierten handlungstheoretischen Ansatzes, der sich an den Symbolischen Interaktionismus anlehntŞř – ist außerdem davon auszugehen, dass je nach Interaktionssituation und damit verbundenen Rahmenbedingungen unterschiedliche Raumkonzepte relevant sind. Auf der zweiten hier diskutierten Ebene – jener der sozialwissenschaftlichen Analyse – liegt der Fokus darauf, die jeweiligen (impliziten) Raumkonzepte der Untersuchten zu rekonstruieren und auf ihre Bedingungen und Folgen für ihr Handeln hin auszuleuchten. Aufgrund dieser Überlegungen schlage ich vor, einen raumsensiblen Zugang in der Migrationsforschung zunächst an folgenden Raumkonzepten zu entwickeln (eine ausführlichere Beschreibung der folgenden drei Raumkonzepte findet sich in Kapitel 2.3.4): ȡ
ȡ
Das essentialistische Modell: Hierunter lässt sich das Alltagsverständnis von WesteuropäerInnen zusammenfassen, in dem davon ausgegangen wird, dass Raum anhand der Geometrie physikalisch vermessbar ist und jeder Raum in diesem Sinne mit Objekten befüllbar ist. Raum wird demnach zu allen Zeiten und an allen Orten als einheitlich gedacht und verändert seine Eigenschaften auch nicht durch unterschiedliche Formen der Befüllung. Der Raum existiert somit an sich und ist weder sozial, historisch oder situations- bzw. gruppenspezifisch definiert. Es handelt sich somit um ein absolutistisches oder containerhaftes Raumverständnis, das in diesem Sinne als materialistisch bezeichnet werden kann. Das relationale Modell: Es handelt sich auch hier um eine zwei- oder dreidimensionale Raumvorstellung im metrischen Sinn. In diesem Raum können Objekte auf der Erdoberfläche lokalisiert werden. Raum ist dabei nur über die Rauminhalte zu verstehen und kann somit über die Analyse jener Objekte, die in einem Raum gelagert sind, untersucht werden. Die Beziehungen unter den Objekten formen somit den Raum. Dieser Raum ist damit abhängig von Objekten und verändert sich, sobald sich die Objekte, die ihn formen, verändern. In einer sozialwissenschaftlichen Ausrichtung wird davon ausgegangen, dass die sozialen Beziehungen in erster Linie soziale Wirklichkeit herstellen. Martina Löw (Löw 2ŪŪū) unterscheidet dabei zwei soziale Prozesse: Das Spacing, womit die Plazierung von sozialen Gütern und Menschen gemeint ist und die Syntheseleistung, womit Wahr-
ŞřȲ Mehr zu diesem theoretischen und insbesondere methodologischen Hintergrund der vorliegenden Arbeit siehe Kapitel Ś.Ř.
5ȳRaumsensible MigrationsforsĖung
ȡ
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nehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse beschrieben werden, wie Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst werden. Das konstruktivistische Modell: Konstruktivistische Raummodelle zeichnet sich dadurch aus, dass es von der sozialen Fabrikation von Räumen ausgeht. Dazu gehören etwa Ansätze, die Raum als Ergebnis von Kommunikation und Handlung sehen (vgl. etwa Klüter ūųųų; Pott 2ŪŪ2a; Werlen ūųų5) oder auch John Urrys Ansatz einer chaostheoretischen Fassung von Raum, die jedoch für die Sozialwissenschaften erst weiter ausgearbeitet werden muss. Konstruktivistische Ansätze sind als eine Spezialform von sozialwissenschaftlichen relationalen Raumannahmen zu sehen, da in beiden Fällen von einer sozialen Bestimmtheit des Raumes ausgegangen wird. In der Analyse empirischer Beispiele hat sich jedoch gezeigt, dass wandernde Personen soziale Beziehungen, die für ihre Migration bzw. die Verfestigung einer Wanderung ausschlaggebend sind, großteils als gegeben, schicksalhaft und/oder unveränderbar ansehen. Demgegenüber stehen Erzählungen von Ausgewanderten, die auf eine Konstruktionsleistung von Räumen verweisen.
Bei einer Auseinandersetzung mit diesen drei Typen von Raumannahmen fällt auf, dass relationale und konstruktivistische Raumannahmen durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen, weshalb raumsoziologische Arbeiten üblicherweise von zwei Gruppen von Raumkonzepten ausgehen (vgl. etwa Löw 2ŪŪū): einem absolutistischen Containerraumverständnis einerseits und relationalen Ansätzen andererseits. Bei den hier zusätzlich eingeführten konstruktivistischen Ansätzen handelt es sich gewissermaßen um eine radikalisierte Form relationaler Raumannahmen. Während es sich bei dem containerhaften Raumverständnis um ein absolutes Raumverständnis handelt, haben relationale und konstruktivistische Raumkonzepte gemein, dass sie von Rahmenbedingungen abhängig sind und erst durch sie geformt werden – bei dem relationalen Modell mit Einschränkung auf Beziehungen, bei den konstruktivistischen bleibt nicht einmal mehr diese Limitierung bestehen. Aufgrund der Vielfältigkeit migrationssoziologischer Themenbereiche ist es mir an dieser Stelle nicht möglich für alle empirischen Untersuchungsfelder Beispiele zu diskutieren. Daher gehe ich im Folgenden zunächst von jenem empirischen Material aus, das ich selbst im Laufe der Jahre erhoben und analysiert habe. An jenen Stellen, wo dieses Material aus verschiedensten Gründen nicht für eine Darstellung einer raumsensiblen Perspektive ausreicht, greife ich auf empirische Daten oder sekundäranalytische Untersuchungen anderer MigrationsforscherInnen zurück. Im Gegensatz zum Großteil der existie-
1Ş0
śȳRaumsensible MigrationsforsĖung
renden raumsoziologischen oder migrationstheoretischen Arbeiten habe ich mich zu dieser empiriebasierten VorgehensweiseŞŚ entschlossen, um anhand derartiger praxisnaher Beispiele aus der Forschung meine Thesen anschlussfähig für künftige Migrationsforschung zu gestalten. Im Folgenden werde ich daher – insbesondere in den ersten Unterkapiteln – vor allem auf einige Forschungsprojekte zurückgreifen. Daher erscheint es sinnvoll, die drei am häufigsten zitierten Studien an dieser Stelle bereits vorab kurz darzustellen: ȡ
Auswanderung aus Österreich nach New York City Im Zuge eines einjährigen Auslandsaufenthaltes ūųų8/ųų führte ich eine empirische Untersuchung zu den Beweggründen für die Auswanderung und den aktuellen Lebensumständen von Personen durch, die nach ūųŰ5 aus Österreich nach New York City ausgewandert sind. Insgesamt führte ich im Zuge dieses Forschungsprojektes, das in meine Dissertation mündete (Scheibelhofer 2ŪŪ3), offene und problemzentrierte Interviews mit insgesamt 2Ű Personen durch. Zusätzlich machte ich teilnehmende Beobachtungen bei Treffen von AuslandsösterreicherInnen und bei anderen Anlässen, wobei der Schwerpunkt der Untersuchung eindeutig auf den Interviews lag (mit der Hälfte der InterviewpartnerInnen wurden wegen der Länge der Interviews zwei Gespräche durchgeführt). Dabei kristallisierte sich heraus, dass sich die Migrationsgeschichten dieser Personen am besten unter dem Blickwinkel von spezifischen Handlungsorientierungen in unterschiedlichen, im Lauf der Interpretation rekonstruierten Lebensphasen verstehen ließen (vgl. hierzu Scheibelhofer 2ŪŪ3; für die folgenden Ausführungen insbes. ūųŪȹff.). Ein Themenkomplex in der Arbeit beschäftigte sich auch mit transnationalen Lebensbedingungen der InterviewpartnerInnen: Neben Personen, die nach gängigen migrationssoziologischen Definitionen als MigrantInnen bezeichnet werden können, brachte die Analyse auch vielfältige Aspekte transnationaler Lebensstile zutage. Dies zeigte sich beispielsweise im Bereich der beruflichen Verankerung sowohl in den USA als auch in Österreich, genauso wie in den privaten Beziehungen oder der sozialrechtlichen Absicherung einiger InterviewpartnerInnen. Diese Personen entwickelten eine Reihe von Strategien, um Verbindungen zu Österreich aufrecht zu erhalten, die unterschiedlichste Funktionen von finanzieller Absicherung bis hin zu identitätsgenerierenden Projektionen umfasst. Besondere Bedeutung kam dabei der
ŞŚȲ In diesem Zusammenhang sind auch die Ausführungen zur Grounded Theory in Kapitel Ś von Interesse.
5ȳRaumsensible MigrationsforsĖung
1Ş1
sozialrechtlichen Absicherung in Österreich zu, da im Unterschied zur Lage in einem „konservativen Wohlfahrtsstaat“ (Esping-Andersen ūųųŪ) die InterviewpartnerInnen in New York meist vor den Gefährdungen, die ein „liberaler Wohlfahrtsstaat“ (ebd.) mit sich bringt, stehen: So sind sie im Krankheitsfall kaum abgesichert und auch eine staatliche Pensionsvorsorge gestaltet sich problematisch. In den Interviews zeigten sich jedoch Strategien, wie die InterviewpartnerInnen diese Unterschiede zunächst in der eigenen Wahrnehmung zu individualisieren haben, um sich schließlich über neue Wege (z.ȹB. durch transnationale Arrangements oder eine Eheschließung mit einer/m US-AmerikanerIn) abzusichern. ȡ
Mobilitätsperspektiven junger WissenschaftlerInnen im Ausland In einem weiteren Forschungsprojekt stand im Jahr 2ŪŪ2 die Frage im Mittelpunkt, wie sich Mobilitätsperspektiven von WissenschaftlerInnen verändern, wenn sie in einem mid-career-StadiumŞś ihrer Karriere einen Forschungsaufenthalt in den USA absolvieren. In dieser Untersuchung legte ich – aufgrund erster Probeinterviews – fest, dass im Zuge von sehr offen geführten qualitativen Leitfadeninterviews auch graphische Darstellungen der wichtigsten beruflichen und persönlichen sozialen Beziehungen erhoben wurden (Scheibelhofer 2ŪŪ5). Daraus ergaben sich nicht nur interessante methodologische und methodische Überlegungen (Scheibelhofer 2ŪŪŰb), sondern es zeigte sich auch, welche Bedeutungen grenzüberschreitende soziale VerflechtungszusammenhängeŞ6 für die InterviewpartnerInnen haben. Aufgrund dieser Ergebnisse und der rekonstruierten Mobilitätsorientierungen kam ich zu dem Schluss, dass sich drei unterschiedliche Typen herausarbeiten lassen: Jener des kurzfristigen Aufenthalts, jener der „klassischen“ MigrantInnen und als dritter Typus jener der TransmigrantInnen, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird.
ȡ
Migration und Mobilität im Kontext von internationaler Wirtschaftskooperation Im Rahmen einer Studie in Zusammenarbeit mit dem Institut für Höhere Studien in Wien untersuchte ich die Kooperationsbeziehungen zwischen einem österreichischen IT-Unternehmen und einem weißrussischen Un-
ŞśȲ Darunter ist zu verstehen, dass die interviewten Personen bereits ihr Doktorat abgeschlossen hatten, aber über kein Dienstverhältnis im Wissenschaftsbereich verfügten, die einer tenure track-Position im angloamerikanischen Raum bzw. einer unbefristeten Stelle im deutschsprachigen Raum entsprechen würde. Ş6Ȳ Dieser Begriff geht auf Norbert Elias zurück (Elias 19Ş0, (ŗşřş), ř1Ś).
1ŞŘ
śȳRaumsensible MigrationsforsĖung
ternehmen, das von den österreichischen InterviewpartnernŞ7 mit Programmiertätigkeiten beauftragt wurde (Scheibelhofer 2ŪŪŰa). Dabei stellte sich im Zuge der Interviews und Beobachtungen in Minsk heraus, dass die Mitarbeiter teilweise über Migrationserfahrungen sowie internationale berufliche Mobilitätserfahrungen verfügten – lange bevor sie mit den österreichischen Auftraggebern in Berührung kamen. Weiters wurde in dieser Fallstudie deutlich, wie sehr die von mir als Forscherin an das Untersuchungsfeld herangetragenen Erwartungen und vorgefassten Meinungen die Datenerhebung mittels strukturierter Leitfadeninterviews behinderten; die Reflexion dieser Forschungserfahrungen hat einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der hier diskutierten Methodologie einer raumsensiblen Migrationsforschung geliefert, obwohl es sich bei diesem Projekt nicht direkt um eine Fragestellung zur Wanderungsthematik gehandelt hat.
5.1
Handlungsleitende Raumkonzepte der Untersuchten im Alltagshandeln
Bei einer Betrachtung empirischer Studien aus der Migrationsforschung fällt auf, dass MigrantInnen häufig von essentialistischen Raumvorstellungen ausgehen. Derartige implizite Raumannahmen werden etwa deutlich, wenn dokumentiert wird, dass untersuchte Personen Nationalstaaten bzw. deren Bevölkerungen einander vergleichend und pauschalisierend gegenüberstellen. Derartige Bedeutungszuweisungen sind durchaus nachvollziehbar und wenig überraschend, da Vergleiche von Nationalstaaten in öffentlichen Diskursen sowie in migrantischen Lebenswelten häufig eine wichtige Rolle spielen. Hinzu kommt, dass nationalstaatliche Institutionen den alltäglichen Lebenskontext von MigrantInnen stark prägen (vgl. hierzu auch Kapitel 5.3). Andererseits finden sich auch Beispiele für relationale Raumannahmen, die insbesondere dort vorzufinden sind, wo sich Personen in ihrer Wanderungsbiographie an anderen Personen (vornehmlich aus ihrer eigenen Herkunftsfamilie bzw. EhepartnerInnen) orientieren. Vereinzelt finden sich darüber hinaus auch Beispiele für konstruktivistische Raumannahmen, wobei auch darauf hinzuweisen ist, dass je nach Kontext und Argumentationszusammenhang von derselben untersuchten Person unterschiedliche Raumannahmen als Basis für Erzählungen oder Handlungen herangezogen werden können. Ş7Ȳ Es handelte sich in diesem Fall ausschließlich um männliche Interviewpartner, weshalb hier die männliche grammatikalische Formen benutzt wird.
ś.1ȳHandlungsleitende Raumkonzepte 5.ŗ.ŗ
1Şř
Essentialistische Raumkonzepte
Im Alltagsleben sind wir es gewohnt unsere Raumannahmen nicht weiter zu hinterfragen in Bezug auf deren soziale Komponenten oder die Form unserer Wahrnehmung. Vergleichende Untersuchungen zu diesem Thema liegen bislang für die hier besonders interessierende Gruppe von MigrantInnen nicht vor. Meine Hypothese, die es in Zukunft noch weiter zu untersuchen gilt, ist hier die, dass Container- und Relationalansätze in der Raumkon struktion der meisten MigrantInnen überwiegen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass das Datenmaterial durch die Form der Erhebung beeinflusst ist: Gerade in Interviews zur Migrationsbiographie ist es wichtig darauf zu achten, ob derartige Containerkonstruktionen nicht bereits durch die Art und Weise der Interviewführung vonseiten der untersuchenden SozialwissenschaftlerInnen nahe gelegt werden (vgl. dazu auch Kapitel 5.2.ū). Alleine schon die Schwerpunktsetzung ein Interview mit einer Person zu initiieren, weil es sich um eine Person mit Migrationserfahrungen handelt, könnte das Gegenüberstellen und Vergleichen von geographischen Räumen in der Interaktionssituation begünstigen. Abgesehen von diesen einschränkenden Überlegungen findet sich in der einschlägigen Migrationsforschung eine Vielzahl an Beispielen, in denen InterviewpartnerInnen mit Migrationserfahrungen bestimmte territoriale Ausschnitte benennen und ihnen (bzw. einer gedanklich diesem Ausschnitt zugewiesenen Bevölkerung) Eigenschaften zuschreiben. In der von mir durchgeführten Untersuchung zu Migrationsbiographien von ÖsterreicherInnen fanden sich etwa in einer Vielzahl von Interviews qualitative Zuschreibungen, wie Wien, Salzburg oder noch weiter generalisierend Österreich sei. Dem gegenübergestellt wurde New York, Kalifornien oder die USA insgesamt. Diese Gegenüberstellung erfüllte in diesen Erzählungen auch eine spezifische Funktion, auf die ich später näher eingehen werde. In der Analyse wurde großer Wert darauf gelegt, die jeweilige Einbettung einer Argumentationsfigur in die biographische Entwicklung der InterviewpartnerInnen zu rekonstruieren (siehe Scheibelhofer 2ŪŪ3). Eine zentrale Passage in der Erzählung von Alexander MittersillŞŞ war etwa, die fördernde Wirkung von New York auf seine eigene Kreativität hervor zu heben. Der zum Zeitpunkt des Interviews 45-Jährige lebte seit fast zwei Jahrzehnten in New York, nachdem der zu Beginn der ūų8Ūer Jahre seiner damaligen Freundin aus Österreich nach New York gefolgt war. Vor dieŞŞȲ Alle Namen und Details der Biographien wurden verändert, um die Identifizierung der InterviewpartnerInnen durch Dritte möglichst zu verhindern.
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śȳRaumsensible MigrationsforsĖung
sem Schritt hatte er in Wien Rechtswissenschaften studiert und nach seinem Studienabbruch in unterschiedlichen Berufen gejobbt. Der wenig regulierte Arbeitsmarkt New Yorks zum Zeitpunkt seiner Ankunft bot Herrn Mittersill Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten, die er kreativ und rasch nutzte: Zunächst begann er ohne jegliche Vorkenntnisse als Küchenhilfe in einem Gastronomiebetrieb und bewarb sich nur wenige Monate später als erfahrener Koch in einem anderen Lokal im selben Viertel. Im Gespräch betonte er, dass es ihm nicht an einer Karriere gelegen war, allerdings ergab es sich, dass er sich über die Jahre im Restaurantwesen zum Küchenchef hinaufarbeitete. Schließlich entschied er sich, sein eigenes Restaurant zu eröffnen. Seine Begeisterung für New York schilderte er im Interview emotional und in schillernden Farben, wobei ihm der direkte Vergleich mit seinen Erfahrungen in Wien zu Hilfe kommt: M: Es gibt so special New YorkŞ9 Tage, die gibts einfach nur in New York, und Momente, die special New York moments, wo Leit afach so nett san oder irgendwas Kreatives auf der Straßn lauft, irgnda performance oder so, irgndwas super nett is wo du sagst wowȺ! Davon gibts genug in New York. So intensive Erlebnisse, naȺ? Wenn ich dir jetzt eins erzähln müsste, (…) könnt ich gar net sagn. Es war einfach dieses Gefühl der Freiheit und was dieses – neue Erfahrung, die ich in New York gmacht hab, dass afach jeder irgndwie einen Plan hat. Jeder irgndwie diese Ambitionen hat was zu tun in New York. Die Leute kommen ja hauptsächlich aus dem Grund nach New York, die wolln irgndwas erreichn, irgndwas erreichn. A business aufmachn oder Schauspieler oder Tänzer – das is a sehr kreatives environment. Und das Schöne daran is, dass die Leute, die rund um dich san, die Freunde und die Freunde von den Freundn afach supportive san. Die sagn, hey, du schaffst es oder – du wirst es schaffnȺ! Versuchs nanȺ? Und im Vergleich zu Wien (…) wo ma sagt – geh, probiers net, des haut eh net hin – wenn jemand wirklich a Idee gehabt hat was ganz was Neues, also – ahm (…) und dass ich zum Beispiel das aufmachn hab können oder Küchnchef werdn hab können ohne irgndwie a Zeugnis in der Hand zu habn dass Leute immer von Anfang an sagn – na ja zeig mas amal. Wannsd as kannst, is okayȺ! Du kriegst zerst amal a Chance, nanȺ? (ū. Int., S. ű, zit. nach Scheibelhofer 2ŪŪ3, ū4Ű)
Ş9Ȳ Englische bzw. englisch betonte Worte sind in nichtkursiver Schreibweise gehalten, um den Wechsel zwischen Englisch und Deutsch im Interview zu verdeutlichen. Generell wurden die Interviews auf Deutsch geführt, allerdings wechselte ich ins Englische, wenn die InterviewpartnerInnen dies taten (vgl. hierzu ausführlich Scheibelhofer Ř001).
ś.1ȳHandlungsleitende Raumkonzepte
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Herr Mittersill brachte einige schillernde Beispiele dafür in den beiden Interviews, die im Zuge der Studie durchgeführt wurden, was er unter diesen „special New York days“ versteht. Nun lässt sich daran monieren, dass hier ein Mythos bedient wird, ein Zerrbild von New York City aufgebaut wird – ebenso wie ein konträres, dunkles, vernichtendes Bild von Wien dargestellt wird (im Falle von Herrn Mittersill), anderen österreichischen Städten oder Österreich generell (in weiteren Interviews, in denen InterviewpartnerInnen in einem vergleichbaren Stil argumentieren). Andererseits ließe sich auch ins Treffen führen, dass hier allgemeiner gesprochen Erfahrungen einer positiven Diskriminierung von vergleichsweise gut ausgebildeten EuropäerInnen gemacht wurden, die von einem liberalen Wirtschaftssystem mit vergleichsweise geringen wirtschaftlichen Regulationsmechanismen profitieren. Meiner Ansicht nach macht es in dieser Debatte jedoch wenig Sinn, eine sozialwissenschaftliche Analyse mit den Kategorien „wahr“ und „falsch“ weiter zu führen – wichtig ist an dieser Stelle vielmehr, dass diese Bilder New Yorks90 und Österreichs ausgewanderte Personen wie Herrn Mittersill im Rückblick auf ihre eigenen Handlungsentscheidungen bestärken. Diese Bilder werden erst durch den Kontrast plastisch, der in diesen Interviews Österreich (oder auch Teile davon) darstellte. Ein weiteres Beispiel für den Einsatz derartiger Kontrastfolien bietet das Interview mit Gertrud Faber, die ūųŰ8 als alleinerziehende Mutter eines Sohnes mit 25 Jahren nach New York kam. Heute ist sie – nachdem ihre Ehe zu einem New Yorker Mathematiker geschieden wurde – alleinstehend. Ihren Sohn bezeichnet sie inzwischen als „waschechten Amerikaner“, der zum Zeitpunkt des Interviews gerade sein Studium in der Stadt begann. Sie selbst arbeitete als Sekretärin bei einer österreichischen Bank in Manhattan und unterhält auch aufgrund dieser Tätigkeit viele Kontakte nach Österreich. Eine Rückkehr konnte sie sich trotz ihrer vielfältigen beruflichen wie privaten Verbindungen kaum vorstellen. Im Interview bilanzierte Frau Faber ihre Entscheidung, Österreich zu verlassen, folgendermaßen: Als sie aus Österreich wegging, war es nicht ihre Vorstellung gewesen auszuwandern. Vielmehr sah sie ihre Reise als einen längeren Aufenthalt, nach dem sie wieder nach Österreich zurückkehren würde – auch mit dem Hintergedanken durch die räumliche Distanz wieder in die Beziehung zum Vater ihres Kindes zurückzufinden. Dass es dann aufgrund der Umstände anders kommen sollte, hatte sie rückblickend zum Zeitpunkt der Ausreise aus Österreich nicht einmal in Betracht gezogen. Im 90Ȳ Aus Gründen der Lesbarkeit wird in der Folge New York synonym mit New York City verwendet.
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Interview sieht sie das autoritäre Klima im Österreich der Nachkriegszeit für ihre Auswanderung als Hauptgrund dafür an, warum sie sich prinzipiell für eine Auszeit in New York mit ihrem damals vierjährigen Sohn entschieden hatte. Neben der politischen Stimmung und den aggressiven, „engstirnigen“ Personen, mit denen sie es vor allem in ihrer Ausbildungszeit und den ersten Berufsjahren zu tun bekam, sieht sie auch in ihrer Beziehung zu ihrer Mutter einen bedeutenden Grund für das Verlassen des Landes. Diese enge Mutter-Tochterbeziehung war von Strenge und Pflichterfüllung geprägt, die Frau Faber rückblickend als ihre persönliche Entwicklung einschränkend sieht. Wie sie in ihrer Argumentation die Lebensumstände in New York mit jenen in Österreich vergleicht und aufgrund dessen zu einer Bewertung ihrer eigenen Wanderungsbiographie gelangt, kommt in der folgenden Passage zum Ausdruck: M: Und Österreich – und die Wiener aber auch Graz – wo ich hauptsächlich bin, – – is ja ein so ein kleines, homogenes LandȺ! Und ma hat ja des Gefühl sie glaubn, also der Österreicher is in seiner Homogenität ein doch sehr eingebildeter Mensch. Das heißt er is ein Rassist, im Durchschnitt, er is eng, unverständig – und – und sehr materialistisch, das heißt, sehr besessn auf sein Hab und Gut also er tuat net gern teiln, jaȺ? Also ich mein, wir nehmen schon sehr viele Leute auf aber die tatsächliche Einstellung is die Tschuschn und die, net I: Mhm M: (…) Also – – und sie glaubn, sie sin Gottes Gabe an die Welt, jaȺ? Das is so ein zentrales kleines Land, es heißt ja, Österreich im Herzn Europas, sie ham sich diesn Slogan zugeeignet, jaȺ? Und i glaub, dass des wa h n s i n n ig schwer sein wird da zu lebnȺ! Wieder. Wenn man so lange weg war. Und ich verzweifl an dieser Engstirnigkeit netȺ? Also ich sag ja immer, mich hat immer fasziniert dass die Österreicher – also bsonders die stürmen ja alle nach Italien, schon seit ich ein Kind war, so mit Zelt seinerzeit noch und jetzt halt anders oder was weiß ich, und sin ja so begeistert von den Italienern, jaȺ? Wie nett die sin und wie frei sie die Kinder lassn und dass sie da spät am Abnd auf sein dürfn und dass da alles so heiter und lustig is und so, netȺ? Und dann kommens zrück nach Österreich und sin genauso streng und brutal und mit die Kinder doch eigentlich netȺ? (ū. Int., S. Ű2, zit. nach Scheibelhofer 2ŪŪ3, ūŰ5)
Diese Auszüge verdeutlichen am Beispiel des Interviews mit Frau Faber, wie Personen mit Migrationserfahrung jene Bilder, die sie von ihrem Herkunftsland und ihrem neuen Lebensmittelpunkt haben, einander gegenüberstellen. Frau Faber leitet die Beschreibung Österreichs damit ein, dass sie es als ein „homogenes“ Land beschreibt – das heißt, der Container als solches wird
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zunächst einmal als existent und auch gleich als in sich einheitlich wahrgenommen. Dabei zeigt sich eine kritische Hinterfragung dieser Verhältnisse in den Ausführungen der Interviewpartnerin. Verallgemeinernd wird dennoch von überwiegend negativen Charaktereigenschaften aller ÖsterreicherInnen gesprochen, wobei in manchen Interviews einschränkend der Zeitfaktor genannt wurde – wohl auch aus Höflichkeit mir gegenüber als einer „jungen Österreicherin“, zu einer „anderen, neuen Generation“ gehöre. Vor diesem Hintergrund werden die Auswanderungserfahrungen beschrieben, in denen New York oder die USA generell als jenes Land dargestellt werden, in denen eine Handlungsorientierung am Wert der Selbstverwirklichung91 nicht verhindert, sondern gar unterstützt wird. Als eindrückliches Beispiel für diese auffallend ähnlichen Argumentationslinien soll hier abschließend zu diesem Punkt Hannes Lindtner zitiert werden: Der Vierzigjährige lebte zum Interviewzeitpunkt seit zehn Jahren in New York. Nach etlichen USA-Aufenthalten hatte er sich in Österreich als einer der Wenigen InterviewpartnerInnen schließlich endgültig zur Auswanderung entschieden, nachdem es zum Bruch mit seiner Familie gekommen war. Jahrelang hatte er da schon unter der Diskriminierung als Punk und Homosexueller in einer ländlichen Gemeinde Österreichs gelitten und kaum je Akzeptanz erfahren. Im Interview schildert er, wie sein Lebensmotto die Suche nach Möglichkeiten persönlicher Weiterentwicklung darstellt: M: Das eine, das mich am meistn stört an Europa und an Österreich oder besonders an Österreich, dass Veränderung, dass das Wort Veränderung und Wachstum menschlich gesehn kaum existiert. Dass alles beim Altn bleibn muss oder soll und ja nichts sich verändern. Und das is genau das Gegnteil von meiner Lebnseinstellung I: Mhm M: – Für mich is Veränderung und Wachstum alles. Wenn ich stehn bleibe, sterb ich und wenn ich so meine Freunde von damals anseh, die immer noch beim
91Ȳ
Im Unterschied zu beschriebenen klassischen gesellschaftlich dominierenden Wertvorstellungen wie dem „Pflichtgefühl“, orientiert sich der Leitwert der „Selbstverwirklichung“ einer späten Moderne an der Suche nach dem Lebenssinn für das Privatleben und nicht primär auf die öffentliche Sphäre. Somit rücken Konsum und Freizeit in den Lebensmittelpunkt, um die Selbstdarstellung aufrecht zu erhalten (Garhammer Ř000, Ř9Ş). Das „Private“ ist dabei jedoch weit zu fassen, sodass auch persönliche Karriereambitionen hinzu zählen. Entscheidend ist der subjektive Sinn, den die Personen Beruf und Karriere aber auch Familie und andere soziale Beziehungen beimessen (vgl. auch Scheibelhofer Ř009).
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Sandleitner9Ř in der Straußengasse als Schuhverkäufer arbeitn, nothing wrong with it, aber sie warn vor zwanzig Jahrn todunglücklich das zu machn und sie sitzn heute immer noch drin und is todunglücklich und da geh ich rein und sag ich, ja, hast schon einmal daran gedacht, einen neuen Job vielleicht zu suchnȺ! I: Hm M: – und sagts, ja, das kamma doch nicht machnȺ! (…) Dieses kamma doch nicht machn. Wo ich ma denk, what are you saying, das kann man doch nicht machnȺ! Es is dieses Hinnehmen von von – Bedingungen, die nicht sein müssn und dieser lack of, (…) das Fehln der – Selbsterkenntnis oder sich selbst anzuschaun und wachsn zu wolln oder müssn, dass es irgendwie – wieder so abgeschlossn – meine tollstn Freunde habn eine schwere Zeit und ich merk das – ma fällt in einen Tiefschlaf in Österreich. (…) Für mich is das irgendwie unausstehlich dass das Wachstum eines Menschn dort, das emotionelle Wachstum – is soviel langsamer dort weil ma einfach nicht muss. (ū. Int., S. 2ū, ūűūȹf.)
An diesen Charakterisierungen der EinwohnerInnen Österreichs – die hier nur exemplarisch aus der zitierten Studie wiedergegeben wurden – fällt auf, dass sie als engstirnig, egoistisch, geizig, lernunfähig und rassistisch dargestellt werden. Für meine Argumentation interessant ist dabei vor allem zweierlei: Einerseits werden jenen Menschen, die auf einem bestimmten Territorium leben, somit Charaktereigenschaften zugeschrieben – was auf die Sichtweise von Raum als Container hindeutet. Zweitens erhebt sich die Frage, welche Folgen diese Zuschreibungen für die InterviewpartnerInnen selbst und ihre Wanderungsbiographie haben. In der Analyse dieser Fallbeispiele zeigte sich, dass die Handlungsorientierung am Wert der Selbstverwirklichung in der Darstellung des eigenen Lebensweges eine bedeutende Rolle spielte. Neben dem Inhalt der persönlichen Weiterentwicklung wurden im Rahmen dieses Forschungsprojektes auch Handlungsorientierungen an der Familie oder am beruflichen Aufstieg rekonstruiert. Dabei ist interessant, wie sich diese von vielen InterviewpartnerInnen ähnlichen Bilder von Österreich im Gegensatz zu New York herauskristallisieren. Diese Konstruktionen einheitlicher Container, in denen Menschen mit spezifischen Charaktereigenschaften und Neigungen leben und in denen die InterviewpartnerInnen besondere Handlungsmöglichkeiten für sich selbst entdecken, dienen dazu, die eigene Migrationsgeschichte sich selbst und anderen plausibel und anschlussfähig zu machen. 9ŘȲ Namen und Ortsbezeichnungen wurden derart verändert, dass die Anonymität der InterviewpartnerInnen bestmöglich gewahrt wird.
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Ein anderes Beispiel für die Annahme, dass soziale Räume essentialistisch gedeutet werden, liegt einer Interviewpassage aus jener empirischen Untersuchung zugrunde, die sich mit den Mobilitätsperspektiven österreichischer WissenschaftlerInnen beschäftigte, die zum Untersuchungszeitpunkt in den USA forschten9ř. Ein Interviewpartner, der hier Erwin Schmied genannt werden soll, war etwa nach einem kürzeren US-Forschungsaufenthalt für ein PhD-Studium an einer renommierten Universität an der Ostküste der USA aufgenommen worden. Anschließend daran wurde ihm eine zweijährige Postdoc-Stelle an einer Universität in einem weiteren US-Bundesstaat angeboten, von wo aus er sich zum Zeitpunkt unserer Kontaktaufnahme für ein Interview sowohl in Europa als auch in den USA auf ausgeschriebene Professuren bewarb. Kurz vor unserem Interviewtermin hatte er einen Ruf an eine Universität im Westen der USA angenommen. Obwohl (oder gerade weil) Herr Schmied somit eine Reihe von Stationen in seiner Mobilitätskarriere hinter sich gebracht hatte, erlebte er seine privaten Sozialbeziehungen an die jeweilige Lokalität gebunden. Dabei fällt ihm diese Trennung von Personen aus seinem privaten Umfeld schwer: Er bedauerte es im Interview etwa, dass er seine Herkunftsfamilie nur zweimal pro Jahr in Österreich besuchen kann. Sein Freundeskreis hat sich mit seiner internationalen Mobilität über die Jahre hinweg grundlegend verändert: Die wichtigsten FreundInnen hatte er zunächst in Österreich und in den letzten Jahren an den diversen US-Universitäten, an denen er tätig war, gefunden. Auch für diese Freundschaften aus seiner US-Studienzeit bedauerte er, dass regelmäßige persönliche Treffen zum Zeitpunkt des Interviews mit kaum jemandem mehr möglich waren, da diese Personen nach und nach berufliche Positionen an Orten annahmen, die sich auf Europa und die USA verteilten. Er bezeichnete seine private Situation demnach im Interview eindrücklich als „No-Win-Situation“: Egal für welchen Ort er sich künftig als Lebensmittelpunkt entscheiden würde – in jedem Fall würde er auf den direkten Kontakt zu einem Großteil seines Freundeskreises verzichten müssen. Daher hatten seine persönlichen Sozialbeziehungen auch keinen Ausschlag dafür gegeben, für welche unbefristete Universitätsstelle er sich kurz vor dem Interview entschieden hatte. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Herrn Schmieds Schilderungen darauf beruhen, dass er (in nicht unüblicher Art und Weise) Raum als Containerraum erlebt. Interessant ist dabei, dass sich diese Sicht auf persönliche Beziehungen beschränkt, was wiederum an die Arbeiten von Georg Simmel erinnert: Er hat bereits ausgeführt, dass in emotional aufgeladenen und weniger ein9řȲ
Eine Beschreibung der genannten Untersuchung findet sich am Beginn des fünften Kapitels.
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deutigen Beziehungen der wechselseitige Blick und somit die gleichzeitige Anwesenheit unverzichtbar sind (Berger ūųų5; Simmel ūųų2, (19ŪŲ); vgl. auch die Ausführungen zu dieser Thematik in Kapitel 2.2.2). Dieses Beispiel macht deutlich, dass essentialistische Raumannahmen im Alltag durchaus relevant sein können und für bestimmte Lebensbedingungen auch angemessen sind. Von „richtigen“ und „falschen“ Rauman nahmen zu sprechen wäre somit ein sozialwissenschaftlicher Fehlgriff. Wie Annahmen zu Arbeits- und Lebensbedingungen in bestimmten Ländern die Wanderungsentscheidungen prägen, ist ein klassisches Thema der Migrationsforschung. Auch hier zeigt sich nach wie vor in der empirischen Forschung, dass nationalstaatliches Denken für viele MigrantInnen zu einer Normalitätsfolie im Alltag geworden ist, die nicht weiter hinterfragt wird. Ein Beispiel dafür ist etwa die Migrationsgeschichte des 4Ű-jährigen Programmierers Herrn Grigorij Petrow, den ich im Zuge des am Beginn des Kapitels vorgestellten IT-Kooperationsprojektes interviewte. Er ist in Sibirien geboren und absolvierte eine Ausbildung in Elektrotechnik, bevor er sich im Jahr ūų8ų dazu entschloss, gemeinsam mit seiner Frau auszuwandern. Nach Aufenthalten in Österreich und in Italien wanderte die Familie nach USA weiter. In Kalifornien lernte Herr Petrow zunächst in Sprachkursen Englisch. Außerdem eignete er sich bald in Weiterbildungen IT-Wissen an und arbeitete schließlich über zehn Jahre in diversen Firmen im Silicon Valley als Programmierer. Als seine beiden Töchter vor der Entscheidung standen, welche weiterführenden Schulen sie besuchen sollten, beschloss er zusammen mit seiner Frau die Rückkehr der gesamten Familie nach Russland. Die Eltern schreckten vor dem Gedanken zurück in Zukunft zu sehen, wie aus ihren Töchtern nach und nach „typisch amerikanische Jugendliche“ würden, wie Herr Petrow es im Interview ausdrückte. Er hob auch hervor, dass es für ihn wichtig ist, seinen Kindern eine „europäische Kultur“ zu vermitteln, worunter er bestimmte Werte und Handlungsweisen versteht, welche dies seien, bleibt jedoch im Interview offen. Allerdings verändern sich die Wanderungspläne der Familie: Dem Rat einer US-Kollegin folgend besuchte die Familie vor der Remigration nach Russland Minsk in Belarus und beschloss daraufhin, anstatt nach Russland in die weißrussische Hauptstadt zu ziehen, wo sie zum Untersuchungszeitpunkt seit drei Jahren lebten. Dies erschien der Familie dabei eine günstigere Variante, weil sie hier sowohl auf einen im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten gut bezahlten Arbeitsplatz für Herrn Petrow hoffen konnten. Gleichzeitig überzeugte sie die leistbare Qualität der schulischen und universitären Ausbildung für ihre Töchter. Im Gegensatz zu einer Auswanderung in einen der EU-Mitgliedstaaten standen der Familie in Belarus auch keine nennenswerten Hürden für
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eine Zuwanderung entgegen, da Herr Petrow die russische Staatsbürgerschaft neben der US-amerikanischen beibehalten hatte und somit keine Aufenthaltsoder Arbeitsbewilligungen für Weißrussland einholen musste. Wie Raumannahmen dabei auch durchaus argumentativ eingesetzt werden können, zeigte sich im Interview mit Herrn Petrow, wenn er Weißrussland wiederholt als „natürlichen“ Teil Europas darstellt – kulturell, historisch und auch geographisch. Dabei geht er nicht auf die politischen Schwierigkeiten ein9Ś, sondern hob das seiner Ansicht nach ausgezeichnete Bildungswesen und die boomende IT-Wirtschaft hervor. Zwar gesteht er ein, dass das Land noch einen infrastrukturellen Nachholbedarf hat; doch die Hauptstadt Minsk lobt er für die gute Lebensqualität. Er selbst bringt das Thema der Qualitätsstandards im Wirtschaftsleben insbesondere in seiner eigenen Branche im Interview relativ unvermittelt auf und sagt9ś: A: I have a few words about the general business environment in Belarus. I don’t know if you are interested. I: Yes, yes, please. A: The reason why I mention it is because if I just watch TV especially like sources from CNN, from European news, I could get an absolutely different picture of life in Belarus comparing with what I see by my own eyes, ok. So I just want put away any social, political aspects away, from practical point I should say that the specifical of Belarus is that it’s located that’s what I call right behind the corner – over the corner from countries like Germany, Austria and other European countries or key players in Western Europe – I mean geographically. Plus quality of education in Belarus is very high and as a result of that they have very high quality software development engineering resources and based on what I see is that people in Belarus (…) are very motivated, very I should say technical, have a lot of enthusiasm and a lot of strong great ideas and they are capable to develop very high quality of software. (Interview mit Grigorij Petrow, S. ūŰ)
Herrn Petrow ist demnach bewusst, dass Belarus zum Zeitpunkt des Interviews in den internationalen Medien politisch kritisch gesehen wird und etwa als „die letzte Diktatur Europas“ bezeichnet wurde. Wenn zum Zeitpunkt die
9ŚȲ Die Interviews in diesem Projekt wurden in den Jahren Ř00ś und Ř006 durchgeführt. Auch in diesem Zeitraum ging das weißrussische Regime mit drastischen Aktionen gegen RegierungskritikerInnen vor. 9śȲ Das Interview wurde auf Englisch geführt und gemäß der Ausdrucksweise des Interviewpartners transkribiert.
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Untersuchung von Belarus berichtet wurde, so waren die schwierigen politischen Zustände, gefälschte Wahlen und der menschenrechtswidrige Umgang mit Oppositionellen die dominierenden Themen. Rhetorisch ist es Herrn Petrow im Interview hingegen ein Anliegen, Belarus an Europa heranzurücken. Er spricht mehrmals vom „Westen“, zu dem er die USA und EU-Europa hinzuzählt. Der „Osten“ besteht in seiner Argumentation aus dem heutigen Russland und anderen östlich gelegenen Nachfolgestaaten der UdSSR. Belarus bezeichnet er hingegen als ein Land, das geographisch „just around the corner“ der Europäischen Union gelegen sei. Allerdings hebt er die Unterschiede in der Lebensqualität im Vergleich mit den USA aber auch Ländern wie Deutschland oder Österreich hervor. Er argumentiert jedoch, dass die absehbare rasche wirtschaftliche Entwicklung in Belarus rasch bessere Lebensumstände mit sich bringen werde. Im Lichte dieser Zuschreibung von Charakteristika und einer günstigen Beschreibung von Belarus in Relation zu anderen hoch entwickelten Industriestaaten wird die Migrationsentscheidung der Familie zu einem klugen Schachzug für alle Beteiligten. Die Anliegen der Eltern in Bezug auf ihre Töchter – eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu erschwinglichen Preisen sowie ein „europäisches“ Umfeld für ihre Erziehung – sind somit realisierbar geworden. Zudem kann sich die Familie einen vergleichsweise hohen Lebensstil in Minsk leisten: Nicht ohne Stolz erzählt mir Herr Petrow auf der Rückfahrt in seinem geräumigen Neuwagen, dass er ein Haus gemietet hat nicht unweit von der privaten Liegenschaft des Staatspräsidenten: In einem kleinen Waldstück, sehr idyllisch gelegen, jedoch nur wenige Autominuten vom Minsker Stadtzentrum entfernt. Trotzdem sieht Herr Petrow die Zukunft seiner Töchter zumindest nicht ausschließlich in Belarus: In den Gesprächen rund um unser Interview und während meiner teilnehmenden Beobachtungen im Minsker Büro wird deutlich, wie sehr Herrn Petrow weiter an einem Aufenthalt und einer Ausbildung im „alten“ Europa gelegen ist: Wenigstens die Töchter sollen innerhalb der Europäischen Union studieren. So fragt er mich nach Tipps, welche Universitäten ich in Österreich empfehlen könnte und welche aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten es für seine ältere Tochter gäbe, um im darauffolgenden Studienjahr in Österreich zu studieren. Für Herrn Petrow sind Nationalstaaten somit eindeutig mit spezifischen Zugangsmöglich keiten, Bildungs- und Erwerbsarbeitschancen verbunden. Auch die Lebensqualität spielt für ihn eine wichtige Rolle, wobei insbesondere die Erziehungsstile und die Jugendkulturen in einzelnen Ländern für ihn von Bedeutung sind. Er formuliert sehr präzise Vorstellungen davon, wie ein (national-kulturelles) Lebensumfeld für seine Familie aussehen soll und trifft aufgrund dieser Überlegungen immer wieder Entscheidungen zu weiteren
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Wanderungsepisoden. Den Nationalstaat in diesem Sinne als „Container“ zu erfassen, der spezifische Lebensentwürfe eher zulässt als andere, stellt sich dabei als sinnvolle Strategie heraus.
5.ŗ.2
Relationale Konzepte
Im Gegensatz zu Annahmen von MigrantInnen, die von einem essentialistischen Raumverständnis ausgehen, zeichnen sich sozialwissenschaftliche relationale Raumkonzepte dadurch aus, dass Raum implizit von den untersuchten Personen in Form von Beziehungen gedacht und somit hergestellt wird. Diese Beziehungen können entweder zu Menschen oder zu Objekten aufgebaut werden und Räume von diesen abhängig gesehen werden96. Hier tut sich auch eine Verbindung zu den Überlegungen von Clifford Geertz und den von ihm beschriebenen primordialen Bindungen auf (Geertz ūųų4). Ein Beispiel für derartige beziehungsbasierte Raumvorstellungen stellt die Migrationsbiographie mit Maria Waldorf dar97. Zum Zeitpunkt des Interviews lebte sie seit mehr als drei Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten. Die 5Ű-jährige Frau war seit einigen Jahren von ihrem US-amerikanischen Ehemann geschieden und ihr inzwischen erwachsener Sohn lebte in einem anderen US-Bundesstaat. Sie selbst arbeitete als Graphikerin bei einer Fachzeitschrift in Manhattan. Frau Waldorf ist in einer österreichischen Kleinstadt unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen. Ihre Familie zählte in ihrer Kindheit zu den „Außenseitern“ des Dorfes, wie sie es selbst formuliert. Einerseits lag dies daran, dass die Familie während der Nazizeit als kommunistisch eingestellt galt – und dies bekam Frau Waldorf während ihrer Kindheit in den ūų5Ūer Jahren deutlich zu spüren. Auch dass die Familie in ärmlichen Verhältnissen lebte und der Stiefvater schwerer Alkoholiker war, trug zum geringen Ansehen in der überschaubaren Gemeinde bei. Mit zwanzig Jahren musste Frau Waldorf eine Lehrausbildung aufgrund einer Erkrankung abbrechen und wurde kurz nach ihrer Genesung ungewollt schwanger. Der Vater des Kindes verließ sie während der Schwangerschaft und Frau Waldorf entschloss sich dazu, ihr Kind in den ersten beiden Lebensjahren bei ihren Eltern aufwachsen
96Ȳ
Zur Bedeutung relationaler Raumkonzepte in der Soziologie vgl. insbesondere Kapitel Ř.Ř.ř. Dieses Interview wurde im Verlauf des Forschungsprojektes zur Auswanderung aus Österreich nach New York City durchgeführt. Für eine ausführlichere Darstellung und Diskussion der Fallgeschichte von Maria Waldorf vgl. Scheibelhofer (Ř00ř, 109ȹff.). 97Ȳ
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zu lassen, um als Kellnerin einige Reisestunden vom Wohnort ihrer Familie entfernt zu arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt war ihre ältere Schwester Johanna mit einem USAmerikaner, der als Soldat der alliierten Truppen im Geburtsort der Schwestern stationiert gewesen war, in die USA gezogen. Als sie in den Vereinigten Staaten das zweite Kind erwartete, lud sie ihre damals 22-jährige Schwester ein, für die Dauer von einem Jahr bei ihr zu leben, um ihr im Haushalt zu helfen. Frau Waldorf stimmte zu, in der Hoffnung, dass sie in dieser Zeit auch eine Berufsausbildung absolvieren könnte. Obwohl alle Familienmitglieder von einem Jahr Abwesenheit – und damit auch einer Trennung von ihrem Sohn – sprachen, meinte sie resümierend, dass bereits damals von allen Beteiligten ihre endgültige Auswanderung in die USA stillschweigend zur Kenntnis genommen wurde. Im Interview schilderte sie dies folgendermaßen: M: I glaub, wenn mei Schwester nicht da gewesn wär, dann hätt ichs nicht geschafft. Also so einen großn Mut hab ich nicht ghabt, dass ich mir vielleicht direkt den Weg selbst – ahm – dass ich mich so sag ma in ein fremdes Land hineingworfn hätte ohne ohne – Familienverbindung weil ich s e h r familienverbündet oder verbundn bin eigentlich. Und für mich war des eine Brücke. Ich hätt ma des – wahrscheinlich NICHT vorstelln können – – so wie manche Menschn das KÖNNEN, die dann direkt die eigene Heimat verlassn und und – ganz allein neu anfangenȺ! (2. Int., S. ū)
Frau Waldorf führt somit ihre damalige Entscheidung, in die USA zu ziehen, ausschließlich auf die Einladung ihrer Schwester zurück. Nur über diese familiäre Anbindung, im Haushalt der Schwester leben und arbeiten zu können, war es für Frau Waldorf denkbar, diesen einschneidenden Schritt zu vollziehen9Ş. Dabei ist auch ihre schwierige familiäre Situation in Österreich zu berücksichtigen: Wie bereits erwähnt, musste Frau Waldorf krankheitsbedingt ihre Berufsausbildung abbrechen. Aufgrund der schwierigen sozioökonomischen Lage ihrer Herkunftsfamilie konnte sie nicht darauf setzen, in Österreich eine Ausbildung zu absolvieren, nachdem sie einen Sohn geboren hatte. Vielmehr war sie auf die Unterstützung ihrer Mutter angewiesen, damit sie trotz Mutterschaft zumindest einer Berufstätigkeit nachgehen konnte. So war sie ihren Eltern durch das uneheliche Kind noch mehr verpflichtet, was sich auch in monatlichen Geldsendungen für die Verpflegung und Betreu9ŞȲ
Hier bestätigt sich eine These aus der Migrationssoziologie: Kettenwanderung bedarf vergleichsweise weniger Eigeninitiative und Risikobewusstsein auf Seiten der MigrantInnen als dies bei Pionierwanderern und -innen der Fall ist.
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ung ihres Sohnes niederschlug. Die endgültige Entscheidung zur Migration wurde schließlich im Familienverband getroffen: Zunächst sprach sich die Mutter Frau Waldorfs gegen den US-Aufenthalt aus, doch die insistierende Haltung der Schwester führte schließlich dazu, dass auch sie den Schritt befürwortete und Frau Waldorf in ihrem Vorhaben unterstützte. Ihren Sohn ließ Frau Waldorf bei ihrer Mutter in Österreich, als sie zu ihrer Schwester nach Montgomery in Alabama aufbrach. Im Interview bezeichnete Frau Waldorf ihren Sohn rückblickend als „Faustpfand“, das sie ihrer Mutter im Gegenzug für ihre eigene Abwesenheit zurückgelassen habe. Auch hier macht sich eine relationale Annahme von Raum bemerkbar, die die Emigration mit beeinflusst. Dass diese sozialen Beziehungen über weite geographische Distanzen hinweg eine einschneidende Bedeutung für alle Beteiligten haben, zeigt sich auch an der weiteren Entwicklung: Als Frau Waldorf später ihren Sohn ebenfalls in die Vereinigten Staaten holt, kommt es darüber fast zum Bruch mit der Mutter. Dieser Konflikt zwischen den beiden Frauen konnte bis zum Tod der Mutter nicht mehr ausgeräumt werden, wie Frau Waldorf im Interview schilderte. Die Migrationsgeschichte der Familie Waldorf lässt sich über weite Strecken als Kettenmigration beschreiben. Bei dieser Form der Wanderung sind relationale Elemente ausschlaggebend für das Wanderungsverhalten, wie in die Debatte eingeführt haben. So wurde der Begriff bereits von John und Beatrice MacDonald, die ihn erstmals in der Literatur definiert haben, folgendermaßen umrissen: Chain migration can be defined as that movement in which prospective migrants learn of opportunities, are provided with transportation, and have initial accomodation and employment arranged by means of primary social relationships with previous migrants (MacDonald und MacDonald ūųŰ4, 82, zit. nach Haug und Pointner 2ŪŪű, 3ű4).
Aus einer raumsensiblen Perspektive lässt sich anfügen, dass bei dieser Form der Wanderung Räume über soziale Beziehungen erschlossen und wahrgenommen werden. Ein Containerdenken tritt hier (zumindest teilweise) in den Hintergrund, da die familiären und gemeinschaftlichen Beziehungen bestimmend sind, die durchaus über Nationalstaaten hinausreichen können, wie dies der Fall von Frau Waldorf eindrucksvoll zeigt. Wie erwähnt können je nach Situation und Kontext von denselben Personen auch Bedeutungszuweisungen vorgenommen werden, die auf unterschiedlichen Raumannahmen beruhen. Im Fall von Frau Waldorf zeigten sich an anderer Stelle auch essentialistische Raumauffassungen, als sie bei ihrer
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Ankunft in Montgomery von der Konfrontation mit der dortigen Lebensrealität enttäuscht wurde: Sie war mit der Erwartungshaltung angekommen, sie würde nun dem von ihr als eng und bedrückend empfundenen Leben in der österreichischen Kleinstadt entkommen und freute sich auf ein freies, unbekümmertes Leben bei ihrer Schwester. Im Interview schilderte sie, dass sie sich wohl unbedarft die USA als das Land der Freiheit und der Liberalität, des gesellschaftlichen Fortschritts und der menschlichen Größe ausgemalt hatte. Stattdessen erlebte sie in einem Vorort, in dem sie den alltäglichen amerikanischen Rassismus direkt beobachten konnte, was ihr zunächst schwer zusetzte: M: I hab imma gedacht – i bin goa net in Amerika gelandet. I: AhsoȺ? M: I hab mir gedacht, das k a n n nicht Amerika sein. Das war mir so – vielleicht hab ich doch a Vorstellung ghabt weißt du, weil – das war so naiv und die warn so – einfältig die Menschn. Dort in Montgomery dort, die warn so einfältig, in Montgomery. Also irgendwie ich muss Amerika irgendwo schon idealisiert haben, der Gesinnespunkt der Menschn müßte so frei sein und so – groß und so – global und – also in Montgomery söba, des woa, – des woa wie ein kleines hinterstes Dorf zu dem Zeitpunkt. (2. Int., S. 3, zit. nach Scheibelhofer 2ŪŪ3, ūū3ȹf.)
Hier zeigt sich, dass kontextabhängig unterschiedliche Raumannahmen die Basis für migrationsprägende Momente in einer Wanderungsbiographie bilden können. Für Frau Waldorf war ein Ausweichen in eine offenere, freiere Gesellschaft eine verlockende Aussicht, die sie mit bei ihrer Auswanderung unterstützt hat. Damit wird deutlich, dass im Fall von Frau Waldorf relationale Raumannahmen problemlos neben Annahmen bestehen können, die auf Containerannahmen beruhen. Ein weiteres Beispiel für ein derartiges „friedvolles Nebeneinander“ unterschiedlicher Raumkonzepte zeigt sich bei dem bereits zitierten interviewten Wissenschaftler, Herrn Schmied. Für seine persönlichen Beziehungen sieht er (wie bereits beschrieben) den sozialen Austausch bei gleichzeitiger Anwesenheit als unabdingbar an und baut seine Überlegungen des „Managements“ persönlicher Beziehungen auf essentialistische Annahmen auf. Sobald Herr Schmied jedoch auf berufliche Austauschbeziehungen zu sprechen kommt, sind relationale Raumkonzepte als deren Grundlage rekonstruierbar: Für wissenschaftliche Kooperationen sieht er einen permanenten face-to-face-Kontakt nicht als Notwendigkeit, da es in diesem Fall seiner Ansicht nach ausreicht, die KooperationspartnerInnen sporadisch zu treffen und ansonsten per Email und Telefon zu kommunizieren. An dieser Stelle zeigt sich, dass Herr Schmied
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seiner Argumentation ein Raumverständnis zugrunde legt, das soziale Interaktion nicht ausschließlich an Anwesenheit bindet, sondern über kommunikationsvermittelnde Medien teilweise ersetzbar macht. Diese Überlegung basiert auf der Annahme, dass im beruflichen Kontext der Informationsaustausch im Zentrum der Kommunikation steht und somit die gleichzeitige Anwesenheit und der sinnliche Austausch wie bei Georg Simmel beschrieben zu einem überwiegenden Teil überflüssig ist. Ganz ähnlich haben auch die Interviewpartner im grenzüberschreitenden IT-Projekt argumentiert: Für die Programmentwicklung sei es zweitrangig, ob man Tür an Tür säße und einander in der Kaffeeküche treffen würde oder einander kaum je zu Gesicht bekäme. Die Daten aus der teilnehmenden Beobachtung in diesem Forschungsprojekt brachten jedoch diesen Darstellungen teilweise widersprechende Ergebnisse: So schilderte auch Herr Holm, der Chef des österreichischen IT-Unternehmens in unserem ersten Interview, dass persönliche Treffen zwischen ihm und seinen Kooperationspartnern in Belarus für den Fortgang der Zusammenarbeit nicht notwendig wären. Scherzend fügte er hinzu, dass er sich mit seinen Geschäftspartnern generell gut verstehe und dass derartige Treffen, die seinen Angaben nach etwa zweimal pro Jahr stattfinden, vor allem unterhaltenden Charakter hätten. Zu meinem großen Erstaunen erhielt ich nur wenige Wochen nach dem Interview, in dem diese Aussagen gefallen waren, das Angebot von Herrn Holm, ihn auf einer dringenden und kurzfristig eingeschobenen Geschäftsreise nach Minsk zu begleiten. Es stellte sich im Laufe dieser Reise heraus, dass die Geschäftspartner einerseits an einem wichtigen Auftrag persönlich miteinander zu arbeiten hatten, da einige bereits abgeschlossene Projektteile nicht zur Zufriedenheit des Kunden abgeliefert worden waren und die Fertigstellung dieses Prestigeprojektes gefährdet schien. Die direkte Kommunikation zwischen den hauptverantwortlichen Mitarbeitern war daher als die beste Möglichkeit befunden worden, die aufgetretenen Schwierigkeiten zu beseitigen. Neben dem Geschäftsführer reiste daher der Hauptverantwortliche für diesen spezifischen Auftrag mit an. Der Geschäftsführer wiederum war ebenso mit seinem Minsker Partner übereingekommen, dass sie einander zu persönlichen Gesprächen treffen müssten. Aufgrund des hohen Auftragsvolumens der vergangenen Monate waren die Geschäftsbeziehungen derart angewachsen, dass es ihrer Ansicht nach einer neuen Organisations- und Rechtsform für das sich vergrößernde Unternehmen in Belarus bedurfte. Diese Arbeitsgespräche begannen jeweils am Morgen und dauerten während der dreitägigen Geschäftsreise regelmäßig bis in die Abendstunden. Anschließend gingen Chefs und Mitarbeiter gemeinsam in Minsker Restaurants essen, wobei die Abendunterhaltung teils privater,
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teils geschäftlicher Natur war. Von den eingangs im Interview geschilderten „lockeren, unterhaltsamen“ Zusammenkünften war hier (abgesehen von den Abendessen) kaum etwas zu bemerken, vielmehr wurde intensiv und konzentriert mit nur kurzen Unterbrechungen miteinander gearbeitet. Fazit aus diesem empirischen Beispiel ist, dass die Beziehungsebene, die auf persönlichem Austausch beruht, nicht nur in der Sozialwissenschaft häufig unterschätzt wird (etwa in Diskussionen rund um die Auswirkungen neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, vgl. etwa Weigle 2ŪŪű), sondern auch von den untersuchten Personen selbst mitunter geringer eingeschätzt wird, als sie in der Alltagsrealität tatsächlich gelebt wird. Dies betrifft nicht nur den „inhaltlichen“ Austausch in Geschäftsbeziehungen, sondern auch den Stellenwert von quasi privaten, ungezwungenen Zusammenkünften. Auf Seiten der Sozialwissenschaft wurde hier häufig fälschlicherweise die Annahme vertreten, durch Prozesse der Globalisierung, die auch die Verwendung moderner Kommunikationstechnologien mit einschließt, würde die Bedeutung von Raum abnehmen (vgl. hierzu eine Diskussion in der Einleitung). Derartige Aussagen gehen von einem essentialistischen Raumverständnis aus, in dem die Überwindung von Raum im Sinne von territorialen Distanzen gedacht wird. Diese Dimension betrifft Informationen und Artefakte – der zwischenmenschliche Austausch ist jedoch in vielerlei Hinsicht relevant für die Aufrechterhaltung von erfolgreichen Interaktionen in unterschiedlichsten Bereichen des sozialen Austauschs. Im Gegensatz zur Bedeutung gleichzeitiger Anwesenheit in beruflichen Belangen ist der persönliche Austausch in familiären Beziehungen in der sozialwissenschaftlichen Literatur unbestritten und wird regelmäßig durch empirische Studien belegt. Hierzu zählen auch Untersuchungen zur Arbeits- und Lebenssituation von MigrantInnen, die in Europa und den USA meist undokumentiert in privaten Haushalten arbeiten. Barbara Ehrenreich und Arlie Hochschild (Ehrenreich und Hochschild 2ŪŪ2) weisen in diesem Zusammenhang etwa auf die Verbreitung dieser Form von Arbeitsmigration hin, die sie mit der weltweiten Geschlechterordnung und Prozessen der Globalisierung in Zusammenhang bringen99. Wie der Mangel an persönlicher Präsenz im Herkunftsland mit den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln kompensiert werden kann, zeigt auch eine soziologische Studie, die mittels ExpertInneninterviews, qualitativer Interviews mit ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen sowie teilnehmender Beobachtung in Huelva realisiert wurde: Julia Weingärtner (Weingärtner 2ŪŪ8) hat rumänische Migrantinnen 99Ȳ
Zur empirischen Arbeit von Arlie Hochschild zu diesem Thema vgl. auch Kapitel Ř.Ř.ř.1.
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untersucht, die in den spanischen Erdbeerplantagen als Saisonkräfte arbeiten. Dabei konnte sie feststellen, wie diese Frauen aufgrund ihrer finanziell eingeschränkten Lage neue Techniken entwickeln, um mit den Daheimgebliebenen in Kontakt zu bleiben. So verwendeten die Migrantinnen etwa Telefonate, um kurz ihre Kinder anzurufen, häufig jedoch ohne jedoch mit ihnen zu sprechen, da dies zu hohe Kosten verursachen würde. Stattdessen riefen sie zu fixen, abgemachten Zeiten an und legten nach einigen Malen Läuten wieder auf – und wiederholten die Prozedur. Über die Abfolge von Klingelzeichen vermittelten die Arbeiterinnen, dass sie in Gedanken bei ihren Familienangehörigen waren. An derartigen Beispielen wird deutlich, dass Migrantinnen unter dem Druck ihrer Lebensumstände und ökonomischer Restriktionen zu Praktiken greifen, die ihnen soziale Nähe zu den Daheimgebliebenen ermöglicht, obwohl sie nicht permanent persönlich anwesend sein können. Eine andere Form, mit dem Zwiespalt umzugehen, eine Erwerbsarbeit im Ausland mit dem Familienleben daheim zu verbinden, hat Mirjana Morokvasic bereits ūųų4 beschrieben: Pendelmigration ist für sie demnach eine Strategie, dort zu bleiben, wo man immer schon gelebt hat und gleichzeitig die Möglichkeiten ausländischer Arbeitsmärkte auszuschöpfen. Das heißt, die von Morokvasic untersuchten Personen pendelten ins Ausland, um in ihrem Herkunftsland ihre Zukunft bzw. die ihrer Familie abzusichern. Sie wurden somit zu „transnational commuters“ (Morokvasic 2ŪŪ3, ū2ű), die durch ihre grenzüberschreitende Mobilität transnationale soziale Felder aufbauen. Häufig organisieren sich diese Frauen in Gruppen und leben gemeinsam bzw. abwechselnd in angemieteten Unterkünften nahe ihren Arbeitsstätten. Je nach Einkommensmöglichkeiten und Aufenthaltsbestimmungen100 variiert die Dauer des Aufenthalts am Arbeitsort. Häufig arbeiten die Frauen als Reinigungskräfte in privaten Haushalten und wechseln einander nach einigen Wochen oder Monaten wieder ab, um zu ihren Herkunftsfamilien zurückzukehren. Ähnliche Arrangements finden sich auch in der privaten (meist undokumentierten) Pflege kranker bzw. älterer Personen (Metz-Göckel, Koch et al. 2ŪŪŰ; von Kondratowitz 2ŪŪ5). Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Alltagspraktiken von MigrantInnen nicht nur auf essentialistischen Raumannahmen aufbauen. Stattdessen zeigt sich an den geschilderten Handlungszusammenhängen, dass relationale Raumkonzepte notwendig sind, um die Lebenszusammenhänge dieser Menschen und ihrer Familien nachzuvollziehen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, 100Ȳ Auf die nationalstaatlichen Regelungen und ihre Auswirkungen für die individuellen Mobilitätsstrategien siehe weiter unten in Kapitel ś.ř.
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dass dieses spezifische Raumverständnis und die darauf aufbauenden Handlungszusammenhänge in bestimmte nationalstaatliche Regelwerke bezüglich Mobilität und Einwanderungs- sowie Arbeitsrecht eingelassen sind. Auch die Bedeutung der jeweiligen Arbeitsmärkte und der wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme sowie deren Durchlässigkeit für MigrantInnen sind dabei zu berücksichtigen. Diese Aspekte werden analytisch getrennt in Kapitel 5.3 abgehandelt. In der Praxis sind diese unterschiedlichen Aspekte jedoch eng miteinander verwoben.
5.ŗ.ř
Konstruktivistische Konzepte
Die bisher diskutierten relationalen Raumkonzepte werden von MigrantInnen meist aus der Alltagsperspektive heraus als unveränderliche Tatsachen angesehen. Dies trifft insbesondere auch auf familiäre Beziehungen zu, die schließlich zu Wanderungen führen. Unter konstruktivistischen Raumvorstellungen werden im Folgenden hingegen Überlegungen angestellt, die Raum ausschließlich als Ergebnis menschlicher Willensakte (Handlungen und Sinnesleistungen) verstehen und daher durchgehend die gestalterische Komponente der Individuen betonen, die Menschen in Bezug auf Raum haben. Da es sich dabei um eine Unterscheidung handelt, die auf in Zukunft noch weiter zu betreibender empirischer Analysen beruht, lassen sich hierzu durchaus auch Gegenbeispiele finden. Dennoch scheint es schlüssig, von dieser Differenzierung auszugehen, da darauf grundlegend unterschiedliche Sichtweisen von Untersuchungspersonen aufbauen, wie in diesem Kapitel gezeigt wird. Ein Thema, bei dem sich die Annahme der sozialen Konstruiertheit von Raum in Interviews mit MigrantInnen deutlich zeigt, ist die Frage nach (der Bedeutung von) „Heimat“. Vor Kurzem hat Magdalena Nowicka hat den wissenschaftlichen Forschungsstand zu dieser Thematik sehr ausführlich in ihrer Arbeit zu transnationalen ProfessionistInnen (Nowicka 2ŪŪŰb) dargestellt. Anschließend diskutiert sie die Ergebnisse ihrer eigenen Untersuchung und betont (ebd., ū38ȹff.), dass die von ihr untersuchte Personengruppe in spezifischer Form mobil ist und sich durch einen häufigen Wohnortswechsel auszeichnet, da sie ausschließlich Beschäftigte einer internationalen und global tätigen Non-Profit-Organisation interviewte. Der Großteil der untersuchten Personen war bereits mehrere Male umgezogen, meist wechselten sie dabei auch den Kontinent. Oft sind auch ihre Familien bi- oder multinational und sie sind es gewohnt, dass die Umgangssprache in der Familie eine andere ist als jene in ihrem Arbeitsumfeld. Die Lebensverläufe der InterviewpartnerInnen zeich-
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nen sich außerdem dadurch aus, dass nicht nur Wohnorte, sondern auch familiäre Beziehungen vielfältig und durch Umbrüche gekennzeichnet sind. Dabei wurden die Untersuchungspersonen von Magdalena Nowicka danach gefragt, wo ihr zu Hause sei – nicht was oder wen sie mit „Zu Hause“ verbinden würden. Die Frage nach diesem „Zu Hause“ ist dabei durchaus berechtigt – wird sie doch in weiten Teilen der sozialwissenschaftlichen Literatur als zentral für Fragen der persönlichen Identität verstanden. Dabei wird unter dem Begriff meist ein stabiler, unbeweglicher Platz angenommen, ein Zentrum, von dem ausgehend die Welt um uns herum erst wahrgenommen, erfahren und eingeordnet wird (vgl. hierzu ebd., ū3ų). Die Autorin stellt daher im Einklang mit der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Literatur fest, dass der Begriff der Heimat idealisiert und emotional stark aufgeladen ist (ebd.). Nowicka zeigt, dass sich die InterviewpartnerInnen durchaus auf die Konstruiertheit eines „Zu Hause“ beziehen. Dies wird auch in den Interviewpassagen deutlich, die in der publizierten Studie enthalten sind: I guess you need to create your own home when you leave the house of your parents. And then depends: it can be very easy if you don’t live very far from the rest of your family, your parents and grandparents… depends. And it’s like mixture, it is the same thing more or less because you live so close but when you live far and when it is over the ocean then it becomes quite difficult. (zitiert nach Nowicka 2ŪŪŰb, ū43)
Brüchig und schwierig herzustellen wird das „Zu-Hause-Sein“ ab jenem Zeitpunkt, wo der direkte Kontakt mit der Herkunftsfamilie nicht mehr tagtäglich möglich ist. Erst mit der geographischen Distanz bricht für viele InterviewpartnerInnen damit die Frage auf, was dieses „Zu Hause“ konstitutiert und wie es sich für sie als mobile Personen herstellen lässt. Andere InterviewpartnerInnen, mit denen Magdalena Nowicka gesprochen hat, thematisieren hingegen nicht das „Zu Hause“101, sondern ziehen Begriffe wie „focal points“ oder „points“ allgemein vor. Nowicka hebt in ihrer Analyse hervor, dass dieser Ausdrucksweise kein räumlicher Essentialismus zugrunde liegt. Es handelt sich um einen Bezugspunkt, zu dem sich die InterviewpartnerInnen immer wieder begeben können – sei es gedanklich und/oder körperlich. Der Kontext 101Ȳ Die Studie ist auf Englisch verfasst, was die Schwierigkeit der Übersetzung des Begriffs „home“ mit sich bringt. Je nach Kontext ist darunter entweder das im Deutschen unverfänglichere „zu Hause“ oder die ideologisch aufgeladene „Heimat“ zu verstehen. Aus dem Kontext der Arbeit Nowickas heraus übersetze ich hier mit „Zu Hause“.
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der Interviews legt die Deutung nahe, dass ein derartiger „focal point“ emotional weniger aufgeladen ist als ein „Zu Hause“. In einem solchen „Brennpunkt“ wird auch – ließe sich anfügen – bereits die Bewegung, das Hin und Her von Mobilität, während das „Zu Hause“ durchaus für etwas Stabiles, Unverrückbares in unserem alltäglichen Sprachgebrauch steht. Interviewpassagen aus der Studie stützen diese Annahme: Yes, you need a focal point, you need the point which for you is a point of stability, which makes it easier, at least for me, to deal with all the flags of mobility, when I travel I like to come back to my apartment. (Aus: Nowicka 2ŪŪŰb, ū43)
Dieser Bezugspunkt wird umso wichtiger, wenn die InterviewpartnerInnen Kinder zu versorgen haben. In dieser Situation ist es eine Herausforderung an sich, einen neuen derartigen Bezugspunkt für alle Familienmitglieder nach einem (weiteren) Umzug zu kreieren. Andererseits wird mit der Existenz einer Familie auch die Antwort auf die Frage eindeutiger, die Nowicka ihren GesprächspartnerInnen gestellt hatte: Sie antworten, dass ihr „Zu Hause“ dort ist, wo sich ihre Kinder und ihr Partner bzw. ihre Partnerin aufhalten. Dabei arbeitet Nowicka auch heraus, dass für die interviewten Personen nicht nur wichtige Menschen und Erinnerungen zur Konstruktion eines „Zu Hause“ gehören, sondern dass für sie – und dies trifft vor allem auf die weiblichen Interviewpartnerinnen zu – auch Objekten eine wesentliche Bedeutung zukommt, die für ein „Zu Hause“ stehen (ebd., ū44). Die Autorin bringt diesen geschlechterspezifischen Umstand damit in Verbindung, dass es nach wie vor großteils die Frauen sind, die das Ein- und Herrichten der Wohnungen und Häuser übernehmen. So berichten dann auch Interviewpartnerinnen, dass sie mit ihrem „Zu Hause“ jene Orte verbinden, die sie selbst gestaltet haben und wo sich unterschiedlichste Objekte befinden, die mit prägenden Erinnerungen verbunden sind. Weiters sprechen diese hochmobilen Personen eine Infrastruktur an, in die ein „Zu Hause“ eingebettet ist: Soziale Institutionen wie Schulen, Restaurants, Parks oder Orte, die die Ausübung von Hobbies ermöglichen, werden an dieser Stelle genannt. Somit ist das „Zu Hause“ nicht an vier Wände gebunden oder an einzelne Personen, sondern ein multiples Geflecht aus sozialen Beziehungen, Gegenständen und sozialen Einrichtungen. Im Zuge der Studie bezüglich ausgewanderter ÖsterreicherInnen, interviewte ich auch den Galeristen Max Gerber. Der damals 44-Jährige lebte seit acht Jahren in New York und war mit einer US-Amerikanerin verheiratet. Im Interview kam seine Orientierung an beruflichen Belangen deutlich zum Tragen, nationale oder lokale Zuschreibungen wollte er für sich selbst keine
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vornehmen. Vielmehr positionierte er sich selbst als Weltbürger, als Kosmopolit, weshalb er seine österreichische Staatsbürgerschaft nur aus praktischen Überlegungen aufrecht erhalten würde. Gegen Ende des Interviews macht sich diese instrumentelle Einstellung gegenüber Nationalitäten – und damit nationalen Räumen – folgendermaßen bemerkbar: I: Du hast jetzt beide – StaatsbürgerschaftnȺ? MG: Nein. Ich hab die green card und kann hier arbeitn, leben, wie auch immer – – I: Is das eine Überlegung, die österreichische Staatsbürgerschaft aufzugebenȺ? MG: – – – – – Manchmal – – – aber – – – – – – – – – – im Moment – ja manchmal ja. Aber manchmal denk ich mir es hat doch Vorteile einen europäischn Pass zu habn. Ich mein wenn man erst die Welt so ansieht wie ich, das heißt ich fühl mich zu Haus auf dem gesamtn Planetn und das heißt ich möchte reisn, ich möchte bestimmte Dinge tun – und dann ist es definitiv besser einen europäischn Pass zu haben, weil ich immer in Europa arbeitn kann – I: Ja MG: Und ich kann immer in Amerika arbeitn also es is irgendwie dumm so eine Art Möglichkeit auszulassn oder zu sagn, okay, ich pfeif auf das, ich orientier mich nur auf Österreich, ah auf Amerika. (Interview mit Max Gerber, S. ūű)
Der Bezug zu Österreich spielte in diesem Interview generell nur eine untergeordnete Rolle. Am Ende des Gesprächs erzählte Herr Gerber auf meine Nachfrage hin, dass er kaum noch Kontakte nach Österreich pflegt mit Ausnahme der Mutter, die er regelmäßig anrief. Im Gegensatz zu anderen InterviewpartnerInnen in vergleichbaren Lebenssituationen erzählte Herr Gerber auch nicht von etwaigen (regelmäßigen) Kurzreisen nach Österreich. Er hat sich inzwischen komplett auf einen Freundeskreis in New York ausgerichtet, der zum Großteil aus alten Bekannten und engen Freunden seiner Frau bestand. So spricht Herr Gerber im obigen Interviewausschnitt auch nicht von einer „österreichischen Staatsbürgerschaft“ – wonach ich als Interviewerin zunächst gefragt hatte – sondern von den Vorteilen eines „europäischen Passes“. Die Staatsbürgerschaft ist hier Mittel zum Zweck für ihn, um ungehindert (zumindest potentiell) weltweit reisen zu können. Er spricht in diesem Zusammenhang auch die politische Lage an und betont, dass er durchaus Verständnis habe für arabische Staaten, die US-BürgerInnen nicht ohne Weiteres einreisen ließen. Da er auch über gültige Aufenthalts- und Arbeitspapiere in den USA verfügt, ist Herr Gerber auch im Vergleich zu anderen InterviewpartnerInnen in einer privilegierten Position (vgl. zur Frage der unterschiedlichen Auswirkungen nationalstaatlicher Grenzregimes in Kapitel 5.3).
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Konstruktivistische Raumzugänge zeigen sich auch in Interviews mit politischen AktivistInnen mit türkischem Migrationshintergrund, die Sabine Strasser (Strasser 2ŪŪ3) in ihrer Arbeit geführt und analysiert hat. Ähnlich wie Herr Gerber sieht sich etwa auch ihr Interviewpartner kenol Akkiliç nicht qua Geburt oder Aufenthaltsort an eine bestimmte Nationalität oder Lokalität gebunden. Seine Auffassung von Zugehörigkeit ist durch seine biographischen Erfahrungen und hier vor allem der nationalen und internationalen Migration geprägt (vgl. Strasser 2ŪŪ3, ūų2ȹff.). Dies wird in einem Interviewausschnitt deutlich, in dem er von sich selbst sagt, dass es ihm nicht „geläufig“ ist zu sagen, „dort bist du geboren, dort bist du zu Hause, oder dort lebst du, dort bist du zu Hause“ (vgl. ebd.). Allerdings ist er – vor allem während Aufenthalten in Großbritannien – immer wieder damit konfrontiert, dass von ihm gefordert wird, sich noch über seine Aussage hinaus, Österreicher zu sein, weiter zu deklarieren. Die Schwierigkeit, sich als Kurde zu bezeichnen, liegt an der Reaktion, die er damit bei seinem Gegenüber auszulösen gewohnt ist: Diese Zuschreibung von bestimmten Eigenschaften, mit denen er sich selbst nicht identifiziert, führt er wie folgt aus (vgl. Strasser 2ŪŪ3, 2ūű): Wenn ich in England sage ich komme aus Österreich, dann kommt zusätzliche Frage: na, woher kommst du original. Es reicht nicht zu sagen ich komme aus Österreich, den Menschen fehlt noch eine Komponente. Du schaust anders aus. D.ȹh. wir sind auch sehr viel von Aussehen geprägt, auf Aussehen fixiert quasi. Schaust anders aus, hast du sicher auch andere Eigenschaften. Wenn wir von diesen abwertenden Gedanken, von den vorurteilsbeladenen Gedanken, wegkommen würden, würde es mich gar nicht stören, wenn mich jemand fragt: Woher kommst du. Sag i, ja, i komm aus Kurdistan. Wenn Kurdistan z.ȹB. so wäre wie Amerika, wo dann, was weiß ich, etliche Nationen, etliche Menschen dort leben, dann würde man sich wahrscheinlich nicht mehr auskennen, und könnte nicht sagen, das is a kurdische Kultur, glaub ich einfach nicht. Ich kann zum Beispiel net sagen, ein amerikanischer Italiener ist wie ein Italiener, oder wie ein Amerikaner, der ist halt eine Person für sich, eine Gruppe für sich, die haben wiederum Sachen dort entwickelt, andere Sachen aufgenommen, ein anderes Zusammenspiel ist da. (Aus: Strasser 2ŪŪ3, 2ūű)
Der Interviewpartner kenol Akkiliç macht damit ein Problem, das sich durch essentialistische Vorstellungen im Alltagsleben für MigrantInnen einstellt, deutlich: Sie werden aufgrund ihrer territorialen Herkunft, ihres Aussehens oder ihrer ethnischen Zuordnung regelmäßig mit bestimmten Vorurteilen konfrontiert. Diese Konfrontationen nehmen unterschiedliche Formen an wie Herr Akkiliç beschreibt – abhängig vom sozialen Umfeld, in dem er sich be-
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wegt und den Angaben, die er selbst auf Nachfrage macht: Als Österreicher wird Herr Akkiliç in Großbritannien laut Sabine Strasser „für den Nationalsozialismus und Rechtspopulismus verantwortlich gemacht, als Einwanderer für die Bedrohung der österreichischen Kultur und als „orientalischer“ Mann für die Diskriminierung von Frauen“ (Strasser 2ŪŪ3, 2ūű). Da sich kenol Akkiliç politisch engagiert, muss er nicht nur in seinem privaten Umfeld mit derartigen Vorurteilen umgehen, sondern auch in seiner politischen Arbeit. In diesem Kontext ist es auch zu verstehen, warum er es derart ablehnt, eine bestimmte „Heimat“ zugeschrieben zu bekommen. Aus seiner intellektuellen und politischen Bildung heraus hinterfragt er die Idee des Nationalstaats, die er als riskant für die weitere gesellschaftliche Entwicklung ansieht. Wenn Heimat als exklusives Territorium gedacht wird, besteht seiner Meinung nach die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen, Vertreibung und Elend (vgl. Strasser 2ŪŪ3, 2ūűȹf.): Ich glaub, dass die Menschen, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben werden würde, oder sie bestehende Möglichkeiten in Anspruch nehmen könnten, dass es viel mehr zu Hause geographisch gesehen geben kann, ja. Für eine Person. Für eine Person, weil ich generell denke, die Welt ist für Menschen geschaffen und nicht für Nationalitäten geschaffen. Die Nationalitäten sind eine Entwicklung der zeitlichen Abläufe, also wirtschaftlichen Abläufe und daraus resultierenden Dinge. Auch in diesem Zusammenhang muss man fragen, ist die Nationenbildung der einzige Weg, dass die Menschen sich aus irgendwelchen Unterdrückungen oder Benachteiligungen befreien könnenȺ? Muss man den herkömmlichen Weg gehen und die herkömmlichen Begriffe in diesem Zusammenhang auch verwendenȺ? (Aus: Strasser 2ŪŪ3, 2ū8)
In diesen Passagen wird deutlich, dass kenol Akkiliç eine klare Unterscheidung zwischen geographischen Räumen und der historischen Entwicklung von Nationalstaaten vornimmt. Für ihn ist die Verquickung einer geographischen Region und sozialen Zuschreibungen nur aus politischen und historischen Entwicklungen heraus zu verstehen. Die Auswirkungen derartiger sozialer Konstrukte sieht er als Bedrohung und skizziert eine alternative Form Heimat zu denken: Eine Person könnte mehrere Heimaten für sich selbst benennen, sobald nationales Denken in den Hintergrund tritt und stattdessen der Mensch in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt würde. Während die zitierten Interviewpassagen auf einem konstruktivistischen Verständnis von Raum beruhen, finden sich auch Interviewpassagen mit Herrn Akkiliç in Strassers Arbeit wieder, die ein relationales Raumverständ-
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nis desselben Interviewpartners widerspiegeln. Letzteres wird sichtbar, wenn kenol Akkiliç von seinen eigenen Plänen spricht, was Mobilität und Migration anlangt. Für ihn nimmt sein Freundeskreis in Wien eine zentrale Rolle ein: Diese Menschen, mit denen er einen Großteil seiner Freizeit verbringt, sind sein Bezugspunkt für seine private Verortung: Aber das sind aber wieder Individuen, Personen, mit denen ich zu tun haben will. Es gibt ein System darunter das stimmt, es gibt ein soziales Netz, es gibt ein ökonomisches Feld und so weiter und so fort. Ich kann mir net vorstellen, dass ich jetzt nach Deutschland ziehe und dort einfach lebe oder nach Frankreich ziehe oder einfach dort lebe, weil dort die persönlichen Kontakte anders sind. Es ist nicht der Bezug zum Boden, sondern zu einem Umfeld. (Aus: Strasser 2ŪŪ3, 2ū8)
Aufgrund seiner sozialen Kontakte ist es für Herrn Akkiliç wenig attraktiv, aus Wien wegzugehen. Er hebt eigens hervor, dass es ihm dabei nicht um das Leben an einem bestimmten Ort geht, sondern um die Einbettung in ein soziales Netzwerk, das seine Lebensführung umfassend beeinflusst. Hier wiederum lässt sich eine beziehungsabhängige Raumstruktur vermuten, die wiederum auf die bereits diskutierte Bedeutung des persönlichen Austauschs unter der Bedingung der gleichzeitigen Anwesenheit verweist (vgl. Kapitel 2.2.2.2). Im Zuge der bereits zitierten Studie zu Mobilitätsperspektiven junger WissenschaftlerInnen, die im Ausland forschten, führte ich auch ein Gespräch mit Vera Jungwirth. Die 3Ű-jährige Politikwissenschaftlerin lebte zum Zeitpunkt des Interviews seit zehn Jahren in New York. Nach ihrem Magisterabschluss in Österreich hatte sie mit einem Auslandsstipendium an einer New Yorker Universität einen Master in Sozialwissenschaften absolviert. Am Ende dieses Studiums wurde sie von ihrem Betreuer dazu aufgefordert, sich für ein PhDStipendium derselben Universität zu bewerben. Sie erhielt dieses Stipendium, das eine Lehrtätigkeit beinhaltete und kooperierte gleichzeitig in Forschungsprojekten mit WissenschaftlerInnen in Österreich, mit denen sie noch aus Studienzeiten in Wien befreundet war. Außerdem arbeitete sie seit dieser Periode eng mit zwei Forscherinnen zusammen, die wie sie selbst zwischen New York und Österreich pendelten. Zum Untersuchungszeitpunkt lehrte sie an österreichischen und New Yorker Universitäten, was regelmäßige und längere Aufenthalte in Wien zur Folge hatte. Daher hatte sie ihre dortige Wohnung nicht aufgegeben. Privat war sie mit einem US-Amerikaner verheiratet.
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Frau Jungwirth reflektierte ihre eigenen Erzählungen zum Thema Auswanderung am Ende des Interviews vor dem Hintergrund konstruktivistischer Raumkonzepte in folgender bemerkenswerter Weise10Ř: VJ: Natürlich, dieses Dilemma zwischen Österreich und New York und wo leben und hin und her und wo in der Zukunft is etwas, das sich als roter Faden natürlich durchgezogen hat und aa immer wieder Probleme aufwirft, nur – wie sehr genau diese Frage a konstruierte aa is – des hab i vorher überhaupt nie des war – des war ganz a – ES: wie sehr genau diese Frage auch eine konstruierte is VJ: ja, also wie sehr ich die Geographie auch als solche als Kategorie konstruier in meinem Leben und als zwei Polaritäten heraus arbeit und – genauso konstruier wie alle also (…) i sehe Wien als ein Komplex, als ein Cluster, produzier und polarisier von dem, was für mich New York darstellt. Das is natürlich genauso konstruiert wie wie alles andere. (Interview mit Vera Jungwirth, S. 4Ű)
Diese Form der Hinterfragung der eigenen Migrationserfahrung und der täglichen Anforderungen, die aus einer transnationalen Arbeits- und Lebensführung entspringen10ř, ist auch bei Frau Jungwirth im Kontext eines politischen Engagements zu sehen. Unter Umständen liegt in einer derart kritisch-dekonstruktivistischen Sichtweise auf die eigene Migrationsbiographie ein großes Potential für die Hinterfragung sozialer (Selbst-)Zuschreibungen, mit denen MigrantInnen konfrontiert sind. Allerdings ist einschränkend zu bemerken, dass es sich bei den letzten beiden zitierten Personen jeweils um sehr gut ausgebildete Personen mit einem – verglichen mit anderen MigrantInnen – hohen Grad an sozialer und ökonomischer Ressourcenausstattung handelt. Im Fall von Frau Jungwirth ist dieser hohe Reflexionsgrad etwa vor dem Hintergrund zu sehen, dass sie sich als Politikwissenschaftlerin auch mit entsprechenden theoretischen Ansätzen auseinandergesetzt hat und folglich ihre eigenen Lebenserfahrungen vor diesem Hintergrund beleuchtet. Damit steht ihre eigene Reflexionsleistung bereits am Übergang zum nächsten Kapitel, in dem der Frage nachgegangen wird, wie MigrationsforscherInnen mit der Dimension Raum in ihren Untersuchungen umgehen. Nur ein raumsensibler Zugang in 10ŘȲ
Dieses Zitat findet sich auch in der Einleitung. Als transnational wird diese Fallstudie eingestuft, weil Frau Jungwirth sowohl im beruflichen Bereich als auch privat in beiden Ländern verankert ist. So unterrichtet sie jedes Semester an Hochschulen in den USA und Österreich, besitzt bzw. verfügte über je einen Wohnsitz in Wien und New York und verbringt trotz ihrer vielfältigen Bindungen in den USA jedes Jahr viele Wochen in Österreich. 10řȲ
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der Migrationssoziologie erlaubt es uns dabei, unterschiedliche diesbezügliche Annahmen der untersuchten MigrantInnen offen zu legen und in ihren Konsequenzen zu untersuchen.
5.ŗ.4
Zusammenfassung
Die Betrachtungen haben gezeigt, dass wir bei MigrantInnen auf unterschiedliche Raumannahmen stoßen, die vereinfachend gesagt entweder einem essentialistischen, relationalen oder konstruktivistischen Raumverständnis zuzuordnen sind. Diese Raumannahmen entstehen aufgrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, sind situations- und kontextabhängig und stehen zudem in einem Zusammenhang zur (Bildungs-) Biographie der MigrantInnen selbst. Ein und dieselbe Person kann – je nach Rahmenbedingungen – ihre Argumentation auf unterschiedlichen Raumannahmen basieren, wie im vorangegangenen Kapitel anhand empirischer Beispiele gezeigt wurde. Je nachdem wie Raum von den betroffenen Personen in einer bestimmten Situation wahrgenommen und konstruiert wird, eröffnen sich spezifische Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Allerdings sind diese Raumannahmen nicht frei wählbar, selbst wenn die Interviewpersonen (auch) von konstruktivistischen Raumannahmen ausgehen. Dies zeigt sich am deutlichsten in den privaten, emotional hoch aufgeladenen Beziehungen: Hier ist die Bedeutung der Kopräsenz und des Austauschs über die Sinne, wie sie bereits Georg Simmel beschrieben hat (Simmel ūųų2, (19ŪŲ)), immer wieder nachzuvollziehen. Die empirischen Beispiele legen nahe, dass derartige persönliche Beziehungen meist gedanklich mit dem Aufenthalt an bestimmten Orten verbunden werden, was auf einer containerhaften Erfahrungen von Raum beruht und diese wiederum verstärkt10Ś. Essentialistische Raumannahmen kommen etwa zum Vorschein, wenn Vergleiche zwischen unterschiedlichen Regionen vorgenommen werden: In der Untersuchung zu Migrationsbiographien ausgewanderter ÖsterreicherInnen in New York City (vgl. Scheibelhofer, 2ŪŪū) zeigte sich etwa, dass die meisten InterviewpartnerInnen Österreich als ein Land beschreiben, in dem sie sich nicht persönlich entfalten konnten, beziehungsweise als einen Ort, an 10ŚȲ
Zur Dualität von Raum vgl. Martina Löws Überlegungen, die auf den diesbezüglichen Arbeiten von Anthony Giddens’ aufbauen (insbesondere seiner These einer Dualität von Strukturen, vgl. hierzu Kapitel Ř.Ř.ř.ś).
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dem sie keine Unterstützung für ihre Projekte und Ideen erfuhren. Dieses Bild Österreichs wurde wiederkehrend als Hintergrundfolie verwendet, um die Besonderheiten des eigenen Lebens in New York City im Interview herauszuarbeiten. Diese Stadt hatten viele InterviewpartnerInnen als einen Ort der Freiheit, der individuellen Weiterentwicklung und der Selbstbestätigung erlebt. In der Interpretation dieser Erzählungen kam ich an anderer Stelle (Scheibelhofer, 2ŪŪų) zu dem Schluss, dass für die interviewten Personen die Handlungsorientierung am Wert der Selbstverwirklichung das zentrale Moment in ihrer Migrationserzählung war. Die Zuschreibungen, die für Österreich einerseits und die USA andererseits vorgenommen wurden, boten die Grundlage dafür, die eigene Migrationsgeschichte besser nachvollziehbar zu machen. Selbst wenn es äußerst schwierige Phasen in den USA in den jeweiligen Biographien gegeben hatte, so ließen sich diese vor dem beschriebenen Vergleich dennoch als positive Möglichkeiten des Lernens bilanzieren (vgl. dazu Scheibelhofer, 2ŪŪū). Aus Sicht von MigrantInnen, deren Anliegen vor allem darin besteht, ihre Arbeits- und Lebenssituation sowie die Ausbildungschancen ihrer Kinder zu verbessern (wie im Fall der Familie Petrow dargestellt), ist es durchaus sinnvoll, Nationalstaaten als territoriale „Pakete“ miteinander zu vergleichen: In Bezug auf ihre Einwanderungsregelungen, ihre Arbeitsmärkte sowie ihre Bildungsinstitutionen ist ein derartiger „containerhafter“ Zugang zielführend. Dabei hat ein derartiger essentialistischer Zugang auch den Vorteil, ihn argumentativ einzusetzen, wenn es etwa darum geht, historisch gewachsene und soziopolitisch begründete Bewertungen von Nationalstaaten infrage zu stellen: Aufgrund der geographischen Lage argumentierte Herr Petrow etwa ausführlich dafür, Weißrussland als einen Teil Europas wahrzunehmen – und wertete damit auch seine eigene Wanderungsentscheidung auf. Im Gegensatz zu essentialistischen Raumannahmen beruhen relationale Raumannahmen auf sozialen Beziehungen. Hier wird die Annahme brüchig, dass Flächen- und Sozialraum eine Einheit bilden würden, wie es etwa eine der Grundlagen des methodologischen Nationalismus bezogen auf Territorien darstellt. In Migrationsformen, die als Kettenwanderung beschrieben werden, sind soziale Beziehungen ausschlaggebend für die Auswanderung und die Verfestigung der Mobilität, wie am Beispiel der Emigration von Frau Waldorf diskutiert wurde. Über soziale Beziehungen spannen sich somit Räume auf, die nicht an Nationalstaaten gebunden sind, sondern über diese hinausreichen, wie es auch im Rahmen der Transmigrationsforschung diskutiert wird (vgl. hierzu Kapitel 5.3). Wie der Fall von Frau Waldorf außerdem gezeigt hat, werden relationale Raumkonzepte ebenso wie essentialistische Raumannahmen im Alltag
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häufig von MigrantInnen selbst als gegeben erlebt, d.ȹh. als unveränderbare Bedingungen für die eigenen Handlungsoptionen angesehen. Dies hängt damit zusammen, dass sie häufig familiäre Bindungen mit einschließen, die als „angeboren“ und somit als unveränderlich aufgefasst werden. Außerdem ist der Ort, an dem sich jene Personen befinden, zu denen eine starke persönliche Bindung besteht, ebenso von großer Bedeutung, was wiederum auf die Diskussion rund um die Bedeutung von Orten im Zuge der Globalisierung verweist (vgl. einleitendes Kapitel). Empirische Untersuchungen zur Lage von MigrantInnen, die zwischen ihrer Familie im Herkunftsland und dem Ort ihrer Berufstätigkeit pendeln (Weingärtner 2ŪŪ8; Hochschild 2ŪŪŪ; Hochschild 2ŪŪ2) verweisen darauf, dass die Auswirkungen familiärer Beziehungen auf Wanderung keineswegs trivial sind. Einerseits entwickeln die involvierten Personen Strategien, wie sie mit den Lebensphasen, die physische Distanz zu ihren Kindern und/oder Partnern einschließen, umgehen und andererseits beeinflussen diesbezügliche Rahmenbedingungen den weiteren Verlauf von Migrationsbiographien maßgeblich (vgl. Scheibelhofer 2ŪŪ8b). Konstruktivistische Raumkonzeptionen konnten sowohl in meiner eigenen empirischen Arbeit als auch in der Sekundäranalyse migrationswissenschaftlicher Studien vergleichsweise selten identifiziert werden. Unter konstruktivistischen Zugängen werden dabei Raumannahmen zusammengefasst, die explizit auf die sozialen Herstellungsleistungen verweisen. Dabei fällt auf, dass die hier zitierten MigrantInnen und hochmobilen Personen, die aufgrund von konstruktivistischen Raumannahmen argumentieren, einige Gemeinsamkeiten aufweisen: Sie sind sehr gut ausgebildet, befinden sich in einem beruflichen Umfeld, das hohe Reflexionsleistungen von ihnen einfordert und zumindest zwei der zitierten InterviewpartnerInnen sind in einem gesellschaftskritischen Sinn politisch aktiv. Obwohl es an dieser Stelle darauf hinzuweisen gilt, dass es diesbezüglich in jedem Fall noch weiterer Forschungen bedarf, lässt sich hier die Hypothese aufstellen, dass es konstruktivistische Raumannahmen erleichtern können, Möglich keiten der (politischen, sozialen, individuellen) Veränderung aufzuzeigen.
5.2
Raumkonstruktionen der MigrationsforscherInnen
Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt zu Raumannahmen von MigrantInnen eingeführt, wird auch die Betrachtung der Raumkonzepte bei MigrationswissenschaftlerInnen anhand der drei Raumkonzepte (essentialistische, relationale und konstruktivistische Konzepte) vorgenommen. In diesem Ab-
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schnitt ist es meine Absicht, anhand von Beispielen aus meiner eigenen Forschung sowie anhand einschlägiger Arbeiten aus der Migrationsforschung (implizite) Raummodelle der SozialwissenschaftlerInnen zu beleuchten. Für die soziologische Forschung ist dabei interessant, wie diese (impliziten) Raumannahmen Forschungsvorhaben, -methodologien und schließlich -ergebnisse beeinflussen. Dazu wird im Folgenden argumentiert, dass Migrationsforschung, die die Raumdimension vernachlässigt, Gefahr läuft, erstens existierende migrantische Lebenswirklichkeiten nicht adäquat abzubilden und zweitens bestehende soziale Ungleichheiten noch zu verstärken anstatt zu hinterfragen. Die Perspektive der MigrationsforscherInnen auf den Raum unterscheidet sich dabei nicht prinzipiell von jener der untersuchten Personen selbst, wie bereits in Kapitel 4.2 zum Thema des Verhältnisses zwischen sozialwissenschaftlichem und alltagsweltlichem Wissen ausgeführt wurde10ś. Bezogen auf die Bedeutung des Nationalstaats für MigrantInnen lässt sich dabei auch auf Ulrich Becks Überlegungen verweisen, der für eine Unterscheidung zwischen dem nationalen Blick der AkteurInnen und dem empirischen Nationalismus in den Sozialwissenschaften plädiert (Beck 2ŪŪŰ, 2Űū).
5.2.ŗ
Essentialistische Raumkonzepte
Auf die Problematik der Raumfixiertheit in Bezug auf Nationalstaaten von SozialwissenschaftlerInnen haben bereits Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller (Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2) eindringlich hingewiesen, wobei sie eine spezifische Ausprägung von Raumdeterminismus kritisieren: Die A-priori-Setzung des Nationalstaats, die sie unter dem inzwischen bekannten Begriff des „methodologischen Nationalismus“ diskutieren106. Interessanterweise beziehen Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller in ihren Ausführungen keine raumtheoretischen Überlegungen ein, wobei der Grund hierfür in der generellen Vernachlässigung der Raumdimension in der migrationssoziologischen Forschung zu suchen sein dürfte. Obwohl – wie in den vorangegangenen Kapiteln ausgeführt – inzwischen eine Reihe einschlägiger Arbeiten zum Thema Raumsoziologie sowie punktuell auch zu Raum 10śȲ Dabei sind die Arbeiten von Alfred Schütz zu Konstruktionen erster und zweiter Ordnung (Schütz 1971) nach wie vor wegweisend. 106Ȳ Zu einer ausführlichen Diskussion des Beitrags von Wimmer und Glick Schiller siehe Kapitel ř.1.
Ř1Ř
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und Migration vorliegen, gehört es noch nicht zur allgemeinen Forschungspraxis in der Migrationsforschung, die zugrunde liegenden (impliziten) Raumkonzepte zu reflektieren. Der hier dargelegte Vorschlag einer raumsensiblen Migrationsforschung bezieht sich dabei auf die Annahmen, mit denen SozialwissenschaftlerInnen im gesamten Verlauf einer Forschungsarbeit hantieren. Dieser Untersuchungsprozess lässt sich dabei am ehesten am eigenen empirischen Arbeiten diskutieren, da hier der gesamte Ablauf anhand von (großteils) unveröffentlichten Memos, Forschungsprotokollen, etc. zugänglich sind. Im Falle von Sekundäranalysen ist der Zugang auf die publizierten Ergebnisse beschränkt, weshalb hier nur mit großer Vorsicht auf vermutete Raumannahmen der MigrationsforscherInnen zurückgeschlossen werden kann. Daher wird im Folgenden (wenn möglich) an Beispielen aus meiner eigenen empirischen Forschungspraxis verdeutlicht, welche Folgen ein raumtheoretisch unreflektiertes Vorgehen zeitigt. So ging ich etwa bei der Durchführung der ersten Interviews in Minsk107 von unzutreffenden Vorannahmen aus, die mich in meinem Forschungsprozess behinderten: Bevor ich die ersten Interviews durchführte, war ich bei der Konzeption der Leitfäden von der Vorstellung ausgegangen, dass die EDV-Programmierer mit der Kooperationsbeziehung zu dem österreichischen Unternehmen das erste Mal in einer internationalen Arbeitsbeziehung stehen würden. Ich hatte mir ausgemalt, dass diese Personen vor Ort ihren Beruf erlernt hatten und qualitativ hochwertige Programmiertätigkeiten „laut Anweisung“ aus Österreich ausführen würden. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, waren die Migrations- und Mobilitätserfahrungen, die die Interviewpartner bereits vor ihrer Kooperation mit der österreichischen Firma gesammelt hatten. Auch ihr ausgezeichneter Qualifizierungsgrad sowie ihre Berufserfahrungen als Manager in einschlägigen (international operierenden) Unternehmen im In- und Ausland überraschten mich während der Interviews. Ich hatte im Vorfeld der teilnehmenden Beobachtung nicht bedacht, dass einige der Akteure über jahrelange internationale Berufserfahrungen als Berater in der IT-Branche in den USA und Asien verfügen könnten und somit – verglichen zu den österreichischen Auftraggebern und Kollegen – weit erfahrener in grenzüberschreitenden Kooperationen wären. Noch dazu zeigten die Interviews, dass die beobachteten Personen in Minsk großteils über höhere Bildungsabschlüsse verfügten als die österreichischen Projektleiter. Meine Arbeitshypothesen zu Projektbeginn beinhalteten vielmehr, dass die IT-Exper107Ȳ
Eine Beschreibung des Forschungsprojektes findet sich am Beginn des fünften Kapitels.
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ten in Belarus die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in multinationalen Teams erst in diesem Unternehmen kennengelernt hätten – was zunächst auch Auswirkungen auf die Einstiegsfrage und die Themenwahl der Interviews hatte. An meiner naiven Sichtweise zeigt sich einerseits mein Unwissen in vielerlei Hinsicht – sei es die politische, ökonomische und bildungsspezifische Situation in Weißrussland, sei es die internationale Arbeitsmarktlage im Bereich der Software-Programmierung; andererseits wird hier auch deutlich, wie ich aufgrund von nationalen Zuordnungen Machtverhältnisse unhinterfragt vorausgesetzt habe und sie gleich im Vorhinein mit „Fakten“ legitimiert habe: Meine Annahme war, überspitzt formuliert, dass „die Österreicher“ als Auftraggeber die vergleichsweise Qualifizierteren, Erfahreneren und Weltgewandteren wären, wohingegen „die Weißrussen“ von vornherein als zwar gut ausgebildete, jedoch im Umgang mit dem Weltmarkt wenig erfahrene PC-Arbeiter konstruiert – und auf diese Art diskriminiert wurden. Ich habe somit von der Lokalisierung in einem nationalstaatlichen Container auf Eigenschaften, Erfahrungen und Kompetenzen der InterviewpartnerInnen, ihrer Lebenswelten und der Arbeitsmärkte, in denen sie sich bewegen, geschlossen – und somit ein exzellentes Beispiel für ein unzutreffendes essentialistisches Raumverständnis abgegeben, das sich in Annahmen zu Nationalstaaten und ihren BürgerInnen niederschlägt. Eine Konzeption von Raum als Container liegt auch in Studien vor, die bereits in ihrer theoretischen Anlage ausschließlich von derartig strukturierten Räumen ausgehen. Ein gut nachvollziehbares Beispiel hierfür ist die Untersuchung von Oliver Hämmig mit dem Titel „Zwischen zwei Kulturen. Spannungen, Konflikte und ihre Bewältigung bei der zweiten Ausländergeneration“ (Hämmig 2ŪŪŪ). Die Untersuchung ist im Rahmen des Forschungsprojektes „Das Fremde in der Schweiz“ entstanden und basiert auf einer repräsentativen Telefonbefragung von türkischen und italienischen Angehörigen der Zweiten Generation im Kanton Zürich im Alter von ū8 bis 35 Jahren. Als Erkenntnisinteresse formuliert der Autor der Studie etwaige Spannungs- und Konfliktpotentiale, denen die Zweite Generation ausgesetzt ist, zu erkennen und aufzuspüren, deren strukturell und kulturell bedingte Ursachen zu eruieren und allfällige daraus resultierende Anpassungsformen, Reaktionsmuster und Bewältigungsstrategien festzustellen. Es geht mitunter um eine soziokulturelle Verortung und um eine genaue Untersuchung der sozialen bzw. sozialstrukturellen Lage und der kollektiven psychosozialen und emotionalen Befindlichkeit der besagten Zweiten Generation, d.ȹh. um eine möglichst realitätsgerechte Beschreibung der Lebenssituation und Gemütslage der Zweitgenerations-
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angehörigen samt allfälliger Orientierungsschwierigkeiten, Statusunsicherheiten und Frustrationsgefühle, Integrations- und Interaktionsdefizite, Sozialisationswidersprüche, Identitätsprobleme, Loyalitäts- und Familienkonflikte usw., die sich aus dieser Situation ergeben. (Hämmig 2ŪŪŪ, ū8ȹf.)
Diese durch ein Vorwort seines Universitätslehrers Hans-Joachim HoffmannNowotny eingeleitete Studie geht somit bereits in der theoretischen Anlage von einer problembeladenen Lebenssituation der Zweiten Generation von EinwandererInnen mit türkischen und italienischen Migrationshintergründen aus. Die Grundannahmen des Autors bauen in der Folge auf einer Analyse der Sekundärliteratur zur Thematik auf, aus der er Thesen gewinnt, die seine weitere Interpretation des empirischen Materials anleitet. Oliver Hämmig selbst hebt bereits in seinem vorangestellten Kapitel zum Erkenntnisinteresse (ebd., ū8ȹff.) hervor, dass seine Fragestellungen auf die „Problematik“ der Lebenslage der Zweiten Generation abzielen. Aus diesem Grund meint der Autor selbst, er habe großes Augenmerk auf ein „möglichst wertfreies“ Vorgehen gelegt, um nicht in „problematisierende oder pathologisierende“ Befunde zu verfallen, wozu die bestehende Literatur zum Thema durchaus Anlass geben würde. Dabei ist es meiner Ansicht nach hilfreich, die Fragestellungen, mit denen der Autor operiert, darauf hin zu besehen, welche impliziten Raumkonzepte der Sozialwissenschaftler selbst an die Thematik heranträgt. Dies geschieht, weil davon ausgegangen wird, dass dadurch auch die Datenerhebung und -auswertung und somit die Forschungsergebnisse beeinflusst werden. Dabei zeigt sich, dass Hämmig von je zwei voneinander getrennten territorialen Containern ausgeht – dem Nationalstaat, aus dem die Eltern der Untersuchungspersonen stammen und einem weiteren, dem Kanton Zürich (bzw. dem Nationalstaat Schweiz) andererseits. Erst durch diese implizite (und daher nicht weiter reflektierte) Annahme wird nachvollziehbar, warum von Beginn an keine alternative Hypothese aufgestellt wird zu der Annahme, die Jugendlichen hätten in besonderer Weise mit Schwierigkeiten im Lebensalltag zu kämpfen. Nur wenn diese zwei Container als prägend für die Lebensumstände der Untersuchten ex ante angenommen werden, können Fragestellungen wie jene nach den „Konflikten und Spannungen, die Ausdruck struktureller Diskrepanzen und kultureller Differenzen zwischen der Zweiten Ausländergeneration und der autochthonen Bevölkerung“ (Hämmig 2ŪŪŪ, ūų) sind, ohne ergänzende Fragen nach Melange-Effekten oder neu entstehenden sozialen Welten aufrecht erhalten werden. Ein derartiges nationenzentriertes Raumverständnis wird auch in der Begründung der Methode der Untersuchung deutlich: Hämmig führt eine
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komparative Untersuchung durch, in der eine Kontrollgruppe aus „Einheimischen“ (ebd., 2Ū) mit Angehörigen der Zweiten ImmgrantInnengeneration verglichen wird. Diese Vergleichsgruppe benennt der Autor als RepräsentantInnen einer „Mehrheitsgesellschaft“, die „die Norm festlegt“ (ebd.), nach der die Schweizer Gesellschaft funktioniere. Somit sieht er sein Vorgehen als einen „interkulturellen Vergleich“ (ebd.) zwischen der autochthonen Bevölkerung auf der einen Seite und den Nachkommen der ZuwandererInnen auf der anderen Seite (zur diesbezüglichen Kritik der Arbeit vgl. auch Griese 2ŪŪ2). Mit einem solchen komparativen Zugang begründet Oliver Hämmig auch eine weitere Gegenüberstellung, in der er die italienischen und türkischen EinwandererInnen miteinander vergleicht. Daher erhebt er für seine Arbeit folgenden Anspruch: die Beantwortung der Frage nach der effektiven Relevanz von sozialen und wissenschaftlichen Konstrukten wie „Kultur“ und Nation und nach der empirischen Evidenz von Kulturdifferenz und danach, was von solchen Konstrukten unter Berücksichtigung der (Sozial)Struktur bzw. unter Kontrolle von Schicht und sozialer Lage noch übrigbleibt. (ebd., 2ū)
Aufgrund dieser Zielsetzung erarbeitet Hämmig seine Erhebungsinstrumente, die auf der Operationalisierung von vier sozialwissenschaftlichen Konzepten beruhen: Dem Ansatz des marginal man von Robert E. Park, der Kulturkonfliktthese und der Anomietheorie zurückgehend auf Emile Durkheim und der Stresstheorie nach Richard Lazarus (vgl. Hämmig 2ŪŪŪ, ŰŪȹff.). In der Zusammenschau mit einer Literaturstudie zur Thematik der Zweiten Generation kommt Hämmig schließlich zu seinen eigenen Hypothesen, die seine empirische Untersuchung anleiten. Auch in der Ausformulierung dieser grundsätzlichen Annahmen wird die Orientierung an einem essentialistischen Raumkonzept deutlich: So nimmt Hämmig an, dass die InterviewpartnerInnen „in zwei Welten“ (ebd., ū4Ū; auch für die folgenden Zitate in diesem Absatz) leben und durch ihr „Pendeln zwischen zwei Kulturen kulturell entwurzelt“ seien und daher einen „inneren Kulturkonflikt“ austragen müssen und aufgrund von Erfahrungen einer „doppelten Entfremdung“ eine „marginal man-Persönlichkeit“ entwickeln würden. Außerdem wird von einer schwierigen intergenerationellen Kommunikation ausgegangen, die es weiter zu untersuchen gilt und von der These, dass Pendelmigrationserfahrungen oder anders durch Migration „gebrochene Biographien“ Entfremdungs- und Entwurzelungsgefühle noch verstärken würden. Interne Differenzierungen dieser nationalen Container werden insofern in Betracht gezogen, als Hämmig
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von der Hypothese ausgeht, dass Kinder, deren Eltern vor der Emigration in urbanen Gebieten wohnten, weniger stark von den negativen Konsequenzen getroffen würden als solche, deren Eltern aus agrarisch-ländlichen Regionen ausgewandert sind. Derartige und ähnliche Thesen, denen allesamt eine essentialistische Vorstellung räumlicher Anordnungen zugrunde liegt, verwendet der Autor zur Formulierung seines quantitativen Fragebogens. Die Auswertung der Daten führt schließlich zu Resultaten, die einen Teil seiner Thesen bestätigen, andere hingegen nicht. Auch in der Diskussion der Resultate zeigt sich wiederum, wie Oliver Hämmig ausschließlich auf Basis eines essentialistischen Raumverständnisses seine Interpretation vollzieht: So schließt er aus den Antworten, dass es sich bei dem marginal-man-Konzept tatsächlich um eine empirisch belegbare soziale Realität handelt, da ein Viertel der Befragten diesem zugeordnet werden kann: Sie fühlen sich heimatlos, zwischen beiden Kulturen hin- und hergerissen, empfinden die beiden Kulturen als unvereinbar oder fühlen sich weder da noch dort zugehörig und heimisch (vgl. ebd., 2ŰŪ). Damit bestätigt sich für Hämmig, dass in der einschlägigen Literatur Labels für die sog. „Secondos“ vergeben werden, wie etwa, dass sie „zwischen zwei Kulturen“ leben, „in zwei Welten“ beheimatet sind oder „zwischen den Stühlen“ sitzen (ebd., 2ŰŪ). Trotz der einseitigen Konzeption der Studie lassen sich in den publizierten Aussagen der befragten Personen in dieser Monographie Hinweise darauf entdecken, dass die Nachkommen italienischer und türkischer ImmigrantInnen durchaus auch andere Raumkonzepte ihren Überlegungen zugrunde legen, als dies der Autor der Studie selbst (implizit) annimmt. Die Schwierigkeit liegt darin, dass der Autor diese abweichenden Überlegungen, sowie die daraus erwachsenden Konsequenzen nicht in seinen Ergebnissen reflektieren kann. Ein Auseinanderklaffen der Raumkonzeptionen der untersuchten Personen und des Sozialwissenschaftlers zeigt sich etwa, wenn Oliver Hämmig der Frage nachgeht, ob die Secondos an einer „gebrochenen Identität“ leiden würden (ebd., 33ūȹff.): Um diese Frage anhand des erhobenen Datenmaterials zu beantworten, betrachtet er zunächst einmal die im Datensatz enthaltenen Variablen zur Identifikation mit „den Schweizern und Schweizerinnen“ und „den eigenen Landsleuten“ (ebd.). Daraus bildet er einen Identitätsindex, der in vier Identitätstypen unterteilt wird: Eine binationale Identität, eine Schweizeridentität, eine Ausländer- sowie eine neutrale Identität. Im Gegensatz zu den Erwartungen des Autors überwiegt die binationale Ausprägung bei Weitem (4Űȹ% der Befragten), gefolgt von der sog. Ausländeridentität mit 24ȹ%, der neutra-
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len (ūųȹ%) und der „Schweizeridentität“ (ūūȹ%). Aufgrund dieses Ergebnisses fährt Hämmig nun nicht etwa fort, die binationale Identität als weiter untersuchungs- und interpretationswürdig zu befinden, sondern geht stattdessen der Frage nach, ob es sich „nun wirklich (um) eine ‚doppelte‘ Identität und ambivalente Loyalität“ (ebd., 333) handelt bzw. ob diejenigen, die als „SchweizerInnen“ klassifiziert wurden, „auch wirklich eine mischkulturelle Persönlichkeit und ‚neue‘ Identität“ als „Neu-Schweizer“ (ebd.) aufweisen würden. In jedem Fall wird ein defizitärer Zustand vermutet, dem der Autor in seinen Analysen weiter nachgeht. Zur Verdeutlichung: Bei der Studie wurden Personen interviewt, deren Eltern in die Schweiz eingewandert waren, sie selbst sind jedoch in der Schweiz geboren, verfügen allerdings nicht über die Schweizer Staatsbürgerschaft. Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie es die Perspektive des nationalen Containerdenkens dem Autor erschwert, von etablierten (wenn auch nicht unumstrittenen) Wissensbeständen der migrationswissenschaftlichen Deutung abzurücken. Er geht von der Vererblichkeit der „Kultur“ zwischen den Generationen aus, ohne dass er die Möglichkeit in Betracht zieht, dass die RespondentInnen – eine an sich schon sehr heterogene Gruppe – eigene Wege des „Platzmachens“ (Strasser 2ŪŪ3), der Teilnahme oder des Verankertseins für sich gefunden haben könnten. Stattdessen beharrt er auf einer impliziten Grundthese zweier nationaler Container, die für sich unverändert bestehen bleiben und auf die Untersuchten einwirken, auch wenn die nächste Generation unter anderen Vorzeichen als ihre Eltern aufgewachsen sind, da sie etwa Schweizer Bildungsinstitutionen durchlaufen (haben). Zugehörigkeiten als soziale Prozesse zu sehen, in denen soziale Beziehungen eine zentrale Rolle spielen, sowie die Bedeutungshorizonte zu untersuchen, in denen sich AkteurIn nen bewegen, wird durch die Anlage und Durchführung der Studie von vornherein erschwert und schließlich nicht durchgeführt. Anstatt dessen fährt Hämmig mit der Überprüfung der Hypothese fort, wonach eine gebrochene Identität innerhalb der vier genannten Nationalitätstypen mit dem Erziehungsstil der Eltern zu erklären sei: Hätte dieser zu Sozialisationswidersprüchen oder -defiziten geführt, so könnte davon ausgegangen werden, dass die InterviewpartnerInnen unter „gewisser identifikatorischer Wankelmütigkeit bzw. Unentschiedenheit sowie Halt- und Orientierungslosigkeit“ (ebd., 333) litten. In der Studie wurde danach gefragt, ob die Befragten eine andere als „schweizerische“ Erziehung in ihrem Elternhaus genossen hätten. Dies würde laut Hämmig auf eine „bikulturelle Sozialisation (deuten), welche ihrerseits ausschlaggebend für eine verunsicherte, diffuse Identität“ (ebd.) sei.
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Abgesehen davon, dass Hämmig nicht die Möglichkeit diskutiert, unter einer „anderen als einer Schweizer Erziehung“ könnten auch multikulturelle oder andere Modelle fallen, ist auch zu thematisieren, ob eine binational geprägte Erziehung in jedem Fall zu Verwirrung und persönlicher Desintegration führen müssen. Wenn etwa die sprachliche Komponente mitgedacht wird, wären durchaus auch Forschungen zu berücksichtigen, die belegen, dass die Beherrschung der Muttersprache der Eltern für die Zweite Generation von großem Vorteil ist (vgl. dazu etwa Brizi° 2ŪŪ5, siehe auch Kapitel 3.2.3). Während die Interviewten an dieser Stelle durchaus Anknüpfungspunkte für Verortungen ihrer Person jenseits eines essentialistischen Containerdenkens liefern, geht der Autor der Studie diesen Spuren nicht weiter nach – sondern sucht nach anderen Wegen, die seiner Ansicht nach ausschließlich ungünstigen Auswirkungen einer nicht-assimilativen Handlungsweise zu untersuchen. Selbst diese Assimilation hinterfragt Hämmig bezüglich ihrer Gültigkeit: In der Tradition deutschsprachiger Migrationsforschung geht er davon aus, dass sie aufgrund ihrer familiären Herkunft höchstens „Neo-SchweizerInnen“ sein könnten – auch wenn die Interviewten angeben, sich als „SchweizerInnen“ zu sehen. Hier liegt der Schluss nahe, dass für eine durch den zitierten Sozialwissenschaftler unhinterfragte nationale Identifikation als Schweizer zumindest auch Schweizer Eltern notwendig wären. Auch bei der Schwierigkeit, das folgende Untersuchungsergebnis zu interpretieren, machen sich die (impliziten) Raumvorstellungen des Sozialwissenschaftlers bemerkbar: Während 25,8ȹ% der italienischen Secondos eine Rückkehrabsicht formulieren und 4Ű,2ȹ% von ihnen eine Einbürgerung in der Schweiz anstreben (vgl. ebd., 35Ū), wollen 82,ųȹ% der türkischen InterviewpartnerInnen eingebürgert werden – wobei knapp mehr als die Hälfte aller türkischen UntersuchungsteilnehmerInnen gleichzeitig angibt, künftig in die Türkei zurückkehren zu wollen. Für Hämmig kann dies nur ein Paradoxon darstellen, das er als „schizophren“ (ebd., 383) einstuft, da er migrantische Lebensstile, die nachhaltig über nationale Grenzen hinweg geführt werden, nicht in Betracht zieht. Anstatt jene Räume zu erforschen, die für die Untersuchten von Bedeutung sind (und so etwa auf relationale Raumvorstellungen zu stoßen), geht der Autor von einer „Doppelstrategie“ aus, mit der die benachteiligten Secondos soziale Spannungszustände, die von ihrem Migrationshintergrund herrühren, zu bewältigen suchen: Sie können sich durch ihre Rückkehrorientierung von den SchweizerInnen und der Schweiz distanzieren und haben gleichzeitig eine Rückversicherung in der Hand, wenn sie mit einer Schweizer Staatsbürgerschaft in die Türkei zurückkehren möchten. Ein raumsensibler Zugang hätte hier etwa auch dazu anleiten können, Fragen
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zu sozialen Netzwerken und ihrer Bedeutung zu stellen oder nach der Mediennutzung der Jugendlichen. Unter Umständen hätten sich mit derartigen Betrachtungen weitere Einsichten gewinnen lassen, wie die InterviewpartnerInnen zu diesen für den Autor widersprüchlichen Zukunftsvorstellungen gelangen. Auch bei Hämmigs These einer „Sphärentrennung“ würden bei einer raumsensiblen Betrachtungsweise Widersprüche sichtbar, die zu Neuinterpretationen des Datenmaterials anregen: Hämmig geht davon aus, dass viele Befragte der Zweiten Generation im Elternhaus ein „anderes Leben führen“ als außerhalb. Interessanterweise gelangt der Autor zu diesem Fazit obwohl nur etwa jedeR SechsteR einer diesbezüglichen Frage zustimmt (ebd., 35ų). Noch dazu ist zu kritisieren, dass zu dieser Frage zumindest aufgrund der publizierten Ergebnisse kein Vergleich mit der autochthonen Untersuchungsgruppe möglich ist10Ş. Dies macht wiederum das Vorgehen deutlich, in dem nur ausgewählte Handlungskontexte abgefragt und gedeutet werden, die jedoch mit den Lebensrealitäten der Inter viewten nur teilweise Überschneidungen haben. Eine abweichende Deutung dieser von Hämmig als „Sphärentrennung“ beschriebenen Strategie könnte auch dahin gehen, unterschiedliche Handlungsoptionen in verschiedenen sozialen Interaktionszusammenhängen zu realisieren. Damit würde dem impliziten containerhaften Raumdenken des Sozialwissenschaftlers ein relationales Raumverständnis der InterviewpartnerInnen gegenüberstehen109, das dann ihrem eigenen Handeln je nach InteraktionspartnerInnen und Handlungskontext dem eigenen Agieren zugrunde gelegt wird. Oliver Hämmigs Studie soll an dieser Stelle beispielhaft für ein übliches Vorgehen in der soziologischen Migrationsforschung gelesen werden. Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass es durchaus auch andere sozialwissenschaftliche Zugänge zu demselben Thema zu verzeichnen gibt, die ungefähr zeitgleich publiziert wurden – etwa die Shell-Studie „Jugend 2ŪŪŪ“ oder der Bericht „Jugend in Deutschland“ aus demselben Jahr, in dem erstmals Jugendliche mit Migrationshintergrund ebenso mit einbezogen wurden. 10ŞȲ
Auch ob diese Frage den „SchweizerInnen“ überhaupt gestellt wurde, kann aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen nicht beantwortet werden. 109Ȳ Ich danke an dieser Stelle den TeilnehmerInnen des Seminars „Migration und Raum: Subjektives Erleben von Migrationsprozessen und ihre sozialwissenschaftliche Analyse“, welches im Sommersemester Ř00Ş am Institut für Soziologie, Universität Wien, unter meiner Leitung stattgefunden hat. Insbesondere danke ich Andreas Döllinger, Maria Goldberger, Augusta Dachs, Sandra Djakovic, Sarah Lares und Anna Katharina Kubizek für den Hinweis auf die oben zitierte Passage aus der Studie Oliver Hämmigs.
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Auch der Sechste Familienbericht der Deutschen Bundesregierung ist hier zu nennen (Bade, Dietzel-Papakyriakou et al. 2ŪŪŪ) – allesamt Arbeiten, in denen ein kritischer und distanzierter Umgang mit der traditionellen Terminologie der Migrationsforschung gepflegt wurde. Diese Arbeiten unterscheiden sich deutlich in der Herangehensweise an die Thematik der Lebenssituation der Zweiten Generation – auch was die Raumannahmen angeht: Im Ű. Familienbericht wird etwa die Frage nach bedeutsamen Sozialbeziehungen gestellt, wobei diese durchaus auch bereits konzeptionell über nationale Grenzen hinweg reichen können, ohne dass sie prinzipiell als negativ für die Jugendlichen eingestuft werden. Die Frage nach den sozialen Folgen wäre dann erst in einem nächsten Schritt zu untersuchen, da sich die Heterogenität der Bedeutung sozialer Beziehungen in Migrationszusammenhängen immer wieder zeigt110. Trotz dieser erfreulicherweise zu verzeichnenden Veränderungen in der Migrationsforschung sind Arbeiten wie jene Oliver Hämmigs nach wie vor keine Seltenheit. Diese Untersuchungen haben gemein, dass meist eine heterogene Untersuchungsgruppe aufgrund der ethnischen oder nationalen Herkunft – etwa der Eltern im Falle Hämmigs – als eine einzige zu untersuchende Einheit definiert wird. Das Selektionskriterium ist dabei ausschließlich die ethnische bzw. nationale Zuordnung zu einer anderen als der autochthonen Bevölkerung, die ihrerseits wiederum als in sich homogen vorausgesetzt wird. Hinweise auf soziale Interaktionen oder Handlungsorientierungen, die über einen Nationalstaat hinausreichen, werden als anomisch eingestuft und als eine Gefährdung für eine erfolgreiche Eingliederung in die Ankunftsgesellschaft (der Eltern) bewertet. Dies führt zu Untersuchungsanlagen, in denen die InterviewpartnerInnen kaum mehr eine Chance haben, ihre Lebensumstände alltagsnah darzustellen. Würden StudienautorInnen durchgängig ihre eigenen implizit bleibenden Raumvorstellungen jedoch zunächst hinterfragen und in einem zweiten Schritt mitunter ihre Untersuchungsanlagen derart gestalten, dass auch eventuell vorhandene alternative Raumannahmen der InterviewpartnerInnen dargestellt werden können, ließen sich derartige Problematiken m.ȹE. künftig vermeiden. Ein einfaches Beispiel für eine Veränderung in diese Richtung wäre, nicht nur nach Dualitäten Herkunftsland/Ankunftsland zu fragen, sondern die Erhebungsinstrumente derart auszulegen, sodass Gleichzeitigkeiten sozialer Interaktionen möglich werden. Momentan sind diese nationalen 110Ȳ
Dies zeigt etwa die umfangreiche Studie von Hilde Weiss, die die unterschiedlichen Lebenssituationen von Jugendlichen zweiter Generation in Österreich behandelt (Weiss Ř007).
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Container in derartigen Studien allerdings meist noch fest verschlossen. Die Problematik dualistischer Fragestellungen in einer Erhebung bezüglich nationalstaatlicher Räume ist nicht nur – wie soeben anhand der Studie von Hämmig diskutiert – in quantitativen Forschungsdesigns zu bedenken. Gerade bei qualitativen Studien kommt den Interventionen der SozialwissenschaftlerInnen ein großer Stellenwert zu, da hier von einer Reflexivität in der Interaktionssituation ausgegangen wird (vgl. etwa Lueger 2ŪŪū). So werden InterviewpartnerInnen etwa häufig dazu aufgefordert, ihr Herkunftsland mit dem Land ihres momentanen Aufenthalts zu vergleichen. Hierfür kann ich ein Beispiel aus der bereits zitierten Studie zu Auswanderungsbiographien von ÖsterreicherInnen in die USA einbringen, wo die Einstiegsfrage folgendermaßen formuliert war: Könnten Sie mir bitte erzählen, wie es dazu gekommen ist, dass Sie nach New York gekommen sind und wie Ihr Leben seither verlaufen istȺ? Bitte lassen Sie sich dafür so viel Zeit wie Sie möchten und holen Sie ruhig weit aus in Ihrer Schilderung. Wichtig wäre, dass Sie möglichst alles erwähnen, was aus Ihrer Sicht irgendwie im Zusammenhang mit Ihrem Leben in New York steht. (Scheibelhofer 2ŪŪ3, ų3)
Mein Anliegen war es, in dieser Eingangsfrage möglichst einen weiten Erzählbogen aufzuzeigen, um eine offene und vom Interviewten weitgehend gesteuerte Erhebungsweise zu ermöglichen (Scheibelhofer 2ŪŪ8a). Da mich insbesondere der Prozess der Wanderung interessierte, arbeitete ich eine Fragestellung aus, die die InterviewpartnerInnen dazu anleiten sollte, die Ereignisse rund um ihre Auswanderung in ihrem biographischen Zusammenhang darzustellen (vgl. Scheibelhofer 2ŪŪ3, 8ųȹff.). Was ich bei dieser Formulierung nicht beachtete, war, welche Raumvorgaben ich dadurch bereits für die Interviewten vorgab: Ein essentialistischer Raum „New York“ wurde hier postuliert, ohne den InterviewpartnerInnen die Möglichkeit zu geben, selbst ihre eigenen Raumannahmen darzustellen. Die meisten InterviewpartnerInnen reagierten mit einer Schilderung der Lebensumstände vor ihrer Auswanderung bzw. ihrer ersten Reise nach New York. Da die Eingangsfrage in offenen qualitativen Interviews eine nachhaltige Auswirkung auf den gesamten Verlauf des Interviews hat, habe ich mit der von mir gewählten Fragestellung auch bereits mit bewirkt, dass New York im Zentrum der meisten Interviews stand. Eine Folge davon ist, dass das Interviewmaterial nur eingeschränkt darüber Auskunft gibt, mit welchen (impliziten) Raumkonzepten die InterviewpartnerInnen selbst operieren. Eine raumsensibel gestellte Einstiegsfrage hätte jedoch auch dazu verhelfen können, die
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Verläufe der Wanderung in Hinblick auf zugrunde liegende Raumannahmen der Interviewten zu untersuchen. Für künftige Forschungsvorhaben resultiert aus einer raumsensiblen Herangehensweise die Überlegung, die Interventionen der ForscherInnen etwa bei der Formulierung der Einstiegsfrage auf bereits transportierte Raumannahmen hin zu hinterfragen und im Hinblick auf die Forschungsfrage zu reflektieren. So könnten etwa Einschränkungen bezüglich einer angestrebten Offenheit der Einstiegsfrage bereits im Vorfeld einer Untersuchung vermieden werden.
5.2.2
Relationale Konzepte
In ihren anthropologisch angelegten Studien zeichnet Arlie Hochschild die Arbeits- und Lebenssituation von Migrantinnen aus den Philippinen nach, die in New Yorker Familien Kinder groß ziehen und den Haushalt führen (Hochschild 2ŪŪŪ; Hochschild 2ŪŪ2). Dabei wird der Alltag der Nannies dadurch bestimmt, dass sie üblicherweise mit der Familie unter einem Dach wohnen, die sie beschäftigt, und nahezu den gesamten Tag mit den Kindern verbringen. Der Alltag dieser Hausarbeiterinnen spielt sich somit von Früh bis Spät im Kreise jener Familie ab, die ihre ArbeitgeberInnen sind. Wenn Kleinkinder im Haushalt sind, haben einschlägige empirische Forschungsarbeiten gezeigt, dass sie zu ihnen meist eine sehr enge Bindung entwickeln. Das Verhältnis zu den Kindern der ArbeitgeberInnen wird von Arlie Hochschild als eine Form der übertragenen Mutterliebe charakterisiert (Hochschild 2ŪŪŪ). Gleichzeitig hatten viele der von Arlie Hochschild interviewten Migrantinnen selbst Kinder, die auf den Philippinen bei weiblichen Verwandten lebten bzw. bei für deren Betreuung bezahlten Frauen untergebracht waren. Aufgrund der großen geographischen Distanz und der wenigen Urlaubstage pro Jahr können die Migrantinnen ihre leiblichen Kinder nur selten derart intensiv erleben, wie sie es mit den ihnen anvertrauten Kindern in den USA tagtäglich tun. Dennoch ist ihre soziale Rolle für ihre Kinder nicht zu unterschätzen: Den Meisten gelingt es, regelmäßig Geldsendungen, Briefe und Geschenke an ihre Familien zu schicken; auch telefonieren sie häufig mit ihren Kindern und den betreuenden Personen vor Ort, um auf diese Weise an Erziehungsfragen oder in entscheidenden Momenten am Leben ihrer Kinder teilzuhaben. Auf diese Art und Weise hoffen sie, auch auf Distanz präsent zu bleiben, obwohl sie physisch nicht anwesend sein können (Hochschild 2ŪŪŪ).
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Arlie Hochschild arbeitet anhand ihres empirischen Materials heraus, welche globalen wirtschaftlichen Zusammenhänge hinter derartigen Arrangements stehen, die typischerweise in der Privatsphäre eines Haushalts angesiedelt sind: Sie streicht hervor, wie Veränderungen im wirtschaftlichen System der USA dazu geführt haben, dass Frauen nunmehr nicht nur besser ausgebildet sind, sondern ihre Qualifikationen auch in einer Berufstätigkeit umsetzen – und zwar auch nachdem sie Kinder geboren haben. Damit eröffnet sich das Problem der Betreuung einerseits, aber auch die Frage des „Managements“ häuslicher Tätigkeiten. Diese Situation wird häufig über die zugekaufte Tätigkeit einer Kinderfrau und Haushaltshilfe gelöst und führt so zur Anstellung einer (dokumentierten oder undokumentierten) Migrantin, der aufgrund ihres „natürlichen Geschlechts“ diverse Fähigkeiten im Umgang mit Kindern und bezüglich der Tätigkeiten im Haushalt zugeschrieben werden111. Die Migrantinnen sind wiederum mit Personen in ihrem Herkunftsland verbunden, deren Betreuung (neben Kindern sind dies auch häufig ältere, pflegebedürftige Personen) wiederum andere Frauen vor Ort gegen Bezahlung übernehmen. An der Studie von Arlie Hochschild fällt auf, dass sich das Untersuchungsfeld nicht auf das Ankunftsland beschränken lässt, um die sozialen Prozesse, die mit den Veränderungen im Arbeits- und Familienleben in den USA verbunden sind, zu erfassen. Außerdem zeigt die Autorin eindringlich die emotionalen Verflechtungen, Rationalisierungen und Widersprüchlichkeiten, die sich in diesem Arbeits- und Lebensarrangement für alle Beteiligten ergeben. Davon ist die Familie in den USA betroffen, die Migrantin selbst – aber auch der Haushalt, in dem ihre Kinder (oder pflegebedürftigen Personen) in den Philippinen leben. So entwickelt Hochschild den Begriff der „global care chains“ (Hochschild 2ŪŪŪ), womit sie den Transfer von Betreuungsarbeit, Zuwendung und Liebe aus Ländern der Dritten Welt in hoch industrialisierte Regionen bezeichnet. GewinnerInnen sind dabei die ArbeitgeberInnen und deren Kinder, denen diese erkaufte Liebe zu Teil wird. VerliererInnen sind vor allem die Kinder der Migrantinnen, die auf ihre Mutter verzichten müssen und die – im Gegensatz zu den agierenden Erwachsenen – ihre Lebenssituation nicht selbst beeinflussen können. Die empirische Studie zeigt auch, welche Entbehrungen die Migrantinnen auf sich nehmen müssen. Gleichzeitig wird die Ambivalenz deutlich, wenn auch die positiven Seiten der „care chains“ analysiert werden: Der Familienverband im Herkunftsland hat durchaus seine Vorteile aus dem 111Ȳ Zu der Bedeutung der Zuschreibungen aufgrund des Geschlechts und der nationalen Herkunft der im Haushalt beschäftigten Migrantinnen siehe auch Haidinger Ř00Ś.
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Arrangement, weil etwa die Geldsendungen meist nicht nur für die Kinder11Ř der Nanny verausgabt werden und die erwirtschafteten Ressourcen häufig in eine hochwertigere Ausbildung der Kinder vor Ort investiert werden. Arlie Hochschild legt ihrer Analyse somit eine relationale Auffassung von Raum zugrunde: Sie betrachtet die Migrantinnen als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung und folgt ihren Spuren: Wenn es etwa um die Frage geht, weshalb es zur Auswanderung kommt, wer aller von dem Migrationsprozess berührt wird und welche Konsequenzen damit für die Beteiligten entstehen, ist allein die soziale Beziehung zwischen den AkteurInnen das ausschlaggebende Moment, ob sie in die Analyse mit einbezogen werden oder nicht. Daher limitiert Hochschild ihre Untersuchung auch nicht entlang nationaler Grenzen, sondern betrachtet das soziale Beziehungsgefüge, in dessen Zentrum die Beschäftigung einer Nanny steht, in all seinen Facetten. Nationale Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und migrationsrelevante Regelungen bezieht sie dabei ebenso in ihre Überlegungen mit ein wie die sozioökonomische und familienstrukturelle Situation im Herkunftsland der Migrantinnen. Letztlich ist diese Analyse darauf ausgerichtet, globale Zusammenhänge in ihren alltäglichen Auswirkungen zu verdeutlichen – und dabei vor allem auch jenen eine Stimme zu verleihen, die ansonsten kaum wahrgenommen werden: Die Kinder der Arbeitsmigrantinnen oder zu pflegende Angehörige, für deren Betreuung die abwesenden Arbeiterinnen bezahlen11ř. Obwohl Arlie Hochschild nicht an Diskurse des methodologischen Nationalismus anknüpft, arbeitet sie konsequent mit einem relationalen Raumkonzept, das ihr erlaubt, dieses spezifische Phänomen und seine Rahmenbedingungen sowie seine gesellschaftlichen Folgen zu untersuchen. Bewusst stellt Arlie Hochschild ihre Untersuchungen und Ergebnisse auch nicht in den Kontext transnationaler Migrationsforschung. Sie begründet dies damit, dass ihr am Beginn ihrer Untersuchungen dieses Feld der Migrationsforschung unbekannt war und sie daher unabhängig davon ihre Begrifflich-
11ŘȲ Dabei gibt es inzwischen auch Studien, die sich mit der speziellen Situation der Kinder von MigrantInnen in transnationalen sozialen Räumen beschäftigen. So zeigen etwa Orellana, Thorne et al. (Ř001), dass Kindern eine wichtige indirekte Rolle zukommt, wenn es um (Rück-) Wanderungsentscheidungen der gesamten Familie geht. Diese Forschungen machen den wichtigen Schritt, Kinder nicht als Objekte zu betrachten, sondern die komplexen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern in den Blick zu nehmen, die migrantisches Leben beeinflussen. 11řȲ Hier wird auch eine geschlechterspezifische Perspektive auf das Thema eingenommen, indem die Rollenannahmen in den unterschiedlichen Kontexten diskutiert werden.
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keiten entwickelte11Ś. Meine Vermutung ist jedoch, dass es darüber hinaus auch einen inhaltlichen Aspekt geben könnte, der dazu geführt hat, dass Arlie Hochschild ihre Arbeiten nicht unter der Perspektive der Transmigration verfolgt hat: Sie interessiert sich für die Emotionen, die mit dem Nanny-Dasein verbunden sind. Dahingegen haben Autorinnen wie Nina Basch oder Nina Glick Schiller sich eher Fragen zugewandt, die sich auf Prozesse der Nationenbildung und der politischen Partizipation konzentrieren11ś. Unter den Prämissen eines konstruktivistischen Ansatzes in den Kulturwissenschaften beschäftigt sich hingegen Norbert Cyrus mit der Rekonstruktion der Lebensgeschichte einer undokumentierten polnischen Arbeitsmigrantin in Deutschland (Cyrus 2ŪŪ3, 228). Er geht dabei von der Annahme aus, dass Ethnizität keine erklärende, sondern eine zu erklärende Variable für die Migrationsforschung darstellt: Für kollektive oder individuelle Identitätskonstruktionen ließen sich die unterschiedlichsten Attribute heranziehen, Ethnizität (oder Nationalität) sieht der Autor als eine Möglichkeit in diesem Prozess. Identität fasst Cyrus dabei in Anlehnung an Manuel Castells (Castells ūųųű) „als Quelle der Bedeutungsgebung von und für einen Akteur, die im Prozess der Individuation konstruiert wird“ (Cyrus 2ŪŪ3, 232). Dabei geht es Norbert Cyrus um die Klärung der Fragen „wie, woraus, von wem und wofür“ Identitäten konstruiert werden (ebd.). Machtbeziehungen und damit verbundene soziale Gefüge stehen im Mittelpunkt dieser Fragen nach kollektiven Identitäten. Seine Studie sieht er in der Migrationsforschung verwandt mit der Untersuchung der sog. „Gastarbeiter“ durch Werner Schiffauer (Schiffauer ūųųū). In seinem Beitrag schildert Cyrus daher zunächst die Lebenssituation der interviewten Migrantin, um dann fünf Bedeutungszusammenhänge116 11ŚȲ So äußerte sie sich anlässlich eines Vortrags in Wien, Institut für Höhere Studien, am Ř0.10.Ř00ř. 11śȲ Diese Verbindung stellt hingegen Helma Lutz (Lutz Ř00ř) deutlich in ihren Überlegungen her, wenn sie sich dem Thema der Haushaltsarbeiterinnen mit Migrationshintergrund in Deutschland zuwendet. Dabei bezieht sie sich explizit auf Geschlecht als strukturierendes Element in der Migrationserfahrung und der Arbeitswelt. Mit Bezug auf Manuel Castells (Castells Ř00Ř) weist sie darauf hin, dass heute nicht nur Kapital, Güter und Informationen weltweit mobil sind, sondern dass wir es auch mit Prozessen einer „Transnationalisierung von Versorgungsleistungen“ (Lutz Ř00ř, ŘśŚ) zu tun haben. Dabei zeigt sie für Deutschland, dass es einen großen Bedarf an Dienstleistungen für private Haushalte gibt, die billig und flexibel konsumiert werden können. 116Ȳ Diese fünf rekonstruierten Bedeutungszusammenhänge sind nach Cyrus (Cyrus Ř00ř): Die Bedeutung der beruflichen Dimension für die Selbstverortung; die ‚Sorge für die Kinder‘ als biographisches Hauptmotiv; die Bedeutung von Nation und Familie; die Bedeutung des Geschlechts sowie die Bedeutung von Freundschaft für die Selbstverortung der Interviewpartnerin.
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näher zu beschreiben, mit deren Hilfe die Fallgeschichte unter dem Pseudonym Joanna Figa in ihren sozialen Kontext eingebettet beschrieben wird. Die Interviewpartnerin war zum Zeitpunkt des Gesprächs 4ų Jahre alt und arbeitete seit zwölf Jahren undokumentiert in Berlin. Nach Angaben von Norbert Cyrus (Cyrus 2ŪŪ3, 234) fand das problemzentrierte Interview im Jahr 2ŪŪū statt. Generell präsentierte sich Frau Figa in diesem Interview als eine „erfolgreiche“ Arbeitsmigrantin, die seit Kurzem über eine ihrer Arbeitgeberinnen eine kleine Wohnung inoffiziell anmieten konnte. Norbert Cyrus beschreibt diese Fallgeschichte als ein Beispiel einer „transnationalen Lebensweise“, wobei er den Lebensmittelpunkt von Frau Figa eindeutig in Berlin ansiedelt. Trotz dieser Verortung werden in diesem Forschungsprojekt grenzüberschreitende Verbindungen sichtbar, ohne die die Lebenszusammenhänge von Frau Figa nicht adäquat zu verstehen wären. Die darin involvierten sozialen Praktiken werden deutlich, da der Autor von einem relationalen Raumverständnis ausgeht, wie sich aus der Publikation der Forschungsarbeit rekonstruieren lässt: Die intensiven Bindungen von Frau Figa nach Polen ergeben sich zu einem Großteil aus der für sie wichtigsten sozialen Beziehung: Jener zu ihren beiden erwachsenen Kindern, die beide in Polen leben. An diesem Punkt wird eine relationale Raumkonstruktion sichtbar, die nach den Darstellungen im Interviewmaterial und den darauf basierenden Interpretationen von der Interviewten produziert und vom Sozialwissenschaftler nachgezeichnet wird. Besonders deutlich wird diese relationale Raumkonzeption in der Analyseperspektive des Sozialwissenschaftlers über die Bedeutungsdimension von Nation und Familie für die Verortung Frau Figas. Als Einleitung in dieses Kapitel wählt Cyrus einen dekonstruktivistischen Zugang zu den Konzepten „Nation“ und „nationaler Zugehörigkeit“, wobei er darauf Wert legt, dass derartige Zuschreibungen nicht vorzugeben sind oder als gegeben erachtet werden sollten, sondern dass sie in einem Forschungszusammenhang erst anhand des Gesagten zu eruieren sind (vgl. Cyrus 2ŪŪ3, 244ȹff.). Aufgrund dieser Perspektive macht Cyrus deutlich, dass die sozialen Beziehungen zu Polen und Polinnen sowohl in Berlin als auch in Polen einen wichtiger Bezugspunkt in der Erzählung darstellen – auch wenn diese Beziehungen inzwischen brüchig geworden sind und Frau Figa sich zum Zeitpunkt des Interviews deutlich von Polen distanziert. Gleichzeitig haben PolInnen für sie eine herausragende Bedeutung, was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag. Wie Cyrus betont, traf er auf derartige Widersprüchlichkeiten und Distanzierungen gegenüber Polen auch in anderen Interviews mit polnischen MigrantInnen (vgl. Cyrus 2ŪŪ3, 24Ű). Auch in der existierenden migrationsspezifischen Literatur lassen sich bereits Hinweise auf derartige Ergebnisse finden und
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Cyrus schließt sich den Interpretationen von Ewa Morawska (Morawska 2ŪŪ3) und Eva Feldmann (Feldmann 2ŪŪŪ) an, wonach abhängig vom situationsspezifischen Kontext ein jeweils unterschiedlicher Bedeutungshorizont angesprochen wird (vgl. Cyrus 2ŪŪ3, 24Ű): So kann in einem Interview „Polen“ einerseits als der Staat Polen adressiert werden, wobei in diesem Fall SystemPolen gemeint ist im Unterschied zur lokalen, alltäglichen Lebenswelt in Polen. Dabei wird mit dem System-Polen eine Reihe negativer Eigenschaften verbunden, wie etwa dass einfachen, ehrlichen und fleißigen Menschen keine Chance gegeben würde. Diese Interpretationsfolie legt Cyrus den unterschiedlichen sozialen Beziehungen von Frau Figa zugrunde – und kann so nachvollziehen, weshalb sie gleichzeitig zu vielen PolInnen ein gebrochenes Verhältnis entwickelt hat und dennoch an ihrer Vorstellung von einem positiv besetzten Polen emotional festhält. Somit zeigt sich an diesem Beispiel wie ein Analyserahmen, der auf einem (in diesem Fall impliziten) relationalen Raumverständnis aufruht, zu gewinnbringenden Interpretationen beitragen kann. Dass situationsspezifisch mit unterschiedlichen Raumkonstruktionen operiert wird, ist im Übrigen nicht nur in Alltagssituationen zu beobachten, sondern auch auf der sozialwissenschaftlichen Analyseebene. Dies zeigt sich etwa in der Studie „Integration im öffentlichen Raum“, die von Jens Dangschat u.ȹa. durchgeführt wurde (Dangschat, Gruber et al. 2ŪŪŰ). Diese von der Gemeinde Wien in Auftrag gegebene Untersuchung setzt sich mit der Frage auseinander, wie „öffentliche Räume als gesellschaftliche Prozesse gestaltet werden sollten, damit sie den Integrationsherausforderungen (besser) entsprechen“ (ebd., ū3). Dabei geht es den StudienautorInnen darum zu untersuchen, wie ImmigrantInnen, benachteiligte Bevölkerungsgruppen und generell die Wohnbevölkerung in bestimmten Stadtvierteln öffentliche Räume nutzen können. Den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Integration und öffentlichem Raum sehen sie dabei folgendermaßen: Also sollte der öffentliche Raum die Voraussetzungen dafür liefern, dass sich unterschiedliche soziale Gruppen treffen können und – zumindest vorübergehend – in der konkreten Situation Kontakte knüpfen, einander akzeptieren, möglicherweise voneinander lernen und gemeinsame Nutzungsmöglichkeiten des öffentlichen Raumes entwickeln können. (ebd., 24)
In einem ausführlichen einleitenden theoretischen Teil werden unterschiedliche Raumkonzepte in den Sozialwissenschaften diskutiert, wobei ein essentialistisches Raumkonzept für die Sozialwissenschaften als inzwischen überholt abgelehnt wird. Stattdessen geben sich die StudienautorInnen selbst
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das Programm vor, mit einem relationalen Raumbegriff zu arbeiten, den sie auf ihren Untersuchungsgegenstand gemünzt definieren als die Wechselwirkungen von gebauten und sozialen beziehungsweise sozial konstruierten Räumen (…) so können sowohl die bauliche Gestalt, die gruppenspezifischen Konstruktionen von Orten, Raumnutzungs- und Handlungsmuster unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen sowie die planerischen Entscheidungsprozesse und Umsetzungsverfahren mittels eines Settings quantitativer und qualitativer Methoden in der Zusammenschau erhoben und analysiert werden. (ebd., ū2ȹf.)
Dabei gehen die AutorInnen von der Annahme aus, dass neben Institutionen des Wohlfahrtsstaates, des Arbeitsmarktes oder des Bildungswesens auch öffentliche Räume sozial integrierend wirken können. Sie sehen es als sozialwissenschaftlich sinnvoll an, exemplarisch Analysen an konkreten Orten vorzunehmen, um die bislang noch kaum systematisch erforschten räumlichen und planungsrelevanten Implikationen von Integration sowie die Bedeutung des öffentlichen Raumes für (Des-)Integration zu beleuchten. (ebd., ū2).
Obwohl theoretisch ausgearbeitet wird, dass der Raum sozialwissenschaftlich nicht mehr als Container angesehen werden sollte und daher nicht als „Statistikwerte über Anteile und Mengen“ (ebd., 23) zu definieren sei, gelangt das Forschungsteam zu seinen Analyseeinheiten, indem das Territorium der Stadt Wien in einem ersten Schritt nach klassischen statistischen Häufigkeiten zerlegt wird: Nach EinwohnerInnendichte und dem Anteil der Substandardwohnungen, dem Anteil an Arbeitslosen und jenem von AusländerInnen sowie nach der Altersstruktur der Bevölkerung. Schließlich werden die ersten drei Unterscheidungskriterien dazu herangezogen, Wohnviertel zu identifizieren, in denen öffentliche Räume einem erhöhten „Nutzungsdruck“ ausgesetzt sind (vgl. Dangschat, Gruber et al. 2ŪŪŰ, 42ȹff.). Die Indikatoren bezüglich des Anteils an AusländerInnen und der Altersstruktur werden dazu genutzt, Stadtgebiete zu benennen, in denen hohe AusländerInnenanteile mit vergleichsweise vielen jungen (unter ū4 Jahren) bzw. älteren Personen (über 5ų Jahren) zusammentreffen. Die Auswahl wird damit begründet, dass diese Stadtgebiete ein hohes „Konfliktpotential“ aufweisen. Eine Zusammenschau der Stadträume unterschieden nach Konfliktpotential und Nutzungsdruck mündet schließlich in der Identifikation der untersuchten öffentlichen Räume, die anschließend anhand teilnehmender Beobachtungen, qualitativer
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Interviews, ergänzender Erhebungen sowie eigener Interventionen des Forschungsteams untersucht werden. Somit zeigt sich in dieser Arbeit deutlich, wie der Anspruch einer raumtheoretisch fundierten Analyse aufgrund des heutigen diesbezüglich existierenden Forschungsstandes in der empirischen Umsetzung auf Schwierigkeiten stößt. Die SozialwissenschaftlerInnen hatten dabei vorab eine relationale Position auf Raumfragen hergeleitet, die in der Umsetzung des Projektes jedoch nicht vollständig durchgehalten werden kann. Für künftige Forschungsarbeiten wäre etwa vorstellbar, dass eine Reflexion des Vorgehens im Forschungsverlauf durch die WissenschaftlerInnen selbst eine interessante Ergänzung zu den publizierten Forschungsergebnissen bedeutet. Momentan ruht das gesamte Untersuchungsdesign ncoh auf der Konstruktion eines Nutzungsdrucks und des Konfliktpotentials auf. Diese werden aufgrund containerhafter Raumannahmen hergeleitet, indem die Wohnungsformen und sozialstatistische Merkmale der AnwohnerInnen betrachtet werden. Diese Herstellung von Analyseeinheiten wird jedoch nicht gemäß der einleitenden raumtheoretischen Überlegungen reflektiert. Interessant ist auch, dass aufgrund der geographischen Nähe auf soziale Interaktionen rückgeschlossen wird, anstatt diese Annahme als Hypothese zu formulieren und zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Immerhin handelt es sich bei den Untersuchungsorten um Orte in einer Großstadt mit vielfältigen Möglichkeiten der Mobilität. Die Untersuchung von Jens Dangschat et al. zeigt somit eindrücklich, wie schwierig auf der Grundlage des existierenden methodologischen Stands der Forschung ein raumsensibles Vorgehen in der empirischen Forschung umzusetzen ist – und zwar trotz aufwändigem Vorgehen und unter Bedachtnahme auf neueste raumtheoretische Arbeiten. Dangschat et al. heben so einerseits sehr deutlich hervor, dass Räume in den Sozialwissenschaften nur sinnvoll als relationale Räume gedacht werden können – und die Eigenschaften und Wirkungsweisen von Raumannahmen als soziale Phänomene zunächst zu rekonstruieren sind. Andererseits arbeiten sie in einem Diskurs, in dem öffentlichen Räumen allein durch das Aufeinandertreffen von Zugewanderten und „Einheimischen“ bereits das Potential einer Integrationsförderung zugeschrieben wird117. Dies verdeutlicht, dass es noch einiges an Entwicklungsarbeit bedarf, um raumsensible Zugänge in der migrationswissenschaftlichen Forschung konsequent umzusetzen. 117Ȳ Eine eingehende Diskussion der Studie findet sich auch bei Andreas Pott (Pott Ř00Ř, 10Ś) wieder.
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Wie könnten nun in Zukunft Forschungszugänge und -methoden aussehen, die eine raumsensible Vorgehensweise tatsächlich umsetzenȺ? Als Abschluss dieses Kapitels werde ich nun diskutieren, wie sich relationale Raumkonzepte auf die Datenerhebung und -auswertung auswirken können. In dem bereits zitierten Forschungsprojekt zur Frage der Entwicklung von Mobilitätsperspektiven bei ForscherInnen11Ş war bereits bei den ersten Probeinterviews eine Schwierigkeit aufgetreten, die auch auf meine damaligen impliziten Raumannahmen zurückzuführen ist: Im Rahmen problemzentrierter Interviews (Scheibelhofer 2ŪŪ8a; Witzel 2ŪŪŪ) hatte ich einen Interviewleitfaden erstellt, der aufgrund meines Forschungsinteresses auch Fragen zu den von den InterviewpartnerInnen als bedeutsam erachteten sozialen Beziehungen (beruflich und privat) beinhaltete. Es zeigte sich in den Probeinterviews deutlich, dass Daten, die ein solches Forschungsinteresse erforderte, nicht in einem typischen qualitativen Interviewsetting hervorzubringen waren, da die Interviews drohten, den Charakter einer relativ inhaltsleeren Frage-Antwort-Batterie anzunehmen. Der für die Analyse erforderlichen methodologischen Haltung der Offenheit widersprach diese Interviewdynamik eindeutig, da eine Strukturierung nach den Relevanzen der InterviewpartnerInnen so kaum zu erreichen war. Ab dem dritten Interview bat ich die InterviewpartnerInnen daher, ihre wichtigsten Interaktionsbeziehungen graphisch während des Interviews darzustellen. Dazu bat ich sie gegen Ende des Gesprächs, auf einem unbeschriebenen DIN-A4-Blatt jene Personen einzuzeichnen, die für sie momentan privat und/oder beruflich die bedeutendsten Bezugspersonen waren. Hierfür stellte ich zwei verschieden farbige Stifte zur Verfügung, damit eine farbliche Unterscheidung in private und berufliche Kontakte einfach einzuzeichnen sein würde. In die Mitte des Papierblattes zeichnete ich dann während des Interviews einen Kreis, der – so führte ich aus – die InterviewpartnerInnen selbst darstellen sollte. Die für sie momentan wichtigsten Personen sollten sie nun näher an diesem Kreis einzeichnen, weniger wichtige entsprechend weiter weg119. Eine derartige von einer Interviewpartnerin angefertigte graphische Darstellung sah – von mir im Zuge der Interpretationsarbeit elektronisch nachgebildet – folgendermaßen aus1Ř0:
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Für eine Kurzbeschreibung des Forschungsprojektes siehe Kapitel ś. Eine ausführlichere Beschreibung dieser Methode findet sich in Scheibelhofer (Ř006a). 1Ř0Ȳ Für die folgenden Ausführungen siehe auch Scheibelhofer Ř006b. 119Ȳ
ś.ŘȳRaumkonstruktionen der MigrationsforsĖerInnen Graphik 6
Řř1
Schematische Darstellung der Netzwerkzeichnung von Vera Jungwirth1Ř1
E: Ehemann USA F: Freundin, pendelt zwischen Ö und USA ū: Professorin USA 2: Wissenschafterin Ö
3: WissenschaftlerInnen in Ö, pendeln Ö-USA 4: Befreundete Wissenschaftlerinnen in Ö 5: FreundInnen USA
Ű: Familie in Ö ű: FreundInnen in Ö 8: KollegInnen USA ų: Mentorin ūŪ: ProfessorInnen USA
Nachdem die Zeichnungen fertiggestellt waren, wurden die Interviewten dazu aufgefordert, die eingezeichneten Personen in ihren Bedeutungskontexten und -qualitäten möglichst ausführlich zu erläutern. Falls es in diesen Schilderungen nicht thematisiert wurde, fragte ich am Ende des Interviews nach, an welchen Orten die bezeichneten Personen lebten und arbeiteten. Bei der Darstellung in Graphik Ű fällt dabei zunächst die Vielfältigkeit an Bezugspersonen auf, die Vera Jungwirth1ŘŘ in ihrer Darstellung festgehalten hat. Am nächsten zu dem Ich-Kreis zeichnete sie ihren Ehemann ein, wobei
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Alle Personenangaben sind anonymisiert. Dick umrandete Felder stehen für Personen, zu denen private Beziehungen bestehen, während die dünn umrandeten Felder ausschließlich berufliche Verbindungen symbolisieren. Zwei Kreise stehen für eine private und berufliche Verbindung. 1ŘŘȲ Eine Darstellung der Fallgeschichte findet sich in Kapitel ś.1.Ř.ř.
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der Pfeil von ihr nachträglich während der Erläuterungen der Zeichnung hinzugefügt wurde, um ihn im Verhältnis zu den anderen beschriebenen Personen in eine angemessene Nähe zum Ich-Kreis zu rücken. Ihre Familie, die in Österreich lebt, stellte Frau Jungwirth etwas weiter von ihr entfernt dar, wobei die Form der dicht aneinander gedrängten und ineinander übergehenden Kreise auffällt. Sie selbst war nach der Matura nach Wien gezogen, eine Tagesreise von ihrem Elternhaus entfernt. Hinter der Familie hat Frau Jungwirth ihren Freundeskreis aus Jugendtagen eingetragen. Freundschaftlich ist Frau Jungwirth sehr eng mit „F“ verbunden; sie ist eine gebürtige Österreicherin, die ähnlich wie Frau Jungwirth zwischen Wien und New York pendelt. Mit ihr verbindet sie außerdem eine langjährige berufliche Kooperation: Sie führten gemeinsame Projekte durch bzw. coachen einander in jenen beruflichen Belangen, die sie darüber hinaus beschäftigen. Ebenfalls in einer ähnlichen Situation leben zwei weitere Wissenschaftlerinnen (in der Graphik mit „3“ bezeichnet), die auch transnational verankert sind. Sowohl beruflich als auch privat steht Frau Jungwirth in einem engen Kontakt zu einer USWissenschaftlerin und einer Wissenschaftlerin aus Österreich, die sie beide als Mentorinnen ihres beruflichen Werdegangs bezeichnet. Die enge und vielfältige Verknüpfung zwischen beruflichen und persönlichen Kontakten war dabei im Vergleich mit den graphischen Darstellungen anderer InterviewpartnerInnen bemerkenswert in der Zeichnung Frau Jungwirths. Die Analyse der graphischen Darstellungen war im Forschungsprojekt eingebettet in ein Vorgehen, das sich an der Forschungsstrategie der Grounded Theory (Strauss ūųų4) orientierte. Für jede Person wurde dabei zunächst eine ausführliche chronologische Biographie erstellt, in der einzelne biographische Phasen nach bestimmenden Rahmenbedingungen, Aspirationen, Realisationen und Bewertungen aus Sicht der InterviewpartnerInnen rekonstruiert wurden (vgl. dazu Witzels analytisches Handlungsmodell mit entsprechenden Erweiterungen in Scheibelhofer 2ŪŪ4). In der Phase des offenen Kodierens wurden Kategorien auf ihre Relevanz hin analysiert. Dabei zeigten sich einige Kategorien als besonders aufschlussreich in Bezug auf die Fragestellung: So konnte herausgearbeitet werden, dass die Zukunftspläne der interviewten WissenschaftlerInnen zum Großteil stufenweise an die vorgefundenen Rahmenbedingungen (wie zum Beispiel Arbeitsbedingungen in den USA im Vergleich zu jenen in Österreich) angepasst wurden. Während das offene Kodieren am Beginn des Forschungsprozesses stand und auf einzelne Fälle konzentriert war, wurde in einem nächsten Schritt eine vergleichende Analyse der chronologisch erstellten Biographien vorgenommen. Dies geschah etwa in Bezug auf die Wanderungsverläufe und die
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Ereignisse bzw. Deutungen der InterviewpartnerInnen an Übergängen von einer Mobilitätsform zur anderen (wenn beispielsweise ein zunächst kurzfristig geplanter Aufenthalt wegen der Bewilligung eines Stipendiums verlängert wurde). Dabei wurden im Zuge der Interpretation des empirischen Materials Handlungsorientierungen in Hinblick auf Mobilität herausgearbeitet, die sich in unterschiedlichen Bereichen manifestierten: Etwa in beruflichen Entscheidungen, persönlichen Beziehungen oder der Frage, für welche Art des Wohnens in den USA und/oder in Österreich sich die InterviewpartnerInnen im Laufe der Zeit entschieden hatten. Während der Analyse der Fallgeschichten zeigte sich, dass Umbrüche und Veränderungen der Mobilitäts- bzw. Wanderungsbiographien häufig in fünf Bereichen sichtbar wurden: den Identitätskonstruktionen, den sozialen Netzwerken, der beruflichen Situation, der geplanten Mobilität und der Wohnsituation der InterviewpartnerInnen. An dieser Stelle der Analyse wurden die graphischen Darstellungen der InterviewpartnerInnen mit einbezogen, um die Dimension der sozialen Beziehungen für die untersuchten Personen präziser auszuloten. Dabei wurde jeder einzelne Fall zunächst für sich betrachtet, wobei eine deskriptive Analyse der Zeichnungen am Beginn stand. In einem zweiten Schritt wurden diese Ergebnisse mit den Interpretationen der mündlichen Erläuterungen zur Zeichnung und mit den Angaben aus dem restlichen Interview verglichen. Bei diesem Arbeitsschritt wurde insbesondere auf die Zusammensetzung der InteraktionspartnerInnen geachtet, die Homogenität bzw. Heterogenität der Gruppen sowie ihre Positionierung in Relation zum Ich-Kreis und zu anderen Gruppierungen. Die Funktionstrennung bzw. -überschneidung persönlicher und beruflicher Beziehungen wurde ebenso verglichen wie eine geographische Verortung der eingezeichneten Personen. So fiel bei der Darstellung Frau Jungwirths auf, dass in ihrer Zeichnung vergleichsweise viele InteraktionspartnerInnen beruflich und privat wichtige BeziehungspartnerInnen sind. Aus den mündlichen Erklärungen zur Zeichnung wurde außerdem deutlich, dass sich Frau Jungwirth in einem Freundeskreis verortet, in dem viele Personen ähnlich wie sie selbst zwischen den USA und ihrem Herkunftsland hin- und herreisen. Am Ende der deskriptiven Analyse stand eine Synthese der Interpretationsergebnisse aus dem Interview, der Netzwerkzeichnung und der diesbezüglichen Ausführungen im Interview. In einem weiteren Schritt wurden die Ergebnisse für die Dimension sozialer Beziehungen fallübergreifend verglichen. Dabei machten sich Unterschiede bemerkbar, was die Beziehungsintensität und -qualität nach persönlichen und beruflichen Bezugspersonen angeht. Unerwartet war etwa, dass sich eine Interviewpartnerin, die seit drei Jahren in den USA arbeitete, dazu entschloss,
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ihre Familie in Österreich direkt rund um den Ich-Kreis zu zeichnen. Mit der Erklärung der Zeichnung stellte sich heraus, wie eng sie emotional mit diesen geographisch weit entfernt lebenden Familienmitgliedern verbunden ist. Alle Personen hingegen, mit denen sie tagtäglich zu tun hatte, waren vergleichsweise randständig eingezeichnet. Die abschließende Phase der Interpretation fokussierte aufgrund des Forschungsinteresses in dieser Studie verstärkt auf die Frage der Mobilitätsorientierungen1Řř. Geographische Verortungen wurden von der Interviewpartnerin somit zunächst einmal nicht thematisiert. Diese Frage wurde erst im Zuge der Beschreibung der angefertigten graphischen Darstellung erwähnt. Das Visualisieren ihrer wichtigsten InteraktionspartnerInnen veranlasste außerdem einige InterviewpartnerInnen zu weiteren Reflexionen über den Zusammenhang ihrer sozialen Beziehungen und der von ihnen bereits getroffenen (bzw. künftigen) Mobilitätsentscheidungen. Erst damit wurden auch bei Personen, die bereits lange in den USA lebten und arbeiteten, komplexe soziale Beziehungen in ihrer Bedeutung für Wanderungsentscheidungen nachvollziehbar, die mit einer herkömmlichen qualitativen Interviewtechnik kaum zugänglich gewesen wären. Gleichzeitig wurde mit dieser Erhebungsform die Bedeutung der Lokalität nicht bereits vorweggenommen, wie dies etwa in strukturierteren Erhebungen der Fall ist. Dadurch konnte anhand des Datenmaterials auch rekonstruiert werden, an welchen Stellen Bedeutungszuweisungen über Verortungen stattfinden – und welche Qualitäten diese Verortungen für die InterviewpartnerInnen haben. In diesem Beispiel einer raumsensiblen methodischen Herangehensweise wird deutlich, dass ein derartiges Vorgehen nicht nur für Fragestellungen angebracht ist, die sich explizit mit Raumkonstruktionen auseinandersetzen, sondern auch bei Untersuchungen hilfreich sein können, in denen Rückwanderung, Verfestigung der Auswanderung sowie Zugehörigkeitsfragen zentral sind.
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Dabei wurden Extremfälle von Mobilitätsformen herausgearbeitet, die sich im Fallvergleich am weitesten in den genannten Dimensionen voneinander unterschieden. Es wurden drei idealtypische Formen der Mobilität bzw. Migration rekonstruiert, die sich – wie sich herausstellte – auch in den graphischen Darstellungen deutlich voneinander unterschieden: Die Form der kurzfristig Mobilen, die sich durch eine klare zeitliche und inhaltliche Abgrenzung ihres US-Aufenthalts auszeichneten; jene Personen, die zum Zeitpunkt des Interviews ihren Lebensmittelpunkt in die USA verlagert hatten und als MigrantInnen bezeichnet werden können und ein Typus eines transnationalen Lebensstiles, der hier durch Frau Jungwirth repräsentiert wird.
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Konstruktivistische Konzepte
Während relationale Raumkonzepte von der Bedeutung sozialer Beziehungen für die Gesellschaft ausgehen, verfolgen konstruktivistische Überlegungen den Gedanken der sozialen Bedingtheit jeder Wahrnehmung von Wirklichkeit noch weiter und fragen daher auch nach der Herstellung sozialer Beziehungen, so etwa jener der Konstruktion von Bildern des „Anderen“. In diesen Ansätzen werden Konstruktionsleistungen aufgezeigt und mit ihnen verbundene – und in sie eingelassene Herrschaftsmechanismen hinterfragt. Dabei würde eine Diskussion darüber, ob nun ein relationaler Raumansatz oder ein konstruktivistischer der empirischen Realität angemessener sei, ins Leere führen. Je nach Untersuchungsfrage und theoretischer Ausrichtung sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeit werden unterschiedliche raumspezifische Zugänge sinnvoll erscheinen: Bei Fragen der sozialen Eingebundenheit wird es sinnvoll sein, in bestimmten Fällen von Netzwerktheorien auszugehen; diese beruhen zumeist auf relationalen Raumüberlegungen, da sie die sozialen Beziehungen und Gefüge in den Mittelpunkt ihrer Ausgangsüberlegungen stellen (vgl. etwa die Arbeiten von Dahinden, 2ŪŪų, 2ŪūŪ). Im Gegensatz dazu werden Forschungsarbeiten, die sich mit dem Zustandekommen gesellschaftlicher Unterschiede befassen, auch die soziale Bedingtheit und Kon struktionsleistung hinter Konzepten wie „Nachbarschaft“, „ethnischer Gruppe“, „sozialen Identitäten“ oder „gesellschaftlichen Gruppen“ hinterfragen. Dass derartige Markierungen des „Anderen“ in einem engen Zusammenhang mit Machtbeziehungen stehen, hat Richard Jenkins (Jenkins ūųųű) bereits deutlich gemacht: Er geht in seiner Monographie mit dem bezeichnenden Titel „Rethinking Ethnicity“ davon aus, dass unsere Vorstellungen von Ethnizität auf Ideologien der Identifizierung beruhen (ebd., 84ȹff.). Jenkins stellt den Vergleich an, dass die Beziehungen zwischen Ethnizität und anderen Identifizierungen (oder Markierungen im Sinne von labels – um Begriffsverwirrungen vorzubauen) wie das Prinzip einer russischen Puppe funktionieren: Öffnet sich eine Puppe, wird eine kleinere Puppe sichtbar, die sich durch spezifischere nationale, ethnische oder lokale Kennzeichen von der sie umgebenden Hülle unterscheidet1ŘŚ. So lässt sich – kurz zusammengefasst – auch eine Hier1ŘŚȲ
Im Gegensatz zu diesem Blick von außen auf eine bestimmte Personengruppe hat Herbert J. Gans in seinem Konzept einer „symbolischen Ethnizität“ die Bedeutung vor allem religiös besetzter Handlungen und Symbole für Annahmen der Zugehörigkeit von AkteurInnen selbst beschrieben (Gans 1979).
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archie von Identitfikationsmerkmalen und der damit verbundenen Ideologie herstellen: Während Ethnizität und Rasse auf der Ideologie des Rassismus aufruhen, ist es bei Ethnizität und Nation der Nationalismus. „Co-residence“ sieht Jenkins als die Basis unterschiedlicher Ideologien: nämlich für jene des Kommunitarismus, des Lokalismus und des Regionalismus. Wenn Verwandtschaft als Basis der Identifizierung herangezogen wird, so handelt es sich seiner Ansicht nach um die Ideologie eines „familism“ (ebd., 85). Damit bewegt sich Richard Jenkins auch auf einer analytischen Ebene, die Raum als sozial konstruiert hinterfragt und das Hinterfragen der Entstehungsbedingungen dieser gesellschaftlichen Erklärungsmuster als eine Aufgabe der empirischen Sozialforschung ansieht. Damit baut Anthony Jenkins auf einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Arbeiten auf, die sich mit dem Entstehen nationalstaatlicher Ideologien und damit verbundenen Konstruktionen der Einheit und des Ausschlusses beschäftigen (Anderson ūųų8; Schmidt-Lauber 2ŪŪű). Anschließend an derartige Überlegungen zur historischen, politischen und gesellschaftlichen Konstruktion von Ethnizität hat sich Andreas Wimmer mit dem Thema auseinandergesetzt, wie sich aus einer konstruktivistischen Perspektive heraus Ethnizität in Einwanderungsgesellschaften verstehen lässt (Wimmer 2ŪŪű). Auch in dieser Arbeit wird sichtbar, dass der Autor – obwohl der Raumbezug in diesem Beitrag nicht ausgewiesen wird – von einem konstruktivistischen Raumkonzept ausgeht. Dies befähigt ihn dazu, einen Forschungsansatz vorzuschlagen, der von „boundary-making“ – also von dem Prozess des Grenzziehens – ausgehend versucht, über die Verfasstheit von Einwanderungsgesellschaften in einer neuen Form nachzudenken. Dabei geht Andreas Wimmer der Frage nach, woher jene spezifische Vorstellung einer Ethnie stammt, von der wir heute selbstverständlich (nicht nur alltagsweltlich sondern auch in weiten Teilen der Migrationsforschung) ausgehen. Hierzu argumentiert er mit Johann Gottfried Herders Vorstellung, wonach Ethnien und Nationen die Hauptakteure der Weltgesellschaft sind (vgl. Wimmer 2ŪŪű, 8). Diese Ethnien und Nationen sind bei Herder dadurch charakterisiert, dass sie totale soziale Phänomene sind: Zwischen ihren Mitgliedern bestehen enge und vielfältige soziale Verbindungen, die eine gemeinsame Vergangenheit, Sprache und Kultur mit einschließt (vgl. ebd.). Diese Herdersche Vorstellung von Ethnien zeigt sich laut Wimmer nach wie vor in sozialwissenschaftlichen Arbeiten zu Einwanderungsgesellschaften. Anschließend an eine kritische Aufarbeitung rezenter Integrations- und Migrationsforschung in den USA und Europa kommt der Autor zu dem Schluss, dass auch neuere Strömungen in der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Forschung diese Herdersche Einheit von Ethnie und Nation kaum
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auflösen konnten: Die MultikulturalistInnen werden dabei für ihr Vorgehen kritisiert, wonach sie lediglich die Bewertung der klassischen AssimilationstheoretikerInnen umgekehrt hätten: Das Fortdauern ethnischer Unterschiede würde dabei nicht infrage gestellt, sondern lediglich anders bewertet: Ethnische Differenz wird als wünschenswert angenommen, ohne dass die einschlägigen Denk kategorien im Vergleich zur klassischen Migrationsforschung geändert würden (vgl. Wimmer 2ŪŪű, ūŪ). Ethnische Kategorisierungen werden hie wie da als gegeben angenommen – und nicht etwa in ihrem sozialen Herstellungsprozess als Forschungsgebiet der Sozialwissenschaften wahrgenommen. Auch in Forschungen zu Kreolisierung, Hybridisierung oder multiplen Identitäten sieht Wimmer nicht die Lösung des Problems, weil auch hier die zur Verfügung stehenden sozialen Inhalte durch die Vorfahren bzw. durch die nationale Gesellschaft, in die Individuen hineinsozialisiert werden, vorgegeben sind (ebd., ūū). Die Transnationalismus-Forschung wiederum hat die Herdersche Annahme infrage gestellt, wonach jede ethnische Gruppe ein bestimmtes erdräumliches Territorium besiedeln würde; allerdings leidet dieser Forschungszweig abgesehen davon unter denselben Problemen wie die anderen Ausrichtungen der Migrationsforschung (ebd., ūū). Wimmer sieht die ungebrochene Attraktivität dieser theoretischen Unklarheiten in der Migrationsforschung darin begründet, dass in der außerwissenschaftlichen Debatte Untersuchungsergebnisse eher angenommen werden, die auf derartigen essentialistischen und kulturalistischen Beschreibungen von Bevölkerungsgruppen beruhen. Der Autor schlägt daher vor, von der vergleichenden Migrationsforschung auszugehen, um so zu einem theoretisch haltbaren Standpunkt zu gelangen. Derartige Studien findet der Wimmer vor allem in der anthropologischen Forschungsliteratur, da über Untersuchungen in nicht-westlichen Kulturen die Idee der Einheit von Nationalstaat, Kultur und ethnischer Kategorisierung bereits seit Langem kritisch gesehen wird. Dabei sind für Wimmer besonders drei Argumente hilfreich, die er aus der anthropologischen Migrationsforschung gewinnt: Erstens haben Anthropologen wie Fredrik Barth (Barth ūųŰų) oder Franz Boas (Boas ūų28) bereits vor einigen Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass Kultur und Ethnizität nicht unbedingt überlappende Kategorien sein müssen. Barth entwickelte einen „boundary approach“ (ebd., ū3), der nahe legt, dass es nicht ethnische Unterscheidungen sind, anhand derer sich Personengruppen sinnvoll beschreiben lassen, sondern andere Unterscheidungsmerkmale. Die Differenzierung zwischen ethnischen Gruppen wird damit selbst eine soziale Handlung, die von AnthropologInnen zunächst einmal untersucht wird. Ethnizität wird in dieser Forschungsperspektive als jene subjekti-
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ve Form definiert, wie AkteurInnen kulturelle Differenzen wahrnehmen und einordnen.1Řś Weiters bestreitet Wimmer (ebd., ū3ȹf.) die Vorstellung, ethnische Gruppen würden auf ethnischen Identitäten und Kategorien aufruhen. Diese Ansicht gerät mit dem Konzept der situationalist school1Ř6 nach Ansicht Wimmers ins Wanken: Forschungen dieser Ausrichtung zeigten schon lange, dass ethnische Identitäten und Kategorien situativ aktiviert werden – oder eben nicht. Weiters sind in diesen situativen Identitäten Hierarchien auszumachen, die wiederum gesellschaftliche Strukturen widerspiegeln. Dies macht Wimmer an einem Beispiel US-amerikanischer Einwanderungsgeschichte deutlich, in dem er die möglichen ethnischen Kategorien beschreibt, die eine Frau mit Hmong-Herkunft je nach sozialer Situation aktiviert: The Hmong represent a small tribal group that stood out for their loyalty to American troups during the Vietnam War and were thus granted collective asylum. In opposition to a White Hmong, she would identify as a Blue Hmong. If she encounters a Chinese from Vietnam, her Hmong identity would be most salient. If she meets an African American, she would be Asian American and so on. (Wimmer 2ŪŪű, ū4)
Für die weitere Theoriebildung ist dabei zu berücksichtigen, dass nicht alle der Kategorien, die in diesem Abschnitt genannt wurden, auch soziologisch beschreibbar sind im Sinne von eigenen communities. Dieses Beispiel zeigt, dass es eine analytische Unterscheidung zwischen ethnischen Zuordnungen und Gemeinschaften braucht1Ř7. Wie wichtig eine derartige Unterscheidung ist, unterstreichen auch empirische Untersuchungen über die Veränderungen der Beziehungen zwischen ethnischen Zuordnungen und Gemeinschaften: Allein die Terroranschläge des ūū. September 2ŪŪū veränderten die Bedeutung von Ethnizität in den USA dramatisch, was Gruppenzugehörigkeiten und diesbezügliche soziale Schichtung in den USA angeht (Collins 2ŪŪ4). Trotz dieser 1ŘśȲ
Wie ein derartiger Boundary Approach in einer soziologischen empirischen Migrationsforschung eingesetzt werden kann, um Essentialisierungen zu vermeiden, zeigen Latcheva und Herzog-Punzenberger Ř011. 1Ř6Ȳ Andreas Wimmer bezieht sich hierfür auf Autoren wie Nagata 197Ś und Okamura 19Ş1 (Wimmer Ř007, 1ř). 1Ř7Ȳ Als letzten Hinweis, den die Migrationssoziologie noch nicht aufgenommen hat, identifiziert Wimmer (ebd., 1ś) die Tatsache, dass die Identifizierung mit einer Kategorie einer Person selbst nicht mit der Identifizierung durch Andere übereinstimmen muss. Dies kann an dem obengenannten Beispiel deutlich gemacht werden: Diese Person mag sich selbst etwa vor allem als vietnamesische US-Amerikanerin wahrnehmen – während sie von AngloamerikanerInnen unter Umständen nur unter der groben Kategorie einer Asiatin zugeordnet wird.
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Forschungsergebnisse, die belegen, dass ein Herdersches Bild von Ethnizität migrationssoziologisch nicht als theoretischer Ausgangspunkt aufrecht zu erhalten ist, weist Wimmer darauf hin, dass empirisch durchaus auch Fälle auftreten, in denen ethnische Kategorien tatsächlich mit ethnischen communities übereinstimmen – und dass diese ethnischen Identitäten keineswegs in jedem Fall umstritten sein müssen (vgl. Wimmer 2ŪŪű, ūŰ). Aufgrund der genannten Überlegungen nimmt Wimmer eine konstruktivistische Haltung in der soziologischen Erforschung von Migration ein (ebd., ūű), was an seiner Perspektive der Grenzziehung („boundary-making paradigm“) deutlich wird. Darin betrachtet er ethnische Gruppen als das Ergebnis sozialer Prozesse der Grenzziehung, deren Verlauf und Ausgang keineswegs absehbar sind. Er geht davon aus, dass es keine „objektiven“ kulturellen Unterschiede gibt und dass die herangezogenen Unterscheidungsmerkmale von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren. Wimmer tritt dafür ein, dass ethnische Grenzziehungen in einer sozialwissenschaftlichen Analyse nur dann als ethnisch beschrieben werden, wenn sie von den AkteurInnen selbst als solche gedeutet werden. Wenn Unterscheidungen aus Sicht der Untersuchten auf anderen Grenzziehungen basieren, die jedoch aus Sicht der SozialwissenschaftlerInnen parallel zu ethnischen Unterschieden laufen, sollten sie nicht als ethnisch in der Forschung bezeichnet werden (ebd., ūű). So kann der subjektiven Komponente von Ethnizität Rechnung getragen werden, ohne der Unterscheidung Ethnizität mehr Bedeutung zu verleihen, als ihr in der sozialen Realität zukommt. Michael Bommes hat bereits vor über 2Ū Jahren ausgeführt, welche Schwierigkeiten sich aus einer unreflektierten Übernahme der Selbstbeschreibungen von AkteurInnen für die Sozialwissenschaft ergeben (Bommes ūųųŰ, 2ŪŰ): Die Soziologie allgemein tut sich bis heute schwer, ethnische Kategorien der Selbstbeschreibung von sozialen Akteuren und die soziologische Beschreibung dieser Beschreibungspraxis auseinanderzuhalten. In der qualitativen Migrationsforschung reklamiert man die besondere Angemessenheit der präferierten Forschungsverfahren für die Beschreibung der Lebenslagen von Migranten und ihrer sozialen Formen der Verarbeitung, die als „Alltagstheorien“, „kulturell organisierte Wissenssysteme“, oder auch „Lebenswelt“ von Migranten untersucht werden. Die mit Mitteln dieser Forschung beschriebenen sozialen Handlungsformen werden als kulturell spezifisch und im Anschluss an Teilnehmerkategorien als ethnisch qualifiziert. Entsprechend ist z.ȹB. von türkischen, spanischen, kurdischen Kulturen, Lebenswelten usw. die Rede.
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An dieser Stelle wird das Problem der Doppelung sozialer Kategorien wie jener der Ethnizität durch die einschlägige Forschung sichtbar (vgl. dazu auch Scheibelhofer 2ŪŪ3). Eine Festschreibung der Selbstbeschreibung der AkteurInnen in ethnischen Kategorien würde aufgrund der methodologischen Konsequenzen qualitativer Forschung unumgänglich sein, wenn nicht einerseits die „sozialen Erzeugungsbedingungen“ (ebd., 2Ūű) der analysierten Daten systematisch berücksichtigt werden und andererseits das Verstandene nicht auf einen theoretischen Rahmen bezogen wird. Durch die Vernachlässigung dieser beiden Anforderungen verharrt die qualitative Migrationsforschung laut Bommes in einer Reproduktion sozialer Kategorien von „Kultur“1ŘŞ, die durch ihre wissenschaftliche Präsentation noch verstärkt werden, anstatt diese zu hinterfragen. Der Grenzziehungs-Ansatz von Wimmer macht weiters deutlich, dass ethnische Gruppen nicht aus sich selbst heraus entstehen können, sondern immer ein Gegenüber benötigen, gegen das sie sich abgrenzen bzw. mit dem sie interagieren. Einzig der Zusammenhalt in einer Gruppe reicht nicht für eine Gruppenformation, weshalb Letztere nur über Diskriminierung und/oder Bevorzugung existieren kann (ebd., ū8). Dieser interaktionistische Ansatz sollte aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass diese Gruppenformationen in einem machtfreien bzw. machtsymmetrischen Zustand ablaufen würden1Ř9. Dennoch legt Wimmer Wert darauf, keinen theoretischen Ansatz zu verfolgen, der auf die sozialen Beziehungen zwischen den Gruppen abzielt, sondern einen, der sich auf die Entstehung und Veränderung von ethnischen Gruppen konzentriert. Auch hier wird wiederum sichtbar, dass sich Wimmer der Thematik nicht mit einem ausschließlich relationalen Raumverständnis nähert – und schon gar nicht mit einem essentialistischen operiert. Er selbst bezeichnet sein Vorgehen als konstruktivistisch, subjektivistisch und prozessual. Dabei hebt er hervor, dass er trotz seines situationsspezifischen Ansatzes Wert legt auf die Analyse historisch gewachsener (und somit auch über die Zeit hin stabiler) Arrangements.
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Zum Kulturthema liegt es nahe, den Begriff des „kulturellen Essentialismus“ (Grillo Ř00ř) an dieser Stelle einzubringen. Grillo beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Frage, warum wir es im Alltag meist mit essentialistischen Kulturvorstellungen zu tun haben, sobald die Rede auf MigrantInnen kommt. Seiner Ansicht nach war die anthropologische Forschung zum Thema und deren Rezeption hochgradig an der heute existierenden Problematik beteiligt. 1Ř9Ȳ Was Wimmers Überlegungen an dieser Stelle für eine systemische Ebene der Nationalstaaten bedeutet, wird weiter unten in Kapitel ś.ř.1 reflektiert.
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Was ein derart konstruktivistischer Ansatz in der Migrationsforschung leisten kann, wird an der Diskussion deutlich, wenn Wimmer die Vorzüge eines ethnischen Grenzziehungsansatzes diskutiert (ebd., ūųȹff.): So bezieht er sich auf den Umstand, dass die Konstruktion von Personen ohne und mit Migrationshintergrund in einer derartigen Perspektive deutlich wird. Er bezieht sich dabei auf den Umstand, dass je nach historischem Hintergrund MigrantInnen nach unterschiedlichen Kriterien als solche definiert werden. Außerdem wird dadurch der politische Aspekt deutlich, der mit der Frage der Definition von MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen einhergeht. Diese historische Dimension sieht Wimmer sowohl in der klassischen und neueren Assimilationsforschung als auch im Multikulturalismus vernachlässigt. Dadurch werden nicht zuletzt jene sozialen Kräfte aus der Analyse ausgeblendet, die das Phänomen der Einwanderung überhaupt erst erzeugen. Weiters schlägt Wimmer vor, Assimilation nicht als kulturelle Anpassungsleistung der MigrantInnen zu definieren, sondern von einer Vorstellung beweglicher Grenzziehungen auszugehen: Anhand des Beispiels aus der US-Einwanderungsgeschichte, wonach Zugewanderte aus Italien, Irland oder Juden und Jüdinnen lange Zeit nicht als „Weiße“ angesehen wurden, macht Wimmer deutlich, dass der Analysefokus aufgrund eines „Boundary“-Ansatzes nicht mehr nur auf Zugewanderte ausgerichtet sein sollte, sondern dass auch die Aufnahmegesellschaft und ihre Institutionen einbezogen werden. Derartige Veränderungen in der sozialen Grenzziehung zwischen einer Mehrheitsgesellschaft und zugewanderten „Anderen“ hat durchaus auch mit der „Kultur“ der Zugewanderten zu tun – allerdings nicht in der Art und Weise, wie es die klassische Assimilationstheorie oder multikulturelle Ansätze konzipieren (vgl. Wimmer 2ŪŪű, 2ū): Aus der „Boundary“-Perspektive geht es vielmehr darum, dass Eingewanderte eine soziale Grenze überschreiten können, indem sie bestimmte Merkmale einer sozialen Gruppe vorweisen können und so von der einheimischen Bevölkerung als Gleiche akzeptiert werden. Welche Merkmale sie dafür erwerben müssen, unterscheidet sich je nach Gesellschaft. Wimmer bringt hierfür einige Beispiele: Etwa die Bereitschaft von MigrantInnen harte körperliche Arbeiten zu übernehmen, die die Einheimischen zwar benötigen, aber selbst nicht durchführen möchten; in den USA ist es das offene Bekenntnis zur Religion des Herkunftslandes, wohingegen in Europa ein deutlicher Atheismus bzw. eine Distanzierung gegenüber religiösen Institutionen eher zur Akzeptanz durch „Autochthone“ beitragen. Der Spracherwerb im Einwanderungsland hat einen international betrachtet durchaus unterschiedlichen Stellenwert: Während in deutschsprachigen Ländern oder in Frankreich akzentfreie Aussprache und grammatikalisch korrekte Sprachbeherrschung
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wichtige Kriterien für das Überschreiten dieser Grenze sind, ist es in den USA zumindest in niedrig qualifizierten Bereichen des Arbeitsmarktes ausreichend, sich dem Gegenüber in englischer Sprache verständlich machen zu können. Wimmer stellt auch erste Überlegungen zu einem Modell an, welches die hauptsächlichen Ursachen für gelungene Integration von MigrantInnen (im Sinne eines „boundary shift“) beinhalten soll. In dem Modell finden sich Überlegungen auf drei Achsen, welche Wimmer anhand eines Beispiels aus dem Arbeitsmarktbereich verdeutlicht: Die erste Achse umfasst die institutionellen Regeln für einen gesellschaftlichen Bereich; die zweite Ebene fokussiert auf die Machtverteilung zwischen den AkteurInnen und die dritte Dimension beinhaltet soziale Netzwerke und politische Allianzen. Aufgrund seiner Überlegungen kommt Wimmer zu dem Schluss, dass es „ent-ethnisierte“ (vgl. ebd., 28) Forschungszugänge braucht, um die von ihm identifizierten Forschungsfragen adäquat zu bearbeiten. Darunter versteht er, dass Ethnizität nicht als Antwort auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen vorschnell akzeptiert wird, sondern dass mit der Entdeckung einer ethnischen Komponente die Notwendigkeit sozialwissenschaftlicher Migrationsanalyse verknüpft wird. Als Beispiel bezieht er sich auf Studien zu Nachbarschaft, die zeigen, wie sich BewohnerInnen eher an der Dauer des Nachbarschaftsverhältnisses oder am „ordentlichen“ bzw. ungebührlichen Verhalten ihrer NachbarInnen orientieren, wenn es um deren Bewertung geht, als an ethnischen Kategorien (vgl. Wimmer ebd., 28). Derartige Forschungsergebnisse können aber nur dann sichtbar werden, wenn nicht von Anfang an von essentialistisch gedachten ethnischen Gruppen ausgegangen wird und Einstellungen zwischen diesen Gruppen an InterviewpartnerInnen durch SoziologInnen herangetragen werden. Wimmer plädiert daher für veränderte Forschungseinheiten: Es sollten nicht mehr ethnisch bezeichnete Gruppierungen sein, sondern stattdessen Territorien, Individuen, soziale Klassen oder institutionelle Settings, die untersucht werden (ebd., 2ų). Neben diesem Lösungsvorschlag Wimmers findet sich auch folgende Untersuchungsanordnung, die ebenfalls derartigen Ansprüchen einer unvoreingenommenen Analyse bezüglich Ethnizität entspricht: In diesem Fall werden Individuen mit unterschiedlichen sozialen Merkmalen für eine Untersuchung herangezogen, ohne sie von vornherein in (ethnische) Gruppen zu unterteilen. Dies ist ein durchaus übliches Vorgehen in quantitativen Untersuchungen, allerdings endet die Interpretation der Ergebnisse meist mit der Feststellung, dass Ethnizität einen signifikanten Einfluss ausübt. Interessanter wären Untersuchungsanlagen, in denen nach den sozialen Prozessen geforscht wird, die zu einem derartigen Ergebnis führen (vgl. ebd., 2ų). Erst dadurch kann geklärt
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werden, ob der Einfluss der Variable Ethnizität unter Umständen durch intervenierende Variablen (wie etwa bestimmte Migrationsverläufe oder bisherige Erfahrungen am Arbeitsmarkt) im Ergebnis verfälscht wurde (vgl. etwa eine derart gelagerte Analyse von Wroblewski, 2ŪŪŰ). Im Gegensatz zu anderen MigrationsforscherInnen, die einen kritischen Ethnizitätsbegriff pflegen, rät Wimmer nicht davon ab, in Forschungsdesigns von ImmigrantInnen aus bestimmten Regionen oder Ländern auszugehen. Allerdings sollte auch in einem solchen Fall genau darauf geachtet werden, ob sich unter Umständen Herdersche Vorstellungen der Ethnizität einschleichen: Gemeinschaftliche Schließung, kulturelle Differenz und starke ethnische Identitäten sind im besten Falle Hypothesen, die es zu überprüfen gilt. Falls sie zutreffen, sind sie – wie bereits ausgeführt – zu erklären und nicht als Erklärung zu verstehen. Dabei sollte auch überprüft werden, ob etwa familiäre Bindungen als ethnische Relationen fehlinterpretiert werden. Wimmer bringt hier das Beispiel einer bemerkenswerten Studie von Nauck und Kohlmann (ūųųų), in der aufgrund eines wohldurchdachten Forschungsvorgehens nachgewiesen werden konnte, dass sich türkische ImmigrantInnen genauso wie Deutsche auf familiäre Netzwerke stützen. Dabei zeigte sich auch, dass türkische MigrantInnen keineswegs anderen TürkInnen in Deutschland mehr Vertrauen entgegen bringen würden als anderen MitbürgerInnen – so sie ihnen nicht familiär verbunden sind. Ganz ähnlich argumentiert auch Markus Schroer (Schroer 2ŪŪŰ): In seiner publizierten Habilitationsschrift mit dem Titel „Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes“ nimmt zwar das Thema der Migration nur einen untergeordneten Stellenwert ein; von einem theoretischen Standpunkt aus betrachtet lassen sich jedoch Parallelen zur Argumentation von Wimmer herstellen, wobei sich Letzterer wiederum in seiner migrationsspezifischen Analyse nicht explizit mit Raumkonzepten auseinandersetzt. Markus Schroer arbeitet in beeindruckender Weise raumsoziologische und -philosophische Entwürfe auf, die von der Vernichtung und der schwindenden Bedeutung von Raum ausgehen. Die zunehmende Ablösung des Sozialen von örtlichen Gegebenheiten wird in diesen Ansätzen als Verfallsgeschichte erzählt. Schroers Kritik daran bezieht sich allgemein auf eine Gleichsetzung von Raum und Ort in diesen bekannten Überlegungen (Schroer 2ŪŪŰ, ūū). Er sieht in der Soziologie einen Widerstreit zwischen unterschiedlichen Raumkonzepten: Jenen, die auf absolutistisch-substanziellen Raumtheorien beruhen und jenen, die auf relativistisch-relationalen Raumtheorien aufbauen. Schroer selbst operiert mit einem konstruktivistischen Raumbegriff, in dem Räume im Alltag auch als Container oder relational konstruiert werden
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können. Geschieht dies, so wird durch diese alltagsweltlichen Annahmen auch das soziale Handeln in diesem Sinne mit strukturiert. Dabei ist es nach Ansicht von Markus Schroer Aufgabe der Soziologie sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie Raum empirisch beobachtbar konstruiert wird, in welchen Zusammenhängen Raum als Problem virulent wird und was die Berücksichtigung des Raums in soziologischen Theorien für Folgen zeitigt. Dabei ist zu beachten, dass Raumtheorien selbst immer auch gesellschaftliche Funktionen erfüllen, die es laut Schroer aus einer soziologischen Perspektive heraus zu hinterfragen gilt. Schroer weist explizit auf die Gefahren eines Ausschlusses relationaler und essentialistischer Raumkonzepte hin, da es durchaus Räume gibt, die unser Verhalten prägen – sei es nun ein Kirchenraum, ein Gerichtssaal oder die Büroräume einer Behörde (vgl. Schroer 2ŪŪŰ, ūűŰ). So kommt er zu folgendem Schluss: Raum prägt unser Verhalten und drückt ihm seinen Stempel auf. Räume helfen zu entscheiden, in welche Situationen wir kommen können, sie strukturieren Interaktionsabläufe, machen einige wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich. (Schroer 2ŪŪŰ, ūűŰ)
Dieser Ansatz ist für migrationsspezifische Untersuchungen sehr aufschlussreich, da er eine raumsensible Analyse zulässt, auch wenn einzelne Raumcontainer Inhalt der Untersuchung sind. Die entscheidende Frage bei der Beurteilung einschlägiger Studien (etwa der Wohnraumsegregation von AusländerInnen) ist – nach obiger Diskussion – die Differenz, inwiefern Ethnizität als Erklärung als ausreichend angesehen wird oder ob die Kontextualisierung dieses (Zwischen-)Ergebnisses verfolgt wird. Schroer geht außerdem in seiner Arbeit davon aus, dass Räume über Kommunikation hergestellt werden. Trotz dieses konstruktivistischen Ansatzes misst er allerdings auch einer materiellen Komponente von Räumen durchaus Bedeutung zu. Ähnlich wie Wimmer vertritt er einen „Boundary“-Ansatz, den er an unterschiedlichen empirischen Beispielen verdeutlicht. Dabei zeigt er, dass die kulturell deutlich definierten Grenzen von innen und außen, eigen und fremd, privat und öffentlich nicht zugunsten einer der beiden Seiten aufgelöst werden, sondern dass diese Unterscheidungen diffuser werden, ohne gänzlich zu verschwinden. Sie bleiben weiterhin gültig, verlieren aber ihre Exaktheit und Klarheit. Und gerade diese Unklarheit provoziert Anstrengungen, wieder zu klaren Grenzziehungen zu kommen. (ebd., ū8Ū)
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Die Verabschiedung alter Grenzziehungen geht also immer wieder einher mit der Errichtung neuer Grenzen – sei es nun im Bereich der Migration, der virtuellen Realität oder in Bezug auf moderne Körperpraktiken. Schroer betont, dass es sich bei Fragen der Grenzziehungen immer auch um die Frage des Zugangs, des Ein- und Ausschlusses handelt sowie der Zugehörigkeit. Für den Bereich der Migration bedeutet dies wiederum, dass über die Frage des „Anderen“ die Charakteristik der „eigenen“ Gruppe verhandelt wird, nicht zuletzt, indem neue Grenzziehungen vollzogen werden. Dies zeigt sich etwa in der jahrelang geführten politischen Diskussion der Zugangsrechte zu Arbeitsmärkten für sog. neue EU-Mitgliedsländer. Die in diesem Kapitel beschriebenen analytischen Vorgehensweisen basieren auf einem konstruktivistischen Raumverständnis, das neben einer essentialistischen Sichtweise von Raum auch alle Arten von sozialen Beziehungen – einschließlich der innerethnischen, familiären, etc. – als soziale Herstellungsleistungen zur Diskussion stellt. Der soziologische Ertrag, der durch eine solche Debatte erzielt werden kann, wird insbesondere dann deutlich, wenn Raumrelationen mit einem Bezug auf soziale Ungleichheit hinterfragt werden, wie dies in der raumtheoretischen Arbeit von Markus Schroer eingefordert wird. Neben diesem Ertrag für eine soziologische Perspektive trägt ein konstruktivistischer Zugang zu migrationsspezifischen Fragestellungen auch dazu bei, dass die Ressource Ethnizität und ihre Bedeutung für die AkteurIn nen untersucht werden kann. Dies wird in der Untersuchung von Andreas Pott (Pott 2ŪŪ2a) deutlich, der zeigt, dass MigrantInnen selbst aus unterschiedlichsten Gründen und je situationsspezifisch auf Ethnizität verweisen. Dabei kann Ethnizität in der eigenen Situierung auch keine Rolle spielen – auch diesen Fall hat Pott in seiner sozialen Einbettung beleuchtet. Dabei gelingt es ihm, die Annahme der Heterogenität vermeintlich einheitlicher sozialer Gruppen von MigrantInnen zu hinterfragen: Obwohl sich die von ihm interviewten Personen aufgrund einer Betrachtung ihrer soziodemographischen Merkmale nur minimal voneinander unterscheiden, zeigt Pott Unterschiede in den Selbstbeschreibungen und Handlungsweisen der untersuchten „BildungsaufsteigerInnen“ mit türkischem Migrationshintergrund auf. Dabei legt Andreas Pott in seiner fallspezifischen Analyse besonderen Wert auf die Rekonstruktion der Bedeutung von Ethnizität und Raum. Ausgangspunkt ist für ihn ein handlungstheoretischer und systemtheoretischer Rahmen, von dem ausgehend er seinen methodologischen Zugang entwirft. Im Zentrum seines Forschungsinteresses steht ein Verständnis für soziale Aufstiegsprozesse der Zweiten Generation türkischer ZuwandererInnen in
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Deutschland, die er mittels qualitativer Interviews untersucht. Dieser Zugang bietet sich an, da bislang kaum Wissen dazu existiert, unter welchen Umständen und mit welchen Konsequenzen ein derartiger sozialer Aufstieg von Angehörigen der Zweiten Generation verbunden ist. Hierfür wählt der Autor einen rekonstruktiven Zugang, wobei er extensive Feldaufenthalte mit Interviews mit AbiturientInnen in der Dortmunder Nordstadt und mit StudienanfängerInnen der Zweiten Generation türkischer ZuwandererInnen kombinierte (vgl. Pott 2ŪŪ2a, ū55ȹff.). Ergänzend führte er auch Gespräche mit LehrerInnen und anderen beteiligten Personen. Zentral war ihm dabei, die Handlungspraxis der untersuchten Personen mittels Sequenzanalyse nach Ulrich Oevermann (vgl. Pott 2ŪŪ2a, ūű3) zu rekonstruieren; jene Handlungspraxen werden in seiner Studie anhand von acht Einzelfalldarstellungen verdeutlicht. Dabei ist für Pott die Frage nach der Bedeutung ethnischer Kontakte etwa für die jeweiligen Untersuchungspersonen zentral (für die folgenden Absätze siehe Pott 2ŪŪ2a, 4Ū8ȹff.): ȡ
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Die „Multikulturalistin“ nutzt ihre vielfältigen kulturellen und sprachlichen Kompetenzen bereits zur Erlangung des Abiturs sowie für ihr anschließendes Pädagogikstudium. Die nach Potts Analyse typischen Schwierigkeiten und Unsicherheiten im Zuge derartiger Aufstiegsprozesse kann sie immer wieder durch die Aktivierung eines multikulturellen Diskurses meistern; auch ihre Sprachkenntnisse im Türkischen begleiten ihre Bildungskarriere konstant. Privat sowie im universitären Kontext kann sie über die Figur der Multikulturalistin die zunehmende Entfernung zu ihrem Herkunftskontext bewältigen; außerdem kann sie über dieses Bild soziale Beziehungen zu unterschiedlichen Individuen aufbauen und aufrecht erhalten, ohne ihre Bildungskarriere einerseits und ihre soziale Integration andererseits zu gefährden. Auch der „lokale Identitätspolitiker“ nutzt die Außenwahrnehmung seiner Person als Experte und Vermittler zwischen „den Kulturen“ und baut diese Rolle noch weiter aus, indem er in einem lokalen Disput rund um Gebetsrufe in dem Stadtviertel eine zentrale Stellung einnimmt. Dadurch gelingt es ihm, öffentliche Anerkennung zu erlangen und ermutigt ihn, auch in anderen Kontexten die Rolle des Vermittlers und Experten einzunehmen. Beim „Milieutheoretiker“ hingegen haben Erfahrungen des Scheiterns oder dem für den sozialen Aufstieg als notwendig empfundenen DistanzHaltens mit früheren FreundInnen und Bekannten dazu geführt, dass er stets darauf achtet, bestimmte Stadtviertel und soziale Kreise zu meiden. Ethnische Unterscheidungen verbindet er mit Problemen – und versucht
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sich daher von der Thematik fernzuhalten. Sein eigenes Handeln wird von dieser Prämisse geprägt: So ist es sein Ziel, aus dem von ihm als „belastet“ empfundenen innerstädtischen Wohnviertel in einen Vorort zu ziehen. Diesen Umzug verbindet er mit der Hoffnung, Aufstiegsschwierigkeiten zu umgehen bzw. zu bewältigen, da er diese als milieuspezifisch deutet. Auch seine Entscheidung, einen Schulabschluss nachzuholen und anschließend zu studieren, geht auf seine Milieutheorie zurück, was seinem Bildungsaufstieg zu Gute kommt. Auch der von Pott als „Autoethnologe“ bezeichnete Interviewpartner hat ähnliche Erfahrungen mit dem Abbruch seiner eigenen Bildungskarriere wegen unzureichender Leistungen kurz vor dem Abitur machen müssen. Zum Zeitpunkt der Interviews kann er innerhalb eines alevitischen Kulturvereins1ř0 Aufstiegserfahrungen als Leiter einer Jugendgruppe machen. Aufgrund seines Engagements im Verein wird er in diesem Umfeld als Lehrer und Intellektueller anerkannt, wobei er diese Rolle aufgrund seiner diskursiven Fähigkeiten einnehmen kann; inhaltlich beharrt er dabei auf ethnischen Unterscheidungen zwischen Aleviten und Sunniten bzw. Aleviten und Deutschen. Durch die Anerkennung im Verein gelingt es ihm auch, seine formelle Bildungskarriere wieder aufzunehmen, während er gleichzeitig sein Engagement im Verein zurücknimmt. Die „Rücksichtsvolle“ schafft es durch ihre kompromissbereite Art sowohl den Ansprüchen eines Medizinstudiums, wie auch jenen ihrer Familie an sie als Tochter, Schwester, etc. gerecht zu werden. Durch ihre respektvolle Umgangsformen und ihre deutlich gelebte Loyalität gegenüber ihrer Familie kann sie trotz der zunehmenden Bildungsentfernung im Vergleich zu ihrer Herkunftsfamilie einen beständigen sozialen Kontakt friktionsfrei aufrecht erhalten und wird so von ihrem sozialen Umfeld in ihrem Studium unterstützt. Der „verletzte Aufsteiger“ hingegen konstruiert eine scharfe Trennlinie zwischen diskriminierten AusländerInnen, die in Ghettos leben und diskriminierenden Deutschen sowie Assimilierten, die in den Vorstädten wohnen. Auf dieser Grundlage kann er seine eigenen biographischen Erfahrungen des sozialen Ausschlusses und der Statusinkonsistenz deuten; gleichzeitig schöpft er aus dieser Sichtweise Kraft für seine weitere Bildungslaufbahn. Für ihn sind trotz seiner bisher erfolgreichen Bildungs-
Bei diesem Kulturverein handelt es sich um dieselbe Institution, den der bereits beschriebene „Milieutheoretiker“ als jenen Ort nennt, dem es seiner Ansicht nach zu entkommen gilt, um sozial aufzusteigen.
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karriere gewisse Trennlinien der Diskriminierung unüber windbar, weshalb er eine offene Konfrontationshaltung einnimmt. Der Fall des „Nonkonformisten“ zeigt, dass die biographische Absenz von Diskriminierungserfahrungen und die Irrelevanz von Ethnizität für den erfolgreichen sozialen Aufstieg kombiniert werden kann mit einer selbstbewussten Widerstandshaltung, die der Nonkonformist ebenfalls im bereits genannten alevitischen Kulturverein auslebt. Für ihn ist dieser Verein Teil einer Subkultur, in der er seine Kritik an herkömmlichen Deutungsmustern zu Ethnizität und Migration formulieren und diskutieren kann. Abschließend ist der zu den bisher beschriebenen Typen kontrastierende Fall des „Kosmopoliten“ zu nennen, der auf jeden Verweis auf Ethnizität oder soziale Herkunft verzichtet und sich konsistent als Intellektueller darstellt, der sich erfolgreich in einem kompetitiven akademischen Umfeld bewegt.
Diese Fälle wurden von Andreas Pott derart ausgewählt, dass sie zueinander in größtmöglichem Kontrast stehen, um so das Handlungsspektrum einer vermeintlich homogenen Gruppe sichtbar zu machen. Bezogen auf assimilationstheoretische Annahmen legen die Ergebnisse nahe, dass die Bedeutung innerethnischer Beziehungen bzw. ethnisierte Selbstbeschreibungen soziologisch zu hinterfragen sind. Während in der zuvor diskutierten Studie von Hartmut Esser bereits ex ante und generalisierend davon ausgegangen wurde, dass innerethnische soziale Beziehungen und ethnische Selbstzuschreibungen Ausdruck von Segregation sind und somit Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft verhindern, zeigt die Fallrekonstruktion von Andreas Pott, welche unterschiedlichen Bedeutungszusammenhänge mit ethnischen Beziehungen oder Selbstbeschreibungen verknüpft sein können. Potts Vorgehen belegt dabei auch, inwiefern die Analyse von kommunikativ hergestellten Raumbezügen – sowohl in den Annahmen der SozialwissenschaftlerInnen als auch in den Handlungsbezügen und Selbstbeschreibungen der untersuchten Personen – eine wichtige Hilfestellung sind, um zu differenzierten Interpretationsergebnissen zu gelangen. Ein derartiges Vorgehen, das den Raum als gesellschaftliches Konstrukt auffasst, das über Kommunikation hergestellt und verändert wird, befähigt den Autor dazu, den historischen, gruppenspezifischen und sozialen Funktionswandel von Ethnizität zu untersuchen. Aufgrund dieses theoretischen Ansatzes kann er zeigen, welche biographischen und situativen Bedeutungen ethnische Selbstbeschreibungen haben können bzw. wann Personen (trotz vergleichbarer sozioökonomischer Ausgangslage) darauf verzichten, auf Eth-
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nizität zu verweisen. So wird auch der Stellenwert des sozialen Netzwerks (ethnisch und nicht-ethnisch) deutlich, was wiederum die Forschungspraxis infrage stellt, einheitliche Bedeutungszusammenhänge zwischen spezifisch ausgeprägten ethnischen Netzwerken und der sozialen Integration von MigrantInnen zu postulieren. Die soziologisch interessante Frage der alltagsrelevanten Auswirkungen inner- und gemischtethnischer Beziehungen kann auf dieser Basis mit neuen Einsichten im Vergleich zu bisherigen assimilationsund integrationstheoretischen Arbeiten verhandelt werden.
5.2.4
Zusammenfassung
Dieses Kapitel befasste sich mit den Raumannahmen, mit denen sich SozialwissenschaftlerInnen an die Untersuchung des Themas der Migration annähern. Bei der Durchsicht migrationsspezifischer Arbeiten fällt auf, dass auch MigrationsforscherInnen meist implizit von essentialistischen Raumkonzepten ausgehen. Auf diesen beruhen der überwiegende Teil unserer Begrifflichkeiten, Konzepte, Forschungsdesigns und Interpretationen in der einschlägigen Forschung. Auch relationale Raumvorstellungen lassen sich häufig rekonstruieren – wobei die Rekonstruktion des Raumverständnisses fast in allen zitierten Arbeiten notwendig war, da sich MigrationsforscherInnen nur in Einzelfällen mit der Raumthematik auseinandersetzen. Am seltensten bin ich in meiner Recherche auch aufseiten der MigrationsforscherInnen auf konstruktivistische Annahmen zum Raum gestoßen1ř1. In jedem Fall ist es auffällig, wie die meisten MigrationsforscherInnen in den untersuchten Arbeiten reflektiert oder unreflektiert ebenso wie ihre Untersuchungssubjekte zwischen unterschiedlichen Konzepten hin- und herwechseln. Dies lässt sich mit dem Programm der Sozialwissenschaften begründen, empiriebasiert soziale Prozesse nachzuvollziehen und so die situative Art und Weise, wie Raumvorstellungen in der Empirie zum Tragen kommen, abzubilden. Allerdings werden die (impliziten) Raumvorstellungen von MigrationsforscherInnen problematisch, wenn sie existierende Machtkonstellationen aufgrund ihrer Annahmen zu Raum nicht aufdecken, sondern bei deren ‚Verschleierung‘ und Naturalisierung helfen: Wenn etwa MigrantInnen im Sinne politischer Zuordnungen als „die Anderen“ gesehen werden und 1ř1Ȳ
Im Übrigen soll an dieser Stelle nicht außer Acht gelassen werden, dass sich in der raumtheoretischen Literatur unterschiedliche Einschätzungen zur Dominanz und Relevanz der unterschiedlichen Raumkonzepte finden.
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so Fragen nach sozialer Ungleichheit bezüglich Zuwanderung erst gar nicht gestellt werden. In diesem Zusammenhang kann etwa auf die Arbeit von Anja Weiss (Weiss 2ŪŪ2) hingewiesen werden, die deutlich macht, dass sich ein Widerspruch auftut zwischen den Werten der Moderne (etwa: sozialer Aufstieg über Leistung) und der sozialen Realität in der staatlichen Behandlung von MigrantInnen, da im letzteren Fall die (zugeschriebene nationale) Herkunft über In- und Exklusion entscheidet. Diese impliziten Annahmen vieler MigrationsforscherInnen kollabieren jedoch, sobald ein raumsensibles Vorgehen angepasst an den jeweiligen Forschungsgegenstand zum Einsatz kommt. Dadurch können dann etwa auch Untersuchungen, die nationale Container für sich genommen analysieren oder als solche miteinander vergleichen, infrage gestellt werden. Dass ein derartiges Vorgehen durchaus neue Einsichten liefert, hat etwa die soeben zitierte Studie von Anja Weiss (Weiss 2ŪŪ2) gezeigt: Sie untersuchte soziale Ungleichheit über nationalstaatliche Grenzen hinweg, da sie von der berechtigten Annahme ausgeht, dass es inzwischen eine Reihe von AkteurInnen gibt, die einem Nationalstaat nicht mehr ohne Weiteres zugeordnet werden können. Bei einem solchen Vorgehen wird sichtbar, dass der Geburtsort nach wie vor über die soziale Plazierung entscheidet – sodass der provokante Vergleich mit dem indischen Kastensystem zumindest einen Diskussionseinstieg bietet: Ständische Zuordnungen mögen in Europa längst keinen Einfluss mehr auf den Lebensverlauf haben – die Frage der (konstruierten) Herkunft bzw. der Staatsangehörigkeit sollte MigrationssoziologInnen und UngleichheitsforscherInnen weiterhin bewusst sein – es ist mit Sicherheit eines der wichtigsten global sozial strukturierenden Merkmale der Gegenwart schlechthin. Obwohl dieser Hinweis banal erscheinen mag – in der öffentlichen Diskussion wie bei sozialwissenschaftlichen Beiträgen kommt dieser grundlegende und einfache Aspekt dennoch häufig zu kurz. Eine andere Problematik in der Verwendung unreflektierter Raumkonzepte in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung liegt in der Verstärkung bestehender sozialer Ungleichheiten entlang ethnisierter Linien. Ähnlich wie Michael Bommes (Bommes ūųųŰ) für die kulturwissenschaftliche Migrationsforschung angemerkt hat, ist hier sowohl die quantitativ wie die qualitativ orientierte Untersuchungslandschaft in die Pflicht zu nehmen: Häufig sind wir vorschnell mit einem Untersuchungsergebnis zufrieden, sobald eine ethnische Variable als augenscheinliche Erklärung einmal (vermeintlich) identifiziert ist. Aufgabe einer ernsthaften Migrationssoziologie müsste es jedoch sein, Ethnizität als soziales Konstrukt ernst zu nehmen und daher auch die Bedeutungszuweisungen und Instrumentalisierungen zu untersuchen,
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die mit Ethnizität verbunden sind – und zwar von unterschiedlichen Gruppierungen und auf verschiedenen Ebenen sozialer Realität. Dasselbe gilt im Übrigen für den territorialen methodologischen Nationalismus. Der analytische Zugang über eine raumsensible Methodologie in der Migrationsforschung kann bei diesem Unterfangen eine wichtige Hilfestellung sein. Raumtheoretisch unspezifisches Forschen ist mit einer weiteren Schwierigkeit konfrontiert: Wie am Beispiel der Studie von Oliver Hämmig gezeigt wurde, kann die Reduktion vielfältiger Raumannahmen (der Interviewten) auf essentialistische Räume (durch ForscherInnen) zu vielfältigen Fehlinterpretationen führen. In diesem Fall besteht die Gefahr, Defizitdiskurse in der Migrationsforschung aufgrund eines vergleichbaren Vorgehens weiter zu stützen. Dabei soll jedoch nicht verhehlt werden, dass ein raumsensibles Vorgehen keineswegs ein simples Vorgehen ist: Das zeigt sich deutlich in der Studie von Jens Dangschat et al. (Dangschat, Gruber et al. 2ŪŪŰ), die in einem hoch elaborierten theoretischen Teil die raumspezifischen Grundlagen für ihre Feldarbeit darlegen. Doch bereits in der Auswahl der Untersuchungsorte zeigt sich, dass diese Überlegungen empirisch nicht umgesetzt werden. Dies ist an sich noch nicht die Problematik – schwierig wird die Sache, wenn dieses Auseinanderklaffen der eigenen theoretischen Ansprüche hie und der Umsetzung da nicht kritisch thematisiert werden. Eine derartige Diskussion wäre insofern auch interessant, um zu klären, in welchen Fällen (eines segregationsanalytischen Ansatzes) der Aufwand eines raumsensiblen Vorgehens kaum zu einem analytischen Mehrwert einer Untersuchung beiträgt. Als aufschlussreich haben sich die Thesen von Markus Schroer und Andreas Wimmer erwiesen, wenn sie auf eine raumsensible Migrationsforschung bezogen werden: Wir haben es mit neuen Grenzziehungen zu tun, mit Öffnungen und Schließungen, die Räume auf unterschiedlichen Ebenen betreffen. Im Alltagsverständnis unhinterfragte Raumannahmen schließen immer auch soziale Machtverhältnisse mit ein, was an vielfältigen Beispielen rund um die Bedeutung des Nationalstaats deutlich wird. Genau dieser Frage wird im folgenden Kapitel unter anderem nachgegangen, das sich mit Raumkonzeptionen auf der Ebene sozialer Systeme auseinandersetzt.
5.3
Systemimmanente Raumkonzeptionen
Bei den beiden bereits diskutierten Ebenen der Raumkonstruktionen von AkteurInnen im Alltag und von MigrationsforscherInnen, an denen eine raumsensible Analyse ansetzen kann, schwingt eine dritte Dimension mit, die
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bisher noch nicht explizit angesprochen wurde: Beide bereits diskutierten Ebenen sind geprägt von historisch gewachsenen Raumkonzeptionen. Diese strukturellen Raumkonzeptionen werden durch Interaktionen und Deutungsvorgänge von Individuen selbst bestärkt oder verändert – ein Phänomen der wechselseitigen Abhängigkeit, das im Sinne von Anthony Giddens’ (Giddens ūųų5, űű) Theorem der Dualität von sozialer Struktur1řŘ zu verstehen ist. Räume entstehen demnach erstens durch die Verknüpfungsleistungen von Menschen selbst, wobei mit dieser Verknüpfung „meistens auch eine Plazierung“ (Löw 2ŪŪū, ū58) einhergeht. Diese Plazierung geschieht unter vorstrukturierten Bedingungen und sie hat letztlich Einfluss auf Stigmatisierung. Auch regelt sie den Zugang zu Ressourcen, wodurch soziale Ungleichheit (re-)produziert wird1řř. Markus Schroer (Schroer 2ŪŪŰ) weist darauf hin, dass sowohl Prozesse des Schließens von Räumen sowie die Schaffung von Räumen zu beobachten ist. Mit sozialen Prozessen der Öffnung und Schließung ist auch die Etablierung neuer sozialer Grenzziehungen verbunden. Diese Vorgänge sind auch auf der Ebene von Institutionen bzw. sozialen Systemen zu beobachten.
5.ř.ŗ
Der Nationalstaat und seine sozialen Institutionen
Für das Migrationsgeschehen von herausragender Bedeutung auch bezüglich derartiger Grenzziehungen sind etwa die alltagstauglichen Vorstellungen von einer „natürlichen“ geographischen Einteilung der Weltoberfläche in Nationalstaaten (vgl. auch obige Diskussion des methodologischen Nationalismus bei Wimmer und Glick Schiller, 2ŪŪ2). Essentialistische Vorstellungen von nationalen Grenzen werden für AkteurInnen im Alltag noch in ihrer Bedeutung verstärkt, sobald sich eine Person mit einer nicht-privilegierten Staatsangehörigkeit von Süd nach Nord oder von Ost nach West bewegen oder gar auswandern möchte: Staatsgrenzen werden da – je nach Staatsangehörigkeit – zu ernst zu nehmenden Barrieren für die Mobilität, was wiederum die Wahrnehmung von Nationalstaaten als containerhafte Räume im Alltag verstärkt. Die allgemeine Akzeptanz dieser weltweiten sozialen Unterschiede ist nur über Raumkonzeptionen zu verstehen: Wir haben in unserer Alltagswahrnehmung gelernt, zwischen den Rechten privilegierter StaatsbürgerInnen hie und diskriminierten StaatsbürgerInnen bzw. Staatenlosen da zu unterscheiden, ohne diese soziale Unterscheidung weiter zu problematisieren. Wie brüchig eine 1řŘȲ
Vgl. hierzu Kapitel Ř.Ř.ř.ś. Vgl. hierzu Kapitel Ř.Ř.ř.ś.
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derartige im Alltagsleben schlüssige Sichtweise von Raum im Kontext sozialwissenschaftlicher Migrationsforschung wird, habe ich bereits im vorangegangenen Kapitel diskutiert. Im Kontext von sozialen Grenzziehungen bringt Markus Schroer (Schroer 2ŪŪŰ, ū8Ū) die Überlegung ein, dass wir es generell mit einem Grundbedürfnis nach Unterscheidung zu tun haben. Für diese Argumentationslinie lassen sich gute und schlüssige Argumente liefern – eine soziologische Migrationsforschung müsste meiner Ansicht nach jedoch noch einen Schritt weiter gehen in der Analyse, indem sie hinterfragt, welche Unterscheidungen wir momentan als gerechtfertigt akzeptieren – und welche nicht. An dieser Stelle zeichnet sich sozialer Wandel in Gesellschaften ab, der soziologisch zu thematisieren ist, um bestehende Ungleichheitskonstellationen nicht noch zusätzlich mit migrationswissenschaftlicher Forschung zu bestätigen. Von einem raumsensiblen Standpunkt in der Migrationsforschung können derartige soziologische Ansätze hinterfragt werden, da Machtfragen und Fragen nach der sozialen Etikettierung neu gestellt werden können. Nationale Grenzziehungen beeinflussen auch das Leben jener zahlreichen Menschen weltweit, die sich zwar ohne gültige aufenthaltsrechtliche Papiere etwa in Westeuropa aufhalten, aber dennoch einer Arbeit nachgehen und oft jahrelang ihren Lebensalltag entsprechend ausgestalten. Häufig versuchen Personen in dieser Situation für sich wenigstens eine Form von Halblegalität herzustellen. Empirische Studien in Deutschland und Österreich haben gezeigt, dass undokumentierte MigrantInnen (insbesondere in privaten Haushalten Beschäftigte) regelmäßig alle drei Monate das Territorium nachweislich verlassen, um dann wieder mit einem Touristenvisum aus ihrem Herkunftsland kommend einzureisen. Damit wird das Alltagshandeln dieser Personen in der Raumdimension stark von jenen Containerraumannahmen beeinflusst, die die Institutionen des Nationalstaats großteils auszeichnen. Eine sozialwissenschaftliche Analyse hat daher die Aufgabe, diese institutionell forcierten Raumstrukturen zu hinterfragen: Welche Funktion haben derartige RaumstrukturenȺ? Wie wirken sieȺ? Wie beeinflussen sie das Leben der betroffenen MenschenȺ? Wie beeinflussen sie soziale UngleichheitȺ? Ein Beispiel solcher Überlegungen stellen die Arbeiten von Helma Lutz (Lutz 2ŪŪ3) dar: Aufbauend auf den Arbeiten von Manuel Castells (Castells ūųųű; Castells ūųų8) weist sie darauf hin, dass heute nicht nur Kapital, Güter und Informationen weltweit mobil sind, sondern dass wir es auch mit Prozessen einer „Transnationalisierung von Versorgungsleistungen“ (Lutz 2ŪŪ3, 254) zu tun haben. Einen beträchtlichen Einfluss auf die alltäglichen Praktiken der von Helma Lutz und anderen SoziologInnen (für Österreich etwa Haas
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2ŪŪ3; Haidinger 2ŪŪ4) untersuchten Migrantinnen, die in Haushalten arbeiten, haben die unterschiedlichen nationalen rechtlichen Regelungen innerhalb der Europäischen Union, die eine Praxis des Aufenthalts entweder zu einem legalen, illegalen oder semilegalen machen. Dabei scheint der private Haushalt aufgrund geschlechtsspezifischer Zuschreibungen für Migrantinnen ein „sicherer Ort“ zu sein, um etwa arbeits- und aufenthaltsrechtlichen Kontrollen zu entgehen (vgl. Lutz 2ŪŪ3, 25ű). Diese Arbeit wird kaum behördlich überprüft und bleibt in der Öffentlichkeit großteils unthematisiert. Während ein undokumentiert arbeitender Bauarbeiter im öffentlichen Diskurs als Gefährdung für den Arbeitsplatz eines „Einheimischen“ gedeutet wird, ist der Arbeitsplatz, den die Migrantin einnimmt, allemal keiner „Einheimischen“ zuzumuten. Daher wird er ihr (momentan noch) nicht streitig gemacht, sondern im Gegenteil: Diese Frauen werden teilweise als dringend gebrauchte Unterstützung angesehen. Die genannten Analysen zeigen auch die Verwobenheit von privater und nationalstaatlicher Sphäre, die eine besondere Bedeutung haben im Hinblick auf geschlechtliche Konstruktionen: Migrantinnen wird aufgrund ihres Geschlechts zugetraut, dass sie ihre Arbeit in privaten Haushalten gut erfüllen: Frauen, die selbst schon Kinder groß gezogen haben, wird die nötige Expertise in der Kinderbetreuung zugesprochen. Helma Lutz kommt in ihrer Studie zu der Auffassung, dass die von ihr untersuchten Migrantinnen in einer Art Zwischenwelt leben, die sie als „Twilight-Zone“ bezeichnet. Dieses Areal zeichnet sich durch die vielfältige Fragilität, Unsicherheit und Illegalität aus. Um mit dieser Situation umzugehen, organisieren sich viele Frauen etwa in Gruppen, um die Putzarbeiten in mehreren Haushalten abwechselnd zu erledigen. Dies hat auch den Vorteil, dass sie ihre (Herkunfts-)Familie vergleichsweise häufig besuchen können – doch auch eine Menge offensichtlicher Nachteile: Eine wohlfahrtsstaatliche Absicherung ist in jenem Land, in dem sie arbeiten, nicht gegeben. Im Krankheitsfall erhalten sie weder Krankengeld, noch können sie auf Basis einer Versicherungsleistung ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Viele können jedoch in ihrem Herkunftsland auf eine minimale Krankenversorgung aus dem staatlichen System zurückgreifen, was jedoch unter anderem bedeutet, dass sie bei einer Erkrankung in Deutschland eine mitunter beschwerliche Rückreise antreten müssen. Was die Migration von Frauen aus osteuropäischen Ländern unter diesen Bedingungen nationalstaatlicher Regulierung auszeichnet, hat Mirjana Morokvasic bereits im Jahr ūųų4 beschrieben: Pendelmigration ist für sie demnach eine Strategie, dort zu bleiben, wo diese hochmobilen Personen immer schon gelebt haben. Das heißt, sie pendeln ins Ausland, um in ihrem Her-
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kunftsland ihre Zukunft bzw. die ihrer Familie abzusichern. Sie werden somit zu „transnational commuters“ (Morokvasic 2ŪŪ3, ū2ű), die durch ihre grenzüberschreitende Mobilität transnationale soziale Felder aufbauen. Diesen Charakter der Migration bestätigen auch jüngere Studien zur Lebenssituation von Au-Pairs in Deutschland aus Mittel- und Osteuropa (Hess 2ŪŪ3a): Kaum eine Frau beabsichtigt, lebenslang Kinder im Ausland zu betreuen. Vielmehr handelt es sich um eine flexible und befristete Mobilität, die sich im Lauf des Aufenthalts aufgrund der äußeren Bedingungen verändert. Allerdings fand auch Hess in ihrer empirischen Untersuchung, dass die Hoffnung, bald wieder zurückzukehren, oft nicht realisiert wird. Dabei zeigt sich, dass Legalität ein bestimmendes Thema für Migrantinnen in der Europäischen Union ist – wenn die Problemlagen auch je nach nationaler Gesetzgebung unterschiedlich gelagert sind. Für marokkanische Frauen, die in Italien als Haushaltsarbeiterinnen arbeiten, führt Ruba Salih (Salih 2ŪŪū) aus, wie groß die Abhängigkeit der Mobilitätsform von den gesetzlichen Regelungen des Aufenthalts ist. Auch für die von ihr untersuchten Frauen ist es essentiell, legal im Land zu sein, weil mit der Illegalität der zeitliche, finanzielle und organisatorische Aufwand einer Ein- und Ausreise beträchtlich steigt. Hess fand in ihrer Untersuchung zu osteuropäischen Au-pairs in Deutschland, dass viele der jungen Frauen parallel in Deutschland arbeiteten, um Geld zu verdienen und in ihrem Herkunftsland ihre Chancen am Arbeitsmarkt und für einen Eintritt an einer Universität abtesteten. Damit bekommt das Pendeln eine andere Bedeutung als jene, die ihm häufig zugeschrieben wird – etwa als Ausdruck von unentschlossenem, wenig selbstbestimmten Verhalten: Sabine Hess interpretiert die Alltagspraxis der von ihr interviewten Frauen als „zweckrationale, risikominimierende Strategie, den transnationalen Raum in seiner Breite auszunutzen und abzuwägen, wo die Chancen gerade am günstigsten stehen.“ (ebd., 3Ūű). Somit kann Sabine Hess „strategische und eigensinnige Praxen“ (ebd., 3ŪŰ) ausmachen, die sich zwar durch individuelle Unterschiede aber dennoch in spezifischen Mustern darstellen lassen. Diese transnationale Strategie ist insofern plausibel, als die untersuchten Frauen mit dem sozialen Risiko der Dequalifikation zu kämpfen haben – sowohl als Au-pair in Deutschland, falls sich diese Situation verfestigt, also auch in der Slowakei, wenn sie keinen ihrer Ausbildung entsprechenden Posten bekommen oder nicht an einer Universität studieren können. Diese Situation steht in einem engen Zusammenhang mit der soziopolitischen Transformation nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Diese Frauen haben miterlebt, wie die Qualifikationen ihrer Eltern plötzlich nichts mehr zählten und viele von ihnen in kürzester Zeit ihre Arbeitsplätze verloren, bzw. mit ihrem Gehalt
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kaum noch über eine nennenswerte Kaufkraft verfügten. Es gibt einen breiten Konsens der interviewten Au-pairs und ihrer Eltern, dass Auslandserfahrung „im Westen“ und das Erlernen einer „westlichen“ Sprache wichtiges kulturelles Kapital ist, um sich in Zukunft vor sozialem Abstieg, Arbeitslosigkeit und Armut zu schützen (Hess 2ŪŪ3b, 3). Gleichzeitig sind viele der Frauen in der Situation, dass sich der zunächst für ein Jahr geplante Aufenthalt immer wieder verlängert – und sie sich mit der Gefahr einer Verfestigung ihrer Rolle der Hausarbeiterin konfrontiert sehen. Ihre Mobilitätspraktiken, mit denen sie nationale Grenzen überschreiten, ermöglichen ihnen auch die Teilhabe in Netzwerken in zwei Nationalstaaten. Dies ist darauf ausgelegt, die Risiken eines sozialen Abstiegs hie wie da möglichst gering zu halten. Ein Aspekt, der bislang vor allem in der Debatte rund um Transmigration in den USA eine bedeutende Rolle spielt, ist die Frage nach der Beteiligung an der (Um-)Bildung des Nationalstaats durch die MigrantInnen. Für Europa gibt es diesbezüglich bislang nur wenige empirische Studien, wobei mit einem derartigen Fokus durchaus neue Einsichten zu gewinnen sind, wie eine der Ausnahmen für die europäische Seite der diesbezüglichen Forschung bezüglich der politischen Einbindung von MigrantInnen in der Ukraine belegt: Je nach Schätzungen wird angenommen, dass von den 28 Millionen UkrainerInnen im arbeitsfähigen Alter1řŚ zwischen zwei und sieben Millionen UkrainerInnen im Ausland (und dabei großteils in der EU) als zarobitchany (GastarbeiterInnen) arbeiten (Keryk 2ŪŪ4). Die EmigrantInnen wurden in den ukrainischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2ŪŪ2 explizit angesprochen, wobei BeobachterInnen davon ausgehen, dass diese Gruppe sowie die politische Debatte um EmigrantInnen auch entscheidend zum Wahlausgang beigetragen hat. Der Großteil verfügt dabei nicht über einen legalisierten Status, was aufenthaltsund arbeitsrechtliche Bestimmungen angeht. Frauen arbeiten hauptsächlich in Italien und Griechenland, wo sie als Hausarbeiterinnen, Babysitterinnen oder Reinigungskräfte tätig sind. Männer hingegen sind eher in Portugal im Baugewerbe tätig (vgl. Keryk 2ŪŪ4, ū). Eine Studie zu den Geldsendungen von UkrainerInnen, die in Italien arbeiten, ergab, dass mehr als ein Drittel (4Ū,5ȹ%) monatlich zwischen 4ŪŪ und ŰŪŪ USǠ in die Ukraine schickten1řś. Die Mehrheit 1řŚȲ
Insgesamt beträgt die Gesamtbevölkerung der Ukraine Ś9,7 Millionen. Die Schätzung der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter geht auf Angaben der Universität Leipzig zurück http:// www.uni-leipzig.de/media-analyst/Wpa-Start/osteuropa/ukraine/ukraine.html. 1řśȲ Diese Daten werden von Keryk (Keryk Ř00Ś: Ř) zitiert mit Verweis auf eine Studie des Western Ukrainian Center „Women’s Perspectives“. Weiters wird angeführt, dass jeweils Şȹ% der Befragten 100 US$ bzw. zwischen 600 und Ş00 monatlich sandten; Řȹ% 100Ⱥ–ȺŘ00 US$, 1Şȹ% Ř00Ⱥ–ȺŚ00 US$ und ř,śȹ% über Ş00 US$.
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dieser MigrantInnen plante eine endgültige Rückkehr in die Ukraine und investierte daher in eine Eigentumswohnung oder in ein Haus1ř6. Neben dieser enormen wirtschaftlichen Bedeutung der ArbeitsmigrantInnen für die Ukraine hat sich im Parlamentswahlkampf 2ŪŪ2 auch eine politische Komponente bemerkbar gemacht1ř7, zumal der Parteiblock „Unsere Ukraine“ sich als Sprachrohr der MigrantInnen gerierte. Dabei ist bemerkenswert, dass die Mehrheit der EmigrantInnen aus der Westukraine stammt und somit aus jenem Landesteil, aus dem auch die mehrheitliche Unterstützung für diese Partei kommt. Viktor Juschtschenko war auf diese Stimmen angewiesen – weshalb es wohl kein Zufall ist, dass er sich im Wahlkampf öffentlichkeitswirksam in Portugal für die Lage der illegalen ArbeitsmigrantInnen beim portugiesischen Premierminister einsetzte. Das Parteiprogramm „Vierte Welle“ hatte zudem die Aufgabe, die Probleme der ArbeitsmigrantInnen zu mildern und ihnen das Wahlrecht für die Präsidentschaftswahlen zuzusichern. Während sein Gegenspieler Leonid Kutschma 2ŪŪ2 eine heftige Debatte auslöste mit seiner Aussage, ukrainische Frauen, die in Italien arbeiten, wären allesamt Prostituierte, verwies Viktor Juschtschenko darauf, dass nur fleißige Menschen ins Ausland gehen, um Geld zu verdienen und dass UkrainerInnen, die sich dazu entschließen, dies aus einer verantwortungsvollen Haltung ihrer Familie gegenüber tun würden (vgl. Keryk 2ŪŪ4, 3). Die abwesenden und großteils wegen ihres illegalen Aufenthalts nicht wählenden UkrainerInnen im Ausland wurden so zu einem wichtigen Thema sowohl der Wahlen zum Parlament 2ŪŪ2 als auch bei den Präsidentschaftswahlen zwei Jahre später. Natalia Shostak bezeichnet sie sogar als „active political subjects“ bei der Wahl im Jahr 2ŪŪ4 (Shostak 2ŪŪ5, 8). Parallel dazu bildeten sich unter ukrainischen Arbeiterinnen in Italien politische Aktivitäten aus, die auch das in der Migration neu gewonnene Selbstverständnis und -bewusstsein dieser Frauen signalisieren (Shostak 2ŪŪ5, ū2). Welche Dynamiken sich daraus im Zusammenspiel mit den bedeutenden Geldsendungen, die von den Migrantinnen monatlich „nach Hause“ überwiesen werden, entwickeln, bleibt ein Forschungsfeld für die Zukunft. Allerdings ist bereits zum jetzigen Zeitpunkt festzustellen, dass grenzüberschreitende Praktiken von MigrantInnen auch in Europa eine politische Komponente haben, die einen zumindest indirek-
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Mit der momentanen Wirtschaftskrise ist davon auszugehen, dass sich die Lebenslagen, auf die diese Daten verweisen, in Veränderung befinden. Forschungsarbeiten zu den diesbezüglichen Auswirkungen stehen jedoch noch aus. 1ř7Ȳ Die folgenden Ausführungen zur politischen Situation in der Ukraine gehen auf die Beschreibungen von Myroslava Keryk (Keryk Ř00Ś) zurück.
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ten Einfluss der Ausgewanderten auf die politische Entwicklung in ihrem Herkunftsland haben. Interessant ist dabei, dass AkteurInnen nicht nur essentialistische Raumkonzepte aktivieren, die nahe legen würden, dass Ausgewanderte (wenn sie etwa keine Wahlberechtigung mehr für sich in Anspruch nehmen können) nicht mehr Teil eines Nationalstaats sind, sondern dass auch relationale Raumannahmen zu finden sind: Über die unterstützende Funktion der Ausgewanderten wird hier nach wie vor ein starker Bezug zwischen Ausgewanderten und Herkunftsland akklamiert, was teilweise auch in erweiterten Wahlrechten seinen Niederschlag findet. Diese empirischen Beispiele zeigen, wie Raumkonstruktionen auf einer systemischen Ebene die unterschiedlichen migrantischen Strategien und Deutungen der AkteurInnen beeinflussen. Die diskutierten systemischen Implikationen von Raum auf Ebene der Nationalstaaten innerhalb der Europäischen Union legen nahe, dass die EU-Grenzen sehr wohl durchlässig sind, allerdings nur an bestimmten Stellen und zu spezifischen Bedingungen. Van Houtum und Pijpers sprechen daher treffend von der Europäischen Union als einer ‚gated community‘ (Van Houtum und Pijpers, 2ŪŪ5). Damit wird die Ambivalenz in der europäischen Einwanderungspolitik angesprochen, die einerseits verbal und in sicherheitstechnischen Maßnahmen auf eine Abschottung gegen illegale Einwanderung setzt und wo andererseits die immer zahlreicher werdenden undokumentierten ImmigrantInnen in den Ländern der EU als billige, flexibel ausbeutbare Arbeitskräfte geduldet werden. Bei den nationalstaatlichen Regelungen und der gelebten Praxis im Umgang mit diesen MigrantInnen zeigt sich die Heterogenität der europäischen Zuwanderungspolitik: Während in südlichen Ländern der EU wie Spanien, Italien oder Portugal beispielsweise immer wieder Legalisierungskampagnen durchgeführt werden, ist ein derartiges Vorgehen in Mitgliedstaaten wie Deutschland oder Österreich momentan kaum denkbar. Mit unterschiedlichen Grenzziehungsprozessen in der europäischen Politik setzt sich auch Petra Deger auseinander, um das Phänomen der Europäisierung präziser zu fassen (Deger 2ŪŪŰ). Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass eine eindimensionale räumliche Logik (also Containerraumkonzepte) auf der Ebene der Europäischen Union nicht ausreicht, um die stattfindenden Veränderungsprozesse zu verstehen. Dabei werden in institutionellen Entscheidungsprozessen wie der Regionalförderung in der EU neue Räume und somit neue Grenzen erschaffen, obwohl es das deklarierte politische Ziel einer Europäisierung ist, Grenzen innerhalb Europas abzubauen. Hier bestätigt sich auch eine These von Andreas Wimmer, wonach die Entwertung existierender
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Grenzziehungen immer mit neuen Grenzziehungen einher geht (Wimmer 2ŪŪű). Diese neuen Grenzen sind nach Petra Deger im Falle der Europäischen Union aufgrund von neuartigen Räumen entstanden. Diese Räume bezeichnet sie als „Handlungs- und Kommunikationsräume“ (Deger 2ŪŪű, ūŰū), an denen vielfältige AkteurInnen mitarbeiten und diese mitbestimmen. Diese Räume erwachsen teilweise aus Nationalstaaten, konstituieren sich jedoch großteils unabhängig von der nationalstaatlichen Containerlogik. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit kommt Petra Deger zu dem Schluss: Das räumliche Strukturmuster der Europäischen Union ist komplex und mehrschichtig und lässt sich nach Innen nicht mit der Folie des am Nationalstaat orientierten Containerraum-Modells analysieren. (ebd., ūŰū)
Dabei weist Petra Deger auch jene Ansätze aus den vergangenen Jahrzehnten zurück, die versucht haben, Regionen unterhalb der nationalstaatlichen Ebene über ihre historische Entstehungsgeschichte zu definieren. Diese Ansätze waren deshalb nicht erfolgreich, weil sie sich im Gegensatz zu den EU-Strukturförderprogrammen nicht auf institutionelle Rahmungen stützen konnten. Daher waren sie zu schwach, um als Identifikationsschienen zu funktionieren. Die zitierte Autorin beendet an diesem argumentativen Punkt ihre Suche nach passenden Raumkonzepten und bescheidet den gängigen konstruktivistischen Ansätzen abschließend, dass sie auf die materiale Basis von Raumkonstitutionsprozessen zu wenig eingehen.
5.ř.2
Ein alternativer analytischer Zugang: Der Skalingansatz
Das Konzept von Skalierungsprozessen wurde von einer Reihe von GeographInnen, StadtplanerInnen und politischen ÖkonomInnen in den letzten Jahren ausgearbeitet (vgl. für einen Überblick Brenner 2ŪŪ4; Jessop 2ŪŪ5; Swyngedouw ūųųű). Im Zuge von Globalisierungsdiskursen verweisen diese AutorInnen auf die Ablösung sozialer Bindungen von ihren lokal-territorialen Wurzeln (vgl. hierzu Berking ūųų8; Berking 2ŪŪŰa; Swyngedouw ūųųű). Dabei werden die sog. „flows“ von Informationen, Waren und Menschen betont und mit ihnen die beschleunigte Zirkulation von Kapital, Bildern und Identitäten. Neil Brenner (Brenner ūųųű, ű) argumentiert in diesem Zusammenhang, dass für diese fließenden Prozesse fixe Gebilde notwendig sind, wie sie etwa in Form von Staaten und Megastädten bestehen. Damit werden in dem Diskurs
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zu Skalierungen strukturelle Elemente kombiniert mit Überlegungen des fließenden Austauschs wie etwa dem Konzept von Verbundenheit1řŞ. Erik Swyngedouw (ūųųű, ū4Ū) beschreibt den Charakter von Skalierungsprozessen folgendermaßen: Multiplicity of scalar levels and perspectives also suggests that scale is neither an ontologically given and a priori definable geographical territory nor a politically neutral discursive strategy in the construction of narratives. Scale, both in its metaphorical use and material construction, is highly fluid and dynamic, and both processes and effects can easily move from scale to scale and affect different people in different ways, depending on the scale at which the process operates. Similarly, different scalar narratives indicate different causal moments and highlight different power geometries in explaining such events. Scale is, consequently, not socially or politically neutral, but embodies and expresses power relationships.
Die zentrale These im Skalierungsdiskurs lautet somit, dass Prozesse der Reterritorialisierung von Formen territorialer Organisation wie Städten oder Staaten als wesentlicher Bestandteil der aktuellen Globalisierung zu sehen sind. Unter Reterritorialisierung sind Formen der Rekonfiguration, Restrukturierung und der Reskalierung zu verstehen. Reskalierung bezeichnet dabei nach Neil Brenner (Brenner ūųųű) die Veränderung der Beziehungen und Gewichtungen zwischen den verschiedenen Ebenen politischer und wirtschaftlicher Organisation. Grundlage für Brenners Argumentation sind Überlegungen David Harveys, wonach der Drang nach kontinuierlicher zeitlicher Beschleunigung des Kapitalumlaufes zu einer ‚Zeit-Raum-Kompression‘ führt, was die Produktion von Raum und räumlichen Konfigurationen voraussetzt (Harvey ūųųŪ). Die Perspektive der Skalierung und Reskalierung erlaubt es damit, Lokalität unter dem Aspekt der Interaktion von Machthierarchien in die Analyse mit einzubeziehen, die in engem Zusammenhang mit kapitalistischen Logiken der Akkumulation stehen. Wie wird nun Raum in diesem Skalierungsdiskurs theoretisch gefasstȺ? Konsequenterweise als eine Annahme, eine Arena und als Ergebnis einer sich kontinuierlich entwickelnden politischen Strategie (Brenner 2ŪŪ4). Bezogen auf den Staat und seinen Raum führt Brenner aus, dass
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Siehe etwa Jonathan Beaverstock (Beaverstock Ř00Ř) zur Bedeutung von „connectivity“ für das Entstehen von Weltstädten und Migration.
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the spaces of state power are not simply ‚filled‘, as if they were pregiven territorial containers, instead, state spatiality is actively produced and transformed through regulatory projects and socio-political struggles articulated in diverse institutional sites and at a range of geographical scales. (Brenner 2ŪŪ4, űŰ)
Der Skalierungsansatz nimmt damit die Idee eines Raums jenseits eines Containerraums auf – weshalb der Gedanke eines „Befüllens“ von Raum abgelehnt wird. Vielmehr wird von einem relationalen Raumverständnis ausgegangen, das von Machtgefügen geprägt ist. Damit wird die Veränderbarkeit von Raumkonfigurationen betont, allerdings auch auf die materialen Aspekte des Raumes hingewiesen. Ausgehend von Henri Lefebvres (Lefebvre ūųųū, (19űŮ)) Raumkritik gehen AutorInnen wie Neil Brenner vom sozialen Charakter von Raum und damit Skalierung aus. In der Migrationsforschung hat der Skalierungsdiskurs im soeben beschriebenen Sinn noch wenig Resonanz gefunden. Dies ist insofern kaum erstaunlich, als das Thema der Raumkonstruktion generell in der Migrationsforschung – wie bereits ausführlich diskutiert – wenig behandelt wurde. Es verwundert daher nicht, dass sich gerade zwei Forscherinnen, die sich (über die Analyse von Transmigration kommend) mit Raumfragen auseinandersetzen, das Konzept der Reskalierungen auf seinen Ertrag in der Migrationsforschung hin überprüfen. Bei diesen beiden Autorinnen handelt es sich um Nina Glick Schiller und Ayse Caglar, die sich einerseits in gemeinsamen Arbeiten und andererseits in Einzelaufsätzen und empirischen Studien, die im Folgenden kurz skizziert werden, mit dem Potential des Skalierungsansatzes für die Migrationsforschung auseinandergesetzt haben (vgl. zuletzt etwa die Beiträge im Sammelband Glick Schiller und Caglar 2ŪūŪ). Zusammen mit Thaddeus C. Guldbransen diskutieren die beiden Sozialwissenschaftlerinnen etwa in ihrem Beitrag „Jenseits der ‚ethnischen Gruppe‘ als Objekt des Wissens: Lokalität, Globalität und Inkorporationsmuster von Migranten“ (2ŪŪŰ), welche Effekte die Vernachlässigung des Aspekts der Lokalität für die Migrationsforschung hat. Als schwerwiegendste Konsequenz folgt daraus, dass MigrationsforscherInnen kaum dazu in der Lage sind, Inkorporationsmuster in ihren empirischen Studien abzubilden, die nicht auf Ethnizität beruhen. Unter Inkorporationsmodi verstehen die AutorInnen dabei aufbauend auf Annahmen aus der Sozialanthropologie der Manchester School, Bourdieus Arbeiten und dem US-amerikanischen Ansatz der Inkorporation von ImmigrantInnen einen sozialen „Prozess der Produktion oder Verstetigung sozialer Bezüge, durch die das Individuum oder die Gruppe/Organisation zum Teilnehmer in multiplen und diversen sozialen Feldern wird“ (vgl. Glick Schiller, Caglar
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et al. 2ŪŪŰ, ūŪų). Dabei kann eine einzelne Person über einen oder mehrere Inkorporationsmodus bzw. -modi mit verschiedenen Institutionen oder Personen verbunden sein: Diese Netzwerke können sich etwa über die Familie, die Ethnie oder Religion bilden. In dem hier betrachteten Artikel beschäftigen sich die AutorInnen mit dem Fall der Inkorporation über Religion und vergleichen hierfür zwei kleinere Städte – Halle in Sachsen-Anhalt (Deutschland) und Manchester in New Hampshire (USA). Ziel der Untersuchung ist es dabei, die Bedeutung der städtischen Skalierung für die Inkorporation von ImmigrantIn nen zu erfassen. In ihrem Verständnis von Skalen beziehen sie sich dabei auf die bereits erwähnten Arbeiten von Brenner, Smith und Swyngedouw (vgl. Glick Schiller, Caglar et al. 2ŪŪŰ, ūūŪ). Den AutorInnen ist dabei insbesondere die Frage nach den Auswirkungen unterschiedlicher Positionierungen von Städten in Hierarchien der Kapitalströme und globalen Machstrukturen ein Anliegen. Dabei zeichnen sich Kleinstädte generell in der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Lage durch ihre schwache ökonomische Position aus. Sie stehen in Konkurrenz mit anderen Städten, wenn es um die Anziehung von Kapitalinvestitionen, eine Verbesserung der Infrastruktur oder die Ansiedlung von Arbeitsplätzen geht. Je nach Erfolg in diesem Wettbewerb nehmen sie eine Position in Relation zu anderen Städten in einer analytischen urbanen Skalierung ein. Bei einer besseren Stellung ist es Städten dann etwa auch möglich, qualitativ hochwertigere Sozialleistungen für EinwohnerInnen anzubieten. So lassen sich auch Unterschiede in den wohlfahrtsstaatlichen Ausstattungen innerhalb einer Nation erklären. Derartige Sozialleistungen werden jedoch nur als eine Variable gesehen, die die Einwanderung und die alltäglichen Lebensumstände von Eingewanderten in bestimmten Gebieten mit prägen. Daher schlagen Glick Schiller, Caglar et al. vor, über die Einführung eines Skalenfaktors die Besonderheiten von Lokalitäten in der Migrationsforschung zu berücksichtigen1ř9. Eine derartige Analyse stößt jedoch momentan noch 1ř9Ȳ
Dabei ist die Erkenntnis, dass unterschiedliche Skalenpositionierungen von Städten Einfluss auf das Ausmaß der Zuwanderung und die Integrationsprozesse der ImmigrantInnen haben, durchaus bereits in der Migrationsforschung diskutiert worden (Bommes und Radtke 1996, zit. nach Glick Schiller/Caglar/Guldbransen Ř006, 11Ř; Koopmans und Statham Ř000). Allerdings wird die Frage nach der Auswirkung von Lokalität nicht systematisch erforscht und ist vor allem in national vergleichenden Studien zu finden – d.ȹh. es werden Städte und Orte innerhalb eines Nationalstaats untersucht, jedoch kaum länderübergreifend gearbeitet. Eine bessere Wissensbasis wurde bereits geschaffen, was den Zusammenhang zwischen globalen Städten und ihren Migrantenpopulationen angeht (Sassen 1991; Sassen 1996b). Der Einfluss niedrigerer Skalierungen auf Einwanderung ist bislang vergleichsweise selten untersucht worden.
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rasch an ihre Grenzen, da die Skalenbemessung in einer derart umfassenden Form sozialwissenschaftlich noch nicht sehr weit ausgearbeitet ist. Neben wirtschaftlichen Indikatoren gilt es, soziale, wohlfahrtsstaatliche, sowie kulturelle Zustände in vergleichbaren Maßeinheiten einander gegenüberzustellen. Die AutorInnen versuchen dies daher behelfsmäßig über eine Beschreibung diverser Faktoren der beiden untersuchten Kleinstädte (vgl. ebd., ūūūȹff.). Dabei fassen sie unter der „Größe“ einer Stadt nicht etwa die Einwohnerzahl oder die territoriale Ausbreitung, sondern ziehen einen Vergleich mit globalen Städten bzw. gateway cities heran: Im Gegensatz zu diesen Megastädten verfügen kleinere Städte nur über einen entsprechend geringer dimensionierten Finanzund Bankensektor; außerdem haben sie Schwierigkeiten, Investitionsströme in ihren Bereich zu lenken; es gibt kaum hochtechnologische, innovationstreibende Wirtschaftsbereiche in diesen Städten und somit wenig attraktive Arbeitsplätze für sehr gut qualifizierte junge Menschen. Diese Umstände schlagen sich in einem geringen Steueraufkommen nieder, was wiederum zu bescheidenen Budgets für die umso dringenderen kommunalen Sozialprogramme führt. Die AutorInnen kommen aufgrund dieser Überlegungen zu folgendem Schluss: So lässt sich argumentieren, dass die Größe der Stadt in ihrem spezifischen historischen Kontext bei der Diskussion der ‚Opportunitätsstrukturen‘, die potenzielle Zuwanderer lokal vorfinden, berücksichtigt werden muss. Es ist Zeit für den spatial turn in der Migrationsforschung. (Glick Schiller, Caglar et al. 2ŪŪŰ, ūūū)
Glick Schiller, Caglar et al. vermuten aufgrund ihrer empirischen Ergebnisse, dass in Kleinstädten Inkorporationsmuster jenseits der Integration über den Arbeitsmarkt einen höheren Stellenwert haben könnten und stellen hierfür anhand ihrer empirischer Arbeiten ein „Inkorporationsmuster“ über eine globale christliche Identität vor. Dabei sehen die AutorInnen dieses Inkorporationsmuster in beiden Fällen – so unterschiedlich die Städte und ihr Umfeld (Halle und Manchester) sein mögen – in die Skalenpositionen der Städte eingebettet. Die AutorInnen heben die Differenzen der Bedingungen für die MigrantInnen in den beiden Lokalitäten hervor – insbesondere was die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und die Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt für MigrantInnen in Deutschland und den USA angeht1Ś0.
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Die Größe der Stadt beeinflusst auch, ob karitative Organisationen vor Ort präsent sind, die MigrantInnen unter Umständen unterstützen. Auch die Arbeitsvermittlung über eth-
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Neben den Unterschieden zwischen den beiden Untersuchungsorten finden sich auch Ähnlichkeiten mit Bezug auf die Position in der Skalierung dieser beiden Städte: Beide liegen in der Nähe urbaner Zentren, die jedoch noch um ihre Stellung kämpfen. Es sind periphäre Kleinstädte, die versuchen, im Wettbewerb mit anderen Städten mitzuziehen. Allerdings mit mehr oder weniger großem Erfolg und im Fall von Halle mit beträchtlichen Problemen der Arbeitslosigkeit. Allerdings profitieren MigrantInnen in Halle von dem Bedarf an Kleinunternehmertum und füllen diese Lücke mit Hilfe ihres Zugangs zu Kapital und Großhändlernetzwerken. Von dieser Lage profitieren jedoch nur wenige MigrantInnen und auch sie befinden sich in einer durchaus prekären Lage. Obwohl sich in den letzten zehn Jahren die Zahl der MigrantInnen in Halle verdoppelt hat, leben mit vier Prozent gemessen an der Gesamtbevölkerung der Stadt noch immer relativ wenig Zugewanderte in Halle. Dies ist mit den Präferenzstrukturen der Zuwandernden zu erklären: Wer es sich aussuchen kann, siedelt sich eher in einer reicheren Stadt in Westdeutschland an, wo die erwarteten Arbeitsmarkt- und Lebensperspektiven besser erscheinen. Daraus ergibt sich wiederum die Frage, welche MigrantInnen sich dennoch dazu entscheiden, sich in Halle niederzulassen. Laut den AutorInnen sind es vor allem Personen, die keine andere Wahl hatten: AsylwerberInnen, mit Deutschen verheiratete MigrantInnen, Ältere, Flüchtlinge und StudentInnen, die mitunter gerne auch mittel- bzw. langfristig in Halle bleiben würden. Im Gegensatz zu den Annahmen der offiziellen RepräsentantInnen der Stadt verfügen viele der Zugewanderten über höhere und weiterführende Bildungsabschlüsse und Berufserfahrung. Auch Manchester, das 53 Meilen von Boston entfernt liegt, weist einen in etwa gleich hohen Anteil an MigrantInnen auf, rechnet man die Schätzungen illegaler EinwandererInnen zu den Statistiken hinzu (vgl. ebd., ūūų). Seitdem die IT-Branche in die Krise gekommen ist, kämpft auch Manchester mit der Arbeitslosigkeit, wobei eine Reihe kommunaler Strategien zum Einsatz kommt. In der Einschätzung der MigrantInnen hingegen unterscheiden sich die beiden Städte laut den AutorInnen kaum: MigrantInnen werden thematisiert, wenn es um die Positionierung der Städte im Wettbewerb geht (vgl. ebd., ū2ū). Hie wie da wird die Sprachenvielfalt in den Schulen im öffentlichen Diskurs als problematisch gesehen. Dennoch braucht Manchester MigrantInnen als Arbeitskräfte einerseits und andererseits, um sich als multikulturelle Stadt darzustellen. In Halle wiederum sind EntscheidungsträgerInnen davon nische Netzwerke oder in ethnische Nischen der Arbeitswelt sind in Kleinstädten weniger ausgeprägt.
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überzeugt, dass ausländische InvestorInnen nur dann erfolgreich angeworben werden können, wenn Halle sein fremdenfeindliches Image ablegen kann. So werden viele multikulturelle Veranstaltungen und Initiativen von der Stadt zumindest unterstützt bzw. mit veranstaltet. Vor diesem Hintergrund wäre zu vermuten gewesen, dass der nigerianische Pastor, den Nina Glick Schiller im Rahmen ihrer empirischen Untersuchung in Manchester aufsuchte, daran interessiert wäre, eine afrikanische Gemeinde aufzubauen. Dass er sich nicht auf NigerianerInnen beschränken würde, wäre aufgrund der geringen ImmigrantInnen aus diesem Land zu erwarten gewesen – eine Zielsetzung einer panethnischen Gemeinde wäre durchaus auch wohlwollend von den EntscheidungsträgerInnen in Manchester aufgenommen worden. Stattdessen traf Glick Schiller zusammen mit ihren Studierenden auf einen Herrn mit dem Namen „Heaven’s Gift“, der in der Lord’s Outreach Church vor einem ausschließlich weißen Auditorium predigte. Diese protestantische Gemeinde setzte sich hauptsächlich aus Arbeiterinnen und Arbeitern zusammen, die teilweise in Tränen ausbrachen, als Heaven’s Gift zu seiner Predigt ansetzte. Der Prediger hat in Manchester ein Netzwerk von ū8 Kirchen aufgebaut, das gemeinsam ein kirchliches Zentrum errichtet hat. Unter diesen Kirchen befinden sich auch hispanische und afroamerikanische Gemeinden, doch auch diese definieren sich nicht entlang ethnischer Differenzierungen, sondern sehen sich als „wahre, wiedergeborene Christen“. Diesen Zusammenschluss mehrerer Kirchen hat Heaven’s Gift wiederum dem Global Chrstian Prayer Network angeschlossen, dessen Mitglied er bereits vor seiner Ankunft in Manchester war (vgl. ebd., ū23ȹf.). Dieses Netzwerk1Ś1 ermöglichte es Heaven’s Gift auch, Nigeria zu verlassen; nach seiner Ankunft waren seine Kontakte ein wichtiger Faktor, um auch über Pastoren in den USA seine Position als Pfarrer in Manchester zu begründen. Zum Untersuchungszeitpunkt war es ihm bereits gelungen, sowohl zu republikanischen als auch demokratischen Politikern gute Kontakte aufzubauen, sodass Glick Schiller auch den Auftritt des Bürgermeisters vor Beginn einer Messe von Heaven’s Gift beobachten konnte. In dieser Ansprache betonte der Bürgermeister von Manchester die Bedeutung der MigrantInnen für die Stadt. Dabei war das Auditorium auch bei dieser Zusammenkunft hauptsächlich weiß und setzte sich überwiegend aus ArbeiterInnen und UnternehmerInnen zusammen. Dieses Publikum einte dabei nicht die Frage der Multikulturalität, sondern das 1Ś1Ȳ
Die transnationalen Kontakte, die Heaven’s Gift auch unterhält, werden hier nicht weiter beschrieben, da sie nicht zum zentralen Argument der Beziehung zwischen Integrationspfaden und Skalenwerten einer Örtlichkeit beitragen (vgl. ebd., 1Ř6ȹf.).
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Bestreben eine religiöse Einheit herzustellen, die ihrer Ansicht nach mit gestärkten Familien und Kirchen in einer wohlhabenden Stadt zusammenhing (vgl. ebd., ū25). Somit identifizierten sie sich selbst weder als ArbeiterInnen noch als UnternehmerInnen – und erst recht nicht als Abkömmlinge von Zugewanderten. Den Pastor Heaven’s Gift sahen sie nicht als einen Flüchtling an, sondern als einen potenten religiösen Vermittler, der ihnen bei der Erreichung ihrer spirituellen Vorstellungen behilflich sein konnte. Die AutorInnen deuten die integrierenden Wirkungen dieses religiösen Umfelds folgendermaßen: Für Heaven’s Gift und andere MigrantInnen, die in dieser christlichen Vereinigung aktiv sind, tun sich im Sinne Mark Granovetters schwache soziale Verbindungen zu einer Fülle von Personen auf (vgl. ebd., ū25). Schwach sind diese sozialen Beziehungen insofern als sie nicht auf Gegenseitigkeit beruhen – die PolitikerInnen oder UnternehmerInnen sind ihrerseits nicht von den MigrantInnen abhängig, wenn es um deren Aufenthaltsstatus geht oder um Informationen über offene Stellen, auf die sich die Zugewanderten bewerben können. Auch MigrantInnen, die nicht zu diesem engen Zirkel dazugehören, jedoch in regelmäßigen Abständen Gebetszeremonien besuchen, sind Teil dieses sozialen Feldes und können daher an Informationen partizipieren, erfahren Selbstbestätigung in der Gemeinde der Gläubigen und können so insgesamt ein gewisses Maß an sozialem Kapital generieren. Aufgrund der Analyseergebnisse in Manchester beschloss das Untersuchungsteam auch in Halle eine genauere Untersuchung der dortigen Beteiligung von MigrantInnen in diversen Kirchen zu unternehmen. Auf den ersten Blick zeigte sich hier ein wohlbekanntes Muster, nämlich dass MigrantInnen sich in ethnisch differenzierten religiösen Gruppierungen zusammenfinden. Bei genauerer Untersuchung jedoch fanden die SozialwissenschaftlerInnen, dass es auch in Halle einige protestantische Kirchen gab, deren Mitglieder hauptsächlich aus kongolesischen Asylsuchenden bzw. aus NigerianerInnen bestanden. Auch in diesen kirchlichen Gruppen identifizierten sich die Teilhabenden jedoch nicht über ihre Nationalität oder Ethnie, sondern über ihr Dasein als ChristInnen, die ihre Immigration als Teil der Evangelisierung deuteten. Sie sahen ihre Rolle darin, die Bevölkerung von Halle (bzw. Deutschlands oder Europas) zum wahren Glauben zu bekehren – sei es über die Predigt oder über Konzerte, in deren Rahmen sie sich in Halle präsentieren konnten. Die Analysen in beiden Städten zeigten somit, dass Integrationspfade über religiöse Vereinigungen und Netzwerke verlaufen. Die AutorInnen deuten dieses Ergebnis dahin gehend, dass gerade in kleineren Städten mit geringer ethnischer Vielfalt die Sichtbarkeit afrikanischer ImmigrantInnen erhöht
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ist, obwohl es sich jeweils nur um eine kleine Personengruppe handelt. In beiden Städten wurden gerade jene MigrantInnen von Entscheidungsträgern instrumentalisiert, um von der Stadt nach außen hin einen multikulturellen Eindruck zu vermitteln. So wurden etwa Konzerte einer protestantischen Gruppierung in Halle gefördert, um die Durchmischung sichtbar zu machen, wie Geldgeber und Organisatoren dem Untersuchungsteam gegenüber erklärten. Die Kirchenmitglieder hingegen deuteten ihre Konzertveranstaltung als Teil ihrer Evangelisierung in Halle. Als ChristInnen seien sie nicht zufällig in der jeweiligen Stadt sesshaft geworden, sondern sie hätten an diesem Ort gottgewollt ihre Mission zu erfüllen. So entstehen Netzwerke und Teilhabe von MigrantInnen, die auf einer Verbindung von Ethnizität und Religiosität beruhen und von den InteraktionspartnerInnen aus unterschiedlichen Motivationen heraus gepflegt werden. Die AutorInnen legen dabei nahe, dass derartige nicht-ethnische Integrationspfade unter Umständen in größeren Städten unwahrscheinlicher sind. Allerdings fehlen bislang Untersuchungen, die sich mit derartigen Fragen auseinander setzen. Die Bedeutung des hier angewandten Skalierungsansatzes in der Migrationsforschung beschreibt Nina Glick Schiller (Glick Schiller 2ŪŪű) an anderer Stelle folgendermaßen: Although the scale theorists say nothing about migrant incorporation, it is evident that this perspective provides important theoretical openings with which to approach the significance of locality in migrant incorporation. The relative positioning of a city within hierarchical fields of power may well lay the ground for the life-chances and incorporation opportunities of migrants (…). A scalar perspective can bring into the analysis of migrant incorporation the missing spatial aspects of socio-economic power, which is exercised differently in many localities. (Glick Schiller 2ŪŪű, 23)
Der Skalierungsansatz wird von Ayse Caglar (Caglar 2ŪŪŰ) in der Migrationsforschung auch noch in Hinblick auf ein weiteres Erkenntnisinteresse angewandt: Sie geht der Frage nach, wie sich der unterschiedlich ausfallende Erfolg von migrantischen Heimatverbänden („hometown associations“ oder HTAs) erklären lässt. Sie schlägt hierfür vor, HTA im Kontext sich verändernder Beziehungen zwischen Staat und Raum zu betrachten, die auf Prozesse neoliberaler Globalisierung zurückgehen. Die unterschiedlichen Dynamiken von HTAs sind in diesem Kontext als Antwort auf ungleiche räumliche Entwicklungen und Skalen-Positionierungen zu verstehen. Was ist nun genau unter diesen Thesen zu verstehenȺ? Ayse Caglar bringt dafür ein Beispiel aus ihrer eigenen
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empirischen Forschung und schildert die Entwicklung eines türkischen Heimatverbandes in Deutschland im Rahmen einer Fallstudie. Dieser Verband namens ARPAD ist in Berlin angesiedelt und verfolgt diverse Anliegen mit Bezug auf die Stadt Bozlu in der Türkei. Der Verein gibt als sein Ziel an, zur ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung von Bozlu beizutragen. Außerdem sollen Personen in Bozlu und EmigrantInnen miteinander auf vielfältige Weise verbunden werden (vgl. Caglar 2ŪŪŰ, ū). Soweit handelt es sich bei diesem Heimatverein um ein durchaus übliches Arrangement, wie es in der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Literatur auch bereits beschrieben wurde (vgl. etwa Waldrauch und Sohler 2ŪŪ4). Was ARPAD für Caglar jedoch zu einer Besonderheit macht, ist der Umstand, dass die Zuwanderung von TürkInnen nach Deutschland vier Jahrzehnte vorher eingesetzt hatte und mit den ūųűŪer Jahren offiziell gestoppt wurde. ARPAD wurde jedoch erst ūųųų gegründet. Auch gibt es keine besonders große oder anderweitig hervorstechende Gruppe von EmigrantInnen, die ursprünglich aus Bozlu stammen und die sich in Berlin oder anderswo in Deutschland niedergelassen hätten. Während der Untersuchung stellt Caglar dennoch fest, dass sich der Verein binnen kurzer Zeit beeindruckend entwickelt hat und bereits wenige Jahre nach seiner Gründung 2.ŪŪŪ Mitglieder in mehreren europäischen Ländern zählt. Außerdem konnten sehr gute Kontakte zu offiziellen VertreterInnen von Bozlu aufgebaut werden und auch eine Heimatstadtverbindung für Bozlu in Istanbul zählt zu den Kooperationspartnern von ARPAD. Wie ist nun dieser durchschlagende Erfolg sozialwissenschaftlich vor dem historischen Migrationshintergrund zu erklärenȺ? Ayse Caglar verweist darauf, dass diese Verbindungen zwischen MigrantInnen und der Stadt auf neoliberale Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur und auf die soziale Lage vieler EinwohnerInnen von Bozlu zurückzuführen sind. Durch Veränderungen in der Skalenwertigkeit von Bozlu ist diese Stadt sozusagen am Radar von unterschiedlichen Interessensgruppen aufgetaucht, was schließlich zu den von Caglar beobachteten Vernetzungen zwischen MigrantInnen in Berlin und der Stadt Bozlu geführt hat. Die aktiven Mitglieder in diesem Verein sind etablierte MigrantInnen, meist UnternehmerInnen, die in vielfältigen – auch beruflichen und ökonomischen – Verbindungen zur Türkei stehen. Dabei ist noch weiter zu präzisieren, dass sie zu spezifischen Regionen oder Orten in geschäftlichen und persönlichen Beziehungen stehen, was wiederum mit den Skalenwerten dieser Städte zusammenhängt. Dabei stellt ARPAD keineswegs einen Einzelfall dar: Ayse Caglar argumentiert, dass vierzig Jahre nach Beginn der Migration aus der Türkei nach Deutschland derartige Heimatstadtverbände einen Boom erleben, der in der Migrationsforschung noch nicht hinreichend erklärt
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werden kann. Sie selbst führt daher das Konzept der Reskalierungen ein und verweist explizit auf den neoliberalen Hintergrund derartiger Vorgänge in globalen Zusammenhängen. Erst über den Zugang von Reskalierung lässt sich folglich auch erklären, warum bestimmte Lokalitäten innerhalb eines Nationalstaats eher für derartige Heimatverbünde interessant werden als andere. Bei der Untersuchung dieser Fragen zeigt sich, dass der herkömmliche migrationstheoretische Ansatz, innerhalb dessen HTAs untersucht werden, wenig hilfreich ist (vgl. Caglar 2ŪŪŰ, 3): Hier wird meist auf die Geldüberweisungen (remittances) einerseits und auf die Bedeutung der HTAs für die lokale Entwicklung andererseits verwiesen. Die innernationalen Unterschiede und das Erstarken derartiger Verbände in der momentanen Situation für Deutschland können dadurch aber nicht erklärt werden. Dieses Manko in der Migrationsforschung ist jedoch auch deshalb lange Zeit nicht thematisiert worden, because of the negative image the migrants’ persistent ties carried within the general political agendas of European immigration countries, the question of homeland ties in general and remittances of Turkish migrants in particular disappeared slowly from the literature. Interest in and research on Turkish migrants’ homeland ties and networks – beyond any kind of either/or-logic of integration/assimilation versus ghettoization/enclavement discussions started only within the rise of a transnational framework at the beginnings of the 2ŪŪŪs. (Caglar 2ŪŪŰ, ű)
Diesem Makel der Migrationsforschung versucht Caglar mit der Einführung des Skalierungsansatzes in diesem Forschungsbereich beizukommen: Dadurch wird die analytische Sicht frei für ein differentielles Wachstum innerhalb desselben Staates und den Erfolg von HTAs im Kontext der sich verändernden Beziehungen von Staat und Raum. Für das von Caglar betrachtete Fallbeispiel des Vereins ARPAD bedeutet dies, dass diese Aktivitäten nur deshalb die festgestellten Dynamiken entwickeln konnten, weil die staatlichen Regulationsaktivitäten in der Türkei im Umbruch sind. Dabei betreffen die damit verbundenen Veränderungen nicht das gesamte Staatsterritorium der Türkei gleichermaßen, wie meist (implizit) in der Migrationsforschung angenommen wird. Vielmehr wird in der Skalierungsdebatte zu Recht angenommen (und ist in der Türkei zu beobachten), dass etwa Staatsbeihilfen und -zuschüsse, infrastrukturelle Investitionen sowie öffentliche Güter gezielt in bestimmten Gebieten zum Einsatz gebracht werden. Dies geschieht mit der politischen Zielsetzung, die Wettbewerbsfähigkeit bestimmter Zonen zu erhöhen und so im nationalen und internationalen Kampf um Investitionen und globales Kapital zu reüssieren. Städte müssen in ihrer Alltagsrealität somit in
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einem zweifachen Wettstreit überleben (ebd., ūū): Einerseits im Wettbewerb um innerstaatliche Zuwendungen mit anderen Städten oder Gebieten desselben Nationalstaats und andererseits im globalen Wettbewerb mit internationalen Städten, um Kapital aus anderen Ländern anzuziehen. Damit entstehen neue Zonen, Areale und Regionen, in welchen wiederum unterschiedlichste Experimente wie etwa public-private partnerships durchgeführt werden. Ziel dieser Aktivitäten ist es, innerhalb einer kapitalistischen Logik weiter zu expandieren. Diese Reskalierungsstrategien beziehen die Bevölkerung ebenfalls mit ein: Sie wird ein wichtiger „Standortfaktor“ – sei es nun, um wie im oben genannten Beispiel eine multikulturelle Atmosphäre zu inszenieren oder als flexible, gut ausgebildete bzw. auch als weniger qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung zu stehen, wozu ebenfalls MigrantInnen mit unterschiedlichsten Qualifikationen einen wichtigen Beitrag leisten. HTAs können in dieser Skalenarbeit für bestimmte Regionen eine bedeutende Rolle spielen. Im Falle von ARPAD nehmen die MigrantInnen Opportunitätsstrukturen wahr, die sich ihnen beruflich in Bozlu bieten. Die Stadt Bozlu wiederum stellt aufgrund der deregulierenden Interventionen des türkischen Staates ein interessantes Terrain dar: Bozlu ist Teil eines „Industriedistrikts“ in der Türkei (vgl. Caglar 2ŪŪŰ, ū3), die eingerichtet wurden, um die Wettbewerbsfähigkeit ausgewählter Regionen zu forcieren und ausländische Investitionen anzuziehen. Für diese Distrikte werden spezielle wirtschaftliche Anreize angeboten, erleichterte Kreditvergaben sowie Steuerfreistellungen für Investitionen. Der türkische Staat hat zusätzlich bilaterale Abkommen geschlossen, um in diesen Industriezonen die Voraussetzungen für joint ventures zu verbessern. Dazu kommt, dass offizielle Vertreter von Bozlu laut Caglar inzwischen regelmäßig nach Deutschland und nach Berlin kommen, um an Festivitäten oder Geschäftseröffnungen teilzunehmen. Interessant ist auch, dass diese Vertreter der Stadt, aber auch die Handelsvertretung von Bozlu Grußbotschaften in dem Vereinsblatt von ARPAD veröffentlichen, in denen sie die Vereinsmitglieder über die neuesten staatlichen Förderprogramme und die spezifischen Angebote in Bozlu informieren. Interessierten InvestorInnen unter den Vereinsmitgliedern wird auch maßgebliche Hilfe bei der bürokratischen Bewältigung der Antragstellung in Aussicht gestellt. Ergänzend zu diesen Aktivitäten schildert Caglar den Fall eines gut etablierten Emigranten aus Bozlu, der sich in Berlin niedergelassen hat und ein bedeutendes Vereinsmitglied ist. Über die Vereinsverbindungen und seine Kontakte zu lokalen Entscheidungsträgern in Bozlu konnte er sich ein komplexes Import-Export-Geschäft aufbauen, in dessen Rahmen er auch von den erwähnten speziellen Förderungen
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profitiert. Insgesamt kommt Caglar zu dem Schluss, dass sich der Erfolg und die Dynamik des von ihr untersuchten Heimatvereines aufgrund der generellen neoliberalen Wirtschaftspolitik in der Türkei, der reskalierenden Staatsinterventionen in Bozlu und der spezifischen Interessen der hauptsächlich unternehmerisch tätigen MigrantInnen, die sich in ARPAD organisiert haben, erklären lassen. Ayse Caglar gelingt es somit in ihrer exemplarischen Untersuchung, neue Einsichten in alt bekannte Themenfelder der Migrationsforschung zu gewinnen. Dies erzielt sie durch eine Berücksichtigung der Raumstrukturen und ihrer Beeinflussung durch staatliche Interventionen im Sinne des Reskalierungsansatzes wie ihn Neil Brenner und andere formuliert haben. In diesen Pionierarbeiten von Nina Glick Schiller und Ayse Caglar wird deutlich, wie sich mithilfe einer raumsensiblen Vorgehensweise Positionen in der Migrationsforschung hinterfragen lassen, die Nationalstaaten implizit als Container annehmen ohne dies zunächst zu hinterfragen. Dabei ist es aus meiner Sicht zum jetzigen Zeitpunkt fraglich, ob tatsächlich jedes Migrationsprojekt einen skalenbezogenen Ansatz anwenden sollte, wie dies Ayse Caglar in ihrem Beitrag einfordert (Caglar 2ŪŪŰ). Meiner Ansicht nach hat sie am Beispiel eines Heimatvereines von MigrantInnen in Deutschland ein Thema gewählt, für das dieser spezifische skalierungstheoretische Ansatz produktiv ist. Künftige Forschungsvorhaben müssten sich mit der Frage auseinandersetzen, für welche Themenbereiche ein (noch weiter zu entwickelnder) Skalierungsansatz in der Migrationsforschung eingesetzt werden sollte. Diese Frage ist mit dem heutigen Wissensstand noch nicht eindeutig zu beantworten.
5.ř.ř
Zusammenfassung
Bei der Betrachtung der Frage, mit welchen Raumkonstruktionen MigrantInnen in ihrem Alltag konfrontiert sind, ist nicht nur die Ebene der Alltagsbeziehungen von MigrantInnen und ihre eigenen Raumvorstellungen zu thematisieren, sondern auch jene Raumkonfigurationen, mit denen sie in ihrem Alltag konfrontiert sind. Dabei überschneidet sich der Bereich der Alltagsinteraktion und jener von systemischen Gegebenheiten notwendigerweise, da hier im Sinne von Anthony Giddens von einer Strukturierung der Gesellschaft ausgegangen wird. Dennoch – zum Zweck der besseren Übersichtlichkeit – habe ich mich in den vorangegangenen Kapiteln dafür entschieden, eine dritte Dimension raumsensibler Migrationsforschung neben die Ebene der AkteurInnen und jene der SozialwissenschaftlerInnen zu stellen. Dies ist
Ř7Ř
śȳRaumsensible MigrationsforsĖung
insofern sinnvoll, als MigrantInnen direkt von Systemen wie dem Nationalstaat und seinen Zuwanderungsbestimmungen, wohlfahrtsstaatlichen Regelungen, Arbeitsmärkten oder Bildungsinstitutionen erfasst werden und ihr Lebensalltag zu einem hohen Grad unmittelbar von diesen sozialen Systemen bestimmt wird. In der Migrationsforschung ist es daher unumgänglich, auch auf dieser systemischen Ebene Raumbezüge zu hinterfragen. Nur so können Machtkonstellationen aufgedeckt werden, die ansonsten bereits in der Untersuchungsanlage als gegeben vorausgesetzt und somit durch Forschungsergebnisse noch weiter gestärkt werden. Dabei ist unumstritten, dass der Nationalstaat einen wesentlichen Einfluss hat auf den Alltag und die gesellschaftlichen Zugangsmöglichkeiten von MigrantInnen. Nach wie vor sind es die Gesetze des Nationalstaats bzw. die Regelungen von Staatenverbünden, die den legalen Zugang und Aufenthaltsstatus von MigrantInnen regeln, sowohl was das Staatsterritorium angeht, als auch was den Zugang zum Arbeitsmarkt anlangt. In meiner Diskussion habe ich anhand existierender Studien gezeigt, inwiefern Nationalstaaten durch ihre Raumvorgaben das Alltagsleben von MigrantInnen prägen und wie durch diverse staatliche Maßnahmen containerhafte Raumkonzepte verstärkt werden. Die durchschlagende Wirkungskraft dieser Eigenschaft von Nationalstaaten wird in danach ausgerichteten Alltagspraxen deutlich: Etwa wenn MigrantInnen, die über keine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen innerhalb der Europäischen Union verfügen, ihre Aufenthaltsdauer nach den Vorgaben der jeweiligen Nationalstaaten ausrichten, um eine Semilegalität herzustellen: Viele Frauen arbeiten so Jahr für Jahr undokumentiert in privaten Haushalten und reisen regelmäßig nach einigen Wochen oder Monaten aus, um nach einer gewissen Zeit wieder mit einem Tourismusvisum an jenen Ort zurückzukehren, an dem sie ihrer (undokumentierten) Erwerbsarbeit nachgehen. Diese Form der Migration wird somit direkt durch Vorgaben des Nationalstaats bestimmt, wodurch das Leben vieler Personen mit beeinflusst wird. Mit der Analyse jener Raumqualitäten, die soziale Systeme wie der Nationalstaat, der Arbeitsmarkt, das Gesundheits- oder das Bildungswesen forcieren, kann eine raumsensible Migrationsforschung empirisch beobachtbare Phänomene mitunter adäquater untersuchen, als dies bislang der Fall war. Dies zeigen die Forschungsergebnisse von Sabine Hess (Hess 2ŪŪ3a), die in ihrer empirischen Untersuchung osteuropäischer Au-pairs in Deutschland zu dem Schluss gekommen ist, dass diese jungen Frauen sich nicht nur einen transnationalen Raum zu eigen machen, sondern dessen Möglichkeiten auch – soweit ihnen dies möglich ist – zu nutzen wissen. Dies geschieht mit
ś.řȳSystemimmanente Raumkonzeptionen
Ř7ř
der Zielsetzung, für ihre berufliche und private Zukunft mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen risikominimierend und klug umzugehen. Dabei zeigt sich auch, wie derartige nationalstaatliche Bedingungen die Migrationskarrieren von Männern und Frauen in unterschiedlicher Weise berühren: Gerade das Thema der Pflege und der Fürsorge innerhalb der Familie bindet Migrantinnen auch heute noch eher an das Herkunftsland als männliche Wandernde. Auch hier werden staatliche Systeme und deren Auswirkungen spürbar: Analog zur sesshaften Bevölkerung, in der es ebenfalls zum Großteil Frauen innerhalb der Familie sind, die die Pflege von älteren Angehörigen übernehmen (Amann 2ŪŪ4), fühlen sich Frauen in der Emigration häufig für diese Lebensbereiche verantwortlich. Dabei versteht es sich von selbst, dass die Organisation und die Verfügbarkeit staatlicher Systeme in der Pflege an dieser Geschlechterordnung und ihren hierarchischen Folgen nicht unbeteiligt sind. Besonders deutlich wird die Auswirkung nationalstaatlicher Raumbildung am Beispiel der politischen Partizipation „aus der Ferne“: Bereits in den Anfängen der US-amerikanischen Forschung zu Transmigration stand das Thema der Beteiligung an der Transformation von Nationalstaaten durch MigrantInnen im Mittelpunkt. Für Europa gibt es dazu noch deutlich weniger empirische Belege, jedoch kann auch hier vermutet werden, dass Nationalstaaten mit einer potenten EmigrantInnenpopulation auf diese Personen für politische Zwecke zugreifen werden. Ein Beispiel dafür lieferte der diskutierte Fall ukrainischer AuswandererInnen, die im Wahlkampf des Jahres 2ŪŪ2 explizit von einer Partei umworben wurden. Das Interesse auf Seiten der MigrantInnen an einer politischen Mitbestimmung kann allein schon durch die bedeutende Quote an Rückkehrwilligen angenommen werden, sowie aufgrund der großen Anzahl von MigrantInnen, die sich in der Ukraine Wohnraum erschaffen. Wie beschrieben bemühte sich Viktor Juschtschenko im Wahlkampf auch aktiv um emigrierte UkrainerInnen, indem er sich etwa beim portugiesischen Premierminister für eine Verbesserung der Lage der zahlreichen ukrainischen undokumentierten ArbeitsmigrantInnen einsetzte. In seinem Parteiprogramm forderte Juschtschenko eine Verbesserung der Lage der EmigrantInnen sowie ein Wahlrecht für diese Personen bei den Präsidentschaftswahlen. Über politische und ökonomische Partizipation „aus der Ferne“ können MigrantInnen somit in unterschiedlichen Formen an Veränderungen in ihrem Herkunftsland beteiligt sein. Dafür braucht es einerseits das Interesse und Engagement der MigrantInnen, andererseits aber auch die systemischen Voraussetzungen, die ein derartiges Engagement ermöglichen bzw. begünstigen.
Ř7Ś
śȳRaumsensible MigrationsforsĖung
In den Arbeiten von Andreas Wimmer (Wimmer 2ŪŪű) wird deutlich, wie raumspezifische Überlegungen ein konzeptuelles migrationsanalytisches Instrumentarium bilden können. Dabei ist sein Zugang über soziale Grenzziehungen bezogen auf systemische Raumeffekte besonders interessant, weil sich diese Überlegungen auf jede Art von Gruppierungen beziehen lassen. Wimmer arbeitet somit heraus, dass Gruppenformationen mit sozialen Praktiken der Diskriminierung und Bevorzugung auf beiden Seiten einer gedachten Grenze zwischen den beiden Gruppen einhergehen. Diese Prozesse laufen jedoch vor dem Hintergrund von Machtkonstellationen ab, die die Gruppenformationen selbst beeinflussen. Umgelegt auf den Nationalstaat und MigrantInnen bedeutet dies etwa, dass Nationen und ethnische Gruppen Ergebnisse dieser Prozesse des boundary-making sind. Dies wird in der gängigen Migrationsforschung jedoch meist nicht berücksichtigt, was dazu führt, dass empirische Forschung die landläufige Vorstellung von ethnischen Identitäten häufig noch weiter bestärkt, anstatt sie zu hinterfragen. Es zeigt sich somit bei genauerer Betrachtung der systemischen Ebene, dass es nicht ausreicht, sich mit dem Containerraumkonzept zu begnügen. Dies wird auch deutlich, wenn sozialwissenschaftliche Fragestellungen nicht mehr beantwortet werden können, ohne dass andere Raumkonzepte (wie etwa relationale Raumannahmen) hinzugezogen werden. Dies zeigt sich deutlich in der Studie von Petra Deger (2ŪŪű), die bei der Frage nach Europäisierungsprozessen der Europäischen Union auf neue Grenzziehungen – und damit neue Räume – stößt, welche durch Regionalprogramme entstehen können. Derartige Strukturförderprogramme der EU ließen sich im Sinne eines Skalierungsansatzes auch als Interventionen zur Hebung des Wettbewerbs in einer neoliberalen Wirtschaft deuten. Solche Veränderungen in der Skalenposition betreffen auch MigrantInnen: Sie können – wie etwa in der Studie von Glick Schiller, Caglar und Guldbransen (Glick Schiller, Caglar et al. 2ŪŪŰ) gezeigt wurde – als multikulturelles Aushängeschild benötigt werden, um Bedenken vor rassistischen Handlungen zu nehmen und somit (internationale) Investitionsvorhaben eher in die Region zu ziehen. MigrantInnen sind auch notwendig, um Arbeitskraft für wirtschaftliche Projekte zur Verfügung zu stellen – und zwar auf einer breiten Skala von wenig qualifizierter Arbeit im Niedriglohnbereich bis hin zu hoch spezialisierten Tätigkeiten, die entsprechende Ausbildung und Berufserfahrung voraussetzen. Eine höhere Skalierung von Zonen oder Regionen zieht somit einerseits MigrantInnen an, wenn etwa Arbeitsplätze angeboten werden; andererseits tragen MigrantInnen auch als „Humankapital“ oder als „kultureller Mehrwert“ zu einer höheren Bewertung einer Region bei. Ayse Caglar (Caglar 2ŪŪŰ)
ś.řȳSystemimmanente Raumkonzeptionen
Ř7ś
und Nina Glick Schiller (Glick Schiller 2ŪŪ8) haben den Skalierungsansatz aus der politischen Ökonomie bzw. aus der kritischen Sozialgeographie in die Migrationsdebatte eingebracht. Damit eröffnet sich eine Möglichkeit, wie mit Raum auf einer systemischen Ebene theoretisch umgegangen werden kann und auch der empirische Ertrag einer derartigen Vorgangsweise wird deutlich. Obwohl das Potential des Skalierungsansatzes in der Migrationsforschung generell momentan noch schwer abzuschätzen ist, zeigt sich hier eine Möglichkeit, wie der Zusammenhang zwischen staatlichen Interventionen in bestimmten Gebieten (und damit einhergehende sozioökonomische, politische, fiskalische oder kulturelle Veränderungen) und Migration präziser erfasst werden kann. Dies stellt insofern eine wichtige Weiterentwicklung dar, als wir momentan im Gros der Migrationsforschung noch immer damit konfrontiert sind, entweder von Nationalstaaten als Analyseeinheiten zu sprechen bzw. von einigen wenigen häufig untersuchten Regionen (wobei es sich dabei meist um Großstädte handelt). Wie sich allerdings staatliche Interventionen auf die Ausdifferenzierung – sprich: unterschiedliche Skalierung – von einzelnen Regionen bezogen auf Migration auswirken, wird durch diesen herkömmlichen Zugang in der Migrationsforschung nicht deutlich. Der Einsatz eines Skalierungsansatzes in der Migrationsforschung hat auch gezeigt, wo der Mehrwert einer raumsensiblen Migrationsforschung liegt. So ist Ayse Caglar für die Frage der differentiell erstarkenden hometown associations über eine raumspezifische Forschungsperspektive zu erstaunlichen neuen Interpretationen gelangt: Mittels ihres theoretischen Zugangs über die Reskalierung bestimmter Industriegebiete in der Türkei kann sie zeigen, welche komplexen Zusammenhänge zwischen diesen Regionen und in Deutschland lebenden (teilweise sehr erfolgreichen) türkischstämmigen Geschäftsleuten bestehen. Dem Skalierungsansatz ist es auch zu verdanken, dass sich diese detailreiche Analyse nicht in Nebensächlichkeiten verirrt, sondern auch einen Blick hinter gesellschaftliche Kulissen zulässt: Denn die Frage des „WozuȺ?“ wird von Caglar nicht ausgeblendet, sondern schlüssig dargelegt: Die Reskalierung eines Industriegebietes, die aktive Anwerbung von InvestorInnen in der türkischen community in Berlin und das rasche Wachstum eines kleinen Heimatvereins werden in einen konsistenten Zusammenhang zueinander gebracht, wenn die Klammer neoliberaler Wirtschaftspolitik in der Türkei und in Deutschland mitgedacht wird. Für die Migrationsforschung bedeutet dies, dass MigrantInnen in ihrer Lebens- und Arbeitsweise durch reskalierende staatliche Interventionen ‚betroffen‘ sind und sich für sie gleichzeitig neue Möglichkeiten der sozialen Positionierung ergeben.
6
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein erster systematischer Versuch, raumsoziologische Überlegungen auf das Forschungsgebiet der Migration anzuwenden. Dabei hat sich gezeigt, dass viele Themengebiete in diesem Rahmen nur angerissen werden können, die auf jeden Fall der weiteren und eingehenden Untersuchung bedürfen. Mein Anliegen in der vorliegenden Arbeit war es zu verdeutlichen, dass die Migrationsforschung bislang aus historischen Gründen die Ebene des Raumes weitgehend aus ihren methodologischen Überlegungen ausgeklammert hat1ŚŘ. Empirische Befunde – etwa aus der Transmigrationsforschung – belegen jedoch, dass MigrationsforscherIn nen teilweise Schwierigkeiten haben, dem Alltagsleben entsprechende Konzepte in ihren Arbeiten zu entwickeln. Dies wurde bereits von SozialwissenschaftlerInnen aufgezeigt (vgl. etwa Berking 2ŪŪŰ; Pries 2ŪŪ8; Schroer 2ŪŪŰ; Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2) und in den letzten Jahren eingehend diskutiert. Auch Lösungsansätze wurden bereits vorgestellt (Brubaker 2ŪŪű; Caglar 2ŪŪŰ; Dahinden 2ŪŪų; Wimmer 2ŪŪű). Genau an dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag an: Bislang wurde in dieser laufenden Diskussion noch kaum diskutiert, inwiefern eine Reflexion von Raum auf unterschiedlichsten Ebenen im Forschungsprozess einen Beitrag zu einem adäquateren Forschungszugang in der Migrationsanalyse beitragen kann. Dieser Befund ist aus mehreren Gründen durchaus verwunderlich: Ist die Frage nach Raumkonzepten einmal gestellt, erscheint es überraschend, dass gerade jener Bereich der Soziologie, der sich offensichtlich mit der Bewegung von Menschen zwischen Orten und den daraus resultierenden Folgen beschäftigt, kaum mit (den eigenen) Raumannahmen auseinandersetzt. Außerdem hätte die reichhaltige Forschung der letzten Jahre zur Raumthematik in der Soziologie, der Sozialgeographie und der politischen Ökonomie durchaus auch in der Migrationsforschung auf größere Resonanz stoßen können, als 1ŚŘȲ
Die Einschätzung der Raumsensibilität in der sozialwissenschaftlichen Forschung wird dabei momentan durchaus unterschiedlich gesehen (vgl. hierzu etwa Glick Schiller und Caglar Ř010, Glick Schiller, Caglar et al. Ř006; Pries Ř00Ş).
E. Scheibelhofer, Raumsensible Migrationsforschung, DOI 10.1007/978-3-531-94007-6_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Ř7Ş
6ȳZusammenfassung
dies tatsächlich geschehen ist. Vor diesem Hintergrund war es jedoch nicht mein Anliegen, eine Methodologie oder Theorie des Raumes zu entwerfen und vorzuschlagen, wie dies andere AutorInnen in den letzten Jahren getan haben. Es ist meines Erachtens nach an der Zeit, dass MigrationsforscherInnen vermehrt von einem reflektierten Raumverständnis ausgehen und in ihren Untersuchungen dementsprechend vorgehen. In vielen Fällen mag ein derartiges raumsensibles Vorgehen „nur“ den Status Quo bestätigen, weil Untersuchungspersonen und Forschende von denselben alltagskompatiblen Raumvorstellungen ausgehen und sich auch keine weitere kritische Sicht auf den Forschungsgegenstand ableiten lässt. Derartige Schlussfolgerungen sollten jedoch nicht vorschnell getroffen werden, da raumtheoretische1Śř Arbeiten der letzten Jahre gezeigt haben, dass Raumannahmen in einem engen Zusammenhang zu gesellschaftlichen Verteilungsmechanismen und Zugangsbeschränkungen stehen (vgl. Schroer 2ŪŪŰ). Es ist daher Aufgabe der MigrationsforscherInnen unhinterfragte Raumannahmen des Untersuchungsfeldes zu untersuchen, anstatt diese in der eigenen Forschung verstärkend zu wiederholen1ŚŚ. Durch einen raumsensiblen Zugang kann verhindert werden, dass MigrationsforscherInnen trotz einschlägiger empirischer Hinweise Erfahrungen und Bedeutungszuweisungen von MigrantInnen analytisch nicht in den Blick bekommen können, weil sie etwa von einer essentialistischen Raumperspektive ausgehen, die jedoch im Alltag der Untersuchten nicht (durchgängig) relevant ist. Eine raumsensible Migrationsforschung würde somit an Möglichkeiten dazu gewinnen, hybride Formen der Migration und der Lebensführung im Kontext von Auswanderung, Melange-Effekte (Pieterse ūųų8) und neue Vermischungen von Mobilität und Migration präziser zu analysieren. Nur so kann die sozialwissenschaftliche Migrationsforschung dem Anspruch gerecht werden, alltagsweltliche Erfahrungszusammenhänge von Personen mit Migrationshintergrund nachzuvollziehen – und in einem weiteren Schritt nach außen hin verständlich zu machen. Auf der Basis eines sehr kurzen Abrisses der raumtheoretischen Forschung mit einem Schwerpunkt auf raumsoziologischen Arbeiten der letzten Jahre einerseits und einer Aufarbeitung der Raumthematik in der Migrationsforschung habe ich in den vorangegange-
1ŚřȲ
Auch die Zeitdimension wird hier von vielen AutorInnen berücksichtigt, zu dieser Thematik Kapitel Ř.Ř.Ś. 1ŚŚȲ Ähnliches hat Michael Bommes an der Untersuchung von „Kultur“ in Bezug auf Migration insbesondere in der qualitativ orientierten Sozialforschung kritisiert (Bommes 1996).
6.1ȳEin raumsensibler ForsĖungsansatz
Ř79
nen Kapiteln einen methodologischen Vorschlag dazu gemacht, wie Raumdimensionen im Zuge der Migrationssoziologie berücksichtigt werden können.
6.1
Ein raumsensibler Forschungsansatz in der Migrationsforschung
Es wurde in diesem Buch ausgeführt, dass eine Überwindung des methodologischen Nationalismus in der Migrationsforschung durch eine Wendung hin zu einer raumsensiblen Vorgehensweise in der Migrationsforschung vorangetrieben werden kann. Im Rahmen einer derartigen raumtheoretisch informierten Vorgehensweise geht es darum, nach jenen Raumkonzepten zu fragen, mit denen die Untersuchten und die ForscherInnen selbst (implizit) operieren, sowie jenen, die durch bestehende soziale Institutionen forciert werden und das Alltagsleben von MigrantInnen beeinflussen. Nur wenn wir danach fragen, welche Raumvorstellungen dem sozialen Handeln zugrunde liegen, ist es uns möglich, in Zukunft unsere Analyse auf die Frage zu richten, welche Personen und/oder Gruppen aufgrund bestimmter Raumvorstellungen diskriminiert werden.
6.ŗ.ŗ
Raumsoziologische Differenzierungen
Die raumsoziologische Forschung hat inzwischen deutlich gemacht, dass Raumkonzepte Machtinstrumente sind, die soziale Funktionen erfüllen (vgl. Schroer 2ŪŪŰ). Würde die soziologische Analyse derartige Fragen der sozialen Unterscheidung und darauf aufbauender Diskriminierung ausklammern, wäre dies gerade im Bereich der Migrationsforschung ein großer Verlust. Die Diskussion um die nationale Rahmung sozialwissenschaftlicher Forschung hat inzwischen eine ganze Reihe an Facetten aufgezeigt, was in der laufenden Debatte unter den Bezeichnungen des methodologischen Nationalismus (Wimmer und Glick Schiller 2ŪŪ2), des nationalen Blicks (Beck 2ŪŪ2) oder des kategorialen Staatszentrismus (Berking 2ŪŪ8) verhandelt wird. Für die Migrationsforschung bedeutet diese Diagnose ein methodologisches Problem, das sich auch in der Erforschung von Ethnizität (vgl. Brubaker 2ŪŪű; Jenkins ūųųű) niederschlägt. Die Problematik ist somit beschrieben1Śś, die Frage wie diese methodologische Einschränkung insbesondere in der Migrationssoziologie 1ŚśȲ
Dabei hat inzwischen auch eine differenzierte Diskussion zu den tatsächlichen Ausprägungen des methodologischen Nationalismus eingesetzt, was etwa seine geringe Bedeutung
ŘŞ0
6ȳZusammenfassung
überwunden werden kann, ohne gleichzeitig die Bedeutung des Nationalstaats für die vielfältigen Wanderungsformen und die damit verbundenen Lebensrealitäten von MigrantInnen zu vernachlässigen, ist hingegen bislang nur in vereinzelten Arbeiten thematisiert worden (vgl. hierzu etwa Glick Schiller 2ŪŪų, Caglar 2ŪŪŰ). Die vorangegangene Diskussion des migrationssoziologischen Forschungsstandes hat gezeigt, dass Lebensrealitäten von MigrantInnen ohne einen raumsensiblen methodologischen Zugang häufig nicht mehr adäquat wahrgenommen werden können. Dies wird besonders an den Forschungsergebnissen der Transmigrationsforschung deutlich, die für die unterschiedlichsten Lebenszusammenhänge aufgezeigt hat, dass nationale Grenzen nicht mehr unbedingt auch jene Grenzen sind, die den Alltag und die Handlungsmöglichkeiten von TransmigrantInnen bestimmen. Dabei soll jedoch nicht vernachlässigt werden, dass es sich bei TransmigrantInnen um eine vergleichsweise kleine Gruppe unter den MigrantInnen handelt. Hinzu kommt jedoch, dass auch unter MigrantInnen, die nicht transnational agieren, vielfältige soziale Beziehungen über nationale Grenzen hinaus reichen und so Teil ihrer Lebens- und Vorstellungswelt sind. Darauf verweisen auch die Arbeiten von Arjun Appadurai und seinem Konzept der unterschiedlichen „scapes“, in denen sich auch imaginierte Lebensbedingungen auf die tatsächlichen Handlungskontexte auswirken. Über derartige Prozesse verändern sich alltägliche Lebensbezüge sowie soziale Netzwerke von vielen MigrantInnen, die über eine raumsensible Herangehensweise an die Forschung sichtbar werden. Dabei kann ein derartiger raumtheoretisch informierter Zugang auf den vielfältigen raumtheoretischen Forschungsarbeiten aus unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen aufbauen. Der Beitrag der vorliegenden Arbeit besteht nun darin, raumtheoretische Überlegungen zu nutzen, um eine methodologische Position zu entwickeln, die einen reflektierten Umgang mit sozialen Konnotationen von Raum und den Auswirkungen auf MigrantInnen erlaubt. Hierzu wurde eine Differenzierung von Raumkonzepten vorgenommen, die im Folgenden für die weitere Erarbeitung einer raumsensiblen Migrationsforschung herangezogen wird. Unter diesen drei zu unterscheidenden Raumannahmen ist Folgendes zu verstehen:
in der soziologischen Theoriebildung (und ihre Geschichte) anlangt (vgl. hierzu Kapitel ř.1 sowie die diesbezüglichen Arbeiten von Chernilo Ř006; Chernilo Ř007).
6.1ȳEin raumsensibler ForsĖungsansatz
ŘŞ1
Der essentialistische Raum Albert Einstein hat für dieses Verständnis des Raums im Englischen den Begriff des Containers verwendet (Einstein ūųŰŪ). Hiermit beschreibt er eine Raumvorstellung, in der Räume unabhängig von ihrer Umgebung und ihrer „Befüllung“ existieren. Räume sind somit verwert- und benennbare stabile Einheiten, die an jedem Ort der Erde denselben physikalischen Gesetzen unterliegen. Sie können somit auch leer vorgestellt werden. Dieses absolutistische, behälterförmige Raumverständnis, das im Alltag weit verbreitet ist, vertrug sich auch in den Sozialwissenschaften gut mit der Vorstellung, dass Gesellschaften innerhalb von Nationalstaaten organisiert sind und sich territorial auf Landkarten einzeichnen lassen. Obwohl der Raum großteils nicht explizit soziologisch betrachtet wurde1Ś6, gab es doch ein implizites Raumverständnis, das die Herangehensweise an die Forschung prägte. Ein solches essentialistisches Raumverständnis prägt auch die momentane Arbeit vieler SozialwissenschaftlerInnen. Der Raum wird in diesen Fällen nicht thematisiert sondern entsprechend dem im Alltag vorherrschenden Raumverständnis angenommen. Der relationale Raum Georg Simmel hat bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der soziologischen Theoriebildung deutlich gemacht, dass Raum nicht an und für sich besteht, sondern erst durch die menschliche „Tätigkeit der Seele“ (Simmel ūųų2, 19ŪŲ, Ű8ų) zustande kommt, da wir nicht umhin können „an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden“ (ebd.). Soziale Beziehungen sind demnach nicht von physischer Nähe und Ferne abhängig, was Georg Simmel am Beispiel der Nachbarschaft verdeutlicht: Obwohl wir aufgrund der geographischen Nähe häufig mit unseren NachbarInnen zusammentreffen, ergeben sich in den seltensten Fällen bedeutsame soziale Beziehungen wie Freundschaften zu diesen Personen. Enge soziale Beziehungen bestehen in modernen, städtischen Gesellschaften gerade über geographische Distanzen hinweg, wobei dennoch der Interaktion zwischen Anwesenden eine besondere Bedeutung zukommt: Der wechselseitige Blick aufeinander ist nach Georg Simmel entscheidend für den Vertrauensaufbau
1Ś6Ȳ
Dabei wurde bereits vielfach ausgeführt, dass gerade in der Soziologie die Raumthematik lange Zeit kaum beachtet wurde (Urry 1996) – was mit der Ausrichtung der Klassiker der Soziologie an der Thematik des sozialen Fortschritts liegt. Zeit war daher die weitaus interessantere Dimension, mit der sich SoziologInnen über weite Strecken eingehend beschäftigten.
ŘŞŘ
6ȳZusammenfassung
und -erhalt in sozialen Beziehungen1Ś7. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung des Körpers für eine relationale Raumauffassung hervorzuheben. Phänomenologische Arbeiten zeigen, dass die sinnhafte Erfahrung der physischen Welt auf das Erleben der eigenen Leiblichkeit im Handlungsvollzug zurückgeht (Schütz ūų8ū). Nur die Erfahrung der Bewegung ermöglicht es uns, eine Ausdehnung in Raum und Zeit als Grundvoraussetzung wahrzunehmen. Dies ist die Basis dafür, dass wir uns in der physischen Welt orientieren können, indem wir uns in Relation zu Dingen und Menschen setzen. In einer phänomenologisch geprägten Sicht ist daher der Körper der Ausgangspunkt unterschiedlicher Raumebenen (Waldenfels ūųųű), was dazu führt, dass Theoriebildung immer wieder von der menschlichen Erfahrung der Leiblichkeit ausgeht1ŚŞ. Der Beitrag von Pierre Bourdieu ist es, in einem relationalen Raumverständnis auf die Bedeutung von Machtstrukturen hinzuweisen: Im Raum nehmen Personen oder Gruppen soziale Positionen ein – dieser Vorgang ist jedoch nur möglich, indem Stellen in Beziehung zu anderen eingenommen werden (Bourdieu ūųųū). Um diesen Vorgang soziologisch zu fassen, führt Pierre Bourdieu den Begriff des Feldes ein, um auf jene Kräfte hinzuweisen, die gesellschaftlich in diesen Positionierungen wirksam werden (Bourdieu ūųų8). Je nach Positionierung in einem sozialen Feld sind die AkteurInnen mit Ressourcen ausgestattet, die sie (auch) zur Verteidigung des Status Quo einsetzen können. Dies hat zur Folge, dass sich einmal eingenommene Positionen eher verfestigen denn verändern. Ein relationales Raumverständnis wird auch teilweise (aufeinander aufbauend) in den Arbeiten von Dieter Läpple (Läpple ūųųū), Gabriele Sturm (Sturm 2ŪŪŪ) und Martina Löw (Löw 2ŪŪū) weiterentwickelt. Martina Löw betont die Wichtigkeit, in den Sozialwissenschaften von einem Raum auszugehen, da es zu analytischen Verwirrungen führe, einen physisch-materiellen Raum von sozialen Räumen zu trennen. Dieses Argument ist insofern einleuchtend, als es global kaum Flächen gibt, die nicht durch menschliche Eingriffe über- bzw. geformt sind (vgl. etwa Becker und Jahn 2ŪŪŰ). Im Gegensatz zu dieser raumtheoretischen, analytischen Position ist die empirische Relevanz von Räumen zu sehen: Hier sind sehr wohl materialistische, naturalisierende
1Ś7Ȳ
Eine Diskussion zu den widersprüchlichen Textstellen, die sich bei Simmel zur Raumthematik finden, siehe Kapitel Ř.Ř.1.Ř. 1ŚŞȲ Annahmen in der Migrationsforschung, die von einer (angeblich zunehmenden) Emanzipation von Orten und einer Ablösung vom Räumlichen ausgehen, sind vor diesem Hintergrund durchaus kritisch zu betrachten.
6.1ȳEin raumsensibler ForsĖungsansatz
ŘŞř
Raumannahmen nach wie vor bedeutend, wie im Folgenden zusammenfassend noch einmal gezeigt wird. Konstruktivistische Ansätze in der sozialwissenschaftlichen Raumtheorie Neben relationalen Ansätzen ist eine weitere Gruppe von Raumauffassungen auszumachen, die von einem essentialistischen Raumverständnis abzugrenzen ist. Hier geht die vorliegende Arbeit einen anderen Weg als die Mehrzahl der raumsoziologischen Literatur, in der meist eine Trennung in absolutistische und relativistische Raumkonzepte vorgenommen wird. Die zweite Kategorie der relativistischen Raumkonzepte wird für migrationsspezifische Überlegungen noch einmal unterteilt in die soeben vorgestellten relationalen Ansätze einerseits und konstruktivistische Raumannahmen andererseits. Im Zusammenhang mit Migrationsphänomenen erscheint diese Ausdifferenzierung insofern hilfreich, als relationale Raumannahmen und auf diesen aufbauende Phänomene (wie etwa Ketten- und Familienmigration) von den AkteurInnen selbst meist nicht als sozial hergestellt wahrgenommen werden, sondern als ihnen vorgegebene Tatsachen. Konstruktivistischū4ų werden hier jene raumtheoretischen Auffassungen genannt, die weder von einem materialistischen Raumverständnis, noch vornehmlich von relationalen Überlegungen ausgehen. Hierzu zählen etwa Ansätze wie sie John Urry aus der Chaostheorie in die sozialwissenschaftliche Forschung importiert hat (Urry 2ŪŪ3) und diese an Beispielen aus der Migrations- und Mobilitätsforschung deutlich macht. Er geht dabei davon aus, dass wir es nun mit einem „space of flows“ (Castells ūųų8) zu tun haben, wobei sich die Soziologie nach Urry mit Strömungen oder Flüssen zu beschäftigen hätte (Urry 2ŪŪŪ). Dabei sind es nicht nur Menschen, die sich in dieser neuartigen Form über den Globus bewegen, sondern auch Informationen, Waren oder Bilder. Diese „Flüsse“ bewegen sich dabei innerhalb von „Netzwerken“ – dem zweiten grundlegenden Element, das Gesellschaft nach John Urry heute auszeichnet. Derartige raumtheoretische Ansätze des Verflüssigten lassen zwar noch viele Fragen offen, was ein sozialwissenschaftliches Raumverständnis angeht, haben jedoch neue Impulse in die Debatte eingebracht, wenn es etwa darum geht, komplexe Kausalitäten im Migrationsgeschehen zu untersuchen.
1Ś9Ȳ Der Begriff konstruktivistisch mag in diesem Zusammenhang durchaus kritisch diskutiert werden. Er ist als eine Arbeitshypothese zu sehen, um die Differenzierung aufzuzeigen, die ich hier diskutieren möchte. Gerechtfertigt scheint mir der Ausdruck insofern, als auch relationale Ansätze durchaus „natürliche Beziehungen“ unterstellen – wenn etwa MigrantInnennetzwerke betrachtet werden, die auf familiären Verbindungen aufruhen.
ŘŞŚ
6ȳZusammenfassung
Andererseits sind hier Ansätze wie jener von Andreas Pott (Pott 2ŪŪ2a) zu nennen, der seinen sozialwissenschaftlichen Raumbegriff ausschließlich auf kommunikativen Akten aufbaut. Allerdings ist einschränkend zu bemerken, dass derartige konstruktivistische Ansätze momentan in der empirischen Migrationsforschung eine weit untergeordnete Rolle spielen, wenn man einen Vergleich mit der Relevanz essentialistischer und relationaler Auffassung durchführt. In der vorhergehenden Analyse hat sich gezeigt, dass MigrantInnen und hochmobile Personen, deren Argumentationen auf konstruktivistischen Raumvorstellungen basieren, hoch gebildet und meist auch in entsprechenden beruflichen Positionen tätig sind. Konstruktivistische Raumannahmen bildeten dabei auch die Basis für politisches Engagement oder die kritische Auseinandersetzung mit ansonsten gebräuchlichen migrantischen Selbstbildern.
6.ŗ.2
Reflexionsebenen einer raumsensiblen Methodologie in der Migrationsforschung
Mit der soeben vorgenommenen Unterscheidung von Raumannahmen erhebt sich die Frage, wie diese nun konstruktiv zur Überwindung der beschriebenen methodologischen Schwierigkeiten in der Migrationsforschung genutzt werden können. Eine Möglichkeit besteht darin, dass – so es die Forschungsfrage und das Untersuchungsinteresse bedingen – raumtheoretische Konzepte als theoretischer Rahmen für migrationssoziologische Studien herangezogen werden. Mein Fokus liegt hingegen auf der methodologischen Diskussion eines raumsensiblen Zugangs zu Migration und besteht darin, Reflexionsebenen zur Raumthematik in die Migrationsforschung einzubauen. Als derartige Reflexionsebenen schlage ich drei Ebenen vor: Erstens wird die Ebene der untersuchten Personen oder Gruppen raumtheoretisch aufgearbeitet: Dabei geht es darum zu klären, welche Raumkonzepte die untersuchten AkteurInnen ihrem Handeln zugrunde legen und welche Auswirkungen sich dadurch für ihr Handeln ergeben. Die soziologisch spannende Frage ist dabei zu klären, welche sozialen Funktionen Raumkonzepte erfüllen bzw. zu welchen Lebensrealitäten und -sichtweisen sie beitragen. Zentral ist dabei die Frage, welche Machtverhältnisse durch (im Alltagshandeln meist unreflektierte) Raumannahmen gestärkt oder infrage gestellt werden. Zweitens gilt es, die Konstruktionen zweiter Ordnung (Schütz ūųűū) unter diesem Blickwinkel zu betrachten, womit die Ebene der Forschungspraxis angesprochen ist: Von welchen räumlichen Konstruktionen gehen
6.1ȳEin raumsensibler ForsĖungsansatz
ŘŞś
MigrationsforscherInnen selbst (implizit und explizit) ausȺ? Wie beeinflusst dies das Erkenntnisinteresse, die Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand, die ausgewählten Erhebungsmodi und die Interpretation der ForschungsergebnisseȺ? Drittens wird danach gefragt, wie Raumkonzepte, die durch soziale Institutionen gestützt werden, auf einen bestimmten Lebensbereich von MigrantInnen wirken. Auch hier stellt sich die Frage, welche Funktionen den identifizierten Raumkonstruktionen institutionell zukommen und sich auf die soziale Praxis von MigrantInnen auswirken. Diese drei Analyseebenen, auf denen eine raumsensible Migrationsforschung operiert, sind dabei in der Forschungspraxis kaum strikt voneinander zu trennen, weil sie aufs Engste miteinander verknüpft sind und einander beeinflussen. Dennoch erscheint es sinnvoll sich zur besseren Verständlichkeit auf eine getrennte Diskussion dieser drei Ebenen zu einigen. Im Folgenden werden die genannten Ebenen einer raumsensiblen Migrationsforschung an forschungspraktischen Beispielen kurz charakterisiert: Handlungsleitende Raumkonzepte von MigrantInnen Wenn man sich der Betrachtung von Raumkonzepten zuwendet, auf denen das soziale Handeln von MigrantInnen aufruht, so fällt auf, dass sich unterschiedliche Konzepte rekonstruieren lassen. Welches Raumkonzept dem jeweiligen Handeln oder den Ausführungen von Untersuchungspersonen zugrunde liegt, ist dabei situations- und kontextabhängig und kann daher auch je nach Diskussionszusammenhang für ein und dieselbe Person variieren. Außerdem stehen die von AkteurInnen zugrunde gelegten Raumannahmen in Zusammenhang mit den Ressourcen, die einer Person zur Verfügung stehen und den biographischen Erfahrungen, auf denen diese Raumannahmen aufruhen. Aufgrund meiner eigenen empirischen Analysen sowie einer exemplarischen Sekundäranalyse migrationstheoretischer Literatur ist anzunehmen, dass sich MigrantInnen (wie Nicht-MigrantInnen) meist auf essentialistische Raumannahmen stützen (vgl. auch Dahinden 2ŪŪų). Für Fragestellungen der Migration zeigt sich dies am deutlichsten in den vielfältigen Bedeutungszuweisungen, die Wandernde bezogen auf Nationalstaaten vornehmen. Dies ist aufgrund der Bedeutung und Geschichte des nationalstaatlichen Denkens nicht verwunderlich und wird auch im alltäglichen Lebensvollzug immer wieder in Interaktionen bestätigt. Beispiele dafür liefern etwa die häufig auftretenden Vergleiche von Regionen, Städten oder Staaten in Interviews mit MigrantInnen. In einer raumsensiblen Sichtweise fällt auf, dass diese karto-
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6ȳZusammenfassung
graphisch fixierten, politischen Einheiten und deren EinwohnerInnen von den AkteurInnen häufig generalisierend Eigenschaften zu- bzw. abgesprochen werden. Dies zeigte sich etwa deutlich in den oben diskutierten und von mir durchgeführten Interviews mit ausgewanderten ÖsterreicherInnen, in denen immer wieder – anhand unterschiedlicher Beispiele – auf die beengende Wirkung Österreichs hingewiesen wurde oder auf die geringe Bereitschaft der ÖsterreicherInnen, sich in unterschiedlichsten Lebensbereichen mit Neuartigem auseinander zu setzen. Im Gegensatz dazu wurden die USA (bzw. eine US-Stadt) als jener Ort beschrieben, an dem die Handlungsorientierung am Wert der Selbstverwirklichung tatsächlich verfolgt werden kann und die charakterlichen Eigenschaften der BewohnerInnen eine derartige Weiterentwicklung fördern. Eine solche generalisierende Argumentationslinie lässt sich dabei nur aufbauen, wenn ein essentialistisches Raumkonzept zugrunde gelegt wird. Über diese Denkfigur gelang es InterviewpartnerInnen auch, rückblickend schwierige Phasen der Auswanderung als Lernmöglichkeiten zu deuten, die ihnen letztendlich zu größerer Autonomie und persönlicher Weiterentwicklung verholfen haben. Neben derartigen essentialistischen Raumannahmen lassen sich häufig auch relationale Vorstellungen als Perspektive von MigrantInnen rekonstruieren. Unter relationalen Raumkonzepten werden all jene Annahmen zusammengefasst, in denen sich Raum aufgrund von sozialen Beziehungen aufbaut. In der Migrationsforschung finden sich zahlreiche Beispiele dafür, dass (vor allem familiäre) soziale Beziehungen eine entscheidende Bedeutung für Wanderungsverläufe einnehmen (vgl. hierzu etwa die Ergebnisse von Ackers und Stalford 2ŪŪű). Familiennachzug und familiär bedingte Formen der Kettenwanderung werden in der Migrationsforschung berechtigterweise seit Langem als bedeutende soziale Prozesse angesehen, ohne die viele Migrationsprozesse kaum adäquat zu deuten wären. In diesem Kontext spielen relationale Raumannahmen eine große Rolle: Über jene Personen, die bereits gewandert sind, wird nicht nur eine materielle, sondern auch eine mentale „Brücke“ gebaut, wie dies etwa in der Fallgeschichte von Frau Waldorf deutlich wurde. Ihre Schwester war bereits in die USA ausgewandert, mit einem US-Amerikaner verheiratet und lud Frau Waldorf ein, bei der Familie zu leben. Dieses Angebot war dabei durchaus nicht uneigennützig, da von Frau Waldorf im Gegenzug erwartet wurde, dass sie ihrer Schwester im Haushalt und bei der Kinderbetreuung hilft, während ihr eigener Sohn vorerst bei Frau Waldorfs Mutter in Österreich blieb. Fast drei Jahrzehnte später meinte Frau Waldorf im Interview rückblickend, dass sie ohne die Aufforderung und Unterstützung ihrer Schwester kaum je in die USA ausgewandert wäre.
6.1ȳEin raumsensibler ForsĖungsansatz
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Im Gegensatz zu essentialistischen und relationalen Raumannahmen deuten die hier vorgenommenen (sekundär-)analytischen Arbeiten darauf hin, dass konstruktivistische Raumannahmen bei MigrantInnen die Ausnahme sind. Dabei ist diese Analysearbeit als Beginn einer raumsensiblen Arbeit zu sehen, die in Zukunft noch fortzusetzen sein wird. Aufgrund der im vorherigen Abschnitt analysierten migrationswissenschaftlichen Literatur liegt die Vermutung nahe, dass insbesondere Personen mit hohem Bildungsgrad und mit entsprechenden beruflichen Positionen und Lebensformen aufgrund konstruktivistischer Raumansätze ihr Leben reflektieren. Dies zeigte sich etwa deutlich bei Frau Jungwirth, die u.ȹa. bereits eingangs in der Einleitung des Buches zitiert wurde. Eine weitere Facette konstruktivistischer Raumannahmen zeigt sich in der Studie von Sabine Strasser (2ŪŪ3): Sie schildert das Selbstverständnis von kenol Akkiliç, der als politischer Aktivist immer wieder mit ethnisierten bzw. nationalisierten Zuschreibungen von außen konfrontiert ist. Auf Basis eines konstruktivistischen Raumverständnisses hinterfragt kenol Akkiliç alltägliche „Verräumlichungen“ von Herkunft: Er thematisiert die Gefahr, die sich daraus ergibt, wenn sich Personen in einem bestimmten erdräumlichen Ausschnitt beheimatet fühlen und daraus einen politischen Anspruch auf dieses Land ableiten. Nationen sieht er als Ergebnis wirtschaftlicher und politischer Prozesse, was für seine eigene Biographie einschneidende Folgen hat. Aufgrund seiner nationalen und internationalen Migrationserfahrungen kann er selbst kaum mehr angeben, wo er sich zu Hause fühle. Schwierig sind für ihn in diesem Zusammenhang insbesondere Situationen, in denen er von anderen dazu aufgefordert wird, seine Herkunft zu benennen. Die Problematik für ihn liegt dabei in den Folgerungen, die sein Gegenüber von den jeweiligen Antwortmöglichkeiten ableitet. Bezeichnet er sich etwa als Kurde, ist er mit diskriminierenden Zuschreibungen konfrontiert. Aufgrund einer Herkunft, die für ihn selbst eine gänzlich andere Bedeutung hat, kann Herr Akkiliç in derartigen Alltagssituationen nicht verhindern, dass er Abwertungen und Fehlurteilen ausgesetzt ist. An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, wie schwierig es für MigrantInnen sein kann, Zuschreibungen zu entkommen, die auf einem essentialistischen Raumverständnis basieren. Da sich kenol Akkiliç politisch engagiert, muss er nicht nur in seinem privaten Umfeld mit derartigen Vorurteilen umgehen, sondern auch in seiner politischen Arbeit. Aufgrund seiner Ausbildung und politischen Tätigkeit lehnt er nicht nur die vorgenommenen Zuschreibungen ab, sondern stellt diese Konzeption von Zuschreibungen generell infrage. Offen bleibt in der Studie von Sabine Strasser die Frage, inwiefern konstruktivistische Zugänge zum Raum Möglichkeiten des politischen
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6ȳZusammenfassung
Aktivismus und der Emanzipation für MigrantInnen bieten. Derartige Fragestellungen würden sich aus einer raumsensiblen Perspektive für künftige Forschungsvorhaben anbieten und könnten zu interessanten Einsichten führen. Raumtheoretische Annahmen von MigrationsforscherInnen Migrationssoziologische Arbeiten zeichnen sich zum Großteil dadurch aus, dass Raumannahmen der AkteurInnen kaum thematisiert und auf ihre gesellschaftlichen Konsequenzen hin untersucht werden. Dasselbe gilt für die Raumannahmen, mit denen sich MigrationsforscherInnen an die Arbeit machen: Auch hier gibt es einige wenige Beispiele für ein raumtheoretisch reflektiertes Vorgehen, der Großteil sozialwissenschaftlicher Migrationsforschung baut jedoch auf impliziten Raumannahmen auf. Dies führt vor allem zu zwei Problembereichen: Erstens kann es aufgrund eines unreflektierten Raumverständnisses dazu kommen, dass die Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten der MigrantInnen nicht adäquat nachvollzogen werden. Ein deutliches Beispiel für die Schwierigkeit, die aktuellen Lebensbezüge von MigrantInnen adäquat zu untersuchen, zeigt sich etwa in der Diskussion um die Folgen von Migration insbesondere für die Zweite Generation: Während etliche Studien die Heterogenität der Lebensbedingungen und die neu entstehenden Lebensräume von Menschen mit Migrationshintergrund beschreiben, haben sozialwissenschaftliche Forschungen in der Tradition assimilationstheoretischer Ansätze häufig Schwierigkeiten nicht eindeutig national zuordenbare Merkmale (wie etwa mehrsprachige Kenntnisse oder soziale Netzwerke) ausschließlich als Merkmale von mangelnder oder misslungener Integration zu deuten. Dabei ist es jedoch wichtig anzumerken, dass die Beforschung sozialer Ungleichheit und Diskriminierung von Personen mit Migrationshintergrund ein nach wie vor wichtiges Thema der Migrationsforschung ist, das in seiner Bedeutung nicht geschmälert wird. Erfahrungen der Marginalisierung und strukturelle Diskriminierung müssen Teil des sozialwissenschaftlichen Forschungsprogrammes bleiben, um gesellschaftliche Problemfelder aufzudecken. Allerdings scheint es aufgrund der bisherigen Forschungslage angebracht, zu Untersuchungsanlagen zu finden, die sowohl positive als auch negative Aspekte migrantischer Lebenszusammenhänge aufzeigen können. Dass die klassische Migrationsforschung in diesem Bereich Schwachstellen aufweist, haben in den letzten Jahrzehnten Forschungsansätze gezeigt, die von einer Problematik der Dualismen ausgehen und so Mischformen der Migration und Mobilität, der Zugehörigkeit und der Eingliederung in den Blick nehmen. Hierzu zählen etwa Theorieansätze, die die Fluidität und Hybridität zentral
6.1ȳEin raumsensibler ForsĖungsansatz
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setzen (vgl. etwa Appadurai ūųųŰ; Urry 2ŪŪ3) sowie Ansätze, die die Heterogenität von Migrationsphänomenen herausstreichen (vgl. hierzu etwa die Arbeiten, die in Kapitel 3.3 besprochen werden). Trotz dieser aufschlussreichen Forschungsergebnisse fällt es uns aufgrund unserer national geprägten Sichtweise nach wie vor schwer, soziale Zusammenhänge nachzuzeichnen, die sich nicht innerhalb der Schemata des Nationalstaats fassen lassen. Die Einführung einer raumsensiblen Methodologie in der Migrationsforschung eröffnet hingegen die Möglichkeit, Beschränkungen des methodologischen Nationalismus und „Gruppismus“ (Brubaker 2ŪŪű) zu hinterfragen und somit zu Forschungszugängen zu finden, die sowohl gesellschaftliche Benachteiligung als auch die Heterogenität migrantischer Lebenszusammen hänge sichtbar machen. Zweitens können raumtheoretisch unspezifische Vorgehensweisen in der Migrationsforschung keine Fragen nach dem Zusammenhang zwischen vorherrschenden Raumkonzepten einerseits und Fragen des Ein- und Ausschlusses in einer Gesellschaft, des Zugangs und der Gruppenbildungen und somit Grenzziehungen zwischen Gruppen nachgehen. In einer raumsensiblen sozialwissenschaftlichen Analyse geht es jedoch darum, zu untersuchen, welche Raumvorstellungen in einer bestimmten sozialen Konstellation vorherrschend sind. Raumkonzepte eröffnen je nach Kontext unterschiedliche Handlungsräume bzw. beschränken diese für Personengruppen. Dabei ist es wenig hilfreich, gerade in der Migrationsforschung ein materialistisches Raumdenken zu verabschieden, da es in der sozialen Wirklichkeit durchaus weiterhin strukturierend wirkt. Die Untersuchung der sozialen Funktionen von Raumvorstellungen im Kontext der Migrationsforschung kann dazu beitragen, Fragen der sozialen Ungleichheit auf eine nicht-essentialisierende Art und Weise anzugehen. Eine raumsensible Vorgehensweise in der Migrationsforschung würde Problemen des methodologischen Nationalismus somit insofern entgegen wirken, als während des gesamten Forschungsprozesses der Stellenwert von Ethnizität, Migrationshintergrund und nationaler Zuordnung hinterfragt wird. Dies ist etwa bereits in der Konzeptionsphase eines Forschungsprojektes wertvoll, da die Auswahl der Untersuchungs- und Vergleichsgruppen anhand raumtheoretischer Überlegungen reflektiert werden können. Auch bei der Erstellung der Erhebungsinstrumente ist – wie weiter oben ausführlich argumentiert – davon auszugehen, dass die Art der Fragestellung bereits die Antwortmöglichkeiten der InterviewpartnerInnen vorstrukturiert. In einer raumsensiblen Forschungsperspektive ist es daher durchaus überlegenswert, wie räumliche „Subtexte“ in den datengenerierenden Interventionen der For-
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6ȳZusammenfassung
scherInnen möglichst vermieden werden können. So ist etwa zu hinterfragen, ob der von den InterviewerInnen häufig angestoßene bzw. in quantitativen Erhebungen abgefragte direkte Vergleich zwischen Personen unterschiedlicher Nationalitäten/Ethnien (oder zwischen dem Herkunfts- und dem Land, in dem sich die MigrantInnen niedergelassen haben) tatsächlich Schlüsse über die Sichtweisen, Lebensumstände und Handlungszusammenhänge der AkteurInnen zulassen. Neben derartigen Vorgehensweisen, die auf unreflektierten containerhaften Raumannahmen von MigrationsforscherInnen beruhen, sind häufig relationale Raumkonzepte Basis der Forschungen, die andere Untersuchungsanlagen (und somit Ergebnisse) ermöglichen: Relationale Raumkonzepte eröffnen die Sichtweise auf soziale Beziehungen und ihre Bedeutungen für die untersuchten Personen. Dabei treten die territorialen, nationalen und ethnischen Zuordnungen vorerst in den Hintergrund, da der Forschungszugang ausgehend von den AkteurInnen selbst gewählt wird. Dies ermöglicht, dass die Bedeutung einer Verortung, die von den RespondentInnen vorgenommen wird, in der Folge untersucht werden kann und so zu einem Explanans und nicht zum Explanandum wird. Beispiele für die methodologische und methodische Umsetzung sind dabei etwa migrationssoziologische Netzwerkuntersuchungen oder die Methode der graphischen Darstellungen in qualitativen Interviews. Letztere ermöglicht den InterviewpartnerInnen unabhängig von der territorialen Verortung unterschiedlichste soziale Beziehungen in ihrer Komplexität zu beschreiben und Bezüge zu ihrem Alltag herzustellen (Scheibelhofer 2ŪŪŰb). Auf diese Art wird die Bedeutung von geographischer Distanz nicht bereits durch die MigrationsforscherInnen vorgegeben, sondern kann anhand der Erzählungen und Angaben der Interviewten rekonstruiert werden. Auch die Bedeutung von Ethnizität und Fremdheit kann dadurch aus dem Interview- und Zeichenmaterial heraus gedeutet werden, ohne dass die Problematik der Vorgaben durch die MigrationsforscherInnen selbst den Blick auf die interessierenden Bedeutungszusammenhänge verstellen. Konstruktivistische raumtheoretische Annahmen finden sich (meist implizit) häufig in Arbeiten, die sich mit der Thematik der Ethnizität in Einwanderungsgesellschaften befassen. Dabei scheint ein derartiger Ansatz insbesondere dann hilfreich zu sein, wenn von einer theoretischen Position ausgegangen wird, die die Zuschreibungen zu ethnischen Gruppen bzw. diesbezügliche Eigendefinitionen als soziologisches Thema aufgreifen (vgl. etwa Jenkins ūųųű; Wimmer 2ŪŪű). Diese Arbeiten haben gemein, dass die Konstruktionsleistung ethnischer Differenzierungen sowie ihre gesellschaftlichen Funktionen im Mittelpunkt des Interesses stehen, wobei die genannten
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Autoren in ihren Ausführungen keine raumspezifischen Aussagen tätigen. Explizit mit Raumtheorien beschäftigt sich Andreas Pott in seiner Arbeit zu BildungsaufsteigerInnen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland. Dabei geht er von einem Raumbegriff aus, in dem der Raum ausschließlich aus kommunikativen Akten hergestellt wird und somit der sozialwissenschaftlichen hermeneutischen Rekonstruktion bedarf. Der Raum ist bei Andreas Pott eine Handlungsressource, die je nach biographisch-gesellschaftlichem Hintergrund aktiviert wird oder nicht. Konstruktivistische Raumansätze in der Migrationsforschung finden sich in den letzten Jahren auch bei AutorInnen, die sich mit skalaren Konzepten auf systemischer Ebene beschäftigten, wie im folgenden Abschnitt noch weiter ausgeführt wird. Systemimmanente Raumkonzeptionen Mit dieser dritten Ebene einer raumsensiblen Migrationsforschung werden jene Raumkonstruktionen in den Blick genommen, die in soziale Systeme eingelassen sind und somit wiederum durch sie forciert werden. Dabei kommt dem Nationalstaat und seinen Institutionen in modernen Gesellschaften eine herausragende Bedeutung zu, da durch sie das Alltagsleben von MigrantInnen nachhaltig geprägt wird – und zwar auch durch Raumkonstruktionen, die durch die Institutionen des Nationalstaats mit transportiert werden1ś0. Auf dieser Ebene wird daher ein containerhaftes Raumverständnis forciert, was sich etwa in den staatsbürgerlichen (Zugangs-)Rechten und den nationalstaatlichen Regelungen der Zuwanderung niederschlägt. Dem Nationalstaat untergeordnet sind andere soziale Institutionen – wie der Arbeitsmarkt, das Bildungs- und Gesundheitswesen eines Nationalstaates – die den Lebenslauf der AkteurInnen und ihre Wanderungsentscheidungen maßgeblich prägen. Auch die Regelungen des Zugangs zu diesen sozialen Institutionen basieren zum Großteil auf containerhaften Raumvorstellungen: MigrantInnen wird in unterschiedlich restriktiver Abstufung etwa der Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt laut Ausländerbeschäftigungsgesetz gewährt; Ansprüche an das Gesundheitssystem und andere wohlfahrtstaatliche Leistungen sind an eine Fülle von Kriterien gebunden, die teilweise je nach österreichischem Bundesland verschieden ausfallen bzw. gehandhabt werden. Diese containerhaften Raumvorgaben, die über diese Regelungen transportiert werden, haben für MigrantInnen handfeste Auswirkungen: Studien belegen etwa, wie 1ś0Ȳ
Dahinden (Dahinden Ř009) hat jüngst darauf hingewiesen, dass sich die nationalstaatliche Ideologie bereits global derart durchgesetzt hat, dass inzwischen nicht mehr von einem „westlichen“ Phänomen gesprochen werden kann.
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6ȳZusammenfassung
sich Migrantinnen, die in privaten Haushalten in Österreich und Deutschland arbeiten, über Pendelstrategien der regelmäßigen Aus- und Einreise den (halblegalen) Status der Touristin aufrecht erhalten können (Lutz 2ŪŪ3). Auch die medizinische Versorgung wird von vielen MigrantInnen transnational gelöst: Es ist hinlänglich bekannt, dass viele der undokumentiert arbeitenden MigrantInnen im Falle einer Erkrankung in ihr Herkunftsland zurückfahren, um dort medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen. In den Praktiken und Deutungen von MigrantInnen spiegeln sich somit essentialistische Raumannahmen wider – und dies mit gutem Grund. Nur so können sie in diversen alltäglichen Handlungsfeldern über innovative, „eigensinnige Praxen“ (Hess 2ŪŪ3a, 3ŪŰ) ihren sozialen Status sicher stellen. In den letzten Jahren ist zudem der Skalierungsansatz, wie ihn Autoren wie Neil Brenner (Brenner ūųųű; Brenner 2ŪŪ4), Erik Swyngedouw (Swyngedouw ūųųű) und Robert Cox (Swyngedouw ūųųű) ausgearbeitet haben, auch vereinzelt in der Migrationsforschung zum Einsatz gekommen (vgl. etwa Glick Schiller und Caglar 2ŪūŪ). Mit dem Begriff der Re-Skalierung werden Veränderungen der Beziehungen und Gewichtungen von territorialen Einheiten in Relation zueinander beschrieben, wobei ursprünglich vor allem auf wirtschaftliche und politische Zustände Bezug genommen wurde. Der Diskurs ist im Zusammenhang mit globalisierungstheoretischen Überlegungen zu sehen und basiert u.ȹa. auf den raumspezifischen Überlegungen von David Harvey. Dessen Konzept der ‚Zeit-Raum-Kompression‘ (Harvey ūųųŪ, (19Ų9)) weist auf den Zusammenhang kontinuierlicher zeitlicher Beschleunigung des Kapitalumlaufs und räumlicher Umstrukturierung hin. Der raumtheoretische Zugang über Skalierungen erlaubt es somit, Lokalität unter den jeweils spezifischen sozioökonomischen und historischen Rahmenbedingungen von Machthierarchien in der Analyse zu berücksichtigen. Der Raum wird hier als produziert, vielfältig und relational gesehen, da Positionierungen auf einer Skala zwangsläufig nur über den Vergleich mit anderen Einheiten vorgenommen werden können. In der Migrationsforschung wurden bisher skalare Überlegungen angewandt, um unterschiedliche „Inkorporationsmuster“ von MigrantInnen zu untersuchen (Caglar 2ŪŪŰ; Glick Schiller 2ŪŪű; Glick Schiller, Caglar et al. 2ŪŪŰ). Unter Inkorporation sind dabei Wege der Teilhabe an sozialen Netzwerken zu verstehen, wobei zwischen divergierenden Formen der Inkorporation unterschieden wird. So wurde etwa die Möglichkeit der Inkorporation über religiöse Netzwerke diskutiert und der gesellschaftliche Aufstieg über die Teilhabe an wirtschaftlichen Unternehmungen im Herkunftsland. Der Ansatz der Inkorporation geht dabei davon aus, dass eine Person über unter-
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schiedliche Inkorporationsmodi mit anderen in Kontakt stehen kann. Hierzu zählt etwa die Familie, eine über die Ethnie definierte Gruppe oder – wie bereits genannt – religiöse Vereinigungen. Die AutorInnen weisen auch darauf hin, dass diese migrantischen Inkorporationsmodi von den jeweiligen Rahmenbedingungen abhängig sind, wobei der Siedlungsform eine bislang vergleichsweise geringe Beachtung in der soziologischen Migrationsforschung geschenkt wurde. Während der Zusammenhang zwischen globalen Städten und deren Migrantenpopulationen seit Jahren bearbeitet wird (Sassen ūųųū), ist der Wissensstand über die diesbezügliche Lage in Städten und Gemeinden, die nicht zu derartigen Knotenpunkten des sozioökonomischen Geschehens zählen, überschaubar. Nina Glick Schiller und Ayse Caglar haben sich daher insbesondere der Thematik verschrieben, wie sich unterschiedliche skalare Positionierungen von mittleren und kleineren Städten innerhalb der globalen Kapitalströme auf das Migrations- und Inkorporationsgeschehen an diesen Orten auswirkt. In den bisher vorliegenden Fallstudien der genannten Autorinnen wird jedoch deutlich, dass die angestellten Überlegungen zu Skalierungen (auf wirtschaftlicher, politischer, kultureller, sozialer und wohlfahrtsstaatlicher Ebene) bislang methodologisch noch kaum in migrationssoziologische Untersuchungen zu integrieren sind. Es ist daher zu vermuten, dass eine überzeugende skalentheoretische Reflexion der Untersuchungsorte bezogen auf das Migrationsgeschehen künftig mit einem großen Aufwand betrieben werden müsste. Dennoch ist an diesem Zugang wertvoll, dass lokale Differenzen, die auf globale sozioökonomische und politische Prozesse zurückzuführen sind, in Migrationsstudien in dieser Form berücksichtigt werden können. Ebenso bleiben die genannten AutorInnen nicht dabei stehen, Städte innerhalb eines Nationalstaats miteinander zu vergleichen, sondern erweitern auch diesbezüglich ihren Analyserahmen. In ihrer Untersuchung zu hometown associations (HTAs) kann Ayse Caglar eindrücklich nachweisen, wie ein skalarer Ansatz zu erhellenden Forschungsergebnissen in einem klassischen Untersuchungsfeld führen kann. Erst durch die Berücksichtigung von wirtschaftlichen und politischen räumlichen Veränderungen (die durch wirtschaftspolitische Interventionen in der untersuchten türkischen Industrieregion herbeigeführt wurden) wird nachvollziehbar, warum sich der untersuchte türkische Heimatverein in den letzten Jahren über derart großen Zulauf türkischer EmigrantInnen, die in Berlin ansässig sind, erfreuen darf (Caglar 2ŪŪŰ). Während die genannten AutorInnen nun für die gesamte Migrationsforschung die Einführung skalentheoretischer Zugänge einfordern (vgl. etwa
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6ȳZusammenfassung
Glick Schiller, Caglar et al. 2ŪŪŰ), sehe ich auch diesen Ansatz einer einheitlichen theoretischen und methodologischen Vorgehensweise für die gesamte Migrationsforschung kritisch. Es ist nicht zu erwarten, dass jede migrationssoziologische Fragestellung von einem skalentheoretischen Zugang profitiert. Dennoch ist es das Verdienst der genannten Arbeiten, dass sie zeigen, welches Potential in einer raumtheoretisch informierten Migrationsforschung liegt: Mithilfe des skalaren Zuganges konnten in den beiden genannten Untersuchungsfeldern neue Einsichten und Erkenntnisse gewonnen werden, die mithilfe der üblichen theoretischen Rahmungen nicht erzielt worden wären.
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Graphische Übersicht zu den Analyseebenen in der Migrationsforschung und Raumannahmen
Durch die soeben beschriebene Unterscheidung in drei Analysedimensionen für die Migrationsforschung und drei Raumkonzepte entsteht eine NeunFelder-Tafel, die den folgenden Überblick gibt: Graphik 7
Dimensionen einer raumsensiblen Migrationsforschung
Raumannahmen
Analyseebenen AkteurInnen
ForscherInnen
Soziale Systeme
Essentialistisch
Identität wird territorial gebunden und über lange Zeiträume hinweg definiert
Territorialer methodologischer Nationalismus prägt die Forschung
(Supra-) Nationalstaatliche Gesetze der Einwanderung und Beschäftigung
Relational
Soziale Beziehungen ausschlaggebend für Migrationsentscheidung (etwa innerhalb der Familie)
Soziale Beziehungen als Ausgangspunkt für die Untersuchung von Lebensrealitäten
„Schlupflöcher“ innerhalb von nationaler Aufenthalts- und Beschäftigungsregelungen
Konstruktivistisch
Territorialitätsprinzip und ortsgebundene Zuschreibungen als soziale Herstellungsleistung
Raum wird auch jenseits von Relationen konzipiert (heterotope, dritte, verflüssigte Räume)
Skalare Auswirkungen politischer/ wirtschaftlicher Interventionen auf Regionen und deren Folgen für Migration
6.1ȳEin raumsensibler ForsĖungsansatz
Ř9ś
Die drei Ebenen, auf denen eine raumsensible Migrationsforschung ansetzt (AkteurInnen – ForscherInnen – Systeme), sind im Forschungskontext häufig nicht eindeutig voneinander zu trennen, da sie alle aus den Alltagsinteraktionen gespeist werden – und diese auch wieder beeinflussen. Dass in der vorliegenden Arbeit dennoch diese Unterscheidung eingeführt wird, dient der Verdeutlichung der unterschiedlichen Dimensionen einer raumsensiblen Migrationsforschung. Dabei sind Forschungsvorhaben, in denen Fragen von Raum und Migration zentral behandelt werden, nicht der Fokus der Arbeit. Für derartige Vorhaben wurden bereits methodologische Überlegungen angestellt, die hierfür durchaus weiterentwickelt werden können (vgl. Löw 2ŪŪū, Sturm 2ŪŪŪ). Die Mehrzahl migrationssoziologischer Arbeiten setzt sich aber gerade nicht mit einer Forschungsfrage auseinander, die auf eine Raumthematik eingeschränkt wird – und dies angesichts der breiten Themenpalette der Migrationsforschung auch für die Zukunft nicht wünschenswert; in letzterem Fall erscheint es mir sinnvoll, sich die drei Ebenen einer raumsensiblen Migrationsforschung zu vergegenwärtigen, um eine raumbezogene Reflexion innerhalb der Migrationsforschung wie beschrieben zu verankern: Auf der Ebene der AkteurInnen könnte dies etwa bedeuten, das Datenmaterial darauf hin zu durchleuchten, mit welchen Raumvorstellungen die untersuchten Personen (implizit) operieren, von welchen Rahmenbedingungen ein beobachteter Wechsel von einer zur anderen Raumkonstruktion abhängt bzw. welche Folgen für das soziale Gefüge die Raumannahmen der untersuchten Personen haben. Auf Ebene der MigrationsforscherInnen bedeutet es, sich selbst während einer Untersuchung dahingehend zu hinterfragen, mit welchen (impliziten) Raumannahmen das Forschungsteam hantiert. Dies ist insbesondere bei der Planung einer Untersuchung zu hinterfragen, etwa wenn es darum geht, eine bestimmte Untersuchungsgruppe festzulegen. Hier sollte eine Prüfungsphase innerhalb des Teams erfolgen, aufgrund derer Vorannahmen eine Untersuchungsgruppe eingegrenzt und benannt werden. Unter Umständen lassen sich hier bereits Auswirkungen des methodologischen Nationalismus feststellen und eindämmen – indem etwa Begrifflichkeiten wie „AusländerIn“, „DrittstaatsangehörigeR“, „Zweite Generation“ o.ȹä. auf ihre empirische Relevanz hin überprüft werden. Ziel dieser Reflexionsschleife ist es, schon vor dem Beginn einer empirischen Erhebung oder Auswertung die Perspektivität einer Migrationsstudie explizit zu machen und gegebenenfalls durch Änderungen des Forschungsdesigns zu korrigieren. Derartige Reflexionsschleifen zum Raumverständnis der involvierten MigrationsforscherInnen im Gegensatz zu ihren Untersuchungssubjekten könnten an entscheidenden Stellen eines
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6ȳZusammenfassung
Forschungsprojektes wiederholt werden. Damit ließen sich unter Umständen Fehlinterpretationen sozialer Zusammenhänge in der Migrationsforschung vermeiden, wenn etwa die Raumvorstellungen der ForscherInnen dazu führen, dass Lebensrealitäten von MigrantInnen ausgeblendet werden, weil sie nur mit relationalen (oder in seltenen Fällen) konstruktivistischen Raumvorstellungen erfasst werden könnten. Ebenso geht es darum, Machtkonstellationen zu rekonstruieren, die mit impliziten Raumannahmen transportiert und verfestigt werden. MigrationsforscherInnen sollten etwa nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass der Ort der Geburt bzw. die soziale Konstruktion von nationaler Zugehörigkeit der wohl wichtigste Platzanweiser in unserer Gesellschaft ist – noch viel entscheidender als Ausbildung, beruflicher Werdegang oder die Leistungsbereitschaft der AkteurInnen. Dieses Faktum läuft unserem gängigen Verständnis einer modernen, leistungsorientierten Gesellschaft zuwider – und wird daher in der öffentlichen Diskussion und dem Alltagsverständnis „erfolgreich“ ausgeblendet. Eine ernstzu nehmende sozialwissenschaftliche Migrationsforschung hat jedoch die Aufgabe, derartige Grenzziehungen, Ausschlüsse und soziale Ungleichheiten aufzuzeigen, anstatt essentialistische Annahmen zu Ethnizität durch eine national und ethnisch operierende Forschungsarbeit noch weiter zu unterstützen. Eine raumsensible Migrationsforschung zeichnet sich somit zusammenfassend betrachtet dadurch aus, dass sie je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand die relevanten Ebenen raumtheoretisch informiert hinterfragt. Die in Graphik ű beschriebenen mittleren Felder sind dabei als beispielhafte Ausprägungen zu sehen und dienen der besseren Verständlichkeit. Je nach migrationssoziologischem Forschungsgegenstand werden die Inhalte der neun Felder jedoch unterschiedlich ausfallen. Für die migrationssoziologische Arbeit bedeutet dieser raumtheoretisch informierte Zugang, dass ForscherInnen ihre eigenen Herangehensweisen in allen Stadien einer Untersuchung raumspezifisch hinterfragen können. Über das Hinterfragen der gängigen Zuordnungen von Personen, Gruppen oder ganzen Bevölkerungssegmenten zu spezifischen territorialen Ausschnitten des Globus wird somit erleichtert, dass wir zu einem adäquateren Forschungszugang finden. Der Ertrag liegt darin, dass die vorhandenen Lebensrealitäten von MigrantInnen in ihrer Komplexität und Veränderlichkeit besser nachvollzogen werden kann und dass soziale Ungleichheit jenseits nationalstaatlicher Logiken dargestellt werden.
6.ŘȳDas Potential einer raumsensiblen MigrationsforsĖung 6.2
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Das Potential einer raumsensiblen Migrationsforschung im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs
Für die hier angestellten Raumüberlegungen bezogen auf die Migrationsforschung hat das Thomas-Theorem weitreichende Folgen: Nur wenn wir davon ausgehen, dass nationalstaatliche Zugehörigkeit rechtmäßig Personen mit jenen Merkmalen zugeschrieben wird und anderen nicht, können wir akzeptieren, dass Menschen, die die inzwischen sprichwörtliche „Festung Europa“ betreten möchten, in Lagern festgehalten werden oder im permanent auftretenden Extremfall an den sog. EU-Außengrenzen den Tod finden. Diese unhinterfragten, allseits akzeptierten und somit alltagstauglichen Annahmen rechtmäßiger Teilhabe sind machtpolitisch für viele Lobbies freilich willkommen und hilfreich. Aus einem wissenschaftlichen Diskurs heraus sollte meiner Ansicht nach jedoch darauf hingewiesen werden, dass auch andere Sichtweisen zumindest in Betracht zu ziehen sind, die unsere (moralischen) Sicherheiten zumindest in einem anderen Licht erscheinen lassen. Anja Weiss (Weiss 2ŪŪ2) hat etwa den treffenden Vergleich gezogen, wonach das indische Kastensystem – das von uns „zivilisierten EuropäerInnen“ aufs Schärfste abgelehnt wird – um keinen Deut ethisch eher zu rechtfertigen ist als unser Differenzierungskriterium, nach dem der Geburtsort bzw. die Staatsangehörigkeit der Familie den Ausschlag gibt. Hie wie da entscheidet die Geburt in eine Familie hinein bzw. der Geburtsort darüber, welcher globalen Kaste wir angehören. Derartige Fragen führen rasch in Grundsatzdebatten über die gesellschaftliche Rolle der Sozialwissenschaften und der Soziologie im Speziellen. Ulrich Beck (Beck 2ŪŪ2, 5ųȹff.) spricht dabei vom „Nationalstaatsprinzip“, das uns dazu verleitet, globale soziale Ungleichheiten zu akzeptieren bzw. erst gar nicht als solche wahrzunehmen, da wir daran gewöhnt sind, soziale Ungleichheit auf den Nationalstaat und seine „kleinen“ sozialen Ungleichheiten beschränkt zu denken – dies gilt nach Beck sowohl für die Öffentlichkeit als auch für die sozialwissenschaftliche Forschung. Diese „kleinen“ sozialen Ungleichheiten werden wiederum unter der Annahme diskutiert, dass innerhalb des Nationalstaats das Leistungsprinzip gelte und somit jedeR StaatsbürgerIn dieselben Chancen auf sozialen Aufstieg hat. Diese Differenzierung von Bewertungs- und Rechtfertigungsstrategien ist in jedem Fall gerade für die Migrationsforschung erhellend – zumal es dem aufklärerischen Grundgedanken einer Wissenschaft gut ansteht, derartige stillschweigend akzeptierten globalen Ungleichheitsverteilungen sichtbar zu machen.
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Verzeichnis der Graphiken
Graphik 1 Entwicklung der physischen Mobilität im Generationenvergleichȹ ............................................................... ȹ58 Graphik Ř Werbedarstellung eines Telekommunikationsanbietersȹ ............. ȹ5ų Graphik ř Methodologisches Quadrantenmodell für Raumȹ ........................ ȹű3 Graphik Ś Modell von Burgess (ūų25, 55) zu den Stadtgebieten Chicagosȹ ..................................................... ȹūŪ2 Graphik ś Vervielfältigung der Verbindungen zwischen geographischen und sozialen Räumenȹ ........................................ ȹū53 Graphik 6 Schematische Darstellung der Netzwerkzeichnung von Vera Jungwirthȹ ........................................................................ ȹ23ū Graphik 7 Dimensionen einer raumsensiblen Migrationsforschungȹ ........ ȹ2ų4
E. Scheibelhofer, Raumsensible Migrationsforschung, DOI 10.1007/978-3-531-94007-6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011