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Ulrich Streeck
Psychotherapie komplexer Persönlichkeits störungen
Ulrich Streeck
Psychotherapie komplexer Persön ...
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Ulrich Streeck
Psychotherapie komplexer Persönlichkeits störungen
Ulrich Streeck
Psychotherapie komplexer Persön Iich keitstöru ngen Grundlagen der psychoanalytisch-interaktionellen Methode
Klett-Cotta
Im Andenken an Jürgen Ott
Klett-Cotta
©
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr.
1659,
Stuttgart 2007 Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlags Printed in Germany .. Schutzumschlag: Klett-Cotta-Design F
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar
Inhalt
1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen und schwere Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . Organisation der Persönlichkeit und inneres Arbeitsmodell . . . . Komplexe Störungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Problematik des Störungsbegriffs und des Konzepts der Komorbidität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekompensation, auslösende Situation und
.. .. ..
19 20 22
..
24
Beziehungsstörungen als Therapiefokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 28 29
Soziale lebenswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zur existenziellen Bedeutung des sozialen Lebens. . . . . . . . . . . . . Interpersonalität in der Psychoanalyse und der soziologische Interaktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenleben mit Anderen und körperliche Gesundheit. . . . . .
Unbewusster Konflikt und Entwicklungsstörung .................
30 32 34 35 37 39
3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen. . . . . . .
43
Strukturelle Störungen und soziale Umwelt .............. ~ . . . Beeinträchtigungen basaler psychischer Funktionen bei
43
strukturellen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mentalisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Besonderheiten struktureller Störungen. . . . . . . . . . . . .
48 49 52
Psychische Dispositionen und interpersonelle Beziehungen . . . . . . . . .
Psychotherapie als »ta!k in interaction« ............... . . . . . . Erleben und Verhalten in Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Selbstentwicklung, Bindung, Mentalisieren und traumatisierende Entwicklungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 '
Inhalt
Strukturelle Störungen und soziale Ängste ..................... .
Zur Psychodynamik sozialer Ängste ....................... . Soziale Ängste und Abwehr von Sexualität .................. . Soziale Ängste und narzisstische Persönlichkeitsstörung ........ . Soziale Ängste und die Angst vor Kontrollverlust ............. .
61 65 68 69 70
Kooperation in der Behandlung: Der Therapeut ............. . Kooperation in der Behandlung: Der Patient ................ . Suizidales und selbstverletzendes Verhalten ................. . Umgang mit Medikamenten ............................ . Therapie außerhalb der Therapiezeiten .................... . Dauer der Behandlung ................................. .
4. Psychotherapeutische Methoden und therapeutische Kommunikation ...................... .
9
Inhalt
Rahmen und therapeutische Ordnung ..................... .
74
Gruppentherapie in der Ambulanz und in der Klinik. ......... .
77
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik ...... .
128 128 131 133 134 135 136 137
Modifikationen der Psychoanalyse für Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen ................................. .
Die psychoanalytisch-interaktionelle Modifikation
Das therapeutische Setting ................................ .
(Heigl und Heigl-Evers) ................................ . Selbst- und Beziehungsregulierung im Zentrum der
78
therapeutischen Aufmerksamkeit ........................... .
80 82
Strukturelle Störungen und die therapeutische Beziehung ......... .
Das Setting der Gruppentherapie ......................... .
Szenische Darstellungen, Enactments und nichtsprachliches Verhalten .......................... . Soziale Ängste und die therapeutische Beziehung ............. .
Das Setting der Einzeltherapie ........................... . Die Haltung des Psychotherapeuten ......................... .
Der Psychotherapeut als präsente andere Person .............. . Authentizität als Haltung ............................... .
89 94
Emotionale Akzeptanz und Gegenübertragungsgefühle ........ . Das therapeutische Gespräch .............................. .
Antworten .......................................... .
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie ............. . Zur Geschichte der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie .. . Progression statt Regression ............................. .
Aufklärung über die geplante Behandlung .................. .
97 99 102 103 103 103 106 106 109
Rahmenbedingungen .................................... .
111
Rahmenbedingungen als Vertrag ......................... .
113 123 123 124
Die therapeutische Arbeitsweise ............................ . Vor Beginn der Behandlung ................................ .
Die Zeit für die Vorbereitung des Patienten ................. . Zur Aufklärung des Patienten ........................... . Aufklärung über die Diagnose ........................... .
Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit ................. .
Fokus und Schwerpunkt der Behandlung................... . Behandlungsziele ..................................... . Aufgabenverteilung in der Therapie und die therapeutische Arbeitsweise ....................... .
126
Zum antwortenden Umgang mit Idealisierungen ............. . Antworten und Antizipation habituellen Verhaltens ........... . Antworten und das Primat der Progressionsorientierung ....... . Zur passageren Übernahme von psychischen Funktionen: Der Therapeut in der Funktion eines Selbstobjekts ........... . Zum therapeutischen Umgang mit Affekten ................ . Wahrnehmung und Differenzierung VQn Gefühlen ........... . Ausdruck von Gefühlen ................................ . Affekte und situativer Kontext ........................... . Zum therapeutischen Umgang mit nichtsprachlichem Verhalten .. Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog ..... . Besondere therapeutische Probleme ......................... .
Der Fokus: Richtschnur therapeutischen Handelns ........... . Psychotherapie von Patienten mit strukturellen Störungen als »Landgewinnung« ........ '.......................... . Zum Umgang mit Träumen ............................. .
139 140 140 142 143 144 145 147 150 152 164 168 170 173 180 180 184 185 186 188 204 204 205 206
~
o
11
Inhalt
Inhalt
Initiative zum Gesprächsbeginn .......................... Zum Umgang mit Schweigen ........................... Affektives und impulsives Verhalten ....................... Negative Übertragungen ............................... Suizidalität .......................................... Zeitliche Begrenzungen ................................
. . . . . .
208 209 209 210 212 213
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe ............... .
215 215 216 218 218 220 221 222
Öffentlich und privat: ein historischer Exkurs . .................. . Subjektives Erleben und interpersonelle Beziehungen . ............ . Interaktion in der therapeutischen Gruppe ..................... .
Definition der Situation ................................ Sanktionen.......................................... Soziale Normen und Regeln interpersonellen Verhaltens ....... Interaktionsmuster ............................. :' ......
. . . .
Besondere Fragen bei der Vorbereitung des Patienten auf die Gruppentherapie .................................. .
Zeitlicher Rahmen und Vorgespräch ...................... Der Nutzen von Gruppentherapie ........................ Die Grundregel für die therapeutische Arbeit in der Gruppe .... U nzensiertes Äußern .................................. Belastbarkeitsgrenzen .................................. Verpflichtung zur Verschwiegenheit .......................
. . . . . .
Funktionen des Therapeuten in der Gruppe .................... . Funktionen im Prozess des Aushandelns normativer Regulierungen .. .
Erläuterungen zur Regulierung interpersoneller Beziehungen ... . Das Gespräch in der Gruppentherapie . ....................... .
Der »Austausch von Worten« in der Gruppe ................ . Wiederkehrende Themen in der Gruppentherapie . ............... . Indikation und Kontraindikation ............................ . Spezielle Probleme während der Gruppentherapie ............... .
Gefährdung des Rahmens .............................. Fehlen von Gruppenteilnehmern ......................... Zeitliche Festlegungen ................................. Impulsives und antisoziales Verhalten ......................
. . . .
223 223 223 225 226 228 229 230 231 232 233 234 238 242 243 243 244 245 246
Co-Therapie ........................................... .
248 249 252 255 258 258
8. Mikrointeraktion und videogestützte Supervision .......... .
261
Sexuelle und Liebesbeziehungen zwischen Gruppenteilnehmern .. Normen in der Gruppe, die Entwicklung behindern .......... . Außenseiter in der Gruppe .............................. . Schwierige Themen ................................... . Häufiger Wechsel der Gruppenteilnehmer im stationären Rahmen
Anhang: Materialien für den klinischen Gebrauch .......... . j I
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·1
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1
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation .................. .
1 Objektbeziehungen .................................. . 2 Regulierung des Selbsterlebens ......................... . 3 Über-Ich und Ich-Ideal ............................... . 4 Abwehrfunktionen .................................. . 5 Realitätsprüfung .................................... . 6 Steuerung und Kontrolle von Affekten und Impulsen ........ . 7 Funktionen des Urteilens ............................. . 8 Regression im Dienste des Ich .......................... . 9 Reizschwelle ....................................... . 10 Sprache und Kommunikation ......................... . Schwerpunkte in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie .............. .
1 Thema .................. · .. ······················· 2 Situationsdefinitionen ................................ . 3 Normen ................... ························ 4 Geäußerte Gefühle .................................. . 5 Beziehungen ..................................... , .. 6 Psychische Fähigkeiten ............................... . 7 Gefühle und Affekte bei der Beobachtung ................ . 8 Interventionen des Therapeuten ........................ . Fortbildungsmöglichkeiten ............................... . Literatur . ..
L' • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
Register . ................... , .......................... .
265 267 268 273 275 277 278 281 283 285 287 288 288 289 290 290 292 292 293 294 295 296 298 308
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1. Einleitung
Wenige Tage nachdem ich meine erste Stelle als Medizinalassistent in der Psychiatrie angetreten hatte, wurde in der Mittagszeit, als ich allein mit einem Pfleger auf der Station war, ein großer, kräftiger Mann in angespanntem und erregtem Zustand von zwei Polizisten auf die Station gebracht. Nachdem die Polizisten berichtet hatten, dass der Mann in einem öffentlichen Gebäude randaliert habe und verwirrt erschienen war, verließen sie die Station, und ich war mit dem Patienten, der unruhig auf und ab lief und gelegentlich laut schimpfte, allein im Untersuchungszimmer. Ich wollte ein Gespräch anfangen und versuchen, den Zustand des Mannes zu verstehen. Der schien mich nicht zu beachten und schimpfte weiter vor sich hin, um sich plötzlich in drohender Pose vor mir aufzubauen. Als ich merkte, in welcher Lage ich war, packte mich heftige Angst. In diesem Moment kam der Pfleger, der schon viele Jahre in der Psychiatrie tätig war, in das Untersuchungszimmer, ging auf den immer noch verwirrt erscheinenden Patienten zu, deutete auf einen Stuhl und sagte in ruhigem, aber entschiedenem Ton: »Setzen Sie sich bitte dort hin.« Einen kurzen, aber spannungsreichen Moment lang zögerte der Patient. Dann setzte er sich zu meiner Verwunderung auf den Stuhl, den der Pfleger ihm angewiesen hatte. Diese Szene, die sich vor mehr als 30 Jahren ereignet hat, ist mir bis heute fotografisch genau im Gedächtnis geblieben. Es war offensichtlich, dass es dem Pfleger weder mit irgendeinem instrl:ffi1entellen Verhalten noch mit Hilfe irgendwelcher technischen Mittel gelungen war, die Situation zu entschärfen, sondern dass er die Situation genau erfasst und sich sensibel auf den Patienten abgestimmt hatte. Jahre später, als mich die Bedeutung von nichtsprachlichem Verhalten in der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen zu beschäftigen begann, wurde mir die Bedeutung eines weiteren, scheinbar nebensächlichen Details dieser Szene deutlich: der Umstand, dass der Pfleger, während er den Patienten aufgefordert hatte, sich hinzusetzen, sich nicht etwa vor ihn hingestellt hatte, sondern im Gegenteil zur Seite getreten war, so dass aus der Sicht des Patienten der Weg zur Tür des Untersuchungszim- ..
14
Einleitung
mers frei war und er, wenn er gewollt hätte, ohne Schwierigkeiten aus dem Raum hätte herauslaufen können. In der weiteren Zusammenarbeit mit diesem Pfleger lernte ich dessen Erfahrungen im Umgang mit schwierigen Menschen zu schätzen, die er mir allerdings nie mit Worten vermittelte, sondern über die ich viel erfuhr, indem ich meinerseits möglichst genau zu erfassen versuchte, was zwischen den Patienten und ihm geschah. Hätte ich ihn gefragt, weshalb er sich in der Szene im Untersuchungszimmer mit dem Patienten so verhalten hat, wie er das getan hat, hätte er mir über den allgemeinen Hinweis auf seine Erfahrungen hinaus vermutlich keine plausiblen Gründe dafür nennen können. Aus heutiger Sicht würde man die Störung des Patienten am ehesten als eine Achse I- und Achse II-Störung in Komorbidität klassifizieren. Wäre eine derartige Diagnose in der damaligen Situation aber in irgendeiner Weise nützlich gewesen? Sicherlich nicht. Die Beobachtung, dass der Pfleger dem Patienten zugewandt, aber unmissverständlich Grenzen gesetzt hatte, ohne ihn zu bedrohen oder zu überwältigen, und dass er dem Patienten mit seinem nichtsprachlichen Verhalten, seinem Zur-Sei te-Treten, gezeigt hatte, dass er die Situation in Grenzen mit gestalten kann, haben mich mehr darüber gelehrt, wie eine förderliche therapeutische Situation geschaffen werden kann und in welchem Maße dazu die jeweils aktuellen Umstände erfasst werden müssen, als alles diagnostisch-klassifikatorische Wissen das jemals vermocht hätte. Von der Beobachtung dieser Szene zwischen dem Pfleger und dem Patienten hat meine Überzeugung ihren Ausgang genommen, die sich in den folgenden Jahrzehnten meiner klinischen Arbeit vielfach bestätigt hat, dass Psychotherapie nicht darin besteht, bestimmte Behandlungsmethoden an einem Patienten, des. sen Störung zuvor diagnostiziert wurde, anzuwenden, sondern dass psychotherapeutisch zu arbeiten heißt, sich mit seinem Patienten auf einen fortlaufenden Prozess entwicklungsforderlicher Kommunikation und Interaktion reflektiert einzulassen.
Einleitung
Behandlung geht oder um eine Fokaltherapie, und noch einmal anders sprechen beide in einer psychoanalytisch-interaktionellen Therapie miteinander. Demnach unterscheiden sich psychotherapeutische Methoden darin, wie Patient und Therapeut ihre Interaktion und ihren »Austausch von Worten« im Kontext ihrer Interaktion gestalten und welche Mittel sie dazu verwenden. Indem beide sich hier wie dort auf unterschiedliche Praktiken stützen und andere Wege einschlagen, wenn sie miteinander reden, gestalten sie auch ihre Beziehung, die therapeutische Beziehung, hier anders als dort. Wenn dargestellt werden soll, worin sich verschiedene psychotherapeutische Methoden voneinander unterscheiden, geschieht das meist unter Verweis auf Merkmale des Behandlungssettings oder der therapeutischen Technik, etwa auf die Dauer der Behandlung, die Stundenfrequenz oder auf Aspekte, die die Handhabung der Übertragung betreffen oder den Umgang mit Deutungen. Wenn Psychotherapie aber ein Gespräch ist, dann ist zu erwarten, dass sich methodische und behandlungstechnische Unterschiede zunächst einmal in Eigentümlichkeiten des therapeutischen Gesprächs, des Austausches von Wonen konkretisieren und damit auch in der therapeutischen Beziehung, die Patient und Psychotherapeut gestalten, indem sie miteinander kommunizieren. Wenn Psychotherapeuten über ihre Arbeit sprechen, erwähnen sie jedoch eher selten, wie genau das Gespräch mit dem Patienten verlaufen ist und wie beide ihren Austausch von Worten gestaltet haben. Eher sagen sie beispielsweise, dass sie in der therapeutischen Arbeit mit einem Patienten »die Entwicklung einer positiven Übertragung gefördert«, einen »sicheren Bindungskontext aufgebaut«, das »Spielen mit der inneren und äußeren Realität angeregt« oder »neue Systemre-
Gespräch, in dem die psychoanalytische Behandlung besteht« (Freud 191 ~/ 17, S. 43), ist aber nicht das gleiche wie das Gespräch, das Patient und Psychothera-
geln gefunden« haben. Tatsächlich lassen solche Beschreibungen therapeutischen Handelns aber nicht erkennen, wie sie dabei miteinander geredet und wie sie sich zueinander verhalten haben. Denn wie genau ihr Austausch ausgesehen hat und wie beide das kommunikative Geschehen im Behandlungszimmer gestaltet haben, so dass in der Folge »die Übertragung positiver«, »der Bindungskontext sicherer« oder der » Umgang mit Realität spielerischer« geworden sind, und aus welchen Merkmalen ihres Gesprächs auf solche Veränderungen geschlossen werden kann, lässt sich daraus nicht ablesen. Wie aber anders -als durch das Gespräch, durch den »Austausch von Worten« zwischen Patient und Therapeut, sollte das alles geschehen sein, wie anders als durch die Art und Weise, wie sie das getan
peut miteinander führen, wenn es um eine psychoanal~isch orientiert genannte
haben, und nicht allein durch die Inhalte, über die sie gesprochen haben? Denn ~
Was Freud von der psychoanalytischen Behandlung gesagt hatte, dass sie nämlich »ein Gespräch« sei, in dem nichts anderes vorgehe als ein »Austausch von Worten«, gilt auch für psychotherapeutische Methoden, die von der Psychoanalyse abgeleitet wurden, auch sie sind »ein Gespräch«, »Austausch von Worten«. »Das
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16
Einleitung
Einleitung
Übertragungen zu fördern, Beziehungskontexte aufzubauen, Spielen mit der Realität anzuregen oder Systemregeln zu finden, ist kein instrumentelles Verhalten,
beeinträchtigter und komplex gestörter Patienten bestimmte Methoden regelkonform an, ähnelt eher einem von einem traditionellen medizinischen Modell the-
sondern muss sich notwendigerweise über das Gespräch zwischen Patient und Therapeut vermittelt haben, über ihr kommunikatives Handeln.
rapeutischen Handelns dominierten Zerrbild von' Psychotherapie. Erfahrungen mit der Behandlung strukturell gestörter Patienten sprechen in diesem Zusammenhang eine deudiche Sprache: Methodenkonforme Psychotherapie ist mit strukturell beeinträchtigten Patienten oft nur um den Preis möglich, dass ein sehr großer Anteil von ihnen von der Behandlung ausgeschlossen wird und nur jene Patienten in eine methodenkonform durchgeführte Therapie aufgenommen werden, die zu deren Voraussetzungen »passen«. Psychotherapie mit Patienten mit schweren strukturellen Störungen ist - anders ausgedrückt - nicht in der Weise zu realisieren, dass ein Psychotherapeut aus einem Arsenal von Methoden, über das er verfügt, die jeweils für die bestimmte Störung eines Patienten geeignete herauszieht und bei dem Patienten anwendet. Der Psychotherapeut kann sich, wenn er die Patienten wirklich erreichen will, nicht methodenkonform verhalten, er steht vielmehr ständig vor der Aufgabe, -sich in jeder Phase der therapeutischen Arbeit an die individuellen Bedingungen und Voraussetzungen bei seinem Patienten anzupassen und kommunikative Mittel und-Wege zu finden, die in einen hilfreichen ~d entwicklungsförderlichen therapeutischen Austausch münden. Darum sollen interaktive und kommunikative Aspekte, die als vorrangig für die therapeutische Arbeit mit strukturell gestörten Patienten aufgefasst werden, im Folgenden im Vordergrund stehen. Dem liegt nicht zuletzt auch die Überzeugung zugrunde, dass das soziale Leben, das Zusammenleben mit Anderen, ein für das
Die Aussage, dass Psychotherapie die Anwendung einer Behandlungsmethode am Patienten sei, ist in hohem Maße abstrakt. Was auch immer der Patient fühlt und denkt und was auch immer der Psychotherapeut beabsichtigt, muss durch das Nadelöhr ihrer Kommunikation hindurch, um den jeweils Anderen zu erreichen. Übertragung und Gegenübertragung, Abwehr und Widerstand, szenische Darstellungen und Enactments, Schweigen und Interpretationen sind kommunikative Ereignisse. Austausch von Worten ist aber nicht nur Verständigung über Sachverhalte, auf die die Worte Bezug nehmen, sondern ist ein Wirklichkeit konstituierender Prozess, nicht Anwendung einer Methode, sondern aufeinander bezogenes, sinnhaftes soziales Handeln. So sind Unterschiede zwischen psychotherapeutischen Methoden immer Unterschiede der therapeutischen Interaktion. Mehr noch werden methodische Differenzen erst durch die unterschiedlichen Mittel und Wege der Kommunikation zwischen Patient und Psychotherapeut Realität. Welche Patienten mit welchen Störungen von welcher Therapie profitieren, Fragen der Indikation und Differentialindikation, sind deshalb - auch wenn das nicht ausdrücklich kenndich gemacht wird - immer Fragen danach, wie das therapeutische Gespräch geführt und der »Austausch von Worten« gestaltet werden muss, um bei diesem bestimmten Patienten kurative Wirkung haben zu können. Wenn Psychotherapeuten über ihre Tätigkeit sprechen, beziehen sie sich aber häufig aufkonzeptuelle und theoretische Begriffe, abstrahieren von dem konkreten kommunikativen Geschehen und geben nicht zu erkennen, wie sie das Gespräch mit dem Patienten, in dem sich ihre jeweilige therapeutische Methode realisiert hat, tatsächlich geführt haben. Im Folgenden soll deshalb nicht zuerst eine Behandlungsmethode dargestellt werden, sondern im Vordergrund stehen Gesichtspunkte, die die praktische Gestaltung des therapeutischen Gesprächs und der therapeutischen Beziehung bei der Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen betreffen sowie die kontextuellen Voraussetzungen, die dafür erfüllt sein müssen. Auch wenn dabei immer wieder von der psychoanalytisch-interaktionellen Methode die Rede sein wird, sollen methodische Aspekte doch nicht im Vordergrund stehen. Die Vorstellung, ein guter Psychotherapeut wende bei der Behandlung schwer strukturell
bewusste und unbewusste -seelische Erleben grundlegender Erfahrungsbereich ist und dass die meist gravierenden Beeinträchtigungen in Beziehungen zu Anderen von entscheidender Bedeutung für die seelischen und interpersonellen Probleme von Patienten mit strukturellen Störungen sind. Die therapeutische Arbeit mit Patienten mit schweren strukturellen Störungen sollte in besonderem Maße auf die Beziehungsstörungen - und das heißt immer auch: auf die kommunikativen Störungen - ausgerichtet sein.
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Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen
Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen
2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen und schwere Persönlichkeitsstörungen
Bei schweren Persönlichkeitsstörungen Hnden sich in der Regel weit reichende, in der Persönlichkeit verankerte strukturelle Störungen auf geringem bis mäßigem Integrationsniveau.
Der Begriff der strukturellen Störung kommt in den formalen diagnostischen KlassiHkationssystemen nicht vor. Die Bezeichnung »strukturelle Störung« für Patienten mit basalen, in der Persönlichkeitsorganisation verankerten Entwicklungsstörungen, die im deutschen Sprachraum verbreitet ist (vgl. z. B. Fürstenau 1977; Heigl-Evers, Heigl 1983; Rudolf 2004), wird weitgehend identisch mit Bezeichnungen wie basale Störung der Persönlichkeitsorganisation, Störung auf Borderline-Niveau (Kernberg 2000), präsymbolische Störung und - in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) - Störung auf niedrigem bzw. mittlerem Integrationsniveau verwendet. Demgegenüber wurde der vielfach kritisierte Begriff »frühe Störung« als zu unspeziHsch weitgehend fallengelassen (vgI. Hoffmann 1986). In der Psychologie meint Struktur die geordnete Gesamtheit psychischer Dispositionen. In der Psychoanalyse taucht der Begriff in verschiedenen Zusammenhängen auf, etwa als Charakterstruktur, als Ich-Struktur oder als Struktur von Objektbeziehungen (Arbeitskreis OPD 2006). In der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik wird der Begriff der Struktur in Verbindung mit einem multiaxialen diagnostischen System verwendet: Beeinträchtigung der Struktur ist hier einer von mehreren diagnostischen Schwerpunkten; dabei werden verschiedene psychodynamische Konzepte »zu einer funktionalen Beschreibung der Struktur als Selbst in seiner Beziehung zu den Objekten« zusammengeführt; mit dem Konzept der Struktur sollen das Verhalten und Erleben des Patienten möglichst beobachtungs nah wiedergegeben, zugleich tradierte psychoanalytische Konzepte vermieden werden; darüber hinaus wird das Ausmaß der strukturellen Beeinträchtigungen nach verschiedenen Niveaus der Integration der Struktur unterschieden (Arbeitskreis OPD 2006).
Als schwer soll eine Persönlichkeitsstörung im Folgenden dann angesehen werden, wenn es sich um eine basale, in der Struktur der Persönlichkeit-verankerte Entwicklungsstörung handelt, die so gut wie alle Lebensbereiche beeinträchtigt und die betroffene Person mehr oder weniger weitgehend daran hindert, halbwegs stabile Beziehungen einzugehen und aufrecht zu erhalten und am sozialen Leben teilzunehmen. Gelegentlich lassen sich auch bei Patienten, bei denen die Symptome einer Persönlichkeitsstörung nicht im Vordergrund stehen, schwere strukturelle Beeinträchtigungen finden, beispielsweise bei Patienten mit süchtig-abhängigem Verhalten oder bei manchen Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen. Insbesondere bei den im DSM als Cluster A und Cluster B zusammengefassten Persönlichkeitsstörungen handelt es sich meist um gering integrierte, basale, in der Struktur der Persönlichkeit verankerte Entwicklungsstörungen (siehe Übersicht).
19
20
2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen, Persönlichkeitsstörungen . '
Organisation der Persönlichkeit und inneres Arbeitsmodell
.
"C~uster B-Persönlichk,itsstörungen
Psychodynamische Auffassungen von Persönlichkeitsstörungen gehen über eine Beschreibung von Zeit überdauernden Eigenschaften und Verhaltensbereitschaften hinaus und beziehen zugrunde liegende unbewusste Störungen des Selbst und der verinnerlichten pathologischen Objektbeziehungen sowie habituelle Bewältigungs- und Abwehrformen als charakteristische, das seelische Funktionieren der Person bestimmende Merkmale ein. So stützt sich die psychodynamisch örientierte KlassifIkation von Persönlichkeitsstörungen nach Kernberg (1996), die Auffassungen der Kleinianischen Psychoanalyse integriert, in erster Linie auf psychoanalytische Objektbeziehungstheorien. Kernberg zufolge liegt schweren Persönlichkeitsstörungen eine Borderline-Persönlichkeitsorganisation zu Grunde. Dabei stützt sich in der Auffassung von Kernberg die Diagnose einer BorderlinePersönlichkeitsorganisation auf Spaltungsphänomene und Manifestationen von Identitätsdiffusion bei erhaltener Realitätsprüfung; damit verschwindet allerdings . auch die große Vielfalt klinischer Unterschiede zwischen verschiedenen strukturellen Störungen. Die Störungsbilder, bei denen Kernberg zufolge eine Borderline-Persönlichkeitsorganisation vorliegt, würden auf der Strukturachse der OPD am ehesten als strukturelle Störungen auf mäßig bis gering integriertem Niveau eingeschätzt werden.
Organisation der Persönlichkeit und inneres Arbeitsmodell
traumatisierenden Bedingungen, die ihre Entwicklung bestimmt und beeinträchtigt haben, haben die Patienten seelische und interpersonelle Strategien entwickelt, die es ihnen ermöglicht haben, mit den beeinträchtigenden Umständen und den oft chronisch traumatisierenden Beziehungen, unter denen sie aufgewachsen sind, fertig zu werden. Die gleichen Mittel und Wege, mit denen sie ihr psychosoziales und manchmal auch ihr physisches Überleben in der Vergangenheit sichern konnten, haben aber auch dazu geführt, dass ihnen psychische Funktionen, 'die Autonomie gewährleisten und interpersonelle, auf Reziprozität ausgerichtete Beziehungen ermöglichen würden, nicht oder nur eingeschränkt verfügbar sind. Die Persönlichkeitsstruktur der Patienten ist gleichsam ein Dokument für ihre Anpassung an und die Bewältigung von deprivierenden Verhältnissen, unter denen sie vor dem Hintergrund je unterschiedlicher individueller und biologischer Bedingungen aufgewachsen sind. Sie trägt die Spuren der Geschichte jener Mittel und Wege in sich, mit denen die Patienten ihr psychosoziales Gleichgewicht wenigstens so weit haben stabilisieren können, dass äußere Realitätsanforderungen ausreichend bewältigt werden konnten. Diese Anpassungs- und Bewältigungsstrategien sind als Erlebens- und Handlungsdispositionen bzw. innere Arbeitsmodelle (working models; Bowlby 1995) in der Organisation der Persönlichkeit als deren konstitutiver Teil ·mehr oder weniger fest verankert. Innere Arbeitsmodelle sind nach Bowlby komplexe verallgemeinerte Erlebnisrepräsentationen, die als »Erwartungsfolien« die Organisation des Verhaltens und die Wahrnehmung der Welt maßgeblich beeinflussen. In diesem Sinne können strukturelle Störungen auch als in der Persö~ichkeit verankerte .s~>ziale Verhältnisse aufgefasst yverden; deprivierende und traumatisierende Beziehungserfahrungen bestimmen als »Erwartungsfolien« die soziale Lebenswelt der Patienten. Dabei bleiben p'atienten mit schweren struktllrellen Störungen in spezifIscher Weise an ihre soziale Umw~lt gebunden. Sie benötigen andere Personen mehr als das üblicherweise der Fall ist, um ihre Selbstregulierung und die Regulierung von Beziehungen zu sichern und aufrechterhalten zu können. Solang ein relatives psychosoziales Gleichgewicht gewährleistet ist, können die basalen 'strukturellen Störungen unbemerkt bleiben. Ändern sich äußere oder innere Bedingungen je-
Aufgrund des archaischen Charakters ihrer inneren Objekte stehen Patiente~ mit
doch in dem Maße, dass die für die Selbst- und Interaktionsregulierung wichtige soziale Umwelt diese Funktionen nicht mehr ausreichend gewährleisten kann, die
strukturellen Störungen grundlegende psychische Funktionen zur Ausübung nicht
verfügbaren habituellen Anpassungs- und Abwehrmechanismen dazu aber nicht
oder nur eingeschränkt zur Verfügung. Angesichts von vernachlässigenden und
ausreichen, dekompensieren die Patienten. Jetzt treten in vielen Fällen Erlebens-,
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2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen, Persönlichkeitsstörungen
und Handlungsdispositionen in den Vordergrund, die im Zustand eines relativen psychosozialen Gleichgewichts im Hintergrund verborgen, weil ausreichend kompensiert waren, die in Krisensituationen jedoch manifest werden und das Verhalten bestimmen. Die inneren Arbeitsmodelle, die unter diesen Umständen in den Vordergrund treten, bringen die Beziehungserfahrungen zur Geltung, die aus traumatisierenden Beziehungserfahrungen herrühren. In der Folge kommt es zu Beeinträchtigungen von Krankheitswert. Dabei manifestieren sich die Folgen schwerer struktureller Störungen in allererster Linie in der sozialen Lebenswelt, in interpersonellen Beziehungen. Das schließt in vielen Fällen erhebliche soziale Ängste ein, unter denen strukturell gestörte Patienten sehr häufig leiden (Dally et al. 2005).
Komplexe Störungen
Wie der Begriff der strukturellen Störung kommt auch der Itegriff der komplexen Störung in den formalen diagnostischen Klassiftkationssystemen nicht vor. Um das ganze Ausmaß der Folgen basaler Entwicklungsbeeinträchtigungen, die in der Persönlichkeitsorganisation von strukturell gestörten Patienten verankert sind, diagnostisch angemessen zu erfassen, müssen oft mehrere Diagnosen, oft auch mehrere Diagnosen für Persönlichkeitsstörungen herangezogen werden. Wenn das der Fall ist, sprechen wir von komplexen Störungen.
Komplexe Störungen
gnosen erfasst. Dabei stellte sich heraus, dass eine Kombination von F6-, F4- und F3-Diagnosen am häufigsten ist. Bei dieser Störung leiden die Patienten gleichzeitig an spezifischen Persönlichkeitsstörungen, sozialen Phobien und posttraumatischen Belastungsstörungen sowie rezidivierenden depressiven Störungen; bei den Persönlichkeitsstörungen handelt es sich vor allem um narzisstische (nach ICD-l 0 als sonstige spezifische Persönlichkeitsstörung klassifiziert), ängstliche und Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Diese komplexe Störung macht annähernd 18 % aller kombinierten (»komorbiden«) Störungen aus. Die Patienten mit dieser komplexen Störung sind in hohem Maße chronisch suizidal, weisen einen oder mehrere Suizidversuche in der Vorgeschichte auf, mehrere stationäre Vorbehandlungen, und haben oft keinen Berufsabschluss. Die Symptombelastung - gemessen mit dem SCL-90-R ist extrem hoch, höher als alle im Handbuch des SCL-90-R (Franke 1995) publizierten Werte. Daneben findet man häufig Symptome einer affektiven, insbesondere einer depressiven Störung, darüber hinaus Verhaltensstörungen, somatoforme Beeinträchtigungen, neurotische und in vielen Fällen auch Störungen in der Folge von Traumatisierungen. Die Patienten sind oftmals chronisch suizidal, haben Ausbildungen wiederholt abgebrochen, andere haben ihren Arbeitsplatz zum wiederholten Mal verloren. Häufig sind mehrere Behandlungsversuche gescheitert. Auch Psychopharmaka haben die psychischen Belastungen der Patienten kaum jemals nachhaltig mildern können. So gut wie ausnahmslos haben die Patienten mit schwer wiegenden Problemen in Beziehungen zu anderen Menschen zu tun. Dabei gehen die Probleme, die sie im Zusammensein mit Anderen haben, über alltagsübliche Belastungen weit hinaus. Oft leiden sie unter massiven sozialen Ängsten, und das Zusammensein mit Anderen wird nur unter großer Anspannung ertragen. Viele von ihnen sind in Gefahr, sich sozial zu isolieren oder von
Im Zentrum der Beeinträchtigungen stehen auch bei komplexen Störungen so
Anderen gemieden zu werden. Hinzu kommen häufig weitere erschwerende Umstände wie mehrfache Verluste wichtiger Personen, ökonomische Belastungen und
gut wie immer Störungen der Persönlichkeitsorganisation, überwiegend schwere strukturelle Beeinträchtigungen, die den Cluster A- und Cluster B-Persönlichkeitsstörungen zuzurechnen sind.
wiederholt abgebrochene Ausbildungen. Die klinischen Symptome werden somit überwiegend von den im Zentrum stehenden strukturellen Beeinträchtigungen bestimmt und unterscheiden sich-
Bei der Untersuchung einer unausgelesenen Stichprobe im Krankenhaus, Tiefenbrunn behandelter Patienten (N = 2092) wurden die verschiedenen Formen komplexer Störungen anhand der Kombination der ver~chiedenen ICD-IO-Dia-
außer in der Vielfalt von Symptomen - deshalb nicht grundlegend von denen struktureller Störungen. Wie Patienten mit strukturellen Störungen können die Patienten auf einem regressiven psychischen Funktionsniveau über viele Jahre hin- ~
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2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen, Persönlichkeitsstörungen
weg relativ unauffällig bleiben, weil die basalen verinnerlichten Interaktionserfah-
rungen nur als mehr oder weniger sinnlose Zeichen für eine Pathologie hinge-
rungen, die zu den strukturellen Beeinträchtigungen geführt haben, ausreichend
nommen werden, die beseitigt werden muss. Der lebendige psychodynamische Zusammenhang seelischer Beeinträchtigungen, an denen die Patienten leiden und
kompensiert werden können. Um sich an die beeinträchtigenden Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen sind, anzupassen und damit fertig zu werden, haben
die immer auch sinnhaft auf ihre lebens geschichtlichen Erfahrungen hinweisen,
auch sie vor allem interpersonelle und psychosoziale Anpassungs- und Bewälti-
wird demgegenüber zerrissen. Damit drohen die Patienten ihrer Lebensgeschichte
gungsstrategien entwickelt und haben ihre interpersonelle Welt auf eine Weise
und deren sinnhafter Kontinuität ein weiteres Mal entfremdet zu werden. Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass psychische Beeinträchtigungen
zu gestalten gelernt, dass andere Menschen in regulative Funktionen, die ihnen selbst nicht verfügbar sind, gleichsam eintreten und ihre psychischen Beeinträch-
oft nicht isoliert vorkommen, wurde für die formalen Diagnosesysteme für psy-
tigungen ausgleichen. Mittel und Strategien autonomer Selbst- und Interaktions-
chische Störungen ~us der Organmedizin hilfsweise der Begriff der »Komorbidi-
regulierung stehen ihnen demgegenüber nicht oder nur sehr eingeschränkt zur
tät« übernommen. Dass dies erforderlich war, lässt erkennen, dass die Beeinträch-
Verfügung. Wenn sich die äußeren Lebensumstände oder die psychischen oder
tigungen insbesondere von schwerer gestörten Patienten in Wirklichkeit kaum
physischen Bedingungen jedoch verändern, geraten die Patienten - unter Um-
jemals als voneinander isolierte Störungen vorkommen, sondern fast ausnahmslos zusammen mit anderen Beeinträchtigungen, für deren KlassifIkation andere Stö-
ständen dauerhaft - in ein psychosoziales Ungleichgewicht, weil ihnen die psychischen und interpersonellen Funktionen fehlen, die sie zur Bewältigung der veränderten Lebensverhältnisse benötigen würden. Jetzt treten die pathologischen verinnerlichten Interaktionsmuster in den Vordergrund.
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Zur Problematik des Störungsbegriffs und des Konzepts der Komorbidität
rungsdiagnosen herangezogen werden müssen. Insbesondere komplexe Störungen erscheinen unter dem Gesichtspunkt von Komorbidität als ein Nebeneinander von Störungen, deren innere Verbindung unerkannt bleibt. Dass die verschiedenen Manifestationen von Auffalligkeiten des Erlebens und Verhaltens tatsäch-
Zur Problematik des Störungsbegriffs und des Konzepts der Komorbidität
lich keine jeweils umschriebenen Störungen sind, sondern zusammengehörige Teile eines Ganzen, das als Ganzes aber nicht benannt wird, bleibt außer Betracht. Folgerichtig werden dann auch Fragen nach dem inneren Zusammenhang und der
In der ICD und im DSM werden seelische und psychosomatische Auffalligkeiten
psychodynamischen Verflochtenheit der vermeintlich verschiedenen Störungen -
als voneinander abgrenzbare Störungen klassifIziert. Dadurch kann der Anschein erweckt werden, die Probleme der Patienten seien auf voneinander isolierte Stö-
gestützt durch den Begriff der Komorbidität - ausgespart. Das hat gelegentlich dazu geführt, dass die klinische Kompetenz, psychodynamische Zusammenhänge
rungen zurückzuführen. Mit der Feststellung einer Störung soll sich oftmals ein
zu erkennen, keinen hohen Stellenwert mehr hat oder sogar ganz verloren ge-
bestimmtes therapeutisches Vorgehen nahelegen, eine störungsspezillsche The-
gangen ist. Diagnostik psychischer Beeinträchtigungen beschränkt sich dann auf
rapie. Die klassifikatorische Störungssystematik, von der trotz der erheblichen Probleme, die damit verbunden sind, manche Psychotherapeuten erstaunlich be-
das Feststellen von Zeichen, die mit den diagnostischen Katalogen det ICD bzw. DSM abgeglichen werden. Implizit werden Patienten dabei wie Träger von Symp-
reitwillig Gebrauch machen, genügt in erster Linie Ordnungsgesichtspunkten,
tomen betrachtet, die sich zu Störungen zusammenfügen, auf die mit einer Me-
hält jedoch keine Antwort auf die Frage bereit, wie die Beeinträchtigungen in
thode in weitgehend standardisierter Weise therapeutisch reagiert wird, möglichst
die Struktur und die Funktionen der bewussten und unbewussten Persönlichkeit
manualgeleitet. Die subjektive Sinnhaftigkeit psychischer und psychopatholo-
eingelassen sind. So wird bei den Persönlichkeitsstörungen beschrieben, dass die
gischer Produktionen bleibt aus der Diagnostik ausgespart. Im Extremfall werden
Komorbidität von Achse 1- und Achse lI-Störungen hoch sei (z. B. Fonagy et al.
Patienten mit komplexen Störungen erst wegen der einen Störung mit dem einen,
2004). Tatsächlich bringt die damit einhergehende Verkürzung der Diagnostik
dann wegen einer anderen Störung mit einem zweiten, unter Umständen wegen
seelischer Beeinträchtigungen die Gefahr mit sich, dass psychische und psycho-
einer dritten Störung sogar noch mit einem weiteren, vermeintlich für diese Stö-
somatische Manifestationen bei Patienten mit strukturellen und komplexen Stö-
rung spezifisch indizierten Verfahren behandelt, ohne dass zu irgendeinem Zeit~
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2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen, Persönlichkeitsstörungen
punkt die Problematik eines solchen Vorgehens Anlass zu einer grundlegenden kritischen Reflexion derartig »störungsspezmschen« Vorgehens würde. Wird die Funktion, die eine Störung im dynamischen Gefüge der Psychopathologie eines Patienten hat, gänzlich übersehen, kann das im Extremfall dazu führen, dass die Patienten im Verlauf oder im Anschluss an eine »störungsspezmsche« Therapie dekompensieren. Psychodynamisch orientierte Kliniker wissen, dass die Funktion, die Angststörungen, Zwangssymptome, depressive Verstimmungen u. a. haben können, sich bei verschiedenen Niveaus der Persönlichkeitsorganisation erheblich voneinander unterscheiden kann. Wird das vor Behandlungsbeginn nicht beachtet, kann das dazu führen, dass dem Patienten mit dem therapeutischen Versuch, die vermeintlich umschriebene Störung zu beseitigen, eine wichtige stabilisierende und kompensatorische Funktion genommen wird. So lässt die Diagnostik unter dem Diktat des Störungsbegriffes gelegentlich an jene aphasisehen Patienten denken, die zwar Teile von Gestalten zu erkennen vermögen, die aber nicht in der Lage sind, die Gesamtgestalt zu identifizieren.
f?ekompensation, auslösende Situation und Beziehungsstörungen als Therapiefokus
Die Umstände, die bei Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen zur Dekompensation führen, sind nicht die gleichen wie die Umstände, die als auslösende Situationen bei neurotischen Patienten zu Symptomen führen. Während sich die Umstände in dem einen wie in dem anderen Fall von außen betrachtet mehr oder weniger gleichen können, unterscheiden sich die psychosozialen und . psychodynamischen Mechanismen, die durch das gleich erscheinende äußere Ereignis in Gang gesetzt werden, grundlegend. Verliert ein Patient mit einer strukturellen Störung beispielsweise eine für ihn bis dahin wichtige Person, kann es sein, dass er daraufhin dekompensiert, vor allem dann, wenn dieser Person bis dahin
Dekompensation, auslösende Situation ,und Beziehungsstörungen als Therapiefokus
chend bewältigt werden kann und zur Regression auf eine im gesunden Zustand überwundene Stufe der Entwicklung führt. Eine 36-jährige große, schlanke, gut aussehende Frau schildert schwerwiegende Beeinträchtigungen. Sie ist suizidal, fügt sich mit Rasierklingen tiefe Schnittwunden vorwiegend an den Fußsohlen zu, leidet unter heftigen migräneartigen Kopfschmerzen und zahlreichen weiteren körperlichen und psychischen Beschwerden. Im Gespräch wirkt sie mimisch wie versteinert. Ihre Symptomatik hat sich eingestellt, nachdem sie sich beim Sport - sie hatte eine GymnastikSportart als Hochleisrungssport betrieben - eine schwerere Verletzung zugezogen hatte, in deren Folge sie diesen Sport aufgeben mußte. Sie hatte ihre sportlichen Aktivitäten geradezu exzessiv betrieben, war ständig aktiv und in Bewegung, und erst als ihr das nicht mehr möglich WaF, dekompensierte sie und war seither psychisch schwer beeinträchtigt. Bei Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen war die frühe lebensgeschichte fast immer von vernachlässigenden, traumatisierenden und missbräuchlichen Beziehungserfahrungen geprägt. Kaum jemals waren die Bedingungen, unter denen die Patienten aufgewachsen sind, von außen betrachtet unauffällig. Oftmals waren die Patienten schon als Kinder gestört und wegen Beeinträchtigungen, die heute als Aufmerksamkeitsstörungen oder Störungen des Sozialverhaltens klassifiziert würden, in kinderärztlicher oder kinderpsychiatrischer Behandlung; manche wurden als Kinder psychopharmakologisch behandelt, während die frühen Warnsignale selten in eine adäquate psychotherapeutische Behandlung geführt haben; allenfalls wurden Versuche mit verhaltenskorrigierenden Maßnahmen unternommen, die jedoch nur selten geeignet waren, das Kind in seiner Not zu verstehen. In symptomauslösenden Situationen können diese prägenden Beziehungserfahrungen nicht mehr kompensiert werden und bestimmen
wichtige selbststabilisierende und regulative Funktionen zugekommen waren. Kommt es demgegenüber aufgrund eines gleichen Ereignisses bei einem neurotischen Patienten zu Symptomen, dann nicht deswegen, weil für den Patienten mit dem Verlust der Person wichtige Steuerungs- und Regulationsmöglichkeiten verloren gegangen sind, die bis dahin durch die Gegenwart dieser Person sichergestellt waren, sondern deshalb, weil durch den Verlust ein unbewusster Konflikt
von nun an das Erleben und Verhalten der Patienten. Die Einschränkungen im Zusammensein mit Anderen, die das Verhalten in der Folge bestimmen, sind oft dermaßen schwerwiegend, dass die Patienten Gefahr
aktualisiert wurde, der mit den verfügbaren Abwehrm~chanismen nicht ausrei-
selbst und die Beziehungen im Zusammensein mit Anderen zu regulieren, nicht ~
laufen, sozial ausgegrenzt zu werden oder sich selbst auszugrenzen. Therapeutische Mittel und Wege, bei denen die psychische Verfassung im Vordergrund steht, können den Problemen, die die Patienten damit haben, sich
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Soziale Lebenswelten
2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen, Persönlichkeitsstörungen
ausreichend Rechnung tragen. Denn für strukturell gestörte Patienten ist es nur
zurückzuführen. Dies hat Todorov (1998) in seinem »Versuch einer allgemeinen
begrenzt hilfreich, verstehen zu können, wie sie Beziehungen unbewusst erleben
Anthropologie« überzeugend dargelegt.
lind welche unbewussten Hintergründe ihr Beziehungserleben jeweils hat. Nicht das psychische Erleben steht bei der Behandlung von strukturell gestörten Pati-
Zur existenziellen Bedeutung des sozialen Lebens
enten deshalb an erster Stelle, vielmehr muss die Therapie in besonderer Weise dem Zusammensein mit Anderen Rechnung tragen, der Teilnahme der Patienten
Das Zusammenleben mit Anderen ist nicht ein Lebensbereich neben anderen,
an Interaktion und der interaktiven Gestaltung von Beziehungen. Die soziale Le-
sondern hat weit existenziellere Bedeutung. Wir sind nicht erst Einzelne und dann soziale Wesen, sondern »die Beziehung zu anderen geht dem einzelnen voraus«
benswelt ist somit der zentrale Gegenstandsbereich der therapeutischen Arbeit.
(Todorov 1998).
Soziale Lebenswelten
»Die
Beeinträchtigungen, die die soziale Lebenswelt betreffen, sind keine Symptome,
irgendeinem starken Grund in Gesellschaft. Sie tun es, weil es für sie keine andere mögliche Daseinsform gibt ... Das Bedürfnis, beachtet zu werden, ist
die mit anderen Symptomen, wie sie als Folge seelischer oder psychosomatischer
nicht ein menschlicher Beweggrund unter anderen - es ist der Wahrheitsgrund
Störungen auftreten, ohne weiteres vergleichbar wären. Weirreichende Probleme
aller anderen Bedürfnisse, ... konstitutives menschliches Faktum ... In diesem
im Zusammenleben mit Anderen, sich nicht gesehen fühlen zu können oder gar
Sinn existiert der Mensch nicht vor der Gesellschaft ... das Menschliche grün-
sozial isoliert zu sein, betreffen existenzielle Grundlagen und gehen in ihrer Be-
det im Zwischenmenschlichen ... Die physische Bedingung fehlender Aner-
deutung über symptomatische Einschränkungen, so gravierend diese auch sein mögen, weit hinaus. Aus psychotherapeutischer Sicht steht die Aufgabe im Vor-
kennung ist die Einsamkeit: Sind die anderen abwesend, können wir per Definition nicht ihren Blick auf uns ziehen. Wahrscheinlich noch schmerzhafter als
dergrund, die unbewussten und bewussten Hintergründe der Störungen des Pa-
die physische Einsamkeit, die durch verschiedene Arrangements verhüllt und
tienten zu erhellen. Dementsprechend werden Störungen im Zusammensein mit
ausgeschmückt werden kann, ist es jedoch, unter den anderen zu leben, ohne
Anderen, der interpersonellen Beziehungen und der sozialen Interaktion meist
jegliche Zeichen von ihnen zu empfangen ... « Und weiter: »Im Ursprung des
auf die psychischen Probleme des Patienten zurückgeführt, auf vergangene Bezie-
Individuums muss es mindestens zwei Meljl.schen geben, damit das Humane auftaucht, die Mutter und das Kind (oder wenn man zur Empfängnis zurück-
hungserfahrungen, auf verinnerlichte pathologische Objektbeziehungen, die sich in der Gegenwart wiederholen, auf die Reaktualisierung von traumatischen Beziehungserfahrungen oder auf spezifische psychosoziale Abwehrmanifestationen. Danach schlagen sich in der wie auch immer beeinträchtigten sozialen Lebenswelt Folgen der wie auch immer gestörten innerseelischen Welt des Patienten nieder,
Mens<;:hen leben nicht aufgrund von Interessen, aus Tugend oder sonst
geht, ein Mann und eine Frau) ... Das Kind erheischt den Blick seiner Mutter, nicht nur, damit sie es stillt oder tröstet, sondern weil dieser Blick als solcher ihm eine unabdingbare Ergänzung bringt: Er bestätigt es i~ seiner Existenz.«
(S.38)
eine Auffassung, die ein Primat des Psychischen über das Soziale reflektiert. Es gibt jedoch gute Gründe, nicht nur davon auszugehen, dass soziale Lebenswelten
Für Todorov ist den Denkströmungen der europäischen Geistesgeschichte eine
in wechselseitig aufeinander bezogenem Handeln, in der Interaktion von Per-
Tendenz immanent, den Menschen primär als ein seiner Natur nach asoziales
sonen (Goffman 1974) gründen, sondern auch, dass dem Sozialen eine weitaus
Wesen zu sehen, das sich die Fähigkeit, mit anderen Menschen zusammen leben
grundlegendere Bedeutung zukommt, als dies in der Annahme zum Aus~uck kommt, Störungen des Sozialen seien nur auf individuelle psychische Störungen
zu können, erst mühsam abringen muss. Das trifft Todorov zufolge auch für die frühe Psychoanalyse zu:
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2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen, Persönlichkeitsstörungen
Soziale Lebenswelten
»Wessen Partei man auch ergreift, stets übernimmt man zugleich eine Bestim-
ein, dass das therapeutische Geschehen ein von Patient und Therapeut gemeinsam
mung des Menschen als solitäres, nicht gesellschaftliches Wesen ... die verschiedenen Versionen der großen Denkströmungen sind unausgesprochen asoziale Visionen des Humanen, die nicht begründet werden und die wir deshalb umso leichter akzeptieren.« (S. 13)
hervorgebrachtes Geschehen ist und dass, was auch immer geschieht, auf den interpersonellen Kontext der therapeutischen Situation verweist (z. B. Mitchell 2003; Altmeyer, Thomä 2006). Die Auffassung, derzufolge der Mensch seiner Natur nach ein egoistisches, unsoziales Wesen ist, das nur deshalb zu einem sozialen Wesen wird, weil es die Befriedigung seiner Begierden sicherstellen muss, wurde in der Psychoanalyse schon früh in Frage gestellt, so von Ferenczi, Balint, Loewald, Winnicott u. a. oder - in der Psychiatrie - vor allem von Sullivan. Die Bedeutung der anderen Person, so hat beispielsweise BaHnt (z. B. 1969) nachdrücklich
Die Auffassung Todorovs von der primär sozialen Natur der conditio humana fügt sich in bemerkenswerter Weise mit modernen Entwicklungen innerhalb der Psychoanalyse und mit neueren entwicklungspsychologischen Befunden, insbesondere der Säuglingsforschung zusammen. Auch Arbeiten aus dem Gebiet der Bindungsforschung haben viele Belege dafür beigetragen, dass sich das Bedürfnis des Kindes nach Bindung und Beziehung nicht auf andere Bedürfnisse zurückführen lässt, sondern konstitutiver Teil seiner Natur ist. Danach ist das Neugeborene von Geburt an auf Andere und auf Interaktion mit Anderen hin ausgerichtet. Nur in kommunikativer Verbindung mit seiner Umwelt kann sich das Kind entwickeln. Das Selbst entsteht aus der Verinnerlichung des Blickes der Anderen, zuerst der Mutter, dann der übrigen relevanten Bezugspersonen. Indem das Kind die Mutter anblickt, begegnet es in deren Blick sich selbst. So ist das Bedürfnis, mit Anderen in Kontakt zu sein, kein abgeleitetes, sondern ein primäres Bedürfnis, gleich elementar wie die Ich-Triebe. Wir sind von Geburt an soziale Wesen, nicht zuerst primärnarzisstisch abgeschottet, um im Zuge der frühen Entwicklung mühsam den Weg in unsere soziale Mitwelt zu finden, nicht erst autistische Einzelne, um mühsam zu lernen, soziale Wesen zu werden, sondern von Anfang an auf Bindung und Verbindung und Intersubjektivität hin angelegt, primär soziale Wesen, die sich aus einer sozialen Matrix zu Individuen erst entwickeln. Wer wir sind, erfahren wir nicht, indem wir uns in uns selbst versenken, sondern erfahren wir im Spiegel der Anderen. Wenn wir uns nicht gesehen und nicht anerkannt fühlen, bleiben wir ohne die Bestätigung, derer wir bedürfen, um wir selbst sein zu können.
Interpersonalität in der Psychoanalyse und der soziologische Interaktionismus
Auch für die moderne Psychoanalyse sind Intersubjektivität und Interpersonalität zu wichtigen Konzepten geworden. Heute nimmt die ~uffassung breiten Raum
betont, erschöpft sich nicht darin, Mittler der Befriedigung von Triebimpulsen zu sein, vielmehr sei der Andere »wie die Luft zum Atmen«. In der Psychoanalyse wird die konstitutive Bedeutung von Interpersonalität und Intersubjektivität für das therapeutische Geschehen vor allem von Psychoanalytikern betont, die in der Tradition von Sullivan, Thompson, Gill u. a. einer relationalen Psychoanalyse verpflichtet sind (z. B. Aron 1996; Benjamin 2001; Ghent 1995; MitcheIl2003). Dabei weist die relationale Psychoanalyse vielfältige gedankliche Verbindungen mit der Soziologie auf, in erster Linie mit dem symbolischen Interaktionismus, der an Namen wie Mead, Cooley, Dewey, Thomas u. a. gebunden ist und sich in der Tradition der Phänomenologie von Husserl und Alfred Schütz bereits seit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts entwickelt hat. Auch die Arbeiten von Erving Goffman (z. B. 1963, 1974, 1994) zur sozialen Konstituierung des - öffentlichen und privaten - Selbst haben in Arbeiten, die der relationalen Psychoanalyse verpflichtet sind, vielfältige Spuren hinterlassen. Vor allem die Ethnomethodologie und deren empirischer Zugang zu sozialer Realität, die Konversations- und Interaktionsanalyse (vgl. Bergmann 1991), weist bemerkenswerte und bislang noch kaum ausgeleuchtete Verbindungslinien zu einer interaktionistisch verstCllldenen Psychoanalyse auf (Buchholz 2006). So hat Mead (1968) das Selbst als Ergebnis der Verinnerlichung von Erwartungen signifikanter Anderer aufgefasst. Bereits geraume Zeit zuvor hatte Cooley (1902) vom »looking glass selh< gesprochen, um auf die Bedeutung des Blickes der Anderen für die Genese des Selbst aufmerksam zu machen. Das Kind, so wusste Cooley, kann kein Selbst entwickeln, wenn Andere dieses Selbst nicht spiegeln. Auch Erving Goffman hat den sozialen Ursprung und die soziale Konstituierung des Selbst im öffentlichen und privaten Raum mit scharfem Blick auf interaktive Feinheiten untersucht. Insgesamt konvergieren die verschiedenen Ansätze der in- ,
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2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen, Persönlichkeitsstörungen
Soziale Lebenswelten
teraktionistischen Soziologie in der Auffassung, dass soziale Tatsachen in Interak-
insgesamt niedrigere Lebenserwartung als Menschen, die sich von vergleichsweise
tion hervorgebrachte Produktionen sind - und auch Identität und interpersonelle Lebenswelten sind keine individuellen, sondern interaktiv konstituierte Phäno-
stabilen sozialen Beziehungen getragen fühlen können. Die schwer wiegenden Folgen eines Mangels an sozialer Unterstützung zeigen sich besonders drastisch in der Kindheit: Säuglinge, die nicht oder ungenügend bemuttert werden, erleiden schwere Entwicklungsbeeinträchtigungen oder drohen sogar zu sterben (Spitz 2005); ein Mangel an sozialer Unterstützung in der Kindheit kann darüber hinaus weit reichende Spätfolgen haben.
mene. So sind auch ein jeweiliges Selbst und dessen zugehörige soziale Realität nicht schon vorab da, sondern werden in jedem Moment von Akteuren in ihrem Sich-Zueinander-Verhalten produziert, somit interaktiv gestaltet. Und noch der Umgang der Person mit sich selbst ist sozialen Ursprungs: Selbstregulierung reflektiert Interaktionserfahrungen, Interaktionsmuster setzen sich im Verlauf der Entwicklung in individuelle Stile der Selbstregulierung um. In diesem Sinne findet Sroufe (1990) in der Art und Weise der individuellen Affektregulierung frühe Interaktionsmuster wieder.
Zusammenleben mit Anderen und körperliche Gesundheit Die existenzielle Bedeutung unserer sozialen Lebenswelten kommt nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, dass kaum etwas sonst von so grundlegender Bedeutung nicht nur für die seelische, sondern auch für die körperliche Gesundheit ist wie die Beziehungen zu anderen Menschen. Die Art und Weise, wie jemand in der menschlichen Gemeinschaft verankert ist und sich zugehörig fühlen kann, ob jemand von anderen Menschen akzeptiert wird oder sich abgelehnt und ausgestoßen sieht, hat weit reichende Auswirkungen auf seinen seelischen und seinen körperlichen Zustand. Dafür spricht eine große Vielfalt von klinischen Befunden: Sozial isoliert zu sein, keiner sozialen Gruppe zuzugehören und sich nicht gesehen zu fühlen, geht mit einem deutlich erhöhten Risiko einher, seelisch und psychosomatisch krank zu werden. Auch das Risiko für viele körperliche Erkrankungen ist erhöht, wenn jemand auf wichtige Verbindungen zu anderen Menschen verzichten muss. So geht soziale Isolation mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen einher (z. B. Knox, Uvnas-Moberg 1998), und der Verlauf von Erkrankungen wie Diabetes, Arthritis, Lungenemphysem oder Asthma wird - zumindest bei älteren Menschen - wesentlich davon beeinflusst, ob jemand . in seine soziale Mitwelt stabil eingebunden ist oder sozial isoliert lebt (Tomaka seelischen Beeinträchtigungen leiden, die mit et al. 2006). Erwachsene, die
an
Gedanken einhergehen, sich selbst töten zu wollen, haben ein erheblich hö~eres Risiko, dass sie das tatsächlich versuchen, wenn soziale Unterstützung nicht zu erwarten ist. Menschen im höheren Lebensalter, die sozial isoliert sind, haben eine
Felitti et al. (z. B. 2002) haben in San Diego (USA) in einer Studie (»Adverse Childhood Experiences«; ACE-Studie) an über 17000 erwachsenen Amerikanern gefunden, dass der Gesundheitszustand enge Verbindungen mit belastenden Kindheitsfaktoren aufweist. Tatsächlich fanden sich bei erwachsenen Patienten mit körperlichen Erkrankungen, die selten mit belastenden Kindheitserfahrungen in Beziehung gebracht werden wie beispielsweise Diabetes oder Herzerkrankungen, in hohem Maße solche belastenden Erfahrungen in der Kindheit. Umgekehrt erhöhen psychosoziale Belastungsfaktoren in der Kindheit das Risiko für Essstörungen, Süchte, Depressionen, Suizidversuche, Diabetes oder Herzerkrankungen um ein Vielfaches und können - so die Autoren -lebenslange Folgewirkungen haben: »Sie sind der wichtigste Faktor,. der Gesundheit und Wohlbefinden ... bestimmt« (Felitti 2002, S.367). In der Mannheimer Kohortenstudie zur Epidemiologie seelischer Erkrankungen fanden Reister et al. (1989), dass psychosoziale Bedingungen in der Kindheit wie psychopathologjsche Auffälligkeiten bei den Eltern, Spannungen in der elterlichen Beziehung oder belastete Geschwisterbeziehungen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit einhergehen, im späteren Lebensalter an einer psychischen Störung zu erkfanken. Soziale Lebenswelt und seelische wie körperliche Gesundheit sind somit aufs Engste miteinander verbunden.
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Psychische Dispositionen und interpersonelle Beziehungen Die Beeinträchtigungen von Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen gehen mit gravierenden Problemen im Zusammenleben mit Anderen einher und zeigen sich vor allem als interpersonelle Störungen; Persönlichkeitsstörungen wurden deshalb auch »Störungen des Sozialen« genannt (z. B. Möller et al. 1996). Ihre vielfältigen Erscheinungsformen lassen sich nicht ausschließlich aus psychischen Beeinträchtigungen der Patienten erklären; »Störungen des Sozialen« sind interpersonelle Beeinträchtigungen, Störungen somit, an denen mindestens zwei Personen beteiligt sind. Tatsächlich wird die interpersonelle Seite seelischer Störungen in der Psychotherapie gel~genclich vernachlässigt. Weil das subjektive Erleben des Patienten im Vordergrund steht, tritt das Geschehen zwischen dem Patienten und seiner sozialen Umwelt und die Mittel und Wege des Verhaltens im Zusammensein mit Anderen leicht in den Hintergrund. Zwar ist an interpersonellen Beziehungen jede Person mit ihren je individuellen psychischen Dispositionen beteiligt, aber psychische Dispositionen allein geben interpersonellen Beziehungen noch nicht ihre definitive Gestalt. Vielmehr tragen Beziehungen die Spuren aller beteiligten Personen; unter Rückgriff auf verfügbare kulturelle Mittel gestalten alle an der Situation Beteiligten ihr Verhältnis zueinander. Dabei hat soziales Handeln seine eigene Grammatik, und das ist eine Interaktionsgrammatik. Die Tendenz, interpersonelle Beziehungen aus psychischen Dispositionen - seien diese bewusst oder unbewusst - zu erklären, ist psychotherapeutischem Denken in gewisser Weise immanent. Weil Psychotherapie »Seelenheilkunde« ist, ,sind interpersonelle Beziehungen und die Mittel und Praktiken, derer sich die beteiligten Personen bedienen, oft nur so weit von Interesse, wie der Psychotherapeut meint, daraus auf die psychische Binnenwelt des Patienten schließen zu können. So konnte Hoffman (1983, 2006), ein amerikanischer Psychoanalytiker, zu dem Fazit kommen, dass wir entgegen allen Beteuerungen des Zwei-PersonenCharakters von Psychotherapie einer ausgesprochen »asozialen« Auffassung des therapeutischen Geschehens anhängen. Wir halten - so Hoffman - daran fest, dass alles, was uns Patienten in der Behandlung mitteilen, mehr oder weniger ausschließlich als Ausdruck ihres seelischen Erlebens zu verstehen ist, als Indiz für ihre psychische Struktur und für unbewusste Konflikte. Beziehungen wären dann nichts anderes als eine Manifestationsform des seelischen Lebens, und die Art
Psychische Dispositionen und interp~rsonelle Beziehungen
und Weise, wie der Patient am sozialen Leben teilnimmt, wäre lediglich Ausdruck seiner seelischen Binnenwelt, seiner unbewussten Konflikte und Beziehungserfahrungen und verinnerlichten Objektbeziehungen. Auf eine einfache Formel gebracht, wären die Beziehungen des Patienten zu seinen Mitmenschen so wie sie sind, weil seine Psyche so ist wie sie ist. Und auch die therapeutische Beziehung, Übertragung und Gegenübertragung wären nicht gemeinsames Produkt von Patient und Therapeut, sondern nur eine Manifestation von früheren Beziehungserfahrungen des Patienten, ohne Spuren der gegenwärtigen Anwesenheit des Therapeuten aufiuweisen.
Psychotherapie als »talk in interadion« Aus der Sicht eines von der ethnomethodologischen Soziologie beeinflussten Verständnisses von sozialer Wirklichkeit - zu der auch Psychotherapie gehört -, ist soziale Realität immer eine »Mehr-Personen-Wirklichkeit«, das Ergebnis der Interaktion von Patient und Psychotherapeut, in der therapeutischen Gruppe entsprechend der Interaktion von allen an der Situation Beteiligten. Diese Auffassung fmdet sich auch in Arbeiten von Psychoanalytikern wieder, die einem sozialen Konstruktivismus nahe stehen (z. B. Hoffman 1983; Orange 1995), der seinerseits enge Verbindungen zu ethnomethodologischen Auffassungen aufweist und darin verankert ist, insbesondere aber in der relationalen Psychoanalyse, deren Einfluss sich auch in der psychodynamischen Psychotherapie zunehmend bemerkbar zu machen beginnt. Danach hat es der Psychotherapeut in der Behandlung nie nur mit der psychischen Realität seines Patienten zu tun, mit Abkömmlingen des Unbewussten, so wie der Patient diese in die Therapie jeweils schon mitgebracht hat, sondern immer _m it »Wechselwirkungen« (Balint 1963), die von seiner eigenen Anwesenheit mit geprägt werden. Was auch immer in der Behandlung geschieht und was auch immer dort zum Vorschein kommt, es handelt sich um Phänomene, an deren Gestaltung Patient und Psychotherapeut gemeinsam beteiligt waren. Auch Übertragungen weisen Spuren des Therapeuten auf: der Patient will Beziehungen der Vergangenheit in der therapeutischen Interaktion wieder aktuell werden lassen Oohan 1992; Sandler 1994) und versucht, den Analytiker dazu zu veranlassen, sich auf eine Weise zu verhalten, dass er seine Übertragungserwartungen bestätigt sehen kann (z. B. Gabbard 1995; König 1992); gelingt das, stellt sich eine Beziehung her, die der Patient wahrnehmen kann, als "
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handele es sich um die Vergangenheit; das aber geschieht nicht ohne Zutun des Psychotherapeuten, der Mitgestalter der Übertragung ist. So wird auch Wahrnehmungsidentität (Freud 1900) interaktiv hergestellt. Während sich Patienten mit neurotischen Störungen gleichsam damit begnügen, den Psychotherapeuten in ihrer Fantasie in einer der jeweiligen Übertragung gemäßen Weise auszustatten, versuchen Patienten mit strukturellen Störungen, den Therapeuten dazu zu bringen, sich tatsächlich so zu verhalten, dass sein Verhalten vergangene Erfahrungen bestätigen und so die Vergangenheit in der Gegenwart wieder aufleben kann. Wenn der Patient damit erfolgreich ist, kann das darauf hinweisen, dass in dieser Phase der Therapeut unbemerkt unter das unbewusste Verhaltensdiktat des Patienten geraten ist und die Interaktion vorübergehend in eine vom Patienten angestrebte Richtung gesteuert wurde. Wie Patient und Psychotherapeut sich im Kontakt zueinander verhalten, Übertragung und Gegenübertragung, projektive Identifikationen und Gegenidentifikationen, und wie sie auf deren Hintergrund ihr Verhältnis zueinander in jedem Moment gestalten, lässt sieh somit nie nur aus dem unbewussten Erleben und Verhalten der Patienten erklären. Kontakt können nur zwei haben, die sich zueinander und miteinander verhalten und miteinander interagieren. Wenn Anwesende interagieren, passen sie ihr Verhalten wechselseitig aneinander an, und in der Folge entstehen neue Muster mit neuen Eigenschaften, die über die Eigenschaften jedes einzelnen der interagierenden Partner für sich genommen hinausgehen (vgl. Overlaet 1991): »Man berührt, und im Berühren wird man berührt. Das ist Kommunikation, aber nichts wird kommuniziert. Nur ein Austausch von Leben, das ist alles.« (Huxley 1964, S.288) In diesem Sinn ist das Verhalten des Patienten und seine Übertragung ebenso wie das Verhalten des Therapeuten und dessen Gegenübertragung immer auch und unvermeidlich eine Antwort auf das konkrete gegenwärtige Verhalten der jeweils anderen Person und in dessen Kontext verankert. Darum bedarf das aktuelle Verhalten einer Person, um verstanden zu werden, immer auch der Bezugnahme auf die gegenwärtige lokale Situation, in der es sich ereignet hat. Psychische Dispositionen einerseits und Verhalten in Interaktion - »talk in interaction« (Schegloff 1984) - andererseits sind zwei Dimensionen, ohne dass sich die eine auf die andere zurückführen ließe.
Psychische Dispositionen und interpersonelle Beziehungen
Erleben und Verhalten in Beziehungen
So sprechen Patient und Psychotherapeut nicht nur über Erfahrungen, die der Patient ins Behandlungszimmer jeweils mitgebracht hat, sondern sie müssen immer auch ihr Verhältnis zueinander regulieren, sie müssen sich darüber verständigen, wie ihre Beziehung zueinander im Augenblick ist und zukünftig sein soll, und sie müssen zu geteilten Bedeutungen dessen kommen, worüber sie inhaltlich miteinander sprechen. Das kann über längere Passagen hinweg geschehen, auch ohne dass sie darüber ein Wort verlieren. Die- Mittel,· die sie zu diesem Zweck verwenden, sind oft subtil und flüchtig und werden oft weder vom Patienten noch vom Psychotherapeuten bewusst wahrgenommen, sind aber gleichwohl sichtbar und hörbar. Wären sie nicht sichtbar oder hörbar, würden sie sich für die Verständigung zwischen PatIent und Therapeut und für die Regulierung ihrer Beziehung nicht eignen. Nur dann, wenn der jeweils Andere die Mittel sinnlich wahrnehmen kann, die das Gegenüber bewusst oder unbewusst verwendet, können sie eine Funktion für die Herstellung der gemeinsamen therapeutischen Realität und für die Abwicklung der therapeutischen Interaktion haben. Oft bemerkt der Psychotherapeut erst in dem Moment, was in der Beziehung mit dem Patienten geschehen ist, nachdem er auf seine Gegenübertragung aufmerksam geworden ist und sich mit. den Folgen dessen, was·gerade zuvor geschehen ist, konfrontiert sieht. Gilt die diagnostische und therapeutische Aufmerksamkeit ausschließlich dem Erleben des Patienten und hält der Therapeut das beiderseitig heobachtbare sichtbare und hörbare Verhalten für vergleichsweise unwichtig, weil vermeintlich oberflächlich, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihm verborgen bleibt, wie und mit welchen Mitteln das·Geschehen im Behandlungszimmer hervorgebracht, die therapeutische Interaktion reguliert und die therapeutische Beziehung gestaltet wird. Hinzu kommt, dass auch das Erleben von der therapeutischen Beziehung nicht nur eine subjektive und nicht nur eine intersubjektive Seite hat, sondern sich auch aus dem realen sicht- und hörbaren Verhalten von Patient und Psychotherapeut erklärt, mit dem sie eben diese therapeutische Beziehung co-produzieren und damit ihr Verhältnis gestalten. Es wäre auch nicht sinnvoll, beides fachlich begründet voneinander separieren und unterschiedlichen Disziplinen zuordnen zu wollen - die Seite des unbewussten Erlebens der Psychoanalyse, das interaktive Handeln der Sozialpsychologie. Das würde den Zusammenhang .von individuellem unbewusstem Erleben und sozialem, interpersonellem Handeln zerreißen ~
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und damit dem Verständnis entziehen, was für die therapeutische Arbeit mit strukturell gestörten Patienten eine wichtige Voraussetzung ist. Im Verlauf einer psychotherapeutischen Behandlung verändern sich die zwischenmenschlichen Beziehungen des Patienten nicht zwangsläufig schon dadurch, dass sich sein Erleben verändert. Der Zusammenhang von Erleben auf der einen und sozialem Handeln bzw. Interaktion auf der anderen Seite ist nicht in der Weise eng, dass Interaktion nur eine Funktion von seelischem Erleben wäre. Veränderungen des seelischen Erlebens von Patienten mit strukturellen Störungen, die durch eine psychotherapeutische Behandlung erreicht werden, ziehen nicht zwangsläufig Veränderungen der Probleme nach sich, die der Patient im Zusammenleben mit Anderen hat. Wie strukturell gestörte Patienten sich im Kontakt mit Anderen verhalten, kann tief in ihnen verankert sein, gleichsam dem Körper eingeschrieben, kann der Selbstreflexion unter Umständen aber weitgehend unzugänglich sein. Solches dem Körper eingeschriebenes Verhalten findet Eingang in die Gestaltung von interpersonellen Beziehungen. Interpersonelle Beziehungen einschließlich der therapeutischen Beziehung werden deshalb immer auch unter Rückgriff auf aktualisiertes Wissen des körperlichen Gedächtnisses abgewickelt, SIe sind nicht nur das Produkt symbolischer Kommunikation. Verhalten im interaktiven Austausch bringt sich - mit anderen Worten - immer auch als »embodied action« oder »embodied communication« zur Geltung, als »verkörperte« oder »darstellende Kommunikation«, nicht selten sogar, ohne im sprachlichen Ausdruck Spuren zu hinterlassen. Solch körperliches Wissen aber kann dem Erleben weitgehend entzogen bleiben und muss sich nicht schon dadurch verändern, dass sich psychische Dispositionen verändern. So ist zu erklären, dass man manchmal Pati. enten begegnet, die eine langjährige psychotherapeutische Behandlung hinter sich und dabei viel über sich erfahren haben, deren psychische Problematik sich durch die Behandlung auch stabilisiert und gebessert hat, die aber trotz der intensiven Behandlung immer wieder in große Schwierigkeiten im Zusammensein mit Anderen geraten oder die Kontakte mit Anderen meiden, so wie sie das schon vor der Behandlung getan haben. Obwohl sich ihr seelisches Erleben verändert hat, haben sie ihr Verhalten in Beziehungen weitgehend unverändert beibehalten, weil in der Behandlung ihr körperliches, interaktives »Wissen« nicht erreicht wurde. Indem Verhalten in Interaktion mit Anderen auch auf nicht symboliSierungsfähiges. prozedurales Wissen zurückgreift und nicht Teil des sprachlichen Ausdrucks, sondern darstellender Kommunikation ist, muss in psychotherapeutischen Behandlungen
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Unbewusster Konflikt und Entwicklungsstörung
immer damit gerechnet werden, dass dieses Wissen nicht genügend aktualisiert wird, wenn der Therapeut sich vorwiegend auf die sprachlichen Mitteilungen und damit auf das potentiell symbolisierungsfähige Beziehungswissen der Patienten stützt. Das gilt in ganz besonderem Maße für Patienten mit strukturellen Störungen und mit schweren Persönlichkeitsstörungen.
Unbewusster Konflikt und Entwicklungsstörung Bereits Anna Freud (1965) hatte bei ihrer therapeutischen Arbeit mit Kindern erkannt, dass seelische Störungen, die auf Entwicklungsbeeinträchtigungen zurückzuführen sind, und solche, die in unbewussten Konflikten gründen, unterschieden werden müssen. Probleme von Patienten mit strukturellen Störungen, ihr Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten, affektive Zustände in einem mittleren Bereich zu regulieren und an reziproken Beziehungen mit Anderen teilzunehmen, sind in erster Linie auf Entwicklungsbeeinträchtigungen zurückzuführen. Die ubiquitären unbewus~ten Konflikte, die die psychosoziale Entwicklung von Patienten mit strukturellen Störungen begleitet haben, bilden im Unterschied zu neurotischen Störungen nicht den zentralen dynamischen Hintergrund ihrer Beeinträchtigungen, sondern sind den basalen strukturellen Störungen gleichsam überlagert. Um den Unterschied von entwicklungs- und konfliktbedingten Störungen zu veranschaulichen, hat Krause (2006) strukturelle Störungen mit Materialschäden verglichen, konfliktbedingte Störungen mit Konstruktionsmängeln, bei denen das Material selber nicht schadhaft ist. Wählt man den Vergleich mit einem Bauwerk, könnte man strukturelle Störungen auch mit Beeinträchtigungen an den Fundamenten vergleichen, auf denen unbewusste Konflikte aufruhen, deren Konstruktion wesentlich von den Eigenschaften des Fundaments geprägt werden. Auch dort, wo sich Strukturen auf den ersten Blick gleichen, würde sich bei näherem Hinsehen erweisen, dass sie bei strukturellen Störungen auf unsicheren oder beeinträchtigten Fundamenten aufgebaut sind, während im Fall konfliktbedingter Störungen die Konstruktion Probleme aufweist, aber auf sicheren Fundamenten steht (Falck, pers. Mitteilung). In beiden Fällen können zusätzliche Konstruktionsfehler - pathologische Konflikte - vorliegen; in dem einen Fall kämen diese zu den Beeinträchtigungen an den Fundamenten hinzu, im anderen Fall wären
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2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen, Persönlichkeitsstörungen .
sie der eigentliche Grund für die Beeinträchtigungen, während die Fundamente selbst weitgehend stabil sind. Der Unterschied von entwicklungs- und konfliktbedingten Störungen lässt sich auch am Beispiel der Auswertung von Interviewerzählungen in der Bindungsforschung anschaulich machen: in der Bindungsforschung werden die Erzählungen im Bindungsinterview (Adult Attachment Interview) als Datengrundlage herangezogen, um Bindungserfahrungen und Bindungstypen zu differenzieren: was verschiedene Probanden im Erwachsenen-Bindungsinterview berichten, kann inhaltlich mehr oder weniger große Übereinstimmung aufweisen; dennoch können die Erzählungen auf sehr unterschiedliche Bindungserfahrungen hinweisen; diese Unterschiede schlagen sich nicht unbedingt in den Inhalten der Erzählungen nieder, sondern zeigen sich in Unterschieden der sprachlichen Mittel, mit denen diese gleichen Inhalte in dem einen wie im anderen Fall gestaltet werden. So kann es sein, dass sich die Interviewerzählungen von sicher und nicht sicher gebundenen Personen inhaltlich ähnlich sind, während sich in
Unbewusster Konflikt und Entwicklungsstörung
Patienten bewegen sich in der äußeren, sinnlich zugänglichen Realität, während der psychische Binnenraum eingeschränkt oder kaum entwickelt zu sein scheint. Eine Behandlung von Entwicklungsstörungen kann darum sinnvollerweise auch nicht vorrangig zum Ziel haben, unbewusste Konflikte aufzudecken und dem Patienten bewusst zu machen, eben weil die Beeinträchtigungen in der Struktur der Persönlichkeitsorganisation und nicht in unbewussten Konflikten verankert sind. Das psychische Funktionsniveau, auf dem die Patienten sich habituell bewegen, ist nicht Ausdruck der Aktualisierung von unbewussten Konflikten und davon abhängiger, vorübergehender regressiver Einschränkungen, sondern ist das höchste psychische Niveau, das sie im Verlauf ihrer Entwicklung erreicht haben. Eine Therapie, die darauf ausgerichtet ist, regressives Erleben zu fördern und bei neurotischen, konfliktbedingten Störungen indiziert ist, geht für Patienten mit schwereren Entwicklungs- bzw. strukturellen Störungen mit der Gefahr einher, dass ihre ohnehin labilen psychischen Strukturen und Funktionen zusätzlich geschwächt und verfügbare Anpassungs- und Abwehrmöglichkeiten noch weiter labilisiert werden. Rudolf (2004) hat anhand eines kasuistischen Berichts, der von Feldman, einem englischen Psychoanalytiker kleinianischer Richtung, veröffentlicht wurde, gezeigt, dass bei strukturell gestörten Patienten ein therapeutisches Vorgehen, das darauf ausgerichtet ist, regressive Prozesse zu fördern, um unbewusstes Erleben mit Hilfe von Deutungen bewusst zu machen, erhebliche destabilisierende Folgen haben kann. Dass sich die Probleme der Patientin auch nach einer mehrjährigen analytischen Behandlung nicht verändert hatten, führte Rudolf darauf zurück, dass der behandelnde Psychoanalytiker die strukturelle Störung der Patientin nicht erkannt und das Verhalten der Patientin stattdessen wie bei einer neurotischen Störung als symbolischen Ausdruck für unbewusstes Erleben verstanden bzw. missverstanden und gedeutet hatte.
tanzen des Selbst oftmals überdimensionierte Qualitäten, erscheinen vergröbert und entgrenzt oder aber bis zur Karikatur einseitig, verkleinert und zu scheinbarer
Viele Kliniker, die sich mit Fragen der psychotherapeutischen Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen beschäftigen, stimmen darin überein, dass
Bedeutungslosigkeit geschrumpft (vgl. Argelander 1971). Differenziertere Affekte sind oftmals nicht entwickelt oder beschränken sich auf vergleichsweise diffuse, körpernah erlebte Qualitäten. Es gibt keinen Fantasieraum, keine zum eigenen
die Therapie von Entwicklungsstörungen an den in der Persönlichkeitsorganisation verankerten Beeinträchtigungen vorbeizugehen droht, wenn der Therapeut mit einer deutenden Behandlungstechnik zu arbeiten versucht. So haben auch Fonagy et al. (2004) mit Blick auf die basalen Beeinträchtigungen der Mentalisie-
Erleben distanzierte Position und keinen Zugang zu anderen Erlebenswelten. Die
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2. Strukturelle Störungen, komplexe Störungen, Persönlichkeitsstörungen
rungsfunktion bei Patienten mit Borderline-Störungen betont, dass Deutungen ein ungeeignetes therapeutisches Mittel seien (siehe auch Bateman, Fonagy 2003). Strukturelle Störungen der Persönlichkeitsorganisation werden nicht genügend erreicht, wenn der Therapeut mit Deutungen darauf .abhebt, unbewusstes Erleben bewusst machen zu wollen. Auch die generalisierten sozialen Ängste, die bei strukturellen und komplexen Störungen so häufig sind, sind mit Deutungen kaum zu erreichen. Versucht der Psychotherapeut, dem Patienten den unbewussten Sinn seiner Ängste im Zusammensein mit Anderen zu interpretieren, bleiben - außer in seltenen Ausnahmefällen - nachhaltige Veränderungen der sozialen Ängste meistens aus.
3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
Bei den Persönlichkeitsstörungen, die im DSM bei den Cluster A- und Cluster B-Persönlichkeitsstörungen aufgeführt sind, handelt es sich meist um strukturelle und komplexe Störungen. Bei komplexen Störungen kann das manifeste klinische Bild von den Symptomen der »komorbiden« Störungen, die die strukturellen Störungen begleiten, überlagert sein. Lange Zeit galten Patienten mit psychopathologischen Beeinträchtigungen, die heute als schwere strukturelle oder komplexe Störungen der Persönlichkeit aufgefasst werden, als weitgehend unbehandelbar. Sie fanden sich vorwiegend unter der Klientel sozial-reglementierender Institutionen. Auch gegenwärtig machen sie in -psychotherapeutischen Bestellpraxen nur einen kleinen Anteil aller dort behandelten Patienten aus. Unter den Patienten psychiatrischer Kliniken findet man strukturelle Störungen sehr häufig; hier wird bei fast der Hälfte aller Patienten eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert (z. B. Loranger et al. 1994). In forensischen Abteilungen ist der Anteil von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen bzw. strukturellen Störungen noch erheblich größer: bei über 70 % aller Patienten, die in der forensischen Psychiatrie behandelt werden, werden strukturelle Störungen der Persönlichkeit diagnostiziert (z. B. Borchard et al. 2003; Schott, pers. Mitteilung). Dabei dürfte es sich überwiegend um Störungen handeln, die hier komplexe Störungen genannt werden.
Strukturelle Störungen und soziale Umwelt Strukturelle und komplexe Störungen können mit einem breiten Spektrum von seelischen und psychosozialen Beeinträchtigungen einhergehen. Symptome wie Ängste und multiple Phobien, impulsives Agieren, Depressionen, schwerwiegende Arbeitsstörungen und Arbeitsunfähigkeit, Zwänge, promiskuöses und antisoziales Agieren, chronische Selbstverletzungen, soziale Isolation, suizidales Verhalten und chronische Suizidalität, abhängige Verhaltensweisen, instabile Beziehungen, sexuelle Perversionen, Alkoholabhängigkeit und andere süchtig-abhängige Ver- ~
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
haltensmanifestationen oder psychosenahe Störungen können das klinische Bild prägen. - Auch die Beeinträchtigungen von Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen können mit erheblichen Entwicklungsschäden bzw. strukturellen, in der Persönlichkeitsorganisation verankerten Störungen verbunden sein. Manchmal erscheinen die Beeinträchtigungen von Patienten mit schweren strukturellen Störungen aber auch relativ blande, und halbwegs sicher abgrenzbare Symptome fehlen weitgehend. Aus psychodynamischer Sicht manifestieren sich basale Entwicklungsstörungen bzw. strukturelle Störungen vor allem als Störungen der Selbstregulierung und des Selbsterlebens und als Störungen der Regulation im Zusammensein mit An-
können mit der Folge, dass sie sich bis zur Erschöpfung verausgabte. An der anderen Stelle konnte sie es nicht ertragen, >hirnrissige Anordnungen< von Vor, gesetzten befolgen zu müssen. Sie berichtete -über schwer auszuhaltende diffuse, körperlich erlebte Unlustzustände. Manchmal wurde sie von heftigen aggressiven und zerstö·rerischen Impulsen und Affekten geradezu überschwemmt. Wenn sie zum Beispiel beim Einkaufen an der Kasse in einer Schlange warten . musste, konnte sie dermaßen wütend werden~ dass sie sich nicht anders zu helfen wusste, als das Geschäft abrupt zu verlassen, um so der Gefahr'zu entgehen, gewalttätig zu werden. Gelegentlich fügte sie sich Verletzungen an Unterarmen
der Patienten im Umgang mit sich selbst und mit Anderen meist auf alle Bereiche ihres sozialen und beruflichen Lebens beeinträchtigend aus. Die Störungen können außerordentlich schwerwiegend sein und manchmal mit bedrohlichen Folgeerscheinungen einhergehen, beispielsweise mit schweren Formen selbstschädigenden oder fremddestruktiven Verhaltens.
und Fußsohlen zu oder manipulierte mit einer Schere so lange am Nagelbett herum, bis sie blutete - vor allem dann, wenn sie die diffusen Spannungs- und Unlustzustände nicht mehr aushalten konnte. Abends konnte sie schwer einschlafen; nachts wachte sie oft auf, und meist schlief sie nicht länger als drei oder vier Stunden. Sich der Entspannung des Schlafes zu überlassen, ging für sie mit der Gefahr einher, die Kontrolle zu lockern, und das war ein zu großes Risiko. Frau A. war chronisch suizidal. Schon als Kind hatte sie versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Ihre Suizidalität war insofern bedrohlich, als sie sich den Tod als wohltuende Ruhe und entspannten Schlaf ausmalte, als Insel, auf der sie endlich keine .Erwartungen mehr erfüllen müsste. Eine Zeit
Frau A. ist eine 34-jährige Frau, groß, schlank, feingliedrig, mit einem schmalen, etwas spitzen Gesicht, sichtlich bedacht auf ihr äußeres Erscheinungsbild. Sie hat einen kräftigen Händedruck, und bei der Begrüßung sieht sie ihrem Gegenüber auffallend fest in die Augen; nie ist sie diejenige, die den Blick zuerst abwendet.
lang hatte sie eine Mixtur von verschiedenen Medikamenten in großer Menge mit sich herumgetragen. Jetzt hatte sie die Medikamente einem Bekannten gegeben. Allerdings meinte sie, dass sie sich heute ohnehin Luft in die Venen spritzen würde, das sei weniger aufwendig, und tatsächlich trug sie ständig eine 50-Milliliter-Spritze nebst Kanüle bei sich. Schließlich hatte Frau A. eine ganze Reihe von körperlichen Beschwerden, Nackenschmerzen, Schmerzen im LWS-
deren bzw. als Störungen der Interaktionsregulierung. Anders als bei neurotischen Persönlichkeitsstörungen bzw. Charakterneurosen - sie entsprechen im DSM IV den Cluster C-Persönlichkeitsstörungen - wirken sich die Beeinträchtigungen
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Strukturelle Störungen und soziale Umwelt
Frau A. litt unter quälenden Leere- und Sinnlosigkeitsgefühlen, Depersonalisations- und Derealisationssymptomen, vor allem dem wiederkehrenden Empfinden, sich fremd zu sein und neben sich zu stehen, dabei sich selbst ununterbrochen kritisierend. Manchmal kam es ihr so vor, als wenn gegenwärtige Ereignisse sich nicht wirklich in der Gegenwart ereignen würden. Sie hatte seinerzeit das Gymnasium kurz vor dem Abitur verlassen, hatte, obwohl intel-
Von stationär behandlungsbedürftigen Patienten mit komplexen Störungen ist mehr als die Hälfte aller Patienten chronisch suizidal, und etwa 20 % haben in der Vergangenheit einen oder mehrere Suizidversuche unternommen (Leichsenring et al. 2005). Die Beziehungen der Patienten sind häufig instabil und scheitern
ligent, keine abgeschlossene Ausbildung und finanzierte ihren Lebensunterhalt durch Aushilfstätigkeiten. Meist wechselte sie ihre Arbeitsstellen nach kurzer Zeit. An der einen Stelle war es für sie schwer erträglich, Kontakt zu Ku~den
ein ums andere Mal, soweit die Patienten sich überhaupt auf nähere Beziehungen einlassen. Nicht selten werden soziale Kontakte ganz gemieden, und die Patienten leben zurückgezogen, leiden aber oft sehr daran, dass es ihnen nicht gelingt, befrie-
zu haben, weil sie das Gefühl hatte, sich ihnen gegenüber nicht abgrenzen zu
digende Beziehungen zu Anderen zu gestalten und aufrechtzuerhalten. In welchem
Bereich, rezidivierende Gelenkbeschwerden.und Magenschmerzen.
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3. Zur Diagnostik ,struktureller und komplexer Störungen
Ausmaß bei Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen neben der Selbstregulierung insbesondere das Zusammenleben mit anderen Menschen betroffen ist, lässt sich an den beschreibenden diagnostischen Kriterien für Persönlichkeitsstörungen ablesen, die sich in den KlassifIkationssystemen psychischer Erkrankungen fInden. Dort bezieht sich der weit überwiegende Teil aller diagnostischen Kriterien auf Verhaltensweisen, die mit interpersonellen Beziehungen zu tun haben, zum geringeren Teil auf Eigenschaften, die in der Person liegen. Was dort Störungen beschreiben soll, die in der Persönlichkeit verankert sind, benennt in Wirklichkeit zu einem großen Teil Auffälligkeiten, die sich inte7personell manifestieren. Das lässt den Schluss zu, dass sich schwere Persönlichkeitsstörungen bzw. strukturelle Störungen nicht überwiegend intrapersonell, sondern zwischen dem Patienten und seiner sozialen Umwelt zeigen. So heißt es im DSM IV bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung (30 1.00) unter anderem, dass die Patienten» ... vermuten, dass andere Menschen sie ausbeuten, schädigen oder täuschen werden«, sie seien» ... eingenommen von ungerechtfertigten Zweifeln bzgl. der Loyalität oder Glaubwürdigkeit ihrer Freunde und Partner, ... lesen in harmlose Bemerkungen oder Ereignisse abwertende und bedrohliche Bedeutungen, ... tragen lange nach, ... leichtere Vernachlässigung ruft schwere Feindseligkeiten hervor«, und sie» ... können pathologisch eifersüchtig sein ... « Patienten mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung (301.20) werden dahingehend gekennzeichnet, dass sie» ... gleichgültig gegenüber Gelegenheiten, enge Beziehungen aufzubauen« erscheinen, » ... ihre Zeit lieber allein« verbringen, » ... oft sozial isoliert«, » ... Einzelgänger« sind, » ••• geringes Interesse an sexuellen Kontakten mit einer anderen Person« haben und » ... wenig Freude an sinnlichen, körperlichen oder zwischenmenschlichen Kontakten, ... keine
Strukturelle Störungen und soziale Umwelt
zwischenmenschliche Kontakte als problematisch ... haben nur wenige enge Freunde oder Vertraute ... « Die antisoziale Persönlichkeitsstörung (301.7) wird defIniert durch » ... Verhaltensmuster wiederholter und andauernder Verletzungen der Grundrechte anderer Menschen bzw. der dem jeweiligen Alter entsprechenden gesellschaftlichen Normen und Regeln ... Aggression gegen Menschen und Tiere, Zerstörung fremden Eigentums, Betrug bzw. Diebstahl oder aber schwerwiegende Gesetzesübertretungen. « Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung(30 1.83) » .•• bemühen sich verzweifelt, tatsächliches oder erwartetes Verlassenwerden zu vermeiden ... sehr empfIndlich gegenüber Einflüssen aus ihrer Umgebung ... intensive Ängste vor Verlassenwerden ... Unfähigkeit, allein zu sein ... Muster instabiler, aber intensiver Beziehungen ... wechseln u. U. unvermittelt von der Rolle eines bedürftigen hilfesuchenden Bittstellers in die eines hochnäsigen Rächers ... extreme Reaktivität gegenüber zwischenmenschlichen Belastungen ... « Zu Patienten mit einer histrionischen Persönlichkeitsstörung (301.50) heißt es: » .•• Fühlen sich unwohl oder nicht gebührend beachtet, wenn sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen ... neigen dazu, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen ... in sexueller Hinsicht oft unangepasst provokant oder verführerisch ... setzen ständig ihre körperliche Erscheinung ein, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen ... überaus darum besorgt, andere durch ihr Auftreten zu beeindrucken ... Freunde und Bekannte können sie durch übertriebene, öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen in Verlegenheit bringen ... suggestibel ... überaus vertrauensselig ~ .. « Patienten mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (301.81) » ..• nehmen sich in übertriebenem Maße selbst wichtig ... häufig prahlerisch und großspurig erscheinend ... erwarten von' anderen, sie so (als einzigartig) anzusehen ... wer-
engen Freunde oder Vertraute, ... oftmals gleichgültig gegenüber Lob oder Kritik anderer« und» ... sozial unbeholfen« sind.
ten den Ruf derer ab, von denen sie enttäuscht wurden ... verlangen ... nach übermäßiger Bewunderung ... übertriebene Erwartungen an eine besonders
Von Patienten mit einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung (301.22) heißt es: » ... das Gefühl ... , die Gedanken anderer Menschen zu lesen ... häufig miss-
bevorzugte Behandlung ... Mangel an Sensibilität gegenüber den Wünschen und Bedürfnissen anderer Menschen ... Mangel an Empathie ... oft neidisch auf andere ... «
trauisch ... verfügen gewöhnlich nicht über die ganze Bandbreite differenzierter EmpfIndungen und zwischenmenschlicher Kommunikationsformen ... werden ... oft als merkwürdig oder eigentümlich angesehen ... verhalten ' sich
Die Kriterien, die in der ICD 10 für Persönlichkeitsstörungen aufgeführt werden,
unaufmerksam gegenüber den gängigen sozialen Konventionen ... erleben
unterscheiden sich nur unwesentlich von denen im DSM
rv. Auch dort werden
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
Mentalisieren
ganz überwiegend Beeinträchtigungen beschrieben, die sich in der sozialen Lebenswelt der Patienten manifestieren.
Reihe weiterer psychischer Funktionen, die erforderlich sind, um die Anpassung an innere und äußere Bedingungen zu gewährleisten. Dazu gehört auch die Fä-
Dass sich Persönlichkeitsstörungen wie strukturelle und komplexe Störungen überhaupt vor allem als Störungen im Zusammenleben mit Anderen zeigen, hat
higkeit des Mentalisierens.
wichtige Konsequenzen für die Diagnostik: neben der psychischen Seite der Beeinträchtigungen und deren psychodynamischen Hintergründen muss das soziale Leben des Patienten in der Diagnostik einen herausragenden Platz einnehmen und genau und differenziert erfasst werden. Das schließt die Erfahrungen des Patienten mit Beziehungen, das Bindungsverhalten sowie seine Fähigkeiten ein,
Mentalisieren Fonagy et al. (2004) führen die Entwicklung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen auf eine Beeinträchtigung der Mentalisierungsfunktion zurück, der Fähigkeit, sich selbst und Anderen geistige Zustände zuzuschreiben und andere
Interaktion im Zusammensein mit Anderen zu regulieren. Therapeutisch wird dem Umstand, dass Persönlichkeitsstörungen sich vor allem als gestörte interpersonelle Verhältnisse manifestieren, mit neueren Behand-
Personen als Akteure zu sehen, die auf der Grundlage von Intentionen handeln (>theory of mind<; Davidson 1984; Dennett 1996). Die Mentalisierungsfunktion ist die Grundlage der Möglichkeit, Andere zu verstehen und sich zu sich selbst
lungsansätzen in unterschiedlicher Weise Rechnung getragen. So verankert Benjamin (2001) den von ihr entwickelten Ansatz der Diagnostik und Behandlung von Persönlichkeitsstörungen (SASB) ganz in einer interpersonellen Dimension; bei Kernberg, vor allem bei der für die Behandlung der Borderline-Persönlichkeit entwickelten »übertragungsfokussierten Psychotherapie« (Clarkin 2001; vgl. Buchheim 1999), liegt das Schwergewicht von Diagnostik und Behandlung auf der therapeutischen Beziehung; und auch Heigl-Evers et al. (1993) haben die zentrale Pathologie von Patienten mit strukturellen Störungen eine »Beziehungspathologie« genannt (S.203).
zu verhalten. Die Fähigkeit des Mentalisierens entwickelt sich in der Kindheit über mehrere Stufen hinweg: Einem Stadium der psychischen Äquivalenz folgt die Stufe des Als-üb-Modus, an die sich das Stadium anschließt, in dem psychische Realität als solche erkannt werden und auf der Grundlage dieser Erkenntnis ge-
Beeinträchtigungen basaler psychischer Funktionen bei strukturellen Störungen . Basale psychische Funktionen sind bei Patienten mit strukturellen Störungen nicht nur selektiv und temporär eingeschränkt, sondern können nicht oder nur rudimentär ausgeübt werden (Fürstenau 1977). Die Funktionseinschränkungen manifestieren sich nicht nur in umschriebenen Situationen und unter bestimmten konflikthaften Umständen und nicht nur in der Beziehung zu bestimmten Personen, wie das bei neurotischen Störungen - etwa als Ausdruck eines regressiven Konflikclösungsversuches - gewöhnlich der Fall ist, sondern unabhängig von situativen Umständen ist der Patient generell nicht bzw. nur erheblich eingeschränkt in der Lage, die entsprechenden strukturgebundenen Funktionen auszuüben. Das betrifft Funktionen der Selbst- und der Beziehungsregulierung ebenso wie eine
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handelt werden kann. Im Stadium der psychischen Äquivalenz geht das Kind davon aus, dass die Welt so ist, wie es selber die Welt erlebt; es sieht die Objekte in seiner Welt gleich wie sich selbst. Das Kind hat noch keine Vorstellung davon, dass sich die psychische Realität anderer Personen von seiner eigenen unterscheidet und dass gleiches Verhalten unterschiedliche Beweggründe haben kann, indem andere Menschen auf der Grundlage ihrer je eigenen psychischen Wirklichkeit handeln. Im Stadium des Als-üb-Modus hat das Kind .die Fähigkeit zur Fantasietätigkeit erworben.
Es kann sich jetzt in einer Welt bewegen, die es sich nur vorstellt und fantasiert . Dabei hält es seine Vorstellungen für real, kann somit Fantasie und Realität noch nicht voneinander unterscheiden. Daneben und davon unberührt gibt es für das Kind die wirkliche Welt. Fantasiewelt und wirkliche Welt sind nicht miteinander verbunden, und das Kind kann ohne Probleme zwischen der einen und der anderen Welt hin und her wechseln. Auf dieser Stufe seiner Entwicklung ist das Kind in der Lage, Fantasien für Zwecke der Selbstregulierung zu verwenden. Im ständigen Hin und Her zwischen Fantasie und Wirklichkeit erwirbt das Kind allmählich die Fähigkeit, zwischen der Realität der Welt und seiner übjekte auf der einen Seite und seiner Vorstellungs- und Fantasiewelt auf der anderen Seite zu unterscheiden. Auf der Stufe der Anerkennung von psychischer Realität kann
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Mentalisieren
3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
das Kind schließlich erkennen, dass andere Personen sich auf der Grundlage ihrer jeweiligen psychischen Realität verhalten, die von seiner eigenen psychischen Realität verschieden sein kann. Es ist auf dieser Stufe seiner Entwicklung in der Lage, sich realistischere Bilder von seinen primären Objekten zu machen, Selbst und Objekte zu differenzieren und - einhergehend damit - ambivalente Intentionen und Affekte in Beziehung zu seinen Objekten zu tolerieren. Dieser Entwicklungsprozess ist vielfaltig störbar. In der Folge von traumatisierenden Einflüssen kann es dazu kommen, dass die Entwicklung des Kindes die Stufe der psychischen Äquivalenz oder des Als-Ob-Modus nicht überschreitet. Dies ist Fonagy et al. zufolge bei Borderline-Patienten der Fall. In der Folge weitergehender Entwicklungsstörungen regrediert die betroffene Person schon unter geringfügigen Belastungen von der Stufe der Anerkennung von psychischer Realität auf die Stufe psychischer Äquivalenz oder die Stufe des Als-Ob-Modus. Bei Patienten mit basalen Störungen der Persönlichkeitsorganisation ist die psychische Entwicklung auf dieser Stufe arretiert: Sie können andere Menschen nicht aus deren je eigener psychischer Realität wahrnehmen und verstehen. Einem Stadium der psychischen Äquivalenz verhaftet gehen sie mit Gewissheit davon aus, dass die Welt so ist, wie sie ihnen aus ihrer Kindheit vertraut ist. Sie können nicht erkennen, dass sie in ihrer gegenwärtigen sozialen Welt nur immer wieder den Beziehungserfahrungen ihrer eigenen Vergangenheit begegnen, sondern halten ihr Bild von dieser gegenwärtigen sozialen Welt für die einzig gültige Realität. So fallen psychische Realität und äußere Realität bei ihnen in eins. Folgerichtig behandeln sie die Menschen in ihrer Umgebung entsprechend einem internen ArbeitsmodelI, das von ihrer traumatisierenden Vergangenheit geprägt ist. Das hat oftmals zur Folge, dass sich ihre missachtenden, ausbeuterischen und traumatisierenden Beziehungserfahrungen immer aufs Neue wiederholen. Diese Entwicklungsfixierungen, die hier unter Gesichtspunkten des Mentalisierens beschrieben werden, stimmen aus klinischer Sicht zu einem großen Teil mit den Beeinträchtigungen überein, die - unter strukturellen Gesichtspunkten - als Beeinträchtigungen psychischer Funktionen und deren Verfügbarkeit beschrieben werden. Die Beeinträchtigungen der Patienten nicht nur unter Mentalisierungsaspekten, sondern im Hinblick auf psychische Funktionen zu beschreiben, birgt
Die beschreibende klinische Differenzierung psychischer Funktionen (z.B. Bellak et al. 1973; Kernberg 1979) wurde - obwohl klinisch längst nicht an ihre Grenzen gestoßen - wiederholt kritisiert. Insbesondere der Ich-Psychologie wurde entgegengehalten, dass sie einer kalt und beziehungslos analysierenden Behandlungstechnik den Weg bereite (z. B. Schmidt-Hellerau 2002). Tatsächlich gibt es jedoch keinerlei empirische Evidenz für einen Zusammenhang zwischen theoretischer Orientierung des Psychotherapeuten und der Art und Weise, wie die therapeutische Beziehung mit dem Patienten gestaltet und vom Patienten erlebt wird. Angesichts der großen klinischen Probleme, die sich mit der Behandlung schwerer struktureller Störungen stellen, muss das Bemühen im Vordergrund stehen, Erfahrungen und verfügbare Konzepte zu nutzen und für die Behandlung dieser Patienten unter dem vorrangigen Gesichtspunkt möglichst flexibel zu verwenden, ob sie für den Patienten therapeutisch nützlich sind oder nicht. Grundlegende, insbesondere an methodischer Konsistenz gemessene Aspekte sollten dabei zurückgestellt werden. Für die klinische Arbeit mit Patienten mit schweren strukturellen Störungen ist die differenzierte Erfassung von und therapeutische Orientierung an psychischen Funktionen bislang unverzichtbar. Vereinzelte Berichte über eine erfolgreiche, methodengerecht durchgeführte Psychoanalyse eines Patienten mit einer schweren Persönlichkeitsstörung (z. B. Volkan, Ast 1992) widersprechen dem nicht, sonde"rn bestätigen die erheblichen Probleme mit der Behandlung dieser Patienten, die in breiten klinischen Erfahrungen gründen, als Ausnahme von der Regel. Dabei reflektiert der Blick auf psychische Funktionen allerdings nur eine von mehreren Perspektiven, die in den verschiedenen psychoanalytischen Psychologien gründen (Pine 1990) und die für klinische Zwecke bei schweren und komplexen Störungen alle benötigt werden. Aus klinischer Sicht ist es nützlich, folgende psychische Funktionen zu unterscheiden: Selbstwahrnehmung und Selbsterleben, einschließlich selbstreflexive Fähigkeiten, charakteristische Beziehungserfahrungen, Bindungsmuster sowie vorherr-
aus praktisch-klinischer Sicht den Vorteil, dass sich daraus vielfaltige und differen-
schende Objektbeziehungen bzw. Teilobjektbeziehungen, Affekte, die zwischen Selbst und Objekt vermitteln (affektive Beziehungsregu-
zierte Ansatzpunkte für die Therapie der in der Persönlichkeit verankerten Folgen
Herung), einschließlich mentalisierender Affektivität und
dieser Entwicklungsstörungen herleiten lassen.
Funktionen der Anpassung, die die Regulierung von innerer psychischer und ...
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Klinische Besonderheiten struktureller Störungen
3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
äußerer sozialer Realität gewährleisten und bei Patienten mit schweren Entwicklungsstörungen mehr oder weniger weitgehend beeinträchtigt sind.
der Patient reale äußere Objekte überwiegend für Zwecke der Selbstregulierung (z. B. Externalisierung verfolgender innerer Objekte) einschließlich der Regulierung des Selbstwerts, für Zwecke des Reizschutzes, für die Kontrolle von
Diese Funktionen der inneren und äußeren Anpassung (siehe dazu »Materialien für den klinischen Gebrauch« im Anhang) umfassen im Einzelnen die Fähigkeit, das Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten und Beziehungen zu anderen Menschen zu regulieren,
Impulsen und Affekten und für Verhaltensorientierungen in interpersonellen Situationen (normative Orientierungen) verwendet; das schließt Phänomene wie die psychische Verschmelzung mit Objekten, deren Eliminierung sowie deren Inbesitz- und Inbeschlagnahme (Marty 1974) ein; die eigene Person verzerrt wahrgenommen und in dysfunktionaler Weise erlebt
sich ein realistisches Bild von anderen Menschen zu machen und das Verhalten
wird (Selbsterleben) und das Selbstgefühl und Selbstwertgefühl chronisch in-
anderer Menschen als motiviert zu verstehen (Mentalisierungsfunktion),
stabil sind, häufig einhergehend mit Gefühlen der Leere, der Wertlosigkeit oder
Grenzen der Belastbarkeit und der Toleranz wahrzunehmen, zu beachten und geltend zu machen, vor allem Angst-, Kränkungs-, Spannungs- und Unlust-
Grandiosität; das beinhaltet auch die Beeinträchtigung der Fähigkeit, über das eigene Verhalten nachzudenken (Mentalisierungsfunktion);
toleranz,
der Patient auf selbstschädigende Mittel und Mechanismen zurückgreifen muss,
innere und äußere Realität sicher zu unterscheiden (Realitätsprüfung),
um damit seine Selbstregulierung zu unterstützen, insbesondere dann, wenn
die Wirkung des eigenen Verhaltens auf Andere und dessen mögliche Folgen
reale äußere Objekte für selbstregulative Zwecke nicht zur Verfügung stehen oder in dieser Funktion versagen; solche Mittel können beispiel$weise Alkohol,
zu antizipieren und im Verhalten anderen Personen gegenüber in Rechnung zu stellen, Affekte wahrzunehmen, zu modulieren und deren Ausdruck im Verhalten zu
Drogen, übermäßiges Essen, selbstverletzendes Verhalten, zwanghaftes Spielen,
steuern und zu kontrollieren (mentalisierte Affektivität; Fonagy et al. 2004),
promiskuöses Verhalten, intensive Reizzufuhr beispielsweise mittels stundenlangen Fernsehens, Videospielen u. a. sein;
das eigene Verhalten mit eigenen Idealen und Werten, mit Anforderungen des
andere Personen verzerrt wahrgenommen und beurteilt werden, defensive
Gewissens (Über-Ich) und mit Umständen der äußeren Realität abzustimmen;
Funktionsweisen insbesondere in engen Beziehungen, wiederkehrende Muster abhängiger und ausbeuterischer Beziehungen, Beeinträchtigungen der Fähig-
dabei neigen Patienten mit schweren Entwicklungsstörungen dazu, inneren Maßstäben entweder wie zwanghaft zu erliegen oder sie zu verleugnen bzw. per Externalisierung außer Kraft zu setzen.
keit, das Verhalten anderer Personen als psychisch motiviert zu verstehen (Mentalisierungsfunktion) und interpersonelle Anpassungs- und Abwehrformen wie Spaltung, Idealisierung, Entwertung, Projektion und projektive Identifizierung
Patienten mit einer gut integrierten Persönlichkeitsorganisation verfügen über
im Vordergrund stehen und den Charakter der interpersonellen Beziehungen
diese psychischen Funktionen so selbstverständlich, dass sie als psychische Funktionen kaum jemals Gegenstand der Aufmerksamkeit werden. Dagegen stehen
prägen und mit häufigen Beziehungsabbrüchen und daraus resultierender Suizidalität einhergehen;
Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen diese gleichen Funktionen
der Patient kaum in der Lage ist, seine Affekte zu regulieren, Affekte wahrzu-
häufig nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung.
nehmen und deren Ausdruck zu kontrollieren; außerdem ist die Toleranz für negative Affekte erniedrigt;
Klinische Besonderheiten struktureller Störungen Der Verdacht auf eine strukturelle Störung legt sich immer dann nahe, wenn
nahe Beziehungen als beunruhigend und bedrohlich erlebt werden; intensive Beziehungen werden zwar gewünscht, werden aber auch rasch wieder abgebrochen, sodass andere Personen sich in ihrer Fähigkeit überfordert fühlen, die Beziehung aufrecht zu erhalten;
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
beeinträchtigende und traumatische Beziehungserfahrungen sich vor allem im Verhalten in Form von Inszenierungen und anderen, überwiegend nichtsprachlich vermittelten Modi des Verhaltens in interpersonellen Beziehungen statt in sprachlichen Mitteilungen zeigen; der Inhalt sprachlicher Mitteilungen, mit denen die Patienten Beziehungserfahrungen schildern, und deren Darstellung in nichtsprachlich vermittelter Interaktion können deshalb erheblich auseinanderklaffen; das nichtsprachliche Verhalten im kommunikativen Austausch einschließlich der therapeutischen Beziehung ungeeignet ist, auf Reziprozität angelegte interpersonelle Beziehungen zu gestalten und zu regulieren (Streeck 2004); die Fantasietätigkeit, die Symbolisierungsfunktion, das Denken und die Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigt sind; es im Gespräch mit den Patienten schwierig bis unmöglich ist, sich über eine nur vorgestellte Realität zu verständigen oder über Fantasien zu sprechen, weil die Patienten zu konkretistischem Denken neigen und häufiger Beeinträchtigungen ihres Realitätssinnes (Figueiredo 2006), ihrer Fantasietätigkeit, der Symbolisierungsfunktion, oftmals auch des Denkens und der Erinnerungsfähigkeit aufweisen. Aus der Perspektive der Theorie des Mentalisierens von Fonagy et al. (2004) gehen vor allem Patienten mit Borderline-Störungen und mit traumatisch bedingten Entwicklungsstörungen davon aus, dass die äußere Realität so wie ihre innere Realität und dass andere Menschen so wie sie selbst funktionieren. Fonagy et al. sprechen in diesem Zusammenhang von einer partiellen Fixierung auf den kognitiven . Modus psychischer Äquivalenz. Damit beziehen sie sich auf die Erfahrung, dass die Patienten nicht oder nur begrenzt in der Lage sind, sich vorzustellen, dass es unterschiedliche psychische Realitäten gibt und andere Menschen sich aufgrund ihrer jeweils eigenen, von derjenigen der Patienten verschiedenen psychischen Realität verhalten. Das Bild, das sich die Patienten von anderen Menschen machen, bleibt dementsprechend unbestimmt und verschwommen und spiegelt selten spezifische individuelle Eigenarten der anderen Person wider. Aufgefordert, andere Menschen zu beschreiben, schildern sie diffuse Eigenschaften (»nett«, »mieser Typ«), manchmal holzschnittartig, mit einander polar entgegengesetzten Z~gen, ohne dass daraus ein plastisches Bild der anderen Person entstehen würde. Das kann auch dann so sein, wenn die Menschen, die sie beschreiben, ihnen nahe
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Klinische Besonderheiten struktureHer Störungen
stehende Personen sind. Andere Menschen können nicht als eigenständige Individuen in ihrem eigenen Recht erlebt werden. In einer Gruppe, in der zu Beginn einige Zeit geschwiegen wurde, berichtet ein älterer Patient von einer für ihn wichtigen Begegnung. Nachdem niemand darauf eingegangen ist und er nur Schweigen geerntet hat, fühlt er sich zurückgewiesen und drückt das auch aus. Daraufhin meinen mehrere Patienten ungläubig, es könne »doch gar nicht sein«, dass er sich abgewiesen fühle, weil »doch nur aus Unsicherheit« geschwiegen worden sei und man »gar nicht abweisend sein wollte«. Die Patienten gehen davon aus, dass das eigene Verhalten für die andere Person die gleiche Bedeutung hat wie für sie selbst, und sie glauben, dass diese Bedeutung identisch ist mit dem Beweggrund, der sie selbst dazu gebracht hat, sich in dieser Weise zu verhalten. Manche Patienten schildern Andere, indem sie deren sichtbare Merkmale benennen, als seien andere Menschen ihnen nur von außen zugänglich, nicht jedoch als Wesen, die aus ihrer eigenen Subjektivität heraus intentional handeln. Einzelheiten stehen für das Ganze, bestimmt davon, wieweit eigene Bedürfnisse und Bedürftigkeiten befriedigt werden oder nicht. Die psychischen Funktionen der Patienten bewegen sich in weiten Teilen auf dem Niveau von Bedürfnisbefriedigung. Eine andere Person ist nur so lange wichtig, wie sie physisch anwesend ist und sich in Übereinstimmung mit eigenen Bedürfnissen verhält, und solange ihre Eigenschaften noch ausreichend kompatibel mit eigenen Idealvorstellungen sind. Ist das nicht gewährleistet, verliert sie ihre psychische Relevanz und wird innerlich gleichsam fallen gelassen oder ausgelöscht. Kohut (1973) hat in diesem Zusammenhang von Selbstobjekt-Beziehungen gesprochen: Die andere Person kann nicht als eigenständige andere Person erlebt werden, sondern ist nur insoweit wichtig, als sie bestimmte Funktionen für das Selbst erfüllt, beispielsweise narzisstisch bestätigende Funktionen. Der beeinträchtigten Mentalisierungsfunktion entsprechend kann der Andere nicht aus seinem subjektiven Erleben heraus verstanden werden, sondern wird in erster Linie im Hinblick auf seine Bedeutung für das Selbst wahrgenommen. Darum fällt es den meisten Patienten auch schwer, die Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere Menschen in ihrer Umgebung zu antizipieren und sich darauf abzustimmen. Sie gehen davon aus, dass die andere Person fühlt wie sie selber (Modus psychischer ~
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
Selbstentwicklung, Bindung, Mentalisieren ...
Äquivalenz) mit der Folge, dass die Absichten anderer Personen häufig missdeu-
Ein 32jähriger Patient kam auf Drängen seines Hausarztes zur stationären Be-
tet werden. Gefühle, die zwischen der eigenen Person bzw. dem Selbst und der
handlung, nachdem er zum zweiten Mal versucht hatte, sich das Leben zu
Repräsentanz des Anderen vermitteln, sind oft wenig differenziert und können abrupt wechseln. Um sich vor dem Erleben von Verlust, vor konsekutiven Verlas-
nehmen. Er begründete das damit, dass er von Anderen gemieden werde, er sei für jedermann »eine lächerliche Figur«. Seit seiner Pubertät litt er außer an
senheitsgefühlen und Selbsthass zu schützen, halten die Patienten als unvereinbar
Selbstunwertgefühlen an Zwangsvorstellungen, die sich auf Personen richteten,
erlebte Seiten per Spaltung auseinander. Das betrifft sowohl die eigene wie andere Personen: Die andere Person ist gut oder böse, wird idealisiert oder verachtet, und
die er »nicht ausstehen« konnte, die ihn inzwischen aber weit weniger beein-
ähnlich können als unvereinbar erscheinende Seiten der eigenen Person einander
seiner Pubertät kaum noch Kontakte zu Anderen, in den letzten Jahren habe
schroff gege?-überstehen und auf das Selbst bezogene Gefühle zwischen Hochge-
seine soziale Isolation allerdings noch zugenommen. Er lebte völlig allein und
fühlen und tiefem Selbsthass mehr oder weniger abrupt hin und her schwanken.
war sich sicher, dass der Grund dafür darin läge, dass Andere ihn ablehnen und
Das unzuträglich erlebte Objekt wird externalisiert, um das Selbst zu schützen.
lächerlich finden. Kam es zu Begegnungen mit Anderen, stellten sich Hass-
Wer sich in der Position des Gegenüber eben noch gut gefühlt und sich bewun-
gefühle ein. Woran er jeweils festzustellen meinte, dass Andere ihn meiden,
dert gesehen hat, verliert im nächsten Moment alle guten Eigenschaften und
konnte er nicht sagen. Weil er aber sicher war, dass Andere ihn lächerlich finden
nimmt durch und durch schlechte Qualitäten an. Dadurch sind Beziehungen
und mit ihm nichts zu tun haben wollten, ging er seinerseits Anderen aus dem
hochgradig instabil und immer von abrupter Zerstörung bedroht. Es gibt keine
trächtigten als das Gefühl, sozial isoliert zu sein. Im Grunde habe er schon seit
Objektkonstanz und dementsprechend auch keine Möglichkeit, mit wichtigen
Weg und verhielt sich ihnen gegenüber grob abweisend. Wenn andere Personen ihm angesichts seines unwirschen Verhaltens tatsächlich aus dem Weg gingen,
Menschen innerlich auch dann in Verbindung zu bleiben, wenn sie weit weg sind,
fühlte er sich gekränkt und hasste sie um so mehr, was wiederum sein barsches
sich der Kontakt als schwierig erweist oder die Beziehung vorübergehend unbe-
Verhalten noch verstärkte und abweisende Reaktionen Anderer provozierte. So
friedigend ist. Nicht minder groß ist die Gefahr, dass Selbstentwertung und das
verhielten sich im Ergebnis Andere ihm gegenüber eben so, als hätten sie tat-
Gefühl eigener Wertlosigkeit in Selbstverachtung oder Ekel vor sich selbst mit der
sächlich die Einstellung ihm gegenüber, die er zu erkennen meinte, allerdings
Folge schwer steuerbarer Suizidalität münden. Im Kontakt mit Anderen mobi-
induziert durch sein eigenes Verhalten, nicht aber weil er von vornherein nicht
lisierte Affekte und Verhaltensbereitschaften führen bei Patienten mit schweren strukturellen und komplexen Störungen oft dazu, dass sich die Beziehung in eine
ernst genommen wurde.
andere als die gewünschte Richtung entwickelt. Beispielsweise möchte der Patient
Oft passen die nichtsprachlichen, körperlichen und gestischen Mittel des kom-
bewusst Annäherung, aber seine von ihm selbst nicht bemerkten affektiven und
munikativen Verhaltens der Patienten zu missbrauchenden, vernachlässigenden
. gestischen Signale veranlassen das Gegenüber zur Distanzierung. Dadurch wie-
oder ausbeuterischen Beziehungen, sind aber ungeeignet, auf Wechselseitigkeit
derum fühlt sich der Patient in seinen Beziehungswünschen zurückgewiesen und
ausgerichtete neutrale Beziehungen zu regulieren.
weist im nächsten Schritt seinerseits die andere Person definitiv ab, ohne jedoch Verständnis dafür zu haben, warum ein ums andere Mal Annäherung, die eigentlich gewünscht wird, nicht zu Stande kommt. Dem müssen nicht, wie bei projektiven Identifikationen, unbewusste Absichten des Patienten zu Grunde liegen, die
Selbstentwicklungr Bindungr Mentalisieren und traumatisierende Entwicklungsbedingungen
andere Person zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Heftigere Affekte werden manchmal unmoduliert nach außen getragen und impulsiv abreagiert.
Die Folgen von vernachlässigenden und traumatisierenden Bedingungen in der Entwicklung können weit reichend sein und zeigen sich nicht nur in psychischen Störungen und interpersonellen Beeinträchtigungen, sondern können sich auch
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
in körperlichen und neurobiologischen Defiziten manifestieren und schon bei Kindern und Jugendlichen komplexe Entwicklungsstörungen nach sich ziehen (Streeck-Fischer 2006). Kommt es in der späteren Entwicklung, insbesondere in der Adoleszenz, erneut zu traumatischen Erfahrungen, können solche frühen Traumatisierungen aktualisiert werden, die Adoleszenz kann als Entwicklungschance nicht genutzt werden (Streeck-Fischer 2004). Bleibende, in der Persönlichkeitsorganisation fixierte Störungen sind die Folge, die als Beeinträchtigungen der Selbstregulierung und der Beziehungs- und Interaktionsregulierung sowie des Bindungserlebens und als komplexe Beeinträchtigungen der Persönlichkeit klinisch manifest werden. Wie Langzeitstudien zeigen, können die Folgen traumatisierender Verhältnisse in der frühen Entwicklung aufgefangen und kompensiert werden (Davis 2001), allerdings nur unter besonders günstigen Umständen, zumal dann, wenn der Patient sich auf gute, stabile und vertrauensvolle Beziehungen stützen kann. Frühen Beziehungserfahrungen kommt entscheidende Bedeutung für die psychosoziale und biologische Entwicklung und nicht zuletzt für die neurobiologische Reifung des Gehirns zu (Hüther 1997). Dass die MutterKind-Interaktion und die Beziehungen des Kindes zu anderen Pflegepersonen nicht die einzigen Faktoren sind, die die psychosoziale und neurobiologische Entwicklung des Kindes bestimmen, und dass auch spätere Einflüsse jenseits der Phase der Adoleszenz sich noch auf die Entwicklung der Persönlichkeit auswirken können, schränkt die Bedeutung der frühen Interaktionserfahrungen des Kindes nicht ein. Die moderne Säuglingsforschung ebenso wie die Bindungsforschung haben zum Verständnis der Entwicklung des Selbst und von Bindungs- und Beziehungsfähigkeiten und damit auch zum Verständnis struktureller Störungen entscheidend beigetragen. Aus der Sicht der Bindungstheorie ist ein primäres und autonomes Motivationssystem Grundlage der Mutter-Kind-Bindung. Danach ist das Kind von Geburt an vital an Objekten interessiert. Aktuelle Ereignisse wie Verlust und Trennung haben, wie Bowlby (1976) zeigen wollte, einen sehr großen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes und auf das spätere Funktionieren der erwachsenen Persönlichkeit. Der Umstand, dass Bowlby die Bedeutung realer Ereignisse im Leben des Kindes betont hat, war für viele Psychoanalytiker lange Zeit ein Grund, seine Arbeiten zu ignorieren. Bowlby zufolge können der Bindungsstil des Kindes und seine internen Arbeitsmodelle als Niederschläge des aktuellen Verhaltens und der aktuellen Interaktionen mit seinen Bezugspersonen verstanden werden. Sie
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Selbstentwicklung, Bindung, Mentalisieren ...
weisen immer auch die Spuren der idiosynkratischen Art des Individuums auf, die Welt zu erleben. Das kindliche Selbst entwickelt sich auf dem Hintergrund genetischer und angeborener biologischer Dispositionen über die Verinnerlichung von Erfahrungen der Interaktion mit seinen Pflegepersonen. Daraus gehen in zunehmender Differenzierung Repräsentationen der eigenen Person (Selbstrepräsentanz), anderer wichtiger Personen (Objektrepräsentanzen) und der affektiv bestimmten Interaktionen hervor, die die Beziehungen zwischen dem kindlichen Selbst und seinen Objekten vermitteln. Das Selbst ist sozialen Ursprungs. Affekte sind in dem komplexen kommunikativen Geschehen zwischen dem Kind und seiner Umgebung von zentraler Bedeutung. Dabei kommuniziert schon das Kleinkind nicht nur mimisch mit seiner sozialen Umgebung, sondern auch mit Hilfe komplexerer körperlicher Mittel - etwa stimmlich und mit noch unbeholfenen Körperbewegungen. Damit sich das Selbst zu einer integrierten Repräsentanz im Sinne eines »wahren Selbst« (Winnicott 1984) entwickelt, muss die Pflegeperson dieses komplexe Ausdrucksverhalten des Kindes, insbesondere seine Affekte, adäquat spiegeln. Die Mutter bzw. die Pflegeperson tut das, indem sie nicht nur wie in einem Spiegel zurückwirft, wie das Kind sich ausgedrückt hat, sondern indem sie das mimische und stimmliche Verhalten in »markierter« Weise beantwortet. »Markierung« bezieht sich auf die spezifischen Übertreibungen, mit denen die Mutter bzw. die Pflegeperson den Ausdruck der primären kindlichen Affekte spiegelt, die Teil der konstitutionellen Ausstattung des Kindes sind (sog. konstitutionelles Selbst; Fonagy et al. 2004). Solche Übertreibungen sind Teil des »baby talk« und kennzeichnen die Kommunikation zwischen Babies und Pflegepersonen in allen Kulturen in ähnlicher Weise. Die Pflegeperson verhält sich dem kleinen Kind gegenüber somit anders, je nachdem, ob sie in diesem Moment mit ihren eigenen Affekten auf den kindlichen Affektausdruck reagiert, oder ob ihr Verhalten die Affekte des Kindes spiegelt und damit dem Kind dessen eigene Affekte vor Augen führt. So wird es dem Kind allmählich möglich zu unterscheiden, ob es in dem Verhalten, das es an der Pflegeperson beobachtet, der anderen Person und deren Affektivität begegnet oder aber sich selbst. Auf diesem Weg hin zu einer zunehmend differenzierten Repräsentanz des Selbst entwickelt das Kind über die markierte Spiegelung sekundäre Repräsentationen seiner Affekte (vgl. Dornes 2004). Eine Pflegeperson, die nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, auf das kindliche Ausdrucksverhalten adäquat zu reagieren, trägt dazu bei, dass die Re-
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
Strukturelle Störungen und soziale Ängste
präsentanz des Selbst des Kindes nicht auf dessen eigenem rudimentären Selbsterleben und dessen eigener primärer Affektivität gründet, sondern von der »Geste«
affektiv bestimmte Kommunikation vermittelten Repräsentationen des kindlichen Selbst und seiner Pflegepersonen bilden, so ist anzunehmen, Grundeinheiten der
der Pflegeperson geprägt wird. Nicht das Selbsterleben und der eigene Affekt des Kindes bestimmen dann die Reaktion der Mutter bzw. der Pflegeperson, sondern deren eigenes Befinden und deren eigenes mehr oder weniger unabgestimmtes Verhalten. In der Folge entwickelt sich das Selbst des Kindes nicht als »wahres«, von dem rudimentären kindlichen Selbsterleben und den kindlichen Primäraffekten gestütztes Selbst, sondern als eine von der anderen Person geprägte »kolonisierte Persönlichkeit« (Glasser 1992). Damit sich das Kind aber unentfremdet
seelischen Struktur des Kindes.
entwickeln kann, muss die Mutter bzw. die frühe Pflegeperson das Kind als ein intentional handelndes Wesen entwerfen und diesem Entwurf gemäß auf dessen Verhalten antworten können. Mütterliche »Feinfühligkeit« ist ein Teil der Fähigkeit, in dem Kind von früh an immer auch das andere Subjekt sehen zu können. Gelingt das nicht, entwickelt sich die psychische Organisation des Kindes auf der Grundlage von Repräsentationen von Interaktionserfahrungen, die von »fremden Gesten« bestimmt sind, und gerät zu einer von der Affektivität und dem pathologischen Verhalten der Mutter bzw. der Pflegeperson, nicht vom rudimentären Selbsterleben des Kindes und von dessen primärer Mfektivität getragenen Repräsentanz. Wie die Kolonialmacht das Volk unterdrückt, dessen Land sie besetzt hält, beherrscht dann das Objekt als Introjekt das konstitutionelle Selbst des Kindes, das sich zu einem autonomen Selbst nicht oder höchstens im Untergrund, abgespalten von der im Vordergrund stehenden psychischen Struktur, entwickeln kann. Wenn ein Patient, der unter solchen Bedingungen aufgewachsen ist, in der Behandlung das kolonisierte Selbst auf seine Umgebung projiziert, begegnet er in den Objekten, die Träger dieser Projektion sind, den bemächtigenden Objekten seiner Kindheit wieder. Umgekehrt verhält er sich seiner Umgebung gegenüber wie die bemächtigenden und traumatisierenden Objekte seiner Kindheit sich ihm gegenüber verhalten haben, wenn er sich mit dem kolonisierten Selbst identifi-
Strukturelle Störungen und soziale Ängste Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen leiden sehr häufig unter schwer wiegenden sozialen Ängsten. Die meisten Patienten sprechen von sich aus nicht darüber, dass sie ängstlich vermeiden, mit anderen Menschen Kontakt zu haben, dass das Zusammensein mit Anderen für sie oft schwer erträglich ist, dass sie sich bei alldem einsam fühlen und dass sie weitgehend isoliert leben, weil sie sich dessen schämen. Auch Psychotherapeuten, deren ,Aufmerksamkeit in erster Linie der seelischen Verfassung ihrer Patienten gilt, erfahren oft erst spät davon, manchmal auch gar nicht. Auf der anderen Seite fragen Psychotherapeuten häufig nicht gezielt nach der sozialen Lebenswelt, oder sie begnügen sich mit kurzen Angaben zum sozialen Status und zur sozialen Situation, weil ihre Aufmerksamkeit sich mehr auf die seelische Welt als auf die soziale Lebenswelt der Patienten richtet. Das kann leicht dazu führen, dass die Art und Weise, wie der Patient in die soziale Mitwelt eingebunden ist, weitgehend im Dunkeln bleibt und das tatsächliche Ausmaß der Einschränkungen und die weit reichenden Folgen generalisierter sozialer Ängste. in ihrer Bedeutung unterschätzt werden. Erst bei genauerem Nachfragen enthüllt sich oftmals, dass die Patienten alle informellen Begegnungen mit Anderen zu meiden versuchen, dass sie sich in Situationen, in denen sie mit Anderen zusammen sein müssen" nur am Rand aufhalten, dass sie es kaum ertragen können, räumliche Nähe zu anderen Menschen aushalten zu müssen oder dass sie aufwendige Vorkehrungen treffen, um zu vermeiden, Nachbarn im Treppenhaus oder Bekannten zu begegnen; von denen sie angesprochen
ziert. In beiden Fällen misslingen auf Reziprozität angelegte interpersonelle Beziehungen. Im Zuge des fortschreitend differenzierten interaktiven Austausches mit seiner
werden könnten. Solche gravierenden sozialen Ängste begleiten nicht nur viele strukturelle und komplexe Störungen, sondern stellen selbst noch einen Risikofaktor für weitergehende körperliche und 'seelische ' Beeinträchtigungen dar, die
Pflegeperson entstehen im Kind zunehmend vielfaltige Bilder bzw. Repräsentationen dessen, wie es selbst ist, wie seine Pflegepersonen sind und wie und über wel-
sich in deren Folge häufig entwickeln. In den formalen diagnostischen Klassifikationssystemen sind die Beeinträchti-
che kommunikativen Mittel und affektiven Gestimmtheiten beide in Interaktion miteinander verbunden sind und in Beziehung miteinander stehen. Solche über
gungen, die sich bei den Patienten im Zusammensein mit Anderen in Folge sozialer Ängste manifestieren, nicht überzeugend repräsentiert. Um generalisierte Ängste ~
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
im Kontakt mit anderen Menschen diagnostisch zu klassifIzieren, steht neben der problematischen Diagnose »soziale Phobie« nur noch die Diagnose »ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung« zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es weder in der ICD noch im DSM brauchbare Kategorien, mit denen schwere generalisierte Beeinträchtigungen in der sozialen Lebenswelt der Patienten und weit reichende Beziehungsstörungen adäquat abgebildet werden könnten. Die Diagnose »soziale Phobie« zur KlassifIkation umfassender Beeinträchtigungen im Zusammensein mit anderen Menschen ist deshalb problematisch, weil hier für Beeinträchtigungen, die von existenzieller Bedeutung sein können, unter Umständen die gleiche Kategorie verwendet wird wie für umschriebene phobische Beeinträchtigungen, deren klinische Relevanz zweifelhaft ist und die die Qualität von BefIndensstörungen haben. Die Beeinträchtigungen eines beruflich erfolgreichen, sozial integriert lebenden leitenden Angestellten, der plötzlich eine Sprechangst entwickelt, die mit therapeutischer Unterstützung nach wenigen Stunden verschwindet, sind nicht mit denen eines Patienten vergleichbar, der interpersonelle Kontakte weitgehend vermeiden muss oder nur unter großer Anspannung erträgt, deshalb sozial weitgehend isoliert lebt, daran leidet, sich vom sozialen Leben ausgeschlossen zu fühlen und in der Folge auch körperliche Funktionsstörungen entwickelt hat. Werden beide Störungen als »soziale Phobie« diagnostiziert, die eine als isolierte, die andere als generalisierte soziale Phobie, und werden die Unterschiede damit aufUnterschiede des Ausmaßes einer gleichen Störung reduziert, verflüchtigen sich die grundlegenden qualitativen Differenzen, die solche Beeinträchtigungen voneinander trennen. Bei schwer gestörten, stationär behandlungsbedürftigen Patienten kommen umschriebene soziale Ängste im Sinne der Diagnose »soziale Phobie« so gut wie nie vor. Die generalisierten Ängste im Zusammensein mit Anderen, unter denen diese Patienten häufIg leiden, sind aus psychodynamischer Sicht keine generalisierten Formen solcher umschriebenen sozialen Phobien, sondern der psy-
Strukturelle Störungen und soziale Ängste
senenalter, die zur stationären Aufnahme kamen, auf verschiedene Aspekte ihrer interpersonellen Beziehungen und im Weiteren ihrer sozialen Lebenswelt hin untersucht. Unter anderem sollte die Frage beantwortet werden, wie die Patienten Kontakte zu anderen Menschen erleben und gestalten, ob und wie sie in der Lage sind, Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen und aufrecht zu erhalten, wie sicher sie sich im Kontakt zu Anderen bewegen, und wie sie ihrer Meinung nach von anderen Menschen in ihrer Umgebung gesehen und erlebt werden. Zu diesem Zweck wurden die Patienten gebeten, neben den Untersu<.:hungsinstrumenten, die zur Routinediagnostik gehören - das sind neben Erstinterview, Anamnese und sogenannter Zweitsicht die Symptomeheckliste SCL 90-R, das Inventory of Interpersonal Problems (HP), der Beeinträchtigungs-Schwere-Score (BSS), der Fragebogen zur Lebenszufriedenheit (FLZ) und die deutsche Version des Helping Alliance Questionaire (HAQ) - den Sodal Anxiety Interaction Questionnaire (SIAS), die Sodal Phobia Scale (SPS) und den Unsicherheits-Fragebogen von Ullrich/deMyunck auszufüllen, außerdem das Be,ksche Depressionsinventar , (BDl). Die SPS misst soziale Ängste in sozialen Leistungssituationen, beispielsweise Ängste, vor Anderen zu reden oder in Gegenwart von Anderen zu essen. Demgegenüber misst die SIAS die Angst, mit Anderen zu interagieren. Beide Verfahren gelten als Instrumente, mit denen soziale Ängste gut erfasst werden können (Stangier 1999); sie trennen allerdings nicht scharf zwischen sozialen Leistungssituationen und Inter,. aktionssituationen (Rabung et al. 2006).. In der Verhaltenstherapie stützt sich die Diagnose »sozial
chodynamische Hintergrund ausgeprägter Ängste vor dem Zusammensein mit anderen Menschen ist vielfältiger.
gische Werte zeigen. In die Studie konnten insgesamt 930 Patienten einbezogen werden. Um Pa,.. tienten als sozial ängstlich einzuschätzen, wurden in zweifach~r Weise strenge Kriterien angelegt: Zum Einen wurden bei .der Auswertung der Fragebögen
Wie häufig und wie schwerwiegend die Beeinträchtigungen strukturell gestör-
SPS und SIAS höhere cut-off-Werte angelegt als das üblicherweise geschieht; zum anderen wurden Patienten nur dann als sozial ängstlich einges<;:hätzt, wenn
ter Patienten im Zusammensein mit Anderen sein können, ergab eine Studie an stationär behandlungs bedürftigen Patienten, die in einer psychodynamisch ausgerichteten psychiatrischen Klinik aufgenommen wurden. Im Rahmen der
sich in beiden Untersuchungsverfahren gleichzeitig, sowohl im SIAS wie im SPS, pathologische Werte fanden. Als nicht sozial-ängstlich wurden umgekehrt Patienten dann eingestuft, wenn sich in beiden Verfahren Normalwerte fanden.
Untersuchung wurden über eineinhalb Jahre hinweg alle Patienten im Erwach-
Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass von den 930 Patienten 422 0) ...
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
erhebliche soziale Ängste in einem klinisch relevanten Ausmaß aufwiesen. Das sind 45 % aller Patienten. Demgegenüber lieK sich nur von 29 % der Patienten sagen, dass bei ihnen ihrer Selbstbeurteilung zufolge soziale Ängste keine Rolle
Strukturelle Störungen und soziale Ängste
Zur Psychodynamik sozialer Ängste
spielten. Hätte man diejenigen Patienten ebenfalls als sozial ängstlich bezeich-
Der psychodynamische Hintergrund generalisierter sozialer Ängste ~ist bei Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen eine große Variationsbreite
net, die nur in einem der beiden Untersuchungsverfahren pathologische Werte
auf. In vielen Fällen sind die Ängste eine Folge der schambestimmten Verarbei-
aufgewiesen haben, hätten mehr als zwei Drittel aller Patienten als sozial ängstlich eingestuft werden müssen.
tung der basalen strukturellen Störungen selbst, die fast immer mit erheblichen Selbstwertstörungen, mit Selbstunwertgefühlen, Selbstverachtung, Selbsthass
Nur bei etwa einem Drittel der nach strengen Kriterien bestimmten sozial
oder gar Ekel vor sich selbst einhergehen. Viele Patienten haben das Gefühl, sich
ängstlichen Patienten war die Diagnose »soziale Phobie« oder »ängstlich-ver-
angesichts ihrer von ihnen selbst mehr oder weniger deutlich wahrgenommen Be-
meidende Persönlichkeitsstörung« tatsächlich gestellt worden. Somit ließ die
einträchtigungen zum Gegenstand von Spott und Verachtung zu machen und sich
Aufnahmediagnose nur bei einem geringen Teil der Patienten darauf schließen, dass sie erhebliche Schwierigkeiten im Zusammensein mit Anderen hatten.
deshalb vor Anderen nicht zeigen zu können. Häufig haben die sozialen Ängste
Bei fast zwei Dritteln der Patienten mit sozialen Ängsten handelte es sich um komplexe Störungen.
anderen Menschen können sich schon im Kindergartenalter angekündigt haben. Retrospektiv erscheinen solche frühen Ängste dann als ein Zeichen, mit dem sich
eine lange Entwicklungsgeschichte. Erste Hinweise auf gravierende Ängste vor
schon bei dem vier- oder fünfjährigen Kind eine problematische Entwicklung Dass soziale Ängste in ihrem ganzen Ausmaß oft nicht gesehen und in ihrer
angekündigt hat, die schließlich sehr viel später als Persönlichkeitsstörung mani-
Tragweite unterschätzt werden, hat - ähnlich wie bei der interpersonellen Seite
fest geworden ist. Allerdings müssen soziale Ängste im Kindesalter nicht zwangs-
struktureller Störungen - ebenfalls damit zu tun, dass das Schwergewicht der psychotherapeutischen Diagnostik üblicherweise auf seelischen Beeinträchtigungen
läufig auf eine pathologische Entwicklung hinweisen. Leichtere soziale Ängste beispielsweise in Form von Schüchternheit haben weder bei Kindern noch im
liegt, auf der Art und Weise, wie Patienten soziale Situationen erleben, was die
Erwachsenenalter Krankheitswert. Schüchterne Kinder können sich ebenso zu
Beeinträchtigungen, die sich in ihren zwischenmenschlichen Kontakten mani-
kontaktfreudigen Erwachsenen entwickeln wie umgekehrt kontaktfreudige Kin-
festieren, jedoch nicht allein erklären kann. Dazu müssen auch die Mittel und Praktiken des Alltagshandelns untersucht werden, mit deren Hilfe die Patienten
der in späteren Entwicklungsphasen massive und manchmal dauerhafte soziale Ängste entwickeln können.
Kontakte mit Anderen bewältigen, wie Andere sich ihnen gegenüber geben,
Den sozialen Ängsten, die bei Patienten mit strukturellen und komplexen Stö-
wie sie selbst das wiederum wahrnehmen, die Art und Weise, wie sie darauf hin
rungen so häufig sind, liegt fast immer die Befürchtung zu Grunde, beschämt,
nächste Schritte einleiten und wie sie auf diese Weise in Interaktion mit Anderen Beziehungen produzieren und gestalten. Die Notwendigkeit des Blicks auf Inter-
verachtet und gedemütigt zu werden. Viele Patienten haben das Gefühl, nichts
aktion zu unterstreichen, heißt auch in diesem Zusammenhang nicht nur einer
Zugleich sind sie davon überzeugt, dass Andere sie ebenso wenig achten und wert-
sozialpsychologischen im Unterschied zu einer psychodynamischen Perspektive zu folgen, sondern bedeutet vielmehr, dem Umstand gerecht zu werden, dass alles
schätzen wie sie sich selbst. Die Vorstellung, mit anderen Menschen zusammen-
Beziehungsgeschehen interaktiv hervorgebracht wird.
wert zu sein, fühlen sich inko~petent und mangelhaft, und verachten sich selbst.
zutreffen, lö~t massive Angst aus, die desorganisierend sein kann. Dabei gehen die Patienten davon aus, dass sie vor Anderen nicht verbergen können, wie sie tatsächlich sind, nämlich vermeintlich hässlich, schlecht und böse (Zerbe 1994). Dieser Angst vor öffentlicher Demütigung kann aus psychodynamischer Sicht der unbewusste Wunsch zu Grunde liegen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und uneingeschränkte Zustimmung zu erheischen (Gabbard et al. 1994). ~
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
Um der Gefahr zu entgehen, stellen die Patienten ihr Licht unter den Scheffel.
ein kooperativer Beziehungsmodus. Bei Patienten mit sozialen Ängsten wird in
Immer liegt ihrem Verhalten ein tiefer Mangel an Vertrauen zugrunde, dass An-
Situationen, die andere Menschen noch als unproblematisch wahrnehmen, das
dere sie in ihrer Eigenart akzeptieren könnten. Schlimmstenfalls vermeiden die
Abwehrsystem aktiviert. Signale, die eine potentielle Bedrohung anzeigen, werden
Patienten alle Situationen, in denen sie mit anderen Menschen zusammentreffen
selektiv und prominent registriert, und es kommt zur Aktivierung des auf Angriff
könnten. Patienten mit chronischen sozialen Ängsten fehlen häufig bestätigende
und Bedrohung ausgerichteten Beziehungsmodus (Abwehrsystem) , während Signale freundlicher Kooperation und Unterstützung (Sicherheitssystem) übersehen
und herausfordernde soziale Erfahrungen, die für Menschen, die sozial nicht beeinträchtigt sind, selbstverständlich und alltäglich sind. Viele Patienten haben traumatische Erfahrungen und Verluste erlitten.
werden. Diese Annahmen von Gilbert lassen sich gut mit klinischen Erfahrungen und
Gabbard (1992) hat Patienten mit sozialer Phobie beschrieben, bei denen Kon-
empirischen Befunden vereinbaren, die an Patienten mit sozialen Ängsten gewon-
takte mit Anderen mit einem unbewussten aggressiven Wunsch nach ungeteilter
nen wurden. So lassen empirische Befunde den Schluss zu, dass sozial ängstliche Patienten äußere soziale Reize insgesamt weniger wahrnehmen als nichtängstliche
Aufmerksamkeit einhergehen, verbunden mit dem Wunsch, alle Rivalen zu töten und zu eliminieren. Die konsekutiven Schuldgefohle sind mit dem Gefühl von Scham verbunden, das bei diesen Patienten daraus resultiert, dass der Betroffene
Personen (Chen et al. 2002); dabei werden insbesondere Gesichter vergleichsweise ungenau wahrgenommen (Perez-Lopez, Woody 2001). Wenn Patienten mit sozi-
nicht wirklich in der Lage ist, die Rivalen zu vertreiben, und deshalb fürchtet, be-
alenÄngsten unter »Laborbedingungen« Abbildungen von einer Menschenmenge
trügerisch zu erscheinen. Bei anderen Patienten steht im Zentrum der unbewuss-
vorgelegt werden, reagieren sie zuerst auf Gesichter mit aversiver Mimik wie Ärger,
ten Psychodynamik die Befürchtung, dass die Bemühungen, autonom zu werden
Wut oder Unzufriedenheit. Bei einer Untergruppe von Patienten mit strukturellen und komplexen Stö-
und mit Anderen Kontakt aufzunehmen, dazu führen könne, die Liebe der Eltern oder anderer wichtiger Bezugspersonen zu verlieren. Indem sie vermeiden, Kon-
rungen stehen generalisierte soziale Ängste im Dienst der Abwehr von Abhängig-
takte außerhalb des engen Kreises von vertrauten Personen aufzunehmen, soll
keit. Soziale Ängste und das konsekutive Vermeiden von Kontakten können aber
das als katastrophal erlebte Getrenntsein von unterstützenden Figuren verhindert
auch der Abwehr von Sexualität dienen. Bei einer weiteren Gruppe strukturell gestörter Patienten sind sie Ausdruck der Angst, in Anwesenheit von Anderen
werden. Im Zusammenhang mit seinen Hypothesen zum psychodynamischen Hintergrund der sozialen Phobie hat Hoffmann (2002) die Theorie des Abwehr- und
Sicherheitssystems von Gilbert herangezogen. Gilbert nahm an, dass es neben dem Bindungssystem ein weiteres angeborenes Verhaltens- und Motivationssystem gibt, dem wichtige Funktionen für die Regulierung des sozialen Lebens zukommt, eben das Abwehr- und Sicherheitssystem. Ist das Abwehrsystem aktiviert, werden soziale Beziehungen auf einer Achse vertikaler Hierarchie wahrgenommen;
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Strukturelle Störungen und soziale Ängste
die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren. In diesen Fällen können die sozialen Ängste eine Antwort auf Impulse, Affekte und Bedürfnisse sein, die aufgrund der basalen strukturellen Beeinträchtigungen leicht als überwältigend erlebt werden. Die Patienten fürchten unbewusst, in Gegenwart von Anderen von Bedürfnissen überwältigt zu werden oder unter den Einfluss von Impulsen und Affekten zu geraten, die sie nicht kontrollieren können. Durch das Vermeiden
jetzt wird das Verhältnis zu anderen Menschen nach Dimensionen wie stark und
sozialer Kontakte soll diese Gefahr »gelöst« werden. So wie sich die Konflikte bei strukturell gestörten Patienten auf der einen und
schwach, Angriff und Bedrohung oder überlegen und unterlegen wahrgenom-
neurotischen Patienten auf der anderen Seite nicht in ihrer »Konstruktion«, son-
men; damit einher geht ein rivalisierender Modus der Beziehungsgestaltung. Die
dern in ihrem »Materialcharakter« unterscheiden, so unterscheidet sich auch die
Person, bei der das Abwehrsystem aktiviert ist, ist auf Kampf und Rivalität ein-
zu Grunde liegende Psychodynamik der sozialen Ängste bei Patienten mit struk-
gestellt. Ist demgegenüber das Sicherheitssystem aktiviert, werden soziale Bezie-
turellen Störungen nicht grundlegend von der bei neurotischen Patienten, sehr
hungen gleichsam auf einer horizontalen Achse nach Aspekten wie Zugehörigkeit,
wohl aber die Beschaffenheit der Strukturbestandteile - die überdimensionierte
Anerkennung und Unterstützung wahrgenommen; im Vordergrund steht jetzt
Qualität der Objekte bzw. Teilobjekte, der archaisch-vernichtende Charakter der
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
sozialen Ängste, die Diffusität von Affekten, die geringe Verfügbarkeit von psychischen Funktionen, die für eine flexible innere und äußere Anpassung erforderlich sind.
Soziale Ängste und Abwehr von Sexualität
Bei einer jungen Frau hatten die generalisierten sozialen Ängste eine ähnliche Funktion wie die Symptome einer Essstörung, an der sie gleichzeitig litt. Sie erbrach fast nach jeder Mahlzeit, dann wieder verschlang sie gierig alle möglichen Nahrungsmittel, achtete aber darauf, keine »verbotenen« Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Wurde der innere Druck zu groß, fügte sie sich oberflächliche Schnittverletzungen an den Armen zu, die von oben bis unten mit dichten Narben übersät waren. Außerdem war sie aufgrund von morgendlichen Zwangsritualen beim Waschen, die sich bis zu zwei Stunden hinziehen konnten, zusätzlich beeinträchtigt. Sie hatte erhebliche Schlafstörungen, konnte sich nicht konzentrieren und hatte häufig das Gefühl, nichts mit sich anfangen zu können. Sie war depressiv und quälte sich mit Suizidgedanken. In den vergangenen Jahren war sie mehrfach in ambulanter und stationärer psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung gewesen, ohne dass sich die Symptomatik wesentlich gebessert hätte. Die Patientin hatte kurz vor dem Abitur die Schule abgebrochen und war nach einem kurzen Versuch, eine Arbeit in einer anderen Stadt aufzunehmen, wieder ins Haus ihrer Eltern zurückgekehrt. Außer zu ihnen, die selbst zurückgezogen lebten, hatte sie fast keine Kontakte. Manchmal besuchte sie eine deutlich ältere Frau, eine Freundin der Mutter. Schon im Kindergartenalter hatte sie unter Ängsten gelitten, wenn sie mit anderen Kindern zusammen war. Der Versuch, den Kindergarten zu besuchen, war deshalb nach kurzer Zeit wieder abgebrochen worden. Während ihrer Schulzeit hatte sie als ausgesprochen schüchtern gegolten und sich in Gruppen meist arn Rand aufgehalten. Der Schulbesuch war für sie oft eine Qual gewesen. Die Patientin sprach meist mit leiser, etwas »piepsiger« Stimme, begann Ge-
Siebenjährigen. Ihr Verhalten hatte etwas Vögelchenhaftes. So fiel es schwer, in ihr die erwachsene junge Frau zu sehen, die sie war. Während der vorangegangenen Behandlungen hatte den ausführlichen Unterlagen zufolge die soziale Lebenssituation der Patientin kaum jemals besondere Erwähnung gefunden. Versuche, auf eine Veränderung ihrer äußeren, realen Lebenssituation hinzuwirken, waren zu keinem Zeitpunkt unternommen worden. Immer hatten die Essstörung, das selbstverletzende Verhalten und die Waschzwänge im Vordergrund gestanden. Diese Symptome waren aber eng mit den sozialen Ängsten verknüpft, mit denen die Patientin ihre Vermeidungen begründete. Bei vorangegangenen Behandlungen hatte sie sich erfolgreich dagegen gewehrt, an einer therapeutischen-Gruppe teilzunehmen. In diesem Fall dienten die sozialen Ängste wie die Essstörung, die in der Pub~r tät begonnen hatte, vornehmlich der Abwehr von Sexualität. Für die Patientin lauerten in der sozialen Umwelt sexuelle Versuchungen, indirekt in Gestalt von gleichaltrigen Frauen, von denen sie sich fernhalten musste, weil sie nicht Zeuge von Unterhaltungen über männliche Freunde und über sexuelle Erfahrungen sein wollte, direkt in Gestalt von Männern, denen sie deshalb aus dem Weg gehen musste, weil diese sich für ihren Körper interessierten. So lag den sozialen Ängsten die Annahme zu Grunde, in der Begegnung mit Menschen von sexuellen Wünschen überflutet zu werden, die sie fürchtete, nicht kontrollieren zu können. Der soziale Rückzug, der durch die Behandlungen nicht wesentlich beeinflusst worden war, ging mit depressiven Verstimmungen einher.
Soziale Ängste und narzisstische Persönlichkeitsstörung
Ein anderer Patient musste stationär aufgenommen werden, weil fraglich geworden war, ob er seine Suizidimpulse, deretwegen er in ambulanter psychiatrischer Behandlung war, noch würde steuern können. Der 35-jährige Patient war zwar als Sachbearbeiter bei einer Versicherung tätig, lebte aber dennoch seit etwa 15 Jahren sozial weitgehend isoliert und hatte außer zu einer Schwester, mit der er gelegentlich Emails austauschte, keine privaten sozialen Kontakte.
gewöhnlich zu, als hätte sie keinen eigenen Willen. Meist verwendete sie ein-
Bei seiner Arbeit hatte man ihm einen Arbeitsplatz eingeräumt, an dem er so gut wie nie mit Anderen zusammentreffen musste und seinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Weg gehen konnte. Wenn es unvermeidlich war, anderen
fache Sätze, manchmal erinnerte ihr sprachlicher Ausdruck an die Sprache einer
Menschen zu begegnen, stand er unter enormer Anspannung; Schweißausbrü-
spräche so gut wie nie von sich aus, äußerte sich, wenn überhaupt, nur einsilbig, gab keine eigenen Meinungen zu erkennen und stimmte ihrem Gege~über
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Strukturelle Störungen und soziale Ängste
,
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3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
Strukturelle Störungen und soziale Ängste
che und Bluthochdruckkrisen waren die Folge. Er fühlte sich einsam und litt
wortlich gemacht wurde. Eine antibiotische Therapie brachte die körperlichen
darunter. Vor vielen Jahren war ein Versuch, eine Beziehung mit einer Frau einzugehen, nach wenigen Wochen gescheitert. Seither hatte er jeden Versuch in diese Richtung aufgegeben.
Beschwerden weitgehend zum Verschwinden. Gleichwohl mied die Patientin Kontakte weiterhin; obwohl die körperlichen Symptome weitgehend verschwunden waren, hatte sie nach wie vor Angst, die Menschen um sie herum könnten ihre Darmgeräusche hören. Zudem fürchtete sie, in peinliche Situationen geraten zu können, beispielsweise nicht rechtzeitig eine Toilette zu erreichen. Sie litt unter dem Gefühl, andere Menschen könnten die Nase über sie rümpfen, sie hässlich und abstoßend finden und geringschätzig von ihr denken. Auch diese Patientin lebte inzwischen wieder bei ihren Eltern, hatte ein Studi-
Im Gespräch wirkte er unnahbar und abweisend und schien sein Gegenüber kaum wahrzunehmen. Ware man ihm im Alltag begegnet, wäre man ihm ob seines uninteressiert und manchmal taktlos erscheinenden Verhaltens wahrscheinlich aus dem Weg gegangen. Der Patient hatte erhebliche Probleme, sein Selbstwertgefühl zu regulieren, war äußerst kränkbar und konnte es, wie er sagte, nie wieder vergessen, wenn ihn jemand tatsächlich einmal gekränkt hatte. Aufgrund einer basalen strukturellen Störung war er auch in anderer Hinsicht in hohem Maße abhängig von den Reaktionen von Personen in seiner sozialen Umwelt; sie hatten für ihn die Qualität von Selbstobjekten. Zur Bewältigung seiner unbewussten Abhängigkeitswünsche und der damit verbundenen immer schwelenden Kränkungsgefahr hatte er die Lösung gefunlien, sich von anderen Menschen fernzuhalten und sich in einer Haltung von Unnahbarkeit und vermeintlicher sozialer Bedürfnislosigkeit abzuschotten. Nur seine gelegentlich drängende Suizidalität ließ darauf schließen, dass er keineswegs so unabhängig war, wie er vorgab zu sein. In seinen sozialen Ängsten dokumentierte sich der Lösungsversuch einer narzisstischen Problematik.
Soziale Ängste und die Angst vor Kontrollverlust Eine Patientin, die an rezidivierenden Magen-Darm- und an chronischen Kreislaufstörungen litt, die wiederholt organmedizinisch abgeklärt worden waren und auch nach drei Jahren kei~en organpathologischen Befund hatten erkennen lassen, führte ihre körperlichen Beschwerden aufWitterungseinflüsse zurück. Eine Untersuchung durch einen konsiliarisch hinzugezogenen Psycho-
um abgebrochen, und auch der Versuch, eine Berufsausbildung zu beginnen, war gescheitert. Sie hatte sich von ihrer sozialen Umwelt zurückgezogen und war immer wieder depressiv. War es unvermeidlich, mit anderen Menschen zusammenzukommen, trank sie vorher Alkohol oder nahm Benzodiazepine und war mittlerweile erheblich gefährdet, eine Abhängigkeitserkrankung zu entwickeln. In diesem Fall hatten sich die sozialen Ängste an eine körperliche Erkrankung angeheftet. Den Ängsten der Patientin lag die Befürchtung zu Grunde, ihre körperlichen Ausscheidungsfunktionen nicht beherrschen zu können und dadurch in höchst peinliche Situationen zu geraten. Ihre depressiven Verstimmungen waren ebenso wie der Alkohol- und Benzodiazepinabusus Ausdruck der Verarbeitung ihres sozialen Rückzugs. Immer trifft man bei den Patienten auf Introjekte, die demütigen, kritisieren, beschämen, lächerlich machen, verlassen oder in eine peinliche Lage versetzen. Vor dem Hintergrund entsprechender Erfahrungen mit Eltern, Pflegepersonen oder Geschwistern haben sich diese Introjekte schon früh in der Entwicklung konstituiert. Sie werden auf andere Personen in der Umgebung projiziert, die in der
schwerden und die hypo tone Kreislaufdysregulation immer dann zunahmen, wenn sie mit anderen Menschen zusammentreffen musste oder auch nur den
Folge gemieden werden. Die demütigenden und beschämenden Introjekte sind unter anderem auf einen Mangel an Bestätigung und Beruhigung, also ein Versagen elterlicher Selbstobjektfunktionen zurückzuführen. Kränkende, beschämende
Gedanken daran hatte, Kontakt zu Anderen aufnehmen zu müssen. Schließlich wurde bei einer weiteren internistischen Untersuchung jedoch eine ;Heli-
und demütigende Erfahrungen münden in einer basalen strukturellen Störung und einer erhöhten Angstbereitschaft. Auf dem Hintergrund aggressiver Konflikte
cobacter-Infektion entdeckt, die für die Magen-Darm-Symptomatik verant-
wird zugleich ein strenges Gewissen als »unerbittlicher Blick der Anderen« auf die
therapeuten hatte den Verdacht aufkommen lassen, dass die Magen-Darm-Be-
soziale Umwelt projiziert.
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Strukturelle Störungen und soziale Ängste
3. Zur Diagnostik struktureller und komplexer Störungen
Wo es für strukturell gestörte Patienten mit sozialen Ängsten nicht möglich ist, anderen Menschen gänzlich aus dem Weg zu gehen, haben sie oft erhebliche Mühe, es in deren Gegenwart auszuhalten. Auch wenn sie nach außen hin unbewegt erscheinen, können sie unter erheblicher Stressbelastung stehen, vergleichbar den unsicher-vermeidend gebundenen Kindern in der fremden Situation. Meist wünschen die Patienten sich, mit anderen Menschen zwanglos zusammen sein zu können. Weil sie aber so scheu und ängstlich sind, beobachten sie das gesellige Leben meist nur aus der Ferne und müssen das bunte Treiben der Anderen an sich vorbei ziehen lassen. Bei allen drei Patienten waren die Schwierigkeiten, die sie im Zusammensein mit anderen Menschen hatten, in den Vorbefunden nur am Rande erwähnt worden. Soweit auf die interpersonellen Probleme überhaupt Bezug genommen wurde, wurden diese nur als Folge anderer Störungen wie der Anorexie, der narzisstischen Persönlichkeitsstörung und der körperlichen Symptomatik aufgefasst. Tatsächlich können sich soziale Ängste vor dem Hintergrund von unterschiedlichen psychischen Erkrankungen entwickeln, von unbewussten neurotischen Konfliktstörungen ebenso wie basalen Entwicklungsstörungen, psychotischen und psychosenahen Störungen. Bei Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen sind generalisierte soziale Ängste ungleich häufiger als bei Patienten mit stabil integrierter Persönlichkeitsorganisation. Soziale Ängste können gelegentlich auch Ausdruck des Versuches sein, psychische, psychosomatische und manchmal auch körperliche Erkrankungen zu verarbeiten und zu bewältigen; auch dann dient der soziale Rückzug häufig dem Vermeiden von Scham. Dass die Patienten soziale Situationen oft so weitgehend meiden, kann dazu führen, dass sich in der Folge weitere schwerwiegende Probleme einstellen. In der sozial isolierten Situation, in die sie sich zurückziehen, bleibt das elementare Grundbedürfnis unerfullt, sich mit Anderen verbunden zu fühlen. Des anderen zu bedürfen, ist kein psychopathologisches Phänomen, sondern, wie Todorov beschrieben hat, konstitutives Merkmal der conditio humana, ebenso wie das Bedürfnis nach Anerkennung nicht Ausdruck einer narzisstischen Problematik ist, sondern unverzichtbare Erfahrung, in der sich Identität bestätigt (Altmeyer 2005). Soziale Ängste können sich gegenüber den psychischen Störungen, auf deren Hintergrund sie sich entwickelt haben, verselbständigen und die Lebenssituation der Betroffenen weitgehend einschränken. Häufig ziehen soziale Ängste weitere psychische und körperliche Folgeerscheinungen wie depressive Verstimmungen,
suizidales Verhalten, Alkoholabhängigkeit u. a. nach sich, können aber auch in einer unspezifischen erhöhten Krankheitsanfälligkeit münden, unter Umständen auch mit einer erhöhten Unfallneigung einhergehen. Wie weit die Gefährdungen, die mit generalisierten sozialen Ängste einhergehen können, manchmal reichen, ist nicht zuletzt amerikanischen Studien zu entnehmen, die zeigen, dass es sich bei Amokläufern häufig um sogenannte toners handelt, um sozial isolierte, scheue, sozial ängstliche junge Männer.
73
Psychotherapeutische Methoden und therapeutische Kommunikation sich ihre Worte beziehen, sondern gestalten zugleich ihr Verhältnis zueinander und das ist die therapeutische Beziehung. Die therapeutische Beziehung ist somit
4. Psychotherapeutische Methoden und therapeutische Kommunikation
eine gemeinsame Hervorbringung von Patient und Psychotherapeut. Verschiedene psychotherapeutische Verfahren unterscheiden sich unter anderem durch die Mittel und Prozeduren, mit denen Patient und Therapeut ihre Interaktion abwickeln, miteinander kommunizieren und dabei Zug um Zug ihr Verhältnis zueinander gestalten. In der Verhaltenstherapie verwendet der Psycho-
tienten entwickelt wurden, sind bei Patienten mit schweren Entwicklungs- bzw.
therapeut in den Begegnungen mit dem Patienten gewöhnlich kommunikative Mittel und Praktiken, mit denen er sich als Experte präsentiert, der über ein spe-
strukturellen Störungen und Persönlichkeitsstörungen selten indiziert. Früher
zialisiertes Wissen von abweichendem Verhalten und über die Kompetenz für
wurden Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen allenfalls symptoma-
Verhaltensänderungen verfügt und dessen Expertenmeinung zu folgen für den
tisch mit Psychopharmaka, mit sozialtherapeutischen Interventionen oder Verhaltenstrainings behandelt. Dabei ist Psychotherapie durchaus Erfolg versprechend;
Patienten mit der Aussicht auf Besserung seines Zustandes und auf Heilung einhergeht. Der Verhaltenstherapeut ist jedoch nicht einfach diese Autorität, er muss
deren Effekte können im Vergleich zu Kontrollbedingungen das Doppelte bis
sie dem Patienten gegenüber auch kenntlich machen, und der Patient muss den
Vierfache betragen (Leichsenring, Leibing 2003).
Autoritätsanspruch des Therapeuten ratifizieren, damit der tatsächlich Autorität hat. Autorität wird somit interaktiv durch die Art und Weise konstituiert, wie
Psychotherapeutische Methoden, die für die Behandlung von neurotischen Pa-
Zu den Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer psychotherapeutischen Behandlung gehört eine vom Patienten als hilfreich erlebte therapeutische Bezie-
der Verhaltenstherapeut den kommunikativen Austausch mit seinem Patienten
hung; eine hilfreiche therapeutische Beziehung korreliert positiv mit einem günstigen Behandlungsergebnis (Luborsky, Crits-Christoph 1988). Es gehört zu den
abwickelt und wie der Patient sich dem Therapeuten gegenüber mit sprachlichen und nichtsprachlichen Mitteln verhält. Man darf davon ausgehen, dass Patienten,
Aufgaben des Psychotherapeuten, eine solche hilfreiche therapeutische Beziehung
die in Verbindung mit einer psychotherapeutischen Behandlung in diese Art von Kommunikation eintreten, nicht die gleichen sind wie beispielsweise die, die sich
zu fördern. Das beinhaltet, dass er dem Patienten mit Verständnis und Akzeptanz Interesse entgegenbringen, angemessene und funktionale Abwehrformen stützen,
auf einen psychoanalytischen Dialog einlassen. Die kommunikativen Mittel und Praktiken, derer sich Psychoanalytiker im
Behandlungsfortschritte bestätigen, die Therapie als gemeinsame Arbeit kenntlich
Dialog mit ihren Patienten bedienen, unterscheiden sich mehr oder weniger weit-
machen und dem Patienten mit Wertschätzung und Achtung gegenübertreten soll (Luborsky 1988).
gehend von der Art und Weise, wie Gespräche im Alltag geführt werden. Mehr als mit Gesprächen hat der psychoanalytische Dialog gewisse Ähnlichkeiten mit
Nun werden Beziehungen aber nie nur von einer einzigen Person gestaltet;
einem Selbstgespräch des Patienten, einem »Vor-sich-hin-Äußern« dessen, was
eine einzelne Person kann nicht allein sicherstellen, dass eine Beziehung etwa gut
ihm in seiner Selbstbeobachtung zugänglich ist, gelegentlich unterbrochen durch
oder unterstützend ist. So liegt auch der Charakter der therapeutischen Beziehung
Kommentare einer für den Patienten mehr oder weniger anonymen Fachautorität,
nicht ausschließlich in den Händen des Therapeuten. Vielmehr ist die therapeu-
die auf mögliche nicht bewusste Bedeutungen dessen hinweist, was der Patient
begegnen, ihm Hoffnung und Zuversicht vermitteln, Sympathie oder zumindest
tische Beziehung in jedem Moment ein Produkt des Verhaltens sowohl des Psy-
bis dahin geäußert hat. Der Patient bleibt weit mehr sich selbst überlassen als
chotherapeuten als auch des Patienten, so wie Beziehungen und deren Charakter
in Behandlungen, die im Gegenübersitzen stattfinden, und er weiß nur wenig
immer von allen daran beteiligten Personen gestaltet werden. Mit allem, was der
darüber, wer die Person ist, die ihm zuhört. Hinzu kommt, dass der Patient im
Patient tut, und mit allem, was der Therapeut tut, wie jeder von ihnen spricht und
Couchsetting weit mehr im Unklaren darüber bleibt, wie der Therapeut auf seine
sich dabei verhält, vermitteln sie sich nicht nur inhaltliche Informationen, auf die
Äußerungen reagiert, als das in Gesprächen der Fall ist, die face-to-face geführt ~
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4, Psychotherapeutische Methoden und therapeutische Kommunikation
werden. Aber auch dieses psychoanalytische Gespräch ist noch das Ergebnis von Interaktion, so sehr es auch einem Selbstgespräch ähnlich sein mag. In seinem
Psychoanalyse für Pati.enten mit schweren Persönlichkeitsstörungen
Modifikationen der Psychoanalyse für Patienten mit schweren Persönl ichkeitsstörungen
Charakter als Selbstgespräch ist es ein Produkt der Interaktion von Patient und Analytiker. Dabei verhalten sich Psychoanalytiker ihren Patienten gegenüber meist weitaus unbestimmter, neutral, und bleiben als Person für den Patienten
Bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein versprachen insbesondere psychotherapeutische Maßnahmen bei Patienten mit einer Persönlichkeitsstö-
mehr oder weniger anonym. Aber auch Anonymität und Neutralität sind keine
rung - lange Zeit unter den diagnostischen Begriffen» Psychopathie« und »Sozio-
Verhaltensweisen nur des Analytikers, sondern ebenfalls interaktive Leistungen.
pathie« subsumiert ..,. nach vorherrschender Meinung wenig Erfolg (Baer 1980).
Veröffentlichte Falldarstellungen lassen nur selten erkennen, wie Patient und Psychotherapeut ihren therapeutischen »Austausch von Worten« genau abge-
So blieb es meist bei dem Versuch, einzelne Symptome psychopharmakologisch zu
wickelt haben und auf welches »Datenmaterial« sich die Interpretationen des The-
selten oder wurden bald wieder eingestellt. Mit den Mitteln der psychoanaly-
rapeuten von dem Geschehen im Behandlungszimmer beziehen. Ebenso bleibt
tischen Behandlungstechnik waren die Patienten entweder nicht zu erreichen oder
beeinflussen. Bemühungen, die Patienten psychoanalytisch zu behandeln, waren
im Vergleich verschiedener Falldarstellungen häufig unklar, ob unterschiedlichen
konnten von der Behandlung nicht wirklich profitieren. Nur wenige Psychoana-
theoretischen Orientierungen von Psychotherapeuten Unterschiede in ihrer thera-
lytiker widmeten sich dem Versuch, psychoanalytische Erfahrungen für Zwecke
peutischen Praxis und damit Unterschiede in der Art und Weise korrespondieren,
der Behandlung dieser Patienten zu nutzen und geeignete Modifikationen der Behandlungstechnik zu entwickeln. In diesem Zusammenhang stellte sich bald
das therapeutische Gespräch mit dem Patienten zu führen. So gibt es insgesamt nur relativ wenig Detailwissen davon, wie und mit welchen Mitteln Psychoanaly-
heraus, dass sich der Therapeut den Patienten gegenüber anders verhalten musste
tiker und Psychotherapeuten verschiedener Orientierungen den »Austausch von Worten« mit ihren Patienten konkret gestalten, und worin sich der therapeutische
als in der Psychoanalyse und in anderer Weise an der therapeutischen Beziehung teilnehmen und mit den Patienten kommunizieren musste als dort, wenn es gelin-
Dialog von einem Psychoanalytiker der einen Richtung von dem therapeutischen
gen sollte, in einen länger dauernden therapeutischen Kontakt rnit den Patienten
Dialog im Einzelnen unterscheidet, in den ein Psychoanalytiker einer anderen Richtung mit seinem Patienten verwickelt war.
zukommen. Insbesondere waren die Patienten nicht oder höchstens ausnahmsweise einmal
Wo in der biologischen Psychiatrie die Auffassung vorherrscht, dass psychische Erkrankungen in erster Linie psychopharmakologisch zu behandeln sind, weil sie
in der Lage, jene Haltung der Selbst- und Beziehungsreflexion einzunehmen, die für einen psychoanalytischen Prozess charakteristisch ist. Auch der Umstand, dass
mit Gehirnaktivitäten einhergehen, die unter Umständen sogar sichtbar gemacht
der Psychoanalytiker das therapeutische Gespräch mit dem Patienten nicht wie
. werden können, wird die therapeutische Beziehung, wenn überhaupt, meist nur
,m it einem Gesprächspartner im Gegenüber führte, sondern selbst dann noch re-
insofern als wichtig angesehen, als der das Medikament verordnende Psychiater eine gute Compliance sicherstellen sollte. Dabei wird leicht übersehen, dass auch
lativ unerkennbar für den Patienten blieb, wenn beide face-to-face miteinander kommunizierten, konnten die' meisten strukturell gestörten Patienten nicht tole-
jede Verordnung von Medikamenten in einem interpersonellen Kontext stattfindet
rieren. Zudem waren sie selten in der Lage, Deutungen des Analytikers für sich zu
und diesen Kontext mit konstituiert, und dass die Compliance oftmals eine Funk-
nutzen, weil es ihnen nicht möglich war, vorübergehend gleichsam aus sich heraus
tion der Qualität der therapeutischen Beziehung ist. Die gezielte Handhabung der
zu treten, um aus einer reflexiven Distanz auf sich selbst zu blicken und sich zu
therapeutischen Beziehung als Mittel der Behandlung, die voraussetzt, dass der
sich selbst und zu der therapeutischen Beziehung zu verhalten. Vielmehr waren sie
Therapeut sein eigenes Verhalten im Kontext von Übertragung und Gegenüber-
darauf angewiesen, mit Hilfe psychosozialer Anpassungsmechanismen daraufhin-
tragung in jedem Moment als Beziehung gestaltendes Verhalten reflektiert, ~pielt dann entweder gar keine oder nur eine marginale Rolle.
zuwirken, dass der Therapeut psychische Funktionen für sie übernehmen würde, nicht zuletzt Funktionen der Selbstregulierung. Aus einer ich-psychologischen Perspektive betrachtet waren sie zur therapeutischen Ich-Spaltung nicht in der ~
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4. Psychotherapeutische Methoden und therapeutische Kommunikation
Lage. Ihre Beziehungen waren auf einem dyadischen oder pseudodyadischen Niveau arretiert. Während die Mehrzahl der Psychoanalytiker am Standardverfahren und dessen kanonisierten therapeutischen Parametern festhielt mit der Folge, dass Patienten, die von der klassischen Psychoanalyse keinen Gebrauch machen konnten, nicht in Behandlung genommen wurden, widmeten sich wenige klinisch tätige Psychoanalytiker dem Versuch, auf dem Boden der Psychoanalyse therapeutische Bedingungen und Teahniken zu entwickeln, mit denen Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen erreicht werden und die für sie von therapeutischem Nutzen sein konnten. In erster Linie waren es Psychotherapeuten und Psychoanalytiker, die für die therapeutische Versorgung schwer gestörter Patienten im stationären Rahmen, vor allem in der Psychiatrie zuständig waren, die sich um die Entwicklung von psychodynamischen Behandlungsansätzen auf der Grundlage der Psychoanalyse für diese Patientengruppen bemühten. Weil sie dabei von psychoanalytischen Behandlungsstandards mehr oder weniger weit abweichen mussten, begegnete ihnen von psychoanalytischer Seite oftmals Kritik und Ablehnung. In der Psychiatrie genoss die Psychoanalyse auf der anderen Seite kein hohes Ansehen. Dieses Dilemma insbesondere von Psychoanalytikern, die in der Psychiatrie tätig waren, beschreibt anschaulich Mentzos (2006): »Insgesamt betrachtet, herrschte jedoch während des gesamten 20. Jahrhunderts in der Beziehung zwischen Psychiatrie und Psychoanalyse eine mehr oder weniger gespannte Gegensätzlichkeit, eine wenig tolerante Betrachtung und Einschätzung des Anderen oder allenfalls eine oberflächliche höfliche Akzeptanz der Koexistenz. Es ist auch nicht zufällig, dass das psychoanalytisch inspirierte psychodynamische Denken in der Medizin nicht an erster Stelle über die einflussreiche und mächtige Institution sowie die wissenschaftliche Disziplin der Psychiatrie, wie man es hätte erwarten können, sondern bemerkenswerterweise über die innere Medizin gefördert wurde.« (S. V)
Psychoanalyse für Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen
lytisch-interaktionelle Therapie« bekannt wurden (z. B. Heigl-Evers, HeigI1983). Ihre anfänglichen Versuche, schwer gestörte, stationär behandlungs bedürftige Patienten mit einer kaum modifizierten Psychoanalyse zu behandeln, waren entweder wirkungslos geblieben oder mündeten in schwer steuerbaren regressiven Krisen der Patienten. Um mit den Patienten dennoch in einen therapeutisch nützlichen Kontakt zu kommen, erwies es sich ihnen als unumgänglich, erhebliche Veränderungen gegenüber dem psychoanalytischen Behandlungssetting und der psychoanalytischen Behandlungstechnik einzuführen. Das betraf nicht nur den Umstand, dass das Coucharrangement, welches gewöhnlich als Mittel dient, um den Patienten dabei zu unterstützen, sich weitgehend ungestört auf sich selbst konzentrieren zu können, bei strukturell gestörten Patienten nicht förderlich war und die Behandlungen durchweg im Gegenübersitzen durchgeführt werden mussten. Auch die Art und Weise, wie der »Austausch von Worten« und die therapeutische Beziehung gestaltet wurden, wie der Psychotherapeut sich in das kommunikative Geschehen involvieren ließ und in welcher Haltung er das therapeutische Gespräch mit seinem Patienten führte, musste gegenüber der Art und Weise, wie der Psychoanalytiker üblicherweise am therapeutischen Prozess teilnahm, erheblich verändert werden. Der Psychotherapeut engagiert und interessiert sich bei der psychoanalytisch-interaktionellen Modifikation des psychoanalytischen Behandlungsverfahrens nach außen hin in einer weitaus aktiveren Haltung für den Patienten, für die gemeinsame Beziehung und für das interaktive Geschehen im Behandlungszimmer; während in einer Psychoanalyse das Wechselspiel zwischen den am Gespräch beteiligten Personen mehr oder weniger weitgehend aufgehoben ist und die alltagsüblichen Regeln des Sprecherwechsels (»turn-taking«) außer Kraft gesetzt sind, spielt das Hin und Her von wechselseitigen Äußerungen, von Rede und Gegenrede und damit von Interaktion in der psychoanalytisch-interaktionellen Kommunikation zwischen Patient und Psychotherapeut eine ungleich größere Rolle. Dabei verhält der Psychotherapeut sich nur scheinbar ähnlich wie das im Alltag üblich ist, sondern äußert sich in therapeutisch hochgradig reflektierter
Die psychoanalytisch-interaktionelle Modifikation (Heigl und Heigl-Evers)
Weise. Manchmal zeigt sich erst bei genauerem Hinsehen, dass die therapeutische Interaktion und der kommunikative Austausch zwischen Patient und Therapeut in Wirklichkeit nicht der sozialen Ordnung eines Alltagsgesprächs folgt, sondern
Dies war auch der Hintergrund, auf dem Heigl und Heigl-Evers die therapeu-
sich den Bedingungen von Alltagskommunikation vielmehr in der Absicht anzunähern versucht, den therapeutischen Dialog nach Maßgabe der im Vordergrund
tischen ModifIkationen entwickelt haben, die unter der Bezeichnung »psychoana-
stehenden strukturellen un:d interpersonellen Beeinträchtigungen des Patienten, ~
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4. Psychotherapeutische Methoden und therapeutische Kommunikation
Psychoanalyse für Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen
die sich vor allem in seiner Selbst- und in der Beziehungsregulierung zeigen, zu gestalten.
der Interaktionsregulierung. Ob ihr Verhalten eine Funktion für ihre Interakti-
Zugespitzt könnte man von der psychoanalytisch-interaktionellen Methode sagen, dass es sich in erster Linie um eine Beziehungstherapie handelt und erst
on hat oder nicht, ist nicht von den Intentionen abhängig, die Patient und Psychotherapeut mit ihrem Verhalten verbinden. Auch wenn das Verhalten für sich
in zweiter Linie um eine Psychotherapie. Hier wird die psychoanalytisch-inter-
genommen nichts bedeutet .und intentional nicht dem Gegenüber gilt, kann es
rung oder der Interaktionsregulierung, sondern beidem zugleich, der Selbst- und
aktionell genannte therapeutische Arbeitsweise als ein besonderer Weg aufgefasst,
dennoch wichtige Funktionen für die Interaktion und deren Regulierung haben.
sich mit dem Patienten in ein therapeutisches Gespräch zu verwickeln und damit
Selbst- und Interaktionsregulierung sind nicht unabhängig voneinander, sie ver-
die Interaktion zwischen Patient und Psychotherapeut zu regulieren und die the-
halten sich komplementär zueinander. Das Verhältnis des Patienten zu seinem
rapeutische Beziehung zu gestalten. Die psychoanalytisch-interaktionelle Thera-
Psychotherapeuten wirkt sich ebenso auf seine selbstregulativen Prozesse aus wie
pie hat sich seit inzwischen über drei Jahrzehnten in der psychotherapeutischen
umgekehrt selbsuegulative Prozesse Auswirkungen auf die Interaktion mit dem
Versorgung von Patienten mit schweren strukturellen und komplexen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen als effektive Methode bewährt (Ott 2001 ; Streeck 2002; Leichsenring et al. 2005).
Therapeuten haben.
.. Selbst- und Beziehungsregulierung im Zentrum der therapeutischen Aufmerksamkeit 'I m Zuge ihres Austausches von Worten bewältigen Patient und Psychotherapeut immer zugleich die grundlegenden Anforderungen der Selbstregulierung und der Regulierung ihres Zusammenseins bzw. der Interaktionsregulierung (Tronick et al. 1998; vgl. auch Beebe, Lachmann 2002). Zur Selbstregulierung gehören Aufgaben wie die Regulierung des biologischen und seelischen Gleichgewichts einschließlich der Regulierung des Erregungsniveaus, des narzisstischen Gleichgewichts oder des Reizschutzes; zur Regulierung von Interaktion gehören Abstimmungen
Selbstregulierung P
wie die von Nähe und Distanz oder von Autonomie und Abhängigkeit, aber auch
Abb. 1: Selbst- und Interaktionsregulierung in der Patient- Therapeut-Dyade (P = Pa-
so scheinbar nebensächliche Aufgaben wie die der körperlichen Positionierung bei der Begrüßung und Verabschiedung oder die des Wechsels der Rollen von
tient, T = Therapeut; nach Beebe, Lachmann 2002). Das selbstregulierende Verhalten des Patienten (P) und des Therapeuten (T) wirkt sich ebensf! aufdie Interaktionsregu-
Sprecher und Hörer im Verlauf des therapeutischen Dialogs. Bei therapeutischen
lierung aus wie sich umgekehrt die Regulierung der Interaktion aufdie Selbstregulie-
Prozessen, bei denen das Erzählen im Vordergrund steht, werden die Selbstregu-
rung von Patient und Therapeut auswirkt.
lierung und die Regulierung der Interaktion meist im Hintergrund, gleichsam in den Kulissen des Geschehens abgewickelt, Tritt die Regulierung der Interaktion
Auch der Psychotherapeut muss bei seiner Arbeit mit seinem Patienten selbstre-
und damit die Regulierung des Verhältnisses von Patient und Psychotherapeut in
gulative Aufgaben bewältigen und zugleich die ·Interaktion mit seinem Patienten
den Vordergrund, verliert der kommunikative Austausch über bestimmte I~alte meist an Bedeutung.
regulieren. Man kann erwarten, dass der Therapeut Funktionen der Selbstregulie-
Verhalten in dyadischen Beziehungen dient nicht entweder der Selbstregulie-
Interaktionsregulierung
Selbstregulierung T
rung während der Therapie autonomer bewältigt als strukturell gestörte Patienten. Aber auch auf seiner Seite ist die Regulierung der Interaktion mit dem. Patienten ~
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4. Psychotherapeutische Methoden und therapeutische Kommunikation
nicht unabhängig von selbstregulativen Prozessen. Das zeigt sich besonders deutlich in spannungsreichen Situationen, beispielsweise dann, wenn der Therapeut
Strukturelle Störungen und die therapeutische Beziehung
sich durch das Verhalten seines Patienten entwertet oder gekränkt fühlt - auch Psychotherapeuten sind durch ihre Patienten kränkbar, selbst wenn das selten zu den therapeutischen Erfahrungen gehört, die in öffentlichen Diskussionen zugestanden werden - und daraufhin vorübergehend innehält, um sich darüber im Klaren zu werden, was soeben geschehen ist. Sein damit verbundenes Schweigen und seine Selbstreflexion wirken sich - wie sich empirisch zeigen lässt (Streeck 2004) - auf die Interaktion mit dem Patienten aus, was wiederum dessen Gestaltung seiner nächsten Schritte und Äußerungen nicht unbeeinflusst lässt. Bei der von Heigl und Heigl-Evers entwickelten psychoanalytisch-interaktionellen Methode stehen interaktive Prozesse mehr im Mittelpunkt des diagnos-
in Übereinstimmung mit den eigenen Erwartungen zu verhalten. Das wurde aus psychoanalytischer Sicht unter dem Gesichtspunkt von Übertragungen als unbewusster Versuch beschrieben, vergangene Erfahrungen mit Hilfe projektiver Identifikationen als gegenwärtige Realität wiederherzustellen (z. B. Gabbard 1992; Leszcz 1989). Bei solchen unbewussten Versuchen muss das Verhalten, mit dem der Patient auf den Therapeuten einzuwirken versucht, nicht mit unbewussten Bedeutungen verknüpft sein; auch Verhalten, das nichts bedeutet, kann im interaktiven Austausch weit reichende Wirkungen auf die andere Person haben. So kann körperliches Verhalten, das in internen Arbeitsmodellen verankert und im körperlichen Gedächtnis des Patienten als prozedurales Wissen gespeichert ist und seine Wurzel in chronisch traumatisierenden Beziehungserfahrungen hat, dazu beitragen, dass sich in der gegenwärtigen Interaktion ähnliche Beziehungserfah-
tischen und therapeutischen Geschehens als bei der Behandlung von Patienten, deren zentrale Beeinträchtigungen vor dem Hintergrund unbewusster, sprachlich repräsentierter Konflikte zu verstehen sind. Weil Patienten mit basalen Störungen der Persönlichkeitsorganisation andere brauchen, damit grundlegende regulative Funktionen gewährleistet sind, kommt es in der therapeutischen Arbeit leicht zu Inszenierungen und Enactments, die dann von Patient und Psychotherapeut gemeinsam produziert werden.
rungen wiederholen. Weil das Geschehen zwischen Patient und Psychotherapeut eine weit höhere »interaktive Dichte« hat als das in psychoanalytischen Behandlungen im Couchsetting meistens der Fall ist, sind in der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen Handlungsdialoge (Klüwer 1983) eher die Regel als die Ausnahme. Der Versuch, mit den Patienten in einen therapeutischen Dialog zu kommen, bei dem das Erzählen und das gemeinsame
Strukturelle Störungen und die therapeutische Beziehung Bei der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit strukturellen Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsorganisation ist es anhand der inhaltlichen Bedeutung dessen, was die Patienten mit Worten äußern, oft nicht oder nur höchst unzureichend möglich zu verstehen, »worum es geht«. Das ist vor allem dann so, wenn die Worte nicht zuerst Erfahrungen mitteilen, sondern »Aktionen« sind, »um auf den Analytiker einzuwirken« (Moser 2001, S. 113). So wie die Patienten im Alltag andere Personen unbewusst in einer Weise zu behandeln versuchen, dass sie sich für Selbstobjektfunktionen eignen, versuchen sie auch den Therapeuten zu einem Verhalten zu veranlassen, das selbstregulativen Funktionen genügt. Bei' solchen unbewussten Bemühungen, auf die andere Person dahingehend einzuwirke~, dass das Verhalten eigenen Bedürfnissen genügt, greifen die Patienten in erster Linie auf nichtsprachliche Mittel zurück, um den Therapeuten dazu zu bringen, sich
Nachdenken über Erfahrungen und über die aktuelle therapeutische Beziehung bzw. die Übertragung im Vordergrund stehen, ist häufig zum Scheitern verurteilt; der Versuch, Erzählinhalte deutend aufzunehmen, würde die zentrale Pathologie der Patienten zudem verfehlen. Was für einen gelingenden psychoanalytischen Prozess Voraussetzung ist" kann sich in der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit schweren strukturellen Störungen nicht entwickeln: Während dort eine »psychoanalytische Mikrowelt« entsteht, indem »die Sprache der Formulierung innerer und interaktiver Prozes~e, die kommunikativ dargestellt werden ... « dient, ist diese psychoanalytische Mikrowelt bei Patienten mit strukturellen Störungen eine »Fata Morgana« (Moser 2001, S.106). Patienten mit strukturellen Störungen teilen ihre Erfahrungen oft nicht in erster Linie in Worten mit, sondern stellen sie in ihrem Verhalten dar. Herr F. war gequält von sexuellen Obsessionen und von seiner Unfähigkeit, eine liebevolle Beziehung mit einer Frau zu haben, die er sich manifest wünschte. Obwohl er bemerkenswerte Fähigkeiten und Begabungen hatte, gab es im Be- ~
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Strukturelle Störungen und die therapeutische Beziehung
rufsleben erhebliche Probleme: es war ihm unmöglich, die Rolle eines Vorge-
Seine massiven Beziehungsstörungen wären jedoch unverständlich geblieben.
setzten wahrzunehmen, wie das von ihm erwartet wurde, weil ihm damit ein
So aber geschah zwischen Herrn E und dem Therapeuten etwas, was sich weder
gewisses Maß an Macht gegeben war und er anderen Männern häne Anweisungen erteilen müssen. Andererseits konnte er seine beruflichen Ambitionen
in seinen Schilderungen noch in der manifesten Verteilung der Rollen abbildete, eine Beziehung, die davon bestimmt war, dass das Gegenüber die Rolle
aber auch nicht vollkommen zurücknehmen, denn das hätte in seinem Erleben
eines interessierten Betrachters wahrnahm, ohne aber in einen irgendwie be-
bedeutet, dass er sich in bedrohlicher Weise dem Willen und dem Diktat An-
rührenden oder emotionalen Kontakt mit ihm verwickelt zu werden.
derer unterwerfen würde. Herr E konnte viele seiner Probleme und Schwierigkeiten höchst anschaulich
Manche Patienten mit gravierenderen narzisstischen strukturellen Störungen stellen sich im Medium verbaler Schilderungen oftmals als freundliche, an ihrer
und differenziert schildern, so dass ein recht vielfältiges und plastisches Bild
Mitwelt Anteil nehmende Personen dar, deren Fähigkeiten von der Umwelt
seiner Lebens- und Leidenswelt entstand. Je länger man ihm zuhörte, desto
nicht erkannt werden, die zugleich aber bei ihrem Gegenüber - oft schon im
beeindruckter konnte man von seinen Fähigkeiten sein, seine Welt mit Wor-
allerersten Kontakt - die Tendenz wecken, vorsichtig zu sein oder sich auf feind-
ten anschaulich vor Augen zu führen. Gleichzeitig vermittelte sich dabei aber
selige Attacken und verächtliche Abwertungen einzustellen, statt sich vertrau-
auch der Eindruck, dass es nicht möglich war, aus all dem, was er so anschauwiegenden Problemen führte, von denen er gesprochen hatte. Man gewann
ensvoll zu nähern. Patienten mit Borderline-Störungen verhalten sich manchmal weitgehend abgeschirmt, bleiben wortkarg, abweisend, erscheinen zutiefst resigniert, und las-
im Gespräch den Eindruck, mit ihm vor einem großen bunten Gemälde zu
sen - soweit sie sich überhaupt weitergehend äußern - erkennen, dass sie jede
lich berichtete, ein Bild davon zu gewinnen, was eigentlich zu den schwer-
stehen, das seine Lebenswelt darstellte. Mit jeder weiteren Schilderung von
Hoffnung aufgegeben haben, auf eine freundliche und unterstützende Umwelt
Ereignissen und Erfahrungen fügte er diesem Bild einen weiteren Pinselstrich
zu treffen. Dennoch ist man als Therapeut unter Umständen von Beginn an,
hinzu, so dass das Gemälde immer facettenreicher und anschaulicher wurde.
noch ohne die Patienten näher kennengelernt zu haben, einigermaßen sicher,
Dabei wies er seinem Gesprächspartner zugleich die Rolle eines Betrachters zu,
dass sie über Fähigkeiten und Begabungen verfügen, die eine Therapie aus-
der gehalten war, sich von dem Gemälde gefangen nehmen zu lassen, während aber der Raum zwischen ihm und seinem Gegenüber leer blieb. Der Therapeut
sichtsreich erscheinen lassen. Hier wie dort reagiert der Therapeut nicht allein auf die Worte des Patienten,
war als Mitspieler und Mitgestalter des Geschehens nicht zugelassen. So ge-
auf seine sprachlichen Schilderungen von Erfahrungen, seiner Objekte und der
lang es Herrn E, sein Gegenüber als Betrachter außerhalb zu halten. Allenfalls
eigenen Person, wie spärlich diese auch immer sein mögen, und auch nicht nur
Ergriffenheit angesichts der ästhetischen Qualitäten des von ihm geschaffenen
auf jene Aspekte der Mitteilungen, die sich dem Lesen zwischen den Zeilen und dem Hören mit dem drinen Ohr verdanken. Vielmehr kommunizieren
Gemäldes stellte eine Verbindung her. Hätte man sich nur auf die wortrnächtigen und differenziert gestalteten Schil-
die Patienten jenseits ihrer Worte mehr, und der Therapeut reagiert auf diese nichtsprachlichen kommunikativen Darstellungen. Patienten mit strukturellen
derungen von Herrn E gestützt, hätte man leicht zu der Auffassung gelangen können, man habe es mit einem Mann mit einer neurotischen Problematik zu
Störungen scheinen häufig unterschiedliche Ausdrucksintentionen gleichzei-
tun. Und es bedurfte keines größeren Aufwandes an Fantasie, um sich vorzu-
tig zu realisieren. Was sie mit Worten sprachlich-symbolisch zum Ausdruck
stellen, wie leicht man mit ihm in einen unendlichen therapeutischen Prozess
bringen ist das Eine, wie sie das im Kontakt tun und wie sie ihr Gegenüber
geraten könnte, reich bestückt mit Erfahrungsschilderungen, die den Zuhörer
dabei behandeln, das Andere. Was ihnen in ihrem Alltag Probleme bereitet
fesseln würden, deren Präsentation aber nicht primär den Zweck verfolgten, die eigene Erfahrungswelt zu verstehen, sondern die aktuelle therapeutische
und worunter sie leiden, stellt sich dabei nicht im »Was« ihrer sprachlichen Mitteilungen dar, sondern im »Wie« ihres Im-Kontakt-Seins. Der Inhalt der
Beziehung zu sichern, ohne in eine Beziehung wirklich involviert zu werden.
Worte kann dann leicht in die Irre führen, und nur wenn man erfasst, wie der ~
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Austausch von Worten und das interaktive Geschehen im Augenblick gestaltet werden, sind wesentliche Aspekte der Störung zu erfassen. Insbesondere traumatisierende Beziehungserfahrungen, die sich im Zuge ihrer Entwicklung als Störungen in der Persönlichkeitsorganisation niedergeschlagen haben, sind größtenteils nicht sprachlich-symbolisch, sondern prozedural repräsentiert und kommen im Vollzug von Interaktion in interpersonellen Beziehungen zur Darstellung. Der Psychotherapeut würde die zentrale Störung strukturell gestörter Patienten deshalb verfehlen, wenn er sich vorwiegend auf den Inhalt der sprachlichen Mitteilungen des Patienten stützen würde. Zudem sind basale strukturelle Einschränkungen mit Hilfe von Deutungen unbewusster Konflikte, die sich vorwiegend interpersonell manifestieren und kaum jemals sprachlich repräsentiert sind, nicht zu erreichen. Sie stellen sich in Beziehungen dar, als Beziehung, auch in der therapeutischen Beziehung, im Vollzug von Interaktion, aber nicht im Medium sprachlich vermittelter unbewusster Bedeutungen. "Um mit Patienten mit strukturellen und mit komplexen Störungen therapeutisch effektiv zu arbeiten, muss sich der Psychotherapeut deshalb anders verhalten 4lld anders mit den Patienten kommunizieren und im Vollzug der therapeutischen Interaktion die therapeutische Beziehung mit anderen Mitteln als in einer psychoanalytischen Behandlung gestalten. Der Psychotherapeut muss unter anderem in besonderem Maße dafür aufmerksam sein, wie und mit welchen Mitteln das interaktive-Geschehen zwischen dem strukturell gestörten Patienten und ihm in jedem Moment abgewickelt wird und wie er selbst daran beteiligt ist. Was der Patient sagt und wie er sich verhält, ,muss im Kontext des Verhaltens des Therapeuten »gelesen« werden, und ebenso muss der Therapeut in Rechnung stellen, dass sich sein eigenes Verhalten nur im Kontext des Verhaltens des Patienten erschließt. Schon Michael Balint (1963) hatte mit Blick auf psychiatrische Diagnostik davon gesprochen, dass der Psychiater - und darin unterscheidet sich die Situation des Psychotherapeuten in der Behandlung nicht - es immer mit »Wechselwirkungen« zu tun hat, mit wechselseitigem sozialen Handeln, mit interaktiven Verhältnissen und nicht nur mit innerseelischen Verhältnissen des Patienten:
Strukturelle Störungen und die therapeutische Beziehung
Patienten in diesem Moment in dieser Umgebung - und da keiner dieser spezifischen Umstände aus dem Interview ausgeschaltet werden kann, ist es in Wirklichkeit die Wechselwirkung (meine Hervorhebung, USt.), die untersucht wird.« (S.209f.) Erleben und Interaktion sind zwei unterschiedliche Erfahrungsbereiche, der eine leitet sich nicht aus dem anderen her. Wie Interaktion überhaupt, so ist auch therapeutische Interaktion sozial organisiert, also wechselseitiges soziales Handeln. :pas bedeutet zugleich, dass das interaktive Geschehen in der Therapie nicht etwa iuerst »im Kopf« oder im seelischen Binnenraum des Patienten als Übertragung oder verinnerlichte Beziehungserfahrung so schon vorher vorhanden wäre, gleichsam außerhalb des Einflussbereiches des Therapeuten vorgeformt, um in einem nächsten Schritt als kommunikatives Verhalten in dem Raum zwischen Patient und Psychotherapeut öffentlich gemacht und in Szene gesetzt zu werden. Was im Behandlungszimmer zum Ausdruck kommt, ist vielmehr sozialen Ursprungs, nicht nur individuelles Phänomen. Soziales aber, so hat schon 1908 der Soziologe und Philosoph Georg Simmel in seiner »Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung« betont, geht weder in psychischen Dispositionen auf, noch ist es daraus zu erklären. Ein individueller Zustand ist - so Simmel nicht von seinem »an sich seienden Wesen« her zu bestimmen, sondern von der >}sozialen Reaktion« her~ also der Reaktion des Anderen, die auf diesen Zustand hin eintritt (vgl. Bergmann 1994). Mi~ anderen Worten: Das Soziale, Interaktion ist nicht das Verhalten eines Einzelnen, der dieses Verhalten aus sich heraus an den Tag legt und sich einem Anderen gegenüber irgendwie benimmt. »Eine Beziehung existiert nicht innerhalb einer einzelnen Person«, sondern »ist immer ein Produkt doppelter Beschreibung ... « (Bateson 1993, S. 165). Subjektives Erleben der the~apeutischen Beziehung und therapeutische Interaktion können modellhaft an einer Schnittstelle einer vertikalen Achse vergangener Beziehungserfahrungen und einer horizontalen Achse gegenwärtigen Verhaltens in Beziehung zu Anderen verortet werden. An dieser Schnittstelle greifen innere und äußere, intrapsychische und interpersonelle Realität, subjektive und soziale Wirklichkeit ineinander. Auf einer vertikalen Achse gelesen werden verinnerlichte
»Eine psychiatrische Untersuchung ... ist ihrem Wesen nach eine Untersu-
Erfahrungen mit wichtigen früheren Beziehungen in der Behandlung gleichsam aus der Tiefe unbewussten Erlebens zutage gefördert und so aus der Vergangenheit
chung zwischenmenschlicher Beziehungen ... die Summe der Reaktionen des
in die Gegenwart geholt. Demgegenüber bewegen sich das aktuelle Geschehen '"
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Strukturelle Störungen und die therapeutische Beziehung
zwischen Patient und Psychotherapeut, ihr wechselseitiges Verhältnis, das sie in
dem Patienten als Ausdruck seiner gestörten Persönlichkeit zugerechnet (Streeck
ihrem Verhalten füreinander kenntlich machen, und die von beiden bestimmte Regulierung ihrer gegenwärtigen Beziehung auf einer horizontalen Achse. Auf dieser horizontalen Achse wird die jeweils spezifische Gestalt der aktuellen Beziehung interaktiv in jedem Moment und immer neu ausgehandelt und ausgestaltet.
2002). Dabei sind das Erleben von Beziehungen und das Verhalten in Interaktion nur bedingt voneinander abhängig. Interaktion erklärt sich nicht allein aus subjektivem Erleben, und Erleben erklärt sich nicht aus. interaktivem Verhalten. Wie ein Patient die Beziehung zum Therapeuten erlebt, kann nicht hinreichend erklären, wie das interaktive · Geschehen mit dem Therapeuten genau abgewickelt wird. Wie das interaktive Geschehen mit dem Therapeuten genau abgewickelt wird, lässt umgekehrt no(:h nicht darauf schließen, .wie die therapeutische Beziehung ~rlebt wird. So .kann es sein, dass das interpersonelle Geschehen in der Therapie von außen betrachtet weitgehend von·Reziprozität bestimmt zu sein scheint, vom Patienten aber dennoch ähnlich erlebt wird wie frühere Beziehungen, die ausbeuterisch, vernachlässigend und traumatisierend waren. Auf der anderen Seite kann es sein, dass ein Patient eine Beziehung als unproblematisch erlebt, .während sein Verhalten in Interaktion mit dem Gegenüber 'dysfunktionale .Züge trägt, die an Beziehungen der Vergangenheit erinnern, in denen er sich schützen und gegen übermächtige Angriffe zur Wehr hatte setzen müssen. In der Therapie strukturell gestöJter Patienten verlangen deshalb Erleben und Verhalten in Beziehungen zugleich erhöhte Aufmerksamkeit. Manchmal verändert sich das Erleben des Patienten von Beziehungen unter der Behandlung, während die Art und Weise, wie er ~ich im Zusammensein mit Anderen verhält, weiterhin wenig geeignet ist, von Reziprozität bestimmte Beziehungen zu gestalten und - manchmal nur mit mikroskopisch genauem Blick zu erkennen - nach wie vor Merkmale früherer pathogener Beziehungsmuster aufweist.
Interaktion
Erleben
Erleben
unbewusst
- - - . . .....f - - - - - -
Interaktion
Patient
Therapeut
Abb. 2: Die vertikale Dimension subjektiven Erlebens und die horizontale Dimension der Interaktion zwischen Patient und Therapeut. Erleben und interaktives Verhalten kontextualisieren sich wechselseitig, erklären sich aber nicht auseinander. Individuelles Verhalten in Interaktion wird nicht nur von der Subjektivität des Patienten bzw. des Therapeuten bestimmt, sondern auch vom Verhalten des jeweils Anderen.
So schlagen sich auch in Beziehungsstörungen, die das klinische Bild von Patienten mit strukturellen Störungen so weitgehend bestimmen, nicht ausschließlich individuelle Erfahrungen nieder. Vielmehr sind Beziehungsstörungen immer auch - vor dem Hintergrund der spezifischen verinnerlichten Erfahrungen derer, die zueinander in einer Beziehung stehen - in einem Prozess wechselseitiger Kommunikation mit sprachlichem und nichtsprachlichem Handeln im Vollzug auf einander bezogenen sozialen HandeIns gestaltet und ausgestaltet. Sie manifestieren
sich schließlich als gestörte zwischenmenschliche Verhältnisse. Solche Beeinträchtigungen interpersoneller Kommunikation werden häufig jedoch ausschließlich
Szenische Darstellungen, Enadments und nichtsprachliches Verhalten Szenische Darstellungen bzw. Inszenierungen sind in der Therapie von Patienten mit strukturellen und mit komplexen Störungen nahezu unvermeidlich. Oft treten sie schon auf den ersten Blick zutage. Manchmal erschließen sich solche szenischen Darstellungen dem Betrachter von außen eher als dem Therapeuten, der an ihnen beteiligt ist (vgl. Klüwer 1983). Zumal im stationären Rahmen, wo meist besonders schwer gestörte Patienten behandelt werden, sind Enactments häufig. Sie können dramatischen Charakter haben, manchmal aber auch nur blande in Szene gesetzt werden, dann aber umso leichter unbemerkt bleiben.
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Szenischen Darstellungen kommt für das Verständnis der Patienten und für die therapeutische Arbeit große Bedeutung zu. In szenischen Darstellungen kann das Verhältnis des Patienten zu seiner inneren und zu seiner sozialen Welt in handelnd und mithandelnd herbeigeführten Verstrickungen und Handlungsdialogen zur Darstellung kommen. Sie führen dann etwas vor Augen, was mit den lexikalischsymbolischen Mitteln der Sprache nicht mitgeteilt werden kann (Streeck 2000). Manchmal kann das Verhalten des Patienten wie unerwünschtes Agieren erscheinen, das den Behandlungsrahmen sprengt. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich das Verhalten aber meist als eine wichtige Dimension des kommunikativen Austausches zwischen Patient und Therapeut. Dabei muss das Verhalten des Patienten nicht mit bewussten kommunikativen Absichten verbunden sein und ist es oft auch nicht. In Verbindung mit szenischen Darstellungen hat das, was der Patient mit Worten sagt, oftmals nicht in erster Linie die Funktion, etwas mitzuteilen; die Worte sollen nicht an erster Stelle inhaltliche Mitteilungen transpottieren, sondern das Gegenüber soll in bestimmter Weise mit Worten behandelt werden. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Patient zu Beschuldigungen greift oder dem Therapeuten droht oder ihn abwertet. Von besonderer Bedeutung in Zusammenhang mit Enactments ist aber nichtsprachliches, körperliches Verhalten, also das Benehmen des Patienten (Freud 1914) als Mittel, um im interaktiven Austausch mit dem Therapeuten abgespaltene Erfahrungen zur Darstellung zu bringen. In der therapeutischen Arbeit mit strukturell gestörten Patienten beschränkt sich die Kommunikation tatsächlich kaum jemals auf einen Austausch von Worten, auf sprachliche Äußerungen des Patienten und auf in Worte gefasste Interventionen .des Psychotherapeuten. Vielmehr sind mit körperlichen Mitteln nichtsprachlich ins Bild gesetzte Darstellungen eher die Regel als die Ausnahme. Manchmal vollzieht sich das therapeutische Geschehen sogar ganz überwiegend im Medium mit nichtsprachlichem Verhalten gestalteter szenischer Darstellungen. Selbst in einem so vergleichsweise »interaktionsarmen« therapeutischen Setting wie dem der Psychoanalyse kommt es zu szenischen, mit nichtsprachlichen Mitteln gestalteten Darstellurtgen. So hat beispielsweise McLaughlin (1987) im Hinblick auf die Psychoanalyse von einem »unaufhörlichen Spiel nichtsprachlicher
Strukturelle Störungen und die therapeutische Beziehung
ebenso in Worten wie im Verhalten vollzieht. Auch Jacobs (1994) hat mit Blick auf die Psychoanalyse festgestellt, dass die Bedeutung von nichtsprachlichem, körperlichem Verhalten für den therapeutischen Prozess unterschätzt werde (vgl. auch McLaughlin 1992; Mancia 2006; Ogden 1997; Pulver 1992; Schwaber 1998). Weit mehr als für Behandlungen im psychoanalytischen Couchsetting trifft das aber für Behandlungen zu, bei denen Patient und Psychotherapeut einander gegenübersitzen, und hier wiederum in besonderem Maße für die therapeutische Arbeit mit Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen. Während im analytischen Prozess die Regulierung der Interaktion von Patient und Psychoanalytiker überwiegend im Hintergrund abgewickelt wird, kann bei der Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen nichtsprachliches Verhalten über weite Strecken ein prominentes Mittel des kommunikativen Austausches und der Beziehungsregulierung sein. So ist möglicherweise auch zu erklären, dass Patienten mit strukturellen Störungen bei katamnestischen Untersuchungen auf die Frage, was sie von den Interventionen des Psychotherapeuten erinnerten, häufiger als andere Patienten Umstände erwähnen, die mit dem nichtsprachlichen Verhalten des Therapeuten zu tun haben, beispielsweise damit, wie er in der Behandlung etwas gesagt oder sich in bestimmten Situationen verhalten hat, während bestimmte Inhalte dessen, was er gesagt hat, seltener genannt werden (vgl. Ellman 1998). Kurz vor dem Ende.einer längeren Behandlung sagte eine Patientin ihrem Therapeuten, dass sie immer, wenn sie traurig war und Kummer hatte, sich seine Stimme verändert hätte, einfühlsamer und sanfter geworden sei, so dass sie sich getröstet und beruhigt gefühlt hätte. Daran knüpften sich Erinnerungen an die Zeit nach dem· Tod ihrer Mutter, als sie sieben Jahre alt war. Wenn sie abends im Bett lag und traurig war und weinte, saß der Vater manchmal lange an ihrem Bett, tröstete sie mit Worten und strich ihr über den Kopf, bis sie eingeschlafen war. Der Therapeut hatte Gelegenheit festzustellen, dass die Patientin wahrscheinlich eine zutreffende· Beobachtung gemacht hatte und dass sich sein '. Tonfall in solchen Momenten tatsächlich.veränderte. Die Patientin hatte mit ihrer bedrückten· Stimmung die Beruhigung hervorrufen können, die in solchen Momenten von der Stimme des Therapeuten ausging (Streeck 2004).
Aktivität zwischen Patient und Analytiker« gesprochen. Roughton (1993) sah.sich deshalb zu der Kritik veranlasst, dass Psychoanalytiker den Akzent einseitig auf
Angesichts der Bedeutung, die nichtsprachlichem Verhalten in Behandlungen von
die Worte legten und dabei zu leicht vergäßen, dass der, analytische Prozess sich
strukturell gestörten Patienten zukommt, gilt es, einem Missverständnis vorzu- ~
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beugen: Populärwissenschaftlich wird nichtsprachlichem, körperlichem Verhalten vor allem die Funktion zugeschrieben, seelisches Befinden zum Ausdruck zu bringen. Diese Ansicht findet sich auch in der Vorstellung einer Körpersprache wieder. Danach würde körperliches Verhalten in erster Linie etwas mitteilen und Erleben und Erfahrungen, die im mentalen Binnenraum gespeichert sind, »von innen nach außen«, aus dem seelischen Binnenbereich in die soziale Öffentlichkeit transportieren. Wäre das tatsächlich so und hätte nichtsprachliches Verhalten vor allem eine expressive Funktion, wäre jeder aufmerksame Laie in der Lage, durch Beobachtung seiner Mitmenschen viel darüber zu erfahren, was in ihnen vor sich geht. Für den Psychotherapeuten wäre viel gewonnen: Er wäre in die Lage versetzt, den seelischen Zustand seines Patienten zu erkennen, indem er dessen körperliches und gestisches Verhalten sorgfältig registriert. Im günstigsten Fall könnte er an den körperlichen Signalen des Patienten eventuell sogar komplexe psychische Dispositionen ablesen, etwa auf Objektrepräsentanzen schließen, die in der Übertragung aktualisiert werden, oder auf umschriebene Beziehungserfahrungen, die der Patient gerade wiederholt. Diese Hoffnung kann sich so jedoch nicht erfüllen. Zwar kann der Patient mit körperlichem Verhalten auch etwas n'ütteilen, was er mit Worten nicht ausdrückt oder nicht ausdrücken kann Oacobs 1994; Mahl 1977; McLaughlin 1992; Pulver 1992; Roughton 1994), etwa ein Gefühl, einen Gedanken oder eine Absicht, und körperliche Gesten können die Funktion von Vorläufern sprachlichen Ausdrucks' haben und etwas ankündigen, was erst nachfolgend sprachlich mitgeteilt wird (vgl. auch Mahl 1977) - nicht umsonst hat Jacobs (1994) nichtsprachliches Verhalten auch »avantgarde messengers« genannt. Die Funktionen körperlichen Verhaltens gehen jedoch weit dar. über hinaus und erschöpfen sich nicht darin, mentale Ereignisse auszudrücken. Vielmehr kann körperliches Verhalten auch etwas bezeichnen oder etwas beschreiben - beispielsweise können ikonische Gesten die Worte begleiten und mit dem körperlichen Verhalten darstellen, was in diesem Moment mit Worten gesagt wird; oder körperliches Verhalten kann an die Stelle von Worten treten und gestisch beschreiben, was mit Worten nicht gesagt wird; dann wieder können körperliche Handlungen als etwas gelten; aber selbst körperliche Handlungen, die für sich genommen gar nichts bedeuten, können wichtige Funktionen in der Interaktion von Patient und Psychotherapeut haben. Dafür bieten gerade Behandlungen, von strukturell gestörten Patienten reichhaltige Beispiele. Ob eine körperliche Handlung etwas symbolisiert oder anzeigt oder ob sie über~aupt keine zeichenhafte
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Handlung ist, lässt sich dem Verhalten für sich genommen nicht ansehen. Vielmehr muss die Funktion nichtsprachlichen Handelns im jeweils konkreten Fall unter Bezug auf den Kontext geklärt werden, in dem das Verhalten aufgetreten ist. Auch subtiles und flüchtiges nichtsprachliches körperliches Handeln kann im Dienst der therapeutischen Kommunikation stehen und dabei einen oft nicht bemerkten, aber dennoch erheblichen Einfluss auf die therapeutische Beziehung haben (vgl. Anstadt et al.1996; Busch 1995; Jacobs 1994; Klüwer- 1983; Levine 1994; McLaughlin 1991, 1992; Merten 1996; Ogden 1997; Sandler 1976; Steim:er-Krause 1996; Streeck 2004). Zeligs (1957), der den Begriff des »acting-in« geprägt hat, hat' im Hinblick auf nichtsprachliches Verhalten im Behandlungszimmer auch von »agierter Kommunikation« gesprochen. Der Therapeut nimmt seinerseits mit seinem nichtsprachlichen Verhalten Einfluss aufden Patienten und auf die Regulierung der therapeutischen Beziehung (z.B. Renik 1993), und auch feine Signale des Therapeuten können weit reichende Wirkung auf den Patienten nach sich ziehen. Sprachliches Handeln einerseits und nichtsprachliches Verhalten andererseits sind gewöhnlich ' zusammengehörige Teilaspekte von Äußerungen, die sich wechselseitig interpretieren '(Kendon 1990; 1994; Goodwin, Goodwin 1992). Sie kommunizieren nicht verschiedene Inhalte, sondern sind Teil umfassenderer kommunikativer Handlungen und Handlungsintentionen. In psychotherapeutischen Behandlungen fällt der »Austausch von Worten« in einen stetigen Fluss nichtsprachlichen körperlichen Handelns, in einen »steady damor of nonverbal communication between the pair« (McLaughlin 1991, S. 598). Für die Therapie von Patienten mit basalen strukturellen Störungen der Persönlichkeitsorgan isation bedeutet das, dass sich die Aufmerksamkeit des Therapeuten nicht allein auf die inhaltlichen Mitteilungen des Patienten richten sollte. Vielmehr muss der Therapeut mehr als sonst auch für die Art und Weise aufmerksam sein, wie der Patient sich äußert und welche nichtsprachlichen Mittel er verwendet, für die mehr oder weniger feinen Signale, flüchtigen Gesten und körperlichen Positionierungen. Er muss sich darüber hinaus dessen bewusst sein, dass auch seine eigene Art und Weise, sich ·z u äußern und nichtsprachliche Mittel einzusetzen, etwa die ' Prosodie seines Sprechens, die Art seines Schweigens. oder sein körperliches Verhalten, das seine Worte begleitet, unvermeidlich seinen Patienten beeinflusst. Darum kann der Therapeut nicht auf das Verhalten des Patienten hinzeigen und sagen, welche Bedeutung dem Verhalten zu eigen ist - nichtsprachliches Verhalten ~
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hat kaum jemals eine vorab definierte, feste Bedeutung. Oftmals erschließt sich die Funktion körperlichen und gestischen Verhaltens erst im Nachhinein, wenn das interaktive Geschehen zwischen Patient und Psychotherapeut retrospektiv untersucht wird. Auch im Hinblick auf sein eigenes nichtsprachliches Verhalten, auf das er im kommunikativen Austausch mit dem Patienten zurückgreift, kann der Therapeut nicht schon vorher sagen, welche Funktion damit einher gehen und was sein Verhalten für den Patienten bedeuten wird. Er kommt deshalb nicht umhin, sich vom nichtsprachlichen Handeln seines Patienten affizieren zu lassen, sich dessen Wirkung auszusetzen und selbst vorab unverstandene kommunikative Mittel zu verwenden. Gelegentlich kann es bei der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen dazu kommen, dass das nichtsprachliche Handeln des Patienten die Regulierung der therapeutischen Beziehung nachhaltig erschwert und der therapeutische Dialog zu entgleisen droht. So kann es sein, dass ein Patient auf nichtsprachliches Verhalten des Therapeuten hin, das üblicherweise geeignet ist, zu näherem Kontakt zu führen, mit vergleichsweise drastischem, Distanz vergrößerndem Verhalten reagiert. Solche Reaktionen können zu erheblichen Irritationen auf Seiten des Therapeuten führen, zumal dann, wenn deren »interaktive Logik« unerkannt bleibt, was den Patienten unter Umständen zu weiterem und nachdrücklicherem abweisendem Handeln veranlasst. Wenn das nicht erkannt wird, droht in der Folge der Dialog zu entgleisen (Spitz 1974).
Soziale Ängste und die therapeutische Beziehung
Weil soziale Ängste bei strukturellen und komplexen Störungen so häufig sind, und wegen der oft weit reichenden interpersonellen Probleme, die damit einhergehen, verlangen auch die sozialen Ängste der Patienten und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen in sozialer Interaktion besondere Aufmerksamkeit in der Behandlung. Fortschritte in der Therapie, die sich darin manifestieren, dass der Patient psychisch stabiler geworden ist, gewährleisten noch nicht, dass der Patient auch neue Möglichkeiten gewonnen hat, um in befriedigender Weise am sozialen Leben teilnehmen und mit Anderen interagieren zu können. Im Gegenteil kommt es bei Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen häufiger vor, dass ihre psychischen Symptome sich nach einer Behandlung weitgehend gebessert haben, ihre sozialen Ängste und das damit verbundene Vermeidungsver-
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halten jedoch fortbestehen. Die Erwartung, dass sich soziale Ängste gleichsam von selbst auflösen, soweit nur die zu Grunde liegenden psychischen Konflikte und Probleme therapeutisch effektiv bearbeitet wurden, kann sich deshalb als fataler Irrtum erweisen. Im ungünstigen Fall kann die Behandlung misslingen, wenn ein Patient zwar viel über sich nachgedacht und viel über sich erfahren hat, seine persistierenden Ängste vor dem Zusammensein mit Anderen ihn aber weiterhin daran hindern, am sozialen Leben teilzunehmen. In besonderen Fällen kann es angezeigt sein, den therapeutischen Fokus primär auf die sozialen Ängste zu legen und erst in späteren Schritten auf die weiteren psychischen Beeinträchtigungen des strukturell gestörten Patienten zu fokussieren. Eine junge Frau war in stationäre Behandlung gekommen, weil sie nicht mehr in der Lage war, ihr Studium fortzuführen und darüber suizidal geworden war. Im Alter von 20 Jahren hatte sie eine psychoanalytische Behandlung begonnen, die vier Jahre lang dauerte und von der sie viel profitiert hatte. Anders als Patienten mit schweren strukturellen Störungen konnte die Patientin über sich nachdenken, hatte sich im Verlauf ihrer Behandlung an viele frühere Erfahrungen erinnert und hatte verstanden, wie die Vergangenheit ihre Entwicklung beeinflusst und beeinträchtigt hatte. Nach Beendigung der Therapie war sie jedoch übermäßig scheu geblieben, unverändert ängstlich, zu Anderen Kontakt aufzunehmen, lebte weiterhin zurückgezogen und schämte sich dafür, dass sie bisher keinen Freund hatte. Erst nach Abschluss der Therapie, die wahrscheinlich auch ein Ersatz für Beziehungen zu Anderen gewesen war, wurde ihr das ganze Ausmaß ihrer sozial isolierten Situation und deren Folgen deutlich. Die basale Selbststörung, aufgrund derer sie von tiefer Scham erfüllt war und von Angst ergriffen wurde, sobald in Aussicht stand, dass sie mit mehreren Anderen würde zusammentreffen können, war in der dyadischen therapeutischen Situation nicht aufgefallen und nicht zum Gegenstand der Behandlung geworden. Selten werden Patienten, bei denen soziale Ängste ein gravierendes Ausmaß angenommen haben, gruppentherapeutisch behandelt. Zumal die Patienten selber halten es angesichts ihrer Ängste vor dem Urteil Anderer oftmals für unvorstellbar, an einer Therapie teilzunehmen, die mit der Anwesenheit mehrerer Anderer verbunden ist. Gelegentlich teilen Psychotherapeuten diese Auffassung. Tatsächlich aber kann ein gruppentherapeutisches Setting, in dem in besonderem Maße die ~
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Möglichkeit besteht, die Aufmerksamkeit bei der therapeutischen Arbeit sowohl auf den individuellen psychodynamischen Hintergrund der Störung des Patienten als auch auf das interaktive Geschehen und das Verhalten des Patienten im Kontext des Verhaltens von Anderen zu legen, besonders effektiv für die Behandlung von Patienten mit sozialen Ängsten sein, wenn dabei bestimmte Umstände im Hinblick auf die Gestaltung der therapeutischen Kommunikation und die Handhabung der therapeutischen Beziehung beachtet werden.
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
Bemühungen, psychoanalytische Konzepte und Behandlungstechniken zu modifizieren, um sie für die Behandlung von strukturell gestörten Patienten nutzen zu können, wurden oft skeptisch betrachtet. Viele Psychiater standen der Psychoanalyse ablehnend gegenüber, und in der psychoanalytic community galten ModifIkationen psychoanalytischer Konzepte und Techniken mancherorts als fragwürdig oder wurden gar als Verrat an der Psychoanalyse kritisiert. Psychoanalytiker, die sich solcher Versuche »schuldig« machten, wurden - wie Mentzos (2005) beschreibt - als »Abweichler« abgewertet. Erschwerend kam hinzu, dass die Behandlung von Patienten mit schweren strukturellen Störungen meist unter stationären Bedingungen erfolgen oder zumindest eingeleitet werden und Konzepte und Behandlungstechniken der Psychoanalyse deshalb auf die besonderen Bedingungen des Krankenhauses abgestimmt werden mussten. Statt sich der Aufgabe zu stellen, schwer beeinträchtigten Patienten psychotherapeutische Hilfe zukommen zu lassen, wurden in fachlichen Auseinandersetzungen methodische Fragen in den Vordergrund gestellt. Ob bestimmte ModifIkationen noch mit einer »richtigen Psychoanalyse« zu vereinbaren seien oder nicht, erschien dann manchmal wichtiger als Lösungen für dringende klinische Probleme zu fmden. Wenige Psychoanalytiker machten den Versuch, Konzepte und therapeutische Techniken der Psychoanalyse mehr oder weniger unverändert in das stationäre Behandlungssetting zu übernehmen. Dabei blieben psychoanalytische Essentials zwar mehr oder weniger gewahrt, die institutionellen und sozialen Bedingungen des stationären Rahmens wurden dabei jedoch ebenso wenig in Rechnung gestellt wie die besondere Psychopathologie der strukturell gestörten Patienten. Im Extremfall wurde auf komplexe soziale Situationen in ähnlicher Weise Bezug genommen wie auf das psychoanalytische Behandlungssetting. So wurden mancherorts Visiten oder Stationsversammlungen unter Abstinenz- und Neutralitätsgeboten gestaltet, und das Handeln der Patienten wurde ausschließlich aus je individuellen unbewussten psychischen Konflikten erklärt, nicht aber auf die sozialen und ins~
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5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
titutionellen Bedingungen bezogen, in die es eingebettet war. Statt die Konzepte der Psychoanalyse den besonderen klinischen und institutionellen Umständen anzupassen, wurden Patienten danach ausgesucht, ob sie von psychoanalytischen Konzepten Gebrauch machen konnten oder nicht. Vor diesem Hintergrund schlugen Heigl und Heigl-Evers, die sich unter anderem mit der Entwicklung von Gruppentherapie auf psychoanalytischer Grundlage intensiv beschäftigt hatten, weitgehende konzeptuelle und behandlungstechnische Modifikationen für die therapeutische Arbeit mit strukturell gestörten Patienten vor. Diese Modifikationen wurden schließlich als psychoanalytisch-interaktionelle Therapie zu einer eigenständigen Methode zusammengefasst, ähnlich wie andere, in späteren Jahren aus der Psychoanalyse entwickelte psychodynamische Methoden, etwa die übertragungsfokussierte Psychotherapie (Clarkin et al. 2001) oder die Mentalization Based Treatment von Bateman und Fonagy (2004). Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie ist anders als die Psychoanalyse auf Progression hin orientiert, nicht darauf, Regression zu fÖFdern. Die deutlichsten Unterschiede der psychoanalytisch-interaktionellen Modifikationen gegenüber der Psychoanalyse betreffen jedoch die Haltung des Therapeuten und die Art und Weise, wie das therapeutische Gespräch mit dem Patienten geführt wird. Dabei ist die therapeutische Arbeit in besonderem Maße auf die soziale Lebenswelt des Patienten ausgerichtet und auf die vielfältigen psychischen und interpersonellen Voraussetzungen, die erforderlich sind, um reziproke Beziehungen zu gestalten. Der Therapeut ist im Dialog mit dem Patienten ausdrücklich immer auch Teilnehmer und gibt auch eigenes Erleben und eigene Gefühle zu erkennen, dies jedoch nach therapeutischen Maßgaben immer nur selektiv. Dabei nimmt er in spezifischer Weise zugleich auf Affekte und deren Ausdruck Bezug, fokus.siert seine Aufmerksamkeit auch auf nichtsprachliches Verhalten als Mittel der Kommunikation und der Interaktionsregulierung und verzichtet vor allen Dingen darauf, die Mitteilungen des Patienten auf unbewussten Sinn hin zu deuten. Statt Deutungen sind die spezifischen Mittel seines kommunikativen Verhaltens bzw. seines Interventionsstils hier »Antworten«. Diese vergleichsweise weitreichenden Modifikationen ließen es gerechtfertigt erscheinen, von einer eigenständigen therapeutischen Methode zu sprechen. Dabei sollte die Bezeichnung »psychoanalytisch-interaktionell« sowohl die Verankerung in der Psychoanalyse kenntlich machen, als auch zum Ausdruck bringen, dass es sich nicht um Psychoanalyse handelte, sondern um eine therapeutische
Zur Geschichte der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie
Methode, bei der nachdrücklicher, als das zu der damaligen Zeit in der Psychoanalyse der Fall war, der Bereich des »Zwischen«, des interpersonellen, interaktiven Geschehens zwischen Patient und Psychotherapeut im Vordergrund steht. Heute ist Interaktion für die Psychoanalyse, insbesondere für deren relationale Variante (Mitchell2003; vgl. Altmeyer, Thomä 2006), ein zentrales Thema, geworden (vgl. Blatt et al. 2005; Jones 1997). Für, Psychoanalytiker, die einer relationalen oder interpersonellen Psychoanalyse verbunden sind, ist alles Geschehen im Behandlungszimmer durchweg von Patient und Psychoanalytiker co-produziert. Für die Psychoanalyse, auch für eine relationale Psychoanalyse steht allerdings als Ziel im Vordergrund, Unbewusstes bewusst zu machen, während für die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie die Teilnahme des Patienten am sozialen Leben im Mittelpunkt der therapeutischen Aufmerksamkeit steht.
Zur Geschichte der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie Bei ihrer therapeutischen Arbeit mit Patienten, die aufgrund der Schwere ihrer Beeinträchtigungen unter stationären Bedingungen behandelt werden mussten, hatten Annelise Heigl-Evers und Franz Heigl, die seit Ende der. 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts als Psychoanalytiker in der Klinik Tiefenbrunn bei Göttingen tätig waren, ähnlich wie andere Psychoanalytiker zu jener Zeit die Erfahrung machen müssen, dass Theorien und Konzepte der Psychoanalyse für·das Verständnis dieser Patienten zwar hilfreich, psychoanalytische Techniken für deren Behandlung aber nur sehr begrenzt geeignet waren. Die Klinik Tiefenbrunn als Krankenhaus in staatlicher Trägerschaft hatte die Aufgabe, komplementär zu den übrigen psychiatrischen Landeskrankenhäusern für Patientengruppen, die ambulant nicht behandelt werden konnten, die auf der anderen Seite aber auch nicht oder nicht mehr in geschlossenen Abteilungen untergebracht sein mussten, therapeutische Konzepte mit dem Schwerpunkt auf psychotherapeutischen Ansätzen zu entwickeln und entsprechende Behandlungsmöglichkeiten bereit zu stellen. Die Patienten, denen Heigl und Heigl-Evers in der Klinik begegneten, unterschieden sich in der Art und im Ausmaß ihrer Beeinträchtigungen meist deutlich von denen, die ihnen aus der psychoanalytischen Praxis vertraut waren. Sie waren in ausbeuterische Abhängigkeiten verstrickt, verachteten und hassten sich selbst und verhielten sich Anderen gegenüber ·abwertend, missachtend und manch... mal gewalttätig. Oft nahmen sie nur noch eingeschränkt am sozialen Leben teil. ...
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5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
Zur Geschichte der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie
Nicht wenige griffen ein ums andere Mal zu selbstschädigendem und selbstge-
Bei der Weiterentwicklung der psychoanalytisch-interaktionellen Methode
fahrdendem Verhalten, konnten sich oft nur mit Hilfe von Alkohol oder Medi-
in den folgenden Jahren standen die spezifische Art der Handhabung und Re-
kamenten selbst regulieren oder gerieten mit anderen Menschen ein ums andere Mal in destruktive Auseinandersetzungen. Viele waren bereits als Kinder auffällig
gulierung der therapeutischen Beziehung von Patient und Therapeut sowie die besonderen Mittel und Wege, ihren »Austausch von Worten« und damit die the-
gewesen. Häufig waren die Patienten nur mühsam in der Lage, ihr Verhalten über
rapeutische Beziehung zu gestalten, im Vordergrund. Das beinhaltete vor allem
längere Zeit hinweg zumindest so weit zu steuern, dass ihre Unterbringung unter
einen spezifischen Modus der therapeutischen Kommunikation mit strukturell
geschlossenen Bedingungen vermieden werden konnte. Viele dieser Patienten, die
gestörten Patienten , der deutlich von der Art des Psychoanalytikers abwich, den Mitteilungen seines Patienten mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zuzuhören
zur stationären Behandlung kamen, galten als nicht behandelbar; auch mit den bis dahin entwickelten psychoanalytisch ausgerichteten Behandlungsmethoden waren sie nicht erreichbar. Auf diesem Hintergrund wurden in der Klinik Tiefenbrunn bereits Anfang der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts intensive Anstrengungen unternommen, psychodynamisch orientierte Behandlungsmöglichkeiten auf dem Boden psychoanalytischer Erfahrungen und Konzepte für diese schwierigen und schwer zu
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und den vermuteten unbewussten Sinn von dessen Äußerungen in Deutungen zum Ausdruck zu bringen. Zudem wurde das Schwergewicht nachdrücklich auf das wechselseitige kommunikative Handeln und die therapeutische Beziehung gelegt, die dadurch hergestellt und aufrecht erhalten wird. Nicht der regelgerechten Durchführung einer kanonisierten Methode, die an strukturell gestörten Patienten ausgeführt wird, galt das Bestreben, sondern einer jederzeit flexiblen,
behandelnden Patientengruppen zu entwickeln (vgl. Kühne1 1952). Für Heigl
förderlichen Gestaltung des kommunikativen und interaktiven Austausches und
und Heigl-Evers war dabei die Frage zentral, wie mit diesen Patienten trotz aller Einschränkungen hilfreiche therapeutische Beziehungen hergestellt und den Pa-
der therapeutischen Beziehung. Der therapeutische Stil, der die psychoanalytisch-interaktionelle Methode
tienten in therapeutischen Prozessen, die an einem psychodynamischen Krank-
kennzeichnet, hat sich seit mehreren Jahrzehnten als eine effektive psychodyna-
heits- und Symptomverständnis orientiert waren, zu so viel psychischer Stabilität
misch orientierte Arbeitsweise mit einem breiten klinischen Anwendungsbereich
verholfen werden könnte, dass sie zumindest den alltäglichen Realitätsanforde-
bewährt. Die Methode wird in der Behandlung von Patienten mit strukturellen
rungen ausreichend nachkommen und gegebenenfalls unter ambulanten Bedingungen weiterbehandelt werden könnten.
und komplexen Störungen und mit schweren Persönlichkeitsstörungen sowohl als
Ausgehend von dem Modell der klassischen Psychoanalyse konnten Heigl und Heigl-Evers mit den teilweise weit reichenden Veränderungen gegenüber der psy-
Entwicklungsorientierung weist das psychoanalytisch-interaktionelle Vorgehen Verwandtschaft mit psychotherapeutischen Ansätzen auf, die in der Kinder- und
,choanalytischen Behandlungstechnik, die sie vorschlugen, an Arbeiten anknüp-
Jugendlichenpsychotherapie unter dem Begriff »entwicklungsorientierte Psycho-
fen, die in der Geschichte der Psychoanalyse weit zurückreichten. Insbesondere stützten sie sich auf Arbeiten von Sandor Ferenczi, Anna Freud, Otto Fenichel,
therapie« zusammengefasst ~erden (vgl. Streeck-Fischer 2006, S. 207 ff.). Die
Michael Balint, Heinz Hartmann, Leopold Bellak, Gertrude und Rubin Blanck,
in der stationären Krankenversorgung und sowohl im psychotherapeutischen wie
aber auch von Paula Heimann, Heinrich Racker, John Bowlby und Donald
im psychiatrischen Bereich verankert. Darüber hinaus wurden die psychoanaly-
Woods Winnicott sowie Heinz Kohut und schließlich Otto Kernberg, dessen erste
tisch-interaktionellen Mittel auch für Kriseninterventionen, als Kurzzeitverfahren
Veröffentlichungen über Persönlichkeitsstörungen bald nach den ersten Arbeiten
und im Beratungsbereich eingesetzt und finden nicht zuletzt bei der Behandlung
von Heigl-Evers und Heigl zur psychoanalytisch-interaktionellen Therapie auch
von Suchtkranken (z. B. Heigl-Evers et al. 1993; Gantner 1999), in forensischen
Gruppen- wie als Einzeltherapie durchgeführt (Heigl-Evers, Ott 2000). In seiner
psychoanalytisch-interaktionelle Arbeitsweise ist sowohl in der ambulanten wie
in Deutschland erschienen und weithin bekannt wurden, und die in mehrfacher
Kliniken und gelegentlich auch bei der sozial therapeutischen Arbeit mit Klienten
Hinsicht vergleichbare klinische Erfahrungen reflektierten (vgl. Heigl-Evers u.
in entsprechend ausgerichteten Institutionen des Strafvollzugs Anwendung. Als
Heig11983; Heigl-Evers et al. 1993; Heigl-Evers, Nitzsc~ke 2002).
Gruppentherapie dürfte die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie - zumin- ~
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5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
dest in der stationären psychotherapeutischen Versorgung - heute zu den am weitesten verbreiteten Verfahren für die Behandlung von Patienten mit strukturellen Storungen und schweren Persönlichkeitsstörungen gehören.
Progression statt Regression
Die meisten Kliniker, die über einschlägige Erfahrungen mit der Behandlung von Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen verfügen, stimmen darin überein, dass die Therapie auf Progression hin angelegt sein sollte (Fürstenau 1977). Psychoanalytische Behandlungen fördern regressives Erleben; der Patient kehrt in der Behandlung psychisch gleichsam zu den Fixierungsstellen zurück, die seine neurotischen Konflikte unterhalten, und bewegt sich in der therapeutischen Situation vorübergehend auf einem lebensgeschichtlich früheren psychischen Struktur- und Funktionsniveau, um kurz darauf auf das entwickeltere Funktionsniveau zurückzukehren, das sein Erleben und Verhalten im Alltag überwiegend bestimmt. Über den Weg regressiven Erlebens kann der Patient in der Behandlung Verbindungen zu abgespaltenen Selbstanteilen wiedergewinnen (Modell 1990). Der flexible Wechsel zwischen Regression und Rückkehr auf das reifere psychische Ausgangsniveau ist strukturell gestörten Patienten verstellt. Weil sich ihre psychischen Funktionen und Strukturen gleichsam dauerhaft auf einem niedrigen regressiven Niveau bewegen, ist eine weitere regressive Bewegung nicht nur therapeutisch nicht nützlich, sondern kann den Patienten sogar gefährden. Mit der Therapie müssen nicht unter der Oberfläche verborgene Fixierungen aufgespürt und Verbindungen zu abgespaltenen Selbstanteilen wieder hergestellt werden, sondern weil das Selbst und andere psychische Strukturen und Funktionen ~icht ausreichend entwickelt werden konnten, muss gleichsam - ausgehend von vorhandenen Inseln ,- Land neu hinzu gewonnen werden. Die auf Progression hin angelegte psychoanalytisch-interaktionelle Behandlung von Patienten mit strukturellen und komplexen, von sozialen Ängsten begleiteten Störungen ist deshalb - pointiert ausgedrückt - sowohl Psychotherapie, wenn man unter Psychotherapie vornehmlich die Behandlung seelischer Verhältnisse versteht, als auch und vor allem eine Therapie von interpersonellen Verhältnissen, also von Beziehungen.
Die therapeutische Arbeitsweise
Die therapeutische Arbeitsweise Psychotherapeuten wissen, dass die Behandlung mit dem ersten Kontakt zwischen Patient und Psychotherapeut beginnt, lange vor Beginn der Therapie im engeren Sinn. Was in der Vorbereitung auf die nachfolgende Behandlung geschieht, ist nicht von zweitrangiger Bedeutung, sondern stellt ein entscheidendes konstitutives Element für das nachfolgende Geschehen dar.
Vor Beginn der Behandlung Diagnose und Indikationsstellung machen den einen Teil der Arbeit des Psychotherapeuten aus, der jeder Behandlung vorangeht. Der andere, nicht minder wichtige Teil betrifft die Aufklärung des Patienten und die vorbereitenden Vereinbarungen, die als Rahmenbedingungen unabdingbare Voraussetzung für die in Aussicht genommene Therapie sind. Beides erfordert Zeit, die angesichts des zeitlichen Drucks, unter dem psychotherapeutische Behandlungen heute oft durchgeführt werden müssen, vor allem im stationären Bereich, oftmals nicht erübrigt wird - mit höchst nachteiligen Folgen für die Therapie.
Die Zeit für die Vorbereitung des Patienten
Für Behandlungen im stationären Rahmen stehen oft nur wenige Wochen zur Verfügung. Weil die Behandlung möglichst unverzüglich nach der Aufnahme des Patienten beginnen soll, kann es leicht dazu kommen, dass vorbereitende Schritte, die für die Indikationsstellung und die Vorbereitung des Patienten auf die Therapie erforderlich sind, zu kurz kommen. Kaum in der Klinik angekommen, wird der Patient nach einem ersten kurzen ' Gespräch therapeutischen Aktivitäten zugewiesen. Diagnostische Untersuchungen bleiben flüchtig, und die Behandlung wird nicht auf die spezifische Problematik des Patienten und seine -individuellen Besonderheiten abgestimmt, sondern als therapeutisches Standardprogramm unabhängig von diagnostischen Überlegungen in für alle Patienten mehr oder weniger gleicher Weise durchgeführt. Manchmal unterbleibt die Vorbereitung des Patienten auf die bevorstehende therapeutische Arbeit ganz, oder sie beschränkt
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104 5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie sich darauf, dass dem Patienten ein Informationsblatt ausgehändigt wird, dem er entnehmen soll, wie die therapeutische Arbeit erfolgt. Was der Zeitersparnis dienen und der Therapie zu Gute kommen soll, verkehrt sich in Wirklichkeit ins Gegenteil. In besonders krasser Weise erweist sich das manchmal an der Gruppentherapie. Obwohl Gruppentherapie ein höchst effektives therapeutisches Mittel sein kann, ziehen die Patienten unter Umständen nur wenig Nutzen daraus. Sie wissen nicht, welchen Sinn die Therapie in der Gruppe haben soll, weil sie vor Beginn nichts darüber erfahren haben. Sie haben keine Vorstellung davon, wie sie sich in der Gruppe verhalten sollen, weil sie sich mit dem Gruppentherapeuten darüber nicht eingehend haben verständigen können. Sie haben keine halbwegs klaren Ziele für die gruppentherapeutische Arbeit, auf die hin sie das Geschehen in der Gruppe und ihre eigene Beteiligung mitgestalten könnten, weil ein ausreichend ausführliches vorbereitendes Gespräch, in dem Möglichkeiten und Grenzen gruppentherapeutischer Arbeit erwogen, Fragen beantwortet und Unklarheiten ausgeräumt worden wären, nicht stattgefunden hat. Der Therapeut kann sich nicht auf Vereinbarungen mit dem Patienten stützen, weil keine verlässlichen Absprachen über Voraussetzungen und Bedingungen der Therapie getroffen wurden. So fehlt für beide, Patient und Therapeut, ein verlässlicher Rahmen, an dem sie sich orientieren könnten, weil darüber nicht verhandelt und höchstens nebenher gesprochen wurde. In psychiatrischen Kliniken kann es angesichts der verbreiteten Hektik des Routinebetriebes leicht dazu kommen, dass die therapeutischen Aktivitäten, an denen der Patient teilnehmen soll,_mit der gleichen Haltung an den Patienten herangetragen werden wie ein Medikament, das eingenommen werden soll: Man sagt dem Patienten, dass er »da mal mitmachen« möge, weil ihm das sicher gut tue. Manchmal dokumentiert sich in weitgehend auf Biologie ausgerichteten psychiatrischen Abteilungen eine wenig wertschätzende Einstellung gegenüber psychotherapeutischen Aktivitäten auch darin, dass die Räumlichkeiten, die dafür zur Verfügung gestellt werden, insbesondere Räume für Gruppentherapie, weit davon entfernt sind, ausreichend geschützte Bedingungen für die für Patienten ebenso
Vor Beginn der Behandlung
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kommt in der Art des Umgangs mit der ins Auge gefassten psychotherapeutischen Behandlung - gleichsam zwischen den Zeilen - für die Patienten erfahrbar zum Ausdruck, dass andere Mittel der Behandlung als wichtiger gelten. Eine beiläufige Bemerkung bei einer Visite, die eine geringschätzige Haltung gegenüber der Gruppentherapie zum Ausdruck bringt, kann die therapeutische Arbeit von Wochen zunichte machen, etwa wenn der Oberarzt den Patienten - unter Umständen in Gegenwart des Gruppentherapeuten - fragt, ob ihm »das denn was bringt, wenn da nur geredet« wird. Nicht nur haben die Patienten meist ein gutes Gespür dafür, welche Bedeutung den verschiedenen therapeutischen Maßnahmen von »offizieller« Seite beigemessen wird, sondern Kliniken, Abteilungen und Stationen in Krankenhäusern haben auch eine eigene Kultur oder Subkultur, in der in vielen sichtbaren und hörbaren Zeichen und Verrichtungen dokumentiert ist, wie über die Aktivitäten gedacht wird, die dort Teil des therapeutischen Alltags sind. Um den Patienten auf die Therapie vorzubereiten, muss - gleich, ob die Behandlung ambulant oder im stationären Rahmen durchgeführt wird - ausreichend Zeit zur Verfügung stehen. Es genügt nicht, dem Patienten nur Informationen zu der bevorstehenden Therapie an die Hand zu geben. Insbesondere schriftlich festgehaltene Informationen können allenfalls ein Hilfsmittel sein, die die Aufklärung des Patienten im Gespräch ergänzen. Damit der Patient von den therapeutischen Angeboten in nützlicher Weise Gebrauch machen kann, muss der Austausch darüber, was ihn in der Therapie erwartet und was von ihm erwartet wird, ausreichend ausführlich sein. Der Therapeut muss auf der Grundlage sorgfältiger diagnostischer Überlegungen mit dem Patienten zu einem gemeinsamen Verständnis von der vor ihnen liegenden therapeutischen Arbeit kommen, sich mit ihm über das »Wie« der therapeutischen Kooperation verständigen, gemeinsame Ziele für die Behandlung ins Auge fassen und so die Grundlage für eine therapeutische Beziehung etablieren, auf deren Hintergrund die gemeinsamen Bemühungen potentiell zum Erfolg führen können. Das kostet Zeit, meist mindestens die Zeit einer therapeutischen Sitzung, bei manchen Patienten auch mehr. Was angesichts der oft eng begrenzten stationären Aufenthaltsdauer auf den ersten Blick nach einem unverhältnismäßig hohen Zeitaufwand aussehen mag, erweist sich letztlich als Gewinn: Die Zeit, die für die
wie für Therapeuten belastende und fordernde Arbeit sicherzustellen. Auch der zeitliche Rahmen, der für die psychotherapeutische Arbeit erübrigt wird, kann auf solche Geringschätzung hinweisen: Für die Gruppentherapie verabredete Zeiten werden willkürlich verschoben, anderen therapeutischen Maßnahmen wird Prio-
Aufklärung des Patienten und für die Verabredung von Rahmenbedingungen aufgewendet werden muss, wird dadurch mehr als wettgemacht, dass die Therapie
rität eingeräumt. Auch wenn das mit keinem Wort ausd~ücklich so gesagt wird,
weitaus effektiver oder überhaupt erst unter der Voraussetzung effektiv ist, dass ~
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5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
die Umstände und Voraussetzungen der bevorstehenden Behandlung ausreichend
Vor Beginn der Behandlung
Methoden eingesetzt werden. Solchen Patienten ist die Diagnose, die der Psy-
gründlich besprochen wurden. Umgekehrt stellt sich spätestens nach Beendigung
chotherapeut stellt, meist nicht sonderlich wichtig. Sie wollen vielleicht wissen,
der Behandlung heraus, dass deren Nutzen für den Patienten gering war, wenn für die diagnostischen Untersuchungen und die Vorbereitungen auf die Therapie vor
wie der Psychotherapeut ihre Beeinträchtigungen versteht, nicht aber, welches diagnostische Etikett er dafür bereithält. Andere Patienten, die über psychische
deren Beginn kaum Zeit zur Verfügung gestanden hat.
Beeinträchtigungen und Störungen wenig wissen und die mit der Erwartung zum Psychotherapeuten oder Psychiater kommen, dort ähnliche Bedingungen anzutreffen wie bei einem Arzt, den sie wegen körperlicher Beschwerden aufsuchen,
Zur Aufklärung des Patienten Der Arzt ist dazu verpflichtet, seinen Patienten über die Behandlung aufzuklären,
stellen dem Psychotherapeuten manchmal ähnliche Fragen wie die, die sie dort stellen würden: Sie möchten wissen, was sie haben und wie die Diagnose lautet,
bevor die Behandlung beginnt. Tut er das nicht, macht er sich einer Unterlassung
die der Therapeut gestellt hat, sie wollen erfahren, ob sie eine Depression haben
schuldig. In der Psychotherapie wird der Aufklärung des Patienten über seine
oder eine Psychose oder ob sie vielleicht ein »Borderliner« sind, worüber sie im
Krankheit und über die geplante Behandlung manchmal kein großes Gewicht bei-
Internet so viel gelesen haben. Auch wenn die Diagnose in der Psychotherapie, zumal die auf der Grundla-
gemessen. Der Therapeut sagt dem Patienten nicht, wie er dessen seelischen Zustand einschätzt und die Beschwerden versteht. Manchmal fragen Patienten den
ge der IeD gestellte Diagnose, wenig aussagekräftig ist, ist es für Patienten mit
erhalten sie auf ihre Fragen klare Antworten, und nicht selten reagieren Psycho-
strukturellen Störungen oft aus mehreren Gründen wichtig zu erfahren, welche Diagnose der Therapeut gestellt hat. Allein die Tatsache, dass es für die eigenen
therapeuten auf die Frage des Patienten nach der Diagnose mit einer Gegenfrage
Beeinträchtigungen einen Namen gibt und dass ganz offenkundig nicht nur sie
und fordern den Patienten auf, sich damit zu beschäftigen, welche Bedeutung es für ihn hat, die Diagnose wissen zu wollen. Fragen des Patienten mit einer
allein davon betroffen sind, kann beruhigend wirken und dadurch eine wichtige unterstützende Funktion haben. Andere Patienten wollen die Diagnose erfahren,
Gegenfrage zu beantworten, mag - soweit dieses Verhalten nicht zu einem Stere-
weil ihnen die Vorstellung schwer erträglich ist, dass der Therapeut eine Meinung
otyp gerinnt - innerhalb einer Behandlung durchaus sinnvoll sein, setzt allerdings voraus, dass diese Art der therapeutischen Kommunikation und der Kooperation zuvor mit dem Patienten verabredet wurde. Antwortet der Therapeut jedoch mit
über sie hat und möglicherweise über ein Wissen zu ihrer Person verfügt, das ihnen selbst nicht zugänglich ist. Ihre Angst, durchschaut zu werden oder sich ausgeliefert fühlen zu müssen, kann überwältigend sein und lässt sich durch verstehende
einer Gegenfrage, die den Patienten zur Klärung des unbewussten Sinns seiner
Interventionen kaum jemals mildern. Sind sie erst einmal davon überzeugt, dass
~rage
der Therapeut etwas über sie weiß, was sie von sich selber nicht wissen, kann es sein, dass das Bemühen des Therapeuten, diese Angst nur zu verstehen, statt ihre
Therapeuten und wollen wissen, welche Diagnose er gestellt" hat. Nicht immer
auffordert, noch bevor Vereinbarungen über die ins Auge gefasste Behand-
lung getroffen wurden, verhält der Therapeut sich zumindest grob unhöflich und überschreitet mit seinem Verhalten eine Grenze. Der Patient wird eingeschüchtert und mit der unausgesprochenen Erwartung konfrontiert, Fragen zu unterlassen (Thomä, Kächele 1985).
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Frage zu beantworten, die Befürchtungen noch verstärkt, weil die Patienten darin nur einen weiteren Grund für ihre Angst vor Abhängigkeit sehen können. In der Arbeit mit strukturell gestörten Patienten sollte der Psychotherapeut nach Beendigung der Diagnostik dem Patienten mitteilen, dass seine Untersuchungen
Aufklärung über die Diagnose
abgeschlossen sind, und ihn ausführlich darüber informieren, zu welchem Ergebnis er gekommen ist und wie seine weiteren Überlegungen im Hinblick auf eine
Manche Patienten wissen, dass eine Diagnose auf dem Gebiet der Psychotherapie
Behandlung aussehen. Auch das bedarf meist einiger Zeit und sollte nicht wie
oft nicht viel mehr ist als ein abstraktes Kürzel, und sie sind gut darüber in-
nebenher erfolgen. Vielmehr sollte der Psychotherapeut den Patienten ausführlich darüber informieren, wie er die Beschwerden und Beeinträchtigungen versteht,
formiert, dass auch bei gleichen Qiagnosen ganz unterschiedliche therapeutische
~
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Vor Beginn der Behandlung 109
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
welche Umstände seines Erachtens dazu geführt haben und welche aktuellen Be-
desto eher wird der Patient sich seinerseits auf die gemeinsame Unternehmung
dingungen daran beteiligt sind, die Beeinträchtigungen aufrechtzuerhalten. Auf di'ese Weise ermöglicht der Psychotherapeut dem Patienten nachzuvollziehen, wie
einlassen und Verständnis für sich selbst aufbringen können (vgl. Luborsky, Crits-
er über ihn denkt und welche therapeutische Unterstützung er für möglich hält. Nicht alle Patienten fragen den Psychotherapeuten danach, zu welchen Erkerintnissen er aufgrund der diagnostischen Gespräche und Untersuchungen gelangt ist. Sie erleben den Therapeuten als eine übermächtige Autorität, die sie einschüchtert, und wagen deshalb nicht, Fragen zu stellen, oder sie fürchten, dass
Christoph 1988). Der Umstand, dass mit einem Aufklärungsgespräch in erster Linie kognitives Wissen vermittelt wird, sollte nicht dazu führen, dessen Bedeutung gering zu schätzen. Im Gegenteil sind viele Patienten nicht anders als über kognitives Wissen dafür zu gewinnen, für sich selbst Interesse aufzubringen und über ihre eigene psychische und soziale Realität nachzudenken. Mit dem Aufklärungsgespräch und
sich ihre Überzeugung bestätigt, ein hoffnungsloser Fall zu sein. Wenn das so ist
dei" Transparenz, die auf Seiten des Therapeuten damit verbunden sein sollte, kann
und Patienten nicht danach fragen, wie der Psychotherapeut ihre Beschwerden
sich dem Patienten nicht zuletzt auch die Erfahrung vermitteln, so wichtig und interessant zu sein, dass sich eine andere Person, eine Fachautorität; für ihn Zeit
versteht, sollte das den Therapeuten nicht dazu veranlassen, das Gespräch mit dem Patienten darüber zu unterlassen. Zwar vermag auch ein aufklärendes Ge-
nimmt und sich Gedanken über ihn macht. Manchmal sagen Patienten, dass sie
spräch vor Beginn der Behandlung massive idealisierende oder magische Übertra-
diese Erfahrung zum .ersten Mal in ihrem Leben .gemacht hätten.
gungen nicht aufzulösen, dennoch ist es ungünstig, wenn solche Übertragungen noch dadurch unterstützt werden, dass der Therapeut sich ih Schweigen hüllt. Dem Patienten verständlich mitzuteilen und transparent zu machen, wie die diagnostischen Erwägungen aussehen, kann ein wichtiger Schritt in Richtung auf
Aufklärung über die geplante Behandlung Im stationären Rahmen ist der Psychotherapeut, der die diagnostischen Unter-
eine verlässliche therapeutische Kooperation sein. Um das zu erreichen, sollte der
suchungen durchgeführt hat, meist auch der Therapeut, der die einzel- oder die
Therapeut es auch nicht dabei belassen, dem Patienten nur ein diagnostisches
gruppentherapeutische Behandlung .durchführt oder zumindest die Aufgaben des
Etikett wie »Depression« oder »Borderline-Störung« zu nennen, sondern sollte
Arztes wahrnimmt, der die Behandlung begleitet, beispielsweise in der Funktion eines Stationsarztes. In diesem Fall bleibt dem Patienten die Beziehung, die sich
ihm anschaulich genug erläutern, was er mit der Diagnose verbindet und wie er die Beeinträchtigungen versteht, unter denen der Patient leidet, wenn er von »Depression« oder von einer »Borderline-Störung« spricht.
während der diagnostischen Phase entwickelt hat, erhalten. Nur dann, wenn sich im Zuge der Eingangsuntersuchungen herausgestellt hat, dass der Patient mit psy-
Bei strukturellen Entwicklungsstörungen ist es darüber hinaus von Vorteil,
chotherapeutischen Mitteln nicht ausreichend zu behandeln ist - beispielsweise
.wenn der Therapeut einen Patienten, der wenig über psychische und Verhaltens-
weil der Verdacht auf eine psychotische Erkrankung besteht, o.der die Suizidalität
störungen weiß, nach gründlicher Untersuchung darüber aufklärt, dass allgemein
drängender ist als angenommen, oder sich der Verdacht ergeben hat, dass den Beschwerden eine Erkrankung zu Grunde liegt, die weiterer diagnostischer Abklä-
Beeinträchtigungen wie die, unter denen er leidet, aufgrund von Umständen in der frühen Entwicklung entstehen können, und wenn er ihm darüber hinaus kon-
rung auf einem anderen medizinischen Fachgebiet bedarf -, ist es nicht ·möglich,
kret erläutert, wie in seinem Fall die Beeinträchtigungen entstanden sein könnten.
dass der Therapeut, mit dem der Patient die anfänglichen Gespräche geführt hat,
Sind die Beschwerden erst im Erwachsenenalter aufgetreten, weil sich die Bedin-
ihn auch in der nachfolgenden Behandlung begleitet. Wenn der Therapeut, dem sich der Patient bei den diagnostischen Gesprächen anvertraut hat und mit dem er über schwierige Phasen seiner Entwicklung und über seine gegenwärtige Situation gesprochen hat, und der deshalb für den Patienten zu einer wichtigen Figur geworden ist, nicht auch die anschließende Behandlung übernimmt, kann sich das ausgesprochen nachteilig auf die sich anschließende Behandlung auswirken. ~
gungen in der Umwelt des Patienten verändert haben, an die er sich bis dahin trotz schwerer Entwicklungsstörungen relativ stabil hatte anpassen können, sollte auch das mit dem Patienten erörtert werden. Je mehr der Psychotherapeut im Patienten einen Kooperationspartner bei einer gemeinsamen Unternehmung sieht und je mehr er seine Seite der Kooperation für den Patienten nachvollziehbar macht,
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5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
Rahmenbedingungen
Unter besonders schwierigen Umständen kann es für den Patienten sogar retraumatisierend sein, wenn der Therapeut ihm erst im Anschluss an die diagnosti-
beispielsweise indem er dem Patienten gegenüber eine therapeutische Haltung einnimmt, ohne dass der Patient ihn dazu legitimiert hat, verweisen die Reaktio-
schen Gespräche mitteilt, dass er die Behandlung nicht selbst übernimmt. Eventuell wiederholt sich für den Patienten darin eine frühere Erfahrung, beispielsweise die, verlassen zu werden, kaum dass er Vertrauen gefasst hat. Soweit bereits zu Beginn der diagnostischen Untersuchungen feststeht, d~s der Therapeut, der die Untersuchungen des Patienten durchführt, nicht auch der zukünftige Behandler sein wird, sollte das dem Patienten auch gleich zu Beginn mitgeteilt werden. Falls sich die Untersuchungen über einen längeren Zeitraum hinziehen, sollte der Patient daran noch einmal erinnert werden, weil die Bereitschaft manchmal groß ist,
nen des Patienten auf derartige Verletzungen basaler Regeln von Kommunikation nicht etwa auf dessen Psychopathologie, sondern auf die Unangemessenheit des
solche unliebsamen Umstände zu verleugnen. Für den Patienten sollte die Möglichkeit bestehen, sich darauf einzustellen und - soweit er selber dazu in der Lage ist - in der Beziehung zum Therapeuten während der Eingangsuntersuchungen so viel Distanz zu halten, dass die bevorstehende Trennung ohne zu große Schwierigkeiten bewältigt werden kann. Im ambulanten Bereich kann es angesichts der geltenden Richtlinien in der gutachterpflichtigen Psychotherapie vorkommen, dass ein Patient mehrere diagnostische Gespräche mit einem Psychotherapeuten führt, der ihm nach deren Beendigung mitteilt, dass er die Behandlung nicht übernehmen kann oder dass der Patient lange warten muss, bevor eine Behandlung beginnen kann. Das ist selbst für relativ stabile Patienten belastend, für Patienten mit schweren strukturellen Störungen kann das katastrophal sein. Sie haben sich - so kommentierte ein Patient mit erheblichen strukturellen Selbstregulationsstörungen diese Erfahrung - »geöffnet« und werden nun »mit offenen Wunden liegen gelassen«. Es . kann lange dauern, bis solche Erfahrungen, die vermeidbar gewesen wären, wieder verblasst sind. Solange keine Vereinbarung über die Behandlung und über die Art der Therapie getroffen wurde, verbietet es sich für den Therapeuten, dem Patienten in einer Haltung zu begegnen, wie er sie in der Therapie einnehmen würde, sich beispielsweise neutral zu verhalten und auf Fragen mit abwartendem Schweigen zu reagieren oder ein Verhalten des Patienten zu deuten. Haben Patient und Therapeut noch keinen Kontrakt über eine Therapie geschlossen, gelten die Bedingungen von alltäglicher Kommunikation unter Erwachsenen. Das beinhalt~t an erster Stelle, dass beide sich wechselseitig Zurechnungsfahigkeit unterstellen und sich auf der Basis von Reziprozität begegnen. Weicht der Therapeut davon ab,
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Verhaltens des Therapeuten. Den Patienten über die Behandlung aufzuklären, die der Therapeut ihm empfiehlt, beinhaltet im ersten Schritt, dass der Therapeut ihm seine Überlegungen und Gründe für seine Empfehlung erläutert: Welche Beeinträchtigungen und Probleme lassen sich mit Hilfe der empfohlenen Behandlung potentiell beheben oder lösen? In welcher Weise geschieht das bei dem Verfahren, das der Therapeut empfiehlt? Worin unterscheidet sich diese Behandlungsmethode von anderen medizinischen Behandlungen? Welche allgemeinen Anforderungen stellt die Behandlung an den Patienten? Inwiefern unterscheidet sich die Rolle des Patienten in der Psychotherapie von der Rolle des Patienten bei der Behandlung der meisten körperlichen Erkrankungen? Was unterscheidet die Rolle des, Therapeuten von der Rolle des organmedizinisch tätigen Arztes? Mit welcher Behandlungsdauer ist zu rechnen? Sind die Ziele, die der Patient sich gesetzt hat, realistischerweise zu erreichen? Empfiehlt der Therapeut dem Patienten eine psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie - sei es in Ergänzung zu einer Einzelbehandlung, sei es als Therapie der Wahl -, kommen weitere Aspekte hinzu: Warum Gruppentherapie, wenn doch die Beeinträchtigungen scheinbar ganz individuelle Störungen sind? Wo sollen die Schwerpunkte der therapeutischen Arbeit in der Gruppe liegen? Welche Beeinträchtigungen können im Kontext des Mit-Anderen-im-KontaktSeins besonders gut untersucht, verstanden und verändert werden? Welche Probleme sind für die therapeutische Arbeit in der Gruppe zu.erwarten? Auch in Verbindung mit der Aufklärung des Patienten Ub'er die Behandlung, die. ihm empfohlen wird, sollte ausreichend Zeit zur Verfügung stehen, um ihn sorgfältig auf die bevorstehende gemeinsame Arbeit vorbereiten zu können.
Rahmenbedingungen Dass die Metaphorik des Rahmens in Zusammenhang mit Fragen der Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen so häufig bemüht wird, erklärt sich unter anderem daraus, dass die Strukturierung und Begrenzung des thera- ~
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5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
peutischen Feldes eine wichtige Voraussetzung für die Behandlung ist. Bei vielen Patienten sind die Auseinandersetzung mit Rahmenbedingungen und das Ringen um einen Halt gebenden, verbindlichen Rahmen ein zentrales Element der Therapie. Das gilt nicht nur für Patienten mit einer Borderline-Störung (Kernberg 1988), sondern für strukturell gestörte Patienten überhaupt (Streeck 1990). Der Rahmen grenzt das therapeutische Feld mit seinen spezifischen Bedingungen und den Raum sozialen Alltagshandelns, in dem Bedingungen ähnlich wie im Alltag gelten, von einander ab. Damit konstituiert der Rahmen unterschiedliche Interaktionsräume. Verschiedenen Behandlungsmethoden mit ihren unterschiedlichen Rahmenbedingungen korrespondieren Unterschiede im interaktiven Verhalten. Jedes therapeutische Setting hat eine kommunikative Bedeutung und enthält eine Aussage sowohl über die therapeutische Methode selbst als auch über die Haltung, die gegenüber den Patienten vertreten wird (Rycroft 1956; vgl. Trimborn 1994). Zum Rahmen gehören die Regeln und Empfehlungen, die für die Behandlung gelten und beachtet werden müssen; darum setzt der Rahmen dem Handeln in der Therapie immer auch Grenzen. Weiter wird mit Hilfe des Rahmens ein sicherer therapeutischer Raum markiert und bereitgestellt, und der durch den Rahmen konstituierte therapeutische Raum bringt zum Ausdruck, was dort Behandlung ist und wie über das gedacht wird, was die Patienten »haben«. Bei der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen besteht ständig die Gefahr, dass sich die therapeutische Beziehung in eine Richtung entwickelt, die mit einer effektiven Behandlung nicht zu vereinbaren ist. Manche Patienten verhalten sich willkürlich, greifen in Krisensituationen zu Alkohol oder Drogen, fügen sich selbst schweren Schaden zu oder verwickeln sich in destrukti. ve Aktionen mit Anderen. Das erstreckt sich oftmals auch auf die therapeutische Situation: Angesichts geringfügiger Frustrationen entwerten sie den Therapeuten und die Therapie und neigen dazu, schon bei von außen betrachtet unerheblichen Versagungen die therapeutische Beziehung aufzukündigen oder die Therapie ganz abbrechen zu wollen. In dem manchmal drastischen Verhalten der Patienten wird nichts symbolisch ausgedrückt oder dargestellt; anders als Agieren hat das Verhalten keine Mitteilungsfunktion und ist kein Sprachersatz. Vielmehr greifen die Patienten auf Verhaltensweisen zurück, die ihnen aus früheren Beziehungen vertraut sind und oft zu ausbeuterischen oder missbräuchlichen Beziehungen »passen«. Aus der Sicht der Patienten ist das Verhalten eine Notreaktion, die angesichts einer als bedrohlich und ängstigend wahrgenommenen Situation, die sie mit anderen
Rahmenbedingungen
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Mitteln nicht kompensieren können, aktualisiert wird. Dadurch werden »neutrale«, von Reziprozität bestimmte Beziehungen momentan unmöglich gemacht und eine kooperative therapeutische Beziehung verhindert. Umso wichtiger ist für die Therapie strukturell gestörter Patienten ein sicherer, unverbrüchlicher und Halt gebender Rahmen. Klare Rahmenverabredungen haben eine potentiell begrenzende und strukturierende und damit dem Patienten, aber auch dem Therapeuten Orientierung und relative Sicherheit vermittelnde Funktion.
Rahmenbedingungen als Vertrag
Hat der Patient sich zur Behandlung entschlossen, vereinbaren Therapeut und Patient in einem ausreichend ausführlichen Vorgespräch, welche Voraussetzungen im Hinblick auf die gemeinsame therapeutische Arbeit erfüllt sein müssen und welche Bedingungen dabei gelten. Die Vereinbarungen müssen verbindlich sein. Sie haben den Charakter eines mündlichen Vertrags und sollten auch so gehandhabt werden. Dieser Vertrag umfasst unter anderem Regeln für die therapeutische Arbeit, die festhalten, wie der Patient sich im Gespräch mit dem Therapeuten verhalten soll und wie im Fall der Gruppentherapie die Teilnehmer an der Gruppe sich äußern sollen. Auch das Verhalten des Therapeuten und die Art seiner Teilnahme am therapeutischen Geschehen sollten Teil der Vereinbarungen sein. Zusammengenommen werden in den Rahmenbedingungen die Voraussetzungen festgelegt, die mindestens erfüllt sein müssen, damit die gemeinsamen Bemühungen von Patient und Therapeut potentiell zum Erfolg führen können. Die Bedingungen und Voraussetzungen, die für die Behandlung wichtig sind, werden nicht wie in der Medizin manchmal üblich dem Patienten als »Verordnung« des Arztes zur Kenntnis gegeben. Vielmehr sollten die Rahmenbedingungen mit dem Patienten ausgehandelt werden. »Aushandeln« meint, dass Patient und Therapeut die Bedingungen nennen, von denen jeder meint, dass sie
für seinen Teil der gemeinsamen Arbeit erforderlich sind - der Therapeut die Bedingungen, die benötigt werden, damit die Behandlung effektiv werden kann, der Patient die Bedingungen, die ihm notwendig erscheinen, damit er in der Therapie mitarbeiten kann. Beides muss miteinander vereinbar sein. Keiner von beiden kann Bedingungen akzeptieren, die für ihn nicht zu tolerieren sind - der Therapeut kann Bedingungen des Patienten nicht akzeptieren, die mit dem für die Behandlung unbedingt erforderlichen Rahmen nicht vereinbar sind, der Patient
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5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
wird Bedingungen nicht akzeptieren können, die jenseits seiner Toleranzgrenzen liegen. Der Therapeut versucht, mit dem Patienten darüber in einen Prozess des Verhandelns zu kommen. Einige der Bedingungen, die aus seiner Sicht erfüllt sein müssen, werden keinen Spielraum offen lassen können, andere werden vielleicht verhandelbar sein. Im Prozess des Verhandelns stellt sich heraus, ob beide sich auf Rahmenbedingungen verständigen können, die auf der einen Seite der Patient tolerieren und die der Therapeut auf der anderen Seite akzeptieren kann. Dieses Aushandeln der erforderlichen Voraussetzungen für die bevorstehende Therapie kommt somit dem Verhandeln zwischen potentiell gleichberechtigten Kooperationspartnern nahe. Für chronisch suizidale Patienten, die jederzeit das Gefühl haben müssen, autark zu sein, kann es schwer erträglich sein, sich auf verbindliche Absprachen darüber einzulassen, auf suizidale Handlungen zu verzichten und sich an das therapeutische Personal zu wenden, sobald sie das Gefühl haben, ihre Suizidimpulse nicht mehr ausreichend steuern zu können. Eine derartige Vereinbarung als Voraussetzung für die Behandlung zu akzeptieren erleben sie als Gefahr, . ihre Eigenständigkeit zu verlieren und in bedrohliche Abhängigkeit zu geraten. Zwar akzeptieren sie grundsätzliche Vereinbarungen hinsichtlich suizidalen Agierens durchaus, allerdings widersetzen sie sich häufiger der Anforderung, dass die getroffenen Verabredungen absolut verbindlich sein sollen, und wollen diesen Vertragsteil nur mit Einschränkungen gelten lassen. Darauf kann sich der Psychotherapeut seinerseits nicht einlassen. Ein Patient, der zu suizidalen Handlungen neigt und der nicht bereit oder in der Lage ist, sein Verhalten so weit zu steuern, dass er sich im Falle drängender, zunehmend als unkontrollierbar empfundener Selbsttötungsimpulse an den Therapeuten oder - im klinischen Rahmen - an anderes therapeutisches Personal wendet, damit die in dieser Situation erforderlichen therapeutischen Schritte eingeleitet werden können, nimmt dem Therapeuten die innere Freiheit, die er für seine therapeutische Arbeit benötigt. Der Patient würde den Therapeuten mit seiner Suizidalität ständig in Angst und Schrecken versetzen, in innerer Lähmung festhalten und kontrollieren können. Für viele Patienten kann es geradezu entlastend sein, zu erfahren, dass der Therapeut durchaus auch im eigenen Interesse auf diese Verabredungen drängt und damit auch für seine eigenen Belange und seinen eigenen Schutz einzutreten in der Lage ist.
Rahmenbedingungen
Wenn die Voraussetzungen für eine Behandlung, die der Patient meint zu benötigen, und die Bedingungen, die aus der Sicht des Therapeuten eine Voraussetzungfür die Behandlung sind, nicht zur Deckung zu bringen sind, sollte ein Behandlungsvertrag nicht geschlossen werden; dem Patienten sollte ein anderer Weg empfohlen werden. Mit der Verabredung von Rahmenbedingungen ist noch nicht gewährleistet, dass sich der Patient bei der therapeutischen Arbeit auch tatsächlich so verhält, wie das mit dem Therapeuten vorab vereinbart wurde. Die Bedingungen,. über die Patient und Therapeut sich verständigt haben, sind oft nicht mehr als ein erster, meist noch brüchiger und noch vielfach zu bekräftigender, manchmal auch zu verändernder Rahmen. Dass der Patient die verabredeten Rahmenbedingungen nicht von Anfang an und ohne Weiteres einhält, nimmt dem Vertrag nichts von seiner Funktion und Bedeutung, die sich aus dem Umstand ableitet, dass Patient und Therapeut mit den Rahmenbedingungen ein Orientierung vermittelnder Wegweiser für die gemeinsame Arbeit zur Verfügung steht, auf den beide sich im Verlauf der Therapie beziehen können und um den sie oftmals über längere Zeit hinweg immer wieder miteinander ringen müssen. Manchmal ist dieses Ringen um Rahmenbedingungen selbst schon der wichtigste Teil der Therapie. Die Behandlung besteht dann über längere Passagen hinweg darin, dass Patient und Therapeut immer wieder daran arbeiten und darum kämpfen, dass bestimmte Rahmenbedingungen aufrechterhalten bleiben und der Rahmen seine verbindliche Gültigkeit behält. Die Patienten rennen gegen den Rahmen an, Grenzen werden verletzt, verabredete Regeln übertreten, der Rahmen soll außer Kraft gesetzt werden. Unter solchen Bedingungen muss der Patient vorrangig mit Folgen seines Verhaltens konfrontiert werden, nicht in der Weise, dass der Therapeut das abweichende Verhalten des Patienten deutet, sondern indern dem Patienten Folgen seines Verhaltens erfahrbarwerden. Erst an solchen Folgen des eigenen Verhaltens erweist sich für den Patienten, dass der Rahmen unverbrüchlich ist und der Therapeut dafür einsteht. In solchen Situationen kann es so aussehen, als seien Patient und Therapeut agierend und mitagierend miteinander verstrickt. Tatsächlich wird für den Patienten aber an der Unverbrüchlichkeit des Rahmens erfahrbar, dass Realitätsbedingungen nicht beliebig nach Maßgabe seiner jeweiligen Bedürfnisse manipulierbar sind und dass die Grenzen Anderer immer auch Grenzen für ihn sind.
115
116
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
Eine Patientin kam zur stationären Behandlung, weil sie es nicht schaffte, sich
Rahmenbedingungen
Versorgungsleistungen entgegennahm, waren aber nicht in der Lage, sich ihren
nach jahrelangem Drogenmissbrauch an die Bedingungen des Alltagslebens so
Bitten und Forderungen zu widersetzen, zumal die Patientin immer eine Inter-
weit anzupassen, dass sie einer Arbeit nachgehen und anderen alltäglichen Ver-
pretation ihres eigenen Verhaltens parat hatte, mit der sie zu begründen schien,
pflichtungen hätte nachkommen können. Nachdem sie das Abitur bestanden hatte, hatte ihr Drogenkonsum zugenommen. Sie hatte einen kurzen Versuch
weshalb es ihr nicht möglich sei, sich anders zu verhalten. Für die Therapie wurde der Wunsch der Patientin, selbstständig zu werden,
unternommen zu studieren, diesen Versuch aber nach wenigen Monaten wie-
aufgegriffen und mit ihr verabredet, dass sie Anforderungen der äußeren Reali-
der abgebrochen. In der Folgezeit hatte sie mehrere Ausbildungen begonnen,
tät so weit nachzukommen lernt, wie das erforderlich ist, um ein unabhängiges
auch die nach jeweils kurzer Zeit wieder abgebrochen, so dass sie schließlich
Leben führen zu können. In der Folgezeit veränderte sich das Verhalten der
keinen neuen Ausbildungsplatz mehr fand, bis sie schließlich nur noch Gele-
Patientin nur geringfügig. Wenn sie verschlief oder in anderer Weise Verein-
genheitsarbeiten annahm, um ihren Drogenkonsum zu finanzieren. Sie hatte
barungen und Verpflichtungen nicht einhielt, lehnte sie die Verantwortung
vorübergehend auf der Straße gelebt, schließlich aber doch den Entschluss
für ihr Verhalten ab und machte unter Hinweis auf ihre seelischen Störungen geltend, dass sie sich ja doch fest vorgenommen habe, sich anders zu verhalten,
gefasst, von den Drogen wegzukommen und ein besseres Leben zu suchen. Tatsächlich hatte sie es mit Unterstützung geschafft, ihren Drogenkonsum zu
dazu aber aufgrund ihrer Erkrankung - nicht ganz zu Unrecht hatte sie sich
beenden, war aber nicht in der Lage, Erwartungen wenigstens so weit nach-
eine Borderline-Störung attribuiert - einfach nicht in der Lage sei. Demgegen-
zukommen, dass sie in ihrem sozialen Umfeld einigermaßen integriert hätte
über wurde sie von therapeutischer Seite konsequent als erwachsene Frau, die für ihr eigenes Handeln selbst verantwortlich ist, angesehen und behandelt und dementsprechend mit den Folgen konfrontiert, die ihr Verhalten jeweils nach
leben können. Inzwischen war sie 29 Jahre alt und wohnte bei ihrer Mutter, mit der es täglich heftige Spannungen und Konflikte gab; sie stand meist erst . gegen Mittag auf, ließ ihre Kleidung verkommen, pflegte sich kaum und ließ sich von der Mutter versorgen, die ihrerseits ihre Tochter für ihr Verhalten zwar kritisierte, ihr aber dennoch die Wäsche wusch, wenn sie den Kleidergestank nicht mehr ertragen konnte, ihr Essen kochte und von Zeit zu Zeit, wenn ihr
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sich zog und die schließlich in der Androhung der Entlassung kulminierten. Jedes Mal, wenn die Patientin sich solchen Konfrontationen gegenüber sah, verfiel sie in ein lautes, heftiges Greinen, das weniger den Charakter von Wei-
die Unordnung über den Kopf wuchs, das Zimmer aufräumte.
nen als vielmehr den eines wütenden Herbeischreien-Wollens hatte. Als die Patientin schließlich erneut im Bett liegen geblieben war, statt einen verab-
In der Klinik hatte die Patientin als ein Ziel der Behandlung genannt, dass sie
redeten Therapietermin wahrzunehmen, wurde sie entlassen, allerdings unter
von der Mutter unabhängig und selbstständig leben möchte. Sie äußerte sich
Hinweis auf die Möglichkeit, sie wieder aufzunehmen, wenn
in einer Ausdrucksweise über sich selbst, die von unverstandenen psychoana-
wäre, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und sich an die für
lytischen und psychiatrischen Fachtermini und von stereotypen Deutungen
die Therapie erforderlichen Rahmenbedingungen zu halten. Wenige Wochen
e in der Lage
durchsetzt war. Sie hatte diese Sprache von ihrem Freund angenommen, der
später wurde die Patientin erneut zur Behandlung aufgenommen. Jetzt gab sie
ebenfalls drogenabhängig war, bei dem jedoch alle Entzugsbehandlungen ge-
sich große Mühe, Verabredungen einzuhalten, und zeigte sich einigermaßen
scheitert waren, und der zwei Semester Psychologie studiert hatte, während
erfmderisch darin sicherzustellen, dass sie morgens rechtzeitig wach wurde und
deren er sich diese Begriffe offenbar angeeignet hatte. Tatsächlich setzte sich ihr Verhaltensstil in den ersten Tagen in der Klinik fort: sie verschlief Termine,
Vereinbarungen nachkam. Etwa zehn Monate nach der Entlassung aus der viermonatigen stationären Be-
die für den Vormittag verabredet waren, ließ ihr Zimmer verkommen, schien
handlung kam die Patientin zu einem Katamnesegespräch in die Klinik. Sie war
sich nicht zu waschen und brachte Mitpatienten dazu, sie mit Zigaretten und
kaum wiederzuerkennen. Sie sah gepflegt aus, wirkte wach und schien interes-
zusätzlichen Nahrungsmitteln zu versorgen. Zwar ärgerten sich einige Mitpatienten über ihre fordernde Art und die Selbstverständlichkeit, mit der sie solche
siert an ihrer Umgebung. Sie berichtete unter anderem, dass sie sich von ihrem Freund getrennt hatte, bei der Mutter ausgezogen war, einen Ausbildungsplatz
~
118
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
in Aussicht hatte, zwischenzeitlich einen Billigjob angenommen hatte, weil sie nicht von Sozialhilfe leben wollte, und ganz stolz auf sich sei. Solche Grenzgänger und Grenzenerprober, für die das Ringen um Rahmenbedingungen ein wichtiger Teil der Therapie ist, findet man unter strukturell gestörten Patienten häufig. Manche fordern mit chronisch suizidalern Verhalten Grenzen setzende Funktionen heraus; bei anderen, vor allem bei narzisstischen Patienten, die gegen jede Regelung zu Felde ziehen müssen, weil sie sich in ihrem Autarkiebestreben eingeschränkt sehen, müssen in den ersten und oftmals entscheidenden Phasen der Behandlung die Rahmenbedingungen wieder und wieder bekräftigt werden. Einige Rahmenvereinbarungen gelten für alle Patienten in mehr oder weniger gleicher Weise, andere werden auf jeden Patienten individuell abgestimmt. Es ist nicht sinnvoll, mit einem Patienten Vereinbarungen beispielsweise im Hinblick auf suizidales Verhalten zu treffen, wenn es keine Hinweise dafür gibt, dass der Patient in schwierigen Situationen zu suizidalen Reaktionen neigt; das gilt entsprechend für selbstverletzendes, promiskuöses oder für antisoziales Verhalten, aber auch für den Umgang mit Alkohol, Drogen und Psychopharmaka. Nach Möglichkeit sollte jedwedes Verhalten des Patienten in den Vertrag aufgenommen werden, von dem zu erwarten ist, dass es die therapeutische Arbeit gefährden könnte. Ebenfalls noch vor Beginn der Therapie sollte der Therapeut mit dem Patienten eine Vereinbarung darüber treffen, was geschehen muss, falls der Patient sich an die gemeinsamen Verabredungen nicht hält oder nicht halten kann. Wird darüber erst in dem Moment verhandelt, wo die Situation bereits kritisch geworden ist, ~n der Therapeut nur noch reagieren, und die Situation ist ungleich schwieriger zu handhaben. Klare, vor Beginn der Therapie getroffene Vereinbarungen tragen dazu bei zu verhindern, dass es in kritischen Situationen während der Behandlung zu schwerwiegenden und folgenreichen Belastungen der therapeutischen Kooperation kommt. Würde der Therapeut immer erst dann reagieren, wenn sich die Situation zugespitzt hat, ohne mit dem Patienten zuvor besprochen zu haben, was in welchem Fall zu tun ist, würde der Patient das Verhalten des Therapeuten leicht als Willkür erleben. Der Rahmen hätte weder für den Patienten noch für den Therapeuten die notwendige verlässliche, Orientierung bietende Funktion. Zu den Themen, die vor Beginn der gemeinsamen therapeutischen Arbeit besprochen werden, gehört auch die Verteilung der beider~eitigen Aufgaben in der
Rahmenbedingungen
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Therapie, sowohl die Aufgaben, die der Patient in der Behandlung übernehmen muss, als auch die Aufgaben, die dem Therapeuten bei der gemeinsamen Arbeit zukommen. Der Patient sollte nicht nur so genau wie möglich wissen, was er tun muss, sondern er 'sollte sich vorab auch darauf einstellen können, wie der Therapeut sich verhalten wird, und er sollte eine Vorstellung davon haben, weshalb der Therapeut sich so verhält. Sind der Sinn und der potentielle Nutzen der Verabredungen für den Patienten transparent und nachvollziehbar, ist es für ihn leichter, in der Therapie unter Wahrung seines-Gefühls von Autonomie mit dem Therapeuten zusammenzuarbeiten. Erfahrungsgemäß kommt es nur selten vor, dass Patient und Therapeut sich auf beiderseitig akzeptierte Rahmenbedingungen nicht verständigen können. Für den Fall, dass das doch einmal nicht gelingt, sollte der Therapeut die Behandlung nicht übernehmen. Lässt der Therapeut sich im Prozess des Verhandelns von Rahmenbedingungen davon abbringen, für Bedingungen einzutreten, von denen er weiß, dass sie unabdingbare' Voraussetzung für die Therapie sind, rächt sich das meist rasch: Die Therapie wird: ineffektiv oder sinnlos, weil notwendige Bedingungen nicht erfüllt sind, oder der Therapeut gerät mit dem Patienten in Kollusionen, die sich nicht auflösen lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Behandlung scheitert oder vom Patienten abgebrochen ·wird. Eine solche Entwicklung hätte der Therapeut sich und dem Patienten ersparen können, wäre er beim Verhandeln des Rahmens unmissverständlich für Rahmenbedingungen eingetreten, von denen er gewusst hat, dass sie für die Therapie erforderlich sind. Das bedeutet nicht, dass der Therapeut an Rahmenbedingungen wie an Gesetzen festhält. Rahmenbedingungen sind keine starren Prinzipien, sondern Therapie ermöglichende Voraussetzungen. Sobald sie ihre Funktionen nicht mehr erfüllen, sollten sie sinnvollerweise modifiziert werden. Damit, dass er für notwendige Rahmenbedingungen eintritt, nimmt der Therapeut dieAufgabe waJ:u, vor Beginn der Behandlung für Bedingungen Sorge zu tragen, die für eine potentiell effektive Be... handlung Voraussetzung sind. Das sollte er für den Patienten erkennbar machen. Manche Patienten sehen in der Haltung eines Therapeuten, der Rahmenbedingungen unbestechlich vertritt, einen Versuch, ihnen seine Bedingungen aufzuzwingen. Solchen initialen Übertragungen sollte der Therapeut entgegentreten. Lässt der Therapeut die anfänglichen übertragungsbedingten Befürchtungen des Patienten unwidersprochen stehen oder versucht er, die Ängste des Patienten nur zu interpretieren, kann er bei strukturell gestörten Patienten mit einiger Sicherheit ~
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5. Die p.sychoanalytisch-interaktionelle Therapie
damit rechnen, dass eine Behandlung selbst dann nicht zu Stande kommt, wenn er sich bemüht, sein Verhalten zu erläutern und zu begründen. Dazu kann der Vergleich mit einem organmedizinisch tätigen Arzt gute Dienste leisten, etwa der Vergleich mit dem Arzt, der bei einem Patienten eine insulinpflichtige Zuckerkrankheit diagnostiziert hat und seinem Patienten daraufhin erläutert, dass für die Behandlung das regelmäßige Spritzen von Insulin erforderlich ist; würde der zuckerkranke Patient sich weigern, das zu akzeptieren und den Arzt auffordern, ihm stattdessen Tabletten zu verordnen, würde ein Arzt, der dem Drängen des Patienten trotz des Wissens nachgibt, dass Tabletten nutzlos oder sogar schädlich sind, verantwortungslos handeln. Ganz im Gegenteil nimmt der Arzt seinen Teil der Verantwortung gerade damit wahr, dass er die Behandlung zu den von dem Patienten geforderten Bedingungen ablehnt. Andere Vereinbarungen können offener gehalten werden und dann mehr den Charakter einer dringenden Empfehlung als den einer Vertragsbedingung haben, beispielsweise Vereinbarungen im Hinblick auf selbstverletzendes Verhalten. Solange der Patient nicht zu Selbstverletzungen von bedrohlichem Ausmaß neigt, die den Charakter larvierter Suizidhandlungen haben, müssen strikt gehandhabte Rahmenvereinbarungen nicht in jedem Fall erforderlich sein. Manchmal kann es genügen, wenn der Therapeut mit dem Patienten eine Verabredung dahingehend trifft, dass der Patient sich darum bemüht, auf das selbstverletzende Verhalten soweit wie irgend möglich zu verzichten und versucht, sich in Zuständen, in denen der Drang, sich selbst zu verletzen, schwer beherrschbar wird, an das therapeutische Personal zu wenden. Im stationären Rahmen wird es darüber hinaus erforderlich sein, dafür zu sorgen, dass Ansteckungseffekte unter den Patienten nach Möglichkeit vermieden werden. Darum muss hier von sich selbst verletzenden Patienten erwartet werden, dass sie weder mit Mitpatienten über die selbst zugefügten Verletzungen sprechen, noch sich Selbstverletzungen in Gegenwart Anderer zufügen (Sachsse 2002).
Rahmenbedingungen
strukturell gestörten Patienten ist aber nicht zu erwarten, dass sie dieser Empfehlung nachkommen können. Weder sind sie in der Lage, sich in Mitpatienten einzufühlen, noch gelingt es ihnen, Signale, die sie auf eigene Grenzen der Belastbarkeit aufmerksam machen können, wahrzunehmen und zu »lesen«. Auch wenn der Therapeut die Aufgabe, Toleranzgrenzen zu beachten, in der Gruppe häufig selber übernehmen muss, kann eine solche Empfehlung für die Patienten dennoch eine wichtige Funktion erfüllen, beispielsweise dem häufigen Missverständnis entgegenwirken, dass man sich in der Gruppe »ohne Rücksicht auf Verluste« - so ein narzisstischer Patient, der infolge seines aggressiv-ungesteuerten Verhaltens vorbestraft war - verhalten möge. Im Vergleich zu anderen Rahmenvereinbarungen ist der Hinweis auf Grenzen der Belastbarkeit und der Toleranz wenig konkret und deshalb interpretationsbedürftig und kann nicht unmittelbar in Verhalten »übersetzt« werden, gleichwohl kann er die Aufmerksamkeit des Patienten auf Umstände lenken, die für ihn bislang wenig Bedeutung gehabt haben. Der Therapeut sollte sich nicht damit zufrieden geben, dass der Patient seinen Erläuterungen zustimmt. Oftmals wird er die Erfahrung machen müssen, dass der Patient seine Hinweise anders verstanden hat, als sie von ihm gemeint waren. Darum kann es von Vorteil sein, wenn der Therapeut den Patienten bittet, er möge die Inhalte des soeben besprochenen Kontrakts noch einmal wiederholen. Das mag auf den ersten Blick schulmeisterlich erscheinen und bei einigen Patienten Befremden auslösen, kann aber von Seiten des Therapeuten für den Patienten einsehbar damit begründet werden, dass er sich so ein Bild davon machen könne, ob er klar genug erläutert habe, was der Patient für die Therapie wissen müsse. Auf diese Weise lassen sich Missverständnisse einschränken, die die spätere gemeinsame Arbeit in der Therapie erschweren. Nicht immer kann der Psychotherapeut bei strukturell gestörten Patienten davon ausgehen, dass sie für die Behandlung motiviert sind. Dass ein Patient einer
Mit wieder anderen Rahmenbedingungen werden Erwartungen an den Patienten herangetragen, von denen klar ist, dass er ihnen nur begrenzt wird nachkom-
Behandlung skeptisch und voller Zweifel gegenüber steht oder nicht motiviert erscheint, heißt nicht, dass er nicht behandelbar ist oder die Prognose schlecht wäre. Wäre das so, könnten viele strukturell gestörte Patienten überhaupt nicht
men können. Auch dabei handelt es sich dann nicht um Vertragsvereinbarungen,
psychotherapeutisch behandelt werden. Beispielsweise ist es Patienten mit einer
die unbedingt eingehalten werden müssen, sondern um Empfehlungen und Regelungen, die die Funktion von Orientierungshilfen haben. So sollen Patienten i~ der
schwereren narzisstischen Pathologie oft nicht möglich, sich als behandlungsbedürftig zu erkennen zu geben. Allein damit, dass sie zu einer Behandlung erschienen sind, haben sie oftmals das Äußerste an Behandlungsbedürftigkeit bekundet, was ihnen angesichts ihrer großen Angst vor Abhängigkeit und ihres Autarkie-
Gruppentherapie ihr Verhalten immer auch daran bemessen, ob die eigenen oder die Toleranzgrenzen von Anderen in der Gruppe überschritten werden. Bei vielen
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Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
bedürfnisses möglich ist - nicht mit Worten, aber durch ihr Handeln. In der Klinik müssen sie unter Umständen jeden und alles entwerten, was für sie potentiell hilfreich sein könnte. Das bedeutet nicht, dass sie nicht behandelt werden wollen. Vielmehr ist ihr entwertendes Verhalten als Ausdruck des Versuches zu verstehen, das Gefühl von Autonomie, in dem sie sich durch die Aufnahme in die Klinik bedroht fühlen, dadurch au&echt zu erhalten, dass diejenigen abgewertet werden, vori denen sie sich abhängig fühlen oder sich in Gefahr sehen, abhängig zu werden. Wie bei strukturell gestörten Patienten so häufig, ist es auch in einem solchen Fall wichtig, dass der Psychotherapeut nicht nur hört, was der Patient mit Worten inhaltlich ausdrückt, sondern dass er sieht, wie der Patient handelt - in diesem Fall, dass er erkennt, dass der Patient zur Behandlung gekommen ist und dass seinem nichtsprachlichen Handeln größere Bedeutung beizumessen ist als der inhaltlichen Bedeutung seiner Worte.
die aktuelle Situation, in der sie sich gerade bewegen, verstanden wissen wollen
Wenn davon die Rede ist, dass über die vom Therapeuten vorgegebenen Regeln und Empfehlungen »verhandelt« wird, dann muss das nicht in allen Fällen bedeuten, dass darüber ausdrücklich gesprochen wird. In der Gruppentherapie nehmen die Patienten beispielsweise oft nicht ausdrücklich dazu Stellung, was der Gruppentherapeut erwartet oder empfiehlt, sondern »verhandeln« darüber im Vollzug ihrer Interaktion. Die Situation in der Gruppe wird immer auch durch die Art des Verhaltens jedes Gruppenteilnehmers »definiert« - das gilt entsprechend auch für die dyadische Situation der Einzeltherapie. Nicht nur die sprachlichen Äußerungen, sondern auch das nichtsprachliche Verhalten tragen zu der gegenwärtigen interpersonellen Situation bei, die sie mit konstituieren. Darum wird das Verhalten der Patienten in der Gruppe nie nur auf seinen jeweiligen bewussten ~nd unbewussten psychischen Hintergrund und die Motive hin, die ihm zu Grunde liegen, befragt, sondern immer auch und vorrangig - auf einer horizontalen Achse - daraufhin untersucht, wie mit den sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen das aktuelle Geschehen konstituiert und die gegenwärtige Situation definiert wird. Wenn Patienten in der Gruppe schweigen, dann stellen sie damit eine bestimmte interpersonelle Situation her und nehmen, ob sie das wollen oder nicht, implizit zu der Empfehlung des Gruppentherapeuten Stellung, ihre Äu-
und Abwesenheiten hinzu.
ßerungen möglichst wenig zu zensieren. Die Interaktionen in der Gruppe sind deshalb immer auch Prozesse, mit deren Abwicklung die Teilnehmer Situationen definieren, Regeln konstituieren und sich wechselseitig vor Augen führen, wi~ sie
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und welche Bedingungen für sie selbst und für das Gegenüber gelten sollen.
Voraussetzungen .für die therapeutische Arbeit Zu den Themen, die vor Beginn der Behandlung mit dem Patienten besprochen werden, gehören mindestens die Festlegung eines Fokus bzw. Schwerpunktes der Behandlung, Ziele für die Therapie, die Verteilung der Aufgaben zwischen Patient und Therapeut, die voraussichtliche Dauer der Behandlung und konkrete Verabredungen zum Umgang mit selbstschädigendem Verhalten und Suizidalität, Alkqhol und Drogen sowie Medikamenten. Im ambulanten Bereich kommen Vereinbarungen im Hinblick auf ausgefallene bzw. versäumte Stunden, Ferienzeiten
Fokus und Schwerpunkt der Behandlung Die Entscheidung für einen therapeutischen Fokus beruht auf der Diagnostik der strukturellen Störung des Patienten und des psychodynamischen Hintergrunds der zentralen psychopathologischen Beeinträchtigungen. Mit dem Fokus wird eine Problematik aufgenommen, der im psychodynamischen Gefüge der Störung des Patienten zentrale Bedeutung zukommt. Auf diesen Fokus hin wird die Behandlung ausgerichtet. Dabei hat der Fokus die Funktion, die Wahrnehmung von Patient und Therapeut zu organisieren. Balint (1973) hatte empfohlen., dass »der Fokus spezifisch ... deutlich umschrieben ... und unzweideutig sein ... müsse und die Form einer Deutung haben ... « sollte (S. 198). Inhaltlich sollte mit dem Fokus - aus der Sicht von Balint - ein unbewusster Konflikt aufgegriffen werden. Weil Patienten mit strukturellen Störungen aber nicht an neurotischen, primär konfliktbedingten Störungen leiden, ist es nicht angezeigt, mit dem Fokus einen unbewussten Konflikt ins Zentrum der Therapie zu rücken. Stattdessen werden mit dem Fokus nach Möglichkeit für die jeweilige strukturelle Störung zentrale Beeinträchtigungen des Selbst, der verinnerlichten Objektbeziehungen oder Beziehungsstörungen aufgegriffen, die sich als Bindungsstörungen, Störungen von psychischen Funktionen einschließlich Mentalisierungsstörungen und als,Pathologien in der Selbst- und der Interaktionsregulierung manifestieren. Weil die ba- ,
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5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
salen Entwicklungsstörungen nicht auf dem Weg der Aufdeckung unbewusster Konflikte zu behandeln sind, wird der Fokus zudem nicht in Form einer Deutung formuliert. Insofern mag es zutreffender sein, statt von Fokaltherapie im Balintschen Sinne von fokusgeleiteter Psychotherapie zu sprechen. Im Verlauf der Behandlung kann sich der Fokus verändern. Im günstigen Fall kann ein weiterführender Fokus formuliert werden, häufiger wird der eingangs festgelegte Fokus aber auch über längere Phasen hinweg unverändert beibehalten. Die mit dem Fokus aufgegriffene zentrale Störung wird - abgestimmt auf die Behandlungsziele - für den Patienten in Form eines Themas benannt. Während der Fokus in der Sprache der klinischen Theorie formuliert ist, wird das Thema gemeinsam mit dem Patienten in erfahrungsnaher Alltagssprache abgefasst. Das Thema hat die Funktion eines roten Fadens für eine mehr oder weniger lange Phase in der 'T herapie oder auch für die Behandlung insgesamt. In besonderen Fällen wird auf die Festlegung eines Themas bewusst und gezielt verzichtet, zum Beispiel bei Patienten, für die das Thema keine Orientierungshilfe ist, sondern die daraus rasch eine Quelle perfektionistischer Anforderungen und masochistischen Scheiterns machen. . Viele Patienten verlieren das Thema bald wieder aus den Augen. Es ist Aufgabe des Therapeuten, an das Thema bzw. den Fokus für die gemeinsame therapeutische Arbeit zu erinnern und die Mitteilungen des Patienten und das Verhalten immer wieder auf die im Fokus festgehaltene Problematik des Patienten zu beziehen.
Behandlungsziele
'Um ein Behandlungsziel oder auch mehrere Behandlungsziele festzulegen, kann es hilfreich sein, den Patienten dazu anzuregen sich vorzustellen, was aus seiner Sicht nach Möglichkeit anders geworden sein sollte, wenn seine Behandlung be-
Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit
sich die Frage nahe legt, ob sie sich nicht in Wirklichkeit eine Behandlung wünschen, bei der sie in ihrer alltäglichen Lebenswelt nichts verändern müssen oder wider besseres Wissen doch erwarten, dass sich ihre Umgebung ändert. Haben Patient und Therapeut sich auf Ziele für die Behandlung geeinigt, sollten sie sich auch darauf verständigen, worauf in der Behandlung besonders zu achten sein wird, um dem verabredeten Ziel oder den verabredeten Zielen möglichst nahe zu kommen. Fragt man Patienten, wie sie sich vorstellen, dass die Ziele, die sie genannt haben, in der Therapie erreicht werden könnten, schimmern in vielen Antworten illusionäre Erwartungen und magische Übertragungen durch, die gerade strukturell gestörte Patienten hinsichdichihrer Gesundung und des Weges dorthin haben und die nicht selten diffuse narzisstische Vollkommenheitsideale und illusionäre Hoffnungen widerspiegeln" von einem omnipotenten Therapeuten mit Macht und Makellosigkeit ausgestattet und von allem Schlechten und Unansehnlichen befreit zu werden. Es soll sich Entscheidendes ändern, und was das Leben seit vielen Jahren und manchmal Jahrzehnten erschwert hat, soll innerhalb von wenigen Wochen beseitigt sein. Auch derartig unrealistische Vorstellungen sollten nicht interpretierend beantwortet, sondern klargestellt werden. Dadurch, dass vor Beginn der Behandlung über realistische Ziele verhandelt wird, ändern sich grandiose Ansprüche zwar meist nicht grundlegend. Indem Patient und Therapeut aber darüber sprechen, was der Patient in der Therapie wird erreichen können, was aber mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nicht zu erreichen sein wird, bewegt sich der Therapeut mit dem Patienten in ersten Schritten auf einem therapeutischen Weg in Richtung auf eine Auseinandersetzung mit Vollkommenheitsidealen, die den weiteren Verlauf der Therapie voraussichtlich begleiten werden. Viele Patienten können keine oder nur sehr allgemeine Ziele angeben. Sie möchten, dass es ihnen »irgendwie besser« geht, oder versprechen sich eine Ver-
endet ist und - bei stationären Behandlungen - er in sein alltägliches Leben und in seine gewohnte Umgebung zurückkehrt. Das können wichtige Hinweise sein, um Ziele für die Therapie abzuleiten und mit dem Patienten schließlich verbindlich
änderung ihres Zustandes von nicht näher zu benennenden Veränderungen' der Verhältnisse in ihrer Umwelt. Andere Patienten haben nur vage, unrealistische Ziele, möchten »von jetzt ab alles anders machen«, ' ihr Leben »völlig umkrempeln«, oder erreichen, dass sämtliche Beeinträchtigungen verschwinden. Manche
festzulegen. Auch dabei ist das Gespräch oftmals einem Verhandeln insofern ver-
Patienten wagen es nicht, sich Ziele zu setzen, oder erscheinen im Hinblick auf
gleichbar, als Patienten häufiger Ziele ins Auge fassen, die der Therapeut auf den ersten Blick als unrealistisch erkennt. Andere Patienten formulieren Ziele abstrakt
die Ziele, die sie mit einer Behandlung erreichen möchten, übermäßig bescheiden oder ängstlich, beispielsweise weil sie vermeiden möchten, ein weiteres Mal ent-
und allgemein, ohne Bezug auf ihre realen Lebensverhältnisse zu nehmen, so dass
täuscht zu werden.
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5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
Als Ergebnis ihrer Verhandlungen sollte es Patient und Therapeut vor Beginn der Behandlung gelungen sein, sich auf ein Ziel oder auch auf mehrere Ziele für die Behandlung verständigt zu haben. Das kann unter Umständen das Ergebnis eines längeren Prozesses gemeinsamen Aushandelns sein, mit dem oftmals schon therapeutische Wirkungen verbunden sein können.
Aufgabenverteilung in der Therapie und die therapeutische Arbeitsweise Damit die Behandlung Erfolg haben kann, muss der Patient wissen, wie er sich in der Therapie verhalten und äußern soll. Die Empfehlung für den Patienten für die Arbeit in der psychoanalytisch-interaktionellen Einzeltherapie lautet, dass er versuchen möge, möglichst unzensiert mitzuteilen, was ihm im Moment einfällt, seine Gedanken und Gefühle, Wahrnehmungen der eigenen Person und seines Gegenüber, Vorstellungen, Körperempfindungen oder Handlungsimpulse - kurz: alles, was ihn augenblicklich beschäftigt und ihm zu Bewusstsein kommt, wenn er für sich selbst und sein Gegenüber aufmerksam ist. Diese Empfehlung, die ausdrücklich nicht nur die Aufforderung zur Selbstbeobachtung enthält, sondern auch die Bedeutung des Blicks auf das Gegenüber unterstreicht, kann für einzelne Patienten je nach individuellem Störungsbild und strukturellen Besonderheiten unterschiedlich ergänzt werden. Bei Patienten beispielsweise, die in hohem Maße sozial ängstlich sind und deren Aufmerksamkeit ohnehin in geradezu exzessiver Weise auf die eigene Person gerichtet ist, kann es günstig sein, die Empfehlung, auch für das Gegenüber und dessen Verhalten aufmerksam zu sein, besonders nachdrücklich zu unterstreichen. Patienten, die dazu neigen, Erwartungen Anderer nachzukommen, als handele es sich um For·derungen, und die, wenn diese Problematik sehr ausgeprägt ist, eigene Belastbarkeitsgrenzen leicht missachten oder gar nicht spüren, wird manchmal ausdrücklich empfohlen, sich nach Möglichkeit nur so weit unzensien zu äußern, wie sie meinen, dass das für sie noch ausreichend gut zu tolerieren ist. Welchen Sinn die Empfehlung hat, sich so weit wie möglich unzensiert mitzuteilen, sollte dem Patienten ausführlich erläutert und damit transparent und nachvollziehbar gemacht werden. Vielen Patienten ist unmittelbar verständlich, warum es wichtig ist, möglichst uneingeschränkt mitzuteilen, was sie im Moment beschäftigt, wenn in der Therapie untersucht werden soll, welchen Hinterg~und ihre Probleme haben, die sie mit sich selbst und in Bezie~ung zu Anderen haben.
Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit
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Immer wird dem der Hinweis hinzugefügt, dass sich der Patient in der Therapie darauf beschränken soll, sich mit Worten mitzuteilen, darüber hinausgehendes Agieren dagegen unterbleiben möge. Viele Patienten mit schwereren Entwicklungsstörungen neigen dazu, ihre Erfahrungen statt in Wonen handelnd darzustellen und manchmal auch impulsiv . zu agieren. Sie neigen oftmals in hohem Maße zu selbstdestruktivem und manchmal auch zu fremddestruktivem Verhalten. Die narzisstischen Krisen, die solchen Verhaltensmanifestationen häufig zugrunde liegen, können nicht sprachlich zum Ausdruck gebracht werden, weil das nicht sprachfähige Erleben der Patienten sich handelnd oder in somatischen Funktionsabläufen Geltung verschafft, aber nicht symbolisch darstellbar ist. Dennoch wird für die Therapie erwartet, dass die Patienten ihre Affekte und Impulse nicht ausagieren, sondern zur Sprache bringen. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, kommen die Patienten doch oftmals gerade deswegen zur Behandlung, weil ihnen diese Fähigkeiten nicht zur Verfügung stehen. Gleichwohl ist dieser Hinweis besonders wichtig, weil damit Orientierung vermittelt wird. Auch in diesem Zusammenhang sollte sich der Therapeut vergewissern, ob und wie der Patient seine Empfehlung verstanden hat. Für strukturell gestörte Patienten, für die es zwischen der Wahrnehmung von Gefühlen und Handlungsimpulsen auf der einen Seite und deren Umsetzung in manifestes Verhalten auf der anderen Seite oft keine Differenz gibt, für die Gefühle zu empfinden somit gleichbedeutend damit ist, der jeweiligen Gefühlsbefindlichkeit entsprechend sich auch zu verhalten, und die deshalb ihre Gefühle fürchten müssen, reagieren manchmal ängstlich auf die Erläuterung der Grundregel. Sie können sich kaum vorstellen, dass andere Menschen intensive Gefühle verspüren können, ohne sich deshalb entsprechend gefühlsgeleitet verhalten zu müssen. Wenn von den Patienten erwartet wird, dass sie ihren drängenden Handlungsimpulsen nicht nachgeben, geschieht das nicht in der Erwartung, dass sie ihr Verhalten einfach nur abstellen. Vielmehr wird damit das Bemühen unterstützt, impulsgesteuertes Verhalten zu begrenzen und die innere Wahrnehmung darauf auszurichten, Impulse und Affekte, von denen sie sich bedrängt fühlen, bewusst zu spüren. Zugleich sind die Patienten damit aufgefordert, ihre Abhängigkeitsund Beschämungsängste soweit zu überwinden, dass sie nach therapeutischer Unterstützung nachfragen, statt ein ums andere Mal ihr selbst- und fremdschädigendes Verhalten nur zu wiederholen. Die Erwartung, die der Therapeut mit ~
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5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit
der Grundregel formuliert, wird so zu einer Grenzlinie, die orientierende und
Zustand ernsthaft ändern will. Einige Patienten haben die Hoffnung, dass sich
haltende Funktionen hat. Wenn es den Patienten nicht möglich ist, ihr Verhalten
ihr Zustand allein schon dadurch bessert, dass sie darüber reden und sich an ver-
angesichts intensiverer Affekte und Impulse selber ausreichend zu steuern, müs-
gangene Erfahrungen erinnern, die zu ihren gegenwärtigen Beeinträchtigungen
sen andere Steuerungshilfen gefunden werden, beispielsweise in Form vorüberge-
beigetragen haben. Patienten mit starken sozialen Ängsten kommen häufiger mit
hender medikamentöser Unterstützung.
der Hoffnung zum Psychotherapeuten, dass ihre Scheu, ihre quälenden Schamgefühle und ihre Angst vor anderen Menschen verschwinden werden, wenn sie
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darüber nur ausführlich genug gesprochen haben, versuchen aber zu vermeiden,
Kooperation in der Behandlung: der Therapeut
sich den gefürchteten sozialen Situationen auszusetzen. Sie meiden solche SituaDer Psychotherapeut kann seinen Patienten nicht in dem Sinne behandeln, wie in
tionen oft hartnäckig, mehr alS> Patienten mit anderen Angststörungen (Hoff-
anderen medizinischen Fächern von Behandlung die Rede ist. Während der Arzt
mann 2002). Auch bei anderen Patienten trifft man auf die Vorstellung, dass sie
dort Behandlungen verordnet, beispielsweise Bettruhe und die regelmäßige Ein-
mit der Therapie in die Lage versetzt werden, Schwierigkeiten, denen sie bisher
nahme eines Medikaments, und der Patient meist davon ausgehen kann, dass sich
aus dem Weg gegangen sind" zu bewältigen, ohne sich mit den Situationen selbst konfrontieren zu müssen. Sie wollen sich den vermiedenen Umständen erst dann
sein Zustand bessert, wenn er die Anordnungen des Arztes befolgt, kann Psychotherapie nur als gemeinsames Unternehmen von Patient und Therapeut stattfin-
1
.\
den. Patienten, die das nicht wissen und erwarten, dass der 'Fherapeut ihnen mit
wieder aussetzen, wenn sie sicher sind, dass sie psychisch gut genug ausgestattet sind, um mit den entsprechenden Situationen angstfrei und problemlos fertig
ähnlich persönlicher Anonymität und ähnlich affektiv neutral sagt, wie sie sich
werden zu können. Soweit dies vorab zu erkennen ist, sollte der Therapeut vor
verhalten müssen, um gesund zu werden, wie das ein organmedizinisch tätiger
Beginn der Behandlung deutlich machen, dass eine effektive Behandlung nicht an
Arzt tun würde, sind unter Umständen erheblich irritiert, wenn sie nicht darauf vorbereitet sind, dass der Psychotherapeut sich in der psychoanalytisch-interakti-
ihren Schwierigkeiten vorbei erfolgen kann, etwa indem lediglich darüber geredet wird, sondern nur »durch die Probleme,hindurch«: die Patienten müssen wissen,
onellen Therapie an der Behandlung auch in der Weise beteiligt, dass er eigenes
dass sie sich ihren Schwierigkeiten stellen und habituell gemiedene Situationen in
Erleben und eigene Gefühle dem Patienten gegenüber ausdrückt, soweit er meint, dass das förderlich sein kann. Darauf sollte der Therapeut den Patienten vor Be-
gewissem Umfang auch auf sich nehmen müssen. Psychotherapie verlangt Aufrichtigkeit. Patienten, die bewusst Vereinbarungen,
ginn der Behandlung vorbereiten. Während der Behandlung machen Patienten
die für die gemeinsame therapeutische Arbeit getroffen wurden, ständig nicht
mit therapeutischer Unterstützung dann meist sehr schnell die Erfahrung, dass es hilfreich ist, Gefühle zu erkennen, die Andere haben, mit denen sie interagieren,
einhalten, sind psychotherapeutisch kaum zu behandeln. Von dieser Regel gibt
um deren Verhalten in Reaktion auf das eigene Verhalten zu verstehen.
es Ausnahmen: Bei Patienten mit einer anorektischen Essstörung, die über ihr Essverhalten falsche Angaben machen, heimlich Medikamente nehmen oder ihr Gewicht ma-
Kooperation in der Behandlung: der Patient
nipulieren, bevor sie sich wiegen, kann es nützlich sein, den Patienten wissen zu lassen, dass mit ihrem unaufrichtigen Verhalten gerechnet werde, weil es Sym-
Patienten, die bis dahin noch keine Erfahrungen mit Psychotherapie gemacht
ptom ihrer Erkrankung sei. Indem der Therapeut dem Patienten vermittelt, dass
haben, verstehen unter Kooperation in der Therapie manchmal, dass sie bereit
er damit rechnet, in Verbindung mit dem Essverhalten nicht die ganze Wahrheit
sind zu tun, was der Therapeut von ihnen erwartet. Für solche Patienten kann es
zu erfahren, nicht deshalb, weil das unaufrichtige Verhalten ein Charakterfehler,
hilfreich sein, ihnen verständlich zu machen, warum ihre aktive und auch kritische
sondern Symptom der Erkrankung ist, kann das - bei aller Empörung, die der
Mitarbeit für eine erfolgreiche Behandlung erforderlich ist. Dabei ist auf Seiten
Patient im ersten Moment daraufhin bekunden mag - mit Erleichterung aufge-
des Patienten zumindest so viel an Aktivität erforderlich, ,dass er seinen derzeitigen
nommen werden. Der Patient weiß jetzt, dass der Therapeut weiß. Nicht selten ,
130
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
erübrigen sich daraufhin die so häufigen Machtkämpfe, die die Behandlung von Patienten mit anorektischen Essstörungen begleiten. Eine andere Ausnahme können Patienten mit antisozialen Zügen darstellen: Ein Patient, der vor mehreren Jahren wegen kleinerer Betrügereien eine Vorstrafe zur .Bewährung erhalten hatte, war in den vorangegangenen Jahren mehrere Male in psychiatrischen Kliniken gewesen. Dort hatte er immer wieder andere Diagnosen erhalten. Zuletzt war ihm die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-Störung im Erwachsenenalter attestiert worden. Bereits wenige Tage, nachdem er zur stationären Aufnahme gekommen war, blieb Herr B. morgens im Bett liegen, hielt verabredete Termine nicht ein, schluckte nicht verordnete Medikamente, die er sich selbst beschafft hatte, und obwohl anders vereinbart meldete er sich nicht ab, wenn er die Klinik verließ, so dass niemand etwas von ihm wusste, wenn er gesucht wurde. Mit seinem Verhalten konfrontiert meinte er, er könne nichts dazu, "er könne das nicht steuern, das sei seine ADHD. Der ausdrückliche Hinweis, dass die Fähigkeit, für das eigene Verhalten die Verantwortung übernehmen zu können, Voraus. setzung dafür sei, ihn unter den gegebenen Bedingungen behandeln zu können und dass er in der Klinik auch so behandelt werde, dass er die Folgen seines Verhaltens tragen müsse, führte nicht dazu, dass sich sein Verhalten in der Folgezeit wesentlich veränderte. Schließlich wurde er vor die Alternative gestellt, entweder sein Verhalten so weit zu steuern, dass er sich an die gegebenen Bedingungen anpasse, oder aber die Klinik zu verlassen. Ein weiteres Mal machte er geltend, dass er sich zwar bemühen würde, dass es aber seine Krankheit sei, die ihn zu solchem Verhalten treibe, so dass er für sein Verhalten nichts könne. Nun wurde er mit der Überlegung konfrontiert, dass - für den Fall, dass er sein Verhalten tatsächlich nicht selbstverantwortlich steuern könne - er unter Umständen in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung oder einer vergleichbaren Einrichtung sich aufhalten müsse, in der Patienten behandelt werden, die aufgrund ihrer Erkrankung für ihr Verhalten nicht verantwortlich sind. Für einige Zeit bemühte er sich erfolgreich, den gegebenen Umständen Rechnung zu tragen und verhielt sich angemessen. Im Gespräch brachte er überzeugend zum Ausdruck, dass es ihm gut tue zu merken, dass man ihm standhalte,. sich von ihm nicht manipulieren ließe und ihm Grenzen setze.
Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit
131
Der Patient muss sich darauf verlassen können, dass der Therapeut seinen Teil der Zusammenarbeit erfüllt. Die Behandlung kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn der Patient weiß, dass auch er seinen Teil der Verantwortung für seine Therapie übernehmen muss. Dazu gehört, dass er sich an die Verabredungen hält, die er mit dem Therapeuten vereinbart hat.
Suizidales und selbstverletzendes Verhalten
. Dass unter einer psychotherapeutischen Behandlung Suizidgedanken und Suizidimpulse auftauchen oder schon vorbestehende Suizidgedanken stärker werden, ist nicht ungewöhnlich und muss für sich genommen noch kein Alarmzeichen sein. Im Gegenteil können auftauchende Suizidgedanken auch ein Zeichen dafür sein, dass ein lange bestehendes, starres und dysfunktionales psychisches Gleichgewicht labil geworden ist und die Therapie Wirkungen zeigt. Alarmierend sind nicht die suizidalen Impulse des Patienten selber, besondere Wachsamkeit ist vielmehr dann geboten, wenn der Patient in einen Zustand kommt, in dem er nicht mehr sicher ist, dass er sein Verhalten angesichts von Suizidimpulsen noch verlässlich steuern kann. Die psychotherapeutische Behandlung suizidaler Patienten ist aber nur unter der Voraussetzung möglich, dass der Patient in der Lage ist, sich an Andere zu adressieren, sobald er nicht mehr sicher ist, ob er die hinsichtlich seines suizidalen Verhaltens getroffenen Absprachen noch einhalten kann. Der Therapeut muss sich darauf. verlassen können, dass der Patient nicht suizidal handelt, auch dann nicht, wenn ihn drängende Suizidimpulse quälen. In der Klinik ist die Behandlung unter offenen Bedingungen dementsprechend nur möglich, wenn sichergestellt ist, dass der Patient sich an das therapeutische Personal wendet, sobald er nicht mehr ganz sicher ist, ob er sein Verhalten noch ausreichend verlässlich kontrollieren kann. Damit der suizidale Zustand des Patienten Gegenstand der therapeutischen Arbeit werden kann, darf der Patient nicht den Eindruck haben, dass der Therapeut seine Suizidgedanken und Suizidimpulse nicht aushält. Der Therapeut kann die Suizidfantasien und Selbsttötungsimpulse des Patienten aber nur unter der Voraussetzung in der gebotenen Intensität und Dichte zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit machen, dass der Patient seine Fantasien und Impulse nicht in die Tat umsetzt und ,sich an die verabredeten Vereinbarungen hält. Für Patienten mit einem ausgeprägten Autarkiebestreben verbindet sich Autonomie manchmal mit der Vorstellung, sich jederzeit ,suizidieren zu können. Sie ,
132 5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit
sagen dem Therapeuten vielleicht zu, dass er »ziemlich sicher« sein könne, dass sie
133
Hat ein Patient tatsächlich einen Suizidversuch unternommen, stellt sich die
sich nichts antun werden, wollen sich aber nicht eindeutig festlegen. Wenn sich
Situation anders dar. In diesem Fall muss neu geprüft werden, ob die Vorausset-
der Therapeut auf solche halbherzigen Vereinbarungen einlässt, mit denen der Patient sich »eine Hintertür offen halten« will, kommt es erfahrungsgemäß bald zu
zungen, unter denen die Behandlung begonnen wurde, weiterhin bestehen, ob die Therapie fortgeführt werden kann oder ob eventuell eine andere Art der Behand-
mehr oder weniger bedrohlichen Kollusionen. Darum sollte der Therapeut bei der
lung für den Patienten besser geeignet ist.
Arbeit mit suizidalen Patienten immer darauf dringen, dass die getroffenen Vereinbarungen sicher und verlässlich eingehalten werden, weder »ziemlich sicher«
Umgang mit Medikamenten
noch »mit großer Wahrscheinlichkeit«, sondern ganz und gar verlässlich. Sagt der Patient das nicht zu, sollte die Behandlung nicht oder nur unter geschlossenen
Bei nicht wenigen Patienten mit strukturellen Störungen ist es unumgänglich,
Bedingungen begonnen werden. Erklärt der Therapeut dem Patienten, dass er
dass sie während der psychotherapeutischen Behandlung auch psychopharma-
durchaus auch aus eigenem Interesse auf verlässlichen Absprachen insistiert, weil
kologisch behandelt werden. Psychotherapie und psychopharmakologische The-
er nicht in ständiger Unruhe leben möchte, ob der Patient nicht doch den Versuch machen wird, sich zu töten, stimmen die weitaus meisten Patienten den notwendigen Vereinbarungen letztlich, wenn auch oft widerwillig zu. Manchmal mag es
r j
.\
rapie schließen sich nicht aus. Das kann beispielsweise bei depressiven Störungen erforderlich sein, bei schweren Schlafstörungen, aufgrund massiver Ängste und
hilfreich sein, die mit dem Patienten getroffene Verabredung" mit einem kleinen
Panikattacken oder bei schwereren paranoiden Symptomen. Allerdings können Psychopharmaka bei der Behandlung von Patienten, deren Störungen in der Per-
rituellen Akt zu bekräftigen und die Vereinbarung per Handschlag zu besiegeln.
sönlichkeit verankert sind, allenfalls symptomatisch wirken. Die grundlegenden
Was geschehen muss, wenn der Patient sich der Steuerung seiner Suizidtend~nzen nicht mehr sicher ist, sollte ebenfalls vor Beginn der Therapie festgelegt
Beeinträchtigungen·werden durch Medikamente nicht erreicht. Wenn ein Patient auch psychopharmakologisch behandelt werden muss, spielt
werden. In jedem Fall muss sich der Patient damit einverstanden erklären, dass er
immer die Frage eine wichtige Rolle, welche Bedeutung und welche Funktion die
im Fall nicht mehr zu steuernder Suizidimpulse bereit ist, sich zu seinem eigenen
Medikamente im Kontext der Behandlung über ihre biologischen Effekte hin-
Schutz auf eine geschlossene psychiatrische Station aufnehmen zu lassen, so lange bis er sein Verhalten wieder ausreichend sicher steuern kann. In der therapeutischen Arbeit mit chronisch suizidalen Patienten, die dazu neigen, ihre Suizid-
aus für den Patienten haben (Kapfhammer 1999). Manche Patienten entwickeln magische Übertragungen auf das Medikament, während die therapeutische Beziehung von ähnlichen Übertragungen frei gehalten wird. Bei anderen Patienten
t
impulse in selbstdestruktives Handeln umzusetzen, ist es nützlich, die Kooperation
wirkt die jederzeitige Zugänglichkeit des Medikaments wie ein phobischer Beglei-
.mit einer psychiatrischen Einrichtung, die über eine geschlossene Station verfügt, vor Beginn der Therapie zu verabreden. In psychotherapeutischen Kliniken wird
ter (König 1981). Wieder andere Patienten versuchen, über den Umgang mit dem Medikament manipulativen und kontrollierenden Einfluss auf den Therapeuten
es solche Kooperationen ohnehin meist geben. Lässt sich die geschlossene Einrichtung, auf der der Patient vorübergehend untergebracht sein muss, ohne zu
zu nehmen. Die Behandlung mit Psychopharmaka muss in fachkompetenter Hand liegen.
großen Aufwand erreichen, empfiehlt es sich, dass der Therapeut, der mit dem
Ob die medikamentöse Behandlung in der Hand des ärztlichen Psychothera-
Patienten bis dahin psychotherapeutisch gearbeitet hat, zu dem Patienten hingeht,
peuten - entsprechende Fachkompetenz vorausgesetzt - liegen kann, oder ob ein
wenn möglich sogar zu den regulären Therapiezeiten, und die therapeutischen
Psychiater hinzugezogen wird, der dann ausschließlich für die medikamentöse
Gespräche in der psychiatrischen Einrichtung weiterführt, solange der Patient
Therapie zuständig ist, wird im Einzelfall zu entscheiden sein. Falls ein Psychiater
dort untergebracht ist. Das kann unter anderem dann besonders wichtig .sein,
dafür zuständig sein soll, ist eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit von
wenn die Gefahr besteht, dass dem Patienten aufgrund fragiler Objektkonstanz
Psychotherapeut und Psychiater wichtig, damit verlässliche Absprachen getroffen
die Beziehung zu seinem Therapeuten verloren zu gehen droht.
werden können und beide sich wechselseitig ausreichend informieren. Andernfalls
'"
134
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
kann es schwierig werden, manipulatives und agierendes Verhalten von Patienten als solches zu erkennen und damit in einer für den Patienten förderlichen Weise umzugehen.
Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit
.nicht immer zumutbar, an einmal getroffenen Vereinbarungen, beispielsweise an einer einmal verabredeten Stundenfrequenz oder an festen Behandlungszeiten unverrückbar festzuhalten. Die Auffassung, dass einem Agieren des Patienten Vorschub geleistet wird, wenn der Therapeut Verabredungen verändert, ist für die Be-
auf seine Verfügbarkeit für den Patienten oftmals flexibel verhalten. Krisentermine können notwendig werden, es kann erforderlich sein, die Dauer der einzelnen therapeutischen Sitzungen zu verkürzen, dafür aber häufigere Termine zu verabreden, unter Umständen kann es auch einmal sinnvoll sein, die Zeiten zwischen den Therapieterminen auszudehnen oder Nottermine anzubieten. Immer, auch in sich zuspitzenden Krisensituationen, bleibt der Patient »Verhandlungspartner« des Therapeuten: Beide, Patient und Therapeut, haben bestimmte Vorstellungen davon, welche Bedingungen im Augenblick für die Behandlung am günstigsten sind; darüber verhandeln sie miteinander und finden nach Möglichkeit eine für beide Seiten akzeptable und tolerable Lösung. Dabei spricht der Therapeut den Patienten als Person an, die potentiell am besten weiß, was für sie gut und erträglich ist, auch wenn das der Wirklichkeit nicht oder nur partiell zu entsprechen scheint. Auch darin verwirklicht sich die Progressionsorientierung der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeitsweise. .Wie die konkreten Verabredungen mit dem Patienten aussehen, muss auch von den institutionellen und persönlichen·Möglichkeiten des Therapeuten abhängig gemacht werden. Als günstig hat sich erwiesen, wenn dem Patienten bestimmte Zeitspannen während der Arbeitswoche angeboten werden können, zu denen er im Notfall versuchen kann, den Therapeuten zu erreichen. Erfahrungsgemäß führen solche flexiblen Bedingungen auf Seiten des Therapeuten nicht etwa zu der oftmals befürchteten Zunahme-von »Agieren« und damit verbundenen Turbulenzen. Im Gegenteil übernehmen Patienten meist mehr an Verantwortung für ihr eigenes Verhalten. Therapeuten, die außerhalb regulärer Therapiezeiten so gut wie gar nicht erreichbar sind, beispielsweise deshalb, weil ihre Praxisorganisation das nicht .zulässt, werden die für die Be~andlung von Patienten mit schweren strukturellen Störungen erforderlichen Voraussetzungen oft nicht bereitstellen können . . Flexible Rahmenbedingungen sind nicht dasselbe wie unsichere oder unzuverlässige Rahmenbedingungen, und ein flexibler Rahmen angesichts solcher be-
handlung neurotischer Patienten adäquat und hilfreich; entsprechendes Verhalten strukturell gestörter Patienten als Agieren zu verstehen, geht an der psychischen
sonders schwierigen Bedingungen induziert erfahrungsgemäß nicht regressives, sondern im Gegenteil ein stärker an der Realität orientiertes Verhalten.
In jedem Fall werden auch im Hinblick auf die Frage, was geschehen muss, wenn der Patient Medikamente benötigen sollte, schon vor Beginn der Behandlung verbindliche Absprachen getroffen.
Therapie außerhalb der Therapiezeiten
Strukturell gestörte Patienten geraten häufig in schwere psychische und psychosoziale Krisen, in denen sie erheblich gefährdet sein können, sich selbst schwere Verletzungen zuzufügen, sich mit Alkohol zu betäuben, sich zu suizidieren oder sich in einer Weise zu verhalten, die andere hohe Risiken für die eigene körperliche und seelische Gesundheit mit sich bringt. Solche Krisensituationen verlangen einen auf den einzelnen Patienten und dessen spezifische Bedirtgungen individuell abgestimmten therapeutischen Umgang. Patienten, die nach geringfügigen Versagungen aufgrund mangelnder Objektkonsranz in tiefe Zustände von Verlassenheit fcrllen, verlangen anderes therapeutisches Verhalten als Patienten, die imperativ nach sofortiger Befriedigung ihrer Bedürfnisse verlangen. Weit gefasste diagnostische Kategorien wie die der Borderline-Pathologie lassen leicht vergessen, wie verschieden Patienten sind, bei denen eine Borderline-Störung diagnostiziert wird und wie notwendig es deshalb ist, derartige Differenzierungen vorzunehmen. So unverzichtbar verlässliche Rahmenbedingungen für die Behandlung strukturell gestörter Patienten sind, so ist es für viele schwerer gestörte Patienten dennoch
Realität dieser Patienten vorbei. Die Patienten lösen mit ihrem als Agieren missverstandenen Verhalten keine unbewussten Konflikte, sondern sie verfügen nicht über die psychischen Ressourcen, um angesichts von unspezifischen Versagungen und Belastungen ihr psychisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Darum muss sich der Therapeut bei der Arbeit mit strukturell gestörte~ Patienten im Hinblick
135
Dauer der Behandlung
Auch über die voraussichdiche Dauer der Behandlung wird schon im Vorgespräch »verhandelt«. Wird die Behandlung im ambulanten Rahmen durchgeführt, ist ~
136
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
die Dauer der Behandlung in den meisten Fällen durch die Psychotherapie-Richtlinien für tiefenpsychologisch fundierte Einzel- und Gruppenbehandlungen festgelegt. Die Dauer stationärer psychotherapeutischer Behandlungen ist meist auf wenige Wochen begrenzt. Die Dauer der Behandlung begrenzt auch die Ziele, die realistischerweise erreicht werden können. Manchmal ist es erforderlich, den Patienten frühzeitig vor der zu erwartenden Beendigung der Therapie an die zeitliche Limitierung zu erinnern.
Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit
137
halb des bisher verabredeten Rahmens nicht vorgesehen waren, und der Rahmen muss weiter gefasst werden, beispielsweise deshalb, weil der Patient sich bis dahin gemiedenen Situationen aussetzen sollte. Im günstigen Fall kann der Rahmen sukzessive weiter und durchlässiger und den Bedingungen der Alltagswelt allmählich angenähert werden, bis der Patient in der Lage ist, mit den entsprechenden Verhältnissen auch unter Ernstfallbedingungen allein fertig zu werden.
Gruppentherapie in der Ambulanz und in der Klinik Rahmen und therapeutische Ordnung In der ambulanten Gruppentherapie gehen die Gruppenteilnehmer nach BeManchmal werden Rahmenbedingungen rigide aufrechterhalten, ohne dass sie inhaltlich vertreten und therapeutisch begründet werden können. Sie geraten dann leicht zu abstrakten Instrumenten einer starren Ordnungsrnacht. Diese Gefahr ist in totalen Institutionen (Goffman 1972) besonders groß. Auf der anderen Seite werden Rahmenbedingungen manchmal wie unverbindliche Regelungen gehandhabt, die mehr oder weniger folgenlos überschritten werden können. In diesem Falle besteht die Gefahr, dass der therapeutische Raum von Willkür bedroht wird, so dass die Patienten sich nicht ausreichend sicher und gehalten fühlen können. Im besten Fall haben die Rahmenbedingungen in der stationären Psychotherapie von Patienten mit schweren strukturellen Persönlichkeitsstörungen ähnliche Funktionen wie die, die Trimborn (1994) für die analytische Situation beschrieben hat: sie sind konstitutives Element von Abgrenzung und Kohärenz, Garant der therapeutischen Regression und des Übergangsraumes, verbindliches Gesetz für die Therapeuten und Hinweis auf deren Zuverlässigkeit. . Die Gestaltung des Rahmens, seine Enge oder Weite, Durchlässigkeit oder Undurchlässigkeit zur äußeren Realität hin bemisst sich in erster Linie an der Pathologie des Patienten, die aktuell im Vordergrund steht, weiter an dem Schutz, den der Patient benötigt, aber auch an den Anforderungen und Belastungen, die als Entwicklungsanreize notwendig sind. In vielen Fällen wird der Rahmen im Verlauf der Behandlung je nach dem Stand der Behandlung verändert. So kann es zum Beispiel erforderlich sein, dem Patienten mit Hilfe von Rahmenbedingungen sicherere Orientierungen zu bieten, weil sich herausgestellt hat, dass der Patient sich nicht ausreichend gehalten fühlt, indem die Rahmenbedingungen engmaschiger als bis dahin gefasst werden. Bei anderen Patienten kann es im Verlauf der Behandlung wichtig werden, sie mit Bedingungen zu konfrontieren, die inner-
endigung der Gruppensitzung auseinander und haben gewöhnlich nur so lange miteinander zu tun, wie sie in der Praxis des Gruppentherapeuten zusammen sitzen. Darum müssen sie meist nicht mit weiter reichenden Folgen in ihrem Alltag rechnen, wenn sie einem Gruppenteilnehmer in der Behandlung etwas sagen, was man sich im Alltag nicht ohne weiteres sagen würde, oder wenn es aus anderen Gründen zu Auseinandersetzungen und Konflikten in der Gruppe kommt. Manchen Patienten fällt es deshalb in therapeutischen Gruppen, die unter ambulanten Bedingungen stattfinden, leichter, kritische und ängstigende Seiten der interpersonellen Beziehungen in der Gruppe anzusprechen als in Gruppen, die im stationären oder teilstationären Rahmen stattfinden. Im Rahmen der Klinik müssen die Gruppenteilnehmer unter Umständen damit rechnen, dass das, was sie zueinander äußern, und die Art und Weise, wie sie ihre Beziehungen in der Gruppe handhaben, sich darauf auswirkt, wie sie außerhalb der Gruppe miteinander umgehen, auch wenn das nach Möglichkeit vermieden werden sollte. Je kleiner die klinische Einrichtung, desto weniger können sich die Patienten aus dem Weg gehen. Das muss nicht nur ein Nachteil sein. Im Gegenteil ist es für die Behandlung von Patienten, deren strukturelle Störungen sich in hohem Maße in interpersonellen Beziehungen manifestieren, oft von besonderem Vorteil, wenn der Therapeut die Möglichkeit hat, den Blick über die innere Welt des Selbst und der Objektbeziehungen hinaus zu lenken und zu beobachten, wie die Patienten sich im Alltag in der Klinik im Kontakt mit Anderen verhalten, und diese Erfahrungen in die Therapie einzubeziehen. Auf diese Weise kann er das Verhältnis der inneren Welt des Patienten zu dem manifesten interaktiven Verhalten in Beziehung zu Anderen erkennen und untersuchen. Wegen der dichteren Frequenz der Gruppensitzungen, die im Rahmen der Be- ~
138
5. Die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie
handlung in der Klinik möglich ist, können Beeinträchtigungen und Konflikte kontinuierlicher bearbeitet werden, und der Therapeut kann den Patienten hier m·eist mehr zumuten als unter ambulanten Bedingungen. Auf der anderen Seite wird den Gruppenteilnehmern eine geringere Spannungstoleranz abverlangt als dies dann der Fall ist, wenn sie sich erst nach einer Woche wieder sehen, wie üblicherweise bei der Gruppentherapie im ambulanten Rahmen. Strukturell gestörte Patienten sind oft nicht in der Lage, Beziehungen zu wichtigen Personen innerlich aufrechtzuerhalten, die nicht physisch anwesend sind oder die sich als versagend oder »böse« erwiesen haben. Im Falle von Konflikten kommt es daher leicht zu Objektverlust. Die stationäre Behandlung hat den Vorteil, dass der Therapeut die Patienten am nächsten Tag wieder sieht und unmittelbar reagieren kann, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass die innere Beziehung aufgekündigt wurde. Unter ambulanten Bedingungen wird sich der Therapeut rechtzeitig vor dem Ende der Gruppensitzung ein Bild über drohende Krisensituationen machen, zum Beispiel dann, wenn ein Patient nach einer Phase aktiver Beteiligung an der Gruppe plötzlich verstummt und dem Geschehen nicht mehr zu folgen scheint.
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behand Iungstech nik
Die Art und Weise, wie der Psychotherapeut sich in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie an dem »Austausch von Worten« beteiligt, trägt den besonderen Umständen von Patienten mit schweren strukturellen Störungen der Persönlichkeitsorganisation in mehrfacher Hinsicht Rechnung: Im Mittelpunkt der therapeutischen Aufmerksamkeit stehen sowohl Aspekte des subjektiven Erlebens und der Selbstregulierung wie der Gestaltung von Beziehungen und der Interaktionsregulierung. Interaktion umfasst das wechselseitige soziale Handeln und damit sowohl das Verhalten des Patienten im Kontext des Verhaltens des Therapeuten als auch das Verhalten des Therapeuten im Kontext .des Verhaltens des Patienten. Mit ihrem aufeinander bezogenen Verhalten gestalten Patient und Therapeut die therapeutische Beziehung in CoProduktion. Der Psychotherapeut fördert nicht Regression, sondern ist auf Progression hin ausgerichtet. Damit trägt er dem Umstand Rechnung, dass strukturelle und komplexe Störungen nicht auf unbewusste Konflikte zurückzuführen sind. Die Orientierung des Therapeuten auf Progression hin dokumentiert sich unter anderem in seiner Haltung dem Patienten gegenüber und in der Art und Weise, wie er am Gespräch mit seinem Patienten teilnimmt. Die Therapie ermöglicht dem strukturell beeinträchtigten Patienten, sich nicht oder nicht ausreichend verfügbare basale psychische Funktionen anzueignen und ausüben zu können, zu strukturellen Weiterentwicklungen zu gelangen und an interpersonellen Beziehungen teilnehmen zu können, die von Reziprozität bestimmt sind. Die Therapie ist somit auf Entwicklung und Weiterentwicklung des Selbsterlebens, von Objektbeziehungen und basalen psychischen Funktionen sowie von Möglichkeiten des Im-Kontakt-mit-Andere?--Seins ausgerichtet. Das schließt die Entwicklung der Fähigkeit ein, die Wirkung des ei-
140
Das therapeutische Setting
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
genen Verhaltens auf Andere erkennen und das Erleben und Handeln Anderer als motiviert verstehen zu können (Mentalisierungsfunktion).
auf der Couch zu liegen. Meist stellt sich dann heraus, dass das Couchsetting ihre Neigung unterstützen soll, direkte soziale Interaktion zu vermeiden. Den meisten
Die psychoanalytisch-interaktionelle Arbeitsweise trägt weiter dem Umstand
Patienten mit schweren sozialen Ängsten ist die Vorstellung, vom Therapeuten
Rechnung, dass Erfahrungen von Patienten mit strukturellen und kO!llplexen
angeblickt zu werden, während sie auf der Couch liegen, ohne ihrerseits den The-
Störungen mit ausbeuterischen und traumatischen Beziehungen nicht oder nur
rapeuten sehen zu können, jedoch noch unerträglicher als die Vorstellung, dem
selten mit Worten zum Ausdruck gebracht und in Erzählungen dargestellt wer-
Therapeuten von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Andere sozial ängstliche
den können, sondern in einem externalisierenden Modus nicht-symbolisch im
Patienten, die es' nicht gut ertragen können, gesehen zu werden, drücken das Be-
Verhalten zur Darstellung komry.en. Darum richtet sich die Aufmerksamkeit
dürfnis aus, vom Therapeuten nicht angeblickt zu werden und selber den Thera-
des Therapeuten in besonderem Maße immer auch auf das manifeste interper-
peuten nicht zu sehen. In diesem Fall kann es genügen, wenn der Therapeut seine
sonelle Verhalten im Kontakt mit dem Patienten, über das beide ihr Verhältnis zueinander gestalten.
Sitzposition so wählt, dass er dem Patienten nicht direkt gegenüber sitzt, sondern
Die Schwierigkeiten strukturell gestörter Patienten im Zusammensein mit
sich mehr oder weniger weit von ihm wegwendet. Sich auf die Couch zu legen wird einem Patienten für eine psychoanalytische
Anderen werden nicht ausschließlich im Hinblick auf das subjektive Erleben des Patienten betrachtet, sondern zugleich sind die sichtbaren und hörbaren
Behandlung in erster Linie deshalb empfohlen, damit er sich leichter auf sich selbst konzentrieren kann. Das beinhaltet ein Regression förderndes Element in-
Mittel und Verfahren, mit denen das reale interaktive Geschehen in der thera-
sofern, als damit die Möglichkeit, sich an der äußeren Realität ' zu orientieren,
peutischen Beziehung gestaltet wird, ein wichtiger Fokus der therapeutischen Aufmerksamkeit.
eingeschränkt wird. Der Psychoanalytiker ist kein eigentliches Gegenüber und
-= Weil nichtsprachliches Verhalten wichtige Funktionen in Zusammenhang mit
deshalb auch kein Partner an sozialer Interaktion, die mit Interaktion im Alltag annähernd vergleichbar wäre. Das therapeutische Gespräch beschränkt sich hier
der Regulierung von Interaktion und der Gestaltung von interpersonellen Be-
auch weit mehr auf einen »Austausch von Worten« (Freud 1916) als das in Be-
ziehungen erfüllt, ist der Therapeut in besonderem Maße für das körperliche Verhalten des Patienten aufmerksam.
handlungen der Fall ist, bei denen sich Patient und Therapeut gegenübersitzen und ihre Beziehung auch mit körperlichen Mitteln regulieren. Die Psychoanalyse
Die therapeutische Beziehung wird in einer Weise gehandhabt, die es dem Pati-
konstituiert eine Situation des »einseitigen Blicks« (Sartre 1969). Für den kommu-
enten ermöglicht, in und mit der therapeutischen Beziehung neue Erfahrungen des Im-Kontakt-mit-Anderen-Seins zu machen.
nikativen Austausch und die Regulierung ihrer Interaktion im analytischen Setting können sich Patient und Analyti~er außer auf ihre Worte nur auf prosodische Mittel stützen wie Pausen, Unterbrechungen oder Verzögerungen, Lautstärke und
Das therapeutische Setting
Lautstärkewechsel, Stimmklang und Sprachmelodie; auch die Bewegung und der Rhythmus der Stimme können kommunikative und regulative Funktionen erfül-
Das Setting der Einzeltherapie
len (Ogden 1998). Patienten mit schweren strukturellen und komplexen Beeinträchtigungen sind
In der Einzeltherapie sitzen sich Patient und Therapeut gegenüber. Ein therapeu-
auf ein reales, sicht- und hörbares Gegenüber angewiesen, um sich orientieren
tisches Setting wie das Couchsetting der Psychoanalyse, das regressive Prozesse
und um ihre Selbstregulierung ausreichend stabil aufrechterhalten zu können, auf
fördert, ist für Patienten mit strukturellen Störungen ungeeignet. Auch Patienten,
eine reale andere Person, deren Reaktionen sie beobachten und auf deren Verhal-
die durch gravierende soziale Ängste beeinträchtigt sind, sollten im Gegen~ber
ten sie reagieren können. Nichtsprachliches Verhalten ist für ihre Orientierung
sitzen behandelt werden. Gelegentlich drücken »therapieerfahrene« Patienten mit
unverzichtbar. Darum liegt es nahe, dass sich der Therapeut strukturell gestörten
sozialen Ängsten den Wunsch aus, bei der Behandlung wie in einer Psychoanalyse
Patienten als reales Gegenüber zur Verfügung stellt.
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142
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Meist sind die Stühle von Patient und Therapeut in einem Winkel von etwa 110 bis 160 Grad zueinander angeordnet. Manchmal kann man beobachten, dass sowohl Patienten als auch Therapeuten die Position der bereitstehenden Stühle, auf denen sie im nächsten Moment Platz nehmen wollen, verändern, wenp diese frontal zueinander stehen. Soweit die Umstände das erlauben, arrangieren sie die Positionen so, dass sie leicht abgewandt voneinander sitzen können. Stellt man sich einen dreiarmigen Stern vor, auf dessen Schenkeln die beiden Stühle stehen, bliebe der dritte Schenkel dieses Sternes unbesetzt. Man mag darüber spekulieren, wieweit damit die potentielle Offenheit des dyadischen Systems dargestellt und die Möglichkeit des Hinzukommens einer dritten Person symbolisch markiert wird.
Das Setting der Gruppentherapie
Wird die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie als Gruppentherapie durchgeführt, nehmen daran nach Möglichkeit neun bis zehn udd nicht weniger als fünf oder sechs Patienten teil. Im stationären Rahmen findet die therapeutische Gruppe möglichst drei bis vier Mal pro Woche statt, im Rahmen tagesklinischer Behandlungen unter Umständen auch täglich. Dabei schwankt die übliche Dauer der einzelnen gruppentherapeutischen Sitzung zwischen 60 und 90 Minuten. Überzeugende empirische Untersuchungen, aus denen sich verlässlich auf die optimale Frequenz und Dauer von therapeutischen Gruppensitzungen im ambulanten und im stationären Rahmen für unterschiedliche Patientengruppen schliegen ließe, liegen nicht vor. Im ambulanten Sektor sind Frequenz und Dauer der einzelnen Gruppensit. zung mit den Kassenregelungen vorgegeben: Gruppentherapie kann nur einmal pro Woche stattfinden, und die einzelne Sitzung muss eine Dauer von 100 Minuten haben. Es ist zu bezweifeln, dass diese zeitlichen Vorgaben für Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen günstig sind. Zumindest Patienten, deren Entwicklungsstörungen so gravierend sind, dass sie einer Krankenhausbehandlung bedürfen, sind in ihren Toleranzgrenzen mit Gruppensitzungen, die deutlich länger als eine Stunde dauern, oftmals überfordert. Angesichts von heftigen archaischen Affekten, Ängsten vor Kontrollverlust, destruktivem Neid, Kränkungen, Angst verletzt zu werden, Scham und Schwierigkeiten, Grenzen aufrecht zu erhalten - Probleme, wie sie in der therapeutischen Arbeit mit strukturell gestörten Patienten eher die Regel als die Ausnahme sind - können Gruppensitzungen von
Die Haltung des Psychotherapeuten
143
einer Stunde Dauer günstiger sein als die in den Kassenregelungen vorgesehenen 100 Minuten. Eine Überforderung anderer Art kann es für viele Patienten bedeuten, wenn die Gruppensitzungen nur einmal in der Woche stattfinden. In diesem Fall ist der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Gruppensitzungen zu groß, insbesondere dann, wenn die Beziehungen zur Gruppe, zum Therapeuten und zu Mitpatienten aufgrund eingeschränkter Objektkonstanz über eine einwöchige Unterbrechung hinweg nicht aufrechterhalten werden können. Unter stationären Bedingungen werden die Gruppentherapien entweder als geschlossene oder als halboffene Gruppen durchgeführt. Geschlossene Gruppen, die über eine festgelegte Zeit hinweg einen festen Teilnehmerkreis haben, bieten meist größere Chancen, umschriebene Probleme und Konflikte umfassend zu bearbeiten als das dann der Fall ist, wenn die Gruppen halboffen geführt werden, also ein neuer Teilnehmer immer dann in die Gruppe kommt, wenn ein altes Mitglied die Gruppe verlässt. In halboffen geführten Gruppen nehmen Themen wie die Regelung von Kontaktinitiative, von Nähe und Distanz,von Vertrauen und Misstrauen, Kränkungsschutz und Objektkonstanz, die für Patienten mit strukturellen Störungen häufig besonders wichtig sind, oft breiten Raum ein.
Die Haltung des Psychotherapeuten Die Schwierigkeiten von Patienten mit gravierenden strukturellen Störungen, über ihre Erfahrungen und über die therapeutische Beziehung gemeinsam mit dem Psychotherapeuten zu reflektieren, verweisen auf Beeinträchtigungen der Fähigkeit, sich reflexiv auf sich selbst und auf das Geschehen zu beziehen, an dem sie aktuell teilnehmen und das sie selbst mit konstituierep; sie sind nicht Ausdruck von Widerstand. Der Therapeut muss damit rechnen, dass sich die Patienten nicht von sich aus mitteilen. Konfrontationen des Therapeuten .m it diesem Verhalten führen nicht zu Veränderungen. Wenn der Therapeut das Schweigen als an ihn gerichtete Aufforderung interpretiert, die Initiative zu ergreifen, führt das kaum jemals dazu, dass der Patient sein Schweigen unterbricht. Im Gegenteil wird der Patient sich in der Folge meist noch ungenügender fühlen, weil er sich durch die Äußerung des Therapeuten in seinem Unvermögen bestätigt sieht, das es ihm noch nicht einmal möglich macht, ein Gespräch mit dem Therapeuten zu führen und in Gang zu halten. Um mit dem Patienten in einen dichteren Kontakt zu
~
144
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
kommen, muss der Therapeut der Erwartung des Patienten faktisch nachkommen
Die Haltung des Psychotherapeuten
gegenüber aus der Haltung einer realen, erreichbaren anderen Person heraus,
und die Initiative zur Kontaktaufnahme und zum Gesprächsbeginn auch tatsäch-
eines zugewandten Gegenübers und eines Mitspielers in sinnlich gegenwärtiger
lich selber übernehmen, also den Wunsch des Patienten nicht nur entsprechend interpretieren.
Interaktion. Darin unterscheidet sich sein Interaktions- und Kommunikationsstil in charakteristischer Weise von dem des Psychoanalytikers, der für den Patienten
Lässt der Therapeut die impliziten Aufforderungen und Beziehungsangebote des Patienten unbeantwortet oder nimmt sie nur verstehend und interpretierend
in weit höherem Maße eine vieldeutige Figur bleibt, Objekt von Projektionen und Fantasien, darauf bedacht, dem Patienten die Gestaltung des therapeutischen
auf, kann der Patient mit den Interpretationen entweder nichts anfangen oder
Raums zu überlassen; Nach außen hin zurückgenommen, konzentriert sich der
sieht sich auf sich selbst zurück verwiesen. Manchmal führt das dazu, dass dem
Psychoanalytiker auf unbewussten Sinn, der »zwischen den Zeilen« der manifesten
Patienten noch verbliebene Funktionen der Anpassung verloren gehen. Leiden
Äußerungen des Patienten aufscheint, und er ist dabei mehr auf das Nicht-Gesagte
Patienten darüber hinaus an generalisierten sozialen Ängsten, halten sie an ihrem
als auf das sicht- und hörbare, sinnlich wahrnehmbare Verhalten des Analysanden
passiv-abwartenden, Kontakt vermeidenden Verhalten meist äußerst hartnäckig fest.
eingestellt. Der Therapeut in der psychoanalytisch-interaktionellen Behandlung
Die Beteiligung des Psychotherapeuten am therapeutischen Gespräch muss deshalb für den Patienten erfahrbar aktiver ausfallen als das bei dem »Aust4usch
sondern auf die manifeste Bedeutung und den manifesten pragmatischen Gehalt der Äußerungen seines Patienten, auf dessen sicht- und hörbares körperliches Ver-
von Worten« in der Psychoanalyse üblicherweise der Fall ist. r>er Therapeut bleibt hier weit weniger anonym als in einer Psychoanalyse und stellt sich dem Pati-
halten sowie dessen pragmatisch-interaktive Implikationen. Präsenz meint diese wache Aufmerksamkeit für das wahrnehmbare sprachliche und nichtsprachliche
enten als erreichbares, berührbares Gegenüber zur Verfügung. Zwar bleibt auch
Verhalten und die auf kommunikativen Austausch und Interaktion eingestellte
der Psychoanalytiker für den Patienten nie ganz und gar anonym; im Vergleich ist der psychoanalytisch-interaktionell arbeitende Therapeut jedoch in weit höherem
seine Rolle in einer kognitiven, emotionalen und interpersonellen Einstellung aus,
Maße auf manifesten Austausch eingestellt als darauf, mehr oder weniger unerkennbar zu bleiben. Er beteiligt sich am interaktiven Geschehen als eine erlebende andere Person mit Konturen, die für den Patienten selektiv identiHzierbar ist, die
eigene Gefühle und Vorstellungen hat und die durch das Verhalten des Patienten zu beeinflussen ist.
145
ist nicht zuerst auf Verstehen des Nicht-Gesagten und Verborgenen eingestellt,
Haltung (Heigl-Evers, Heigl 1983). Dieser Haltung gemäß übt der Therapeut die sich mit dem Bemühen verbindet, genau auf das hinzuhören, was gesagt wird, und zu erkennen, wie der Patient sich mit seinem sicht- und hörbaren Verhalten zu ihm und umgekehrt der Therapeut sich mit seinem Verhalten zu dem Patienten ins·Verhältnis setzt.
Authentizität als Haltung Der Psychotherapeut als präsente andere Person
Authentizität ist ein schillernder Begriff. Bezogen auf eine Person bezeichnet Au-
Zurückhaltung und relative Unerkennbarkeit sind in der Psychoanalyse wohlbe-
thentizität Eigenschaften wie unverstellt, echt, ungekünstelt, in ihrer Selbstdar-
gründete Haltungen, die es dem Patienten erleichtern sollen, den therapeutischen
stellung und ihrem Handeln unabhängig von fremden Erwartungen und äußeren
Raum mit seiner eigenen psychischen Realität zu füllen und auszugestalten, ohne
Zwängen. Authentizität als Haltung des Psychotherapeuten meint, dass der The-
vom Psychoanalytiker zu sehr beeinflusst zu werden. Das gemeinsame Voran-
rapeut sich unverstellt und in Übereinstimmung mit seinem Erleben und seinen
schreiten von Patient und Psychoanalytiker führt gewöhnlich über regressive Tie-
Gefühlen verhält, wenn er in der für das psychoanalytisch-interaktionelle Vorge-
fen, und der Patient gewinnt Erinnerungen und verschüttete Erfahrungen zurück,
hen kennzeichnenden Weise antwortend interveniert.
die ihm zu einem umfassenderen Verständnis seiner selbst verhelfen. Bei dem psy-
Authentizität ist der »Natürlichkeit« und »natürlichen Menschlichkeit« ver-
choanalytisch-interaktionellen Vorgehen handelt der ~herapeut dem Patienten
wandt, die Paula Heimann (1978) in Gegenüberstellung zu dem forderten Be-
~
146
Die Haltung des Psychotherapeuten
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
mühen um Neutralität beschrieben hane. Mit ihrer Aufforderung zur Natürlichkeit hatte Heimann dafür plädiert, dass sich die Haltung des Analytikers seinem Patienten gegenüber nicht zuerst nach technischen Erwägungen bestimmen, sondern sich an mitmenschlicher Verbundenheit mit dem Patienten orientieren solle, ohne dass sich der Analytiker deshalb von mehr oder weniger diffusen Gefühlen leiten ließe und Mitagieren sein analytisches Verstehen und seine klinische Erfahrung ersetzen würden. In diesem Sinn kann die Haltung des psychoanalytisch-interaktionell arbeitenden Psychotherapeuten ebenfalls »natürlich« genannt werden. Sie unterscheidet sich von der Haltung des Psychoanalytikers jedoch darin, dass er sein Erleben und seine Gefühle dem Patienten gegenüber - therapeutisch wohl begründet - selektiv zu erkennen gibt. Heigl-Evers und Heigl (1983) hatten deshalb auch von »selektiver Authentizität« gesprochen. Allerdings handelt der Psychotherapeut nicht »selektiv authentisch« in der Weise, dass er manchmal authentisch ist und manchmal nicht. Vielmehr sind es diagnostische und therapeutische Gesichtspunkte, nach denen er entscheidet, welche Aspekte seines Erlebens und welche seiner Gefühle er jeweils mitteilt und welche nicht. Das geschieht in Antizipation der Wirkung auf den Patienten, die seine Interventionen voraussichtlich haben werden. Darin ist das Verhalten des Therapeuten kommunikativem Verhalten im Alltag ähnlich: Auch wenn wir im Alltag miteinander kommunizieren, teilen wir uns unser Erleben und unsere Gefühle nicht beliebig, sondern selektiv mit. Während wir die Entscheidung, ob und wie wir das tun, im Alltag vor allem danach fällen, in welchem Verhältnis wir zu unserem Gegenüber stehen und worüber wir gerade miteinander sprechen, und während wir uns dabei von unserem Taktgefühl und von Regeln der Höflichkeit leiten lassen, teilt der Therapeut dem Patienten eigenes Erleben und Gefühle unter dem Gesichtspunkt mit, wieweit davon in diesem Moment eine entwicklungsförderliche Wirkung zu erwarten ist. In Zusammenhang mit der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie soll der Begriff der Authentizität zudem unterstreichen, dass der Therapeut jedwedes Erleben, das sich bei ihm in Antwort auf das Verhalten und auf die Beziehungsangebote seines Patienten einstellt, uneingeschränkt zulässt. Nur unter dieser Voraussetzung kann er die Erfahrungen der Patienten mit den traumatisierenden, missbräuchlichen, ausbeuterischen, vernachlässigenden oder gewalttätigen Bezie-
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seinem Patienten somit nicht nur als Antwort auf dessen unbewusstes Erleben auf, sondern sieht sein Erleben zuallererst als Ausdruck seiner eigenen Subjektivität. Auch wenn seine Gefühle und Handlungsbereitschaften bei der therapeutischen Arbeit in Verbindung mit dem Unbewussten des Patienten stehen, ist das doch nicht ihre ausschließliche Verfassung, wie ein allzu großzügiger Gebrauch des Konzepts der projektiven Identifizierung das manchmal glauben machen könnte. Der Therapeut verhält sich somit in erster Linie als eine andere Person, die er für den Patienten ist, die mit ihren eigenen Gefühlen auf das manifeste Verhalten des Patienten in dieser Situation reagiert. Schließlich meint Authentizität in diesem Zusammenhang, dass der Therapeut die Gefühle, die er in der Behandlung mit seinen antwortenden Interventionen zum Ausdruck bringt, auch tatsächlich empfindet, und dass er wirklich so erlebt, wie er das zum Ausdruck bringt, und sich nicht verstellt. Zwar gibt er sein Erleben dem Patienten selektiv und diagnostisch wie therapeutisch reflektiert zu erkennen, je nach dem, ob. davon eine entwicklungsförderliche Wirkung für den Patienten zu erwarten ist oder nicht; er drückt Erleben und Gefühle aber nur unter der Voraussetzung aus, dass er auch tatsächlich verspürt, was er mit Worten ausdrückt. Andernfalls liefe er Gefahr, sich wie ein Schauspieler zu verhalten, der Regieanweisungen folgt, die ihm von außen auferlegt sind und ihn dazu anhalten, sich in einer Weise zu verhalten, die seinem tatsächlichen Erleben möglicherweise fremd ist. Nur wenn der Therapeut in der Lage ist, jegliches Erleben bei sich selbst zuzulassen, auch jene oft heftigen, aversiven und »grenzenlosen« Gefühle und Impulse, die sich in der therapeutischen Arbeit mit strukturell gestörten Patienten so leicht einstellen können, kann er sein Erleben diagnostisch begründet und therapeutisch gezielt und damit selektiv zum Ausdruck bringen. Somit ist der Psychotherapeut in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie kein technisch neutraler"Experte für Krankheiten und Störungen, sondern gibt sich dem Patienten vor allem als Gegenüber zu erkennen, als eigenständiges Subjekt, als erlebender Mitspieler in einem Beziehungsgeschehen, das von beiden gemeinsam gestaltet wird.
Emotionale Akzeptanz und Gegenübertragungsgefühle
hungen, auf deren Hintergrund sich ihre Entwicklung oftmals vollzogen hat und die in hohem Maß ihr gegenwärtiges Erleben und Verhalten im Kontakt mit An-
Mit der relativen Verwandtschaft des Gesprächs in der psychoanalytisch-interak-
deren bestimmen, verstehen. Der Therapeut fasst seine Gefühle im Umgang mit
tionel1en Therapie mit Interaktion im Alltag kann für manche Psychotherapeuten ,
148
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
eine besondere Schwierigkeit verbunden sein, weil der Expertenstatus des Therapeuten hier nach außen hin viel weniger kenntlich gemacht wird als bei anderen
B~handlungsmethoden. Nicht zuletzt mit dieser Nähe zur Interaktion im Alltag
Die Haltung des Psychotherapeuten
wie die des Patienten, kann es aber auch leicht dazu kommen, dass der Therapeut sie abwehren muss; das kann auch in der Weise geschehen, dass er sie ausschließlich dem Patienten zuschreibt, der sie vermeintlich nur in ihn verlagert hat.
ist aber auch ein wichtiger Aspekt des therapeutischen Nutzens der psychoana-
Dass Gegenübertragungsgefühle in der therapeutischen Arbeit mit Patienten
lytisch-interaktionellen Arbeitsweise für Patienten mit strukturellen Störungen
mit strukturellen und komplexen Störungen häufig so heftig und archaisch sind,
verbunden: Erfahrungen, die die Patienten im interpersonellen Geschehen in der
ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Patienten den Therapeuten
Therapie gemacht haben, lassen sich oft relativ umstandslos auf ihren sozialen
für ihre Selbst- und Selbstwertregulation verwenden und funktionalisieren und
Alltag übertragen und unproblematisch auf ihr Zusammensein mit Anderen anwenden.
entsprechend nicht als eigenes anderes Subjekt wahrnehmen. Ähnlich wie die Pa-
Der Psych~therapeut bemüht sich um eine Haltung, die dem Patienten ver-
ten, können sich solche Tendenzen auch auf Seiten des Therapeuten einstellen.
mittelt, dass er in einer grundlegenden Weise emotional akzeptiert ist. Das dürfte
Unter Umständen hat der Therapeut das Empfinden, dem Patienten unterworfen
seine Haltung von der Haltung von Psychotherapeuten, die mit anderen thera-
und in die Eindimensionalität von Spaltungsprozessen hineingezwungen worden zu sein.
peutischen Methoden arbeiten, nicht prinzipiell unterscheiden. Angesichts oft-
tienten dazu neigen, konträre Seiten ihres Erlebens und ihrer Gefühle aufzuspal-
mals heftiger und vergleichsweise archaischer Affekte des Patienten kann eß für
Manchmal kann der Eindruck entstehen, daSs »negative« Gefühle gegenüber
den Therapeuten jedoch besonders schwierig sein, diese Ein-Stellung aufrechtzu-
dem Patienten, Skepsis, Hoffnungslosigkeit oder heftigere aversive Gefühle, die
erhalten. Wie die Gefühle des strukturell gestörten Patienten selber können auch
die therapeutische Beziehung bis dahin weitgehend bestimmt haben, plötzlich keine Rolle mehr spielen. Ganz im Unterschied ZllIIl bisherigen Verlauf sieht der
die Gegenübertragungsgefühle des Therapeuten oftmals heftig, unter Umständen g'anz und gar aversiv und entwertend oder im Gegenteil nur gut, erhaben und von grenzenloser, kritikloser Zuversicht bestimmt sein. Solche Gegenübertra-
Therapeut sich plötzlich von einer umfassenden, unrealistischen Zuversicht getragen, ohne dass der Verlauf der Behandlung dazu einen plausiblen Anlass gebo-
gungsgefühle, die zu den Übertragungen des Patienten korrespondieren, »passen« oftmals zu dem affektiven Erleben und dem Beziehungsgeschehen, das die
ten hätte. Dann wieder kann es dem Therapeuten schwer fallen, sich angesichts des Vorherrschens aversiver Gefühle wie wiederkehrendem Ärger, Enttäuschung,
traumatisierenden Erfahrungen des Patienten in dessen Entwicklung begleitet haben. Der Therapeut kann in diesem Beziehungsgeschehen der Empfanger und Repräsentant eines abgespaltenen Selbstanteils des Patienten sein, er kann aber
Abneigung, Wut oder Hass (vgl. Winnicott 1949) dem Patienten gegenüber auf die positiven, »guten« Erfahrungen zu besinnen, die er mit ihm gemacht hat.
. auch ein Objekt oder umschriebene Teilaspekte eines Objekts repräsentieren, mit
Grunde liegen, als projektive Identifizierung, als Selbstobjektbeziehung oder als
dem die Beziehungserfahrungen in der Vergangenheit verbunden waren. Gegenübertragungsgefühle und die in der Interaktion mit dem Patienten aktualisierten
Spaltungsabwehr, und wie auc~ immer der Therapeut seine heftigen Gefühlepsychisch verarbeitet, um sie im therapeutischen Prozess verstehen und nutzen zu
Verhaltensbereitschaften auf Seiten des Therapeuten sind eine wichtige Schiene
können, so ist in jedem Fall damit zu rechnen, dass es sich dem Patienten - in
zum Verständnis des Patienten und lassen etwas von den heftigen Verstrickungen
erster Linie vermittelt über nichtsprachliches Verhalten - mitteilt, wenn sich die
erkennen, in die der Patient in seinem sozialen Alltag immer wieder hineingerät
Gefühle des Therapeuten und seine Haltung emotionaler Akzeptanz verändern, auch wenn ihm das' nicht bewusst werden muss.
und die seine interpersonellen Beziehungen so häufig zum Scheitern bringen. Die
149
Wie auch immer die Prozesse beschrieben werden, die diesen Phänomenen zu
oft heftigen und manchmal archaischen Gefühle des Therapeuten können eine wichtige Schiene zum Verständnis von Beziehungserfahrungen sein, insbesondere
wusstes Bestreben des Patienten bekundet, sich des Anderen zu bemächtigen, sein
von Beziehungserfahrungen, die sich in den sprachlichen Äußerungen des Pati-
Gegenüber unter die eigene Herrschaft zu zwingen, 'ein bedrohliches Objekt zu
enten nicht abbilden. Gerade weil seine Gefühle manchmal ähnlich archaisch sind
kontrollieren oder der unbewusste Wunsch, in Grenzen verwiesen zu werden, so ~
. Unabhängig davon, ob sich in solchen affektiven Austauschprozessen ein unbe-
150
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
wird ein Patient mit einer gravierenderen strukturellen Störung kaum jemals Nutzen daraus ziehen können, wenn der Therapeut solche unbewussten Tendenzen deutend zur Sprache zu bringen versucht. Interventionen, die auf unbewusste psychische Tendenzen, mit denen der Patient sich selbstreflexiv auseinandersetzen soll, referieren, bleiben für den Patienten letztlich gegenstandslos. Die Sprache des Therapeuten muss in diesem Fall eine »Handlungssprache« sein: er muss sich zum Handeln des Patienten verhalten, statt die symbolische Bedeutung seiner Äußerungen interpretieren zu wollen. Wird das versäumt, trägt der Therapeut unter Umständen aktiv dazu bei, dass in der therapeutischen Beziehung dem Patienten vertraute emotionale Verstrickungen aktualisiert werden und sich wiederholen. Eine Haltung emotionaler Akzeptanz aufrecht zu erhalten kann besonders schwierig in der therapeutischen Arbeit mit Patienten sein, deren Verhalten sich an der Grenze zu antisozialem Verhalten bewegt und auch deshalb zu heftigen affektiven Reaktionen Anlass geben kann. Um seine emotionale Akzeptanz. dem Patienten gegenüber aufrechterhalten zu können, kann es l1.üfreich sein, wenn der Therapeut sich vor Augen führt, dass sich das Verhalten des Patienten vor dem Hintergrund einer leidvollen, deprivierten Lebensgeschichte entwickelt hat und Ausdruck für den Versuch ist, belastende, traumatisierende Lebensumstände zu bewältigen. Wie der Patient sich in der therapeutischen Beziehung verhält, lässt etwas davon erkennen, wie es ihm trotz solcher problematischen Umstände dennoch möglich gewesen ist, für sein psychisches und manchmal auch sein physisches Überleben zu sorgen. Auf der anderen Seite darf das den Therapeuten nicht daran hindern, seine Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Rahmens wahrzunehmen und dem Patienten klar und unmissverständlich und unter Um. ständen entschieden und nachdrücklich Grenzen zu setzen und dazu falls notwendig seine ganze Autorität geltend zu machen.
Das therapeutische Gespräch
Das therapeutische Gespräch
151
ter Konflikte zurückzuführen sind und ihnen reifere Möglichkeiten der Konfliktbewältigung potentiell zur Verfügung stehen. Das gelingt jedoch nicht, wenn reifere Abwehrformen nicht verfügbar sind und erst noch entwickelt werden müssen, wie das bei strukturell und komplex gestörten Patienten der Fall ist. Ihr habituelles Verhalten reflektiert gewöhnlich ihr höchstes, in der Entwicklung erreichtes psychisches Funktionsniveau. Sie sind nicht unter dem Einfluss ungelöster unbewusster Konflikte regrediert und auf ein niedrigeres psychisches Funktionsniveau, als ihnen üblicherweise verfügbar ist, zurückgefallen, sondern sie funktionieren gleichsam fortdauernd auf dem höchsten ihnen verfügbaren Niveau ihrer Persönlichkeitsorganisation. Reifere psychische Funktionen und Strukturen stehen ihnen nicht oder nur rudimentär zur Verfügung. Kommt es zur Labüisierung dieses habituellen Funktionsniveaus und der damit verbundenen psychischen Strukturen, drohen die verfügbaren, ohnehin labilen psychischen und psychosozialen Mittel der Anpassung und der Realitätsbewältigung verloren zu gehen. Ihr habituell niedriges psychisches Funktionsniveau wird brüchig, und die Patienten sind von Fragmentierung, Ich-Zerfall oder Selbstverlust mit Manifestationen präpsychotischen oder psychotischen Verschmelzungserlebens bedroht. Aus diesem Grund geht mit Deutungen die Gefahr einher, dass die Patienten auf einen in der Entwicklung rückwärts gewandten Weg geraten, statt zu reiferen Anpassungs- und Bewältigungsmöglichkeiten zu gelangen, die einen flexiblen Wechsel zwischen Regression und Progression erst ermöglichen würden. Die Patienten drohen in einen Zustand überwältigender Hilflosigkeit und Bedrohung zu geraten und so letztlich retraumatisiert zu werden, statt an psychischer Stabilität zu gewinnen. Klinisch kann sich das außer durch psychotische oder psychosenahe Manifestationen auch daran zeigen, dass die Patienten in der Folge auf apersonale Mittel und Mechanismen der Selbstregulierung zurückgreifen müssen, die zwar massiv selbstschädigend sein können, aber oftmals als weniger
organisation die Möglichkeit zu verstehen, welcher unbewusste Sinn sich hinter
bedrohlich erlebt werden als die Gefahr, sich aufgrund von Labilisierungen des psychischen Funktionsniveaus als ausgeliefert erleben zu müssen: erste Ansätze zur Differenzierung von Selbst und Objekt gehen wieder verloren, reale andere Personen werden im Dienst der Selbstregulation verstärkt funktionalisiert oder
ihrem Erleben verbirgt und welche nicht bewussten Bedeutungen ihr eigene~ Verhalten hat. Sie können ihre habituelle Abwehr unter der Voraussetzung aufgeben,
per Verschmelzung gleichsam ins Selbst aufgenommen, Affekte oder Affektvorläufer nehmen Qualitäten körpernahen Erlebens an und können nur als dif-
dass die abwehrabhängigen Einschränkungen auf regressive Lösungen unbewuss-
fuse Befindlichkeiten wahrgenommen werden, und Alkohol, Drogen, selbstver- ~
Gelungene Deutungen eröffnen Patienten mit gut integrierter Persönlichkeits-
152
Das therapeutische Gespräch
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
letzendes oder promiskuöses Verhalten müssen die beeinträchtigte Selbst- und Selbstwertregulation stützen. Für den psychoanalytisch-interaktionell arbeitenden Therapeuten stehen Aspekte der Selbstregulierung des Patienten und der Regulierung von Beziehungen
153
ben und eigene Handlungsbereitschaften selektiv zur Sprache bringt, die sich bei ihm im Kontext des Verhaltens des Patienten - in diesem Sinne »in Antwort« auf den Patienten - einstellen. Wenn auf die Frage eines Patienten
einschließlich der therapeutischen Beziehung im Vordergrund. Wenn der Therapeut »antwortet«, statt die Mitteilungen und das Verhalten des Patienten zu deuten, dann deshalb, weil der antwortende Interventionsmodus in besonderem Maße entwicklungsförderlich ist und den Patienten darin unterstützt, selbst- und interaktionsregulierende Funktionen zu entwickeln und zu erweitern. Bei der
»Wissen Sie noch, was ich Ihnen gestern über die Reise nach P. erzählt habe, zu der mich mein Vater mitgenommen hat?«, der Therapeut sagt:
psychoanalytisch-interaktionellen Arbeit übernimmt der Therapeut darüber hinaus jeweils vorübergehend psychische Funktionen, die dem Patienten selbst nicht
»Ja, ich erinnere mich«,
oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Diese Funktionen übt er entweder stellvertretend für den Patienten aus, indem er sich in dessen Lage versetzt,
dann handelt es sich um eine Antwort in einem alltagssprachlichen, linguistischen
um virtuell an seiner Stelle diese Funktionen zu aktualisieren und dem Patienten
Sinn. Sagt der Therapeut stattdessen:
..
gleichsam vor Augen zu führen, wie entsprechende Funktionen ausgeübt werden können, oder aber er äußert sich aus der Position des Objekts, auf das sich das Erleben des Patienten aktuell bezieht. In der Gruppe übernimmt der Therapeut solche passageren Helfer-Funktionen darüber hinaus auch in Zusammenhang mit normativen Regelungen des interpersonellen Verhaltens, die in jeder Gruppe ex-
»Sie rechnen damit, dass ich schnell vergesse, was Sie mir anvertrauen«, dann handelt es sich um eine Deutung oder zumindest um den Vorläufer einer
plizit oder - häufiger - implizit verhandelt werden müssen. Schließlich spielt die
Deutung in dem Sinne, dass der Therapeut das Motiv interpretiert, das den Pati-
therapeutische Arbeit an Affekten und nichtsprachlichem Verhalten - vor allem in
enten dazu veranlasst haben könnte, diese Frage zu stellen. Eine Antwort im Sinne der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie ist
Verbindung mit der Regulierung von Beziehungen - eine zentrale Rolle.
ebenfalls nicht durch ihre linguistische Form bestimmt, sondern nimmt jenseits
Antworten
des Inhalts der konkreten sprachlichen Äußerung auf das Verhalten des Patienten Bezug.
Der Begriff »Antwort«, der die Art und Weise charakterisiert, wie sich der Therapeut in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie an dem »Austausch von
So berichtet ein Patient, dass er sich mehrere Jahre nach einer gescheiterten
Worten« mit seinem Patienten beteiligt, unterstreicht den auf Interaktion ausge-
Beziehung mit dem Gedanken trägt, eine Frau kennenzulernen. Dabei wird
richteten Charakter des therapeutischen Gesprächs. In der Alltagssprache meint
deutlich, dass sich seine Hoffnung fast ausschließlich auf Frauen richtet, von
Antwort das sprachliche Handeln, das durch eine Frage relevant gemacht wird;
denen - von außen betrachtet - mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen
Fragen und Antworten gehören zu den Mitteln, die Interaktion konstituieren.
ist, dass sie ihn abweisen werden. Der Therapeut weiß aus der Anamnese des
Hier meint »Antwort« jedoch nicht die sprachliche Handlung, die einer Frage
Patienten von dessen enormer Kränkbarkeit und seiner Neigung, auf reale und
folgt, wird somit nicht in einem linguistischen Sinne verwendet. »Antwort« als Interventionsmodus in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie meint ein
gelegentlich bereits auf fantasierte Abweisungen hin sich mit selbstschädigenden
Verhalten, mit dem der Psychotherapeut dem Patienten gegenüber eigenes Erle-
Frau eines Kollegen berichtet, die er zusammen mit ihrem Mann in der Stadt ~
Mitteln zu betäuben und suizidal zu werden. Als der Patient eines Tages von der
154
Das therapeutische Gespräch
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
getroffen hat, und überlegt, ob er sie vielleicht anrufen sollte, um sie zu einem
Zwei Jungen im Alter von etwa zehn oder elf Jahren unterhalten sich im Bus
Kaffee einzuladen, sagt der Therapeut in dem Wissen, dass sein Patient nicht
über ein Fußballspiel ihrer Schulklasse gegen die Klasse einer anderen Schule,
in der Lage ist, sich die zu erwartenden Folgen seines Verhaltens vor Augen zu führen: »Nach allen bisherigen Erfahrungen beunruhigt mich Ihre Absicht.
das am Nachmittag stattfinden soll. In diesem Zusammenhang kommen sie auch auf einen Klassenkameraden zu sprechen. Der eine der beiden Schüler
Denn wenn ich Sie richtig verstanden habe, gibt es keine Hinweise dafür, dass
beklagt sich: »Der Gerd, der ist doch echt blöd. Hat mir heute morgen nicht
diese Frau Interesse an Ihnen haben könnte. Darum frage ich mich, wie das für
seine Matheaufgaben gezeigt.« Daraufhin der andere Junge: »Nirnms leicht, der iss doch bloß wütend, weil Du spielst und der Bölle [offensichtlich der
Sie sein wird, wenn Sie abgewiesen werden, und ich frage mich, wie sich das wohl auf das Verhältnis Ihres Kollegen zu Ihnen auswirken wird.«
155
Sportlehrer] ihn nicht aufgestellt hat.« Bei der Annahme, dass Wut darüber, bei der Mannschaftsaufstellung durch
In der begründeten Annahme, dass dem Patienten Erfahrungen mit ausreichend
den Sportlehrer gegenüber dem Mitschüler das Nachsehen zu haben, das Motiv
guten Beziehungen weitgehend fehlen und er deshalb nicht in der Lage ist, sich
dafür sei, dass er seinem Kontrahenten die Hausaufgaben in Mathematik nicht
auszumalen, wie sein von ihm ins Auge gefasstes Verhalten aus der subjektiven Per-
gezeigt hat, handelt es sich um eine Deutung - um eine Annahme über die
spektive einer konkreten anderen Person aufgenommen und mit welcher Antwort zu rechnen sein wird, übernimmt der Therapeut in dieser Situation die Funktion
Motiviertheit eines Verhaltens, das dieses Verhalten verstehbar machen kann und das dem Betreffenden selber - und in dem Beispiel auch seinem Mitschü-
stellvertretend für den Patienten, mögliche Folgen des beabsichtigten Verhaltens
ler - zuvor möglicherweise nicht bewusst war.
zu antizipieren, gibt selektiv seiner eigenen ängstlichen Besorgnis Ausdruck und weist den Patienten fragend und damit indirekt auf die Notwendigkeit hin, sich
In der Alltagskommunikation werden Deutungen überwiegend mit Blick auf das
iiber mögliche Folgen seines beabsichtigten Verhaltens im Klaren zu werden, wenn
Verhalten von abwesenden Dritten verwendet. Der abwesenden Person werden
er nicht ein weiteres Mal in für ihn schwierige Situationen geraten will.
bestimmte Beweggründe für ihr Verhalten zugeschrieben. Seltener wird das Ver-
Somit bringt der Therapeut mit seiner antwortenden Intervention in diesem
halten einer Person, mit der man gerade im Gespräch ist, in vergleichbarer Weise
Beispiel dem Patienten gegenüber eigenes Erleben und eigene Handlungsbereitschaften selektiv, in natürlicher Einstellung zur Sprache, die sich bei ihm »in Ant-
interpretierend angesprochen, gilt es doch als unhöflich, als Grenzen überschreitende Indiskretion oder manchmal gar als rüde Attacke, der anderen Person ihr
wort« auf das Verhalten bzw. das geplante Verhalten des Patienten einstellen. Das
selbst nicht zugängliche Motive für ihr eigenes Handeln zu unterstellen. Viele
geschieht nicht beliebig, sondern therapeutisch begründet und gezielt.
Deutungen implizieren aber, dass der Adressat in diesem Augenblick nicht ganz
Vergleicht man jenseits aller therapeutischen Gesichtspunkte Äußerungs-
Herr seines Handelns ist und nicht ganz weiß, was er tut. Unter der Perspektive
formen, wie sie in alltäglicher Kommunikation vorkommen, einerseits mit Ant-
kommunikativen Verhaltens betrachtet sind Deutungen somit ein Äußerungsmo-
worten in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie, andererseits mit Deu-
dus, mit dem die eine Person - in der Behandlung der Psychotherapeut - einer
tungen, kann man feststellen, dass sowohl Deutungen als auch - häufiger noch -
anderen Person - in der Behandlung dem Patienten - sagt, was ihrem Erleben zu
Antworten auch in der Alltagskommunikation verwendet werden. Deutend un-
Grunde liegen könnte und welcher ihr selbst nicht bewusste Sinn und welches
terstellen wir uns im Alltag wechselseitig unbewusste Motive für unser Handeln
unbewusste Motiv sich hinter ihren Äußerungen und ihrem Verhalten möglicher-
(»das sagst Du doch nur, weil Du mir das nicht gönnst«), ebenso verhalten wir
weise verbergen könnten. Damit schreiben Deutungen der Person Beweggründe
uns in dem genannten Sinn auch antwortend zueinander (»das klingt zwar ganz
für ihr Verhalten zu, die die Person selber nicht kennt und mit ihrem eigenen
sachlich, aber ich bin trotzdem enttäuscht, wenn Du das so sagst«). So verwendet
Verhalten nicht verbindet. Werden der anderen Person mit der Deutung Motive
ein etwa zehnjähriger Junge in dem nachfolgenden Gespräch, das bei einer Fahrt
unterstellt, die gemeinhin als problematisch oder gar als verpönt gelten, kann das
im Bus zufällig mitgehört wurde, eine Deutung:
weit reichende Folgen und schlimmstenfalls den Abbruch des Kontakts zur Folge ,
156
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Das therapeutische Gespräch
haben: mit einer derartigen Deutung ihres Verhaltens wird der anderen Person ge-
mitteilen würde. Wäre das so, wäre die Gefahr groß, dass die therapeutische Be-
genüber zum Ausdruck gebracht, dass sie sich über die Beweggründe ihres eigenen
ziehung in eine reale Beziehung übergeht (Meissner 2002). Tatsächlich bezieht
Verhaltens nicht im Klaren ist und insofern nicht über sich verfügt; der anderen
der psychoanalytisch-interaktionell arbeitende Therapeut mit umschriebenen
Person wird - mit anderen Worten - zumindest für dieses bestimmte Verhalten
therapeutischen Zielsetzungen jedoch nur ausgewählte Aspekte seines eigenen Erlebens in die Formulierung seiner »Antworten« ein, ohne deshalb den Patienten
mangelnde Zurechnungsfahigkeit unterstellt. Kommunikation im Alltag verlangt aber die wechselseitige Unterstellung von Zurechnungsfahigkeit und kann nur
mit seiner Privatheit zu behelligen. Weder gibt der Therapeut sein eigenes Erleben beliebig zu erkennen, noch geschieht das in der Absicht, eine Beziehung mit dem
auf der Grundlage von Reziprozität und wechselseitiger Anerkennung gelingen (Habermas 1971).
Patienten zu begründen, die besonders vertrauensvolle oder gar private Züge trägt.
Interventionen im Modus der »Antwort« zeichnen sich dadurch aus, dass der
Vielmehr »antwortet« der Therapeut mit dem Ziel, interaktives Geschehen - ins-
Therapeut sich dem Patienten als anderes Subjekt partiell erkennbar macht. Aus
besondere auch das interaktive Geschehen in der therapeutischen Situation - und
psychoanalytischer Sicht teilt der Therapeut dem Patienten bestimmte ausgewähl-
die eigene Beteiligung daran auf eine Weise erkennbar und verstehbar werden
te Aspekte seiner Gegenübertragung mit. Die Frage der Offenlegung von Gegen-
zu lassen, die den Patienten darin unterstützt, seine Beeinträchtigungen im Zu-
übertragung wird meist unter dem Begriff der Transparenz des Therapeuten bzw. der »self-disclosure« (z. B. Gediman 2006) diskutiert. Dies geht von der Erfahrung
sammensein mit Anderen allmählich zu überwinden. Dabei lässt der Therapeut Aspekte seiner Gegenübertragung in seinen antwortenden Interventionen nur so
aus, dass weder der Psychotherapeut noch der Psychoanalytiker im Couchsetting entscheiden können, ob sie sich dem Patienten gegenüber zu erkennen geben oder
weit explizit erkennen, wie davon eine Annäherung an dieses Ziel zu erwarten ist und nur soweit er sicher sein kann, damit nicht eigene Bedürfnisse zu Lasten des
nicht, weil das ohnehin nicht zu vermeiden sei und Anonymität und Unerkenn-
Patienten zu befriedigen.
barkeit - ebenso wie Neutralität - illusionär seien und den relationalen Charakter des therapeutischen Geschehens verkennen (z. B. Slochower 2006, Bonovitz 2006). Wenn der Therapeut in einer psychoanalytisch-interaktionellen Behandlung Aspekte seiner komplementären oder konkordanten Gegenübertragung (Racker 1978) zur Sprache bringt, bedeutet das nicht, dass Gegenübertragung beliebig offen gelegt würde. Ganz im Gegenteil ist für den Therapeuten bei der Entschei. dung, ob und welche Aspekte seiner Gegenübertragung er eventuell erkennbar macht, die Überlegung maßgebend, ob der Patient von einer solchen antwortenden Intervention entwicklungsförderlichen Gebrauch wird machen können
157
Der Psychotherapeut formuliert seine antwortenden Interventionen entweder aus der Position eines Gegenüber, des Objekts, in diesem Fall bezieht er Aspekte der komplementären Gegenübertragung (Racker 1978) in seine antwortenden Interventionen ein; oder er identifiziert sich momentan mit dem Patienten und setzt sich virtuell an dessen Stelle, dabei Aspekte seiner konkordanten Gegenübertragung in seine »Antworten« einbeziehend. Dabei können antwortende Interventionen auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit einem kommunikativen Verhalten haben, wie es auch im Gespräch zwischen Bekannten oder Freunden zu beobachten sein könnte.
oder nicht. Darum bezieht der Therapeut selektiv nur solche Elemente seines
Eine junger Mann sagt zu seiner Freundin, nachdem sie ihn mit abweisendem
momentanen Erlebens und seiner Gegenübertragung und nur solche Gefühle in
Unterton darauf hingewiesen hat, dass er zu spät zu ihrer Verabredung gekom-
seine antwortenden Interventionen ein, die für den Patienten in diesem besonderen Kontext progressive Schrine unterstützen.
men ist: »Wenn Du so vorwurfsvoll bist, bekomme ich ein ganz schlechtes Gewissen.«
»Antwortende« Interventionen in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie sind somit weit davon entfernt, dass der Therapeut dem Patienten g~gen über seine Gegenübertragung mehr oder weniger willkürlich erkennen lassen und
Antworten im Sinne der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie greifen
mehr oder weniger beliebig eigene Erfahrungen und eigenes subjektives Erleben
und machen vor allem interpersonelles Geschehen zum Gegenstand der Auf-
häufig Aspekte der aktuellen Interaktion und der gegenwärtigen Beziehung auf ,
158
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
merksamkeit. Anders als bei deutenden Interventionen wird der Patient damit nicht zur Selbstreflexion aufgefordert. Wenn der Therapeut mit antwortenden Interventionen eigenes Erleben in der aktuellen Beziehung zu seinem Patienten zur Sprache bringt (komplementäre Gegenübertragung), wird die Aufmerksamkeit des Patienten vielmehr auf das Gegenüber gelenkt, auf den Therapeuten. Teilt der Therapeut mit antwortenden Interventionen sein Erleben in passagerer Identifikation mit seinem Patienten mit (konkordante Gegenübertragung), kann der Patient sich mit Blick auf das gegenwärtige Objekt seines Erlebens mit dem Therapeuten identifizieren und sich neue Mittel und Wege der Bewältigung von Situationen des Mit-Anderen-im-Kontakt-Seins identiftkatorisch aneignen. In einer psychoanalytisch-interaktionellen Therapie mit einem Patienten, der kaum in der Lage ist, das Verhalten verschiedener anderer Menschen in seiner Umgebung auf sein eigenes, häufig taktloses, manchmal unkontrolliertes und ganz von eigenen Bedürfnissen bestimmtes Verhalten zu . . antizipieren, könnte eine therapeutische Intervention in struktureller Hinsicht der Äußerung des Mannes seiner Freundin gegenüber ähnlich sein: Der Therapeut, der schon seit geraumer Zeit mit dem Patienten arbeitet und weiß, dass sein Patient nicht mehr wie zu Beginn dazu neigt, bei geringen Frustrationen die Therapie aufkündigen zu wollen, sagt bei entsprechender Gelegenheit, als sein Patient ihn wieder einmal wegen seiner vermeintlichen Unzulänglichkeit kritisiert: »Offensichtlich sind Sie heute wieder mit mir unzufrieden. Vielleicht rechnen Sie damit, dass mir das gar nichts ausmacht. Ich denke über Ihre Kritik durchaus nach. Manchmal- so wie jetzt - ärgere ich mich aber auch, wenn ich den Eindruck habe, dass es Ihnen ganz egal ist, wie das für mich ist, wenn Sie mich so abwertend behandeln. « Die strukturelle Ähnlichkeit der Äußerung des Mannes, der sich über den vorwurfsvollen Ton seiner Freundin beklagt, und der Intervention des Therapeuten,
Das therapeutische Gespräch
den pragmatischen Sinn einer Aufforderung an die andere Person, ihren Blick nicht auf sich selbst, sondern auf ihr augenblickliches Gegenüber im Gespräch zu richten. Im Unterschied dazu sind Deutungen - unter dem Gesichtspunkt kommunikativen und interaktiven Verhaltens betrachtet - meist Äußerungen über die andere Person, des Therapeuten über den Patienten. Die unter diagnostischen und therapeutischen Gesichtspunkten reflektierte Antwort in dem Beispiel unterscheidet sich von der Antwort des Mannes auf den Vorwurf seiner Freundin für sein Zuspätkommen unter anderem darin, dass sie potentiell entwicklungsförderlich ist: der Therapeut zeigt dem Patienten, dass er dessen Äußerungen durchaus aufnimmt und darüber nachdenkt, wenn sie die Form von Kritik haben, weniger dagegen, wenn er sich abwertend äußert. Damit fordert er den Patienten implizit auf, die Wirkungen seines Verhaltens auf sein Gegenüber im Auge zu haben, wenn er nicht eine nachhaltige Störung der Beziehung riskieren will. Antwortende Interventionen unterstützen den Patienten unter anderem darin, sich Möglichkeiten anzueignen, die andere Person als andere Person, in der therapeutischen Situation die Person des Therapeuten zu erkennen, sein Gegenüber als anderes Subjekt mit dessen eigenem Erleben und mit eigenen Gefühlen wahrzunehmen und. von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, sich bei der Regulierung seines Handelns nicht ausschließlich auf eigene Vorstellungen, Gefühle oder Wünsche zu stützen, sondern auch auf Signale von Seiten seines jeweiligen Gegenüber, mit dem er in Kontakt ist, zu achten. Weiter können Antworten dem Patienten dabei helfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass sein eigenes Handeln die andere Person beeinflussen kann. In diesem Sinn können antwortende Interventionen das Gefühl des Patienten, Akteur zu sein, unterstützen und ihm ein Gefühl dafür vermitteln, dass er auf Erleben und Handlungsbereitschaften der anderen Person, auch des Therapeuten, Einfluss nehmen kann. In einer Einzeltherapie spricht ein Patient, bei dem eine narzisstische Persön-
ten«, sprechen sie nicht von ihrem jeweiligen Gegenüber, sondern von sich selbst.
lichkeitsstörung auf mäßigem Integrationsniveau diagnostiziert wurde, über längere Zeit hinweg ohne Pause, gleichförmig, monoton, nicht übermäßig schnell, aber dennoch »ohne Punkt und Komma«. Dabei kommt er von einem Thema zum anderen, ohne dass er sich dafür zu interessieren scheint, ob und
Dabei handelt es sich in bei den Fällen um Antworten aus der Position des Gegenüber, des anderen Subjekts (komplementäre Gegenübertragung). Das impliziert
wie der Therapeut seine Äußerungen aufnimmt. Er scheint sich mehr ent-äußern zu müssen, als sich dem Therapeuten mitteilen zu wollen. Unter kommu-
der hier seinen Ärger selektiv zur Sprache bringt, besteht darin, dass beide ihrem Gegenüber - der Mann seiner Freundin, der Therapeut seinem Patienten - zu verstehen geben, welche Wirkung deren Verhalten auf sie hat. Indem sie »antwor-
159
~
160
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Das therapeutische Gespräch
nikativen Gesichtspunkten betrachtet entbehren seine Äußerungen jeglicher
tikempflndlichkeit zu bemerken und in Interaktion mit Anderen in Rechnung
Adressatenorientierung. Der Therapeut sieht keine Gelegenheit, zu den Mit-
zu stellen.
161
teilungen des Patienten etwas zu sagen, hat aber auch den Eindruck, dass dem Patienten das nicht wichtig ist. Anders als bei Patienten, die ihn nicht zu Wort
So tritt der Therapeut in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie dem Pa-
kommen lassen und unbewusst einen Machtkampf inszenieren, ärgert er sich
tienten gegenüber mit antwortenden Interventionen umschrieben und selektiv,
nicht und glaubt auch erkennen zu können, dass sein Ermüden beim Zuhö-
aber ausdrücklich und erkennbar nach Maßgabe diagnostischer und therapeu-
ren keine Reaktionsbildung gegenüber untergründigem Ärger ist. Er scheint für den Patienten zwar wichtig zu sein, als Person und anderes Subjekt aber
tischer Gesichtspunkte als anderes Subjekt in seiner eigenen Realität in Erschei-
gleichwohl keine Rolle zu spielen. Schließlich bietet sich für den Therapeuten eine Gelegenheit zu sagen: »Ich höre Ihnen zu. Es könnte sein, dass ich es nicht
nung. In diesem Sinn bietet er sich dem Patienten als ein reales Gegenüber an. Er nimmt ausdrücklich nicht die Rolle eines neutralen Experten (Kernberg 1988)
vermeiden kann, Sie zu kränken; ich möchte Ihnen aber trotzdem sagen; dass
in Anspruch, der über die unbewusste psychische Realität seines Patienten Mutmaßungen anstellt oder gar meint, Unbewusstes so erkennen zu können, wie dies
ich mich anstrengen muss, aufmerksam zu bleiben. Ich denke nicht, dass das
tatsächlich beschaffen ist, und der dem Patienten mit einer deutenden Interven-
mit dem zu tun hat, worüber Sie berichten. Könnte das vielleicht auch etwas
tion eine mögliche Sichtweise oder Hypothese anbietet, wie diese unbewusste
damit zu tun haben, dass sich bei mir Zweifel einstellen, ob Sie wohl mich
psychische Realität in der aktuellen Situation aussehen könnte. Vielmehr ist die
meinen und ob ich es wohl bin, dem Sie etwas mitteilen möchten, wenn Sie
Rolle des Psychotherapeuten hier der eines kompetenten Mitspielers an Interaktion vergleichbar. Das beinhaltet, dass sich der Therapeut innerhalb bestimm-
sich so wie eben äußern?« Der Therapeut teilt dem Patienten hier - angesichts der hohen Kränkbarkeit des Patienten zwar vorsichtig, aber auch die vermeintlichen Erwartungen des Patienten, als Selbstobjekt zu fungieren, frustrierend - sein Erleben von Ermüdung mit und versucht in Verbindung damit den Umstand aufzunehmen, dass der Patient ihn eben nicht als eigenständige andere Person erlebt, sondern als Selbstobjekt gebraucht. Auch in der Behandlung eines schwer depressiven Patienten stellten sich bei
ter Grenzen, die sich an dem jeweiligen Patienten und seinen vorherrschenden Beeinträchtigungen orientieren müssen, als Person zu erkennen gibt, die eigene Bedürfnisse hat und insofern von dem Patienten nicht ohne weiteres als Teilobjekt zu funktionalisieren ist. Antwortende Interventionen tragen der eingeschränkten Mentalisierungsfunktion von Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen Rechnung.
der Therapeutin Gefühle der Ermüdung, der Ungeduld und des Ärgers ein.
Indem der Therapeut in seinen Antworten eigenes Erleben, eigene Gefühle und Handlungsbereitschaften selektiv, aber ausdrücklich transparent macht, kann der
Sie vermutete, dass der Patient sie möglicherweise als fordernd erlebte und
Patient das Verhalten des Therapeuten als ein motiviertes Verhalten im Kontext
sich ihr unbewusst widersetzte, meinte aber zu wissen, dass seiner depressiven Symptomatik eine basale strukturelle Störung zu Grunde lag. Zudem hatte sie
seines eigenen Verhaltens erke~nen, das in dessen subjektiver, von seiner eigenen verschiedenen psychischen Realität gründet (vgl. Berghaus 2005).
die Erfahrung gemacht, dass der Patient auf alle ihre Äußerungen, die auch
In Übereinstimmung mit der Progressionsorientierung der psychoanalytisch-
nur entfernt einen kritischen Beiklang hatten, mit massiven Selbstabwertungen
interaktionellen Therapie wird mit antwortenden Interventionen implizit immer
und Selbstunwertgefühlen reagierte. Darum war sie unsicher, ob sie ihre Über-
auch die Differenz von Selbst und Anderem, von Ich und Du betont. Damit
legung, dem Patienten etwas von ihrer Ermüdung und ihren Ärgergefühlen
bewegt der Therapeut sich hier gegenläufig zu der Tendenz ,des Patienten, mit
mitzuteilen, umsetzen sollte. Sie entschloss sich schließlich, das nicht zu tun.
ihm zu verschmelzen, Ungeschiedenheit wiederherzustellen, die Trennung von
Vielmehr ging sie ihrer eigenen Unsicherheit dem Patienten gegenüber, nach,
S~lbst
und Objekt aufzuheben und ihn als Selbstobjekt zu verwenden, in Rich-
was sie schließlich zu dem Schluss brachte, dass sie mit ihrer Unsicherheit auch
tung auf Differenzierung. Selbstobjektbedürfnisse werden zwar verstanden, aber
auf die Schwierigkeit des Patienten reagierte, die eigene Kränkbarkeit und Kri-
durch emotionale Antworten immer auch in einer nicht-traumatisierenden Weise ,
162
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Das therapeutische Gespräch
frustriert. Dabei ist der Therapeut in besonderem Maße gehalten, ständig aufTo-
die Flucht ergreift, darf das nicht als Widerstand missverstanden werden. Ganz
leranzgrenzen des Patienten zu achten, um zu verhindern, dass es zu erheblicheren
im Gegenteil kann darin ein prognostisch günstiges Zeichen insofern gesehen
Labilisierungen der Selbstregulation, insbesondere des leicht störbaren relativen
werden, als der Patient zumindest zu einer solchen Notfallreaktion in der Lage
narzisstischen Gleichgewichts bei seinem Patienten kommt und verfügbare psychische Funktionen dadurch noch weiter labilisiert werden.
ist. Problematischer ist es, wenn Deutungen in einem schleichenden und gele-
In diesem Sinne ist der Psychotherapeut mehr Gegenüber in Interaktion, anderes
gentlich über längere Zeit hinweg unbemerkt bleibenden Prozess dazu beitragen, dass Selbst-Objekt-Grenzen, die bei strukturell gestörten Patienten meist ohnehin
Subjekt, denn anonymes Objekt, das sich für die Abarbeitung regressiver Über-
fragil sind, weiter destabilisiert werden, so dass der Patient mehr oder weniger still
tragungen zur Verfügung stellt. Statt nur virtueller Mitspieler zu sein und sich in
in einen regressiven psychotischen Zustand hineingleitet. Antworten werden nach Möglichkeit mit dem Ausdruck von Gefühlen ver-
der Rolle eines Deutungsexperten des Unbewussten zu bewegen, ist er realer, therapeutisch reflektierter Mitspieler in sozialer Interaktion, dabei unbewusste Seiten
bunden, die der Therapeut als Teil seiner Gegenübertragung in Reaktion auf den
des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens immer mit reflektierend.
Patienten empfindet. Auch das geschieht in einer natürlich~n, authentischen Einstellung, selektiv und gezielt. Explizit zum Ausdruck gebrachte Gefühlsantworten zeigen dem Patienten, welche Affekte er durch sein Verhalten bei seinem
Allerdings bringen auch deutende Interventionen nie nur unbewusstes Erleben des Patienten zur Sprache. Deutungen sind - wie alles Geschehen in der therapeutischen Dyade - immer auch Interaktion und können eine hohe interaktive Potenz haben. Manchmal wirken sich Deutungen mehr auf die Herstellung und
Gegenüber - in der therapeutischen Situation bei seinem Therapeuten - hervorrufen kann und welche Handlungsbereitschaften er dadurch zu induzieren ver-
Regulierung der therapeutischen Beziehung aus, als dass sie dem Verstehen unbe-
mag. Auch das kann ein wichtiger Schritt in Richtung auf das Ziel hin sein, die
wussten Sinns dienen, so wie umgekehrt Antworten auch deutende Implikationen haben können. Allerdings erleben Patienten mit gravierenden strukturellen Stö-
Probleme, in die der Patient in seinem Alltag im Kontakt mit Anderen immer wieder hineingerät und die ihm selbst unerklärlich sind, in ihren interpersonellen
rungen Deutungen leicht so, als wisse der Therapeut über ihr »Inneres« Bescheid.
Zusammenhängen zunehmend durchschaubar und verstehbar werden zu lassen.
Sie sehen in diesem Fall ihre Befürchtung bestätigt, sich nicht abschirmen zu kön-
Damit kann der Patient darüber hinaus ein emotionales Wissen von seinem eige-
nen und ihrem Gegenüber und dessen Blicken mehr oder weniger grenzen- und
nen Akteursstatus in einem Geschehen gewinnen, in dem er sich bis dahin oftmals
schutzlos ausgeliefert zu sein. So kann man manchmal geradezu beobachten, wie Patienten sich aufInterven-
nur als der Unterworfene und Ausgelieferte erlebt hat. Auch seine Gegenübertragungsgefühle teilt der Therapeut authentisch und in natürlicher Einstellung, aber nicht beliebig mit, sondern selektiv nach 'Maßgabe
tionen hin, die auch nur entfernt den Charakter einer Deutung haben und die als Hinweis darauf gelesen werden könnten, dass der Therapeut in das Erleben des
163
ihres therapeutischen Nutzens. Dabei bemisst sich die Selektivität seiner Gefühls-
Patienten, das ihm selber nicht zugänglich ist, und damit in seinen psychischen
antworten nicht nur an allgemeinen Regeln des Takts, so wie das in jeder anderen
Binnenraum Einblick nimmt, stärker als zuvor abschirmen. Mehr noch fühlen
Therapie ebenso wie im Alltag geschehen würde, sondern insbesondere an den
sich manche basal gestörten Patienten von Deutungen bedroht oder geraten in
Toleranz- und Belastbarkeitsgrenzen des Patienten. Das ist angesichts der häufig
einen Zustand noch größerer Verwirrung. Schlimmstenfalls dekompensieren sie
außergewöhnlich heftigen und archaischen Affekte, die sich in der Arbeit mit
auf wiederholte Deutungen hin mit psychotischen Manifestationen. Wird noch
schwer strukturell gestörten Patienten so leicht einstellen, umso wichtiger. Die af-
die konsekutive Verwirrung des Patienten als Abwehr gedeutet, beispielsweise als
fektiven Reaktionen des Therapeuten, seine Gegenübertragungsgefühle, können
Ausdruck des Bemühens um Grenzziehung, führt das statt zu einer Entlastung zu
zu verinnerlichten frühen traumatisierenden Beziehungen im Verhältnis stehen
noch weiter zunehmender Anspannung und einem Mehr an Verwirrung. Gelingt
und entweder auf Aspekte des Selbst des Patienten verweisen, die er auf den The-
es einem Patienten, der sich in dieser Weise bedroht fühlt, sich wirksam abzuschir-
rapeuten projiziert hat, oder Aspekte missbrauchender oder gewalttätiger Objekte
men, beispielsweise indem er körperlich erstarrt, zum Gegenangriff übergeht oder
widerspiegeln. Dabei ist es im Allgemeinen nicht angezeigt, einem Patienten in ,
164
einern frühen Stadium der Behandlung zu zeigen, wie er durch sein Verhalten so
die therapeutische Beziehung zunichte gemacht wird. Schlimmstenfalls bricht der
starke Gefühle wie Verachtung, Hass, Wut oder Missgunst oder aggressive und
Patient als Folge der abrupten Entidealisierung die Beziehung zum Therapeuten
destruktive Handlungsbereitschaften bei seinem Gegenüber induziert. Das wird die Toleranzgrenzen des Patienten meist übersteigen, zum al dann, wenn seine Fä-
und damit die Therapie von einern Moment auf den nächsten ab. Bemühungen, das Verhalten des Patienten zu verstehen, bleiben wirkungslos, der Therapeut und
higkeit zur Objektkonstanz unsicher ist. Die Gefühlsantworten müssen selektiv
die Therapie haben für den Patienten bereits keine Bedeutung und keinen Wert
nach Maßgabe der Toleranz des Patienten zum Ausdruck gebracht werden.
mehr, und die vorab schon labile Verbindung wird endgültig aufgekündigt. Solche
Die Interventionsform der Antwort mit ihren verschiedenen Facetten ist unter
Erfahrungen können für strukturell gestörte Patienten um so gravierender sein, als
anderem darauf angelegt, Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen
sie sich vor dem Hintergrund großer Angst, in Abhängigkeit zu geraten, ohnehin
anhand der therapeutischen Beziehung und im Zuge der interaktiven Gestaltung der therapeutischen Beziehung verstehbar werden zu lassen, wie sich in ihren in-
in Anspruch zu nehmen.
nur unter Mühen dazu haben durchringen können, therapeutische Unterstützung
terpersonellen Beziehungen immer wieder ähnliche Muster wiederholen und wie
Auch wenn man nicht der Ansicht von Kohut (1977) folgt, dass Idealisierungen
sie selbst dazu beitragen, dass das geschieht. So sind Antworten ein geeignetes und flexibel einsetzbares therapeutisches Mittel, um die Fähigkeit der Patienten zu
bei der Behandlung narzisstischer Patienten unangetastet bleiben und dem Prozess der »umwandelnden Verinnerlichung« Zeit und Raum gegeben werden sollte,
fördern, das Verhalten anderer Personen aus deren jeweils eigenen Beweggründen
ist es für die therapeutische Arbeit mit strukturell gestörten Patienten besonders
und Befindlichkeiten zu verstehen und statt Andere nur als Selbstobjekte verwenden zu müssen, sie als andere Subjekte zu entdecken. In diesem Sinne können
wichtig zu erkennen, wieweit Idealisierungen des Therapeuten oder der Therapie
Antworten die Entwicklung von Mentalisierungsfunktionen von Patienten mit ·strukturellen Störungen unterstützen.
165
Das therapeutische Gespräch
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
möglicherweise die einzige Grundlage des therapeutischen Kontakts sind. Ein 38jähriger Patient, nach einer längeren Alkoholkrankheit inzwischen seit mehreren Jahren abstinent, der mehrfach bei dem Versuch gescheitert war, in
Zum antwortenden Umgang mit Idealisierungen
der Arbeit Fuß zu fassen, sich für einen verkannten Künstler im Bereich Grafikdesign hielt und in diesem Bereich tatsächlich einige Begabungen hatte, konnte
Die Idealisierung einer für sie wichtigen anderen Person ist ein Mittel, mit dem
nähere Beziehungen allenfalls für einige Wochen aufrecht erhalten, um sich
sich strukturell gestörte Patienten vor Selbsthass und Selbstverachtung und vor
dann - meist abrupt - von der jeweiligen Partnerin zu trennen. Er wurde von
der Gefahr von Objektverlust und damit einhergehenden seelischen Zuständen
einem niedergelassenen Psychiater zur stationären Behandlung überwiesen,
wie Leere, Verzweiflung und tiefe Verlassenheitsgefühle schützen. In der kleinia-
weil er ganz offenkundig behandlungsbedürftig war. Auch er selbst meinte, einer Therapie zu bedürfen. Die Schilderung seiner Beschwerden war diffus, es
nischen Objektbeziehungstheorie wird Idealisierung als Abwehr gegen vernichtende unbewusste Fantasien der paranoid-schizoiden Position aufgefasst. Auch
blieb weitgehend unklar, mit welchen Problemen genau er zu tun hatte.
Kernberg (1988) versteht Idealisierung als einen Abwehrmechanismus gegen oral-
In der Klinik aufgenommen wertete er alles und jeden ab: die äußeren Be-
aggressive Impulse (vgl. Milch 2000). Bei Patienten mit strukturellen Störungen sind Idealisierungen des Therapeuten oder der Therapie oftmals die einzige Schiene, über die ein therapeutischer Kontakt zu Stande kommt und aufrechterhalten wird. Die Idealisierung
dingungen in dem recht komfortablen und angenehmen Ambiente der Klinik erschienen ihm als Zumutung, das Essen schwer genießbar, das Pflegepersonal inkompetent und die meisten Ärzte seiner Erkrankung nicht gewachsen, womit er angesichts seines schneidend-abwertenden Verhaltens in gewisser
als Widerstand zu interpretieren, würde die Gefahr mit sich bringen, dass d~ eben
Weise recht hatte. Nur der Chefarzt wurde von ihm, noch bevor er ihn genauer
noch idealisierte Objekt - hier der Therapeut bzw. die Therapie - jegliche gute
hatte kennen lernen können, idealisiert. Obwohl er auch den Therapeuten, der
Eigenschaft verliert, dem Patienten als gutes Objekt verloren geht und damit auch
für seine Einzeltherapie zuständig war, immer wieder abwertete und Zweifel an
~
166
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
167
Das therapeutische Gespräch
dessen Erfahrung und Kompetenz äußerte, den Chefarzt demgegenüber un-
bruchs der Therapie selbst im Falle einer plötzlichen Entwertung des Therapeuten
eingeschränkt idealisierte und bei vielen Gelegenheiten erkennen ließ, dass er
und der Therapie bewältigt werden und die therapeutische Beziehung repariert
von ihm behandelt zu werden wünschte, weil allein er seine Probleme würde
werden kann, kann die Idealisierung angesprochen werden. Das sollte dann in
erfassen können, und obwohl auch die Klinik insgesamt von ihm immer wieder
einer nicht-deutenden Weise geschehen und die Selbst- und Selbstwertregulie-
als für ihn nicht gut genug abgewertet wurde, schien er sich doch zu keinem Zeitpunkt ernsthaft mit dem Gedanken zu tragen, den Klinikaufenthalt zu
rung des Patienten unangetastet lassen. Wie Idealisierungen im therapeutischen Prozess mit strukturell gestörten Pa-
beenden. Und auch die Einzeltherapie bei dem von ihm manifest wenig wertgeschätzten Therapeuten schien er nicht für dermaßen wertlos zu halten, wie das dem Inhalt seiner Worte zu entnehmen war.
ventionen sich von einem deutenden Umgang mit Idealisierungen in Grundzügen
tienten antwortend angesprochen werden können, und wie antwortende Inter-
Nach einiger Zeit wurde erkennbar, dass es die aus einer narzisstischen Per-
unterscheiden, können die beiden folgenden Beispiele zeigen. Dabei handelt es sich einmal um eine deutende Intervention bei einer hartnäckigen, als Abwehr zu
sönlichkeitsstörung zu erklärende große Angst war, sich abhängig fühlen zu
verstehenden Idealisierung aus der Behandlung eines neurotischen Patienten, im
müssen, die dazu führte, dass die einzige Möglichkeit, sich behandeln zu lassen,
anderen Fall um eine antwortende Intervention, zu der sich die Therapeutin in der
für den Patienten darin bestand, dass er die, von denen er therapeutische Un-
Behandlung eines Patienten mit einer basalen strukturellen Entwicklungsstörung
terstützung erwarten konnte, zugleich abwertete und für sich für bedeutungslos
entschlossen hatte (vgL Blanck, Blanck 1974).
erklärte. Gleichzeitig machte er aber keine Anstalten, seinen Aufenthalt in der Klinik ernsthaft in Frage zu stellen. Dabei half ihm die Idealisierung des Chef-
In einer psychoanalytischen Behandlung idealisierte ein Patient seine Therapeutin
arztes, mit dem er tatsächlich kaum zu tun gehabt hatte, und unterstützte die Sicherung seines Selbstwertgefühls.
schon seit längerer Zeit. Die Therapeutin verstand diese weitgehend unverän-
Was der Patient mit Worten ausdrückte, war hier weit weniger informativ als
dert fortbestehende Idealisierung als Abwehr und entschloss sich bei passender Gelegenheit zu einer Deutung, indem sie ihrem Patienten sinngemäß sagte:
das, was er tat: die wichtigere Botschaft lag nicht in dem Inhalt dessen, was er
»Sie sehen in mir eine über alle Zweifel erhabene Person, mit der Sie sich ver-
sagte, in seinen verbalen Abwertungen, sondern in seinem Verhalten, in dem
bunden fühlen, so dass Sie sich selbst erhöht und vollkommen fühlen können.
Umstand nämlich, dass er tatsächlich in der Klinik blieb und an der vermeint-
Auf diese Weise schützen Sie sich vor ihrem Neid auf mich.« Indem die Psychoanalytikerin hier zur Sprache brachte, dass der Patient sie
lich wert- und nutzlosen Behandlung weiter teilnahm. Umgekehrt war es ihm überhaupt nur unter der Voraussetzung möglich, an der Behandlung teilzunehmen, dass er die potentiell hilfreichen und gerade dadurch bedrohlichen Objekte per Abwertung ungefährlich machte.
unrealistisch überhöht, brachte sie zum Ausdruck, dass er nicht ganz Herr im eigenen Haus ist, sondern sein Verhalten eine Funktion hat, die bestimmten anderen, ihm selber nicht durchschaubaren Zwecken dient, in diesem Fall seinem Schutz vor eigenen Neidgefühlen. Dabei setzte sie voraus, dass der Patient
Wäre die Idealisierung als Abwehr interpretiert worden, wäre die Gefahr groß
in der Lage war, ihre Vermutung aufzunehmen und zumindest in Erwägung
gewesen, dass die einzige Verbindung des Patienten zum Therapeuten und zu der
zu ziehen, dass sein idealisierendes Verhalten noch anderen Zwecken diente
therapeutischen Institution, deren Unterstützung er dringend benötigte, unterbrochen und in der Folge der Kontakt beendet worden wäre.
und nicht nur die von ihm selbst gemeinten Bedeutungen hatte, in diesem Fall einen unbewussten oral-aggressiven Konflikt und dazu korrespondierende
zum Therapeuten eingehen und die Behandlung aufrechterhalten können, soll-
Neidgefühle vom bewussten Erleben fernzuhalten. In der psychoanalytisch-interaktionellen Behandlung eines Patienten mit einer
te die Idealisierung unangetastet bleiben. Erst unter der Voraussetzung, dass die
schweren strukturellen Störung, der mehrere vorauf gegangene Behandlungs-
therapeutische Beziehung so weit tragfähig ist, dass die Gefahr eines abrupten Ab-
versuche jeweils schon nach wenigen Stunden abgebrochen hatte, wurde die
Solange Patienten nur auf der Grundlage von Idealisierungen eine Verbindung
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168
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Therapeutin von Beginn an idealisiert. Hier war die Idealisierung über längere Zeit hinweg der einzige halbwegs tragfähige Boden, auf dem Patient und Therapeutin sich bewegen konnten. Als die therapeutische Beziehung allmählich stärker in den gemeinsamen Blickpunkt rückte, konnte schließlich auch die Idealisierung des Patienten vorsichtig zur Sprache gebracht werden. In diesem Fall meinte die Therapeutin eines Tages sinngemäß: »Ich fühle mich geschmei-
Das therapeutische Gespräch
Eine strukturell gestörte Patientin mit massiven sozialen Ängsten und selbstschädigendem Verhalten, die sich häufiger schwere Schnittverletzungen beibrachte, die chirurgisch versorgt werden mussten, und die darüber hinaus einen massiven Diuretikaabusus betrieb, der gelegentlich bedrohliche Folgen hatte, geriet immer wieder in schwer auszuhaltende Spannungszustände. Wenn ihre Therapeutin auch nur vorübergehend, etwa am Wochenende, für sie nicht erreichbar war, zog
chelt, dass Sie mich als eine so sehr über alle Zweifel erhabene Person sehen. Ich hoffe nur, nicht zu sehr in Ihrer Achtung zu sinken, wenn ich Ihnen sage, dass
sie sich bis zur völligen Abschirmung zurück und ließ selbst therapeutische Mit-
ich ganz so fehlerlos nicht bin.«
hatte, innerlich für sich sterben. Dadurch entstanden über längere Zeit hinweg immer wieder kritische Situationen, die Maßnahmen erforderlich machten, um
In der Annahme, dass die Idealisierung ihrer Person in erster Linie selbstregulative Funktionen für den Patienten erfüllt und der Stabilisierung seines narzisstischen Gleichgewichts dient, versuchte die Therapeutin in diesem Beispiel, sich dem Patienten mit ihrer Antwort in einer Weise zu zeigen, die seine Neigung, sie zu idealisieren, partiell frustriert. Gegenläufig zu der Tendenz des Patienten, sie als Selbstobjekt zu verwenden, gibt sie sich" ihm als anderes, realistischeres Subjekt zu erkennen. Indem sie dabei auch davon spricht, wie sie selber zu sein glaubt, tut sie etwas, was dem Patienten nicht möglich ist, nämlich ein Bild von sich selber zu haben, das sich nicht nur aus guten Elementen
arbeiter, mit denen sie kurz zuvor noch ein vertrauensvolles Gespräch geführt
zu verhindern, dass die Patientin sich schweren Schaden zufügte. Aber auch nachdem das selbstschädigende Verhalten mehr in den Hintergrund getreten und von ihr besser kontrolliert werden konnte, drohten ihre Spaltungstendenzen immer wieder in unumkehrbare Objektverluste zu münden. In der Therapie wurde ihre Neigung, auf Trennungen, insbesondere auch auf Trennungen von ihrer Therapeutin, mit massiven Spaltungen und nachfolgendem Objektverlust zu reagieren, antizipatorisch zur Sprache gebracht. In diesem Fall sagte die Therapeutin: »Ich mache mir Sorgen, wenn unsere Zeit
zusammensetzt, sondern ganz im Gegenteil auch Seiten umfasst, die sie selber
gleich zu Ende geht. Ich befürchte, dass Ihnen das, was hier heute war, nachher,
kritisch sieht. Damit führt sie dem Patienten zugleich vor Augen, dass es und
wenn Sie mit sich allein sind, wieder verloren geht und dass bis übermorgen
wie es möglich sein kann, unabhängiger von dem Bild zu werden, das Andere von einem haben, dadurch nämlich, dass man selber ein Bild von sich hat.
nicht viel von unseren heutigen Erfahrungen für Sie zurückbleibt. Das wird mich in der Zwischenzeit, bis wir uns wieder treffen, sicherlich gelegentlich
Antworten und Antizipation habituellen Verhaltens
beschäftigen, wenn ich an Sie denke.« Von ihren vorangegangenen Erfahrungen mit der Patientin ausgehend vermutete die Therapeutin, dass die Patientin gute Erfahrungen, die sie mit ihr in
Patienten selektiv transparent macht, sind dann besonders effektiv, wenn sie direkt
der Behandlung machte, als Folge mangelnder Objektkonstanz nicht festhalten und sich manchmal nicht einmal an sie als Person erinnern konnte, wenn sie
Antwortende Interventionen, mit denen der Therapeut eigenes Erleben für den
169
im Anschluss an das Verhalten des Patienten platziert sind und auf unmittelbar
sich auch einmal als versagend erwies oder für sie nicht verfügbar war, sobald
vorangegangenes Verhalten des Patienten reagieren. Antwortende Interventionen
sie meinte, ihrer zu bedürfen. Darum nahm die Therapeutin selber die Funk-
können aber auch eingesetzt werden, um problematisches und dysfunktionales
tion der Objektkonstanz wahr und teilte ihrer Patientin mit, dass sie ihrerseits
Verhalten des Patienten, von dem nach allen vorangegangenen Erfahrungen zu
durchaus gelegentlich an sie denken werde, was tatsächlich auch der Fall war,
erwarten ist, dass der Patient sich dieses Verhaltens auch aktuell wieder bedienen
gleichsam nach dem Motto: »Wenn es mich für Sie nicht mehr gibt, wenn ich
wird, zu antizipieren.
weg bin, bleibe ich doch in Gedanken mit Ihnen verbunden.« Anders in der Behandlung einer Patientin, deren Persönlichkeitsorganisation vergleichsweise stabil integriert war und die psychoanalytisch behandelt wurde. ,
170
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Das therapeutische Gespräch
Auch sie nahm gelegentlich zu mildem selbstverletzendem Verhalten Zuflucht,
stellen. Darum ist es nicht sinnvoll, für eine Behandlung vorauszusetzen, dass die
indem sie sich an den Unterarmen ritzte. Die Spaltungsabwehr stand bei ihr
Patienten dazu motiviert sind. Vielmehr müssen die Schwerpunkte anders gesetzt
allerdings immer nur dann im Vordergrund, wenn sie unter dem Einfluss be-
werden: Die Fähigkeit, die eigene Beteiligung an den wiederkehrenden Schwierigkeiten in der sozialen Welt zu erkennen, muss erst entwickelt und die Motivation
stimmter unbewusster Konflikte regredierte, während sie sich gewöhnlich auf einer reiferen und entsprechend stabileren Entwicklungsstufe bewegte. In diesem Falle deutete die Therapeutin das Verhalten der Patientin, die sich nach einer kürzeren Unterbrechung der Behandlung wieder einmal an den Armen geritzt hatte, mit den Worten: »Sie sind so wütend auf mich, wenn ich Sie
zu einer Behandlung, die das voraussetzt, mit Hilfe der Therapie erst gewonnen werden. Die Motivation zur Behandlung ist hier somit nicht Voraussetzung für die Therapie, 'sondern ist - scheinbar paradox - selber ein erstes wichtiges Ziel der
verlasse, dass Sie mich innerlich sterben lassen. Und dann fühlen Sie sich allein
Behandlung. Das Verhalten des Therapeuten bemisst sich deshalb vorrangig an dem Ziel,
und müssen sich selbst Schmerzen zufügen, um sich wieder lebendiger fühlen zu können.«
Voraussetzungen zu schaffen, die den Patienten in die Lage versetzen, allmählich für das eigene Verhalten aufmerksam zu werden, Veränderungen anzustre-
In diesem Fall hatte die Analytikerin angenommen, dass bei der Patientin ein unbewusster Konflikt mit heftigen aggressiven Attacken gegen das versagende Objekt, das sie in der Übertragung für die Patientin war, einherging, und die Patientin sie in der Fantasie vernichtete.
Antworten und das Primat der Progressionsorientierung
ben, Entwicklungsschritte nachzuholen, die unvermeidlichen Frustrationen und Misserfolge zu ertragen, die mit einer Therapie einhergehen, und sich psychische Funktionen aneignen zu wollen, die er sich aufgrund der Bedingungen in seiner Entwicklung nicht hat aneignen können. Weil die innere Rückkehr zu verdrängten Erfahrungen der Kindheit und die regressive Wiederbelebung verlassener psychosozialer Entwicklungsstufen nicht entwicklungsförderlich ist, schlägt die Therapie
Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen lei-
die Richtung auf Bewältigung hin ein. Die Progressionsorientierung der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie
den oft weit mehr daran, dass ihre Umwelt sich ihnen gegenüber nicht so verhält, wie sie das erwarten und wünschen, als dass ihnen ihr eigenes Verhalten zum
sei in diesem Zusammenhang anhand eines Beispiels verdeutlicht, das annähernd identisch auch von Blanck und Blanck (1974) berichtet wurde. In beiden Fäl-
Problem würde, auch wenn sie untergründig zumindest ahnen, dass sie selbst an
len stellt die Patientin ihrer Therapeutin bei der Begrüßung an der Haustür sinn-
den Reaktionen der Umwelt beteiligt sind, gegen die sie oft so vehement aufbe-
gemäß die Frage, ob es ihr heute nicht gut gehe. Im ersten Fall handelt es sich um eine psychoanalytische Behandlung einer Patientin mit einer stabil integrierten
gehren müssen. Als Therapeut kann man deshalb nicht davon ausgehen, dass die Patienten zu einer psychotherapeutischen Behandlung kommen, um sich selber und ihr eigenes Verhalten zu verändern. Therapeuten, die wenig klinische Erfah-
171
Persönlichkeitsorganisation, im anderen Fall geht es um die psychoanalytisch-interaktionelle Therapie einer strukturell gestörten Patientin:
rungen mit solchen Patienten haben, neigen manchmal dazu, eine Behandlung deshalb abzulehnen, weil sie die Patienten für nicht motiviert halten. Sie überse-
In dem ersten Beispiel kommt die Patientin eines Tages zur Behandlungsstun-
hen, dass die Patienten immerhin zu ihnen gekommen sind, sei es aufgrund ihrer
de, blickt ihre Psychoanalytikerin bei der Begrüßung musternd an, zögert einen
eigenen Entscheidung, sei es auf Anraten. Auch wenn sie nicht darauf eingestellt sind und sich nicht motiviert zeigen, ihr eigenes Erleben und Verhalten in Frage
Moment lang und fragt sie schließlich: »Geht es Ihnen heute nicht gut?« Unter der diagnostischen Annahme, dass sich bei ihrer neurotischen Patientin
zu stellen und selbstkritisch zu untersuchen, haben sie doch den Weg zum The-
eine negative Übertragung mit aggressiven Wünschen ihrer Analytikerin gegen-
rapeuten gefunden. In Institutionen, in denen der Anteil strukturell gestörter Pa-
. über anbahnt, die mit der besorgten Frage im Sinne einer Reaktionsbildung
tienten hoch ist, ist das eher die Regel als die Ausnahme: Die Patienten sind zwar
abgewehrt wird, registriert die Psychoanalytikerin die Frage der Patientin und
da, zeigen sich manifest aber keineswegs bereit, ihr eigenes Verhalten in Frage zu
reagiert in konventioneller Weise. Später in der Behandlung spricht sie diese ,
172
Das therapeutische Gespräch
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Übertragung bei passender Gelegenheit an, indem sie die Besorgnis der Patientin als Abwehr deutet.
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machen dem Patienten grundlegende Aspekte des In-Beziehung-mit-Anderen-
Anders die Therapeutin, die sich mit einer ganz ähnlichen Frage bei der Begrü-
Seins transparent, führen dem Patienten vor Augen, wie er mit seinem Verhalten zu dysfunktio-
ßung ihrer Patientin, die an den Folgen einer schweren strukturellen Störung
nalen interpersonellen Zirkeln beiträgt, in die er sich im Zusammensein mit
leidet und mit der sie seit längerer Zeit in einer psychoanalytisch-interaktionellen
Einzeltherapie arbeitet, konfrontiert sieht. Sie belässt es dabei, ihrer Patientin
Anderen immer aufs Neue verstrickt und zeigen dem Patienten, dass der Therapeut sich nicht in destruktive und ausbeu-
freundlich zu antworten: »Oh, danke der Nachfrage ( ... ), tatsächlich geht es mir gut.«
terische Beziehungen verstricken lässt, sondern in der Lage ist, seine eigenen Grenzen zu beachten und für seinen eigenen Schutz zu sorgen (vgl. Ott 2001);
Diese scheinbar so einfache und leicht hingeworfene Antwort war in Wirk-
das nimmt vielen Patienten mit strukturellen Störungen etwas von der über-
lichkeit wohl überlegt. Die Therapeutin antwortete in dieser Weise, weil sie
wältigenden Angst vor der Wucht ihrer Impulse und Affekte.
zu verstehen meinte, dass die Patientin erstmals so etwas wie Sorge um eine andere Person zeigte und sich damit auf eine depressive Position zuzubewegen schien. Mit ihrer kurzen antwortenden Intervention, die in diesem Fall auch das Format einer Antwort im linguistischen Sinn hatte, bestätigte die Thera-
Zur passageren Übernahme von psychischen Funktionen: Der Therapeut in der Funktion eines Selbstobjekts
peutin diesen Entwicklungsschritt, indem sie die besorgte Frage der Patien-
Patienten mit strukturellen Störungen können andere Menschen nicht als eigen-
tin dankend aufnahm und beantwortete. Sie kommentierte das Verhalten der
ständige andere Subjekte in ihrem eigenen Recht wahrnehmen, die aus ihrer je
Patientin nicht und brachte deren Erkundigung auch nicht in anderer Weise explizit zur Sprache, sondern bestätigte und bestärkte das Verhalten, weil sie
eigenen psychischen Realität heraus handeln und erleben. Andere sind gleichsam
darin ein Zeichen für einen Entwicklungsfortschritt sah. Mit ihrer antwor-
des Patienten übernehmen, sie werden nicht als vom Selbst unabhängige Ob-
tenden Äußerung machte sie das Verhalten implizit als ein von ihr begrüßtes Verhalten kenntlich.
jekte wahrgenommen, sondern als Selbstobjekte. Um die Entwicklung basaler
Die Funktionen antwortender Interventionen unterscheiden sich somit in verschiedener Hinsicht von den Funktionen, die Deutungen haben. Antwortende
für den Patienten. Das betrifft auch Funktionen der Selbstregulierung. Bei der stellvertretenden Ausübung psychischer Funktionen tritt der Therapeut
Interventionen
gleichsam in Selbstobjektfunktionen ein, nimmt in diesem Sinn die narzisstische
nur so lange psychisch gegenwärtig, wie sie Funktionen für die Selbstregulierung
psychischer ~unktionen zu fördern, übernimmt der Therapeut bei der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeit solche Funktionen vorübergehend stellvertretend
unterstreichen die Differenz von Selbst und Objekt und betonen Trennung
Selbstobjekt-Übertragung (Kohut 1977) an, geht aber zugleich darüber hinaus und unterstützt die Entwickl~ng autonomer Anpassungs- und selbstregulativer
und Individuierung mehr als Ungetrenntheit und Verschmelzung,
psychischer Funktionen. Das geschieht, indem er immer auch als anderes Subjekt
geben selektiv Wirkungen zu erkennen, die das Verhalten des Patienten auf
und damit als ein vom Selbst des Patienten unabhängiges Objekt dem Patienten
den Psychotherapeuten und auf dessen Erleben und dessen Handlungsbereitschaften hat,
gegenübertritt. Man könnte die Teilnahme des Therapeuten an der Kommuni-
fördern damit die Funktion des Mentalisierens,
Selbstobjekts« nennen, was die interpersonelle Bezogenheit zwischen Patient und
unterstützen die Entwicklung reiferer Objektbeziehungen und tragen zu~ Ver-
Therapeut zutreffender kennzeichnet als der Begriff »Hilfs-Ich«. Der Therapeut
kation mit seinem Patienten - paradox - die Funktion eines »komplementären
besserung von interaktiven Kompetenzen sowie der Fähigkeit bei, im Kontakt
betritt den psychischen . Raum des Patienten gleichsam in dem Wissen, in Ge-
mit Anderen zu sein,
brauch genommen und verwendet zu werden, ohne davon ausgehen zu können, ~
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6. Psychoanalytisch-interaktion elle Behandlungstechnik
Das therapeutische Gespräch
dass der Patient ihn in seinem eigenen subjektiven psychischen Raum aufsuchen
Bekannten »voll und ganz« vertrauen zu können, sagte der Therapeut: »Und Sie
oder auch nur von dessen Existenz ausgehen wird. Die Rolle als »komplementäres
sind sicher, dass Ihre Bekannte Ihr Vertrauen rechtfertigen wird? Kennen Sie sie
Selbstobjekt« kann bildhaft in der Weise umschrieben werden, dass der Therapeut sich von seinem Patienten zwar in diesen psychischen Raum aufnehmen und zu
schon so genau? Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtiger, solange ich nicht genau wüsste, mit wem ich es zu tun habe.« Angesichts der erheblichen strukturellen
selbstregulativen Zwecken verwenden lässt, das aber mit dem Bemühen verbindet,
Beeinträchtigungen der Patientin, die mit der Neigung einhergingen, anderen
dem Patienten von dort aus den Weg hin zum Raum des anderen Subjekts zu
Menschen blind zu vertrauen, und angesichts der zu erwartenden, dadurch
weisen, als das er sich immer zugleich zu erkennen gibt. Der Therapeut befrie-
bedingten selbstschädigenden Folgen übte der Therapeut umfangreiche Hilfs-
digt - mit anderen Worten - nicht allein Selbstobjektbedürfnisse des Patienten,
funktionen aus: Mit seiner Frage, wie gut die Patientin ihre Bekannte denn
sondern handelt zugleich immer auch als anderes Subjekt dem Patienten gegen-
schon kenne, wies er die Patientin implizit auf ihre Tendenz hin, arglos zu sein
über. Er bleibt nicht ausschließlich Selbstobjekt, sondern übernimmt in Inter-
und einem ihr weitgehend fremden Menschen blindes Vertrauen entgegenzu-
aktion mit seinem Patienten psychische und psychosoziale Funktionen, die die
bringen, das durch nichts begründet war. Damit gab er ihr zu erkennen, dass
Wahrnehmung des anderen Subjekts und damit den Zugang zur sozialen Welt ermöglichen, dem Patienten aber nicht oder noch nicht verfügbar sind. Im güns-
es ihm wichtig erscheint, sich zuerst ein Bild von einem anderen Menschen zu machen und diesen Menschen erst genauer kennenzulernen, bevor man
tigen Fall eignet sich der Patient diese Funktionen, die der Therapeut so im in-
ihm seine Wohnung anvertraut. Der Therapeut ging noch einen Schritt weiter,
teraktiven Austausch vorübergehend übernimmt, allmählidi an und kann seinen
identifizierte sich mit der Patientin und sagte ihr, wie er sich verhielte, wenn er an ihrer Stelle wäre, übernahm somit eine urteilende Funktion, indem er sie
von eigenständigen anderen Subjekten vormals entleerten und einsamen Raum mehr und mehr verlassen.
implizit anregte, Folgen ihres Verhaltens zu antizipieren.
Wenn der Therapeut neben den selbsregulierenden vorübergehend auch interaktionsregulierende Funktionen stellvertretend für den Patienten übernimmt, kann
In diesem Fall rückte der Therapeut mit seiner Intervention, indem er sich virtu-
auch das so geschehen, dass er sich virtuell an die Stelle des Patienten setzt. Aus
ell an die Stelle der Patientin versetzte, Umstände ins Blickfeld, deren potentielle
einer identifikatorischen Position heraus vollzieht er dann bestimmte psychische
Bedeutung der Patientin bis dahin nicht zugänglich war. Sie konnte nicht sehen,
Funktionen gleichsam im Angesicht des Patienten und ermutigt seinen Patienten
dass Menschen, die ihr auf den ersten Blick nett und freundlich erschienen, auch
damit, unter dem Schutz der therapeutischen Beziehung selber entsprechend zu handeln:
weniger freundliche Eigenschaften haben können, die nach außen aber nicht
Eine Patientin mit einer präpsychotischen Störung hatte einige Male erheblichen materiellen und körperlichen Schaden genommen, weil sie Menschen, die sie noch kaum kannte, geradezu blind vertraute. Sie war nur sehr einge-
unbedingt in Erscheinung treten müssen. In passagerer IdentiHkation mit ihr versuchte er seiner Patientin mit seiner Intervention vor Augen zu führen, in welcher Weise er vergleichbare Umstände in Rechnung stellen würde, wäre er an ihrer Stelle. Beziehungsstörungen von Patienten mit strukturellen Beeinträchtigungen könj
schränkt in der Lage, sich ein halbwegs anschauliches Bild von den Menschen
nen sich darin manifestieren, dass es ihnen schwer fällt zu erkennen, dass und
in ihrer Umgebung zu machen, und verhielt sich immer wieder, als seien Ande-
wie sie aufgrund ihres eigenen Verhaltens immer wieder in ähnliche dysfunktio-
re, die in ihre Nähe kamen, ausschließlich gut und wohlmeinend.
nale, nicht selten destruktive und traumatisierende Beziehungen hineingeraten.
Sie berichtete, dass sie einer Bekannten, die sie vor noch nicht einmal drei
Ihre Neigung, retraumatisierende Verhältnisse wiederherzustellen, kann vielfäl-
Wochen kennen gelernt hatte, angeboten hatte, in ihrer Wohnung zu wohnen,
tige Gründe haben, verdankt sich allerdings nicht einem neurotischen Wieder-
während sie selbst aus besonderen Gründen für zehn Tage in einer anderen
holungszwang. Vielmehr sind Retraumatisierungen meist eine Folge eines nicht-
Stadt sein musste. Als die Patientin davon sprach, dass sie ganz sicher sei, dieser
sprachlich vermittelten interaktiven Verhaltens, in dem sich ein zentrales internes ,
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Arbeitsmodell zur Geltung bringt und sich die Einschränkungen psychischer Funktionen und Fähigkeiten dokumentieren. In diesem Fall übernimmt der Therapeut Funktionen für den Patienten entweder, indern er auf die potentielle Wirkung und auf mögliche interpersonelle und psychische Folgen hinweist, die das Verhalten des Patienten zur Folge haben kann, oder indern er den Patienten auf indirektem Weg dabei unterstützt, die Folgen seines Verhaltens zu antizipieren und sich gleichsam über den interpersonellen Preis klar zu werden, den er voraussichtlich zu zahlen haben wird, wenn er sich in dieser bestimmten Weise verhält. Das kann beispielsweise so geschehen, dass der Therapeut dem Patienten vor Augen führt, wie er selbst, wäre er an Stelle des Patienten, sich verhalten und die Aktivität realisieren würde, die auszuüben dem Patienten nicht möglich ist. Der Therapeut kann den Patienten auf mögliche Folgen seines Verhaltens aber auch auf indirektem Weg hinweisen und damit seine Fähigkeit unterstützen, Folgen des eigenen Verhaltens zu antizipieren: Ein 2S-jähriger Student hatte mehrfach versucht, nähere Kontakte zu schließen. Obwohl sich ihm durchaus Gelegenheiten boten, sowohl mit Kommilitoninnen als auch mit Kommilitonen zusammenzutreffen, und obwohl er ganz offenkundig nichts an sich hatte, was Andere schon auf den ersten Blick dazu hätte veranlassen können, ihm gegenüber Distanz zu halten, kam es nicht zu näheren Bekanntschaften. Nachdem er die Hoffnung gehabt hatte, dass sich seine sozial isolierte Situation an der Universität im Laufe der Zeit ändern würde, hatte er sich inzwischen wie schon in den letzten drei Jahren seiner Schulzeit immer mehr zurückgezogen, fühlte sich einsam, nutzlos und war depressiver Stimmung.
Das therapeutische Gespräch
wohl aufgenommen und empfunden hat.« Daraufhin meinte der Patient im ersten Anlauf: »Wieso empfunden hat? Ich war doch nur ehrlich. Wenn das schon nicht geht, dann kann man's auch gleich lassen.« Dann hielt er inne, wirkte nachdenklicher und meinte dann pampig: »Weiß ich auch nicht ... Na ja, gefallen hat's ihr wohl nicht, jedenfalls hat sie geguckt wie 'ne Zitrone.« Ob das Verhalten des Studenten auch Ausdruck einer unbewusst ablehnenden und verachtenden Einstellung Frauen gegenüber war, war dem Verhalten selber nicht zu entnehmen. Selbst wenn unbewusste Konflikte im Verhältnis zu Frauen dabei eine Rolle gespielt haben mögen, was wahrscheinlich ist, so lagen seinem Verhalten doch weitergehende Beeinträchtigungen zu Grunde. So ließ er vergleichbar taktlose Bemerkungen auch Männern gegenüber fallen, die sich daraufhin ebenfalls befremdet von ihm zurückzogen oder manifest ablehnend und aggressiv reagierten. Er hatte generell wenig Gespür dafür, welche Wirkung sein Verhalten auf seine Umgebung hatte, und weil er nicht in der Lage war, sich vorzustellen, wie Andere empfinden würden, wenn er sich ihnen gegenüber so verhielt, wie er das häufig tat, lebte er sozial weitgehend isoliert, ohne sich das erklären zu können. Der Therapeut verzichtete in dem Beispiel darauf, die Folgen des Verhaltens der Kommilitonin gegenüber stellvertretend für den Patienten zu antizipieren. Stattdessen beließ er es dabei, den Patienten mit seiner beiläufig erscheinenden Bemerkung, wie die Kommilitonin seinen Kommentar zur Größe ihrer Füße wohl empfunden haben mochte, indirekt auf den Umstand aufmerksam zu machen, dass sein Verhalten bei seinem Gegenüber aller Wahrscheinlichkeit nach Folgen gehabt hat, über die er sich möglicherweise nicht im Klaren war. , Der Patient konnte daraufhin im Nachhinein einen Zusammenhang zwischen
In der Therapie hatte sich herausgestellt, dass er sich schon bei ersten flüchtigen Zusammentreffen der anderen Person gegenüber immer wieder in einer Weise verhielt, die selbst in näheren und vertrauteren Beziehungen als taktlos oder
der Art seiner Bemerkung und der abweisenden Reaktion der Kommilitonin herstellen.
indiskret gelten würde. So meinte er beispielsweise zu einer Kommilitonin, mit der er eines Tages in der Mensa am gleichen Tisch saß, kaum dass er zwanzig
Bei einem weiteren Typ von Interventionen, mit denen der Therapeut passager psychische Fllnktionen, die dem Patienten nicht zur Verfügung stehen, übernimmt,
Minuten mit ihr gesprochen hatte, ihm sei gleich aufgefallen, dass sie ja »riesen-
setzt er sich gleichsam an die Stelle jener anderen Person (Objektposition), mit
große Füße« habe. Die Therapeutin, die sich die Situation und das Gespräch zwischen ihrem Patienten und seiner Kommilitonin wie schon in Verbi~dung
der der Patient in der Situation, über di~ er berichtet, zu tun hatte. Dabei zeigt der Therapeut dem Patienten auf, wie sein Gegenüber sein Verhalten eventuell erlebt haben und woraufhin die andere Person sich ihrerseits in der von dem Pa-
mit mehreren vergleichbaren Situationen genau hatte schildern lassen, sagte daraufhin: »Ich frage mich, wie die Kommilitonin diese Bemerkung von Ihnen
tienten nicht erwarteten Weise verhalten haben könnte. Der Therapeut handelt
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
auch dabei gleichsam aus der Position der komplementären Gegenübertragung
Das therapeutische Gespräch
heraus, ohne seine Gegenübertragung deshalb zu agieren. Dieser Interventionstyp
sonellen Mustern, die die gegenwärtige therapeutische Beziehung kennzeichnen, kann vor allem dann besonders effektiv sein, wenn Patient und Therapeut nicht
s~i wiederum am Beispiel der Antizipation von Wirkungen des eigenen Verhaltens verdeutlicht:
nur über das jeweilige Verhalten und über das Erleben sprechen, sondern der Therapeut mit seinem antwortenden Verhalten auf das aktuelle interaktive Ge-
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schehen Einfluss nimmt. Im Hier und Jetzt erfährt der Therapeut gleichsam In dem obigen Beispiel, in dem der Patient die vermeintlich großen Füße seiner
am eigenen Leib die Folgen eines Verhaltens des Patienten, dem eingeschränkte
Kommilitonin erwähnt hat, hätte die Therapeutin virtuell die Rolle der Kommilitonin einnehmen und dem Patienten sagen können: »Wissen Sie, wenn ich
oder nicht verfügbare psychische Funktionen zu Grunde liegen; und der Patient sieht sich in der von ihm selbst mit gestalteten Beziehung den Wirkungen seines
an Stelle der Studentin gewesen wäre, hätte mich das möglicherweise gekränkt
Handelns unmittelbar gegenüber. Weil Patienten mit strukturellen und komple-
oder zumindest befremdet, und vielleicht wäre ich sogar - immerhin kennen
xen Störungen aber nicht von außen auf die therapeutische Beziehung und auf
Sie mich nicht und ich Sie nicht - aufgestanden und wäre wortlos oder mit
das interaktive Geschehen, das sie selbst mit hervorbringen, hinblicken können,
irgendeiner unfreundlichen Bemerkung weggegangen.«
sollte der Therapeut auch hier auf deutende Interventionen, die zur Selbst- und zur Beziehungsreflexion auffordern, verzichten und den Patienten nicht mit sei-
Eine Intervention dieses Typs zielt im ersten Schritt darauf ab, dem Patienten erkennbar werden zu lassen, dass sein eigenes Handeln unvenheidlich Folgen nach
nem Verhalten konfrontieren; beides wäre nur unter der Voraussetzung hilfreich, dass der Patient in der Lage wäre, gleichsam von einer dritten Position aus auf
sich zieht; im Weiteren darauf, den Patienten zur Ausübung der Funktion der
die therapeutische Beziehung zu blicken, die er selber mit gestaltet. Stattdessen
Antizipation von Folgen seines Verhaltens anzuregen. Manche Patienten sind zwar
übernimmt der Therapeut wiederum die Rolle eines reflektierten Mitakteurs, der
in der Lage, sich vor Augen zu führen, dass ihr Verhalten Wirkungen auf ihr Ge-
dem Patienten gegenüber selektiv transparent macht, welche Wirkungen dessen
genüber hat, und sie erwägen etwaige Folgen, die ihr Verhalten nach sich ziehen
Verhalten auf sein Gegenüber haben kann. Indem der-Therapeut auf diese Weise psychische.Funktionen der inneren und
könnte, antizipieren die Folgen ihres ins Auge gefassten Verhaltens aber auf grob unrealistische Weise. So hatte der Student, der die Mitstudentin in der Mensa in ein Gespräch zu verwickeln versuchte, die Vorstellung, dass er seiner Kommilitonin mit seiner »Aufrichtigkeit« Eindruck machen könnte. In diesem Fall hätte die
äußeren Anpassung, die dem Patienten aufgrund seiner Entwicklungsbeeinträchtigungen nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen, passager übernimmt,
Therapeutin mit ihrer Intervention dem Patienten gezeigt, welche Wirkung sein Verhalten bei ihr - wäre sie tatsächlich an der Stelle der Studentin gewesen - ge-
stellt er den Patienten schützende und Sorge tragende Funktionen bereit,
habt und wie sie sich daraufhin wahrscheinlich verhalten hätte. Wenn sich in der therapeutischen Beziehung abzeichnet, welche Umstände
trägt er dazu bei, vorübergehend die gefährdete relative Anpassung des Patienten zu sichern,
dem Patienten in seinem sozialen Alltag Probleme bereiten und welche Bedin-
führt er dem Patienten vor Augen, wie und mit welchen Mitteln er seine innere
gungen ihn zu einem Handeln veranlassen, das bei anderen Personen mit ei-
und äußere Anpassung gewährleisten kann,
niger Wahrscheinlichkeit nicht beabsichtigte Wirkungen nach sich zieht, kann
macht er insbesondere die Vielfalt interaktiver Implikationen von Verhalten in
die therapeutische Beziehung auch genutzt werden, um zu untersuchen, wie
Anwesenheit von Anderen deutlich.
Erfahrungen mit früheren Beziehungen in Interaktion mit Anderen immer wieder von Neuem in Szene gesetzt werden und wie solche Erfahrungen auch die
Damit bietet er sich auch als Modell zur identiflkatorischen Übernahme jener
Interaktion von Patient und Therapeut beeinflussen. Die therapeutische Arbeit
Fertigkeiten und Funktionen an, die er passager stellvertretend für den Patienten
an Auffälligkeiten der Interaktion von Patient und T~erapeut und an interper-
ausübt, und unterstützt so die Entwicklung selbstregulativer, der Selbstbewahrung ~
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Das therapeutische Gespräch
dienender Fähigkeiten des Patienten. Letztlich fördert er damit auch die Möglich-
Bei anderen Patienten, etwa bei Patienten mit schweren Borderline-Störungen,
keiten des Patienten zur Gestaltung von Reziprozität getragener Beziehungen.
beschränkt sich die Wahrnehmung von Gefühlen oftmals auf wenige Gefühlsqua-
Zum therapeutischen Umgang mit Affekten
litäten, beispielsweise von Wut, während andere differenzierte Gefühlsqualitäten nur wenig zugänglich sind. Insbesondere Gefühle, die sich mit dem Ausdruck von Bedürftigkeit verbinden, beispielsweise Enttäuschung oder Sehnsucht, oder die
Affekte haben wichtige Funktionen sowohl für die Selbstregulierung als auch
dokumentieren, dass andere Personen nennenswerten Einfluss auf sie haben, bei-
für die Regulierung von interpersonellen Beziehungen und vermitteln - entspre-
spielsweise Kränkungen, sind den Patienten meist verschlossen. Für wieder andere Patienten sind Gefühle generell bedrohlich, weil sie befürchten, angesichts inten-
chend ihrer propositionalen Struktur - im Verhältnis von Subjekt und Objekt. Um die oft gravierenden Einschränkungen affektiven Erlebens und Ausdrucks
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bei Patienten mit strukturellen Störungen zu behandeln, verknüpft der psychoa-
siver Gefühle die Kontrolle über das eigene Verhalten zu verlieren und damit ihre Unabhängigkeit bzw. Autarkie einzubüßen; indem Gefühle nicht wahrgenommen
nalytisch-interaktionell arbeitende Therapeut seine antwortenden Interventionen
werden, kann die Fantasie von Unberührbarkeit und Souveränität aufrechterhal-
häufig mit dem Ausdruck eigener Gefühle, vor allem auch von Gefühlen, die sich
ten werden.
bei ihm im Kontext des Verhaltens des Patienten einstellen. Damit ermöglicht er dem Patienten, anhand der gegenwärtigen Beziehung mit dem Therapeuten zu erkennen, welche Funktion Affekte für Beziehungen una deren Regulierung
Eine Patientin meinte, sie habe, soweit sie sich zurückerinnern könne, Gefühle
haben können. Indem der Patient die affektiven Antworten des Therapeuten liest,
tiert, dass einige andere Patienten relativ offen über ihre Gefühle sprachen. Mit
werden Funktionen affektiver Steuerung im interpersonellen Geschehen transparent. Der Therapeut macht sein gefühlshaftes Erleben dem Patienten gegenüber
ihr anfangs unbehaglichem Befremden musste sie registrieren, dass Andere bei Abschieden traurig waren, sich übereinander ärgerten, manchmal wütend rea-
mit seinen antwortenden Interventionen selektiv erkennbar; damit regt er den
gierten oder sich vor Neid grämten. Nachdem sie glaubte feststellen zu müssen,
Patienten zu differenzierender Wahrnehmung eigener Gefühle und derenadä-
dass sie selbst gar keine Gefühle hätte, ihr von therapeutischer Seite aber gesagt wurde, dass auch sie sicherlich Gefühle habe, sich wahrscheinlich aber habe
quatem Ausdruck an.
niemals bewusst empfunden. In der Behandlung sah sie sich damit konfron-
schützen müssen, indem sie ihre Gefühle nicht wahrgenommen habe, schien
Wahrnehmung und Differenzierung von Gefühlen
sie erleichtert. Einige Zeit später wandte sie sich mit dem Ausdruck zunehmend neugierigen Erstaunens an Mitpatientinnen, um sie zu fragen, ob sie eigentlich
. Patienten mit basalen Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsorganisation ist es
keine Angst vor ihren Gefühlen hätten, immerhin seien sie doch jederzeit in
oft nicht oder nur schwer möglich, verschiedene Qualitäten von Gefohlen wahrzunehmen. Um sich vor schmerzlichen und demütigenden Erfahrungen zu schüt-
Gefahr, dass ihre Gefühle ~ußer Kontrolle gerieten, und dann könnten sie ja wohl nicht mehr sicher sein, was sie dann tun würden.
zen, die ihnen in ihrer Entwicklung zugemutet wurden, haben sie sich nach innen hin taub gemacht. In der Folge empfinden sie, dass sie »gut drauf« oder »schlecht
Bei Patienten, bei denen es Hinweise dafür gibt, dass sie bereits seit vielen Jahren -
drauf« sind, sie fühlen sich »toll« oder »mies«, empfinden Behagen oder Missbe-
unter Umständen sogar schon in der Adoleszenz oder in noch früheren Entwick-
hagen, während differenziertere Gefühlsqualitäten nicht wahrgenommen werden,
lungsphasen - kaum Zugang zu ihren Gefühlen hatten, kann es hilfreich sein,
weder Freude noch Kummer, weder Dankbarkeit noch Zärtlichkeit, weder Ärger
wenn der Therapeut dem Patienten kognitives Wissen über Gefühle vermittelt,
noch Zuneigung. Dabei haben »schlechte Gefühle« oder andere Formen von
ihn in einem ersten Schritt über die Bedeutung von Gefühlen informiert und
Unwohlsein oftmals die Qualität eines körpernahen, physisch-psychischen Miss-
auf den Umstand aufmerksam macht, dass ihm mit der eingeschränkten Wahr-
behagens, das dem Erleben diffusen Schmerzes ähnlich ist (Bellak et al. 1968).
nehmung von Gefühlen wichtige Signale für die Selbstregulierung und für die ~
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Regulierung von Beziehungen nicht zur Verfügung stehen. Viele Patienten wissen nicht, dass Affekte wichtige Funktionen haben, Gefühle sind einfach nur unangenehm und sollen »weg« sein. Über die Funktion von Gefühlen in Kenntnis gesetzt zu werden und dazu über kognitives Wissen zu verfügen, kann für die weitere therapeutische Arbeit von einigem Nutzen sein. Indem er die Aufmerksamkeit des Patienten immer wieder auf gefühlshaftes Erleben lenkt, unterstützt der Therapeut den Patienten dabei, Gefühle nach und nach deutlicher wahrnehmen und diffuse Gefühlsqualitäten zunehmend differenzieren zu können. Dabei kann es hilfreich sein, wenn der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten verschiedene Gefühlsqualitäten in Erwägung zieht, die seinem augenblicklichen Erleben nahe kommen könnten. Bei einem Patienten, der über viele Jahre hinweg alkoholabhängig war, zeigte sich, dass er - wie Kranke mit süchtig-abhängigem Verhalten häufig - nicht in der Lage war, Gefühle genauer wahrzunehmen. Wenn es ihm »ganz gut« ging, verspürte er - wie sich nach und nach erkennen ließ - diffuses, körperliches Behagen; wenn es ihm »schlecht« ging, empfand er ein ebenfalls körperlich empfundenes schmerzähnliches Missbehagen. Als der Patient wieder einmal berichtete, dass es ihm }}schlecht« ergangen sei, nachdem er sich von einer Bekannten, für die er sich interessierte, abgewiesen gefühlt hatte, und während er das sagte, seine Hand auf die Gegend über dem Brustbein legte, meinte der Therapeut: »Ist es Ihnen möglich, sich daran zu erinnern, wie sich dieses >schlecht< angefühlt hat? Sie haben das offenbar in der Brust verspürt - wie einen Schmerz, wie eine Verletzung, vielleicht wie Kummer?« Daraufhin antwortete der Patient: »Ich weiß nicht ... ein Schmerz vielleicht ... ja, so ... als wenn mir jemand in die Brust gestochen hat ... ja, so vielleicht.« In diesem Falle versuchte der Therapeut, einen Schritt in Richtung auf Differenzierung des diffusen körperlichen Missbehagens zu gehen, das der Patient zum Ausdruck gebracht hatte, indem er verschiedene Qualitäten in Erwägung zog - körpernah als Schmerz und Verletzung, gefühlshafter als Kummer. Das Bemühen des Psychotherapeuten war dabei darauf ausgerichtet, den Patienten zur Wahrnehmung von Gefühlen und zu deren genauerer Unterscheidung anzuregen, damit er sich nach Möglichkeit deren Signalfunktion allm~ich würde zunutze machen können.
Das therapeutische Gespräch
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Ein derartiges Vorgehen kann bei strukturell gestörten Patienten, denen Affekte so gut wie gar nicht oder nur diffus wahrnehmbar sind, nur in kleinen Schritten erfolgen, ist aber auch nicht ohne Risiken. Manchmal trifft man auf Patienten, die zwar Wörter benutzen, die üblicherweise für Gefühle verwendet werden, die jedoch nicht wirklich empfinden, was sie mit Worten ausdrücken. Das kann insbesondere dann leicht geschehen, wenn der Patient die Sprache, die der Therapeut verwendet, um gefühlshaftes Erleben auszudrücken, imitiert, um damit einer vermeintlichen Erwartung nachzukommen. Die Patienten sagen dann beispielsweise, dass sie ärgerlich oder enttäuscht sind, aber bei genauerem Untersuchen stellt sich heraus, dass sie weder das eine noch das andere Gefühl empfunden haben, sondern lediglich sozialen Regeln für den Gebrauch von Gefühlswörtern, die sie in der Therapie gelernt haben, folgen. Andere Patienten sprechen zwar von Gefühlen, beispielweise von Ärger, verspüren in Wirklichkeit aber diffuses Unbehagen, oder sie drücken mit Worten Enttäuschung aus, sind tatsächlich aber verletzt. Sie passen sich dem Therapeuten an oder unterwerfen sich seinen Hinweisen und Erwägungen, als handele es sich um Forderungen, die zu befolgen sind. Damit übernehmen sie unter Umständen - oftmals ähnlich wie in ihrer frühen Entwicklung - eine »fremde Geste« (Winnicott 1984); die therapeutische Arbeit an Affekten droht dann ein »falsches Selbst« zu bekräftigen. Manchmal passen sich Patienten den Konventionen in dem therapeutischen Milieu an, in dem sie sich gerade aufhalten, wo es als erwünscht gilt, in bestimmten Situationen ärgerlich zu sein und sich durchsetzen zu können, sich einzufühlen und sich zu verstehen, in anderen, sich überfordert zu fühlen und »nein« sagen zu können oder sich gekränkt zu fühlen und sich zur Wehr zu setzen, und so verwenden sie eine mit sprachlichen Stereotypen durchdrungene Ausdrucksweise, »fühlen eine Aggression«, »sin~ jetzt betroffen«, merken »eine Kränkung«, ohne dass den Sprachgewohnheiten Gefühle entsprächen, die sie tatsächlich empfinden würden. Viele Patienten mit strukturellen Störungen können auch die Gefühle anderer Menschen nicht verstehen und sich in andere Menschen nur schwer einfühlen. Weil sie - einem psychischen Äquivalenzmodus korrespondierend (Fonagy et al. 2004) - davon ausgehen, dass Andere genau so wie sie selbst empfinden, missdeuten sie affektive Signale. Gefühle wie Kränkung, Scham, Wut oder Rache, die in die Regulierung des Selbstsystems eingebunden sind, überwiegen gegenüber Gefühlen wie Sorge, Trauer oder Zuneigung, die voraussetzen, dass das Gegen- ~
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
über als andere, eigenständige Person erlebt werden kann. Manchmal kann die Erfahrung, dass die andere Person in Wirklichkeit nicht wie sie selbst fühlt, für Patienten, für die andere Personen die Funktion von Selbstobjekten haben, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Differenzierung von Selbst und Objekt sein hin zu Beziehungen, bei denen die andere Person - einer depressiven Position entsprechend - als eigenständiges Subjekt in ihrem eigenen Recht wahrgenommen werden kann.
Ausdruck von Gefühlen Die Folgen struktureller Beeinträchtigungen affektiven Erlebens manifestieren sich sowohl darin, dass die Patienten Gefühle nicht oder nur diffus wahrnehmen, als auch darin, dass mehr oder weniger diffus empfundene Gefühle mit einem schwer aushaltbaren Spannungszustand einhergehen und leicht in imperative Handlungszwänge münden. Kränkungswut droht in der nächsten Sekunde in gewalttätiges Verhalten zu münden, Scham weckt den heftigen Impuls, sich selbst per Suizid zum Verschwinden zu bringen. Vor allem Patienten mit antisozialen und mit narzisstischen Störungen, aber auch Borderline-Patienten können erhebliche Probleme damit haben, einen adäquaten Ausdruck für intensivere Gefühle zu finden oder aber entsprechende Gefühle mit sich allein und in sich abzumachen. Sie halten Affekte nur schwer aus, sind immer wieder dicht davor, sie mit selbstschädigenden Gegenmaßnahmen unter Kontrolle zu bringen oder reagieren Gefühle agierend in impulsivem Verhalten ab. Manchmal wird solcherart affektgetriebenes Verhalten mit privaten Ideologien unterstützt wie beispielsweise damit, dass es für das seelische Wohlbefinden gut sei, wenn Gefühle »rausgelassen« werden, dass Gefühle zu zeigen »aufgeklärt« sei, oder dass Verhalten, das von intensiven Gefühlen bestimmt ist, »ehrliches« Verhalten sei, gleich, ob die Grenzen Anderer damit verletzt werden oder nicht.
Das therapeutische Gespräch
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darüber »verhandelt«, ob überhaupt und wenn ja, wie man Gefühle ausdrücken solle. Einige Patienten vertreten nachdrücklich, dass man Gefühle so, wie man sie jeweils empfinde, auch »rauslassen« solle, alles andere sei nur «Theater« und »verlogen«; die Patientin, der das Verhalten ihres Mitpatienten »zum Kotzen« erschienen war, habe ihre Gefühle »offen und ehrlich« gezeigt. Andere Patienten lassen Erschrecken erkennen und deuten ängstlich an, dass sie solche Gefühle nicht kennen; zwar könnten sie sich selbst oft nicht leiden, manchmal ekelten sie sich auch geradezu vor sich selbst, aber es bereite ihnen panische Angst, wenn es in der Gruppe so heftig zugehe. Im Weiteren bleibt die eine Fraktion dabei, dass man sich in der Gruppe äußern wolle, wie man gerade empfinde; wer so »mimosenhaft« sei, das nicht zu vertragen, müsse damit selbst fertig werden. Die andere Fraktion sanktioniert diese Auffassung mit Schweigen, mit angstgetönter Abwendung und dem Ausdruck duldsamer Leidensbereitschaft. In der Folge entwickeln sich zwischen beiden Untergruppen Züge einer sadomasochistischen Kollusion, und es vergeht einige Zeit, ehe man sich bis auf Weiteres darauf verständigt, dass Gefühle zwar »spontan und ungeschminkt« geäußert werden sollten, aber nur mit Einschränkungen, nämlich dann, wenn die Anderen »das auch ab können«. Auch im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen des Ausdrucks von Affekten können antwortende Interventionen in entwicklungsförderlicher Weise eingesetzt werden. Wenn der Therapeut antwortend auf das affektbestimmte Verhalten des Patienten reagiert, konfrontiert er ihn unter anderem mit Folgen, die dieses Verhalten für die aktuelle Beziehung, in diesem Fall die therapeutische Beziehung hat. Der Patient erfahrt über die gezielt eingesetzten Antworten des Therapeuten, dass er mit dem Ausdruck seiner Gefühle Wirkungen auf sein Gegenüber haben kann und welche Wirkungen das in diesem Falle ~ind, ohne hier - anders als unter Alltagsbedingungen - mit schwerer wiegenden Folgen seines affektiv bestimmten Verhaltens rechnen zu müssen.
In einer Gruppe, in der bei einigen Patienten eine narzisstische Entwicklungsstörung im Vordergrund stand, bei mehreren anderen Patienten eine dependente Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, hatte sich eine Patientin wütend und lauthals über die Verspätung eines Mitpatienten mit den Worten beschwert, dass sein Verhalten »zum Kotzen« sei. Nach einigem von Attacken und ängstlichem Rückzug geprägten Hin und Her wird in der Gruppe implizit
Affekte und situativer Kontext Schließlich lenkt der Therapeut die Aufmerksamkeit auch auf den jeweiligen situativen Kontext, in dem der Patient bestimmte Gefühle empfindet oder empfunden hat. Dabei steht das Ziel im Vordergrund, die jeweiligen Beziehungskonstella- ~
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
tionen transparent werden zu lassen, in denen der Patient Gefühle entweder
Das therapeutische Gespräch
besonders intensiv erlebt, oder in denen er Gefühle oder bestimmte Gefühle gar
erwachsen, dass Psychotherapeuten angesichts der Überzeugung, dass körperliches Verhalten seelisches Erleben zum Ausdruck bringt, dazu neigen, den Patienten
nicht wahrnehmen kann. Auch das geschieht im antwortenden Interventionsmodus.
zum Objekt ihrer Beobachtung zu machen und gleichsam auf das sichtbare Ver-
Zum therapeutischen Umgang mit nichtsprachlichem Verhalten
beschreiben das körperliche Verhalten des Patienten, um Vermutungen darüber
187
halten des Patienten hinzuzeigen in der Vorstellung, per genauer Beobachtung erkennen zu können, was dessen körperliches Verhalten angeblich bedeutet. Sie anzustellen, was sich darin vom Erleben ,des Patienten vermeintlich abbildet, oft
Vernachlässigende und traumatisierende Interaktionserfahrungen in der Entwick-
mit der Folge, dass sich bei den Patienten das Empfinden von Beunruhigung und
lung sind nicht Teil des deklarativen Gedächtnisses, sondern gehören dem kör-
Angst einstellt, der Therapeut versuche, durch Beobachtung ihres sichtbaren Be-
perlichen, prozeduralen Gedächtnis an. Sie können deshalb nicht oder nur sehr
nehmens ihres» Inneren« habhaft zu werden.
begrenzt erinnert und in Worten zum Ausdruck gebracht werden, sondern stellen
Bei der Behandlung von Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen
sich häufig im Verhalten im Austausch mit Anderen dar, auch in der therapeutischen Beziehung, in Gestalt von szenischen Darstellungen oder Enactments.
ist ein auf das nichtsprachliche körperliche Verhalten des Patienten hinzeigender therapeutischer Gestus deshalb kontraindiziert. Das gilt auch für Patienten mit
Szenische Darstellungen haben in der Therapie von strukturell gestörten Patien-
erheblichen sozialen Ängsten, bei denen die Angst vor Beschämung durch ein
ten eine wichtige kommunikative Funktion (Streeck 2000). Ihr Gestaltungsmittel
derartiges Verhalten des Therapeuten, das als intrusiv und Grenzen überschreitend erlebt wird, noch verstärkt wird. Insbesondere Patienten, deren Selbstgrenzen
sind oft erst in zweiter Linie Worte, in erster Linie körperliches, nichtsprachliches Verhalten.
instabil sind und die ohnehin das Gefühl haben, sich gegenüber ihrer Umgebung
. Was mit dem nichtsprachlichen Verhalten, das der Therapeut am Patienten be-
nicht sicher abschirmen zu können, beispielsweise präpsychotische Patienten, kön-
obachtet, dargestellt wird, lässt sich an dem Verhalten nicht unmittelbar ablesen.
nen sich durch Interventionen, mit denen der Therapeut auf ihr nichtsprachliches
Der Therapeut darf deshalb nicht der Versuchung erliegen, sich populärwissen-
Verhalten gleichsam hinzeigt, bedroht sehen. Umgekehrt müssen Pa~~enten ~ber einige psychische Stabilität und Ich-Stärke verfügen, um Interventionen tolerieren
schaftlicher Interpretationen nichtsprachlichen Verhaltens zu bedienen, die meist suggerieren, dass bestimmtes körperliches Verhalten ganz bestimmte, mehr oder
zu können, die den Anschein erwecken, dass der Psychotherapeut in der Lage
weniger feste Bedeutungen hat (»Wer sich am Kopfkratzt, ist verlegen« u. ä.). Sol-
ist, durch Beobachtung ihres si~htbaren Verhaltens zu erke~nen, was in ihnen
che »Übersetzungen« nichtsprachlichen Verhaltens sind nicht nur meist unzutref-
vor sich geht. Zudem wird der Patient mit dem Verweis auf sein körperliches Verhalten indirekt dazu aufgefordert, für sein eigenes nichtsprachliches Verhalten
fend, sondern können auch zu erheblicher Labilisierung des Patienten beitragen. Statt auf das nichtsprachliche Verhalten des Patienten hinzuzeigen und dem Pa-
aufmerksam zu sein; zu der selbstbeobachtenden, selbstreflexiven Perspektive, die
tienten zu sagen, was sein Verhalten über seinen seelischen Zustand vermeintlich
dem Patienten damit implizit abverlangt wird, sind strukturell gestörte Patienten
zum Ausdruck bringt, sollte sich der Therapeut - ohne deshalb in unreflektiertes
jedoch kaum jemals in der Lage.
Gegenübertragungsagieren zu verfallen - durch das Verhalten des Patienten »anste-
Dennoch ist es in der therapeutischen Arbeit mit ~trukturell gestörten Patienten
cken« und in einen interaktiven Austausch und in szenische Gestalten verwickeln
und mit Patienten, die unter gravierenden sozialen Ängsten leiden, wichtig, für
lassen. Erst in einem nächsten Schritt, nachdem es zu szenischen Darstellungen
körperliches Verhalten besonders aufmerksam zu sein. Statt das körperliche Ver-
gekommen ist, wird es dann möglich zu verstehen, was interpersonell geschehen ist.
halten jedoch als Mittel des Ausdrucks von seelischem Befinden in den Blick zu
Auch der therapeutische Umgang mit nichtsprachlichem Verhalten kan~ mit
hat, interpretieren zu wollen, ist es von größerem therapeutischen Nutzen, wenn
besonderen Risiken behaftet sein. Eine wiederkehrende Schwierigkeit kann daraus
nehmen und dessen vermeintliche symbolische Bedeutung, die es oft gar nicht der Therapeut sich für das nichtsprachliche Verhalten des Patienten empfanglich ~
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog
Eine junge Frau, 24 Jahre alt, eine ausgesprochen hübsche, attraktive Erschei-
macht und sich davon involvieren lässt, mit anderen Worten: die beziehungskonstituierende Seite nichtsprachlichen Verhaltens in den Vordergrund stellt. Auf diese
nung, war unter anderem deshalb zur stationären Behandlung gekommen, weil
Weise kann sich die interaktions- und beziehungs regulierende Funktion nichtsprachlichen Verhaltens des strukturell gestörten Patienten eher erschließen. Bei
sie derart schwere soziale Ängste hatte, dass sie jegliche Kontakte zu anderen Menschen außerhalb ihrer Herkunftsfamilie - sie lebte bei ihren Eltern - vermeiden
Patienten, die Gefühle kaum wahrnehmen können, kann der Therapeut manch-
musste. Konnte sie nicht umhin, andere Menschen anzusprechen, konnte sich
mal nur anhand ihres körperlichen Verhaltens erahnen, wie in diesem Moment die
ihre Angst bis zu Panikattacken steigern. Als sie im Alter von 16 Jahren - schon
Beziehung zu ihm ist oder sich verändern soll. So können eine flüchtige Abwendung des Blickes oder ein geringfügiges Herabrutschen im Sessel als Reaktion auf
zu dieser Zeit seit mehreren Jahren aufgrund von ausgeprägten sozialen Ängsten erheblich eingeschränkt und deswegen vorübergehend in kinderpsychiatrischer
eine vorangegangene Äußerung des Therapeuten ein Hinweis darauf sein, dass der
Behandlung - eine Magersucht entwickelte, brach sie die Schule vorzeitig ab.
Patient die Distanz zu seinem Gegenüber zu vergrößern wünscht, oder eine kaum
Von ihren Freundinnen, die anfIngen, sich für Männer zu interessieren und deren
merkliche Verzögerung der Antwort kann den Vorbehalt andeuten, den der Pa-
Begehren entdeckten, hatte sie sich immer mehr zurückgezogen und schließlich außer zu einer Freundin, die ebenfalls an einer Anorexie erkrankt war, die Kontakte ganz eingestellt. Die Magersucht wurde in der Folgezeit so schwer, dass sie nicht
tient gegenüber der eben geäußerten Auffassung des Therapeuten hegt. Vielleicht hat den Patienten die vorangegangene Äußerung des Therapeuten gekränkt, ohne dass er das bewusst bemerkt hätte, und er vergrößert die interpersonelle Distanz mit seiner Blickabwendung oder macht sich in seinem Sesselldeiner, um nicht von
nur mehrere Male gegen ihren Willen in eine geschlossene psychiatrische Abtei-
einem nächsten Angriff getroffen zu werden; vielleicht wagt er sich auch seine Kri-
verlustes dort auch in fIxiertem Zustand über längere Zeit hinweg zwangsernährt
tik nicht einzugestehen, weil Kritik als destruktiv gefürchtet wird, zeigt aber mit
werden musste. Infolge dieser Maßnahmen, gegen die sie sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr zu setzen versucht hatte, und auf Grund
seiner verzögerten Reaktion, dass er mit dem Therapeuten nicht übereinstimmt.
lung eingewiesen wurde, sondern angesichts ihres lebensbedrohliehen Gewichts-
Wenn der Therapeut sich entschließt, solches nichtsprachliches Verhalten des
der Gewaltmaßnahmen, die man ihr gegenüber deshalb hatte anwenden müssen,
Patienten anzusprechen, so wird er das meist mit großer Zurückhaltung tun müs-
war es zu einer sekundären posttraumatischen Belastungsstörung mit flashbacks, Albträumen und selbstverletzendem Verhalten - sie brachte sich schwer heilende
sen. Zumal wird er von der Versuchung Abstand nehmen, dem beobachteten Verhalten irgendeine fIxe Bedeutung zu unterlegen, die er im Unterschied zu sei-
Wunden mit brennenden Zigaretten bei - gekommen. Neben einer ängstlich-ver-
nem Patienten vermeintlich kennt. Wird das versäumt, riskiert er damit, dass
meidenden Persönlichkeitsstörung bot sie alle Zeichen einer schweren Borderline-
der Patient sich zum Objekt von Beobachtung gemacht fühlt, beschämt ist, sich ängstlich zurückzieht, das Gefühl bekommt, vor dem Therapeuten nichts verber-
Persönlichkeitsstörung auf mäßig bis gering integriertem Niveau. Zu Beginn der Therapie war die Patientin hochgradig suizidal und hatte einmal
.gen zu können oder sich gar in der psychotischen Fantasie bestätigt sieht, dass
gegen ihren Willen für 48 Stunden in die geschlossene Abteilung einer benachbar-
der Therapeut in der Lage ist, in sein Inneres zu blicken. In keinem Fall sollte der
ten psychiatrischen Klinik verlege werden müssen, als sie dicht davor war, aus dem Zimmer eines oberen Stockwerks zu springen, um sich zu töten. Sie konnte kei-
Therapeut das körperliche Verhalten des Patienten auf den Ausdruck unbewussten seelischen Erlebens hin interpretieren.
nen Sinn darin sehen, über ihren Zustand zu sprechen, und war bei den mit dem Therapeuten verabredeten Terminen mehr anwesend als dass sie daran teilnahm.
Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog
Der Therapeut musste sich über längere Zeit immer wieder aktiv darum bemühen, Kontakt zu ihr herzustellen und aufrecht zu erhalten. Es dauerte mehrere Wochen, ehe die Patientin sich so weit stabilisiert hatte, dass sie nicht mehr nur
An einem Ausschnitt aus einer Behandlung sollen im Folgenden einige Aspekte
resigniert erschien und mit ersten Zeichen bekundete, dass sie selbst den Wunsch
der psychoanalytisch-interaktionellen Arbeitsweise deutlich gemacht werden.
hatte, aus ihrem Zustand herauszukommen.
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Einige Merkmale der psychoanalytisch-interaktionellen Behandlung dieser Patientin, die im stationären Rahmen stattfand, sollen anhand von zwei Sequenzen
Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog
T Darf ich die wissen?
behandelt der Therapeut die Andeutung der Patientin, dass sie sich Gedanken
des therapeutischen Gesprächs dargestellt werden. Die Sequenzen entstammen der 14. und der 21. Einzeltherapiesitzung. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Patientin
mache, als Aufforderung an ihn, seiner-
immer wieder in teilweise schwere Krisen geraten, war weiterhin chronisch suizidal, hatte sich mehrfach selbst verletzt und war mehrere Male dicht davor, die Behandlung abzubrechen, wie sie das in der Vergangenheit andernons bereits wiederholt getan hatte. Jetzt gab es erste Hinweise darauf, dass sie begann, den Therapeuten zu idealisieren, so dass die Hoffnung wuchs, über die Schiene der Idealisierung mit ihr in einen sinnvollen therapeutischen Prozess zu kommen. Vor dem Hintergrund ihrer Borderline-Störung drohte die Idealisierung allerdings immer wieder umzukippen, was in der Vergangenheit gewöhnlich dazu gefühn hatte, dass die andere Person für sie von einer auf die andere Sekunde gestorben war. Dem Austausch zwischen der Patientin und dem Therapeuten (linke Spalte) werden die Überlegungen des Therapeuten (rechte Spalte) zur Seite gestellt, die zeigen, wie er die Äußerungen der Patientin jeweils verstanden hat und welche Annahmen ihn zu seinen Interventionen bewogen haben: P Ist ja warm hier, draußen ist es ganz kalt. T Sieht eigentlich nach ganz schönem Frühlingswetter aus, da draußen.
Der Therapeut fasst diesen initialen Hinweis der Patientin nicht nur als Kommentar zu den Wetterverhältnissen auf, sondern auch als Ausdruck ihrer Spaltung zwischen idealisiertem Therapeuten und kalter Welt draußen. Gleichsam beiläufig versucht er - gegen die Spaltungstendenzen der Patientin - daraufanzuspielen, dass die Verhältnisse draußen doch vielleicht nicht nur unwirtlich sind.
P Ne, neo Ich find es kalt ... Ganz schön ist die Sonne vielleicht. T Hmm
Die Patientin muss das zurückweisen, kann dann aber zögernd einräumen, dass es in der Welt draußen zumindest einen Aspekt gibt, der nicht nur schlecht ist, die Sonne.
P Ich habe nichts Bestimmtes. ... Na ja, so Gedanken, die ich mir mache.
Weil soziale Ängste es der Patientin häufig unmöglich machen, einen ersten
Schritt aufdie andere Person zuzugehen,
seits initiativ zu werden, der er mit seiner
P Ich hab mir letztens aufgeschrieben, was ich, was ich konkret ändern will, wenn es mir nicht gut geht. T Gute Idee.
Nachfrage auch nachkommt. Die Patientin lässt hier erstmals erkennen, dass sie selbst an der Therapie interessiert ist, und sie zieht ernsthaft in Erwägung, nach Veränderungen zu suchen und sich auf die Therapie einzulassen. Das begrüßt der Therapeut ausdrücklich.
P Aber damit bin ich nicht so weit gekommen. Ich dachte, ich könnte einen anderen Umgang suchen für Situationen, wenn es mir hier nicht gut geht, wobei ich mir halt ein bisschen unsicher bin, wie ich das machen kann. Ein Punkt ist zum Beispiel, ich weiß nicht, wo ich denke, was es mir helfen )VÜfde, wenn ich sage, dass es mir nicht gut geht oder so, ich sage das ja nicht zwangsläufig, viele Sachen behalte ich auch für mich. T Hmm P Und ein Schritt wäre vielleicht in solchen Situationen, dass ich sagen kann, jetzt ist es halt schwierig was zu sagen. Nur ob das umsetzbar ist, kann ich nicht sagen. T Für mich wäre es manchmal einfacher, wenn ich früher von Ihnen erfahren würde, wie es Ihnen geht.
Sie scheint daraufhin zu fürchten, dass der Therapeut mehr von ihr erwartet als ihr möglich ist, wiegelt deshalb ab und beschäftigt sich im Weiteren erst einmal nur zögernd und vorsichtig mit der Frage, ob und was sie eventuell verändern sollte.
Der Therapeut bezieht die von der Patientin ins Auge gefasste Absicht, sich bei Schwierigkeiten nicht einfach nur zurückzuziehen, sondern das eventuell mitzuteilen, auf die therapeutische Beziehung und sagt der Patientin, welche mögliche Folge es für ihn bei der Arbeit mit ihr hätte, wenn sie sich ihm gegenüber so verhalten könnte.
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Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
P Hmm ... also am ehesten glaube ich, dass es hier gehen würde. Was ich glaube, was schwierig ist, ist, bei den neuen Patienten, wenn was ist. Aber da ist es so, dass die auf mich zukommen müssen. Also ich geh nicht da hin und sag irgendwie, ich brauch das und das ... Und dann ist es auch nicht so, dass ich mich jetzt ins Gespräch auch begebe und Themen anspreche, was jetzt ist
1m Kontext der idealisierenden Übertragung lässt sich die Patientin darauf ein und verstärkt so unausgesprochen ihr Bemühen, in der angekündigten \Vt>ise etwas zu verändern. Dazu kontrastiert sie fremde Andere, die - wie aus früheren Sitzungen bekannt ist - für sie Repräsentanten der kalten, unwirtlichen \Vt>lt sind, denen gegenüber sie an dem gewohnten ängstlich-vermeidenden Verhalten festhält.
aus was zu sagen. T Gut, dass es Ihnen hier schon gelingt, den ersten Schritt zu machen.
P Ja. Wenn ich angesprochen werde, dann kann ich auch was sagen. Ich kann aber von mir aus nicht ... verstehen Sie, was ich meine. Das kann ich nicht. T Sind Sie damit einverstanden, statt zu sagen, Sie können es nicht, dass es Ihnen schwer fallt?
lässt sich zumindest verbal darauf ein.
was gesagt. Da möchte ich einfach ein bissehen ruhiger werden, das
nen Sie mir ja auch nicht irgendwie
t
weiterhelfen . T Ich weiß nicht. Die eine oder andere Idee hätte ich schon. P Also das ist mir aufgefallen, dass es mir so geht, aber dass ich mich ganz oft irgendwie an den Tisch setze mit den anderen, und dann kommt irgendein Satz, und dann bin ich so geladen, dass ich gleich denke, steh .. auf und geh, und da würde ich gern
Die Patientin bleibt bei ihrer Veränderungsabsicht, die sich jetzt auf ihre impulsiven Reaktionen auf potentiell
Die Patientin erläutert ihre Neigung zu massiven Reaktionen und möchte erreichen, unfreundliche Äußerungen nicht wie zwangsläufig (aufgrund ihrer Selbstwertregulationsstörung) als gegen sie gerichtete Außerungen auftunehmen und sich daraufhin selbst abzuwerten.
anders reagieren können. Gehen kann ich ja trotzdem vielleicht, aber dass ich das nicht gleich zu sehr auf . mich beziehe, dass ich denke, jetzt ist alles schlecht bei mir oder so. Verstehen Sie, was ich meine? T Ich glaube schon. Ist das ähnlich wie neulich, als wir darüber gespro-
Der Therapeut stellt eine Verbindung mit bereits früher in der Therapie be-
chen haben, dass Sie dazu neigen,
sprochenen Themen und der Neigung der Patientin her, den Teil für das Ganze zu nehmen, hier bezogen aufdas Selbsterleben der Patientin angesichts möglicher kritischer Außerungen von Anderen.
den Teil für das Ganze zu nehmen,
P Ja, das stimmt, es fallt schwer.
T Ok. P Ich hab mir ein paar Sachen aufgeschrieben, dass ich z. B. nicht immer gleich an die Decke gehe, wenn
tiell doch hilfreich sein zu können.
gehe dann an die Decke, und sofort stehe ich dann völlig neben mir, weil ich denke, warum hat der so
.1
Der Therapeut bestätigt den Veränderungsschritt der Patientin, will mit seiner Formulierung zugleich den immer wieder überhöhten Anforderungen der Patientin an sich selbst entgegensteuern, aber die Veränderung auch als einen ersten Schritt (»hier schon«) von weiteren markieren. Die Patientin neigt in vielen Bereichen weiterhin zu Schwarz- Weiss-Denken (Spaltungen), bezüglich der eigenen sozialen Kompetenzen zu absolut negativen Kognitionen und in Verbindung damit zu fatalistischer Resignation. Das relativiert der Therapeut, und die Patientin
das ist ja mein Ziel. Aber da kön-
gend ein Spruch kommt, und ich
oder wie es mir geht oder ... Das finde ich schwierig, von mir selber
ein bissehen gelassener sehen, weil
kränkende Äußerungen anderer bezieht. Sie stellt nicht völlig in Frage, dass der Therapeut für sie hilfreich sein kann, indem sie das abschwächt (»Sie mir ja auch nicht irgendwie«). Der Therapeut will die eben erst etablierte Idealisierung als Grundlage der therapeutischen Arbeit nicht ge.fohrden lassen und stellt der Patientin in Aussicht, dass er glaubt, poten-
jemand irgend was zu mir sagt oder so, das passiert ganz leicht, dass ir-
etwa aus einer einzelnen blöden Be. merkung zu machen, die können mich alle überhaupt nicht leiden? P Ja genau! So ist das.
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Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog 195
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
T Ich merke grad, ich muss mich konzentrieren, um nicht zu vergessen,
Hier bremst der Therapeut gleichsam, um den neuen Schritt, den die Patientin
sonst dann völlig in Frage stelle, weil ich denke, die stellen mich völlig in
was Sie jetzt als wichtige Punkte ge-
gemacht hat, indem sie sich for die The-
nannt haben. Aber Sie haben das ja aufgeschrieben. Also was war's: die
rapie entschieden und sich mögliche Vt>ränderungsziele überlegt hat, zu bekräfti-
Frage. T Das überzeugt mich. Wird sicher
Angesichts der ihm bekannten geringen
Schwierigkeiten sollten möglichst
gen, und um der Patientin den Nutzen
nicht ganz schnell und einfach zu erreichen sein.
sucht der Therapeut, sie gleichsam dar-
geringer werden, den ersten Schritt auf jemanden zu zu machen, vor
ihres Verhaltens zu bestätigen.
P Das Problem ist nur, die Geduld zu haben.
aufvorzubereiten, dass sie einen längeren Atem benötigt, um ihr Ziel zu erreichen,
allem dann, wenn es ihnen nicht
T Ja genau, das wird nicht schnell ge-
indem er zu verstehen gibt, dass er auf
gut geht; dann, dass Sie, wenn Sie
hen können ... und ich würde mich
Schwierigkeiten eingestellt ist und unver-
etwas kränkt und Sie wütend oder
auch auf Misserfolge einstellen.
meidlieh auch Misserfolge zu erwarten sein werden.
keiten finden, dann nicht gleich an
P Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen,
die Decke zu gehen und das nicht
aber weil ich immer die Vorstellung
Wie angesichts ihrer Persönlichkeitsstruktur zu erwarten wünscht die Patientin,
so erleben zu müssen, dass die An-
habe von ... das hat mich jetzt so
wie der »Phönix aus der Asche« zu Ver-
deren ganz gegen Sie sind . ..
lange gequält und jetzt müsste es
änderungen zu kommen, ganz oder gar
gereizt macht, dass Sie Möglich-
Die Patientin setzt das Thema fort, wie
Frustrationstoleranz der Patientin ver-
P Ja, weil, es fällt mir halt schwer. Ich weiß gar nicht, ob es dann so unbe-
»peng« machen und müsste es weg
nicht. Ihr mangelt es an Möglichkeiten,
sie es anstellen kann, mit aversiven Äu-
sein. Verstehen Sie? Das ist meine
Misserfolge zu tolerieren, aus Erfahrung
dingt nötig ist, dass ich Konter zu-
ßerungen von Anderen anders als in der
Vorstellung, wie ich es mir wün-
zu lernen, kleinere Veränderungsschritte
rückgebe, also das wäre ja auch eine Möglichkeit, aber das wäre schwie-
gewohnten impulsiven "Weise, die zum
sehen würde ... weil ich mir denke,
zu erkennen und damit erst einmal zu-
völligen Rückzug und Kontaktabbruch
es reicht doch jetzt auch wirklich,
frieden zu sein.
rig, weil mir das nicht leicht fällt.
fohrt, zu reagieren.
und ich möchte das ganz schnell al-
P Aber trotzdem von da wegzugehen, meinetwegen auch aufzustehen
Im »"Weggehen« sieht sie erstmals eine
les ganz anders haben. T Ich glaube, dass ich das verstehen
Möglichkeit, statt den Kontakt abzubre-
kann. Vielleicht ist das ja auch ein
ein weiteres Mal darauf Bezug, dass die
und zu sagen, ich gehe jetzt, weil,
ehen, Abstand zwischen sich undAnderen
das wird mir zu viel. Das finde ich,
herzustellen, Toleranzgrenzen zu regulie-
Ausdruck dafür, wie gerne Sie im Grunde möchten, dass es Ihnen an-
Patientin gerade erst dazu gekommen ist, Veränderungen mit Hilfe der Therapie
wäre ja nicht so schlimm, und wenn
ren und die andere Person nicht innerlich
ders geht.
anzustreben, und bekräftigt ihre Verän-
ich mich dann auf mein Bett setze und denke so für mich »Oh, mein
auszulöschen, sondern abzuwerten.
T Mmh.
Der Therapeut nimmt im ersten Schritt
P Ja. T Auf der anderen Seite ... wenn das
derungsabsicht ein weiteres Mal. Dann relativiert er ihren Wunsch, sich
Gott, die finde ich richtig blöde«.
so ginge, »peng« und dann ist es
»auf einen Schlag« und ganz und gar
Verstehen Sie, was ich meine?
anders? Ich weiß nicht, dann wären
ändern zu wollen, indem er auf einen
Dies ist for die Patientin ein deutlicher
das ja nicht Sie, die das geschafft
Aspekt ihrer Selbstkonstanz anspielt.
Fortschritt und wird deshalb vom Thera-
hätte.
T Ja, ich glaube schon. Das scheint mir eine gute Möglichkeit zu sein. P Das ist genau dieses, dass ich mich
peuten bestätigt.
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
P Mmh. Für Sie ist das keine ange-
Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog Nach sieben weiteren Behandlungsstunden beschäftigt die Patientin sich mit der
nehme Vorstellung?
Frage der ins Auge gefassten Beendigung ihrer Behandlung in der Klinik. In der
T (nachdenklich) Kurzfristig schon, wäre toll, wenn ich das könnte, wie
Der Therapeut reagiert mit einer antwortenden Intervention auf den fir eine
Gruppentherapie war sie von Mitpatienten darauf angesprochen worden, dass sie sich plötzlich so abweisend verhalte, und sie hatte daraufhin zu verstehen gegeben,
ein Zauberer. Längerfristig ... ich
Patientin mit einer Borderline-Störung
dass sie »vollkommen erkaltet« sei:
weiß nicht ... dann würde ich mich,
recht charakteristischen Wunsch und die
glaube ich, weiter einflusslos und
darin sich manifestierende Spaltungsab-
P Ich glaube, na ja, nee, weiß nich,
Die Patientin, die demnächst aus der
davon abhängig fühlen, dass der
wehr, indem er sich sowohl passager mit der Patientin identifiziert, wie auch die
das von gestern aus der Gruppe beschäftigt mich noch ... vielleicht ...
Klinik entlassen wird, hatte am Vc1rtag
Zauber funktioniert. Und wenn Sie sich »peng« ändern würden ... nein,
Rolle des Gegenüber einnimmt.
das, was ich gestern in der Grup-
es ihr egal sei, wenn sie weggehe, sie sei
in der Gruppentherapie geäußert, dass
das wäre nicht angenehm, dann hät-
pe gesagt habe. Ich empfinde jetzt,
»völlig erkaltet«(mangelnde Objektkons-
te ich es ja gar nicht mehr mit Ihnen
mit dem was ich gesagt habe, nicht
tanz). Damit versucht sie sich davor zu
zu tun und könnte Sie nicht einmal
so ... Verstehen Sie das? Also ich
schützen, seelischen Schmerz, Trauer und
empfinde das wohl schon so, ich habe nicht gelogen oder so, aber ... irgendwie geht's mir selber nicht so
zu müssen, was ihr fehlt.
wieder erkennen. P Weiß nicht ... Mir fällt das so
Die Patientin kann sich darauf einlas-
schwer ... mir fallt es immer so
sen, sich mit ihrer Spaltungsneigung und
schwer, das Negative dann auch zu
ihren damit verbundenen Schwierig-
akzeptieren. Ich hab dann immer so dieses Gefühl, es müsste jetzt, ich
keiten auseinanderzusetzen.
mache mich ja jetzt auf den Weg, und ich hab ja jetzt auch den Willen, und also, ich zeig das ja auch,
mit, dass ich das jetzt auch weiß? P Beides ... beides. Ich habe mir viele Gedanken hinterher gemacht.
und dann müsste es auch geradlinig vorangehen, das ist so meine Vor-
P Eigentlich habe ich gedacht, dass
alles was davon abweicht, finde ich dann super anstrengend und ...
Sehnsucht zu empfinden und vermissen
gut damit. T Damit, wie das für Sie ist, oder da-
T Mögen Sie sagen, was Sie gedacht haben?
stellung, wie es sein müsste. Und
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Ihr habitueller Schutz des »Erkaltens«
es schade ist, dass ich das so sehe. funktioniert nicht mehr so wie früher; sie Was ich eigentlich sagen wollte, · empfindet auch Bedauern, allerdings Beoder was ich meinte, war, dass ich dauern darüber, dass sie erkaltet (Selbst-
T Ja, das ist anstrengend. Meinen Sie,
denke, dass ich gleichzeitig gucken
bild), noch nicht darüber, dass sie ihr
Sie könnten sich trotzdem darauf
muss, dass ich Abstand kriege, da-
wichtig gewordene Menschen verlassen
einlassen und die Flinte nicht gleich
mit ich nachher nicht auf die Nase
muss. Sie erkennt, wie schwierig es fir
ins Korn werfen, wenn es schwierig
falle, und ich möchte so gerne nicht
sie ist, sich zu trennen und Abstand zu
und anstrengend wird?
mehr auf die Nase fallen.
gewinnen.
P Ja! Ja, ich glaub schon, aber irgend-
P Irgendwie muss ich mir klar ma-
Ihr wird deutlicher, dass ihr »Kaltwer-
wie ... aber ich find es so schwierig,
ehen, dass ich dann, wenn ich dann
den« die Funktion hat, die mit Trennung
damit umzugehen und ...
hier weg bin, auch allein wieder klar
"
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
kommen muss, und ich glaub, dass das schwierig wird, weil ich mich
und Abschied verbundenen Gefühle zu vermeiden.
Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog
und dann sind Sie auch irgendwie für mich weg gewesen.
so daran gewöhnt habe, dass Sie da sind. Ich glaub, das ist für mich
T Mir tut es gut, wenn ich mich an mir wichtige Menschen erinnern
ziemlich schwierig zu sagen, ok,
kann. Von manchen habe ich noch
jetzt ist das einfach nicht mehr so.
nach vielen Jahren ganz lebendige Bilder. Ich glaube, darum wird es nicht kalt.
Und dann ist es leichter, wenn ich dann ganz kalt werde. T Wenn ich mir vorstelle, ich würde dann gar nichts mehr für Sie bedeuten ... P Meinen Sie jetzt, in der Zeit wo ich noch hier bin? T Nein, wenn Sie dann so erkalten. P Mmh. Jedenfalls geht es mir nicht so gut damit. Und ich würde es mir auch eigentlich anders wünschen, aber im Moment ... Ich hab schon ganz schön Angst, hier wegzugehen. Als ich das bei Frau H. gesehen hab, als die da gegangen ist, ich hab mir bis zu ihrem letzten Tag überhaupt nicht klargemacht, dass sie geht, und dass es mir dann richtig Scheiße ging, und ich habe mir damals geschworen, da war ich noch ziemlich am Anfang hier, so machst du das nicht, du setzt dich rechtzeitig damit auseinander. Na ja, dann ... ich wusste das ja vorher, aber als ich
Der Therapeut versucht die Patientin dazu zu gewinnen, den Zustand des Verlusts des für sie wichtigen Objekts zu antizipieren, der dann eintreten würde, wenn sie »ganz kalt« würde und ihn, den Therapeuten, in sich auslöschen würde. Die Vorstellung, sich trennen zu müssen, lässt die Patientin ängstlich werden. Sie erinnert sich an ihr Befinden angesichts einer zurückliegenden Trennung von einer Mitpatientin, der für sie o./Jenbar ein schwer auszuhaltender diffus wahrgenommener Zustand von Missbehagen war, den sie mit »Scheiße« beschreibt. Sie kann die mit dem bevorstehenden Abschied verbundenen Gefühle nicht empfinden und zulassen. Aber sie hat Angst vor den Folgen der Trennung und vor allem davor, dass das für sie wichtig gewordene Objekt, der Therapeut, mit ihrem »Erkalten« for sie verschwindet.
Der Therapeut übernimmt stellvertretend for die Patientin eine psychische Funktion, indem er einen Zusammenhang zwi-
sich das dann nicht umsetzen lässt.
schen GeJühLszustand und erinnerndem Festhalten an wichtigen Objekten he~ stellt. Die Patientin spürt, dass es wohltuend wäre, wenn sie sich die for sie wichtige Person vorstellen und sich erinnern könnte. Aber sie traut sich nicht zu, die Sehnsucht und die mit dem Getrenntsein verbundenen Gefühle auszuhalten, wenn diese Person fUr sie nicht physisch erreichbar ist. Wte auch in Zusammenhang mit anderen Bedürfnissen ist es ihr auch hier schwer vorstellbar, dass es aushaltbar ist, ein Bedürfnis zu verspüren, ohne dass das
Da ist es eher auszuhalten, wenn
Bedürfnis sogleich befriedigt wird.
P Ernsthaft? Ich finde das irgendwie schön, aber ich kann mir das irgendwie gar nicht vorstellen. Aber was mache ich dann damit, sage ich mir dann, ok, das ist jetzt da, und das ist gut, dass es da ist, oder sage ich mir, ich kann das jetzt nicht aushalten, ich muss den Menschen jetzt konkret vor mir haben, und das lässt sich nicht aushalten, wenn
ich dann so kalt werde. T Das lässt sich nicht umsetzen, dass ich den dann konkret vor mir habe, und ich vermisse den vielleicht schmerzlich. Aber dann erinnere ich mich an die Person, und dann wird mir vielleicht ein bissehen warm ums Herz. P Aber dann würden Sie auch wieder loslassen, oder? Das kann ich nicht. Das kann ich, glaub ich, kann ich
mir dann klargemacht habe, ja ge-
so schlecht, dann wieder zurück in
nau, ich gehe ja Mitte April, dann
die Gegenwart und zu sagen, ok,
habe ich Angst bekommen. Und
das ist eine schöne Erinnerung für
dann bin ich ganz kalt geworden,
mich, die ist wichtig für mich, die
Der Therapeut bestätigt, wie schwer es sein kann, von einer wichtigen und geliebten Person getrennt zu sein. Auch hier übernimmt er eine Hilfi-Funktion, indem er der Patientin anhand seines eigenen authentischen Erlebens vor Augen fUhrt, wie die Erinnerung Trost und statt Kälte» warme« vermitteln kann.
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Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
hat mir viel gebracht, aber die ist
erwehren, also ich hab das gestern
. jetzt eben nicht und die trage ich noch in meinem Herzen, das finde
in der Gruppe gemerkt, als ich die. se Leute gesehen hab, und gedacht hab, ich meine, das hat mich Null berührt, kein Stück. In der Körper-
ich schwierig. Und dann diese, daraus folgt dann diese Angst, dass es dann, wenn man sich klar macht,
wahrnehmung war es genauso, ich
dass man es allein schaffen muss, dass man das dann nicht schafft,
habe dagesessen und hab gedacht, ob ich jetzt hier sitze oder nicht,
wenn man zurückdenkt und sagt,
das ist völlig egal, das habe ich
das war eine große Hilfe zu der Zeit, und dann bin ich ein Stück
nicht bewusst gemacht ... Das habe ich nicht bewusst gemacht, also ich
weiter gekommen, und sich dann
habe mich nicht hingesetzt und
wieder klar zu machen, jetzt bin ich hier, und jetzt muss ich das allein
habe mir gesagt, so, die sollen mich nicht mehr interessieren, alles egal, so habe ich das nicht gemacht. T Stellt sich wie von selbst.ein, dass Sie
hinkriegen, so ein ... Das war jetzt auch, dass ich diese Gefühle gekriegt habe, mich dis-
dann nicht traurig sind, wenn ein
tanzieren zu müssen, das ist nicht
Abschied bevorsteht, und scheinbar
bewusst gekommen, sondern ich habe das mit diesem, ich hab mich damit viel beschäftigt so, dass ich ja
nichts mehr fühlen? P Irgendwie schon ... aber ... ganz ehrlich? Ist auch irgendwie ' ne Hor-
am 16. April gehe, und dann ist das
rorvorstellung, wenn das ... so ...
Und dann habe ich mich schon
Die Patientin versucht sich vorstellen, wie
mit dem traurig ... T Wenn ich mir vorstelle, mir erginge
mit dem Gedanken auseinander
es wäre, wenn sie an die für sie wichtige,
es so, bekäme ich eher Angst, ich
per Objektverlust vor Gefühlen, die mit
gesetzt, und ich weiß nicht, ob das
aber nicht anwesende Person denkt, ohne
könnte mich ganz verlassen und al-
Trennung und Abschiednehmen verbun-
unbewusst war, aber bei mir hat
Aussicht darauf, dass die physische Tren-
lein fühlen.
den sein könnten. Der Therapeut drückt
sich so ein Gefühl eingestellt, dass
nung aufgehoben wird. Und noch einmal
deshalb seine eigenen Gefühle aus, die bei
ich gedacht habe, ja, ich glaub, dass
wird ihr deutlich, wie sehr ihr »Erkal-
ihm mit dem Zustand von Objektverlust
du ... kannst es besser, wenn ich ...
ten« sie vor Trauer, die sie jetzt deutlicher
einhergehen könnten.
du das Ganze nicht mehr so an dich
spürt, und Schmerz bewahren soll.
so gekommen.
ran lässt, und dann hat es mich total
P Ja, ist auch so. T Das geht mir so nicht, wenn ich
traurig gemacht, dass es so war, aber
mich verabschiede und dann spä-
ich konnte mich dieses Eindrucks,
ter an denjenigen oder diejenige
dass es so ist, auch irgendwie nicht
denke.
Die Patientin schützt sich weiterhin
Die Patientin scheint darin eigenes Erleben wiederzuerkennen.
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Der »Austausch von Worten« in einem therapeutischen Dialog
6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
P Echt nicht? T Nein.
Für die Patientin kann Trennung offen-
P Nicht, wenn Sie wissen, dass Sie
bar nach wie vor nur bedeuten, die andere Person innerlich zum Verschwinden zu
diese Person nicht spätestens eine Woche später wieder sehen? T Nein.
P Aber wenn Sie wissen, Sie sehen sie vielleicht nie wieder?
P Ich habe Angst, dass mir das nicht gut täte, wenn dann die Erinne-
Die Art und Weise, wie die Patientin
rungen da wären. Ich glaube, ich
wichtige Menschen denkt, mit denen sie nicht real in Verbindung treten kann,
bringen. Und sie kann sich insbesondere einen Zustand nicht vorstellen, mit for
ich könnte das kaum ertragen. Ich
ihrer anfangs radikalen »Lösung« Ab-
sie wichtigen Personen innerlich verbun-
glaube, das ist ein Gefühl, das ich
den zu sein, die nicht physisch anwesend
lieber ausblenden möchte. Ich kann mich da noch nicht mal richtig rein
stand nimmt und in allerersten Ansätzen die Frage zu stellen beginnt, ob es nicht
nung definitiv ist (die Patientin bezieht
denken. Ich glaube, bei mir ist so dieses Gefühl, ich kann nicht akzeptieren,
T Es gibt auch Menschen, mit denen ich mich sehr verbunden fühle, die
sich hier wahrscheinlich aufeine Bekannte, die vor längerer Zeit bei einem Unfall
ich gar nicht mehr wieder sehen
ums Leben gekommen war, ein Ereignis,
kann.
das sie in einen lang anhaltenden und wiederkehrenden Zustand von Leere versetzt hatte; Trauer und Abschiednehmen
dass es nicht mehr möglich ist,
hatte es nicht geben können). macht hier zaghafte
diesen Menschen zu treffen, und ich "glaube, das ist so ein starker
Schritte in Richtung aufweniger radika-
Wunsch, so ein starkes Bedürfnis,
le Schutzmechanismen (»zur Seite drängen«, »nichts wissen wollen«).
dass ich dann kaum ertragen kann, wenn das nicht erfüllt wird. Es wird
P Ja, aber wie halten Sie das dann aus? Ich frag mich das jetzt konkret, in der Situation, Sie denken an die Person, und Sie wissen, Sie werden
antizipiert, wie es wäre, wenn sie an ihr
hätte dann so ein Gefühl, was Sie sagten, von Sehnsucht auch, aber
und verfogbar sind. Das gilt erst recht dann, wenn die Tren-
Die Patientin
zeigt, dass sie in kleinen Schritten von
doch andere Möglichkeiten als das »Erkalten« gibt. Sie erkennt, dass sie sich vor ihr überstark erscheinenden Wünschen und vor Sehnsucht schützt, traut sich allerdings weiterhin nicht zu, solche Ge-
dass es ein Leben lang so ist, dass ich diesen Menschen nicht wie-
fohle zuzulassen und auszuhalten. Dass es
dersehen kann, bei mir wird dieser
hier auch um die Vbertragung und die
Wunsch, dieses Bedürfnis zu groß,
bevorstehende Trennung von dem Therapeuten geht, wird zwar gesehen, aber bewusst nicht thematisiert.
sie nie wieder sehen, das könnte ich
ja in den meisten Fällen nicht er-
gar nicht ertragen. Dann würde ich
füllt werden ... Geht es Ihnen heute eigen dich
Die Frage drückt manifest Sorge und
weil ich denke, davon will ich über-
nicht so gut? Sie wirken so ein
Anteilnahme aus. Das könnte auf eine
haupt nichts wissen. Das kann man
bisschen niedergeschlagen heute,
Reaktionsbildung in Verbindung mit
doch nicht aushalten.
so ein bisschen ... oder brauchen
unbewussten aversiven Gefühlen und Impulsen hindeuten, die sich bei der Pa-
das schon gleich zur Seite drängen,
T Sonst wären ja alle die mir lieb ge-
Der Therapeut bleibt seinerseits dabei,
Sie Urlaub? Also Sie wirken anders
wordenen Menschen mit ihren ver-
als sonst. Müssen Sie mir natürlich
schiedenen bunten Seiten gar nicht
anhand seines eigenen tatsächlichen und vorgestellten Erlebens der Patientin die
mehr bei mir. Das stelle ich mir
psychischen Folgen ihres »Erkaltens« und
schwer erträglich vor.
die »guten«, stabilisierenden Seiten vor
T Danke der Nachfrage. Aber eigent-
haben. Der Therapeut nimmt den Sorge tra-
Augen zu führen, die mit ausreichend
lich geht es mir recht gut. Mich hat
genden AspektderJ1uj5eru ng der Patientin
guten inneren Objekten einhergehen.
berührt, was Sie gestern gesagt ha-
auf nicht die tkzhinter auch vermuteten
nicht sagen.
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tientin angesichts des bevorstehenden Abschieds von dem Therapeuten eingestellt
..
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
ben. Sie wirken aber auch ein bisschen anders heute, finde ich. P Also ich fühl mich auch anders, irgendwie, so etwas wie ruhiger.
unbewussten aggressiven Impulse. Ange-
Besondere therapeutische Probleme
rapeutischen Schwerpunkt herum gebündelt, und die Aufmerksamkeit der betei-
sichts dessen, dass Reaktionsbildungen für
ligten Therapeuten und deren methodenspezifisches Handeln orientiert sich an
die Patientin gleichsam Errungenschaften
einem gleichen roten Faden. Damit erfüllt der Fokus für alle an der komplexen
gegenüber ihrer Neigung zu Objektver-
Behandlungsorganisation beteiligten Therapeuten immer auch Orientierungs-
lusten wären, arbeitet der Therapeut mit der progressiven Seite ihres Verhaltens, die
und die verschiedenen therapeutischen Aktivitäten integrierende Funktionen. Das können bei strukturell gestörten Patienten beispielsweise bestimmte Aspekte
er antwortend bestätigt und bekräftigt.
seiner Selbststörung sein, seiner Bindungsmuster und seiner interpersonellen Beziehungen, Beeinträchtigungen von psychischen Funktionen und des Mentalisierens, der Regulierung von Selbst-Objekt-Grenzen u. ä. (vgl. Lachauer 1992).
Besondere therapeutische Probleme Der Fokus: Richtschnur therapeutischen Handeins Bei Patienten mit strukturellen Störungen und Persönlichkeitsstörungen wird nicht die Persönlichkeit schlechthin behandelt, sondern das therapeutische Vorgehen wird auf bestimmte Schwerpunkte und fokale Ziele hin ausgerichtet; dadurch wird eine Ausrichtung sowohl für das Handeln des Therapeuten als auch für den
Wenn der Fokus verändert wird, muss unter Umständen auch die Behandlungsorganisation neu festgelegt werden, die möglichst flexibel auf den jeweiligen Stand der Entwicklung des Patienten in der Therapie abgestimmt wird.
Psychotherapie von Patienten mit strukturellen Störungen als »Landgewinnung« Patienten mit schwerwiegenden Störungen der Persönlichkeitsorganisation kön-
Patienten vorgegeben. In diesem Sinne werden keine Persönlichkeitsstörungen, sondern bestimmte fokale Ausschnitte einer Persönlichkeitsstörung behandelt.
nen ihr psychisches Gleichgewicht oft so lange mehr oder weniger stabil aufrecht erhalten, wie ihnen die Umgebungsbedingungen vertraut sind und sich nicht we-
In der stationären Therapie sollte die Behandlungsorganisation auf jeden Patienten und dessen spezifische Bedingungen und Voraussetzungen hin individuell ausgerichtet werden. Dazu muss sichergestellt sein, dass die in die Behandlung
sentlich ändern. Verändern sich innere oder äußere Bedingungen jedoch in einem Maße, dass die den Patienten zur Verfügung stehenden psychischen Ressourcen -
einbezogenen Verfahren sich in sinnvoller Weise ergänzen und um einen gemein-
ungenügend geschützten Inseln im unruhigen Meer vergleichbar - überfordert zu werden drohen, müssen sie oftmals zu Mitteln wie Alkohol, Drogen oder inten-
samen therapeutischen Schwerpunkt gruppiert werden. Das beinhaltet, dass nicht
siv<:!n Stimuli verschiedenster Art greifen, um ihre Selbstregulierung aufrechtzuer-
nur die verschiedenen therapeutischen Verfahren - Gestaltungstherapie, Musiktherapie, körpertherapeutische Aktivitäten, Gruppentherapie, Familientherapie
halten und einer drohenden Dekompensation entgegenzuwirken. Unter Umstän-
u. a. - festgelegt werden, die in die Behandlung des Patienten einbezogen werden
den sind die Patienten nicht mehr in der Lage, ihren Alltag halbwegs selbstständig zu bewältigen.
sollen, sondern dass darüber hinaus bei allen an der Behandlung des Patienten be-
Bildhaft ausgedrückt ist die Behandlung bei dermaßen schweren strukturellen
teiligten Therapeuten Klarheit darüber besteht, auf welchen Behandlungsschwer-
Entwicklungsbeeinträchtigungen der Lage von Bewohnern der nicht ausreichend
punkt die therapeutischen Aktivitäten zum jeweils aktuellen Zeitpunkt ausgerichtet werden sollen. Das lässt sich dadurch erreichen, dass die stationäre Behandlung
versuchen, um ihren vom Wasser bedrohten Lebensraum zu schützen, zu befesti-
als Fokalbehandlung organisiert und damit das Handeln aller an der Behandlung
gen und möglichst zu erweitern. Der Vergleich mit Landgewinnung drückt einen
beteiligten Therapeuten auf einen vorab festgelegten Fokus hin ausgerichtet wird
wichtigen Aspekt der therapeutischen Arbeit mit strukturell gestörten Patienten
(Streeck 1991). Auf diese Weise werden die verschiedenen, in die Behandl~g
aus: Die Behandlung hat hier zum Ziel, verfügbare psychische Funktionen und
einbezogenen therapeutischen Verfahren und Mittel um einen gemeinsamen the-
Strukturen - das Inselland - zu befestigen, um Schritt für Schritt neuen Boden
geschützten Insel vergleichbar, die mit harter Arbeit dem Meer Land abzuringen
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
hinzuzugewinnen und zu befestigen. Um reifere psychische Ressourcen zu entwickeln, kann die Therapie nicht wie bei konfliktbedingten Störungen darin bestehen, das schmale Land, auf dem die Patienten sich bewegen, zuerst aus seinen Verankerungen zu lösen, damit neue Ordnungen, reifere Abwehrmöglichkeiten also, entstehen können.
Zum Umgang mit Träumen Patienten mit schweren strukturellen Störungen können kaum zwischen Regression und Anpassung flexibel hin und her wechseln, also im einen Moment ihre habituelle Abwehr lockern, um kurz darauf und umstandslos auf ein reiferes Funktionsniveau zurückzukehren. Wenn die Patienten - eventuell vermittelt über das Verhalten des Therapeuten - der Vorstellung folgen, zu mehr psychischer Stabilität und zu einer besseren Bewältigung von Realitätsanforderungen gelangen zu können, indem sie ihre Aufmerksamkeit ihrer unbewussten inneren Realität, Träumen und Fantasien zuwenden, kann das weitere Labilisierungen der ohehin fragilen psychischen Stabilität nach sich ziehen. Auf der anderen Seite kommt die Vorstellung, seelische Veränderungen seien nur dadurch zu erreichen, dass Unbewusstes bewusst und verstanden wird, manchen strukturell gestörten Patienten entgegen; sie sehen sich dadurch in ihrer Neigung bestätigt, Anforderungen der äußeren Realität aus dem Weg zu gehen. Statt sich mit unliebsamen Bedingungen der realen äußeren Welt beschäftigen und vielfaltigen Realitätsanforderungen nachkommen zu müssen, wenden sie sich lieber ihrer inneren Realität, Gedanken und Einfällen, Träumen, Fantasien und Wünschen zu. Manchmal äußern solche
Besondere therapeutische Probleme
In der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie haben Träume für die therapeutische Arbeit nicht die gleiche herausragende Bedeutung wie in der Psychoanalyse. Der Therapeut nimmt Traumberichte des Patienten mit Interesse zur Kenntnis, ohne Anlass zu der Vermutung zu geben, dass Träumen auf dem Weg hin zu Veränderungen eine besondere Rolle zukommen könne. Anders als in der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit neurotischen Störungen wird in der Therapie nicht untersucht, was Träume über die nicht bewusste psychische Realität des Patienten zum Ausdruck bringen könnten. Eher steht dann die Frage im Vordergrund, welche Funktion es hat, dass der Patient jetzt in diesem Kontext des therapeutischen Prozesses auf einen Traum zu sprechen kommt. Zum anderen wird der Traum inhaltlich - soweit inhaltliche Aspekte überhaupt aufgenommen werden - auf seinen manifesten Text hin gelesen; dabei wird der manifeste Inhalt nach Möglichkeit auf den vereinbarten Fokus und das verabredete Thema bezogen. Dagegen werden die Traumberichte explizit nicht auf ihre unbewusste Dimension hin untersucht. Ein Patient spricht davon, dass er neulich »etwas Schreckliches« geträumt habe: »Ich war im Haus. Da merkte ich, dass es ein wunderschöner Tag war. Draußen war ganz blauer Himmel und die Sonne schien. leh wollte raus, aber ich hatte Angst. Dann habe ich die Tür aufgerissen und bin einfach rausgerannt. Plötzlich kam ein riesiger Hund auf mich zu, mit so scharfen Reißzähnen. Ich bekam Panik und wollte ins Haus zurückrennen. In dem Moment hörte ich, dass die Tür zufiel, und ich hatte keinen Schlüssel. Ich bekam Panik. Dann bin ich schweißnass aufgewacht. Das hat dann noch lange gedauert, bis ich mich
. Patienten die Auffassung, dass sich ihre psychische Realität ändern müsse, ehe daran zu denken sei, dass sie sich den Anforderungen der äußeren Realität stellen. Unter Umständen beschäftigen sie sich gerne und viel mit ihren Träumen, produzieren Einfalle dazu, stellen Verbindungen her, fördern Erinnerungen zutage und
wieder beruhigt hatte.« Der Therapeut beschränkt sich darauf zu sagen: »Vielleicht wäre es besser gewesen, Sie hätten die Tür erst einmal nur einen Spalt weit geöffnet, um nach-
spekulieren über den unbewussten Sinn ihrer Produktionen, und nicht immer ist ohne Weiteres zu erkennen, dass sie damit nur scheinbar zu einem vertieften
Annahme, dass der Patient, von seiner Sehnsucht nach einem nur guten Objekt überflutet, alle Vorsicht außer acht lässt und mit nichts Bösem rechnet,
Verständnis ihrer selbst gelangen, sondern im Gegenteil von ihren wirklichen Pro-
beschränkt er sich darauf, den Patienten auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, dass es auch bei »schönem Wetter« - mit anderen Worten: einem scheinbar nur guten Objekt gegenüber - sinnvoll ist, auch mit der Möglichkeit
blemen wegsehen und darüber hinaus auch den Therapeuten dazu veranlassen wollen, das Gleiche zu tun. In diesem Fall dient die intensive Beschäftigung mit Träumen, Fantasien und Erinnerungen nicht der Entwicklung, sondern fixiert im Gegenteil habituelles Vermeiden.
zusehen, ob draußen alles einigermaßen in Ordnung ist.« In der diagnostischen
von weniger zuträglichen Bedingungen zu rechnen und die Realität, auf die er sich zubewegen will, vorab zu überprüfen.
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Besondere therapeutische Probleme
Initiative zum Gesprächsbeginn
Zum Umgang mit Schweigen
Wird bei Patienten mit strukturellen Störungen das initiale Schweigen als Wider-
Schweigen des Patienten in therapeutischen Gesprächen kann unterschiedliche
stand aufgefasst, kann das leicht zu therapeutischen Schlussfolgerungen führen,
Funktionen haben. Schweigen kann Ausdruck von Ratlosigkeit sein, kann eine
die nicht förderlich sind. Viele Patienten mit schwerwiegenderen Störungen ihrer
missbilligende Stellungnahme zu einer vorangegangenen Äußerung des Therapeuten bzw. in der Gruppe von Mitpatienten bedeuten, kann darauf hinwei-
Selbststruktur und damit einhergehenden Störungen der Selbstwertregulierung sind mindestens so lange nicht in der Lage, die Initiative im Kontakt zu übernehmen, wie sie mit der anderen Person nicht vertraut sind. Vor allem Patienten
sen, dass der Patient nachdenkt, kann ein Zeichen dafür sein, dass der Patient
mit ausgeprägten sozialen Ängsten haben manchmal überwältigende Angst vor
die er auf andere Weise nicht herstellen oder aufrechterhalten kann u. a. Wel-
eine Grenze zwischen sich und dem Therapeuten oder den Mitpatienten zieht,
Beschämung und vermeiden um jeden Preis, den ersten Schritt auf unvertraute
che Funktion das Schweigen eines strukturell gestörten Patienten auch immer
Menschen zu zu machen. In diesem Fall ist es nicht nützlich, dass der Therapeut,
hat, so wird der Therapeut den Patienten nicht über längere Zeit hinweg dem
indem er selber schweigt, dazu beiträgt, dem Patienten seine Schwierigkeit ein weiteres Mal vor Augen zu führen. Die meisten Patienten kennen ihr Problem,
Schweigen überlassen und selber schweigen. Selten ist das Schweigen nur Ausdruck des Versuches, einen Machtkampf nach dem Motto zu führen, dass der, der
und meist wissen sie auch, dass ihre diversen Ängste, die sie damit verbinden, mit Anderen in Kontakt zu treten, nicht rational begründet sind., sind deshalb aber nicht imstande, ihre Ängste zu überwinden und ihr Verhalten zu ändern. Fasst
das Schweigen bricht, verloren hat. Solche Inszenierungen sind in Behandlungen von Patienten mit zwanghaften Störungen auf neurotischem Niveau der Persönlichkeitsorganisation häufig, und auch strukturell gestörte Patienten verbinden
der Therapeut das initiale Schweigen des Patienten als Widerstand auf und bleibt
mit beiderseitigem Schweigen manchmal Aspekte eines Machtkampfes. Häufiger
in dieser Situation seinerseits schweigend und abwartend, nehmen die Beschä-
stellt sich jedoch heraus, dass dem Verhalten, das auf den ersten Blick wie ein Machtkampf aussieht, tatsächlich weitergehende Beeinträchtigungen zu Grunde
mungsängste meist noch zu, und es erscheint den Patienten immer undenkbarer, sich von sich aus zu äußern. Darum sollte der Therapeut die Kontaktinitiative so lange übernehmen, wie der Patient selber dazu noch nicht in der Lage ist.
liegen und das Schweigen gleichzeitig basalere psychische Funktionen erfüllt, beispielsweise Orientierung bieten oder dazu verhelfen soll, labile Grenzen zwischen
Manche Patienten schweigen, weil es ihnen nicht möglich ist, aus der diffusen Vielfalt dessen, was sie als ihr inneres Erleben mehr oder weniger verschwommen
Selbst und Objekt zu sichern. Der Therapeut wird das Schweigen des Patienten von sich aus auch dann unterbrechen, wenn er sich der Funktion des Schweigens
wahrnehmen, irgendetwas zur Sprache zu bringen. Manchmal schildern Patienten im Rückblick, dass sie ein »Gefühl wie viele lose Enden« hatten, die immer mehr
unsicher ist. Das Schweigen des Patienten sollte immer auf eine nicht deutende
geworden seien, wenn sie versucht hätten, darüber nachzudenken, was in ihnen vor sich ging, und eines dieser Enden zu fassen zu bekommen. In die gleiche Richtung kanh längeres Schweigen des Therapeuten wirken, das von der Auffassung
Weise zur Sprache gebracht werden.
Affektives urid impulsives Verhalten
gelenkt wird, dass das Schweigen des Patienten ein unbewusster aggressiver Akt
Patienten mit strukturellen und komplexen Störungen verhalten sich unter dem
sei. Zusätzliche Verwirrung des Patienten ist die Folge. Auch in diesem Fall sollte
Einfluss von heftigen Affekten und drängenden Impulsen manchmal ungesteuert.
der Therapeut das Schweigen frühzeitig unterbrechen und das Gespräch mit dem
Das gilt für Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und mehr noch
Patienten von sich aus beginnen. Dazu kann eine Einladung an den Patienten, zu
für Patienten mit antisozialen Zügen. Gewöhnlich ist das affekt- und impulsbe-
sagen, was ihn beschäftigt, manchmal ebenso ausreichen wie eine kurze Nachfrage nach seinem Befinden.
stimmte Verhalten kein Agieren im Sinn eines expressiven Verhaltens, dem eine unbewusste Bedeutung zu Grunde liegt, sondern weist auf eingeschränkt verfügbare Fähigkeiten hin, Verhalten zu steuern. Bei Patienten, deren Verhalten wenig
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Besondere therapeutische Probleme
gesteuert ist, ist es oft notwendig, äußere Steuerungs- und Orientierungshilfen be-
achtung, sollte der Vernichtung anheim fallen. Massive negative Übertragungen
reitzustellen, beispielsweise in Form von klaren und unmissverständlichen Grenz-
stellen sich oft als Folge von Kränkungen oder Versagungen ein. Ein zuvor gutes
ziehungen. Deutlich markierte Grenzen können den Mangel an innerer Orien-
Objekt wird gleichsam von einer Sekunde zur nächsten schlecht und unwert.
tierung kompensieren. In schwerwiegenden Fällen - beispielsweise bei manischen Dekompensationen oder bei Patienten, bei denen die Gefahr besteht, dass sie sich
Trifft die negative Übertragung den Therapeuten oder andere für die Behandlung des Patienten wichtige Personen, droht die Therapie sinnlos zu werden, weil alles,
in bedrohlicher Weise destruktiv verhalten - kann es vorübergehend erforderlich
was von jetzt ab von Seiten des Therapeuten oder der therapeutischen Institution
sein, auf die Mauern einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung als Begrenzungen zurückzugreifen. Derartig einschneidende Maßnahmen sind jedoch nur
kommt, dem Patienten nichts mehr bedeutet, unwert ist tffid verachtet wird. Erst
in wenigen Fällen erforderlich. Bei anderen strukturell gestörten Patienten reichen symbolische Grenzziehungen aus, um den Mangel an inneren Steuerungsmög-
rungsweise wieder gelten lassen kann, mit anderen Worten: das gute Objekt sich zumindest partiell erhalten kann, kann auch das Handeln des Therapeuten für
lichkeiten und Orientierungen auszugleichen.
den Patienten wieder einen Wert bekommen. Darum ist es erforderlich, der nega-
Grenzziehungen müssen eindeutig sein. Der Patient muss wissen, welche
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unter der Voraussetzung, dass der Patient den Therapeuten zumindest annähe-
Folgen es für ihn haben wird, wenn er die ihm von außen gesetzten Grenzen
tiven Übertragung aktiv entgegenzutreten, wenn der Therapeut oder die Therapie oder - etwa im stationären Rahmen - andere für die Therapie des Patienten wich-
nicht beachtet. Nur dann können symbolische Grenzziehungen dem Patienten
tige Objekte oder Teilobjekte, häufiger auch die therapeutische Institution insge-
als Orientierung für sein Handeln dienen, solange ihm andere psychische Mittel
samt, in dieser Weise als nur schlecht, böse und unwert erlebt werden. Deutungen
dazu nicht zur Verfügung stehen. Wenn Grenzen uneindeutig sind, nebulös blei-
führen hier selten zur Auflösung von negativen Übertragungen.
ben oder zwiespältig vertreten werden, kann das dazu führen, dass das affekt- und impulsbestimmte Verhalten des Patienten noch zunimmt, meist so lange, bis dem Patienten doch noch klare Grenzen von außen gesetzt werden. Erst wenn das der Fall ist, kann der Patient sich wieder ausreichend orientieren, und die Situation
Frau C., eine 37-jährige Patientin, die wegen Ladendiebstählen vorbestraft war und bei der mehrere Partnerschaften jedes Mal schon nach kurzer Zeit gescheitert waren, hatte einen schweren Suizidversuch unternommen, nachdem ein
entspannt sich. Wird dieser Zusammenhang nicht frühzeitig erkannt, kann es leicht dazu kommen, dass ein sinnvoller therapeutischer Kontakt nicht entsteht,
Mann, den sie bis dahin noch kaum kannte, ihr zu verstehen gegeben hatte,
und die Behandlung wird, kaum begonnen, wieder abgebrochen. Unter solchen Umständen ist die Beendigung der Behandlung aus der Sicht des Patienten eine
schien sie eine gute und ausreichend stabile Beziehung entwickelt zu haben. Während sie eines Tages vor dem Zimmer ihres Therapeuten auf den Beginn
. ultima ratio, eine absolute Grenzziehung. Weil nicht erkannt wurde, dass der Pa-
ihrer Stunde wartete, kam eine ihr bis dahin nicht bekannte Frau, klopfte an
dass er an einer näheren Beziehung nicht interessiert sei. Zu ihrem Therapeuten
tient Grenzen als Orientierungs- und Steuerungshilfen benötigt und sein impul-
der Tür des Behandlungszimmers ihres Therapeuten und schien in das Zim-
sives, wenig gesteuertes Verhalten Ausdruck des Versuches war, den Therapeuten
mer zu gehen, ohne eine Antwort abgewartet zu haben. Als der Therapeut
zu solchen Grenzziehungen zu veranlassen, bleibt ihm nur die einzig definitive
sie zu sich hereinbitten wollte, fand er sie dort nicht mehr vor. Sie war in ihr
Grenze, der Abbruch der Therapie.
Zimmer gegangen und hatte damit begonnen, ihre Kleider voller Wut in ihren Koffer zu werfen. Als der Therapeut das Zimmer betrat, beschimpfte sie ihn als
Negative Übertragungen
verlogenen Heuchler, für den sie »irgendein Stück Holz« sei und dessen Interesse an ihr und ihrer Geschichte doch nur vorgetäuscht sei. In einer Klinik, in
Bei strukturell gestörten Patienten haben negative Übertragungen häufig eine
der »solche Leute auf Patienten losgelassen« würden, könne sie keine Sekunde
durchdringende, umfassende Qualität. Das Objekt der Übertragung ist durch und
länger bleiben. Der Therapeut verstand anfangs nicht, was geschehen war. Er
durch schlecht, böse, der Beachtung nicht wert, verdient nichts als Hass und Miss-
sagte seiner Patientin, dass er nicht wisse, was geschehen sei, aber was immer ~
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6. Psychoanalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
Besondere therapeutische Probleme
das auch gewesen sein mochte, so sei er doch sicher, dass er kein verlogener
Falle einer suizidalen Krise geschehen muss, sollte die vorübergehende Unter-
Heuchler und dass sie für ihn kein Stück Holz sei. Darauf hin schrie ihn die
bringung des Patienten unter geschlossenen Bedingungen meist freiwillig möglich
Patientin an, wie er denn wohl sonst dazu käme, sie einfach warten zu lassen,
sein. Nur in seltenen Fällen ist das anders, insbesondere dann, wenn der Patient
ohne etwas zu sagen, aber »für andere Leute« selbstverständlich Zeit zu haben.
von psychotischem Erleben bestimmt wird und aktuell nicht in der Lage ist, seine
Erst jetzt verstand er, dass die Patientin offenbar die Krankenschwester einer
eigene Situation halbwegs realistisch einzuschätzen. Soweit die Umstände das er-
Nachbarstation, die ihm eine wichtige Nachricht hatte zukommen lassen müs-
lauben und soweit damit zu rechnen ist, dass die Verlegung in eine psychiatrische
sen, in sein Zimmer hatte gehen sehen. Er war betroffen, dass er es versäumt
Abteilung nur als kurzzeitige Krisenintervention erforderlich ist, sollte der Thera-
hatte, das seiner Patientin zu erläutern und sie um einige Minuten Geduld zu
peut den Patienten während der psychiatrischen Unterbringung nach Möglichkeit
bitten. Er sagte ihr das, entschuldigte sich für sein Verhalten und bekräftigte
selbst weiter behandeln.
noch einmal, dass weder sein Interesse geheuchelt, noch sie für ihn irgendeine
Wenn die Verlegung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung über eine
Sache sei. Das führte zu einer Beruhigung der Situation, und die Patientin
Krisenintervention hinausgeht und absehbar ist, dass der Patient über längere
brachte es fertig, das Gespräch mit ihm fortzuführen.
Zeit unter geschlossenen Bedingungen psychiatrisch behandelt werden muss, ist es selten sinnvoll, die psychotherapeutische Behandlung während dieser Zeit
Wenn erkennbar ist, dass die globale negative Übertragung eine Reaktion auf eine vorangegangene Kränkung oder Versagung ist, sollte der Therapeut den entwertenden Rückzug des Patienten von sich aus mit dem Ziel ansprechen, den Patienten in der Therapie zu halten. Versäumt er das, kann es sein, dass der Patient die Therapie lauthals oder aber per stillem Rückzug abbricht. Der Therapeut kann
I
fortzusetzen. Meist wird es sich dabei um Patienten handeln, deren derzeitiger
I
solchen Fällen ist es günstiger, die psychotherapeutische Behandlung auszusetzen,
Zustand eine nicht nur vorübergehende psychiatrische Behandlung verlangt. In bis der Patient wieder in einem Zustand ist, dass die Psychotherapie, falls weiterhin indiziert, fortgesetzt werden kann. Soweit die Kooperation zwischen dem
beispielsweise seiner Vermutung Ausdruck verleihen, den Patienten gekränkt zu
Therapeuten, der für die Psychotherapie des Patienten zuständig ist, und dem
haben, und sich - falls das tatsächlich der Fall gewesen sein sollte - für sein Verhal-
Psychiater nicht schon vorab verabredet war, wird es sich spätestens jetzt nahe
ten entschuldigen. Tut er das, wird der Patient seine Entwertung meist nicht auf-
legen, die Zusammenarbeit unter Einbeziehung des Patienten fest zu verabreden
recht erhalten, weil sich sein wütend-entwertender Angriff auf den Therapeuten
und die Verteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten von behandelndem Psy-
jetzt gleichsam erübrigt, zeigt der Therapeut mit seiner Selbstkritik doch, dass
chotherapeuten und Psychiater klar zu regeln.
er selber mit sich nicht einverstanden ist. Im Unterschied zu den Abwertungen . des Patienten hat die Selbstkritik des Therapeuten allerdings eine mildere, »integrierte« Qualität und kann damit zugleich als Modell für den Patienten dienen.
Zeitliche Begrenzungen Im stationären Bereich wird die Dauer der Behandlung durch die von den Kos-
SuizidaJität Ist der Patient nicht in der Lage, sein Verhalten angesichts von Suizidgedanken
tenträgern gesetzten engen Limitierungen bestimmt, erst in zweiter Linie von der Störung des Patienten und dem Behandlungsverlauf. Für stationäre psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen sind die von den Kostenträgern bewillig-
und Suizidimpulsen soweit sicher zu steuern, dass Versuche, sich selbst zu töten,
ten Behandlungszeiten manchmal dermaßen kurz, dass die ~ben aus stationärer
ausgeschlossen sind (vgl. Kapitel »Rahmenbedingungen« S. 111 ff.), wird die Be-
Behandlung entlassenen Patienten schon nach kurzer Zeit erneut stationär aufge-
handlung unterbrochen, und der Patient muss vorübergehend in einer ges<,::hlos-
nommen werden müssen. So sind die Verhältnisse einer überwunden geglaubten
senen psychiatrischen Abteilung untergebracht werden. Wenn in Zusammenhang
Drehtürpsychiatrie nach und nach zurückgekehrt, dieses Mal aus ökonomischen
mit den Rahmenbedingungen ausführlich genug vorbesprochen wurde, was im
Gründen. Bei zeitlich eng limitierter Behandlungsdauer wird ein eben eingeleite-
213
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6. Psychoahalytisch-interaktionelle Behandlungstechnik
ter hilfreicher therapeutischer Prozess schon nach kurzer Zeit abgebrochen. Bei ambulanten Behandlungen ist es leichter möglich, die Dauer der Behandlung nach Bedingungen des individuellen Patienten und der jeweiligen Störung festzulegen. Obwohl auch hier meist die durch die Kassenregelungen vorgegebenen Kontingentierungen der Behandlungsstunden den Rahmen für die mögliche Behandlungsdauer bestimmen, sind die Möglichkeiten zur flexiblen Handhabung der Behandlungsdauer und der Behandlungsfrequenz größer und können leichter auf das jeweil,s aktuell im Vordergrund stehende Störungsbild abgestimmt werden. Im günstigen Fall wird die stationäre Behandlung nicht eher beendet, als bis der Patient in der Lage ist, ohne zu große Beeinträchtigungen am sozialen Alltagsleben wieder teilzunehmen. Was auf den ersten Blick als bescheidenes Behandlungsziel erscheint, ist - gemessen am Ausmaß der Psychopathologie vieler strukturell gestörter Patienten - in Wirklichkeit ein hoch gestecktes Ziel. Am sozialen Alltagsleben ohne schwerwiegende Belastungen für die eigene PersoI1 oder für die soziale Umwelt wieder teilnehmen zu können, setzt unter anderem voraus, - - andere Personen zumindest in groben Zügen als Personen in ihrem eigenen
Recht statt im Hinblick auf Funktionen für das Selbst behandeln zu können (Selbst-Objekt-Differenzierung, Mentalisierungsfunktion, reziproke Beziehungen),
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Gruppentherapie ist eine Behandlungsform, die üblichen Gepflogenheiten medizinischer Krankenbehandlung zuwiderzulaufen scheint. Der für den Kontakt von Arzt und Patient übliche Intimitäts- und Privatheitsraum wird hier durch relative Öffentlichkeit ersetzt. Nicht wenige Psychotherapeuten scheuen diesen Raum relativer Öffentlichkeit. Manchmal begründen sie ihre zurückhaltende Einstellung gegenüber Gruppentherapie kontrafaktisch damit, dass Gruppentherapie weniger effektiv sei als Einzeltherapie, oder damit, dass der Patient vermeintlich vorerst noch den Schutz eines dyadischen Behandlungssettings benötige. Auch manche Patienten sagen entschlossen, daß sie nicht in eine Gruppe wollen. Für sie ist die Gruppe ein Ort, in dem alles das passiert bzw. passieren kann, was man vorn öffentlichen Geschehen weiß, gehört, gesehen oder erlebt hat. Intimität gilt ihnen als etwas, was man entweder ausschließlich aHeine oder aber nur mit einer anderen Person erlebt; es wird mit Gefahren gerechnet, die mit Verrat, Kränkung, Bloßstellung, Beschämung, Irreführung, Täuschung, Ausschließung und Verletzung zu tun haben.
in Interaktion das Verhalten der anderen Personen möglichst immer auch im Kontext des eigenen Verhaltens lesen und das eigene Verhalten auf das Verhalten Anderer hin gestalten zu können (Interaktionsregulierung),
Öffentlich und privat: ein historischer Exkurs
die Beziehung zu wichtigen Personen auch dann aufrecht erhalten zu können, wenn diese Personen nicht physisch anwesend sind oder sich einmal als versagend erwiesen haben (Objektkonstanz), und
Den geläufigen Gegensatz von »öffentlich« und »privat« gibt es in seiner heutigen Bedeutung erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts. »Öffentlich« bedeutete,
Affekte und Impulse so weit steuern zu können, dass das eigene Verhalten auf die soziale Umwelt zumindest so weit abgestimmt werden kann, dass erheblich nachteilige Folgen vermieden werden können.
dem prüfenden Blick von jedermann zugänglich, »privat« bezeichnete einen abgeschirmten, durch Familie und enge Freunde begrenzten Lebensbereich (Sennett 1986). Die Grenzlinie zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre trennte einen Bereich von Ansprüchen der Zivilisation, von kosmopolitischem, öffent-
Diese Behandlungsziele entsprechen zu einem Teil dem Erreichen der depressiven Position (Klein 1983), die eine sichere Verinnerlichung eines ambivalent
lichem Verhalten, und einen Bereich der Ansprüche der Natur, in erster Linie der
erlebten Objekts voraussetzt und dementsprechend weitere Entwicklungsschritte verlangt.
Familie. Sich darin geübt zu haben, am öffentlichen Leben teilzunehmen, mit Fremden umzugehen, wurde bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein als Voraussetzung angesehen, sich zu einem gesellschaftlichen Wesen heranzubilden. Das
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7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Subjektives Erleben und interpersonelle Beziehungen
Verhalten im öffentlichen Raum vollzog sich vor dem Hintergrund des Wissens
Beziehung und der Einfluss des Therapeuten auf die therapeutische Beziehung
von der Anwesenheit von Publikum: Es war an Rollen orientiert, der Ausdruck
überschaubar bleiben. Nur gelegentlich rückt die Art und Weise, wie die Bezie-
von Emotionen wurde kontrolliert, die Sprache gezügelt, sichtbares Verhalten auf die Blicke von Fremden hin ausgelegt, rituelle Masken von Geselligkeit getragen.
hung gestaltet wird und Patient und Therapeut miteinander interagieren, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Stattdessen steht das Erleben des Patienten,
Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu einem zunehmenden Zerfall des öffentlichen Raumes. Die Familie wurde zu einer Zufluchtsstätte vor den An-
seine innerpsychische Realität und deren Auswirkungen auf sein Erleben von der
feindungen des öffentlichen Lebens idealisiert, die dem öffentlichen Sektor moralisch überlegen sein sollte. Demgegenüber wurde das öffentliche Leben mehr und
Anders in der Gruppentherapie. In therapeutischen Gruppen steht das interaktive Geschehen zwischen den Mitgliedern der Gruppe weit mehr im Vorder-
mehr von Verhaltensweisen bestimmt, wie sie früher ausschließlich dem privaten
grund als in der Einzeltherapie. Mehr als andere therapeutische Settings bietet
Raum vorbehalten waren. Sennett hat in diesem Zusammenhang von einer Inti-
sich die Gruppentherapie dafür an, neben den individuellen psychischen Proble-
therapeutischen Beziehung im Vordergrund.
misierung des öffentlichen Lebens und einer »Tyrannei der Intimität« gesprochen.
men und Konflikten die Schwierigkeiten und Beeinträchtigungen der Patienten
Das private Selbst wurde jetzt vor den Blicken eines fremden Publikums nicht mehr verborgen, sondern im Gegenteil der Öffentlichkeit sichtbar gemacht, »geoutet«, wie es heute heißt.
im Kontakt mit Anderen, die sich zwischen den Gruppenmitgliedern zeigen, das
Wird die therapeutische Gruppe nur dazu genutzt, unbewusste seelische Erfahrung aufzudecken, wird der potentiell öffentliche Raum der Gruppe mit
.I
Zusammenwirken von psychischem Erleben einerseits und Verhalten im Zusammensein mit Anderen andererseits zu untersuchen und zum Gegenstand der the-
seinen besonderen Anforderungen an das soziale Leben gerade nicht als öffent-
rapeutischen Einflussnahme zu machen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Probleme von strukturell gestörten Patienten in sozialer Interaktion nicht ausschließlich Ausdruck von individuellen
licher Raum - in historischer Perspektive: als Raum des zivilisierten Umgangs mit Fremden - genutzt, sondern privatisiert und intimisiert. Nicht der Umgang
verinnerlichten pathologischen Beziehungserfahrungen sind, die in der Gegenwart im Zusammensein mit anderen Patienten in der Gruppe nur neu aufgelegt
mit Fremden, mit dem urbanen Mitbürger, die Verständigung mit Mitakteuren,
würden, sondern interpersonelle Probleme gleichsam an der Schnittstelle einer
sondern Selbstentäußerung wird gefördert. So ist es heute manchmal leichter, in-
vertikalen Achse vergangener Beziehungserfahrungen und einer horizontalen Achse gegenwärtiger Interaktion mit Anderen entstehen. An dieser Schnittstelle
time Erfahrungen in Gegenwart anderer Anwesender in der Gruppe zu berichten und zu intimen gemeinsamen Fantasien auszugestalten, als das Gegenüber in der Gruppe als Gegenüber, als Mitakteur zu erkennen und in seiner relativen Fremd-
217
treffen innere und äußere, intrapsychische und interpersonelle Realität, subjektive
heit anzuerkennen. Der Blick »in die seelische Tiefe« gelingt dann vergleichsweise
und soziale Wirklichkeit aufeinander. Die spezifischen Erscheinungsformen der aktuellen Beziehungen in der Gruppe werden an dieser Schnittstelle im Verhalten
zwanglos, der Blick auf »die Oberfläche« des fremden Anderen ängstigt hingegen.
der Patienten zueinander und in der Interaktion mit dem Therapeuten ausgestal-
In der psychoanalytisch-interakaonellen Gruppentherapie liegt der Schwerpunkt zuerst auf den interpersonellen Verhältnissen, die die Anwesenden zwischen sich
in der Gruppe unter dem Einfluss der anderen Anwesenden wieder aktuell. Sie
gestalten, erst in zweiter Linie auf den je individuellen seelischen Verhälmissen.
treten - bildhaft ausgedrückt - aus der Tiefe des individuellen Erlebens zutage
tet. Die verinnerlichten Erfahrungen mit wichtigen früheren Beziehungen werden
und werden aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt (vertikale Dimension). Solche individuellen re aktualisierten Beziehungserfahrungen beeinflussen
Subjektives Erleben und interpersonelle Beziehungen
das Erleben und das Verhalten jedes Anwesenden in der Gruppe. Was aber zwischen ihnen geschieht, ihre wechselseitigen Verhälmisse und Beziehungen zuein-
In psychoanalytisch orientierten Einzeltherapien äußert sich der Therapeut explizit meist deutlich seltener als der Patient; dadurch sollen die therapeutische
ander, ist nicht allein Ausdruck dieser früheren Erfahrungen und ihrer verinnerlichten Interaktionsschemata oder inneren Arbeitsmodelle. Ihre interpersonellen ~
218
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Interaktion in der therapeutischen Gruppe
sich zueinander verhalten. Das Verhalten zueinander vollzieht sich gleichsam in
ten benannt, sondern implizit definiert. Was eine Situation bedeutet, wird ohne Worte zwischen den Anwesenden »verhandelt«. Situationsdefinitionen kommen
einer horizontalen Dimension wechselseitiger Interaktion. Dabei sind vertikale und horizontale Dimension, Reaktualisierung von Beziehungserfahrungen und
dann im Verhalten und in der Verteilung von Rollen zur Darstellung. Welche Bedeutung die Anwesenden einer Situation in der Gruppe aktuell attribuieren,
gegenwärtige Interaktion, nicht gleichzusetzen mit unbewusster und bewusster Gestaltung der therapeutischen Beziehung und der Übertragung. Die Bezie-
lässt sich dann statt aus expliziten Zuschreibungen daraus erschließen, wie sie sich
hungsstörungen, die sich in der Gruppe manifestieren, werden vor dem Hinter-
wie die Gesamtsituation in einer Gruppe von den Anwesenden wahrgenommen
grund spezifischer verinnerlichter Beziehungserfahrungen in einem Prozess wech-
und erlebt wird und wie die gemeinsame Situation gehandhabt werden soll. In der Gruppentherapie kündigt sich in solchen Situationsdefinitionen häufig
Beziehungen werden zugleich davon bestimmt, wie und mit welchen Mitteln sie
selseitigen, aufeinander bezogenen Verhaltens im Vollzug von Interaktion unter den Anwesenden in der Gruppe »ausformuliert«. Sie manifestieren sich schließlich als gestörte zwischenmenschliche Verhältnisse.
219
zueinander verhalten. In »Definitionen der Situation« (Thomas 1966) zeigt sich,
an, welche Objektbeziehungen oder Teilobjektbeziehungen bei einzelnen oder mehreren Teilnehmern in der Gruppe aktuell geworden sind und wie sich die Beziehungen in de.r Gruppe weiter entwickeln werden. Betty Joseph (1985) hat Phänomene, die aus interaktiver Perspektive Situationsdefinitionen widerspie-
Interaktion in der therapeutischen Gruppe
geln, aus einer auf individuelles Unbewusstes ausgerichteten Sicht als »Übertragung ganzer Situationen« beschrieben und damit mit psychischen Disposi-
Um das interpersonelle Geschehen in der Gruppentherapie mit strukturell gestör-
tionen in Verbindung gebracht. Situationsdefinitionen, die Art und Weise, wie
ten Patienten adäquat erfassen zu können, bedarf es neben psychodynamischen
Patienten gegenwärtige Situationen erleben, erklären sich nicht ausschließlich
Konzepten, die sich auf intrapsychische Prozesse und Strukturen beziehen, vergleichbarer Konzepte für soziales Handeln und Interaktion. Zu den Konzepten,
aus je individuellen psychischen Prozessen. Weil soziale Situationen immer interpersonell gestaltet werden, trägt die Art und Weise, wie Patienten eine Situation
die Umstände interpersoneller Ereignisse und sozialen Handelns in geeigneter
erleben, auch die Spuren des wechselseitigen Handelns aller Anwesenden in der
Weise erfassen können und auch für die Gruppentherapie nützlich sind, gehören die »Definition der Situation«, »Sanktionen« und »soziale Normen«. Das bedeu-
Situation. Mit Definitionen der Situation in der Gruppe verständigen sich die Anwe-
tet, dass der Gruppentherapeut das jeweils aktuelle Geschehen in der Gruppe immer auch im Hinblick darauf befragt, welche Art von Situation die Anwesen-
senden darüber, was gerade »los ist« und wie sie sich verhalten wollen. Das ge-
den im Vollzug ihrer Interaktion gegenwärtig gestalten, auf welche Sanktionen sie
schieht explizit beispielsweise dann, wenn sich die Patienten in der Gruppe einen »zusammengewürfelten Haufen von Überlebenden im Rettungsboot« oder die
sich stützen und welchen Normen oder Regeln interpersonellen Verhaltens in den
Gruppensitzung eine »Talkshow« nennen. Handelt es sich um implizite Situa-
so definierten Situationen mit diesen Sanktionen Geltung verschafft werden soll
tionsdefinitionen, wird nicht ausdrücklich gesagt, wie die Situation verstanden und gehandhabt werden soll, sondern die Patienten verhalten sich in der Gruppe
(siehe dazu »Materialien für den klinischen Gebrauch« im Anhang).
in einer Weise, als sähen sie sich in einer Schulstunde einem strengc;,~ Lehrer ge-
Definition der Situation
genüber, oder als müssten sie sich einer Prüfung unterziehen. Mit ihrem Verhalten stellen sie dar, dass sie die momentane Situation als Schulstunde oder als Prüfung
Eine soziale Situation ist als solche nicht schon vorab da und hat nicht in sich
»definieren«. Dass solche expliziten und impliziten Definitionen den Anwesenden
eine bestimmte Bedeutung; Situationen werden vielmehr von den Gruppenmit-
als gemeinsame Orientierung für ihr Verhalten in dieser Situation dienen, wird
gliedern selber hervorgebracht, und ihre Bedeutung schreiben die Beteiligten ~iner
daran deutlich, dass eine Situationsdefinition wie beispielsweise die der »Talk-
Situation immer erst zu. Meist werden Situationen nicht ausdrücklich mit Wor-
show« nicht nur ein mehr oder weniger origineller Vergleich ist, sondern dass die ~
220
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Interaktion in der therapeutischen Gruppe
wie der einer Talkshow: Sie äußern sich beispielsweise nur noch so, als wenn sie
spielsweise Drohungen. Die sanktionierende Kraft von sprachlichem und nichtsprachlichem Verhalten ist unabhängig von seiner »Lautstärke«. Schweigendes
jeweils einzeln vor einem mehr oder weniger anonymen Publikum sprechen wür-
Nicht-Beachten kann eine effektivere negative Sanktion sein als ein lauthals vor-
den, während die Beziehungen untereinander, so wie das in Talkshows gewöhnlich der Fall ist, nur am Rand eine Rolle spielen.
getragener Angriff. Patienten mit basalen Störungen der Persönlichkeitsorganisation haben oft
Situationen in therapeutischen Gruppen mit strukturell gestörten Patienten
kein Gefühl dafür, welche Wirkung ihr Verhalten auf ihr Gegenüber hat. Manche
werden häufig in einer Weise definiert, die es den Anwesenden ermöglichen soll,
Patienten gehen davon aus, dass die Bedeutung ihres Verhaltens mit der Absicht
komplexere interpersonelle - vor allem triadische - Beziehungen auszusparen,
identisch ist, die sie selber mit ihrem Verhalten verbinden, unabhängig davon,
für deren Bewältigung ihnen psychische Funktionen nicht ausreichend verfügbar
wie ihr Gegenüber das Verhalten auffasst, ob die andere Person sich angegriffen
sind. Darum schreiben die Patienten in der Gruppe der aktuellen Situation - oft
fühlt oder das Verhalten als zudringlich empfindet. Wenn sich herausstellt, dass
unbewusst - eine Bedeutung zu, die gewährleisten soll, dass dafür ein Verhalten
die andere Person das Verhalten anders erlebt als es der eigenen, mit dem Verhal-
wie in dyadischen oder pseudodyadischen Beziehungen angemessen ist. Mit den
ten verbundenen Absicht entspricht, wird darin häufig ein Beleg dafür gesehen, dass der Adressat dieses Verhaltens ein »Problem« hat und vermeintlich nicht in
Anwesenden sich tatsächlich so verhalten, als wären sie in einer sozialen Situation
eingeschränkten psychischen und interpersonellen Funktionen lassen sich solche dyadischen oder pseudodyadischen Beziehungen eher bewältigen. Umgekehrt können komplexere und deshalb beunruhigendere SituationY en mit Hilfe solcher Situationsdefinitionen umgangen werden. Definitionen der Situation können wichtige diagnostische Hinweise sein. Der Gruppentherapeut wird auf explizite Situationsdefinitionen eher selten ausdrücklich Einfluss nehmen, sondern sie - im Sinne von »Übertragungen ganzer Situa-
221
der Lage ist zu erkennen, was das Verhalten »eigentlich« gemeint hat: »Wenn Du das so siehst, dann ist das Dein Problem« ist eine verbreitete Strategie, um sich für etwaige interpersonelle Konflikte nicht verantwortlich fühlen zu müssen, um Gefühle von Schuld zu vermeiden und die Zuständigkeit für die Lösung solcher Konflikte allein dem Gegenüber zuzuweisen. Viele Patienten können nicht ver-
tionen« - als Hinweise nutzen, in denen sich sowohl Normen, die aktuell gültig
stehen, dass ihr Verhalten in Anwesenheit von Anderen nicht einfach nur ihr eigenes Verhalten, sondern soziales Handeln ist, Handeln im Kontext des Verhaltens
sein sollen, aber explizit oft nicht zur Sprache kommen, als auch aktualisierte
anderer Personen. Verhalten im Kontext des Verhaltens anderer Personen aber ist
Objektbeziehungen, die das Erleben in der Gruppe bestimmen, manchmal früh ankündigen.
unvermeidlich immer auch eine Stellungnahme zu der anderen Person und deren Handeln und trägt so dazu bei, die Beziehung zu gestalten. Damit hat das Verhalten potentiell immer auch sanktionierende Funktionen.
. Sanktionen Soziale Normen und Regeln interpersonellen Verhaltens Erwünschtem Verhalten wird mit zustimmenden sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen Geltung verschafft. Das zustimmende Verhalten hat dabei die
Die Hervorbringung von sozialen Normen ist ein impliziter Aspekt von interper-
Funktion einer positiven Sanktion. Missbilligende Äußerungen, mit denen inter-
sonellem Verhalten. Ob sie das wollen oder nicht, unabhängig davon, ob ihnen
personell unerwünschtes Verhalten abgewiesen und ausgeschlossen werden soll,
das bewusst ist oder nicht und ob sie das ausdrücklich
haben entsprechend die Funktion von negativen Sanktionen. Sanktionen, über
digen sich die Patienten in der Gruppe immer auch darüber, welche Regeln für ihr
die regel- und normkonformes Verhalten in Gruppen gesteuert und als abwei-
tun
oder nicht, verstän-
chend angesehenes Verhalten unterbunden wird, können subtil sein, etwa ein nur
derzeitiges Miteinander gelten sollen, auch wenn sie darüber nur ausnahmsweise ein Wort verlieren. Keiner der Anwesenden kann sicher davon ausgehen, dass
scheinbares Auf-den-Anderen-Eingehen oder ein flüchtiger missbilligender Blick.
jeweils schon ausgemacht ist, welchen sozialen Regeln die Anwesenden in der
Sanktionen können aber auch unmissverständlich und einschüchternd sein, bei-
Gruppe unter den jeweils aktuellen Umständen folgen sollen und folgen werden.
~
222
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Um ihr Miteinander halbwegs störungsfrei gestalten zu können, müssen sie deshalb über die Geltung von Normen erst »verhandeln«. Auch das geschieht nur ausnahmsweise ausdrücklich, sondern wird gewöhnlich im Vollzug des aufeinander bezogenen Verhaltens realisiert, indem Verhalten in Anwesenheit von Anderen unvermeidlich zu vorangegangenem Verhalten Stellung nimmt, ohne dass darüber ausdrücklich gesprochen werden müsste. So geben sich die Patienten in der therapeutischen Gruppe mit ihrem Verhalten zu verstehen, welche Art von Nähe und Distanz, von Verbundenheit und Unverbindlichkeit, von Gefühlsausdruck oder affektisolierter Rationalität, von Spontaneität oder Kontrolle, Kritikbereitschaft und Friedfertigkeit, Gleichheit oder Ungleichheit zu diesem Zeitpunkt zwischen ihnen möglich und erwartbar sein soll. Dabei fließen interpersonelles Verhalten, soziale Normen, individuelle aktualisierte Objektbeziehungen und psychische Funktionen ineinander. Auch solche Prozesse des »Aushandelns« von Regeln und Normen interpersonellen Verhaltens vollziehen sich an der Schnittstelle von individueller psychischer Struktur und interaktiver Regulierung der sozialen Welt in der Gruppe.
Interaktionsmuster Interpersonellem Verhalten in der therapeutischen Gruppe kann ein wiederkehrendes Abfolgemuster zu Grunde liegen, das oftmals über lange Zeit hinweg konstant bleibt. Auch solche mehr oder weniger stabilen Interaktionsmuster zwischen einzelnen Patienten und Subgruppen lassen sich nicht ausschließlich auf individuelle Erfahrungen und psychische Dispositionen einzelner Patienten zurückführen. Ein einzelner Patient kann zwar Einfluss nehmen und Einfluss haben, kann aber nicht die Interaktion bestimmen, wenn die anderen Anwesenden ihm nicht folgen. An habituellen Interaktionsmustern zwischen einzelnen oder mehreren Patienten oder Subgruppen lässt sich oft unschwer erkennen, welche Art des Im-Kontakt-Miteinander-Seins den Patienten in der Gruppe aktuell möglich ist und über welche Ressourcen sie verfügen, um interpersonelle Beziehungen zu gestalten. Sie weisen indirekt auch daraufhin, welche interpersonellen Situationen gemieden werden müssen.
Vorbereitung des Patienten auf die Gruppentherapie
223
Besondere Fragen bei der Vorbereitung des Patienten auf die Gruppentherapie Angesichts des meist engen zeitlichen Rahmens, der für die Behandlung von Patienten mit schweren strukturellen Störungen im stationären Rahmen zur Verfügung steht, werden Patienten manchmal gar nicht oder nur höchst flüchtig auf die Gruppentherapie vorbereitet. Der Umstand, dass die Aufenthaltsdauer von . Patienten insbesondere in psychosomatischen Rehabilitationskliniken von den Kostenträgern übermäßig eng begrenzt wird, führt häufIger dazu, dass Patienten in therapeutische Gruppen kommen, ohne recht zu wissen, was sie dort sollen und wie sie sich verhalten müssen, um potentiell von der Gruppentherapie zu profitieren. Auch in psychiatrischen Kliniken werden Patienten· zur Teilnahme an Gruppen manchmal gleichsam zwangsverpflichtet, ohne zuvor ausführlich über Rahmenbedingungen der Gruppentherapie und über die Anforderungen ausführlich genug aufgeklärt worden zu sein, die an die therapeutische Arbeit in der Gruppe gestellt werden. Unter solchen Umständen kann, was Gruppentherapie genannt wird, realistischerweise nicht wirklich Therapie sein. Bestenfalls handelt es sich dann um Gespräche in Gegenwart von Anderen.
Zeitlicher Rahmen und Vorgespräch Für das Vorgespräch, in dem der Patient über die Gruppentherapie informiert wird, Rahmenbedingungen vereinbart und wichtige Fragen beantwortet werden, muss - wie für die Vorbereitung von Patienten auf eine bevorstehende Therapie überhaupt - ausreichend Zeit zur Verfügung stehen. Die Zeit, die für das Vorgespräch investiert wird, ist gut angelegt und amortisiert sich über den Gewinn, den der Patient aus der Therapie in der Gruppe wird ziehen können. Die Rahmenbedingungen, die für die therapeutische Arbeit in der Gruppe im Vorgespräch verabredet werden, müssen um so klarer sein, je kürzer die für die Behandlung zur Verfügung stehende Zeit ist.
Der Nutzen von Gruppentherapie Einer der wichtigsten Punkte für das Vorgespräch betrifft die Frage nach dem Nutzen, den die Behandlung in einer Gruppe angesichts des so individuellen psy- __
224
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Vorbereitung des Patienten auf die Gruppentherapie
chischen Leidens des Patienten überhaupt haben kann. Manchmal wissen The-
untersuchen, in dem sich viele der Schwierigkeiten wieder finden, unter denen sie
rapeuten, die die Aufgabe haben, Gruppentherapie in der Klinik durchzuführen,
in ihrer sozialen Lebenswelt im Alltag leiden.
225
auf diese Fragen keine plausiblen Antworten zu geben, außer vielleicht die, dass Gruppentherapie sich als ein wirksames therapeutisches Verfahren erwiesen hat. Selbst wenn viele Patienten sich damit zufrieden geben mögen, kann eine der-
Die Grundregel für die therapeutische Arbeit in der Gruppe
maßen pauschale Antwort nicht wirklich überzeugend sein, sondern fördert im
Bei der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie kommen über die
Gegenteil die Ndgung vieler Patienten mit strukturellen Störungen, zumal von
schon genannten Empfehlungen für die therapeutische Arbeit weitere Besonder-
Patienten mit massiven sozialen Ängsten, sich passiv dem auf sie zukommenden
heiten hinzu. Die Grundregel für die Gruppentherapie, die in Anlehnung an die
Geschehen zu überlassen, statt sich als Akteur oder Mitakteur in der Behandlung
»freie Assoziationsregel« manchmal auch »freie Interaktionsregel« genannt wird,
zu verstehen. Begünstigt werden dadurch auch Tendenzen zur gläubigen Idealisie-
nimmt auf den Umstand Bezug, dass der Patient mit mehreren anderen Anwesen-
rung des Therapeuten, der Besserung und Heilung zu versprechen scheint, soweit
den in der Gruppe zu tun hat, beispielsweise in folgender Weise:
der Patient sich nur der Therapie, die sich doch als wirksam erwiesen haben soll, überlässt. Wenn die Patienten auf die Gruppentherapie nicht gründlich vorbereitet
» Versuchen
werden, dann werden sie nicht darin unterstützt, kritische Kooperationsparmer
Sie wahrnehmen - bei sich und bei den Anderen in der Gruppe, was Sie denken
Sie, sich möglichst wenig zensiert zu äußern und mitzuteilen, was
des Therapeuten zu werden. Passives Verhalten ist dann nicht nur einer genuinen
und fühlen, was Ihnen im Verhältnis zu Mitpatienten in der Gruppe auffallt,
Passivität des Patienten und seiner Bereitschaft zu idealisieren geschuldet, sondern
was immer Ihnen gerade in den Sinn kommt, auch wenn Sie glauben, das sei
ist ebenso eine Folge der von Kostenträgern verordneten Eile des Therapeuten und
vielleicht unpassend oder gehöre nicht dazu. Nur achten Sie darauf, dass es die
somit eine von mehreren Seiten koproduzierte Haltung.
Grenzen dessen nicht überschreitet, was noch zu tolerieren ist - weder Ihre
Die Frage, warum der Therapeut die Teilnahme an einer psychoanalytisch-
eigenen Grenzen, noch die der anderen Anwesenden in der Gruppe.«
interaktionellen Gruppentherapie empfiehlt, kann einem Patienten, der wegen einer schweren Persönlichkeitsstörung behandelt wird, im Vorgespräch mit der
Dabei empfiehlt es sich, den Patienten anzuregen, sich die Situation in der Grup-
Begründung beantwortet werden, dass die Gruppentherapie gute Chancen bietet,
pe vorab einmal vorzustellen: Wie es voraussichtlich für ihn sein wird, wenn er im
gleichzeitig sowohl die innerseelische wie die zwischenmenschliche Seite von Pro-
Kreis von Mitpatienten in der Gruppe sitzt, die Anderen sehen und beobachten
blemen und Schwierigkeiten zu untersuchen und zu behandeln. Dabei liegt das
wird, seine Aufmerksamkeit auch auf sich selbst richtet; wenn sich Gefühle ein-
Schwergewicht in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppe noch mehr als in
stellen, Vorstellungen, Bilder, Gedanken und Erinnerungen, die sich auf ihn selbst
der Einzeltherapie auf dem Geschehen zwischen den Anwesenden. Dem Patienten
beziehen, andere, die sich auf Mitpatienten beziehen, wieder andere, die scheinbar
bietet sich hier die Möglichkeit, zusammen mit dem Gruppentherapeuten und
weder mit ihm selbst noch mit Mitpatienten noch mit dem Gruppentherapeuten
den Mitpatienten in der Gruppe zu verstehen, wie er erlebt und fühlt und sich
zu tun haben; oder wenn er sich zum Handeln gedrängt fühlt, aber statt dem nach-
dabei im Zusammensein mit Anderen verhält, wie sein Verhalten von den anderen
zugeben, das mit Worten zu verstehen geben soll; wenn ihm manches vielleicht
Anwesenden in der Gruppe erlebt wird, wie die Anderen ihrerseits ihm gegen-
banal erscheinen, anderes möglicherweise peinlich sein wird; wenn er das Gefühl
über erleben und sich ihm gegenüber verhalten, wie er umgekehrt das Verhalten
haben wird, dass nicht in die Gruppe gehöre, was ihn gerade beschäftigt, oder
der anderen Gruppenteilnehmer oder einzelner Anderer wahrnimmt und erlebt
nicht zu dem passe, worüber in der Gruppe gerade gesprochen wird; vielleicht
und sich auf deren Verhalten hin seinerseits verhält und so weiter. Die meisten
werde er dabei feststellen, dass sich Einwände und Hindernisse bei seiner Absicht
Patienten sind unmittelbar in der Lage, den potentiellen Nutzen zu sehen, den es
auftun, tatsächlich zu äußern, was sich bei ihm gerade im Augenblick einstellt.
für sie haben kann, das Zusammensein mit Anderen in der Gruppe genauer zu
In diesem Zusammenhang kann der Hinweis angeraten sein, insbesondere bei Pa- ~
226
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Vorbereitung des Patienten auf die Gruppentherapie
tienten, die dazu neigen, sich in selbstschädigender Weise zu überfordern, dass es wichtig ist, solche Einwände zu beachten und nicht einfach zu übergehen.
hungen in der Gruppe feststellen zu können. Darüber hinaus wird der Gruppen-
Auch die Grundregel für die Gruppentherapie kann im Hinblick auf die Problematik bei einzelnen Patienten und für spezifische Umstände variiert und ergänzt
therapeut von vornherein darauf hinweisen, dass es wichtig ist, die eigenen und die Belastbarkeitsgrenzen von Anderen im Auge zu behalten. Für die Empfehlung
werden. Bei strukturell gestörten Patienten, die sich nicht gut schützen können,
an die Patienten, sich möglichst unzensiert zu äußern, hat sich der Begriff »freie
kann es indiziert sein, sie dabei zu unterstützen, der Grundregel nur eingeschränkt
Interaktionsregel« eingebürgert, obwohl nicht klar ist, was »frei« zu interagieren heißen soll, ist Interaktion doch immer Verhalten im Kontext des Verhaltens von
ren Anwesenden in der Gruppe geht und was er meint, im Hinblick auf die Bezie-
zu folgen und möglicherweise so lange für sich zu behalten, was Angst oder stärkeres Unbehagen bereitet, bis für sie klar geworden ist, welcher Art die Gefahr ist, die
Anderen. Man kann sich unzensiert äußern oder sich ungehemmt verhalten, aber
sie bei der Vorstellung, sich unzensiert zu äußern, auf sich zukommen sehen. Pa-
man kann nicht allein bestimmen, wie man interagiert.
tienten, die dazu neigen, sich blind auszuliefern und eigene Belastbarkeitsgrenzen
Noch unerfahrene Therapeuten gehen unter Umständen davon aus, dass ein
zu überrennen, oder die nicht in der Lage sind, eigene Toleranzgrenzen auch nur
kurzer Hinweis genügt, damit die Patienten wissen, wie ihr Anteil an der gemein-
zu spüren, können aufgefordert werden, für die eigenen Bedenken und Ängste besonders aufmerksam zu sein, eventuell ergänzt um das Angebot des Therapeuten,
samen Arbeit in der Gruppentherapie aussehen soll. Sie sagen den Patienten, die an
seinerseits die Belastbarkeit des Patienten mit im Auge zu haben. Bei Patienten, die zu stärkerem Vermeiden neigen, ist es demgegenüber ratsam, sie darauf hinzuweisen, dass sie von der Gruppentherapie keinen Gewinn haben können, wenn sie etwaige Unannehmlichkeiten in der Gruppe nur vermeiden und versuchen
der bevorstehenden Gruppe teilnehmen, manchmal lediglich, dass sie möglichst alles mitteilen mögen, was ihnen einfällt. Ihnen fällt es unter Umständen schwer sich vorzustellen, wie unverständlich eine solche Aufforderung, sich unzensiert zu äußern, für die meisten Patienten sein muss. Tatsächlich haben die allermeisten strukturell gestörten Patienten keine Vorstellung davon, was es heißen könnte, für
müssen, jeder Schwierigkeit aus dem Weg zu gehen. Manche strukturell gestörte Patienten mit erheblicheren sozialen Ängsten haben insgeheim die Hoffnung, ihre
sein und sich anders zu äußern, als sie es aus ihrem Alltag gewohnt sind. Deshalb
Probleme könnten sich verändern lassen, ohne dass sie sich auch unangenehmen
ist es notwendig, die Empfehlung für das Verhalten in der Gruppe ausführlich
und manchmal beunruhigenden Erfahrungen im Zusammensein mit Anderen
genug zu erläutern und den Patienten möglichst anschaulich vor Augen zu füh~ ren.
stellen müssten. Demgegenüber ist es ratsam, Patienten, die von Gefühlen und Impulsen leicht überschwemmt zu werden drohen, darin zu unterstützen, von den Mitteln rational gesteuerter Kontrolle Gebrauch zu machen, soweit ihnen solche . Ressourcen zur Verfügung stehen. Strukturell gestörten Patienten gegenüber, die sich häufig von Affekten und Impulsen getrieben verhalten mit der Folge, dass
227
das eigene Erleben und Verhalten in Anwesenheit von Anderen aufmerksam zu
Zu den notwendigen Erläute{ungen gehört auch, dass der Gruppentherapeut die Patienten über seine eigene Rolle und seine eigene Beteiligung bei der gemeinsamen Arbeit in der Gruppe informiert. Manchmal erwarten Patienten, dass
Andere sich angesichts ihres häufig verletzenden, entwertenden und taktlosen Ver-
der Gruppentherapeut sowohl im Hinblick auf das Thema wie das MiteinanderUmgehen eine Führungsrolle übernimmt. Der Gruppentherapeut sollte dieser
haltens vor ihnen zurückziehen, ist es wichtig, mehr als bei anderen Patienten die
Erwartung schon bei der Vorbereitung der Patienten auf die Gruppentherapie
Notwendigkeit zu betonen, auf die Verletzbarkeiten, Schutznotwendigkeiten und
entgegentreten und nicht darauf hoffen, die Vorstellung des Patienten später in
Belastbarkeits- und Toleranzgrenzen der Mitpatienten in der Gruppe zu achten.
der Therapie als Ausdruck einer Übertragungsbereitschaft untersuchen und interpretieren zu können. Vielmehr sollte er möglichst unmissverständlich erläutern,
Unzensiertes Äußern
dass er keine Themen vorgibt, sondern dass es den Anwesenden in der Gruppe überlassen ist, wie und worüber sie sprechen. Da die Empfehlung lautet, sich
Der Patient soll in der Gruppe mitteilen, was immer er fühlt und denkt, welche
möglichst wenig eingeschränkt zu äußern, müssen die Patienten wissen, dass
Handlungsimpulse er bemerkt, aber auch, wie es ihm im Umgang mit den ande-
grundsätzlich alles zum Thema werden kann, auch Themen, die vielleicht un-
~
228
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Vorbereitung des Patienten auf die Gruppentherapie
wichtig und banal erscheinen, möglicherweise sogar unsinnig und unvernünftig,
teilnehmen, gelegentlich Tendenzen, unter Anwendung der Regeln, wie sie für
p~inlich
die Gruppentherapie gelten, die Gespräche in der Gruppe ohne den Therapeuten
oder komisch.
Weiter sollte der Gruppentherapeut hinsichtlich seiner Beteiligung die Patienten schon im Vorgespräch darauf hinweisen, dass er gelegentlich auch eigenes
fortzuführen. Um dem vorzubeugen, sollten die Patienten schon im Vorgespräch darauf hingewiesen werden, dass es nicht nur nicht günstig ist, von morgens bis
Erleben, eigene Gefühle und Beobachtungen mitteilen wird, wenn ihm das nütz-
abends über »Psycho-Themen« zu reden, sondern sogar schädlich und manchmal
lich erscheint. Um zu prüfen, welchen Gebrauch der Patient von antwortenden
unerträglich sein kann. Dies wird mit der Aufforderung verbunden, die Grup-
Interventionen machen kann, kann der Gruppentherapeut sich - soweit sich im
pengespräche auf die Sitzungen mit dem Therapeuten zu beschränken. Die Kommunikation unter den Patienten in den Zeiten außerhalb der therapeutischen
Vorgespräch dazu eine Gelegenheit ergibt - im Sinne der interaktionellen Arbeitsweise antwortend verhalten und dem Patienten damit unmittelbar erfahrbar machen, welcher Art seine gerade erläuterte Beteiligung an der therapeutischen
229
Aktivitäten sollte sich möglichst wenig von dem kommunikativen Verhalten unterscheiden, das im Alltag üblich ist.
Arbeit in der Gruppe häufiger sein wird. Verpflichtung zur Verschwiegenheit Belastbarkeitsgrenzen
Der Hinweis für die Patienten, die an der Gruppe teilnehmen, eigene und Belast-
Alles, worüber in der therapeutischen Gruppe gesprochen wird, sollte im Kreis derer bleiben, die an der Gruppe teilgenommen haben. Mit anderen Worten: Die
barkeitsgtenzen der anderen Anwesenden in der Gruppe ausreichend zu beachten,
Patienten sollten sich zur Verschwiegenheit verpflichten. Darauf im Vorgespräch
scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu der Empfehlung zu stehen, sich
ausführlich genug einzugehen, ist bei Behandlungen, die unter stationären Bedin-
möglichst uneingeschränkt zu äußern. Der Hinweis auf Belastbarkeitsgrenzen ist
gungen stattfinden, meist wichtiger als bei ambulanten Gruppenbehandlungen.
deshalb wichtig, weil die Empfehlung, sich möglichst unzensiert zu äußern, von
Hier begegnen sich die Patienten auch außerhalb der Gruppentherapie mehr oder
strukturell gestörten Patienten leicht missverstanden und für die Befriedigung eigener Bedürfnisse missbraucht wird. Der einschränkende Hinweis auf Belastbar-
weniger häufig, und in kleinen stationären Einrichtungen teilen sie große Teile des Alltags miteinander. Angesichts solcher Bedingungen liegt die Versuchung
keitsgrenzen bedarf - je nach im Vordergrund stehender Störung des Patienten -
nahe, in der Gruppentherapie begonnene Gespräche auch außerhalb der Therapie fortzusetzen und auch mit anderen Patienten darüber zu sprechen, die nicht an der Gruppe teilnehmen.
manchmal zusätzlicher Erläuterungen: Weil beispielsweise ängstlich-vermeidende Patienten den Hinweis auf eigene und auf Belastbarkeitsgrenzen Anderer gerne . als Aufforderung zu vermeidendem Verhalten missverstehen, sollte der Therapeut darauf entweder ganz verzichten oder aber betonen, dass Belastbarkeitsgrenzen zu beachten nicht bedeute, etwaige Schwierigkeiten und Spannungen ängstlich
Beim gemeinsamen Essen am Tag nach der Gruppentherapie waren einige Patienten Zeuge von Gesprächen, die am Nachbartisch von Patienten einer an-
zu meiden. Bei Patienten, die zu impulshaftem Verhalten neigen, empfiehlt es
deren Station geführt wurden. Dabei mussten sie plötzlich hören, was in ihrer
sich umgekehrt, die Notwendigkeit, Belastbarkeitsgrenzen zu beachten, besonders
Gruppe am Vortag vermeintlich »gelaufen« sei, und tatsächlich wurden selbst
nachdrücklich zu betonen. Findet die Gruppentherapie im stationären Rahmen statt, informieren sich die
einzelne Äußerungen, die in der Gruppentherapie gefallen waren, am Nachbartisch teilweise wörtlich zitiert.
Patienten häufiger auch untereinander, wie in der Gruppe therapeutisch gearbeitet wird, auch wenn sie außerhalb der Gruppe nichts darüber mitteilen soll-
Solche Erfahrungen können zur Folge haben, dass das wechselseitige Vertrauen in
ten, was Inhalt der Gespräche in der Gruppe gewesen ist. Darüber hinaus gibt es
einer Gruppe über lange Zeit hinweg gestört bleibt und wichtige Themen vermie-
unter stationären Bedingungen bei den Patienten, die an der Gruppentherapie
den werden. Wenn die Patienten selber solche Regelverletzungen nicht von sich ~
~30
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Funktionen im Prozess des Aushandelns normativer Regulierungen
aus ausdrücklich thematisieren, muss der Gruppentherapeut das übernehmen,
Funktionen im Prozess des Aushandelns normativer Regulierungen
um den Rahmenbedingungen, die Voraussetzung für die gemeinsame therapeutische Arbeit sind, Geltung zu verschaffen. Unterlässt er das, droht die Schutz und Halt vermittelnde Funktion des Rahmens untergraben zu werden. Im ambulanten
Weil es Patienten mit strukturellen Störungen oft nicht gelingt, mit ausreichendem
Rahmen stellt sich die Notwendigkeit zur Verschwiegenheit vor allem dann we-
innerem Abstand ihre eigene Beteiligung an den dysfunktionalen, destruktiven und traumatisierenden interpersonellen Zirkeln zu erkennen, in die sie immer
niger dringlich, wenn die Patienten sich außerhalb der Gruppentherapie nicht
wieder hineingeraten, ist es oftmals günstig, wenn der Therapeut in der Gruppe
begegnen und im Alltag keine Berührungspunkte miteinander haben. Wie bei der Vorbereitung auf eine Einzeltherapie, so ist es auch nach einem
auch im Hinblick auf die normative Regulierung interaktiven Verhaltens HilfsFunktionen übernimmt und sich in den Prozess des »Verhandelns« von sozialen
vorbereitenden Gespräch für die bevorstehende Gruppentherapie nützlich, wenn
Normen einschaltet. Das geschieht mit dem Ziel, erkennbar werden zu lassen,
der Therapeut den Patienten am Ende seiner Erläuterungen bittet, ihm zu sagen,
welche verhaltens- und beziehungseinschränkende Wirkung die normativen Re-
wie seine Hinweise verstanden wurden, damit er sicher sein kann, dass er sich ver-
gelungen haben, die die Patienten in der Gruppe ins Feld führen und an denen
ständlich genug ausgedrückt hat. Die Patienten verstehen auch die Empfehlungen
sie sich orientieren, und welche interpersonellen und psychischen Folgen damit einhergehen. Der Gruppentherapeut weist damit gleichsam darauf hin, welcher interpersonelle Preis zu zahlen ist, wenn sich bestimmte soziale Normen durch-
für die Arbeit in der Gruppe häufig ganz anders als beabsichtigt, so dass weitere Erläuterungen erforderlich sind.
231
setzen. Seine Interventionen sind darauf ausgerichtet, dass einschränkende soziale Normen in der Gruppe allmählich aufgegeben und durch Normen ersetzt
Funktionen des Therapeuten in der Gruppe
werden können, die auch komplexere und differenziertere Beziehungen zulassen und unterstützen. Dass der Gruppentherapeut eine aktive Rolle im Prozess des Verhandelns normativer Regulierungen übernimmt, ist besonders dann angezeigt,
Die Haltung des psychoanalytisch-interaktionell arbeitenden Gruppentherapeuten entspricht der in der Einzeltherapie. Auch in der Gruppe nimmt der Therapeut
wenn die Gruppenmitglieder hartnäckig an einschränkenden, Weiterentwicklung
als präsenter Mitakteur am Geschehen teil und verhält sich authentisch und emotional akzeptierend. Über die Funktionen hinaus, die er in der Einzeltherapie hat,
behindernden Normen festhalten. An den sozialen Normen, die in der Gruppe zur Geltung gebracht werden, lässt
und neben der spezifischen Art und Weise des Therapeuten, am therapeutischen
sich oftmals - zumindest in Ausschnitten - etwas von dem Charakter der sozialen Welt erkennen, in der sich die Patienten mit strukturellen Störungen in ihrem
Gespräch teilzunehmen, übernimmt der Therapeut in der Gruppentherapie zu. sätzliche Aufgaben und Funktionen, die sich aus dem besonderen Charakter der
Alltag bewegen.
therapeutischen Arbeit im Gruppensetting herleiten (siehe »Materialien für den klinischen Gebrauch« - »Schwerpunkte in der psychoanalytisch-interaktionellen
In einer therapeutischen Gruppe von Patienten mit überwiegend dependenten
Gruppentherapie« im Anhang S. 288 ff.). Dazu gehört auch die Funktion, auf-
und ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörungen wurde über mehrere
zuzeigen, wie interpersonelle Beziehungen in der Mehr-Personen-Situation der
Stunden hinweg unter dem Einfluss von Spaltungs- und Externalisierungs-
Gruppe reguliert werden. Im Prozess des Verhandelns von Regeln und Normen
mechanismen ein lähmendes Milieu von Friedfertigkeit, jegliche Spannung
unterstützt der Therapeut progressive Normen, die Entwicklung ermöglichen.
vermeidender» Harmonie« und Kritiklosigkeit aufrechterhalten. Die implizite soziale Norm schien der Erwartung zu folgen, dass die Anwesenden in der Gruppe sich ausnahmslos gut verstehen und in jeder Hinsicht übereinstimmen sollten. Vereinzelte Versuche, Unterschiede zu machen und damit Prozesse der Differenzierung einzuleiten, blieben erfolglos. Abweichungen von der norma-
~
!32
7 . Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Das Gespräch in der Gruppentherapie
tiven Erwartung allseitiger Übereinstimmung wurden mit bagatellisierenden
sen dazu zu vermitteln, wie interpersonelle Beziehungen üblicherweise reguliert
»Umdeutungen«, mit mehr oder weniger subtilen körperlich-gestischen Si-
werden. Wenn die Patienten wissen, wie das wechselseitige Verhalten in der Grup-
gnalen der Missbilligung und Verachtung, mit versteckten Drohungen oder mit Schweigen sanktioniert und unterbunden. Auf diese Weise wurde die
pe miteinander verschränkt ist, kann sich das gelegentlich ausgesprochen ent-
Gültigkeit der Übereinstimmung sichernden Norm bestätigt und bekräftigt. Die Anwesenden in der Gruppe konnten sich so der illusionären Überzeugung
233
wicklungsfördernd auswirken. Die Funktion des Gruppentherapeuten ist dabei mit der eines Lehrers vergleichbar. Im günstigen Fall wird für die Patienten trans,.. parent, in welcher Weise ihr eigenes Verhalten spezifische Wirkungen auf andere
überlassen, sich in der Gruppe unter »nur guten« Menschen zu bewegen, die
Anwesende in der Gruppe hat. Das zu betonen, mag auf den ersten Blick trivial
einander in ungestörter Harmonie nahe sind. Unterschiede und Differenzie-
erscheinen. Tatsächlich fehlt Patienten mit schweren strukturellen Störungen und
rungen und damit soziale Situationen, die potentiell Neid, Missgunst und destruktive Impulse hätten wecken können, wurden vermieden. Es gab gleichsam
Persönlichkeitsstörungen aber oft jedes Gefühl für die interpersonelle Wirkung ihres Verhaltens. Sie geraten wieder und wieder in destruktive oder missbrauchen-
keinen Grund, sich ein differenziertes Bild voneinander zu machen, sich zu
de Kollusionen, ohne erkennen zu können, wie sie selbst mit ihrem Verhalten
beurteilen, Kritik aneinander zu üben oder gar »Böses« bei sich und Anderen
daran beteiligt sind und dazu beitragen. Wenn es ihnen möglich wird, aus relativer
zu sehen. An dieser restriktiven Norm wurde hartnäckig festgehalten. Deshalb
Distanz - und sei dies vorerst eine nur kognitive Distanz - solche Interaktionszir-
sah der Gruppentherapeut es schließlich als notwendig an, die Norm in Frage
kel zu erkennen, steht das manchmal am Anfang eines Weges, über den die sich
zu stellen, und brachte zum Ausdruck, dass er »Harmonie« durchaus angenehm finden könne, sich angesichts des derzeit in der Gruppe geltenden Harmonie-
wiederholenden Zirkel schließlich unterbrochen werden können.
und Übereinstimmungsgebotes, das ihm wie ein Kritikverbot vorkomme, aber . ziemlich eingeengt fühle. Zwei Patienten in der Gruppe schienen erleichtert
Das Gespräch in der Gruppentherapie
aufzuatmen und deuteten an, dass es ihnen schon seit geraumer Zeit ähnlich ergehe. Da jedoch ein Verhalten, das gegen geltende Normen verstößt, mit der
In therapeutischen Gruppen manifestieren sich die Beeinträchtigungen von Pa-
Gefahr einhergeht, in der Gruppe zumindest vorübergehend zum Außensei-
tienten mit strukturellen Störungen im Zusammensein mit Anderen nicht nur im Verhältnis zum Therapeuten, sondern auch in den Beziehungen zu den anderen
ter zu werden, hatten sie nicht gewagt, gegen die Gruppennorm Stellung zu beziehen. Mehrere andere Gruppenteilnehmer verharrten in unbeweglichem
Gruppenmitgliedern. Für strukturell gestörte Patienten ist es nicht möglich, zwi-
schädlich zu machen. Nach und nach geriet deren Gültigkeit durch die Initia-
schen Übertragung und realer Beziehung zu unterscheiden und mit der gleichen Person, der gegenüber oftmals intensive u~d heftige Affekte empfunden werden,
tive des Therapeuten ins Wanken, und neue Regeln, die sich jetzt auch auf den
auch über die gemeinsame Beziehung nachzudenken. Die Pluralität der Übertra-
Umgang mit in der Gruppe vorhandener Kritik beziehen mussten, wurden »verhandelt«.
gungen in der Gruppe lässt manchmal mehr Bewegungsspielraum als dyadische Behandlungssituationen, um auf das interpersonelle Geschehen hinzublicken, das
Schweigen und versuchten so, die Wirkung der Infragestellung der Norm un-
Erläuterungen zur Regulierung interpersoneller Beziehungen
die Patienten selbst mitgestalten. Deshalb kann sich in einer Gruppe ein therapeutischer Raum des gemeinsamen Erforschens sich wiederholender Beziehungserfahrungen unter Umständen eher als im Einzelsetting eröffnen, wo sich die
mals nur sehr eingeschränkte Erfahrungen mit sozialen Beziehungen haben, die
Übertragung ausschließlich auf den Therapeuten konzentriert. Der diagnostische Blick des Therapeuten richtet sich in der Gruppe sowohl
von Reziprozität bestimmt sind, kann es manchmal therapeutisch nützlich sein,
auf Aspekte der Selbstregulierung bei den einzelnen Patienten als auch auf die
den Patienten auch mit Hilfe von Erläuterungen umschriebenes kognitives Wis-
Regulierung von Interaktion sowie die interpersonellen Verhältnisse, die zwischen ~
In der Gruppenbehandlung von Patienten mit strukturellen Störungen, die oft-
234
Das Gespräch in der Gruppentherapie
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
den Patienten gestaltet werden und sich im Schnittpunkt von aktualisierten Ob-
jedoch nur eine jüngere Patientin rechtzeitig erschienen. Alle anderen Patienten
jektbeziehungen bzw. Teilobjektbeziehungen, psychischen Fähigkeiten bzw. Einschränkungen und interaktivem Aushandeln entwickeln. Wie in kaum einem an-
waren entweder sehr viel später oder gar nicht gekommen.
deren therapeutischen Setting besteht in der Gruppe die Möglichkeit, gleichzeitig sowohl das individuelle intrapsychische Erleben der je einzelnen Patienten als auch die interpersonellen Beziehungen und damit das Zusammenspiel von innerer und interpersoneller Realität zu untersuchen. Die antwortenden Interventionen beziehen sich in der Gruppentherapie auf
Zur therapeutischen Gruppe gehören neben Frau A. weiter Frau B. (Anfang 40), die wegen besonderer Umstände übermüdet war; sie schwieg durchgehend und hatte bisweilen Mühe, ihre Augen offen zu halten, schien aber auch nicht bemüht zu sein, ihre Müdigkeit vor den Anderen zu verbergen; weiter Frau C. (Mitte 35), eine Patientin mit einer Borderline-Störung; Frau D., eine junge
zeltherapie antwortet der Therapeut entweder aus einer identiHkatorischen oder
Patientin, ebenfalls mit einer Borderline-Störung; die depressive Patientin Frau E. (Anfang 50); Frau F., eine Borderline-Patientin mit einer spätadoleszenten
aus einer komplementären Position heraus. Dementsprechend kommt in den
Entwicklungskrise; Frau G. (Ende 30), bei der die Diagnose »schwere depres-
Antworten in erster Linie zum Ausdruck, wie der Therapeut an Stelle einzelner oder mehrerer Patienten erleben und handeln würde, oder welche Wirkungen das
sive Episode, Suizidalität« lautete; Herr H., ein junger Student mit einer nar-
einzelne Patienten, auf Subgruppen oder auf die gesamte Gruppe. Wie in der Ein-
235
Verhalten einzelner oder mehrerer Patienten in der Gruppe oder auch der ganzen
zisstischen Störung auf Borderline-Niveau; Herr I. (Anfang 50), der aufgrund der Dekompensation einer schizoiden und anankastischen Persönlichkeitsstö-
Gruppe auf das Erleben des Therape~ten und auf dessen Handlungsbereitschaften hat. Weiter bringen Antworten in der Gruppe zum Ausdruck, wie aktuell geltende
mit einer Persönlichkeitsstörung auf Borderline-Niveau.
rung in eine Krise geraten und suizidal geworden war, und Herr K. (Mitte 40)
Situationsdefinitionen und insbesondere Normen erlebt werden und welche interpersonellen Folgen zu erwarten sind, wenn die ins Auge gefassten Regeln sozialen Verhaltens durchgesetzt werden. Schließlich können Antworten deutlich machen,
Ich fand das wirklich beschissen, dass Ihr
wie einzelne oder mehrere Patienten mit ihrem Verhalten zu dysfunktionalen in-
FrauA. (leise,
terpersonellen Zirkeln im Zusammensein mit Anderen in der Gruppe beitragen.
sachlich)
war da, niemand ...
Th.
(Schweigen) Ganz schön ärgerlich, wenn man so hän-
mich da habt sitzen lassen. Kein Mensch
dass die Patienten, die alle auf der gleichen Station untergebracht waren, weitge-
Der Therapeut spricht indem er sich an Frau A. adressiert - den Umstand an, dass die Gruppenmitglieder sie in diesem Moment ein weiteres Mal
hend unbezogen und abweisend miteinander umgehen und weitgehend desin-
»hängenlassen«.
Der »Austausch von Worten« in der Gruppe
gengelassen wird und niemand auch nur reagiert, oder?
Die folgende kurze Sequenz aus einer psychoanalytisch-interaktionellen Gruppen.therapie, die im stationären Rahmen stattfand, zeigt, wie eine normative Regelung »verhandelt« wird. In der vorangegangenen Gruppenstunde hatte sich angedeutet,
teressiert aneinander zu sein scheinen. Das Bemühen des Gruppentherapeuten,
FrauA.
die Art und Weise. des Umgangs miteinander anzusprechen, schien wirkungslos
Frau C.
Ich bin einfach sauer. Ich war davon ausgegangen, dass der
Mehrere Patienten »begründen« nacheinander,
geblieben zu sein. Am Abend zuvor hatten die Patienten verabredet, sich zu tref-
Termin verschoben worden iss, weil ...
fen, um eine gemeinsame Aktivität zu besprechen. Einige junge Patienten hatten
da sind doch mehrere erst kurz vor sechs
vehement die Idee vertreten, mit Hilfe einer Videokamera einen »Zombie-FÜm«
zum Essen gekommen. Die haben sich
weshalb sie zu dem flr den Abend verabredeten
zu gestalten. Zum verabredeten Termin war trotz anders lautender Verabredung
da in aller Ruhe an den Tisch gesetzt. Da
Treffen nicht oder ver-
.-.
236
7 . Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Das Gespräch in der Gruppentherapie
hab ich natürlich gedacht, dass das nicht stattfindet.
spätet erschienen sind, die
in ihrem Verhalten mit,
Mehrzahl mit ihrerjeweils
identifiziert sich aber zu-
(Schweigen)
individuellen augenblick-
gleich mit der Patientin,
lichen Bedürfnislage. Die
die man hat sitzen lassen.
Gruppe konstelliert sich
Frau D.
schreiben. Aber das war überhaupt nicht
Angeklagten.
gegen Dich gerichtet. (Schweigen) Ich fand das schon heute morgen blöd.
Ich wollte noch essen, ich hatte ja noch Frau C.
aber nicht, dass ich da nicht da war, dass
Da hatte ich nur gar keine Möglichkeit
ich dich nicht mögen würde.
gesehen, das zu sagen. Ich wollte da ja nicht als Spielverderberin dastehen.
Ich weiß gar nicht, warum Du sauer bist. Du änderst Deine Meinung doch auch. Ich ändere meine Meinung jedenfalls öfter. Da hab ich doch auch ein Recht dazu, zu machen, wonach mir ist.
Herr I.
Herr H drückt die imAugenblick geltende Grup-
Herr K.
pennorm am deutlichsten aus, .. der zufolge die je-
ich hatte einfach keinen Bock mehr da
weilige momentane Be-
tig essen. (Schweigen)
bestimmt; Verabredungen
Wenn ich morgens Lust habe, abends ins
sind nicht verbindlich,
Kino zu gehen, und abends keinen Bock
sondern treten wie selbst-
mehr drauf habe, dann geh ich doch
verständlich zurück, wenn
auch nicht am Abend ins Kino. Scheint ja so, dass . an erster Stelle gilt,
Herr H.
Th.
wonach einem im Augenblick zu Mute
Ich hab da aber noch beim Essen gesagt,
ist, allenfalls an zweiter Stelle, was man
dass wir dann rübergehen müssen. Aber
miteinander verabredet hat. Da würde ich mich wahrscheinlich nicht verabre-
das hat dann ja niemanden interessiert. Ich fand das sowieso bescheuert, dass
Der Therapeut bringt die im Augenblick geltende Gruppennorm zur Sprache.
den. Ich verstehe das gar nicht. Muss man sich
Hier deutet sich an, dass
Ich finde das eine blöde Idee, ich hab da
denn immer zwanghaft da dran halten,
Herr K, dessen zwang-
überhaupt keine Lust zu. Mir war nicht so gut. Ich kann Dich aber
wenn man was verabredet hat?
hafte Starre ihm viele
ihr das mit diesem Video machen wollt.
FrauE.
drauf. Ich weiß gar nicht, was Ihr alle habt.
dürfnislage das Verhalten
sich ändert.
Fraue.
Also, ich wusste das schon, dass Du wartest. Wir hatten das ja verabredet. Aber
Ich wollte da auch erst noch in Ruhe fer-
das individuelle Bedürfnis
Herr I.
Ich musste da noch einen Brief fertig
zwischen Anklägerin und
nicht gegessen. (Zu Frau A.) Das heißt
Herr H.
Frau G.
Herr K.
Probleme bereitet, for eine
verstehen, dass Du Dich geärgert hast.
Frau E. hat eine gebro-
Ich hab die Verabredung auch nicht ein-
chene
gehalten. (Schweigen)
dieser impliziten Grup-
Einstellung . zu
pennorm: sie vertritt sie
» Willkürlösung« plädiert.
237
238
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Wiederkehrende Themen in der Gruppentherapie
Wiederkehrende Themen in der Gruppentherapie
239
strukturellen Störungen mit erheblichen sozialen Angsten einhergehen, schlecht beurteilt und für dumm und hässlich gehalten, zurückgewiesen und beschämt zu
In therapeutischen Gruppen werden annähernd regelhaft ähnliche Probleme
werden und sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Andere Patienten werden von
aktuell, für die unter den Gruppenteilnehmern Lösungen gefunden und »verhandelt« werden müssen. Ob diese manifesten Probleme zu einem besonderen
Verschmelzungssehnsüchten überflutet, wenn die idealisierten fremden Anderen
Schwerpunkt der Aufmerksamkeit von Therapeut und Patienten oder eher als
Erlösung und Erhöhung versprechen. Sind die Ängste schwer erträglich, wird Annäherung auf ein Minimum beschränkt. Auf der anderen· Seite werden Ängste
randständig behandelt werden, weil andere Bereiche für therapeutisch wichtiger
oftmals verleugnet. Insbesondere Patienten mit narzisstischen oder mit einer Bor-
erachtet werden, ist eine Frage des Konzepts der jeweiligen Gruppenmethode. In
derline-Persönlichkeitsstörung laufen dann leicht Gefahr, ohne jeden Vorbehalt
der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie werden Probleme des Zu-
auch intime Details von sich preiszugeben, noch bevor sie auch nur annähernd
sammenseins mit Anderen angesichts der besonderen Beeinträchtigungen struk-
wissen, mit wem sie es in der Gruppe zu tun haben.
turell gestörter Patienten als besonders bedeutsam aufgefasst und therapeutisch aufgenommen.
Eine nicht minder wichtige Rolle spielt in therapeutischen Gruppen - oft in vielfaltigen Varianten wiederkehrend - die Frage, was man tun kann, falls in der
In der Anfongsphase therapeutischer Gruppen spielt häufig die Frage eine große Rolle, ob man überhaupt und wie man zueinander in Kontakt treten will. Dabei liegt für viele Patienten ein erhebliches Problem darin, einen ersten Schritt auf
Gruppe aggressive Gefühle und Handlungsbereitschaften geweckt werden, Antipathie, Ablehnung, Neid, Missgunst und Verachtung. Die Aussicht, dass das geschehen könnte, wird um so bedrohlicher erlebt, als viele Patienten keine Abstufungen
eine fremde andere Person zuzugehen. Wird der Therapeut unter solchen Umständen nicht von sich aus initiativ, kann es sein, dass die Patienten in der Gruppe
auf der Skala aggressiver Gefühle und Impulse kennen. Mittel mit dämpfender
über lange Zeit hinweg jegliche Kontaktaufnahme vermeiden. Solche lang hingezogenen Phasen des Vermeidens haben meist keinen großen therapeutischen Nutzen. In Verbindung damit wird implizit, manchmal auch explizit häufig über das Problem verhandelt, wie »offen« man im Umgang miteinander sein kann, wie
Wirkung und andere Ablenkungsmöglichkeiten, die viele Patienten als Teil ihrer Pathologie vor der Behandlung verwendet haben, stehen nicht zur Verfügung; und statt psychischer und interpersoneller Bewältigungsformen suchen sie physische Fluchtmöglichkeiten, die in der Gruppe aber nicht in Aussicht stehen. Manchmal wird über aggressives Verhalten lange und intensiv geredet, über zerstöre-
enswürdig ist oder nicht. Oft erleben strukturell gestörte Patienten die fremden
rische Ereignisse und deren gravierende Folgen, die sich außerhalb der Gruppe ereignet haben, während es in der Gruppe selber ganz und gar friedfertig bleibt. Die Gefahr, »Böses«, insbesondere aggressives und destruktives Verhalten, könnte
. Anderen über lange Zeit hinweg wie bedrohliche und übermächtige feindselige
sich innerhalb der eigenen Reihen bemerkbar machen, soll mittels Projektion auf
Teilobjekte, und sie finden von sich aus keinen Weg, sich die fremde andere Person vertrauter zu machen. Manchmal wird das Problem dadurch »gelöst«, dass
Objekte außerhalb der Gruppe gebannt werden. Die Teilnehmer in der Gruppe werden per Situationsdefinition und Normen auf Übereinstimmung, Harmonie
die fremden Anderen idealisiert werden: Obwohl noch gänzlich unbekannt, ist
und Zustimmung verpflichtet, während Antipathie und Kritik geächtet werden.
die Gewissheit groß, dass die fremde Person »nur gut« ist, keine bösen Absichten
Abweichler von dieser Norm werden ignoriert und sehen sich der Gefahr ausge-
hegt, eine Person, der man blind vertrauen kann, sodass die schwierige Frage, wie
setzt, sozial isoliert zu werden.
Vertrauen entstehen kann und woran zu erkennen ist, ob eine Person vertrau-
viel Vertrauen dieser konkreten Person gegenüber begründet ist, ad acta gelegt werden könnte. So soll das Problem, zu dessen adäquater Bewältigung psychische
In Gruppen mit paranoiden, Borderline- und antisozialen Persönlichkeitsstö-
Funktionen nicht ausreichend verfügbar sind, per Situationsdefinition geleugnet werden.
rungen besteht umgekehrt die Gefahr, dass implizite Normen »das Recht des Stärkeren« proklamieren und destruktives Verhalten legitimieren. Die Verab-
Die Vorstellung, auf einen fremden Anderen zuzugehen, kann bei Patienten mit
redungen einschließlich der Empfehlung, eigene und die Toleranzgrenzen der
~
240
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Anderen im Auge zu behalten, drohen in Vergessenheit zu geraten und die The-
Wiederkehrende Themen in der Gruppentherapie
ten, der zufolge »das uneingeschränkte Recht des Schwächeren« gelten soll: Wer
rapie zur Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse und antisozialer Impulse miss-
»schwach« ist, Angst hat, sich verletzt zeigt oder depressiv ist, bestimmt, was in
braucht zu werden. Solche Gruppen haben einen großen Entwicklungsschritt
der Gruppe sein darf und was vermieden werden muss. Eine derartige implizite
zurückgelegt, wenn sie für den Umgang mit destruktiven Impulsen Normen in
Norm führt leicht zu einer Sanatoriumsatmosphäre, die von regressiven Normen und von vermeidendem Verhalten geprägt wird.
Aussicht nehmen, die einen »sozialeren« Charakter haben und die Realität des Anderen mit dessen eigenen Verletzbarkeiten in den Blick nehmen. Manchmal werden für die »Verhandlungen« über die Frage des Umgangs mit aggressiven Gefühlen und destruktiven Impulsen Bilder verwendet: wenn dann aus einem
Regelmäßig muss in der Gruppe auch eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie viel und welche Art von Intimität untereinander möglich sein soll. Wünsche nach Intimität werden in therapeutischen Gruppen mit Patienten mit
»Vulkanausbruch«, von dem eben noch die Rede war, ein »Boxkampf« wird, aus
strukturellen Störungen selten geäußert. Weil der Andere als eigene Person in ihrer
einem nicht zu steuernden, höchst bedrohlichen eruptiven Ereignis ein zwar
spezifischen Individualität nicht erlebt werden kann und reziproke Beziehungen nicht möglich sind, stehen scheinbar »offenes« Reden über Sexualität oder schein-
immer noch gefahrlicher, aber immerhin nach sportlichen Regeln geführter Kampf, in dem Schläge unter die Gürtellinie geahndet werden, kann das ein Hinweis darauf sein, dass an die Stelle von Teilobjektbeziehungen vergleichs-
bare Intimität beispielsweise im Dienst von Bemächtigungs- und Kontrollbedürfnissen und dienen in Wirklichkeit der Vermeidung von Nähe.
weise differenziertere Selbst-Objekt-Beziehungen getreten sind: der Andere soll besiegt, aber nicht mehr vernichtet werden.
Häufig soll Sicherheit in der Gruppe dadurch erreicht werden, dass Unter$chiede untereinander verleugnet werden. Dann werden Situationsdefinitionen und Normen vertreten, die Gleichheit (»wir sitzen alle in einem Boot«) und Unterschieds-
Eine weitere Gefahr, die ebenfalls vor allem in der Anfangsphase therapeutischer
losigkeit (»ob Mann oder Frau, das ist doch egal«) proklamieren. An solchen »ho-
Gruppen mit strukturell gestörten Patienten groß sein kann, bezieht sich auf
mogenisierenden«, Unterschiedslosigkeit behauptenden impliziten Normen wird
Kränkungen - in erster Linie in Form der Gefahr, gekränkt zu werden, aber auch
meist solange festgehalten, wie es als zu ängstigend erlebt wird, sich in der Gruppe
der Gefahr, sich selber kränkend zu verhalten. Einige Patienten wollen sich »ohne
mit dem Verlangen nach Macht und Einfluss, mit Neid und Missgunst und mit Konkurrenz und Rivalität zu konfrontieren.
Rücksicht auf Verluste« mitteilen; dass sie selber kränkbar sind, wird verleugnet. Eigene Grenzen werden nicht gespürt, und die von Anderen können nicht wahrgenommen werden. Wenn Toleranzgrenzen überschritten wurden, kommt das
Schließlich müssen in der Gruppe regelhaft Lösungen dafür gefunden werden, wie der Umgang mit unvermeidlichen Trennungen geregelt werden kann. Für viele
meist in Zeichen von Erstarrung zum Ausdruck, in Fluchtverhalten oder in wü-
strukturell gestörte Patienten bedeutet Trennung Objektverlust, geht mit einer
tenden Gegenangriffen.
Devitalisierung des Selbst, mit Selbstentwertung und mit Selbsthass einher und
vorhersehbar, unberechenbar und willkürlich werden könnte. Sie meiden jede
droht, selbstschädigendes Verhalten nach sich zu ziehen. Werden Trennungen real, sollen vordergründige Tröstungsversprechen (»wir können uns jederzeit anrufen«)
eigene Initiative und jedes eigene Urteil, vor allem ängstlich-vermeidende und
vor Leeregefühlen und Niedergeschlagenheit schützen. Gefühle werden verleug-
manche Borderline-Patienten. Für schizoide, schizotypische, paranoide und nar-
net oder als »albern« und »Getue« abgewertet. Manchmal sollen rituelle Aktivi-
zisstische Patienten kann allein schon der Umstand, dass sie den körperlichen
täten wie gemeinsame Abschiedsessen, der Austausch von Geschenken oder kleine
Abstand zu Anderen nicht autark regeln können, zu erheblicher Anspannung füh-
Feiern Trennungen zu bewältigen helfen.
Andere Patienten befürchten, dass das Geschehen in der Gruppe gänzlich un-
ren. Dependente Patienten meiden manchmal jegliche Annäherung angesichts der Gefahr, dass sie sich irgendwann wieder trennen müssen. In Gruppen, die alles »Böse« per Projektion und Externalisierung aus dem eigenen Kreis fernzuhalten versuchen, wird häufig eine implizite Norm vertre-
241
242
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Spezielle Probleme während der Gruppentherapie
Indikation und Kontraindikation
rapeutisch behandelt werden, versuchen, ihnen schwierig erscheinende Themen
Weil sich die Beeinträchtigungen strukturell gestörter Patienten so häufig als »Stö-
angesprochen werden, die ihnen unproblematisch erscheinen. Das ist einer der Gründe, warum es wichtig ist, dass Einzel- und Gruppentherapeut gut kooperie-
243
nur in der Einzeltherapie zu besprechen, während in der Gruppe nur Themen rungen des Sozialen« manifestieren, kann die Behandlung in der Gruppe, wo der Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit gleichzeitig auf subjektivem Erleben und interpersonellem Verhalten liegt, besonders effektiv sein. Viele Patienten, ins-
ren und sich über die gemeinsamen Patienten in ausreichend dichten Abständen
besondere P~tienten mit komplexen Störungen, leiden zusätzlich an erheblichen
austauschen. Nicht die Möglichkeit der Trennung von für Einzel- bzw. Grup-: pentherapie geeigneten bzw. ungeeigneten Themen macht deren Kombination
sozialen Ängsten, und auch hinsichtlich der sozialen Ängste kann die Therapie in
sinnvoll, sondern die Möglichkeit, in der Einzeltherapie unbewusste intrapsy-
der Gruppe wirkungsvoller sein als die Behandlung im Einzelsetting. Aber nicht
chische Aspekte einer Problematik vertiefend zu bearbeiten, die vielfaltigen inter-
alle Patienten können zur Behandlung in der Gruppe motiviert werden. Bei manchen Patienten sind Scham und Angst im Zusammensein mit Anderen so groß,
personellen, interaktiven Aspekte der gleichen Problematik demgegenüber in der Gruppentherapie.
dass sie es nur unter großer Anspannung aushalten können, sich in Gegenwart von Anderen auch nur aufzuhalten, ohne in der Lage zu sein, an der Gruppe aktiv teilzunehmen. Bei solchen Patienten mit massiven generalisierten sozialen Ängsten müssen manchmal besondere Absprachen vereinbart und Angst mindernde vorbereitende Maßnahmen getroffen werden, damit sie an der therapeutischen Gruppe teilnehmen können. So kann es beispielsweise hilfreich sein, mit sehr ängstlichen Patienten jeweils vor einer Gruppensitzung bestimmte Schritte zu verabreden, die in der bevorstehenden Sitzung gegangen werden sollen, und im Nachgespräch die jeweiligen Erfahrungen gemeinsam mit dem Patienten auszuwerten. Die Indikation zur Gruppentherapie wird häufig an die Voraussetzung gebunden, dass die Patienten in ihrem Alltagsleben zumindest einige Erfahrungen damit haben, sich in Gruppen aufzuhalten (z. B. König, Lindner 1991). Demgegenüber
Spezielle Probleme während der Gruppentherapie Gefährdung des Rahmens
Wenn ein Patient in der Gruppentherapie die verabredeten Rahmenbedingungen nicht einhält, ist damit für alle Patienten in der Gruppe und den Gruppentherapeuten immer auch die Frage aufgeworfen, wie stabil und unverbrüchlich der Rahmen ist. Das Agieren eines Patienten oder der willkürliche Bruch von Verabredungen und die Überschreitung des vereinbarten Rahmens sind deshalb nie nur dessen Agieren und dessen abweichendes Verhalten, sondern ist immer Verhalten in Anwesenheit von Anderen, die dessen Zeuge sind. Damit steht in solchen Situationen unvermeidlich die Frage mit im Raum, welche Folgen das Agieren oder der
kann man immer wieder feststellen, dass auch Patienten, die in ihrem Alltag
Bruch von Verabredungen haben. Mit der Art und Weise, wie er damit umgeht,
Gruppen ebenso wie nähere einzelne Kontakte zu bis dahin unbekannten anderen Menschen weitgehend gemieden haben, nach Abschluss der Gruppentherapie
nimmt der Gruppentherapeut deshalb nicht nur zu diesem einen Patienten Stellung, der solches Verhalten zeigt, sondern bekundet gleichzeitig vor allen anderen
davon berichten, dass sie sich deutlich sicherer als zu Beginn fühlen und sich inzwischen zutrauen, sich ohne zu große Anspannung unter anderen Menschen
und für alle anderen Patienten in der Gruppe, wie er dazu steht, wenn Vereinbarungen nicht eingehalten werden und mit welchen Folgen von seiner Seite zu
aufzuhalten. Das kommt selbst bei Patienten vor, die sich in der therapeutischen
rechnen ist. Somit steht der Gruppentherapeut jetzt gleichsam auf dem Prüfstand,
Gruppe aktiv nur wenig beteiligt haben. Bei der Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen im stationären
ob und wieweit er die Unverbrüchlichkeit des Rahmens tatsächlich garantieren
Rahmen hat sich die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie seit Langem
in der Gruppe die Sicherheit gewährleistet ist, die der Rahmen verbürgen soll.
kann, wie verbindlich die mit ihm getroffenen Vereinbarungen sind und wie weit
bewährt, hat im ambulanten Bereich in nennenswertem Umfang bislang jedoch
Die Vereinbarungen für die gemeinsame therapeutische Arbeit sind keine Ord-
keinen Eingang gefunden. Manche Patienten, die sowohl einzel- wie gruppenthe-
nungsinstrumente, die der Macht und Autorität des Therapeuten dienen, sondern ~
~44
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Spezielle Probleme während der Gruppentherapie
sie legen die Voraussetzungen und Bedingungen fest, die erforderlich sind, damit
erforderlich werden, dass der Gruppentherapeut den Patienten, der entgegen den
die Behandlung in der Gruppe potentiell erfolgreich verlaufen kann. Das Einhal-
getroffenen Vereinbarungen Termine ohne Grund nicht einhält, nachdrücklich an
ten des Rahmens allein garantiert noch nicht, dass die Therapie für den einzelnen
die Vereinbarungen erinnert und daran, dass für die gemeinsame therapeutische Arbeit vorausgesetzt ist, dass die Vereinbarungen eingehalten werden, andernfalls
Patienten gewinnbringend sein wird. Werden die Rahmenbedingungen jedoch nicht eingehalten, sind grundlegende Voraussetzungen nicht mehr gewährleistet, die für eine potentiell erfolgreiche Arbeit in der Gruppe erforderlich sind, und die
Anwesenheit aller Gruppenteilnehmer erfolgen. Geschieht das nicht, kann man
Therapie kann nicht effektiv werden. Eine Behandlung fortzusetzen, bei der die
oftmals die Erfahrung machen, dass sich Zeichen willkürlichen Verhaltens aus-
notwendigen Rahme.I).bedingungen nicht oder nicht mehr eingehalten werden, hieße, die Arbeit in d~r Gruppe fortzuführen, wissend, dass davon kein therapeutischer Nutzen zu erwarten ist; der Therapeut würde fahrlässig handeln. Für Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen sind verbindliche Rahmenvereinbarungen für die therapeutische Arbeit in der Gruppe oftmals ebenso schwer zu ertragen, wie es für sie häufig überhaupt schwierig ist, sich festzulegen. Sie fürchten, Selbstbestimmung aufgeben und sich einer fremden Ordnungsrnacht unterwerfen zu müssen. Weil die Rahmenbedingungen für"die therapeutische
die Behandlung nicht fortgesetzt werden kann. Das sollte unter Umständen in
II
breiten, beispielsweise dergestalt, dass Patienten in der Folge unregelmäßig zu den vereinbarten Behandlungsstunden kommen und aus geringfügigen Anlässen und je nach aktueller Stimmung manchmal zu den Terminen erscheinen, manchmal fernbleiben.
Zeitliche Festlegungen
Gruppe nie nur Bedingungen für den einzelnen Patienten sind, sondern immer
Auch m.it anderem Verhalten wird der Rahmen herausgefordert, häufiger auch überschritten. Bei stationär behandlungsbedürftigen Patienten im jungen Er-
auch für alle anderen Anwesenden in der Gruppe, ist es umso wichtiger, dass der
wachsenenalter und manchmal selbst noch bei 25- oder 30-jährigen Patienten
Gruppentherapeut nicht nur verbal, sondern auch durch die Art und Weise, wie er
trifft man oftmals auf Probleme, die mit Autonomie- und Abhängigkeitskon-
die Rahmenbedingungen handhabt, deutlich macht, dass es sich dabei nicht um
flikten Ähnlichkeit haben, wie sie für die Phase der Adoleszenz als typisch gelten.
ein Herrschaftsinstrument handelt, sondern um eine für alle geltende Vorausset-
Häufiger haben Patienten solche adoleszenztypischen Probleme über viele Jahre
zung für eine potentiell gewinnbringende gemeinsame therapeutische Arbeit.
hinweg mit Drogen überdeckt mit der Folge, dass wichtige Entwicklungsschritte behindert wurden und psychische Strukturen sich teilweise nur rudimentär ent-
Fehlen von Gruppenteilnehmern
245
wickelt haben. Ihr psychisches Funktionsniveau bewegt sich dann unter Umständen in weiten Teilen auf dem Niveau von Bedürfnisbefriedigung. Versagungen und Frustrationen können kaum ausgehalten werden. Der wütende Protest, den
.In der Gruppentherapie sind immer alle Patienten in der Gruppe mit betroffen, wenn ein oder mehrere Teilnehmer fehlen; die Gruppe ist nicht mehr dieselbe.
Versagungen nach sich ziehen, hat bei strukturell gestörten Patienten meist jedoch
Die Art und Weise, wie der Gruppentherapeut damit umgeht, wenn Patienten
nicht die Qualität des adoleszenztypischen Anrennens und der Auflehnung gegen
nicht zu den vereinbarten Gruppensitzungen kommen, ohne ihre Abwesenheit
eine fantasierte elterliche Autorität, sondern gleicht dem Ausdruck von Wut, die
angekündigt zu haben oder zu begründen, dokumentiert immer auch, wie wichtig
das Entbehrte herbeischreien möchte. Für diese Patienten ist es oft außerordent-
ihm die gemeinsame therapeutische Arbeit ist und welche Bedeutung er der An-
lich schwierig, sich mit Rahmenbedingungen zu arrangieren, die ihnen abverlan-
wesenheit aller an der Gruppentherapie beteiligten Patienten beimisst. Wenn der
gen, auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu verzichten und ihr Verhalten mit
Therapeut die Abwesenheit nur achselzuckend hinnimmt, weil er glaubt, keine
Erwartungen abzustimmen, die von außen an sie herangetragen und von ihnen als
Möglichkeit zu haben darauf einzuwirken, dass der Patient getroffene Vere~nba
unzumutbare Einschränkungen erlebt werden. Morgens rechtzeitig aufzustehen,
rungen einhält, bringt er zum Ausdruck, dass willkürliches Verhalten keine gravie-
verabredete Termine einzuhalten oder die Lautstärke von Musik bis auf ein auch
renden oder vielleicht sogar gar keine Folgen hat. Um das zu verhindern, kann es
für Andere akzeptables Maß zu dämpfen, werden als Begrenzungen erlebt, gegen ,
246
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
die sie wütend anrennen. Nicht selten sind es solche Patienten, die zur Gruppen-
Spezielle Probleme während der Gruppentherapie
In eine ambulante Gruppe für Patienten, die nach einer längeren stationären
therapie regelmäßig zu spät kommen, die die vereinbarte Verschwiegenheit nicht
psychiatrischen Behandlung therapeutische Begleitung beim Übergang in ihren
ernst nehmen, etwa weil sie etwas, was sie gerade beschäftigt hat, nach der Gruppe »unbedingt loswerden« mussten, oder die nicht verstehen, wenn Andere ihr des-
sozialen und beruflichen Alltag benötigten, kam ein Patient eines Tages in leicht alkoholisiertem Zustand. Er hatte am Nachmittag - die Gruppe fand abends
interessiertes Verhalten in der Gruppe, das für sie selbst vielleicht nur Ausdruck
statt - Alkohol getrunken, wie sich später im Gespräch mit dem Therapeuten
ihrer eigenen momentanen Müdigkeit ist, als missachtend empfinden.
herausstellte. In der Gruppe verhielt er sich weitgehend still, aber der Geruch
Welche bewussten und unbewussten Beweggründe auch immer einen Patien-
des Alkohols hing unverkennbar im Raum. Weil der Patient sich in der Gruppe
ten zu seinem Verhalten, mit dem er den Rahmen überschreitet oder außer Kraft
ruhig verhielt, sprach der Therapeut ihn während der Sitzung auf seinen Alko-
zu setzen versucht, veranlassen mag: Es steht die Frage auf dem Spiel, wie groß die
holkonsum nicht an und nahm sich stattdessen vor, ihn nach der Sitzung an die
Gefahr ist, dass sich Beliebigkeit und Willkür in der Gruppe breit machen. Auch
gemeinsam getroffenen Vereinbarungen zu erinnern. Zur nächsten und übernächsten Gruppensitzung erschienen drei Teilnehmer gar nicht; zwei blieben
wenn regelmäßiges Zuspätkommen eines Patienten für sich genommen keine gravierenden Auswirkungen auf die therapeutische Arbeit haben muss, von Mit-
ist es wichtig, dass der Therapeut auf den gemeinsamen Beginn der therapeutischen Arbeit dringt, nicht, weil er Pünktlichkeit per se für eine Tugend halten
weg, ohne dass bekannt war, welche Gründe dafür ausschlaggebend waren, eine Teilnehmerin ließ dem Gruppenleiter durch eine Mitpatientin lediglich mitteilen, dass sie verhindert sei, obwohl vereinbart war, dass die Teilnehmer an der Gruppe mit dem Therapeuten persönlich sprechen, falls es einmal besondere Gründe geben sollte, die sie daran hindern, zur Therapie zu kommen. Indem der Therapeut außer Acht gelassen hatte, welche Implikationen für die anderen Gruppenmitglieder es haben würde, dass er das Verhalten des alkoholisierten Patienten unkommentiert hingenommen hatte, hatte er eine »Defi-
müsste, sondern weil alle Patienten davon betroffen sind, wenn ein Mitpatient
nition der Situation« vorgenommen, die aus der Sicht der anderen Anwesen-
in der Gruppe habituell zu spät kommt und damit die gemeinsame Arbeit erst
den leicht dahingehend verstanden werden konnte, dass mit Folgen nicht zu rechnen ist, wenn Vereinbarungen außer Kraft gesetzt werden. Das brachten
patienten und Therapeuten oftmals eher wie eine individuelle Marotte hingenommen wird und in einer Einzeltherapie im Hinblick auf die Motive des Patienten für sein Verhalten geduldig untersucht werden kann, kann es in der Gruppe zu einem Prüfstein werden, an dem sich für alle Patienten in der Gruppe erweist, wie sicher jeder vor willkürlichem Verhalten in der Gruppe geschützt ist. Darum
mit Verspätung beginnen kann, oder wenn Patienten in anderer Weise von den vereinbarten Rahmenbedingungen abweichen.
"Impulsives und antisoziales Verhalten
Patienten mit komplexen Störungen und Patienten mit strukturellen Beeinträchti-
die drei anderen Patienten durch ihr Verhalten unmittelbar darauf zum Ausdruck. In den folgenden Sitzungen hatte der Gruppentherapeut einige Mühe, den Rahmenbedingungen wieder Geltung zu verschaffen und den Patienten in der Gruppe das Gefühl zu geben, sich innerhalb eines verlässlichen, Halt und Orientierung bietenden Rahmens zu bewegen.
gungen, insbesondere Borderline-Patienten, und andere, zu impulsivem Verhalten neigende Patienten mit narzisstischen Störungen und antisozialem Verhalten fällt
Gelegentlich kommt es in Gruppensitzungen zu impulsivem Verhalten, etwa indem
es schwer, insbesondere unter affektiv stimulierenden Bedingungen ihr Verhalten
ein Patient aufspringt und, die Tür hinter sich zuknallend, aus dem Raum rennt,
zu steuern. Auch hier gehört es zu den Aufgaben des Therapeuten, dafür Sorge zu
ein anderer plötzlich aufsteht und einen Mitpatienten in der Gruppe umarmen
tragen, dass der Rahmen nicht außer Kraft gesetzt und Grenzen überschreitendes
will, um vermeintlich Trost zu spenden oder seine Sympathie zu bekunden, oder
Verhalten gegebenenfalls unterbunden wird.
ein Patient sich mit drohender Geste vor einem Mitpatienten aufbaut. Obwohl die jeweiligen Situationen sich hinsichtlich der Dringlichkeit unterscheiden, mit der sie eine Reaktion des Therapeuten verlangen, sind sie insoweit vergleichbar, ...
247
248
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Spezielle Probleme während der Gruppentherapie
als der Ausdruck von Gefühlen und Handlungsimpulsen nicht mehr sprachlich vermittelt erfolgt, sondern in konkretes Handeln umgesetzt wird. Während eine
tienten in der Gruppe auf die gruppentherapeutische Arbeit behindernd aus. Die Patienten, zwischen denen sich eine sexuelle Beziehung entwickelt hat, entziehen
Umarmung vergleichsweise harmlos, weil nicht bedrohlich ist, steht bei aggressivwillkürlichem und destruktivem Verhalten eines Gruppenmitglieds die Sicherheit
sich fast immer dem Geschehen in der Gruppe, sparen Themen aus, die sie als Paar betreffen könnten, beteiligen sich nur noch selektiv am Geschehen und ver-
aller Gruppenteilnehmer und damit die Therapie insgesamt auf dem Spiel. Hier ist der Therapeut gefordert, dem impulsiven Verhalten entschieden und unmiss-
meiden alles, was ihre Beziehung beeinträchtigen oder dazu führen könnte, sich in der Gruppe zu ihrem Verhältnis äußern zu müssen. Damit verhalten sie sich irt
verständlich entgegenzutreten. In einem Moment, in dem ein Patient von Im-
einer Weise, die geeignet ist, den anderen Anwesenden in der Gruppe deutlich zu
pulsen und Gefühlen überflutet wird und nahe daran ist, die Kontrolle über sein
machen, dass die verabredeten und für eine effektive therapeutische Arbeit in der
Verhalten zu verlieren, ist es besonders wichtig, dass der Therapeut unverzüglich
Gruppe erforderlichen Rahmenbedingungen nicht mehr erfüllt sind. Eine Lösung für dieses Problem kann oft nur darin bestehen, dass mindestens
Grenzen zur Geltung bringt, gegebenenfalls auch mit deutlichem Nachdruck oder mit einem barschen und lauten, Einhalt gebietenden Hinweis, der dann gleichsam die Funktion eines unübersehbaren Verbotsschildes hat. Bei schwerer beeinträchtigten Patienten mit strukturellen Störungen, vor allem
einer der beiden Patienten die Gruppe verlässt, weil sich die Voraussetzungen für die gemeinsame Arbeit in der Gruppe nur so wiederherstellen lassen. Manchmal entschließen sich beide Patienten dazu, die Gruppentherapie zu verlassen. Das
dann, wenn die Patienten an erheblichen sozialen Ängsten leiden, kann es in der
muss der Therapeut dann in Kauf nehmen, eine Lösung, die das geringere Übel
Gruppentherapie zu Situationen kommen, die eine Überforderung darstellen. Sie
im Vergleich zu der Möglichkeit ist, dass beide in der Gruppe verbleiben und die Therapie aller Gruppenmitglieder gefährdet wird oder ineffektiv bleibt.
geraten unter Umständen in Zustände, die ihnen unerträglich erscheinen und mit panischer Angst oder mit schwer kontrollierbarer Erregung einhergehen. Soweit
Wird die Beziehung von den Beteiligten selber in der Gruppe öffentlich ge-
dies vor Beginn der Gruppenarbeit absehbar ist, aber dennoch eine Indikation
macht, bekunden die anderen Patienten in der Gruppe oftmals viel Verständnis für das Paar und ebenso viel Unverständnis für den Therapeuten, der gerne als
für die Gruppentherapie gesehen wird, kann mit den Patienten vereinbart werden, die Gruppe vorübergehend zu verlassen, wenn ihnen die Situation gar nicht
»lustfeindlich« und »verständnislos« an den Pranger gestellt wird. Bei Patienten
mehr aushaltbar erscheint. Dabei sollte die Bereitschaft der Patienten in die Verein-
mit schweren strukturellen Störungen ist es nicht hilfreich, die vermeintliche
barung eingeschlossen werden, in die Gruppe zurückzukommen, sobald sie sich
Lustfeindlichkeit des Therapeuten wie in einer analytischen Behandlung als Über-
haben beruhigen können. Die Befürchtung, die Patienten könnten dazu neigen, diese Vereinbarung auszunutzen und in den Dienst des Vermeidens zu stellen, be-
tragung aufzunehmen, weil die Patienten keinen reflexiven Bezug zu der therapeutischen Beziehung haben und oft weit davon entfernt sind, mit dem virtuellen
. wahrheitet sich meist nicht. Im Gegenteil reagieren insbesondere sehr ängstliche
Charakter der Übertragung therapeutisch arbeiten zu können. Vielmehr sollte der
Patienten meist erleichtert auf eine derartige Vereinbarung, machen tatsächlich
Therapeut auch in einem solchen Fall den Übertragungsfantasien entgegentreten
aber selten davon Gebrauch.
und die tatsächlichen Gründe erläutern, weshalb sexuelle Beziehungen unter Mitgliedern der Gruppe mit der Therapie in der Gruppe nicht vereinbar sind.
Sexuelle und Liebesbeziehungen zwischen Gruppenteilnehmern Normen in der Gruppe, die Entwicklung behindern Dass sexuelle Beziehungen zwischen den Patienten in der Gruppe unerwünscht sind, verstehen manche Patienten trotz anders lautender Erläuterungen des Grup-
Manchmal halten Patienten in der Gruppe hartnäckig an Normen fest, deren
pentherapeuten als Ausdruck von dessen prüder und engstirniger Moral. Auch unabhängig von kulturellen und subkulturellen Normen, die dem sexuellen Ver-
Funktion es ist, Sicherheit dadurch zu vermitteln, dass der status quo festgeschrieben und neue und unvertraute Beziehungserfahrungen vermieden werden und
halten zu Grunde liegen, wirken sich intime und Liebesbeziehungen zwischen Pa-
werden sollen. Wer auch nur geringfügig gewohnte Pfade verlässt, dessen Verhal- ~
249
~50
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
ten wird sanktioniert, indem das Verhalten ignoriert oder die Person mit kaum merklichem, aber wirksamem Druck an geltende Normen erinnert wird. "Normative Erwartungen in therapeutischen Gruppen mit strukturell gestör-
Spezielle Probleme während der Gruppentherapie
pe meist still. Man hatte den Eindruck, dass sie mit ihrem Verhalten großen Einfluss hatte. Dem manifest geäußerten Wunsch einer anderen Patientin in
ten Patienten fordern oft Gleichheit und Unterschiedslosigkeit und blockieren
der Gruppe, es sei doch wichtig, in Harmonie miteinander umzugehen, weil das für die seelische Gesundung aller vonnöten sei, stimmte sie schweigend-
dementsprechend alle Schritte, die sich auf Differenzierung zubewegen könnten.
nickend zu. Mehr und mehr breitete sich in der Gruppe ein Verhalten aus, dem
Solche vermeidenden Normen, die rigide sein können, beispielsweise in Gruppen,
die implizite Norm zugrunde zu liegen schien, dass man auf Harmonie bedacht
in denen eine Mehrzahl von Patienten unter schwerwiegenden sozialen Ängsten
sein müsse und dass Disharmonien und darüber hinaus möglichst alles zu vermeiden sei, in dem sich Verschiedenheit und Getrenntheit bekunden und das
leidet und der Angstpegel hoch ist, stehen meist jeder Entwicklung und Weiterentwicklung entgegen. Sie sind mit einem hochgradig vermeidenden Interaktionsstil verbunden. Selten werden solche normativen Regulierungen explizit.
die Illusion von All-Einheit und Ungeschiedenheit stören könnte. Der Gruppentherapeut intervenierte einige Zeit, nachdem sich diese Norm
Allein der Umstand, dass sie ausdrücklich benannt würden, würde das Risiko
etabliert hatte, in folgender Weise: »Ich sehe, dass einige von Ihnen sich im
ihrer Infragestellung mit sich bringen. Deshalb werden sie zur Geltung gebracht, ohne ausdrücklich zum Gegenstand der gemeinsamen Aufmerksamkeit gemacht
Augenblick bedrückt fühlen. Vielleicht gehen Sie deshalb ganz besonders vorsichtig miteinander um und verhalten sich - wie mir scheint - eher vermeidend
zu werden. Insbesondere Normen, die Gleichheit und Konformität verlangen,
zueinander. Es scheint hier im Augenblick nicht ganz einfach zu sein, sein eige-
behindern Entwicklung. Sie können sich auf ganz verschiedent: Geltungsbereiche beziehen: Meinungen sollen nicht zu weit voneinander abweichen, kritische Stel-
nes Befinden und seine eigene Meinung zu äußern, weil Sie wohl davon ausgehen, das könnte die Harmonie stören, die Sie wünschen. Ich merke allerdings,
lungnahmen entsprechend unterbunden werden, Toleranz wird mit Verzicht auf
dass mir das zu eng ist. «
eigene Urteile gleichgesetzt, Harmonie ist geboten. Das sind Normen, die auch in sozialen Gruppen im Alltag, manchmal auch in Familien vertreten werden: Unterschiede des Alters, der Erfahrung, des Geschlechts, des sozialen und öko-
Nicht immer sind es Gleichheit und Konformität propagierende Verhaltenserwartungen, die Entwicklung behindern. Manchmal werden in therapeutischen
nomischen Status, der Bildung oder der Begabung werden nivelliert oder für un-
Gruppen auch Normen zur Geltung gebracht, die ~ gleichsam am anderen Pol
wichtig gehalten. Folgerichtig können auch Konflikte und Spannungen vermieden werden, zu denen es dann kommen könnte, wenn man realisieren müsste,
angesiedelt - Entwicklung erschweren, weil sie Verbundenheit mit dem Anderen,
wie groß die Unterschiede unter den Anwesenden in der Gruppe tatsächlich sind.
Zustimmung und Unterstützung verhindern. Jeder in der Gruppe soll nur für sich selbst verantwortlich sein, das Recht des Stärkeren soll gelten, nicht Rücksicht-
~olange
nahme soll das Verhalten bestimmen, sondern ausschließlich das jeweils eigene
ermöglichen würden, mit Gefühlen wie Neid, Eifersucht, Missgunst, Konkurrenz
Interesse. Solche »individualistischen« Normen, die manchmal ausgesprochen antisozialen Charakter haben können, kommen häufiger durch den Einfluss bei-
und Rivalität sowie mit Handlungsabsichten fertig zu werden, die mit solchen
spielsweise von Patienten mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen zur Gel-
Konflikten und Spannungen einhergehen würden.
tung. Meist gibt es gleichzeitig einige Patienten in der Gruppe, die durch solche Verhaltenserwartungen erheblich geängstigt sind, aber nicht wagen, sich gegen
Konformität sichergestellt ist, ist es auch nicht erforderlich, psychische Bewältigungsmittel und interpersonelle Verhaltensweisen zu entwickeln, die es
251
Eine junge Frau, die wegen schwerer depressiver Verstimmungen und chro-
die Mehrheit derer zu stellen, die solche Normen vertreten. Die Beziehungen un-
nischer Suizidalität zur stationären Behandlung hatte aufgenommen werden
tereinander und der Umgang miteinander erscheinen wenig bezogen und manch-
müssen, saß oft schweigend in der therapeutischen Gruppe. Manchmal, wenn
mal wie zerrissen. Die »individualistischen« Normen verhindern, dass Vertrauen
es zu auch nur geringen Meinungsverschiedenheiten zwischen anderen Grup-
entsteht und verbindliche Beziehungen sich entwickeln können. Der Spannungs-
penmitgliedern kam, weinte sie leise vor sich hin. Dann wurde es in der Grup-
pegel in der Gruppe kann unter solchen Bedingungen hoch sein. Angst vor Ab,..
,
252
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
hängigkeit einiger - meist narzisstischer - Patienten in der Gruppe schlägt sich so in normativen Regulierungen interpersonellen Verhaltens nieder, die verhindern, dass als gefährlich gefürchtete Abhängigkeit entstehen könnte. Normen werden in therapeutischen Gruppen oft mit hohem moralischem Druck sanktioniert und abgesichert. Abweichler, die sich dem Zwang zur Einheit
Spezielle Probleme während der Gruppentherapie
des Besitzes, aber auch der Schönheit, körperlichen Attraktivität und Zukunftsoffenheit, die von Neid und Missgunst, Scham und Trauer geprägte interpersonel1e und intrapsychische Konflikte wecken könnten, sollen auf diese Weise ausgespart bleiben. Problematischere Konstellationen entstehen dann, wenn ein Patient in der
nicht beugen können oder wollen, müssen mit dem sozialen Druck der Mehrheit
Gruppe beispielsweise an einer schweren chronischen Erkrankung leidet, stigma-
rechnen, der manchmal unauffällig, aber deshalb umso wirksamer, nicht selten mit versteckter Empörung, leiser Verachtung und mit Andeutungen der Androhung
tisiert ist oder sich sexuell abweichend verhält. Selbst in den eher seltenen Fällen, dass alle Gruppenmitglieder davon wissen, kommen insbesondere sozial auffällige
ausgeübt wird, soziale Unterstützung zu entziehen. Da derjenige, der von einer
Eigenschaften oder abweichende Verhaltensweisen in der Gruppe kaum jemals zur
Norm abweicht, Gefahr läuft, zum Außenseiter zu werden, meiden die meisten
Sprache. Im Gegenteil machen die Patienten sorgsam einen Bogen um alles, was
Patienten dieses Risiko. Zu groß ist die Angst, ins soziale Abseits zu geraten und
das entsprechende Thema berühren könnte. Wenn umgekehrt die betreffenden Patienten selber ihre Krankheit, ihr Stigma oder ihr sexuell abweichendes Verhal-
die Verbindung zu den anderen Gruppenmitgliedern zu verlieren. Die Patienten verhalten sich deshalb selbst dann konform, wenn sie mit den aktuell in der Grup-
ten zur Sprache bringen, können sie kaum jemals therapeutischen Gewinn daraus
nehmen, die derzeit geltende, Entwicklung behindernde Norm in Frage zu stellen.
ziehen, weil der Umgang der Mitpatienten damit meist hochgradig verleugnend und vermeidend ist und bleibt. Aus diesem Grund sollte der Gruppentherapeut den betreffenden Patienten schon in der Phase der Zusammensetzung der Grup-
Dieser therapeutische Schritt kann mit einiger Gegenübertragungsangst einherge-
pe vor Beginn der Therapie auf die zu erwartenden Schwierigkeiten vorbereiten
hen, in der sich die Gefahr bekundet, ausgestoßen und sozial isoliert zu werden. In Reaktion auf die Verletzung der bis dahin geltenden Gruppennorm kann es sein,
und gemeinsam mit ihm überlegen, ob es sinnvoll ist, dass er an der Gruppe teilnimmt. Steht das Ziel, das der Patient mit der Behandlung verbindet, mit
dass der Therapeut mit seinen Bemühungen in der Gruppe nicht Fuß fassen kann.
den Eigenschaften oder Verhaltensweisen in Bezug, die nur für ihn ein wichtiges
Man hört ihm zwar zu, ohne jedoch aufzunehmen, was er geäußert hat. Er ist in der Gruppe zwar anwesend, soll aber behandelt werden, als sei er bedeutungslos.
Thema sind, ist eine Behandlung in der Gruppe nicht sinnvoll. Anders verhält es sich, wenn mit der Gruppentherapie andere Ziele verfolgt werden, die damit nicht unmittelbar in Verbindung stehen. In diesem Fall kann der Patient von einer
pe geltenden impliziten Regeln des Miteinander-Umgehens nicht einverstanden sind. Unter solchen Umständen muss der Gruppentherapeut die Aufgabe über-
Außenseiter in der Gruppe
253
Behandlung in der Gruppe durchaus profitieren. Auch für Patienten, die sich als »Opfer« schwieriger und sie benachteiligender
Eine schwierige Konstellation in der Gruppe kann dann entstehen, wenn ein Pa-
Verhältnisse verstehen, ohne tatsächlich Opfer traumatischer Ereignisse gewesen
tient in der Gruppe eine sozial relevante Eigenschaft hat, die kein anderer Patient
zu sein, beispielsweise Patienten mit ausgeprägten masochistischen Zügen oder
in der Gruppe mit ihm teilt. Probleme, die daraus entstehen könnten, werden
mit einer histrionischen Persönlichkeitsstörung, können sich manchmal schwie-
häufig verleugnet, oder der Repräsentant dieser konfliktbehafteten Eigenschaft
rige Konstellationen ergeben, die sich bis hin zur Lähmung einer ganzen Gruppe
soll aus der Gruppe eliminiert werden. So kann es beispielsweise sein, dass ein
steigern können. In solchen Gruppen werden unter Umständen dauerhaft alle
Patient im höheren Lebensalter in einer Gruppe von jungen Patienten so behan-
Formen von Aggressivität vermieden, weil eine Mehrheit der Patienten Angst hat,
delt wird, als sei er ebenso alt wie die übrigen Patienten. Der Umstand, dass die
sich an dem ohnehin schon leidenden »Opfer« schuldig zu machen und als sa-
Altersdifferenz drei, manchmal sogar vier Jahrzehnte beträgt, wird überspiel~ oder mit Bekundungen für das vermeintlich jugendliche Wesen des Älteren entschärft.
distischer Ta.ter dazustehen. Umgekehrt wird dem »Opfer« oft jegliches Recht zugestanden und damit auch die Macht verliehen, den vermeidenden Stil des
Tatsächliche Differenzen der Erfahrung, des Wissens, der sozialen Geltung oder
Miteinander-Umgehens in der Gruppe einzufordern, oft mit der Folge, dass die
~
254
7 . Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
untergründige, uneingestandene Aggressivität immer mehr zunimmt. Solche Konstellationen können aus dem Kreis der Patienten heraus nur selten aufgelöst werden. Zu groß sind die Ängste, als schlecht und böse dazustehen und aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Darum muss der Therapeut wie bei anderen entwicklungshemmenden Normen auch die Aufgabe übernehmen, solche Konstellationen nicht nur anzusprechen, sondern sich im Vollzug seiner Äußerungen den festgefahrenen normativen Erwartungen entgegenzustellen. In einer Gruppe hatte eine Patientin mit der Darstellung von Leiden und stillem Vorwurf großen Einfluss. In der Gruppe herrschte seit geraumer Zeit eine vordergründig schonungsvolle, untergründig zunehmend gereizte Stimmung. Niemand traute sich, von den ungeschriebenen Regeln abzuweichen, die dazu beitrugen, eine Sanatoriumsatmosphäre in der Gruppe aufrechtzuerhalten. Schließlich entschloss sich der Gruppentherapeut, seinerseits den Versuch zu machen, zu einem entwicklungsförderlicheren Milieu beizutragen. Der Umstand, dass aggressive Gefühle von einigen Patienten nicht, wie das in der Vergarlgenheit häufiger geschehen war, impulsiv abreagiert wurden, war durchaus als Fortschritt zu verstehen, insofern war die vermeidende Haltung auch Ausdruck einer neu gewonnenen Fähigkeit. Vor dem Hintergrund eigener lebensgeschichtlicher Erfahrungen war die Vorstellung, sozial isoliert zu werden, für den Gruppentherapeuten beunruhigend. Bei der Vorstellung, von den aktuell vorherrschenden Normen, die leises, ernstes Verhalten forderten, abzuweichen, verspürte er Ängstlichkeit, weil er damit rechnete, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden und als ein Therapeut dazustehen, der, statt Rücksicht zu nehmen und sich als hilfreich zu erweisen, das Leiden Anderer noch verschlimmert. Die Gruppe, so seine Fantasie weiter, würde sich wahrscheinlich gegen ihn zusammenschließen und die eigenen aggressiv-sadistischen Verhaltensbereitschaften an ihm unter Kontrolle bringen, indem man versuchen würde, ihn in der Gruppe zu isolieren und sich ihm gegenüber abzuschirmen.
Spezielle Probleme während der Gruppentherapie
255
miteinander vor - mitzumachen; tatsächlich verspüre er seit einiger Zeit häufiger Lust, auch einmal lauter und kräftiger zu werden. Daraufhin herrschte in der Gruppe langes, regloses Schweigen. Etwas Schwerwiegendes schien geschehen zu sein. Die Patienten in der Gruppe schienen kaum zu wagen, sich anzusehen. Gelegentliche verstohlene Blicke galten der Patieu"tin, deren Verhalten die Gruppe so sehr lähmte. Ihr Ausdruck von Leiden und Vorwurf schien noch zugenommen zu haben. Es brauchte einige Zeit, bis aus der Gruppe Stimmen lauter wurden, die ihrerseits bekundeten, sich aus der lähmenden Stimmung befreien und mehr Bewegungsspielraum gewinnen zu wollen, und die schließlich auch bekunden konnten, dass sie das schon seit einiger Zeit immer wieder einmal verspürt, sich aber nicht getraut hätten, weil sie sich schlecht und böse vorgekommen wären, wenn sie das tatsächlich getan hätten. Zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt konnte auch die Patientin ihrer stillen Vorwurfshaltung eine Stimme geben, als sie mitteilte, die Therapie abbrechen zu wollen, weil sie von einem Therapeuten, der so wenig Verständnis für sie hätte, nicht behandelt werden könne. Und es dauerte noch einmal geraume Zeit, ehe sie ihrer moralischen Empörung deutlicher Ausdruck verleihen und schließlich für sich herausfinden konnte, wie unsagbar neidisch sie früher auf ihre jüngeren Geschwister war, die in der Familie alle Freiheiten gehabt hätten und spielen und lachen durften, während sie der kranken Mutter hatte helfen und auf deren wechselndes Befinden habe Rücksicht nehmen müssen.
Schwierige Themen
Schließlich meinte der Therapeut, dass er den im Vergleich zu früher vorsichtigen Umgang miteinander einerseits als recht wohltuend empfinde, allerdings traue er sich derzeit kaum, auch nur mit kräftiger Stimme zu sprechen, und so gebe es da noch eine andere Seite; er scheue sich, das zu sagen, weil er befürchte, in der Gruppe als rücksichtslos dazustehen, aber er merke, dass er zuneh~end
Themen wie Liebe und Sexualität, Trennung, Abschied oder Tod spielen in der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit strukturellen und komplexen Entwicklungsstörungen ebenso eine Rolle wie in der Behandlung von Patienten mit weniger gravierenden Beeinträchtigungen. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Die Beziehungen, über die die Patienten berichten, ihre Liebes- und sexuellen Beziehungen, Erfahrungen mit Trennungen, Verlusten und Abschieden weisen bei Patienten mit basalen Entwicklungsstörungen die charakteristischen Besonderheiten auf, die mit strukturellen Störungen verbunden sind. Insbesondere haben die Objekte, auf die sich Liebesgefühle richten, vornehmlich Qualitäten von archaischen Selbstobjekten, an die in hohem Maße Funktionen der Selbstre-
weniger bereit sei, den vorsichtigen Flüsterton - so komme ihm der Umgang
gulierung gebunden sind. Die geliebte Person wird nicht als eigenständige andere
~
256
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Person unabhängig vom Selbst erlebt und als diese andere Person geliebt, sondern wird in dem Sinne gebraucht, dass ihre Verfügbarkeit das Gefühl des eigenen
Spezielle Probleme während der Gruppentherapie
mit reiferen Mitteln gestaltet werden können, die aus strukturellen Gründen nicht zur Verfügung stehen.
Wertes und der Ganzheit sichert. Manchmal wird in Gruppen mit Patienten mit schweren Entwicklungsstörungen über sexuelle Beziehungen scheinbar offen gesprochen. Oft stellt sich dann
Nachdem eine Patientin schon geraume Zeit vorher angekündigt hatte, dass sie
heraus, dass die individuellen Besonderheiten der anderen Person unwichtig sind
die Gruppentherapie beenden würde, weil sie den Wohnort wechseln müsse, ohne dass das - außer mit einigen kurzen Bemerkungen - aufgegriffen worden
und ausschließlich die Befriedigung des sexuellen Bedürfnisses gesucht wird. Häufiger noch hat das scheinbar offene Reden über Sexualität kontraphobischen Cha-
wäre, war schließlich die letzte Gruppensitzung gekommen, an der sie, die in
rakter: Auf der einen Seite wird über sexuelle Erfahrungen in der Öffentlichkeit
der Gruppe eine wichtige Rolle innegehabt hatte, teilnahm. Die Therapeutin hatte den Eindruck gewonnen, dass der bevorstehende Abschied für die
der Gruppe scheinbar unbeschämt gesprochen, auf der anderen Seite erweist sich,
Mehrheit der Patienten ein Ereignis war, dem sie sich rat- und hilflos gegen-
dass die gleichen Patienten scheu und ängstlich vermeiden, sich auf Mitpatienten emotional zuzubewegen und sich in einem nicht-körperlichen Sinn anzunähern.
übersahen und das mit schwer erträglichen Gefühlen verbunden war. Einige Patienten in der Gruppe erwähnten das nur kurz mit einem konventionellen
Gefühlshafte Beziehungen werden als gefährlich erlebt, weil sie mit emotionaler Nähe verbunden sind, mit Abhängigkeit und Bedürftigkeit, und damit die Not-
Ausdruck des Bedauerns wie »schade, dass Du gehst«, andere schwiegen. Nach längerem Schweigen und einigen spärlichen Bemerkungen zum bevorstehen-
wendigkeit, autark zu sein, gefährden. Abschiede und Trennungen von Mitpatienten in der Gruppe werden von den
den Weggang ihrer Mitpatientin wendeten sich die Patienten in der Gruppe einem anderen Thema zu, zu dem sich, immer wieder unterbrochen von län-
Patienten selber oft nicht zur Sprache gebracht. Wenn darüber gesprochen wird,
gerem Schweigen, einige Patienten wie lustlos und schleppend äußerten. Die
dann geschieht das oftmals höchst konventionell und stereotyp. Einige Patienten
Gruppentherapeutin verstand das als Versuch, die Gefühle zu verleugnen und
erscheinen unberührt und fühlen sich leer, andere sind wie verwundet, resigniert
zu vermeiden, die der bevorstehende Abschied von der Patientin weckte, die
und apathisch. Zwar wird das eigene Befinden oftmals Traurigkeit genannt, aber nicht selten zeigt sich, dass die Patienten, die ihren Zustand Traurigkeit nennen,
die Gruppe verließ. Schließlich meinte sie: »Ich merke, dass es mir schwer fällt, zu einem anderen Thema überzugehen. Ich denke immer wieder daran, dass
sich niedergeschlagen und devitalisiert fühlen. Selten ist es Patienten mit schweren
Frau B. heute zum letzten Mal hier ist, und das lässt mich nicht unberührt.«
strukturellen Störungen möglich, sich angesichts von Trennungen ein ausreichend gutes Bild von der anderen Person zu bewahren. Manchmal wird die Person, die
Die antwortende Intervention der Therapeutin war hier gegen die Tendenz der Mehrheit der Gruppenmitglieder gerichtet, den Abschied und die damit ein-
weggeht und eben noch besonders wichtig war, wenige Tage vor dem endgültigen
hergehenden Gefühle zu verleugnen. Dabei teilte sich die Therapeutin auch in
'Abschied abrupt abgewertet und weitgehender Bedeutungslosigkeit überlassen. Weil die Gefühle, die mit dem Abschiednehmen einhergehen könnten, schwer
diesem Fall höchst selektiv insofern mit, als sie lediglich davon sprach, dass sie der Weggang von Frau B. »nicht unberührt« ließe, konkrete Gefühle oder gar
erträglich sind, wird die andere Person innerlich fallengelassen, ihr Bild wird
eigene biographische Erfahrungen aber nicht mitteilte. Auf diese Weise richtete
gleichsam ausgelöscht. Andere Patienten lassen erkennen, dass ihnen der Weggang
sie die Aufmerksamkeit zwar auf die situativen Umstände und auf begleitende
eines Mitpatienten, der wichtig geworden war, geradezu körperliche Schmerzen
Gefühle, vermied es aber, durch die Äußerung bestimmter eigener Gefühle
bereitet. Indem die andere Person weggeht, geht zugleich eine wichtige stabilisie-
irgendeine Vorgabe zu machen, die wie eine normative Vorgabe dahingehend
rende Funktion verloren; die an diesen Mitpatienten in der Gruppe gebunden
hätte gelesen werden können, dass in dieser Situation ganz bestimmte Gefühle
war. Auch hier sollten in den antwortenden Interventionen des Gruppentherapeuten
liebsten auch aus der Gruppe verschwinden« würde und sie der Abschied von
Möglichkeiten aufscheinen, wie wichtige Beziehungen befriedigender erlebt und
Frau B. »total fertig« mache, eröffnete sich in der Gruppe allmählich ein Raum,
erwartet werden. Nachdem eine andere Patientin geäußert hatte, dass sie »am
257
~58
7 . Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
Co-Therapie
in dem man sich damit beschäftigen konnte, in welchem Maße es erforderlich
Ein derartiges Setting hat mehr Nachteile als Vorteile und ist nicht Co-Therapie
erscheint, Gefühle abzuspalten, die mit Trennungen verbunden sind, weil Tren-
im Sinne gemeinsam durchgeführter therapeutischer Arbeit.
nungen Katastrophen sind.
Manchmal werden Ausbildungszwecke als Begründung für Co-Therapie angeführt. Dabei soll der Leiter der Gruppe ein erfahrener Gruppentherapeut sein,
Häufiger Wechsel der Gruppenteilnehmer im stationären Rahmen
259
während der Co-Therapeut die Methode lernen soll. Für die psychoanalytischinteraktionelle Gruppentherapie von strukturell gestörten Patienten hat sich das
Angesichts oft sehr kurzer Behandlungszeiten im stationären Rahmen kann die
Co-Therapie-Modell als Weg zum Erlernen der Arbeitsweise nicht bewährt, weil
Unruhe angesichts eines ständigen Kommens von neuen Patienten in die Gruppe
Co-Therapie unter solchen Bedingungen häufig zu Lasten der Patienten geht. Das
und des Gehens von alten Patienten aus der Gruppe erheblich sein. Unter solchen
ist vor allem dann der Fall, wenn das Verhalten der Therapeuten untereinander
Umständen werden die Themen, die eine Rolle spielen, der Gruppe gleichsam
ungeeignet ist, als Modell zu dienen, beispielsweise als Modell für Auseinanderset-
von außen aufgedrängt. Dichtere Beziehungen können sich kaum entwickeln, und dementsprechend können auch Abschiede allenfalls randständige Bedeu-
zungen oder Klärung von Meinungsverschiedenheiten, aber auch als Modell für
tung gewinnen, weil die realen Anderen in der Gruppe kaum jemals psychische Relevanz als innere Objekte gewinnen können. Schlimmstenfalls droht, was ei-
den Umgang mit Zuneigung und Attraktion. Die Patienten in der Gruppe beobachten das Verhalten der Therapeuten auf-
gentlich Gruppentherapie werden sollte, den Charakter eines mehr oder weniger
merksam, vor allem auch ihr Verhalten zueinander. Unstimmigkeiten ebenso wie besondere Vertrautheit, Meinungsverschiedenheiten ebenso wie Anziehung zwi-
oberflächlichen Gesprächs unter Wartesaalbedingungen anzunehmen. Soweit den
schen Therapeut und Co-Therapeut werden genau registriert, auch wenn deren
Therapeuten überhaupt eine Wahl gelassen und ihnen nicht von außen aufge~ungen wird, in einer Weise zu arbeiten, die unter therapeutischen Gesichts-
Verhältnis untereinander von den Patienten nicht unbedingt explizit zur Sprache gebracht wird. Die Patienten achten darauf, wie beide ihre Zusammenarbeit ge-
punkten weder sinnvoll noch effektiv ist, ist es günstiger, mit geschlossenen Grup-
stalten und miteinander umgehen, ob sie in der Lage sind, sich Differenzen einzu-
pen im Sinne einer Kurzgruppentherapie - eventuell auch nur im Umfang von acht bis zwölf Gruppensitzungen - zu arbeiten, als das ständige Kommen und
gestehen und zu klären, ob sie Konflikte verleugnen müssen oder ansprechen können, bagatellisieren oder auszutragen wagen. Nicht minder aufmerksam sind die
Gehen hinzunehmen.
Patienten dafür, ob und wie sie sich wechselseitig unterstützen oder ob sie eher zu verbergen suchen, dass sie sich untergründig befehden, ob sie sich wirklich wertschätzen oder lediglich vordergründigen Höflichkeitsnormen folgen, ob sie sich
Co- Therapie
trauen, zu ihren Gefühlen von Zuneigung zu stehen oder sie schamhaft verbergen.
Gruppentherapie wird manchmal gemeinsam von einem Therapeuten und einem
Sind Therapeut und Co-Therapeut nicht in der Lage, beispielsweise Konflikte und Differenzen, die sie miteinander haben, in überzeugender Weise zu klären
Co-Therapeuten durchgeführt, häufiger im stationären Rahmen als ambulant.
und auszutragen, eignet sich ihre gemeinsame Anwesenheit in der Gruppe und ihr
Dass therapeutische Gruppen von zwei Therapeuten gemeinsam geleitet wird, hat im stationären Rahmen oftmals mehr institutionelle als fachliche Gründe.
damit verbundener Umgang miteinander nicht als Modell für die Patienten. Ganz
Hier gehören Therapeut und Co-Therapeut nicht selten unterschiedlichen Be-
etwas vertreten, was sie selber nicht können oder nicht wagen. Um aber als über-
rufsgruppen an und haben unterschiedliche Ausbildungen. Manchmal vertreten
zeugendes Modell wirken zu können, müssten Therapeut und Co-Therapeut in
im Gegenteil ahnen die Patienten dann unvermeidlich, dass beide therapeutisch
beide nicht einmal die gleiche therapeutische Methode. Meist ist unter sol~hen
der Lage sein, mit den Konflikten, die sie notgedrungen auch miteinander haben,
Umständen auch die Rollenverteilung zwischen beiden nicht klar differenziert.
ebenso umzugehen, wie sie dies in der therapeutischen Arbeit mit den Patienten vertreten. Das aber setzt voraus, dass ihre Beziehung zueinander ausreichend gut
~
~60
7. Besonderheiten der Therapie in der Gruppe
und so weit belastungsfahig ist, dass sie trotz manifester - und unter Umständen auch einmal erheblicher - Differenzen und heftigerer aversiver Gefühle bei der täglichen Arbeit gut kooperieren können. Das ist erfahrungsgemäß eine seltene Ausnahme. Deshalb ist es meist günstiger, in der Ausbildung therapeutische Erfahrungen auf anderem Weg zu vermitteln. Ein effektiver Weg besteht darin, dass Therapeuten, die die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie lernen wollen, die Gruppe, die ein erfahrener Therapeut leitet, von außen als Beobachter verfolgen (siehe »Materialien für den klinischen Gebrauch«: »Schwerpunkte in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie« im Anhang S. 288 ff.). Wenn neben den theoretischen Kenntnissen und der Selbsterfahrung ausreichende Erfahrungen als Gruppenbeobachter gesammelt wurden, leitet der angehende Gruppentherapeut eigenständig eine therapeutische Gruppe, die dann der Supervisor von außen beobachten kann.
8. Mikrointeraktion und videogestützte Supervision
Einer der Gründe, weshalb videographierte Protokolle von Behandlungsstunden für die Supervision der ,therapeutischen Arbeit mit Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen nahezu unverzichtbar geworden sind, liegt darin, dass die Patienten jene Erfahrungen, aus denen sich ihre Beeinträchtigungen in erster Linie erklären, oft nicht in Worten mitteilen, sondern sie in ihrem Verhalten darstellen, während sie mit Anderen interagieren. Dabei muss .das Verhalten im Zusammensein mit Anderen nicht grob auffallig sein und ist es oft auch nicht oder nur unter besonders konfliktbelasteten Umständen; wird das Verhalten in Interaktion jedoch genau betrachtet, zeigen sich in der Mikroregulation des sozialen Handelns vielfaltige Besonderheiten, die anhand subtil abgewickelter und scheinbar flüchtiger Ereignisse oftmals tiefe Einblicke in das interpersonelle Geschehen und damit in die Hintergründe der Beeinträchtigungen des Patienten ermöglichen (Downing 2003, Streeck 2004). Dabei lässt sich in oft eindrucksvoller Weise auch erkennen, dass nichtsprachliches körperliches Verhalten für die Interaktion von Patient und Psychotherapeut und - in therapeutischen Gruppen - aller in der Gruppe Anwesenden eine wichtige Rolle spielt, deren Bedeutung meist unterschätzt wird. Die nichtsprachlichen Mittel, die die Patienten verwenden, können oft sehr flüchtig und subtil sein, üben aber dennoch Wirkung auf die andere Person aus und beeinflussen deren Verhalten. Aus psychoanalytischer Sicht können sie unter anderem ein Mittel projektiver Identifikationen sein, mit denen der Patient den Therapeuten zu veranlassen versucht, sich in einer Weise zu verhalten, die seinen Übertragungserwartungen korrespondiert. Der Therapeut reagiert seinerseits häufig auf das nichtsprachliche Verhalten des Patienten mit nichtsprachlichem Verhalten, ohne das selber unbedingt zu bemerken, und auch der Patient reagiert auf das nichtsprachliche Verhalten des Therapeuten, so dass sich nicht ohne Weiteres sagen lässt, wessen Verhalten Folge des Verhaltens des Anderen ist. Danach werden therapeutische Beziehungen zu wesentlichen Anteilen mit nichtsprachlichen Mitteln reguliert und gestaltet, ohne dass die Beteiligten davon Kenntnis hätten, wie das geschieht ~
262
8. Mikrointeraktion und videogestützte Supervision
und welche Mittel sie dazu verwenden (vgl. Klüwer 1983). Das Videoprotokoll e~öffnet hier Einblicke in das therapeutische Geschehen, die sich weder einer Ana-
von kurzer Zeit vergessen, auch wenn ihr Einfluss unvermeidlich fortbesteht. Die Bedenken, die manchmal gegenüber der Anwesenheit einer Videokamera geäußert
lyse der Gegenübertragung noch der genauen Untersuchung nur des »Austausches von Worten« und der sprachlich vermittelten Interaktion erschließen.
werden, sind zu einem Teil den Bedenken ähnlich, die vor Jahrzehnten gegenüber Tonbandaufnahmen vertreten wurden, und laufen zu einem großen Teil darauf
Bereits sehr kurze Sequenzen und die Analyse der Mikrointeraktion können
hinaus, dass die Kamera einen verfälschenden Einfluss auf die Mitteilungen des
unter Umständen weit reichende Aufschlüsse vermitteln. So ist es manchmal
Patienten habe. Dieser Einwand ist wenig stichhaltig, kann doch in keinem Fall
möglich, durch eine systematisch durchgeführte Mikroanalyse des sprachlichen und körperlichen kommunikativen Verhaltens mit Hilfe von videographierten
verhindert werden, dass nicht erst technische Hilfsmittel wie das Tonband oder die Videokamera, sondern auch schon der Therapeut und seine »Kultur«, wie sie
Aufzeichnungen der ersten Minuten therapeutischer Gespräche zu diagnostischen
sich in der Ausstattung des Behandlungszimmers dokumentiert, Einfluss auf den
Schlussfolgerungen zu gelangen, wie sie üblicherweise allenfalls durch vergleichs-
Patienten ausüben. Problematisch ist nicht, dass die Kamera den Patienten beein-
weise langwierige Untersuchungen möglich sind. Dabei bieten VideoaufZeichnungen den Vorteil, auch zu späteren Zeitpunkten noch zur Verfügung zu stehen
flusst; problematisch wäre allerdings, wenn dieser Einfluss verleugnet und nicht zur Sprache gebracht und untersucht würde.
und für nachfolgende Untersuchungen und Überprüfungen vorangegangener An-
Manchmal fragen Patienten, ob sie sich die Videoaufnahme, die von einer The-
nahmen immer wieder herangezogen werden zu können und insofern zur empirischen Stützung klinischer, insbesondere auch diagnostischer Aussagen über das Beziehungsgeschehen entscheidend beitragen zu können.
rapiestunde erstellt wurde, ansehen können. Bei einigen Patienten kann das als Chance genutzt werden, sie dabei zu unterstützen, ihre Wahrnehmung für das eigene Verhalten in sozialen Situationen zu verbessern, ihre Teilnahme an Inter-
So ist das Video in der therapeutischen Arbeit mit Patienten mit schweren
aktion zu untersuchen und wiederkehrende Interaktionsmuster zu identifizieren.
strukturellen Störungen und Persönlichkeitsstörungen, entsprechende Qualifika-
Dazu ist es allerdings erforderlich, dass der Therapeut selber im Umgang mit vide-
tionen in der Mikroanalyse videographierter Therapien vorausgesetzt, ein nützliches Hilfsmittel sowohl für die Supervision, als auch für Zwecke der Selbst-
odokumentierten Daten von therapeutischen Sitzungen und deren systematischer Auswertung Erfahrungen hat. Es reicht nicht aus, mit videographierten Daten
kontrolle von Psychotherapeuten, die ihr eigenes Verhalten in der Behandlung
ähnlich naiv wie mit Videoaufnahmen umzugehen, die als Freizeitvergnügen er-
überprüfen und die therapeutische Interaktion einschließlich der oft unerkannten Interaktionsmuster untersuchen wollen. Heute ist es ohne großen Aufvvand mög-
stellt wurden. Weil Videobilder deutlich machen, dass wir uns im kommunikativen Austausch miteinander sehr viel mehr zeigen, als wir üblicherweise glau-
lich, eine Videokamera im Behandlungszimmer zu platzieren und das Verhalten
ben zu tun, können sie für die therapeutische Arbeit mit Patienten mit schweren strukturellen Störungen hervorragende Dienste leisten, können - unsachgemäß
. von Patient und Therapeut in einer Weise zu dokumentieren, die geeignet ist, das kommunikative Geschehen im Behandlungszimmer für Supervisionszwecke zu verwenden und auch auf Details hin zu untersuchen, an denen Aspekte der thera-
263
Mikrointeraktion und videogestützte Supervision
behandelt - aber auch Schaden anrichten. Der Patient sollte sich die Videoaufnahme einer Behandlungsstunde oder einiger Sequenzen immer nur gemeinsam
peutischen Interaktion und Kommunikation erkennbar werden, die sich dem blo-
mit dem mit der Analyse videographierter Therapiesitzungen erfahrenen Thera-
ßen Auge oft entziehen. Auch die Visualisierung der Videoaufuahme über einen
peuten ansehen; der Therapeut sollte den Patienten nicht mit der Aufnahme sich
Bildschirm für Zwecke der Supervision ist ohne großen Aufvvand möglich. Oft ist es weniger der Patient, der Einwände gegen die Videokamera im Be-
selbst überlassen. Gegebenenfalls sollte der Therapeut eine Kollegin oder einen Kollegen hinzuziehen, soweit das möglich ist, die bzw. der über ausreichende Er-
handlungszimmer hat, als vielmehr der Therapeut, der sich scheut, sein Verhalten
fahrungen mit der Mikroanalyse psychotherapeutischer Sitzungen verfügt, um
vom Auge einer Kamera beobachten zu lassen. Erfahrungsgemäß treten di~ anfanglichen Befürchtungen sowohl beim Patienten wie auf Seiten des Therapeuten
geeignete Passagen in für den Patienten förderlicher Weise zu kommentieren und
rasch in den Hintergrund, und häufig wird die Anwesenheit der Kamera innerhalb
zu selbstabwertendem Verhalten und Selbsthass neigen, beispielsweise depressive
mit dem Patienten zu besprechen. Zurückhaltung ist bei Patienten geboten, die
,
:64
8. Mikrointeraktion und videogestützte Supervision
oder narzisstische Patienten. Sie können von einem distanzierenden Blick auf das eigene Verhalten, wie er mit der Videokamera hergestellt wird, selten nützlichen Gebrauch machen.
Anhang
Materialien für den klinischen Gebrauch Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation Die Beschreibung psychischer Funktionen nach unterschiedlichen klinischen Ausprägungsgraden ist im klinischen Gebrauch für die Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation hilfreich; eine umfassende psychodynamische Diagnostik kann dadurch allerdings nicht ersetzt werden. Die im Folgenden dargestellten Gesichtspunkte haben sich für die klinische Beurteilung struktureller und komplexer Störungen sowie schwerer Persönlichkeitsstörungen als gut geeignet erwiesen. Die Beschreibungen psychischer. Funktionen stützen sich maßgeblich auf die Arbeit von Bellak et al. (1973). Die jeweils angegebenen Punktwerte sind nicht als Maßangaben zu verstehen, sondern entsprechen verschiedenen Stufen der Integration. Die Stufen 1 und 2 korrespondieren einer Einschränkung der Persönlichkeitsorganisation auf desintegriertem bis gering integriertem Niveau; auf den Stufen 3 und 4 finden sich Eigenschaften, die einer mäßig integrierten Persönlichkeitsorgarusation entsprechen, und auf der Stufe 5 sind in idealtypischer Weise Eigenschaften einer gut integrierten Persönlichkeitsorganisation aufgeführt (vgl. Arbeitskreis OPD 1996). Geringe Integration (Stufen 1 und 2) zeigt sich in einem wenig ausgeprägten Differenzierungsgrad psychischen Erlebens, in seelischem Funktionieren auf dem Niveau von Bedürfuisbefriedigung, in Beziehungen, die darauf hinweisen, dass Andere nicht als eigenständige Personen erlebt, sondern in erster Linie im Hinblick auf ihre Funktionen walu-genommen werden, die sie für das Selbst haben, korrespondierend dazu in eingeschränkten bis wenig entwickelten psychischen Funktionen der inneren und äußeren Anpassung, einer Neigung zur Externalisierung von Über-Ich- und Ich-Ideal-Konfigurationen, entwicklungsgenetisch frühen Abwehrfunktionen wie Spaltung, Verleugnung, Projektion, Idealisierung und Entwertung sowie Angst auf dem Niveau von Vernichtungsangst sowie Angst vor Objektverlust. Von einer mäßigen Integration (Stufen 3 und 4) ist dann auszugehen, wenn unter wenig belastenden Umständen verschiedene, auch widersprüchlich erscheinende Aspekte' des Selbst und anderer Personen als zueinander gehörige Teilaspekte erlebt werden und andere Menschen als eigenständige Personen in ihrer eigenen Wirklichkeit wahrgenommen werden können; interpersonelle Beziehungen haben überwiegend die Qualität von reziproken Beziehungen; unter Belastungen und in Konfliktsituationen können diese Fähigkeiten jedoch vorübergehend verloren gehen; Ober-Ich- und Ich-
~68
Materialien für den klinischen Gebrauch
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisatioh
Ideal-Inhalte werden unter konstanten, wenig belastenden Bedingungen als zur eige-
P fühlt sich von seinen Mitmenschen unverstanden und erlebt Andere als fremd.
nen Person gehörig erlebt, haben jedoch rigide, überhöhte, unrealistische und perfek-
P zieht sich von anderen Menschen zurück und isoliert sich weitgehend. Kommen
tionistische Qualität; zentrale Angst ist die Angst vor Objekrverlust und vor Verlust
soziale Kontakte zu Stande, scheint P jegliche emotionale Beziehung zum Anderen
der Liebe des Objekts; die vorherrschende Abwehr bewegt sich auf dem Niveau von
vermeiden zu müssen. Andere Menschen scheinen für P emotional weitgehend be-
Reaktionsbildungen. Bei einer stabil integrierten Persönlichkeitsorganisation (Stufe 5)
deutungslos zu bleiben. Bei Annäherungen an andere Personen kann es zu heftigem
können Konflikte als intrapsychisches Geschehen wahrgenommen und gelöst werden;
Streit oder zu destruktiven Verhaltensweisen kommen, die jede nähere Beziehung
das Angstniveau zentriert sich um Angst vor Liebesverlust bzw. Angst vor Verlust der Liebe des Über-Ich.
sofort zunichte machen. Es ist P so gut wie nicht möglich, Nähe und Distanz zu
Der klinischen Wirklichkeit entsprechend sind die Grenzen zwischen den verschie-
regulieren. 2 Kommt es zu sozialen Kontakten, wird die andere Person für eigene Zwecke verwen-
denen Stufen fließend; sie sind nicht starr voneinander zu trennen und sind entspre-
det, ohne dass P das bewusst will oder absichtlich tut. Dauerhafte zwischenmensch-
chend nicht absolut kennzeichnend für ein bestimmtes Niveau der Persönlichkeitsor-
liche Beziehungen gibt es so gut wie nicht. p's Beziehungen zu anderen Menschen
ganisation.
können auch von anklammernden Tendenzen geprägt sein. In diesem Fall ist P auf
nach Möglichkeit alle Eigenschaften beurteilt werden. Auf keinen Fall kann aus der
die physische Anwesenheit des Anderen angewiesen. Es kann auch sein, dass die eine Beziehung von Anklammerungs- und Abhängigkeitsbestrebungen bestimmt ist,
Beurteilung nur einzelner psychischer Funktionen auf das Niveau der Persönlichkeits-
während in anderen sozialen Kontakten Distanz gehalten bzw. Kontakte ganz gemie-
organisation geschlossen werden. Für die differentialdiagnostische- Unterscheidung von strukturellen und neurotischen Störungen muss auch eingeschätzt werden, ob sich die
den werden. 3 p's zwischenmenschliche Beziehungen sind entweder von Tendenzen geprägt, sich
Beeinträchtigung in allen Situationen und in allen Beziehungen des Patienten mani-
von Anderen abzuwenden und sich zu "isolieren, oder aber sie sind in stärkerem Maße
f~stiert
Um zu einem umfassenden Bild der Persönlichkeitsorganisation zu gelangen, sollten
oder ob sie sich lediglich in bestimmten Situationen zeigt und an bestimmte
von Abhängigkeit und anklammerndem Verhalten bestimmt. Es fillt P schwer, zwi-
Personen und somit an umschriebene spezifische Übertragungen gebunden ist. Darüber
schen Nähe und Distanz flexibel hin und her zu wechseln. P sucht entweder Bezie-
hinaus sind die jeweiligen Beeinträchtigungen und Störungen bei einer höher struktu-
hungen, die gleichbleibend enge Nähe versprechen, oder aber es werden emotional
rierten Persönlichkeitsorganisation oftmals erst von einem bestimmten Zeitpunkt ab -
kühlere und distanziertere Beziehungen bevorzugt, etwa aus der Angst heraus, dass
dem der auslösenden Situation - nachweisbar; allerdings lassen sich solche auslösenden
eine engere Beziehung zu einem anderen Menschen in Trennung mündet. 4 P kann sich zwischen Nähe und Distanz, zwischen emotionaler Verbundenheit und
Bedingungen nicht immer nachweisen. Bei niedrigerer Integration sollte sich dagegen in der Regel zeigen, dass die entsprechende Beeinträchtigung weitgehend unabhängig von auslösenden oder symptomverstärkenden Situationen in der lebensgeschichclichen .Längsachse seit der Adoleszenz oder noch früher besteht.
Eigen:ständigkeit meistens flexibel hin und her bewegen. Nur unter stärkeren emotionalen Belastungen werden p's zwischenmenschliche Beziehungen rigider und weniger flexibel. Intensivere emotionale Nähe löst bei P nur selten Angst aus und veranlasst P höchstens ausnahmsweise, diese Beziehungen zu meiden. Gelegentlich kann es
1 Obiektbeziehungen 1.1 Art der Objektbeziehungen
vorkommen, dass P sich verei~zeln und isolieren muss oder aber sich abhängig fühlt und sich anklammernd verhält. 5 P kann vielfältige Beziehungen zu anderen Menschen eingehen und zwischen Nähe und Distanz innerhalb dieser Beziehungen flexibel hin und her pendeln. p's Bezie-
Es wird beurteilt, wie P sich mit seinen Mitmenschen verbunden fohlt. Die einzuschät-
hungen zu anderen Menschen sind von Gegenseitigkeit und Empathie bestimmt.
zenden Phänomene bewegen sich auf einem Spektrum zwischen autistischem Rückzug von
P kann das Erleben des Anderen aus dessen subjektiver Perspektive nachvollziehen.
anderen Menschen über narzisstische und symbiotische Beziehungen bis hin zu Beziehungen,
p's zwischenmenschliche Beziehungen bleiben-auch unter emo.t ional belastenden
die von Wechselseitigkeit und Empathie bestimmt sind. Es wird auch eingeschätzt, wie P mit
Umständen weitgehend unbeeinträchtigt und stabil.
Nähe und Distanz in zwischenmenschlichen Beziehungen umgeht.
269
270
Materialien für den klinischen Gebrauch
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation
1.2 Wahrnehmen und Erleben der Eigenständigkeit von Objekten
1.3 Reife von Objektbeziehungen
Es wird beurteilt, ob und inwieweit P andere Menschen als eigenständige Personen wahr-
Es wird die Reife von Objektbeziehungen anhand des Niveaus der Entwicklung beurteilt.
nimmt oder aber als Extensionen des Selbst erlebt.
Dabei wird auch eingeschätzt, ob und inwieweit gegenwärtige zwischenmenschliche Beziehungen frühere Beziehungen wiederholen oder von früheren Beziehungen maßgeblich beein-
P kann andere Menschen so gut wie gar nicht als unabhängige und eigenständige Personen wahrnehmen. Andere Menschen werden fast ausschließlich im Hinblick
flusst werden.
darauf erlebt, ob und welche Funktionen sie für die eigene Person und die eigenen Zwecke erfüllen.
P meidet zwischenmenschliche Beziehungen weitgehend. Bestehende zwischenmenschliche Beziehungen erscheinen blande und emotional nichtssagend. P's Ge-
2 P kann Gefühle, Meinungen und Beweggründe anderer Menschen nur sehr begrenzt von deren eigenem Standpunkt aus nachvollziehen. Stattdessen nimmt P andere Per-
fühl von Verbundenheit mit anderen Menschen ist gering. Etwaige soziale Kontakte
sonen vorwiegend aus der eigenen Perspektive wahr. Andere Menschen werden überwiegend im Hinblick darauf erlebt, welche Funktionen sie für P haben. Für P sind zwischenmenschliche Beziehungen dann befriedigend, wenn andere Menschen den eigenen Bedürfnissen gemäß funktionieren und sich verhalten. Solange eine andere Person bestimmte Versorgungsfunktionen erfüllt, kann P sich sichef"und geborgen fühlen. 3 P nimmt andere Menschen als eigenständige Personen wahr. Andere Menschen müssen jedoch häufig die Funktion erfüllen, P ausreichend Beachtung zukommen zu lassen, damit ein sicheres Gefühl für die eigene Person aufrechterhalten werden kann. Um eigene Bedürfnisse zu befriedigen, werden andere Menschen von P gelegentlich benutzt, ohne dass P ein Gefühl dafür hätte, wie der Andere sich seinerseits dabei fühlen mag. 4 P erlebt andere Menschen als eigenständige, von ihm selbst getrennte Personen. Nur unter emotional belastenden Umständen kann diese Fähigkeit beeinträchtigt erscheinen. Dann kann es für P wichtig werden, auf andere Menschen in dem Bemühen einzuwirken, dass sie sich ihrerseits verändern oder anders verhalten, um sein eigenes
erscheinen rigide und stereotyp und scheinen undifferenzierten Beziehungsmustern eines frühen lebensgeschichtlichen Entwicklungsniveaus ähnlich zu sein. 2 Die gegenwärtigen zwischenmenschlichen Beziehungen von P haben den Charakter von Beziehungen, die Erfahrungen der frühen Mutter-Kind-Beziehung wiederholen bzw. diesen ähnlich zu sein scheinen. Die jeweilige Beziehungsperson wird erlebt, als würde es sich um eine Figur der früheren Lebens- und Entwicklungsgeschichte handeln. 3 Die gegenwärtigen zwischenmenschlichen Beziehungen von P scheinen Erfahrungen zu wiederholen, die in lebensgeschichtlich früheren Beziehungen gründen und überwiegend nach dem Muster einer Zwei-Personen-Beziehung verlaufen. P hat in solchen Beziehungen stärkere passive Erwartungen, möchte emotional versorgt werden und neigt dazu abzuwarten, dass unangenehme Dinge sich von selbst zum Besseren wenden.
Selbstwertgefühl und seine Selbstachtung aufrechterhalten zu können. P nimmt die Gefühle anderer Menschen aus deren eigener Sicht wahr, versteht sie auch und kann
4 Wiederholungen lebens geschichtlich früher Beziehungserfahrungen sind in P's alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen eher die Ausnahme als die Regel. Schwierigkeiten und Konflikte in Beziehungen zu anderen Menschen können sich zwar manchmal wie gleichförmig wiederholen, haben dann aber meist mit DreiPersonen-Situationen zu tun. Die Beziehungen sind dementsprechend vielfliltiger als
darauf angemessen antworten, hat aber gelegentlich unangemessene Vorstellungen von den Motiven für das Verhalten anderer Personen.
solche, die die Bindung an eine einzige Person zu wiederholen scheinen. 5 Es gibt keine Hinweise für gleichförmige Wiederholungen von Konflikten, die le-
5 P erlebt andere Menschen als eigenständige Personen und verfügt über gute Fähigkeiten, sich in die Lage des Anderen zu versetzen und dessen Befinden nachzuvoll-
bensgeschichtlich frühere Konflikte neu auflegen. Reife zwischenmenschliche Beziehungen überwiegen gegenüber undifferenzierten Beziehungsqualitäten. Etwaige
ziehen. P kann andere Menschen so verstehen, wie sie sich selbst sehen, ohne der
infantile Bedürfnisse von P finden sich integriert in Möglichkeiten, Bedürfnisse in reifen zwischenmenschlichen Beziehungen zu befriedigen. Es ist für P möglich, in
Gefahr zu erliegen, die eigenen Gefühle und Meinungen nicht mehr aufrechterhalten zu können. P ist in der Lage, seine eigenen Bedürfnisse vorübergehend zu vernachlässigen oder zurückzustellen, um sich in eine andere Person einzufühlen, ohne das auf der anderen Seite zwanghaft tun zu müssen.
seinen zwischenmenschlichen Beziehungen flexibel zu bleiben.
271
272
Materialien für den klinischen Gebrauch
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation
1.4 Objektkonstanz
Abwesenheit nicht übermäßig berührt. Das jeweilige Bild, das P von einem anderen Menschen hat, bleibt auch unter belastenden Umständen weitgehend stabil. Trennungen, Alleinsein, Einsamkeit, Verluste und vergleichbare traumatische Erfahrungen werden von Pertragen. P's Gedanken an andere Menschen, seine Reaktionen auf Andere und seine für andere Menschen empfundene Achtung und Wertschät-
Es wird beurteilt, wie weit P in der Lage ist, die physische Abwesenheit eines für ihn wichtigen anderen Menschen ertragen zu können und Frustration und Angst auszuhalten, die in der Beziehung zu einer wichtigen anderen Person erlebt werden.
Es wird auch die Stabilität der Internalisierung von Objekten eingeschätzt, die Grundlage für die Fähigkeit ist, auf andere Menschen bezogen zu bleiben, wenn diese nicht physisch anwesend sind oder sich vorübergehend als unzuträglich erweisen.
Wenn andere Menschen, mit denen P zusammen war, nicht mehr physisch anwesend sind, zieht sich P auf undramatische, blande Weise zurück. Menschen, die nicht körperlich anwesend sind, existieren im Erleben von P nicht. Trennungsangst wird von P nicht erlebt. 2 Es kommt bei P zu unangemessenen, manchmal dramatischen und unangepassten Reaktionen, wenn die andere Person nicht physisch anwesend ist, verloren zu gehen
zung sind unabhängig von deren körperlicher Anwesenheit.
2
Regulierung des Selbsterlebens
2.1 Regulierung des narzisstischen Gleichgewichts Es wird beurteilt, ob und inwieweit P sich seiner Individualität sicher ist, über ein stabiles Selbstbewusstsein und über ein stabiles Körperschema verfogt und sein Selbstwertgefohl regulieren kann.
droht oder P sich von der anderen Person nicht ausreichend geliebt oder sich gekränkt fühlt. Trennungsängste überwiegen gegenüber anderen Ängsten. Der Verlust von anderen Personen kann von P als Katastrophe erlebt werden. Es kann aber auch
1 P hat unrealistische Gefühle eigener Wertlosigkeit oder Grandiosität. Rückmeldungen von außen haben so gut wie keine unterstützende Wirkung auf die Entwicklung eines stabilen Gefühls für die eigene Person bzw. des Selbst. p's Selbstwertgefühl
sein, dass P nur mit diffusem und körperlichem Missbehagen reagiert, wenn Übereinstimmung mit einer wichtigen anderen Person nicht zu Stande kommt oder in erheblicherem Maß gestört ist.
ist in hohem Maße davon abhängig, ob und inwieweit Übereinstimmung mit einer
Y
3 P scheint in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen von anderen Personen weitgehend abhängig zu sein. P kann sich aber auch darum bemühen, weitgehend unabhängig von anderen Personen zu bleiben. Eventuell versucht P, Selbstgenügsamkeit unter Beweis zu stellen. P fühlt sich leicht gekränkt und zurückgewiesen und ist nur schwer in der Lage, allein zu leben. Im Zusammenleben mit anderen Menschen kann P dazu neigen, sich zu isolieren, beispielsweise um Trennungen nicht ertragen zu müssen. 4 P's innere Beziehungen zu anderen Menschen ändern sich nicht wesentlich in Abhängigkeit von deren physischer Anwesenheit oder Abwesenheit. Wenn Aufmerksamkeit und Zuwendung anderer Menschen fehlen, kann es zu mäßiger Angst vor Zurückweisung kommen oder zu Angst davor, verlassen zu werden. Nur unter schwereren
wichtigen Beziehungsperson erlebt wird. Es gibt erhebliche Diskrepanzen zwischen p's Selbstbild und dem Bild, wie P sein möchte. 2 P's Selbstachtung ist gering. P hat kein sicheres Gefühl dafür, wie er selbst ist. Um sich ausreichend wertvoll fühlen zu können, benötigt P in höherem Maße äußere Gratifikationen wie soziales Ansehen, Geld, Erfolg, sexuelle Attraktivität u.ä. Es kann sein, dass P'S Sicherheits- und Selbstwertgefühl von der physischen Anwesenheit einer anderen Person abhängt. P grübelt häufiger darüber nach, wer er selbst eigentlich ist. 3 P's Verhalten kann manchmal rollenhaft wirken. Ein sicheres Gefühl für die eigene Person ist nicht dauerhaft und nicht stabil. Es hat den Anschein, als sei P öfters auf der Suche danach herauszufinden, wer er selbst ist. P ist relativ leicht kränkbar. 4 P's Bild von sich selbst und seine eigene Wertschätzung sind relativ stabil. P's Gefühl dafür, wer er selbst ist, schwankt nur dann, wenn die Menschen in der Umgebung und die äußeren Bedingungen fremd und unvertraut sind. Manchmal fühlt sich P aufgrund von Komplimenten oder ähnlichen Bestätigungen durch andere Men-
oder länger anhaltenden emotionalen Belastungen reagiert P auf die Abwesenheit oder den Verlust anderer Menschen inadäquat. Es kann für P schwierig sein, über längere Zeit hinweg allein zu leben; dabei findet P jedoch Wege, Einsamkeit und Alleinsein zu kompensieren.
schen unrealistisch wichtig und bedeutend. P ist gelegentlich leichter kränkbar. 5 P verfügt sowohl über ein sicheres Gefühl dafür, wer er selbst ist, als auch über rea-
5 P's innere Beziehungen zu anderen Menschen werden von deren Anwesenheit oder
listische Selbstachtung. Unter stärkeren emotionalen Belastungen bleiben Identitäts-
273
~74
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation
Materialien für den klinischen Gebrauch
gefühl und Selbstachtung weitgehend stabil, auch dann, wenn von außen kommende Signale, die sich auf das Selbstbild beziehen, ausbleiben. P ist in der Lage, Krän-
3
. kungen so zu verarbeiten, dass das eigene Selbst bild auf die jeweilige Infragestellung oder Kritik hin überprüft wird.
3.1 Über-Ich
2.2 Stabilität von Selbstgrenzen
Es wird die Stabilität der Grenzen zwischen Selbst/Ich und äußerer Realität beurteilt. P ist sich oft unsicher darüber, ob ein Erleben seinen Ursprung in der eigenen Person oder in anderen Menschen hat. P's Verhalten lässt auf Wünsche schließen, mit anderen Menschen bis zur Ununterscheidbarkeit eins sein zu wolleI).. Es können aber auch Bestrebungen im Vordergrund stehen, gegen Bedürfnisse, mit der anderen Person zu verschmelzen, anzugehen. Das kann sich beispielsweise darin zeigen, dass P bestrebt ist, autark zu sein, oder seine Eigenständigkeit extrem stark betonen muss. 2 P's Gefühl von Eigenständigkeit ist in hohem Maße von den Reaktionen der Umwelt abhängig. Wenn die Umwelt auf P negativ reagien oder Rückmeldungen fehlen, kann P sich selbst nicht mehr als eigenständig und getrennt erleben. 3 . Um seine Gefühle von Eigenständigkeit aufrechterhalten zu können, benötigt P häufiger Rückmeldungen von Seiten der Umwelt. Solange die äußeren Bedingungen weitgehend konstant bleiben und P emotional nicht übermäßig belastet ist, kann das Gefühl von Eigenständigkeit aufrechterhalten werden und P kann sich von Anderen unabhängig erleben. Diese Fähigkeit ist jedoch leicht störbar. 4 P erlebt sich gewöhnlich als von anderen Menschen getrennt und weitgehend unabhängig und ist auf Rückmeldungen von seiten der Umwelt nicht angewiesen, um ein sicheres Gefühl von Eigenständigkeit aufrechterhalten zu können. Kommt es in der Beziehung zu wichtigen anderen Menschen zu emotionalen Belastungen, kann P's Gefühl für Eigenständigkeit und Getrenntsein stärkeren Schwankungen unterworfen sein. Es fällt P manchmal schwer, sich mit Anderen eins zu fühlen, weil das das Erleben von Eigenständigkeit beeinträchtigen würde. 5 P verfügt über sichere Fahigkeiten, zwischen den eigenen Gefühlen, Gedanken und Absichten und denen von Anderen zu unterscheiden. Um das Gefühl von Eigenständigkeit aufrecht erhalten zu können, sind allenfalls geringfügige Rückmeldungen von außen erforderlich. Vorübergehendes Erleben, mit anderen Menschen zu verschmelzen,
kann P genießen, ohne dass dieses Erleben gebraucht würde, um ein sicheres Gefühl für die eigene Person aufrecht zu erhalten. P ist kaum jemals unsicher darüber, ob ein bestimmtes Erleben seine Quelle in der eigenen Person oder in der Umgebung hat.
Über-Ich und Ich-Ideal
Es werden Manifestationen und Verarbeitungen von Schuld sowie von Schuldgefühlen und Schamgefühlen beurteilt. Das beinhaltet das Ausmaß von Verhaltensweisen, die den Charakter von strafenden, gegen die eigene Person gerichteten Tendenzen aufweisen und/oder der Vermeidung von Scham gelten. weiter wird das Ausmaß von RacheimpuLsen und rächendem Verhalten beurteilt. Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, inwieweit Schuldgefühle eventuell eine realistische Grundlage haben. 1 Es gibt bei P massive gegen die eigene Person gerichtete Tendenzen, die die Form suizidalen Verhaltens und/oder extremer depressiver Verstimmung haben können. Sie werden jedoch nicht bewusst erlebt, sondern verleugnet. Schuld wird ausschließlich der Umwelt zugeschrieben. P's Lebensstil wird von Scham und Schamvermeidung bestimmt. Das Verhalten ist in hohem Maße von Regeln gelenkt. Schuldgefühle entbehren jeglicher realistischen Grundlage. P ist eventuell davon überzeugt, unheilbar krank zu sein. 2 P hat rigide und autoritäre Einstellungen gegenüber jeglichem Ausdruck von aggressiven Gefühlen und Impulsen wie auch gegenüber eigenen Wünschen und den Wünschen Anderer. Selbstbestrafungsneigungen äußern sich u. a. in Suizidgedanken. Schuldgefühle werden eventuell durch Hassgefühle abgewehn. P ist außergewöhnlich pflichtbewusst, um Kritik und Schuld bzw. Schuldgefühle zu vermeiden. Es kann aber auch sein, dass bei P jegliches Schuldbewusstsein bzw. Schuldgefühle fehlen; die Maßstäbe, die P an die Übernahme von Verantwonung für sein eigenes und für das Verhalten Anderer anlegt, sind dann vage und unverbindlich. P reagien meist mit Schamgefühlen, selten mit dem Gefühl von Schuld. 3 . P legt strenge, asketische und rigide moralische Maßstäbe an sich selbst und an die Handlungen Anderer an. P ist übermäßig gewissenhaft und neigt dazu, schon bei kleinen Anlässen und in verschiedensten sozialen Situationen Unschuld für sich zu reklamieren. P kann sich im Zusammenhang mit Fragen moralischer Verantwonung gegenüber dem eigenen Handeln wie gegenüber dem Handeln Anderer lässig-großzügig geben. P neigt dann eventuell dazu, redegewandt und schlagfenig oder durch betonte Großzügigkeit über Fragen von Verantwortung und Schuld hinwegzugehen. 4 P kann es tolerieren, für Fehler kritisien zu werden. Kritik, die zu erwanen ist, wird manchmal besonders vorsichtig und ängstlich antizipien. Auch Schuldgefühle können tolerien werden. P kann eigenes schuldhaftes Verhalten erkennen. Schuldgefühle
275
~76
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation
Materialien für den klinischen Gebrauch
dienen in erster Linie als Signal, um ein moralisch integres Verhalten sicherzustellen.
Gefühl vorherrscht, eigene Erwartungen oder die Erwartungen Anderer in umschrie-
Manchmal verhält sich P defensiv, um mit Schuldgefühlen fertig zu werden; zum Bei-
benen Lebensbereichen nicht erfüllt zu haben. 5 p's Selbstbewertung und das Gefühl für den Wert der eigenen Person beruhen auf
spiel kann es sein, dass P hofft, die Umgebung möge sich ändern, um so die Quelle von Schuldgefühlen auszuschalten.
realistischer Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung. Sie sind stabil verinnerlicht und nur bedingt abhängig von Rückmeldungen aus der Umgebung.
5 Schuldgefuhle haben eine realistische Grundlage und behindern die Anpassung nicht. Fehler können erkannt, Kritik für Fehler kann toleriert werden, und P kann Kritik und Fehler nutzen, um sein Verhalten zu verändern. Schuld und Schuldgefuhle müssen nicht verschoben oder anderweitig vermieden werden. p's Verhalten ist von dem Gefühl von Verantwortung für sich selbst und für Andere bestimmt.
3.2 Ich-Ideal
4
Abwehrfunktionen
4.1 Abvvehrniveau
Es wird das Niveau der Abwehr beurteilt. Daneben wird eingeschätzt, inwieweit sich Abwehrmechanismen bzw. Abwehrverhalten oder die im Charakter verankerte Abwehr beein-
Es soll das Verhältnis von eigenen Idealen zu tatsächlich vorhandenen Fähigkeiten und Fer-
trächtigend auf das Denken und Verhalten sowie aufandere psychische Funktionen auswir-
tigkeiten beurteilt werden. Außerdem wird das Gefühl von P for den Wert der eigenen Person
ken.
eingeschätzt. Schließlich soll beurteilt werden, inwieweit P in der Lage ist, seine Selbstachtung zu regulieren.
P verfügt fast ausschließlich über sogenannte primitive Abwehrmechanismen wie
1 p's Vorstellungen davon, wie er sein sollte, stehen in extremem Missverhältnis zu
Abwehr manifestiert sich sowohl im Verhalten wie im Charakter. Zustände nicht
. seinen tatsächlichen Fähigkeiten. Soweit P sich selbst und sein eigenes Handeln für
realitätsangemessener affektiver Erregung verhindern reflexives Denken. Manifes-
schlecht hält, ist die Selbstkritik massiv und extrem und äußert sich z. B. als Selbsthass
tationen projektiver Abwehr sind extrem stark ausgeprägt. Der Mechanismus der
Verleugnung, Projektion, projektive Identifizierung und Spaltung. Diese primitive
oder als Ekel vor sich selbst. P hat unerbittliche Leistungsstandards. Auf fast allen
IdentiHkation mit dem Aggressor ist unter Umständen so ausgeprägt, dass es zu sozial
Gebieten richtet P perfektionistische Ansprüche an sich selbst, unabhängig davon, ob diese realistischerweise erfüllt werden können oder nicht.
abweichendem Verhalten kommt. Sämtliche Abwehrmanöver sind unflexibel. 2 Abwehrverhalten und Abwehrmechanismen haben den Charakter von übermäßiger
2 P legt unrealistisch hohe Maßstäbe an seine eigene und die Leistung Anderer an.
Kontrolle. Intellektuelle Funktionen werden stark überbetont, weil sie primär im
Entweder verachtet P sich selbst, oder strenge Selbstkritik wechselt ab mit einem
Dienste der Abwehr stehen wie beim Intellektualisieren und Isolieren. Affektives Er-
weit überhöhten, unrealistischen Selbstwertgefühl. Es kann aber auch sein, dass
leben wird durch intellektuelle Funktionen unterdrückt. Projektion, Verkennungen,
P eigenen Leistungen und Zielen gegenüber und gegenüber den Leistungen und
Vermeiden und andere Ich-Einschränkungen nehmen breiten Raum ein. Die Abwehr
Zielen Anderer relativ gleichgültig ist.
wirkt sich insgesamt stärker anpassungsbehindernd als anpassungsfördernd aus.
3 P beurteilt seine eigenen und die Leistungen und Erfolge Anderer kritisch. P's Maß-
3 Es Hnden sich Abwehrmanifestationen sowohl auf dem Niveau von Reaktionsbil-
stäbe sind in einigen Bereichen perfektionistisch, in anderen der Realität angepasst.
dungen wie auf dem Niveau primitiverer Abwehrmechanismen. Die reiferen Abwehr-
Es kann aber auch sein, dass es P relativ gleichgültig ist, wie eigene Leistungen und
mechanismen überwiegen jedoch gegenüber Verleugnung, Projektion und anderen
Erfolge zu bewerten sind und welche Maßstäbe er selbst und Andere haben.
primitiven Abwehrmechanismen. Als Hinweis auf die Abwehr von Gedanken- und
4 P ist manchmal perfektionistisch oder aber gleichgültig, wenn es darum geht, sich
Erlebnisinhalten kommt es häufiger zu agierendem Verhalten. Das Abwehrverhalten
selbst und Andere zu beurteilen. In anderen Bereichen stehen p's Maßstäbe und p's
ist insgesamt relativ starr und kann an wechselnde Situationen kaum flexibel ange-
tatsächliche Leistungsfähigkeit in harmonischer Beziehung zueinander. p's Selbstwertregulation ist zu einem großen Teil verinnerlicht und nicht nur abhängig ' von
passt werden. 4 P's Abwehr bewegt sich überwiegend auf dem Niveau von Reaktionsbildungen. P ist
äußeren Erfolgen und Leistungen. P's Selbstwert kann eventuell leiden, wenn das
in der Lage, seine Abwehr je nach Anpassungsnotwendigkeit zu lockern oder aber
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Materialien für den klinischen Gebrauch
zu verstärken und somit von der verfügbaren Abwehr flexibel Gebrauch zu machen. Diese Fähigkeit ist nur in konflikthaften Situationen in nennenswertem Maße einge.schränkt. 5 Die Abwehrfunktionen auf dem Niveau von Reaktionsbildungen bestimmen sich primär nach Anpassungsnotwendigkeiten und stehen sowohl im Dienste der Anpassung an äußere Ereignisse wie im Dienste der Lösung innerer Konflikte. In konflikthaften Situationen werden andere psychische Funktionen durch die Abwehr nicht wesentlich beeinträchtigt. Zwischen Abwehrmanifestationen und nicht-defensiven Modi seelischer Funktionen ist ein flexibler Wechsel möglich.
4.2 Erfolg des Abwehrverhaltens Es wird beurteilt, inwiefern die Abwehr ihren Zweck erfo.llt bzw. misslingt.
Das Abwehrverhalten erfüllt seine Zwecke allenfalls minimal. Triebimpulse bestimmen das Verhalten, und unbewusste Erlebensinhalte führen zu massiver Angst, zu ausgeprägten Depressionen oder anderen affektiven Störungen. Angst bzw. Panik sind heftig. 2 . Frei flottierende und ungebundene Angst beeinträchtigen die Funktionen der Anpassung in hohem Maße. Triebimpulse können das Anpassungsverhalten erheblich beeinträchtigen. Es kommt oft zu depressiven Verstimmungen. Es können sich ichfremd erlebte Gedanken einstellen.
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation
P neigt zu illusionären Verkennungen und ist sich nicht bewusst, dass es sich dabei um grobe Fehlwahrnehmungen handelt. P ist sich öfter unsicher, ob sich etwas wirklich ereignet hat oder von ihm nur geträumt oder fantasiert wurde. 2 P neigt zu illusionären Verkennungen, ist sich jedoch dessen bewusst, dass andere Menschen die gleichen Ereignisse anders sehen oder wahrnehmen. P erlebt innerseelische Ereignisse häufig so, als gehörten sie zur äußeren Realität. 3 Zwischen inneren und äußeren Ereignissen zu unterscheiden, ist für P manchmal schwierig. Insbesondere in Phasen des Einschlafens und/oder Aufwachens hat P bisweilen Schwierigkeiten, sich zu orientieren und zwischen innerer und äußerer Realität zu unterscheiden. Innerseelische Ereignisse werden manchmal erlebt, als handele es sich um Ereignisse in der äußeren Realität. 4 Es fällt P meist nicht schwer zu unterscheiden, ob Ereignisse ihre Quelle in der innerseelischen oder in der äußeren Realität haben. Entsprechende Unsicherheiten und Zweifel treten allenfalls vorübergehend auf und nur unter belastenden Umständen, insbesondere angesichts emotionaler Konflikte in zwischenmenschlichen Beziehungen. Äußere Realität muss kaum je im Dienste der Anpassung verleugnet werden. 5 P verfügt über gute Fähigkeiten, die Quelle von Reizen in der inneren bzw. der äußeren Realität sicher zu lokalisieren. Unter belastenden Umständen bleibt diese Fähigkeit erhalten. Die klare Diskriminierung zwischen inneren und äußeren Ereignissen geschieht habituell und wie automatisch.
3 Neben frei flottierender Angst wie bei Agora- oder Klaustrophobie ist Angst zu einem Teil auch in Symptomen gebunden. Di~ Toleranz für Angst und affektive Verstimmungen ist eingeschränkt. 4 Das Ausmaß an nicht realer Angst ist gering. Angst kann toleriert werden. Sie beein. trächtigt Funktionen der Anpassung nicht wesentlich. 5 Angst ist den realen und situativen Umständen angemessen und kann gut toleriert werden. Unbewusste Inhalte und Triebabkömmlinge führen nicht zu nennenswerten Störungen oder/und Angst.
5
Realitätsprüfung
5.1 Innen-Außen-Diskriminierung Es wird beurteilt, inwieweit P zwischen inneren und äußeren Reizen unterscheiden 'und erkennen kann, ob Reize ihre QueLle in der äußeren oder in der innerseelischen Realität haben.
5.2 Wahrnehmung der äußeren Realität Es wird eingeschätzt, wie genau P äußere Reize wahrnimmt. In diesem Zusammenhang soll auch die Fähigkeit von P beurteilt werden, sich zeitlich und räumlich zu orientieren.
P erscheint manchmal orientierungslos. Die äußere Realität wird in Teilen verkannt. Die Bedeutung von Ereignis~en in der äußeren Wirklichkeit wird oft falsch interpretiert. Reale Ereignisse haben für P häufig überwertige Bedeutung. Insgesamt erscheint P's Wahrnehmung der äußeren Realität vage, diffus und ungenau. 2 Es kommt zu Verkennungen der Bedeutung von Ereignissen in der äußeren Realität. Die Wahrnehmung der äußeren Realität hat insbesondere unter stärkerer Müdigkeit, unter Stress oder unter emotionalen Belastungen einen relativ globalen Charakter und ist ungenau und- diffus. 3 Es kommt bei P nur im Zusammenhang mit Konflikten mit wichtigen Personen zu Fehlinterpretationen der Bedeutung von Reizen und Ereignissen in der äußeren
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~80 Materialien für den klinischen Gebrauch
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation
Realität. Die Wahrnehmung der äußeren Realität ist nur in einigen Bereichen relativ vage und diffus.
Wünsche, Fantasien, moralische Orientierungen u.a. sind P sicher verfügbar und können ohne willentliche Anstrengung wahrgenommen werden. P verfüge über dif-
4 . p's Wahrnehmung der äußeren Realität ist überwiegend differenziert und genau. Nur
ferenzierte selbstreflexive Fähigkeiten.
in wenigen Bereichen wird die äußere Realität manchmal global, etwas ungenau und diffus wahrgenommen. Zu diesen Wahrnehmungsbeeinträchtigungen kommt es nur auf dem Hintergrund umschriebener Konflikte. 5 Die Fähigkeit zur genauen Wahrnehmung der äußeren Realität bleibt auch unter äußeren oder inneren Belastungen erhalten. Die sichere Wahrnehmung der äußeren Realität geschieht konstant, habituell und quasi automatisch.
6
Steuerung und Kontrolle von Affekten und Impulsen
6.1 Ausdruck von Affekten und Impulsen
Es wird die Fähigkeit eingeschätzt, Impulse und Affekte zu steuern. Zu den Phänomenen, die in diesem Zusammenhang zu beurteilen sind, gehören u.a. die Neigung zum Ausagieren,
5.3 Wahrnehmung der innerseelischen Realität
impulsive Verhaltensweisen, anderes symptomatisches Verhalten bis hin zu indirekten Formen des Ausdrucks von Impulsen und Affekten im Verhalten. Je unvermittelter Affekte und Impul-
Es wird beurteilt, inwieweit P innerseelisches Erleben wahrnehmen kann, insbesondere Ge-
se das Verhalten bestimmen, desto wahrscheinlicher kommt es zu Anpassungsstörungen.
fühle, Fantasien, Impulse, Wünsche, innere Verbote u. a. Das beinhaltet die Fähigkeit, sich selbst zum Gegenstand der eigenen Aufmerksamkeit und Betrachtung machen zu können (Selbstrejlexivität) . 1 p's Fähigkeit, eigene Befindlichkeiten, Gefühle, Fantasien, Wünsche u. a. wahrzuneh-
Bei P kommt es zu destruktiven Manifestationen von Aggressivität, Depressivität und/ oder Sexualität. Zwischen Impulsen und Affekten einerseits und tatsächlichem Verhalten andererseits gibt es für P so gut wie keinen Unterschied. p's Verhalten kann für den Anderen physisch bedrohlich sein. P verhält sich eventuell selbstschädigend;
. men, ist sehr gering. P ist nicht oder annähernd nicht in der Lage, das eigene Befin-
unter Umständen kommt es zu Selbstmordversuchen. Fantasieinhalte unterscheiden
den und Verhalten auch nur ansatzweise zu erklären. Entsprechend ist p's Fähigkeit zum reflexiven Umgang mit sich selbst minimal.
sich kaum von tatsächlichem sexuellem oder aggressivem Verhalten. p's Stimmungs-
2 Das von P wahrgenommene eigene seelische Befinden erscheint grob und relativ diffus. Die eigene Befindlichkeit in einer Situation wird deutlicher erst wahrgenommen,
2 P's Verhalten hat meist einen dranghaften Charakter. P empfindet seine Bedürfnisse
schwankungen sind abrupt und extrem. oft nicht bewusst; sie können meist nur aus p's Verhalten geschlossen werden. Es
wenn das Ereignis bzw. die betreffende Situation schon einige Zeit vorüber sind.
kommt sporadisch zu Wutausbrüchen oder zu Impulsdurchbrüchen anderer Art, bei-
3 P nimmt verschiedene Gefühle, Impulse, Wünsche, Fantasien u. a. bei sich selbst
spielsweise in Form von Alkoholkonsum, heftigen Essattacken oder impulsivem se-
wahr. Das Erleben des eigenen inneren Beteiligtseins an einer Situation ist diffus
xuellen Verhalten. P's Affekte und Stimmungen schwanken erheblich. Es kann sein,
und wenig differenziert, wird jedoch unmittelbar in der Situation wahrgenommen.
dass P sich zwanghaft überaktiv verhält.
Fehlwahrnehmungen können korrigiert werden, wenn zu der Situation ausreichende Distanz hergestellt ist. P kann nur begrenzt eine selbstreflexive Haltung einnehmen.
3 P kann sein impuls- und affektbestimmtes Verhalten in Grenzen angepasst steuern. P ist beispielsweise in der Lage, Aggressivität verbal anstatt nur physisch auszudrü-
4 P kann sein inneres Befinden wahrnehmen und dafür unterschiedliche Quellen und
cken. Impulse und Affekte werden oft versteckt und indirekt ausgedrückt. Es können
Ursachen erkennen. Fehlwahrnehmungen und gröbere Fehlinterpretationen von in-
manchmal auch wenig gesteuerte impulsive Verhaltensweisen zu beobachten sein,
neren Erlebensweisen können nach ausreichendem zeitlichem und räumlichem Ab-
etwa eine Neigung zu übermäßigem Essen, ein exzessives Interesse am Sammeln von
stand zu den jeweiligen auslösenden Ereignissen und Situationen korrigiert werden. P verfügt über ausreichende selbstreflexive Fähigkeiten.
Gegenständen, an Sauberkeit u.a. Nicht-bewusste Wünsche und Fantasien agiert
5 P verfügt über eine gute Wahrnehmung von Gefühlen, Fantasien, Impulsen, Wün-
4 p's Affekte und Impulse können in gesteuerter Form in das Verhalten Eingang fin-
schen, inneren Verboten u.a. Auch unter belastenden Umständen und in konflikt-
den. p's Reizbarkeit, Erregbarkeit und Impulsivität sind meist Reaktionen auf spezi-
haften Situationen wird diese Fähigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt. Gefühle,
' fische und umschriebene konflikthafte Erfahrungen, oder sie sind eine Antwort auf
P häufiger aus.
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Materialien für den klinischen Gebrauch
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation
Stresssituationen und von außen kommende Provokationen. Impulse und Affekte kommen in indirekten Verhaltensweisen etwa als Spotten, als situationsangemessenes
mühungen bedienen, um Impulse zu kontrollieren. p's Versuche, den Ausdruck von
'Flirten oder als Sexualisierung von Arbeitsvollzügen zum Ausdruck. Das Ausagieren nicht bewusster Konflikte bleibt umschrieben. Auf Enttäuschungen hin kann sich bei P eine mäßige depressive Verstimmung einstellen.
Oberreaktionen kommen. P kann zum Dramatisieren neigen. 4 In konfliktarmen Bereichen erscheinen p's Fähigkeiten zum Aufschub von Bedürfnis-
Impulsen zu steuern, können rigide erscheinen. Es kann bei P andererseits auch zu
sen und Impulsen gut ausgeprägt und relativ flexibel. Affekte können meist gesteuert zum Ausdruck gebracht werden. In umschriebenen Bereichen und insbesondere unter Konfliktbelastungen kommt es zu unterkontrollienen oder überkontrollierten Reaktionen. Eventuell muss P sich anstrengen, damit es nicht zu über- oder unter-
5 P verhält sich allenfalls dann offen aggressiv, wenn es keine anderen Verhaltensmöglichkeiten gibt, beispielsweise wenn P vital bedroht wird oder wenn es für P unmöglich ist, die eigene Wertschätzung auf andere Weise aufrecht zu erhalten. P bevorzugt genitale sexuelle Befriedigung. Depressive und vergleichbare Stimmungslagen beschränken sich bei P auf Gefühle von Traurigkeit und Trauer und sind Reaktionen auf den Verlust wichtiger Objekte.
kontrollierten Reaktionen kommt. 5 P kann seine Bedürfnisse und Impulse steuern, Befriedigung aufschieben und flexibel im Verhalten ausdrücken. Die Intensivierung bzw. Lockerung von Kontrolle kann sowohl willentlich als auch wie von selbst erfolgen und kann auf die jeweilige Situation abgestimmt werden. Die Flexibilität von Aufschub- und Kontrollmechanismen ermöglicht es P, jeweils in Übereinstimmung mit seinen eigenen Neigungen zu rea-
6.2 Fähigkeit zum Befriedigungsaufschub und Frustrationstoleranz Es wird beurteilt, wie wirksam Aufschub- und Kontrollmechanismen sowohl im Sinne von
gieren.
Über- wie von Unterkontrolle sind. Es wird auch die Frustrationstol&anz eingeschätzt. In diesem Zusammenhang soll auch
Ps Fähigkeit beurteilt werden,
Impulse und Impulsab-
kömmlinge in Denken, in affektiven Ausdruck und in manifeste Verhaltensweisen umzusetzen.
7
Funktionen des Urteilens
7.1 Antizipation
Es fillt P schwer, sexuelle, aggressive oder andere Bedürfnisse aufzuschieben. p's Fä-
Es wird die Fähigkeit beurteilt, sich zu erwartende Folgen des eigenen tatsächlichen oder nur
higkeiten, eigene Impulse zu steuern, erscheinen im Verhältnis zum Drang des Impulses schwach. Physische Aktivitäten sind für P der effektivste Weg, Impulse oder Bedürfnisse unter Kontrolle zu halten. P's Frustrations-, Angst- und Depressionstoleranz ist sehr gering.
beabsichtigten Verhaltens und Handeins klarzumachen und potentielle Gefahren, etwaige Strafen, soziale Konsequ~nzen oder physische Folgen zu bedenken, die das Verhalten nach sich ziehen kann. Es wird auch eingeschätzt, inwieweit P zu erwartende Reaktionen anderer Menschen aufdas eigene Verhalten in Rechnung stellt.
2 Bedürfnisse und Impulse werden von P entweder nur wenig oder aber sehr strikt kontrolliert. Die strikten Kontrollen erscheinen rigide und brüchig, sodass Phasen von Überkontrolle mit Impulsdurchbrüchen oder auch mit psychosomatischen Reaktionen abwechseln können. Unter dem Einfluss depressiver Verstimmungen ist P nicht in der Lage, Impulse und Affekte auszudrücken. Im Falle der Überkontrolle
P gerät infolge von schweren Fehlbeurteilungen seines Verhaltens immer wieder in erheblich selbstgefährdende S~tuationen. p's Fähigkeit zur Antizipation von Folgen des eigenen Verhaltens erscheint minimal. Das kann unter Umständen so weit gehen,
kann P sexuelle und aggressive Bedürfnisse und Impulse im manifesten Verhalten nicht zum Ausdruck bringen. Sexuelle Verhaltensmanifestationen wie etwa voyeuris-
dass sich P gelegentlich vital gefahrdet. 2 p's Beurteilung von Folgen und Konsequenzen des eigenen Verhaltens erscheint lückenhaft. P schätzt die Wirkung seines eigenen Verhaltens auf andere Menschen
tisches Verhalten, Promiskuität oder Beschäftigung mit Pornographie treten als Folge starker Impulse bei gleichzeitig geringen Fähigkeiten zur Impulssteuerung auf.
meist verzerrt ein. 3 Gröbere Fehlbeurteilungen von Folgen des eigenen Verhaltens und Tuns beschränken
3 p's Fähigkeiten zum Aufschub von Befriedigungen können relativ gut ausgeprägt
sich auf umschriebene Situationen und Lebensbereiche. Das kann sich beispielsweise
erscheinen. p's Kontrollmechanismen verlangen aber erhebliche Anstrengungen. P
darin manifestieren, dass P relativ geringfügige Störungen des eigenen körperlichen oder seelischen Befindens für Anzeichen einer schwereren Krankheit hält, oder darin,
muss beispielsweise die Zähne zusammenbeißen oder sich anderer angestrengter Be-
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284
Materialien für den klinischen Gebrauch
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation
dass P kleinere Erfolge im Arbeitsbereich auf schicksalhafte Umstände zurückführt,
Verhalten unangemessen werden. Um sein Verhalten abzustimmen, bedarf es bei
ohne in der Lage zu sein, den Anteil des eigenen Verhaltens daran einzuschätzen.
P gelegentlich bewusster und aktiver Anstrengungen.
. Auch seine Wirkung auf andere Menschen kann P sich öfters nur relativ grob vorstellen.
5 p's Verhalten ist sowohl in seinen sozialen wie in seinen emotionalen Aspekten flexi-
4 In vertrauter Umgebung und im Rahmen von Alltagsroutine gelingt es P, Folgen des
affektiven Reaktionen und sozialem Verhalten stellen sich wie von selbst ein. Auch
eigenen Verhaltens zu bedenken. Nur gelegentlich sind geringfügigere Fehleinschät-
in fremden Situationen und in unbekannter Umgebung wird diese Fähigkeit nicht
zungen von Folgen des eigenen Verhaltens zu beobachten. Es kann P beispielsweise
beeinträchtigt.
bel und angemessen auf die jeweilige Realität abgestimmt. Die Angemessenheit von
schwer fallen, die notwendige Zeit und den notwendigen Arbeitsaufwand für eine termingebundene Arbeit sicher und richtig einzuschätzen. P ist sich seiner Wirkung auf andere Menschen nur selten unsicher. 5 P kann die Folgen seines Verhaltens und die eigene Wirkung auf andere Menschen
8
Regression im Dienste des Ich
8.1 Regressionssteuerung
sicher einschätzen. Konsequenzen eines beabsichtigten Verhaltens können im Vorfeld bedacht und gut antizipiert werden. Auch die Konsequenzen weitgehend spontanen
Es wird beurteilt, inwieweit P in der Lage ist, seine "Wahrnehmung der Realität und sein re-
Verhaltens werden wie von selbst antizipiert, ohne jeweils bewusst reflektiert werden zu müssen.
alitätsangemessenes Denken zu lockern, so dass vorbewusste oder unbewusste Erlebnisinhalte ins bewusste Erleben Eingangfinden. Dabei wird auch eingeschätzt, ob und inwieweit solche regressiven Veränderungen begrenzt und gesteuert oder aber unkontrolliert verlaufen und PS
7.2 Verhaltensabstimmung
Anpassung erschweren oder gar verhindern.
Es wird die Angemessenheit des Verhaltens beurteilt. Dabei wird auch eingeschätzt, ob und
Es kommt bei P zu primitivem und archaischem Verlust des Realitätsbezuges, ohne
inwieweit P in der Lage ist, sich emotional auf verschiedene Personen und Situationen ein-
dass diese weitgehenden regressiven Veränderungen für P eine lustvolle Erfahrung wären. Vielmehr wird p's Anpassungsfähigkeit weitgehend blockiert. Das kann sicl;l
zU:itellen. Diese Fähigkeit kann auch als Taktgefühl bezeichnet werden.
Das Verhalten von P erscheint grob unangemessen, ohne dass P selbst sein Verhalten
auch darin äußern, dass P sich von seinen Fantasien hinweggeschwemmt fühlt. 2 Es kommt bei P, zu weitgehendem Verlust des Realitätsbezuges, ohne dass diese re-
als unangemessen erkennt. Es kann beispielsweise vorkommen, dass P bei einem
gressiven Prozesse mit Genuss verbunden wären. Die regressiven Veränderungen blo-
Traueraniass in lautes Lachen ausbricht in der Überzeugung, sein Verhalten könne
ckieren p's Anpassungsfähigkeit nicht völlig. P bleibt auch unter dem Einfluss solcher
geeignet sein, die Trauergäste von ihrer gedrückten Stimmung abzulenken.
regressiven Veränderungen partiell an der Realität orientiert.
.2 p's soziale und emotionale Reaktionen wirken häufiger befremdlich. Es kann bei-
3 Phänomene im Sinne .des regressiven Verlustes des Realitätsbezuges können zu be-
spielsweise sein, dass P versucht, permanent freundlich zu sein und dabei mit seinem
obachten sein, können scheinbar aber auch fehlen. Es kann sein, dass P nur schwer
unangemessenen Verhalten aufdringlich wirkt, während P selbst sein Verhalten für ei-
in der Lage ist, rigide Kontroll~n zu lockern oder partiell aufzugeben. Das kann sich
nen Ausdruck von Freundlichkeit hält. P verhält sich öfters verletzend und taktlos.
auch daran zeigen, dass es bei P spielerische Fantasien nicht gibt oder P an humor-
3 P kann sein Verhalten relativ flexibel auf die jeweiligen situativen Umstände abstim-
vollen, witzigen oder albernen Aktivitäten und Gesprächen nicht teilnehmen kann.
men. Nur in umschriebenen Lebensbereichen kommt es zu befremdlich wirkenden
Kommt es zu Veränderungen im Sinne der Lockerung des Realitätsbezuges, wird das
Reaktionen. Es kann beispielsweise sein, dass sich P sehr zurückhaltenden Personen gegenüber immer wieder übermäßig mitteilsam und leutselig verhält.
von P als beunruhigend erlebt. 4 Es kann P Spaß machen, an Gedankenspielereien teilzunehmen, Fantasien zu ent-
4 P kann sein Verhalten auf verschiedene Situationen und Umstände hin flexibel ab-
wickeln oder auf andere Weise seinen Bezug zur Realität vorübergehend zu lockern .
stimmen. Diese Fähigkeit ist wenig störanfallig. Nur in unvertrauten Situationen,
.Auf der anderen Seite kann es P gelegentlich Schwierigkeiten bereiten, solche spie-
wenn die jeweiligen Umstände nicht vorab eingeschätzt werden konnten, kann p's
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Materialien für den klinischen Gebrauch
Einschätzung der Persönlichkeitsorganisation
lerischen Aktivitäten unbeschwert zuzulassen und Freude daran zu empfinden, weil Kontrollmechanismen das verhindern.
für kreative und adaptive Aktivitäten nur begrenzt zunutze machen kann. P kann beispielsweise im einen Augenblick verspielt sein und im nächsten ernsthaft; es fehlt
5 P kann seinen Bezug zur Realität gut kontrolliert lockern oder partiell aufgeben. Regressive Erfahrungen und Aktivitäten werden als lustvoll erlebt. Das kommt z.B.
jedoch der fließende Übergang vom einen in den anderen Zustand, wie das für optimale Produktivität und originelle Aktivitäten notwendig wäre. 5 Die Fähigkeit von P, mit einem gelockerten Bezug zur Realität einhergehende Er-
darin zum Ausdruck, dass P albern sein, sich spielerisch und fantasiebestimmt verhalten und die Teilnahme oder Nichtteilnahme an solchen Aktivitäten willentlich
fahrungen adaptiv und kreativ zu nutzen, ist gut entwickelt. Neue Ideen, originelle Problemlösungen und kreative Entwicklungsschritte werden öfters über den Umweg solcher regressiven Erfahrungen gefunden. Der oszillierende Wechsel zwischen regressiveren Erfahrungen und Anpassung verläuft bei P flexibel.
steuern kann. Der Wechsel zwischen relativ wenig gesteuerten und kontrollierteren Erfahrungen geschieht wie von selbst und in oszillierender Bewegung.
8.2 Kreativität
Es wird beurteilt, inwieweit P sich primärprozesshajte Erfahrungen zunutze machen kann, um neue Ideen, Einfolle, Problemlösungen u. a. zu entwickeln. Es wird auch eingeschätzt, ob und in welchem Ausmaß P sich solche regressiven Erfahrungen zunutze macht, um daraus neue Möglichkeiten, sich anzupassen, zu gewinnen.
P entwickelt so gut wie nie neue Ideen oder neue Lösungen für Probleme. Originalität gibt es nicht. Was wie Originalität aussehen kann, ist nicht das Ergebnis von Erfahrungen infolge einer kontrollierten Lockerung des Bezugs zur Realität, sondern allenfalls Resultat mechanischen Lernens oder anderer einfacher und unkreativer Prozesse. Ein Oszillieren des seelischen Funktionsniveaus wird nicht beobachtet. 2 In Zusammenhang mit Aktivitäten, die P plant oder an die P denkt, tauchen gelegentlich vereinzelte Traum- oder Fantasieelemente oder vergleichbare Phänomene auf. Deren Einfluss auf die Entwicklung neuer oder kreativer Betrachtungsweisen oder Problemlösungen, die die Anpassung von P potentiell fördern könnten, ist jedoch gering. Die Art, wie P Probleme löst, erscheint steril und gleichformig. 3 Es fillt P schwer, aus einem Zustand eines gelockerten Bezuges zur Realität zu realitätsbezogener Anpassung zu wechseln, weil P nur schwer aus einem regressiven Zustand wieder auftauchen kann. Eine Lockerung des Realitätsbezuges einerseits und der Kontrollmechanismen andererseits scheint nicht parallel, sondern wie getrennt voneinander zu erfolgen. Erfahrungen, die auf einen gelockerten Realitätsbezug zurückgehen, haben bei P nur geringen Einfluss auf die Entwicklung neuer Ideen und origineller Aktivitäten. 4 P kann seine Erfahrungen, die auf einen gelockerten Bezug zur Realität zurückgehen, gelegentlich als lustvoll erleben und sich für Anpassungszwecke zunutze machen. Oszillierende Bewegungen im Sinne des Wechsels zwischen regressiveren Erfahrungen und Anpassung kommen vor, sind jedoch nicht immer flexibel, sodass P sie sich
9
Reizschwelle
Es wird beurteilt, wie empfindlich P for innere und äußere Reize ist bzw. wie wirksam sich P gegenüber den verschiedenen inneren und äußeren Reizqualitäten abschinnen kann.
1 P ist außerordentlich empfindlich gegenüber geringfügigen Reizen. Dabei müssen die Reize von P nicht unbedingt bewusst wahrgenommen werden. Es kann z. B. sein, dass P außergewöhnlich lärmempfmdlich ist und entsprechend reagiert, obwohl der Lärm bewusst nicht gehört wird. 2 P's Reizschwelle ist sehr niedrig. P reagiert relativ empfindlich auf leichtere körperliche Veränderungen. Auch geringe Reizbelastung kann unter Umständen zu diffuser Reizbarkeit oder Gereiztheit führen. 3 P reagiert auf Reize hin vergleichsweise empfindlich. Insbesondere Kälte, Hitze, Lärm, grelles Licht und ähnlich intensive Reize werden als übermäßig störend empfunden. Trotz dieser Empfindlichkeit und Reizbarkeit kann P unter Umständen auch ein Verlangen nach stärkeren Reizen haben. 4 Gegenüber den meisten Reizqualitäten ist P's Reizschwelle durchschnittlich hoch. Lediglich gegenüber wenigen Reizen ist die Schwelle entweder erhöht oder erniedrigt. Es kann beispielsweise s~in, dass P spezielle Geräusche nicht gut verträgt, während die Reizschwelle gegenüber Geräuschen ansonsten durchschnittlich effektiv funktioniert. 5 P verfügt über flexible Mechanismen, mit deren Hilfe es möglich ist, sich gegenüber Reizen abzuschirmen. P ist in der Lage, sowohl Reizüberflutung zu verhindern, aber auch eine adäquate Zufuhr von Reizen sicherzustellen. Auch durch sehr starke Reize lässt sich P nicht aus der Ruhe bringen.
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Materialien für den klinischen Gebrauch
Schwerpunkte in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie
10 Sprache und Kommunikation
unterstützen, eignen sich aber auch für die diagnostische Erfassung des Gruppengesche-
Es wird beurteilt, in weichem Ausmaß sich in Sprache und Kommunikation primär- oder
hens während der therapeutischen Arbeit. Für die psychoanalytisch-interaktionell ausgerichtete therapeutische Arbeit in Grup-
sekundärprozesshaJte Denkweisen zeigen.
pen mit Patienren mit schwereren strukturellen und komplexen Störungen ist es in besonderem Maße wichtig, dafür aufmerksam zu sein, wie die Gruppenteilnehmer sich
Es ist manchmal schwierig, den Gedanken von P zu folgen. P drückt öfters eigen-
äußern, und nicht nur - und oft nicht einmal in erster Linie - dafür, was sie inhaltlich
tümliche und befremdliche Ideen aus. Es kommt häufiger zu Kommunikationsab-
mitteilen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass strukturelle Störungen sich
brüchen, die darauf zurückzuführen sind, dass Fanrasien und Ideen, die von plötzlich
in erster Linie in der sozialen Lebenswelt inrerpersonell manifestieren: die Probleme
einschießenden Impulsen geprägt sind, die Gedanken und den sprachlichen Mittei-
und Schwierigkeiten der Patienten äußern sich oftmals nicht sprachlich-symbolisch,
lungsfluss unrerbrechen. Das Denken ist gelegentlich unlogisch.
sondern werden per Verhalten in Beziehungen in Szene gesetzt und teilen sich dann
2 p's Art zu kommunizieren wirkt entweder rigide und starr oder aber weitschweifig
mehr als mit Worten per Handeln mit. Was das Gegenüber für sie ist und wie sie die
und zerfahren. P äußert gelegentlich etwas eigentümliche Ideen. Besonders in ange-
Beziehung erleben, zeigt sich unter Umständen deutlicher darin, wie die Patienren sich
spannren Situationen können plötzlich auftauchende Gedanken die Kommunika-
im inreraktiven Austausch verhalten, als darin, was sie darüber sagen, und umgekehrt
tion stören, die dann zerrissen erscheinen kann. Der kommunikative Austausch ist
ist für sie das Verhalten und Handeln ihres Gegenübers oftmals wichtiger als das, was der Andere ihnen mit Worten mitteilt. Das ist auch einer der Gründe dafür, weshalb die
manchmal starr oder aber weitschweifig.
3 p's Art und Weise zu denken ist gelegentlich etwas ungenau~ unklar oder zwanghaft übergenau. Es fallt P manchmal schwer, an einem Gedanken festzuhalten, weil plötzlich andere Einfalle und Assoziationen einschießen. Bisweilen kommen leicht befremdliche Ideen, Weitschweifigkeit oder zwanghafte Übergenauigkeit vor. P kann sich gelegentlich von objektiven Fakten nicht lösen. 4 P's Art und Weise zu kommunizieren ist überwiegend klar und relativ eindeutig. Das Denken ist geordnet und logisch. Manchmal kommt es in konflikthaften Situationen vorübergehend zu unlogischem Denken und etwas verschrobenen oder übergenauen Verdichtungen oder Widersprüchen. 5 P hat die Fähigkeit, spontane Einfälle und Assoziationen in ungestörte, aber nicht rigide Kommunikationsmuster zu inregrieren. In p's Ausdrucksweise fehlen gröbere Eigenrümlichkeiten. P verfügt über sehr gute Fähigkeiten, zwischen verschiedenen Gesprächsebenen zu wechseln. Die Kommunikation ist unzweideutig und bedient sich der inrersubjektiv geteilten Bedeutung von Wörtern und Begriffen.
diagnostische und therapeutische Aufmerksamkeit in der Behandlung sich in besonderem Maße auch auf nichtsprachliches Verhalten, auf das nicht-symbolisch vermittelte inrerpersonelle Handeln richtet.
1
Thema
Worüber wurde in der Gruppe gesprochen? Was haben die Gruppenteilnehmer manifest geäußert? Haben sich die Äußerungen aufein gemeinsames, manifestes Thema bezogen? Gibt es in den Äußerungen somit einen »roten Faden«, einen gemeinsamen manifesten Gegenstandsbereich, aufden sich die Äußerungen inhaltlich beziehen oder bezogen haben?
Erläuterungen
Es soll erfasst werden, was manifest in welcher Abfolge von den Gruppenteilnehmern
Schwerpunkte in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie
geäußert wurde, und wie sich die Gruppenreilnehmer geäußert haben. Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Beginn der Gruppensitzung gelten, dem anfänglichen Verhalten der Anwesenden in der Gruppe und den ersten manifesten sprach-
Die im Folgenden aufgeführten Leitfragen und die jeweiligen Erläuterungen können die Auswertung von psychoanalytisch-interaktionell geleiteten Gruppenbehandlungen
lichen Äußerungen.
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Materialien für den klinischen Gebrauch
2
Situationsdefinitionen
Schwerpunkte in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie
die Gültigkeit bestimmter Regeln des interpersonellen Verhaltens für diese konkrete Situation schließen (fallen beispielsweise kritische Äußerungen nur gegenüber Außen-
Haben in dieser Gruppensitzung einzelne oder mehrere Gruppenteilnehmer das Ge-
personen, oder wird Zuneigung durchweg gleich verteilt)?
schehen.in der Gruppe ausdrücklich mit Situationen oder mit Ereignissen, die sie aus
Wie wurde diesen sozialen Normen Geltung verschafft?
anderen Zusammenhängen kennen, verglichen (Situationsdefinition wie etwa »das ist ja wie im Theater hier« oder »wann kommt der Kaffee« oder »heute ist Damenwahl«)?
Lässt sich aufgrund von Sanktionen gegenüber bestimmten Verhaltenszügen auf die
Lässt das manifeste Verhalten einzelner oder mehrerer Gruppenteilnehmer darauf schließen, dass sie das Geschehen ähnlich wie andere Situationen oder Ereignisse, die
Geltung von sozialen Normen in dieser Gruppensituation schließen? Waren die sozialen Normen in der Gruppe konstant, oder ist es zu Veränderungen oder Entwicklungen gekommen?
ihnen aus anderen Zusammenhängen bekannt sind, behandelt haben (die Gruppenteilnehmer verhalten sich rollenhaft, als würden sie ein Theaterstück aufführen, oder in der
Erläuterungen
Gruppe wird wie beim Kaffeeklatsch geplaudert)? Stimmen die Definitionen der SituaEin Aspekt interpersonellen Verhaltens sind »Regeln« bzw. soziale Normen. So wie sich
tion der Gruppenteilnehmer überein, oder gab es verschiedene oder auch miteinander nicht vereinbare Situationsdefinitionen?
Anwesende immer implizit oder - seltener - explizit über Situationsdefinitionen ver-
Gab es im Verlauf der Gruppensitzung Veränderungen der Situationsdefinition?
ständigen, verständigen sie sich auch über Regeln, die für ihr gegenwärtiges Miteinander-Umgehen gelten bzw. gelten sollen. Auch dieser Verständigungsprozess geschieht nur ausnahmsweise ausdrücklich; meist verständigen sich Anwesende implizit darüber,
Erläuterungen
welche Regeln in der aktuellen Situation gelten sollen. Regeln für das aktuelle interper-
Wenn mehrere Personen zusammen kommen, stehen sie - auch wenn ihnen dies nicht
sonelle Verhalten werden dann »im Vollzug« des Verhaltens geltend gemacht. Indem
bewusst ist - immer vor der Aufgabe, sich darüber zu verständigen, was ihr Zusammen-
die eine Person sich in einer bestimmten Weise zu einer anderen Person verhält, bringt
treffen für sie bedeutet und in welcher Weise sie sich aufeinander beziehen wollen. An-
sie immer auch zum Ausdruck, welche Regeln des interpersonellen Verhaltens für die
wesende müssen die Situation, in der sie miteinander zu tun haben, somit immer auch
gegenwärtige Situation gelten sollen; die andere Person verhält sich zu diesem impli-
»definieren«. »Definition« meint in diesem Zusammenhang nicht, was üblicherweise
ziten »Vorschlag« ihrerseits, woraufhin die erste Person in ihrem Verhalten wiederum
unter Definition verstanden wird: Gemeint ist vielmehr, dass Personen, die miteinander umgehen, sich in irgendeiner Weise wechselseitig darüber verständigen, wie sie sich zu-
»Stellung bezieht«. Regeln des interpersonellen Verhaltens oder soziale Normen stehen nicht von vorn-
einander verhalten wollen. Das steht nicht von vornherein fest und ist nicht bestimmten
herein für bestimmte Situationen schon fest. Vielmehr müssen sich die an einer Situation
Situationen von vornherein immanent. Das so gemeinte »Definieren« geschieht fast
beteiligten Personen auch darüber verständigen, welche Regeln oder Normen gelten sol-
. immer unausdrücklich. Nur dann, wenn es zu Missverständnissen oder zu Konflikten kommt, sprechen Anwesende ausdrücklich darüber, wie sie die Situation »definieren«.
len und in welcher Weise sie diese Regeln verstehen wollen. Regeln des interpersonellen
Fast jedes interpersonelle Verhalten kann immer auch unter dem Gesichtspunkt der
konkreter sozialer Situationen festgelegt wären oder Situationen von außen auferlegt
Definition der Situation verstanden werden.
Verhaltens oder soziale Normen sind somit keine »Gebilde«, die irgendwo außerhalb sind; gleichwohl handelt es sich um soziale Tatsachen. Sie werden in jedem Moment und in jeder Phase interpersonellen Verhaltens erneut zur Geltung gebracht, verhandelt, festgelegt, revidiert und weiterentwickelt. Verallgemeinert und auf Gruppensituationen
3 Normen
bezogen bedeutet das: Die Teilnehmer an Gruppen beziehen sich nicht auf Regeln des
Haben sich in dieser Gruppe gemeinsame Normen (Regeln des interpersonellen Verhal-
interpersonellen Verhaltens bzw. soziale Normen, sondern sie bringen diese Regeln in
tens) entwickelt (z.B. »wir sitzen alle im gleichen Boot«, oder »wir mögen uns hier alle
ihrem jeweiligen Verhalten in der konkreten Situation zur Geltung. Auf diese Art und
gerne«, oder »jeder muss selbst wissen, was er macht«)?
Weise entscehen interpersonelle Normen im Sinne von Regeln des interpersonellen Ver-
Lässt das Verhalten einzelner oder mehrerer oder auch aller Gruppenteilnehmer auf
haltens; sie werden somit immer von Neuem hervorgebracht.
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Materialien für den klinischen Gebrauch
4
Geäußerte Gefühle
Welche Gefühle haben einzelne bzw. mehrere Gruppenteilnehmer geäußert? Gab es beobachtbare (sichtbare, hörbare) Hinweise oder Signale, die auf bestimmte Affekte bei einzelnen oder bei mehreren Gruppenteilnehmern schließen lassen?
Schwerpunkte in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie
Teilobjektbeziehungen unterscheiden sich von Beziehungen zu Repräsentanzen »ganzer« Objekte in erster Linie dadurch, dass gleichsam ein Teil des Objekts für das ganze Objekt genommen wird. Die Beziehungen zu Teilobjekten oder archaischen Objekten werden aufrechterhalten, weil sie bestimmte Funktionen für die betreffende Person erfüllen, beispielsweise selbstwertregulierende oder bedürfnisbefriedigende Funktionen, nicht deshalb, weil das Objekt um seiner eigenen Besonderheit wegen wichtig ist.
Erläuterungen Affekte sind mit dem Selbsterleben und mit Objektbeziehungen verbunden; sie haben selbst- und beziehungsregulierende Funktionen. Patienten mit strukturellen Störungen können Gefühle oft nicht spüren oder sie nehmen nur körpernahe Empfindungen (z. B. Spannungsgefühle) wahr, oder sie verspüren Gefühle nur diffus und grob (z. B. »ich fühle mich gut« oder »es geht mir schlecht«). Hier ist auch zwischen der Wahrnehmung und dem Ausdruck von Gefühlen zu unterscheiden. Affekte teilen sich zwar mimisch und gestisch mit, Mimik und körperlich-gestisches Verhalten sind jedoch vieldeutig; bestimmte mimische Signale lassen nicht ohne Weiteres auf bestimmtes Gefühlserleben schließen (z. B. Tränen des Kummers, der Wut oder der Freude).
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Beziehungen
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Psychische Funktionen
Auf welche psychischen Funktionen lassen Äußerungen und Verhalten des jeweiligen Gruppenteilnehmers schließen? Welche Funktionsbeeinträchtigungen kommen darin zum Ausdruck?
Erläuterungen In jeder Situation und bei jedem Verhalten spielen - in unterschiedlichem Maß - äußere und innere Realität (etwa Affekte, Triebimpulse, moralische Anforderungen) eine Rolle und werden im Verhaltensvollzug »berücksichtigt«. In der psychoanalytischen Strukturtheorie werden diese Leistungen einem sogenannten »Ich« zugerechnet, einer Instanz, die Träger verschiedenster Funktionen der inneren und äußeren Anpassung und Regulierung ist. Diese Funktionen entwickeln sich im Verlaufe der Lebensgeschichte zu
Lässt das Verhalten (Äußerungen, Gefühle, nicht-sprachliches Handeln) einzelner oder mehrerer Gruppenteilnehmer auf eine bestimmte Objektbeziehung bzw. Teilobjektbeziehung schließen, die in dieser Situation vermutlich aktualisiert wurde? Gibt es begründete Hinweise darauf, ob es sich eher um Selbstobjektbeziehungen, um dyadische Beziehungen zwischen einem Selbst und einem - bei strukturellen Störungen häufig . archaischen - Objekt oder um triadische »ödipale« Beziehungen handelt?
mehr oder weniger habituell eingesetzten Mitteln und Wegen, mit denen innere und äußere Anforderungen b.ewältigt und »Lösungen« für wiederkehrende .Ereignisse und
Stimmen die vermutlich aktualisierten Objekt- bzw. Teilobjektbeziehungen bei mehreren Gruppenteilnehmern miteinander überein, oder spricht mehr dafür, dass es sich bei den aktualisierten Beziehungserfahrungen um sehr verschiedene Typen handelt?
te ebenso wie affektiv bestimmte Verhaltensweisen. Psychische Funktionen sind keine bestimmten auffindbaren Prozesse, die sich spezi-
Erläuterungen
Umstände gefunden werden. Sie bestimmen im Wesentlichen die »Stile« ~es Erlebens und des Verhaltens; Persönlichkeiten ebenso wie Persönlichkeitsstörungen lassen sich als unterschiedliche Stile des Erlebens und Verhaltens beschreiben. Dazu gehören Stärken und Ressourcen ebenso wie Beeinträchtigungen und Abwehrformen, kognitiv bestimm-
fisch von anderen auffindbaren Prozessen unterscheiden würden. Sie lassen sich zutreffender als eine bestimmte Art des Zugangs und der Perspektive konzeptualisieren, unter denen wiederkehrende Erlebens- und Verhaltensmuster beschrieben werden. Klinische Phänomene können oft unter mehreren Aspekten psychischer Leistungen
Das aktuelle Erleben und zu einem Teil auch das aktuelle Verhalten in Beziehung zu
und Einschränkungen gleichzeitig beschrieben werden. So kann ein paranoides Erleben
anderen Personen stehen in Verbindung damit, dass Erfahrungen früherer Beziehungen (verinnerlichte Objekt- bzw. Teilobjektbeziehungen) wieder wachgerufen und in dieser Situation aktualisiert werden (Reaktualisierung, Übertragung).
aber auch unter Gesichtspunkten der Fähigkeit zur Wahrnehmung von äußerer Realität; hochgradig ängstigende Verschmelzungserlebnisse können als Hinweis auf die ein-
beispielsweise unter Gesichtspunkten von Abwehr (Projektion) beschrieben werden,
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Materialien für den klinischen Gebrauch
geschränkte Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Selbst-Objekt-Grenzen beschrieben werden, aber beispielsweise auch unter dem Gesichtspunkt der Fähigkeit zur Regressionssteuerung als Einschränkung der Fähigkeit zur adaptiven Regression im Dienste des Ich.
Schwerpunkte in der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie
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Interventionen des Therapeuten
Worauf hat der Therapeut in dieser Gruppe mit seinen Interventionen fokussiert (etwa auf einzelne Vorschläge zur Regulierung des interpersonellen Verhaltens, auf Situationsdefinitionen, auf bestimmte psychische Funktionen einzelner Teilnehmer, auf eine
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Gefühle und Affekte bei der Beobachtung
Welche Gefühle und Affekte haben sich während der Beobachtung des Gruppengeschehens eingestellt?
Gruppennorm, auf Aspekte einer bestimmten Teilobjektbeziehung) ? Welche Art von Intervention hat der Therapeut verwendet (beispielsweise gefiihlshafte Antwort, eigener Normvorschlag, modellhaftes Verhalten)? Welche alternativen Interventionen hätte es geben können?
Woraufhin haben sich diese Gefühle und Affekte möglicherweise eingestellt? Wie könnte zu verstehen sein, dass es gerade diese Gefühle waren, die sich eingestellt haben?
Erläuterungen In allen psychodynamischen Psychotherapien, besonders in der psychoanalytisch-interaktionellen Psychotherapie, ist eine wichtige Anforderung an den Psychotherapeuten, die eigenen Gefühle und Affekte möglichst genau wahrzunehmen und mit der aktuellen äußeren (Patient, Situation) und der eigenen innerpsychischen Realität in Verbindung zu bringen. Das ist deshalb wichtig, weil alles psychotherapeutische Geschehen ein interpersonelles Geschehen ist, und weil die eigenen Gefühle und Affekte ein wichtiger Teil dieses interpersonellen Geschehens sind. Deshalb muss nicht nur der Gruppentherapeut, sondern sollten auch Beobachter von therapeutischen Gruppen etwa im Kontext von Supervision auf die eigenen Gefühle und Affekte achten und versuchen, diese im Kontext der äußeren Realität (Gruppengeschehen) und der eigenen inneren Realität zu verstehen. . Hier kann es aber leicht zu kurzschlüssigen Folgerungen kommen: Eigene Gefühle und Affekte weisen nicht zwangsläufig auf ein bestimmtes Geschehen in der äußeren Realität hin; die eigenen Gefühle sind kein Indikator für ein bestimmtes Geschehen auf Seiten der Patienten und auf Seiten der Gruppe. Sie sind vielmehr Teil eines interpersonellen Geschehens, und selbstverständlich können sich auch Gefühle und Affekte einstellen, ohne dass diese auf Einflüsse der äußeren Realität zurückzuführen sind, also auf Wirkungen des Patienten bzw. der Gruppe. Schlussfolgerungen wie: »Ich habe nicht klar gesehen, also wollte der Patient mir Sand in die Augen streuen« oder »Ich war verärgert, also wollte der Patient mich ärgern« sind kurzschlüssig - auch wenn sie im Einzelfall einmal zutreffen mögen.
Erläuterungen Das allgemeine therapeutische Ziel des Therapeuten in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie ist es, den Patienten darin zu unterstützen, habituelle und deshalb relative Sicherheit vermittelnde Mittel und Wege der inneren und äußeren Anpassung aufZugeben, weil sie dysfunktional geworden sind, und mit therapeutischer Unterstützung neue Mittel und Wege auszuprobieren und zu entwickeln, die ihm einen - unter Entwicklungsgesichtspunkten verstandenen - reiferen und damit freieren Umgang mit sich selbst und mit Anderen ermöglichen. Mit dieser entwicklungsprogressiven Orientierung wird er seine Interventionen in erster Linie auf Situationsdefinitionen in der Gruppe ausrichten, auf soziale Normen, auf Aktivitäten, die geeignet sind, Normen zur Geltung zu bringen, auf psychische Funktionen einzelner Gruppenteilnehmer und einer Mehrheit in der Gruppe, und insbesondere auf die bei einzelnen, bei mehreren oder unter Umständen auch bei allen Gruppenteilnehmern aktualisierten Objektbeziehungen beziehungsweise Teilobjektbeziehungen sowie auf die dazugehörigen Gefühle. Der Umstand, dass der Therapeut seine Interventionen in erster Linie auf die genannten Phänomene ausrichtet, bedeutet nicht, dass er nicht auch für unbewusste Konflikte, deren Verarbeitungen und psychosozialen Manifestationen aufmerksam ist; er wird sich häufiger mit der Frage konfrontiert sehen, welche unbewussten Konflikte bei einzelnen Gruppenteilnehmern und in der Gruppe insgesamt den jeweils im Vordergrund stehenden Phänomenen zu Grunde liegen mögen; er wird darauf aber in den meisten Fällen nicht mit deutenden Interventionen fokussieren.
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Fortbildungsmöglichkeiten
3. Beratung und Personalführung
Fortbildungsmöglichkeiten
In nicht-therapeutischen sozialen Berufen und Tätigkeitsfeldern werden hohe soziale Kompetenzen verlangt. Ein guter Berater zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er in der Lage ist, sein Handeln auf die besonderen psychosozialen Umstände auf Seiten seines Klienten abzustimmen. Dazu muss der Berater in der Lage sein, die Wirkungen seines eigenen Handelns auf seinen Klienten zu antizipieren und das Verhalten seines
1. Psychoanalytisch-interaktionelle Einzeltherapie
Klienten im Kontext seines eigenen Verhaltens zu lesen. Das Gleiche gilt für den Bereich
Zur Fortbildung in psychoanalytisch-interaktioneller Therapie werden regelmäßig
der Personalführung. Dazu bietet die psychoanalytisch-interaktionelle Arbeitsweise ef-
Kurse und Seminare zur Diagnostik von strukturellen Störungen, zur Gestaltung und
fektive Mittel und Wege an. Zur Fortbildung in psychoanalytisch-interaktionell ori-
Handhabung der therapeutischen Beziehung (Aufklärung des Patienten, Rahmen, the-
entierter Beratung und Personalführung werden Seminare mit kleiner Teilnehmerzahl
rapeutische Haltung u. a.), zu therapeutischen Techniken und zur videounterstützten
angeboten. In der Fortbildung nehmen unter anderem videounterstützte Mikroanalysen
Mikroanalyse therapeutischer Interaktion angeboten. Die Fortbildungsveranstaltungen
der Interaktion von Berater und Klient einen zentralen Platz ein.
werden in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft für die Anwendung der Psychoanalyse in Gruppen und der Klinik Tiefenbrunn durchgeführt Weitere Informationen unter www.interaktionell.de
2. Psychoanalytisch- interaktionelle Gruppentherapie Seit über 30 Jahren führt die Arbeitsgemeinschaft für die Anwendung der Psychoanalyse in Gruppen jährliche Fort- und Weiterbildungskurse in psychoanalytisch-interaktioneller Gruppentherapie durch. Die Arbeitsgemeinschaft wurzelt in der Praxis klinischer Gruppenpsychotherapie im Krankenhaus Tiefenbrunn bei Göttingen. Dort finden auch die Kurse jeweils in der ersten Dezemberwoche statt. Die Seminare beinhalten Selbsterfahrungsgruppen, die Demonstration von Gruppenbehandlungen mit anschließender Auswertung in Gruppen und Theorieseminare, in denen die theoretischen Grundla. gen der Methode vermittelt werden. Die einwöchige Fortbildung wendet sich in erster Linie an Interessenten aus therapeutischen Tätigkeitsfeldern, aber auch an Angehörige aus anderen Berufsfeldern, die in Gruppentherapie ausgebildet sind und/oder ihre Kompetenzen und Erfahrungen erweitern wollen. Seit 1980 werden darüber hinaus dreijährige Weiterbildungskurse angeboten. Gemäß den Richtlinien der Krankenkassen zählt die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie zu den tiefenpsychologisch fundierten Behandlungsverfahren. Weitere Informationen unter www.psychoanalyse-in-gruppen.de
Weitere Informationen unter www.interaktionell.de
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Abwehr- und Sicherheitssystem 66 f. Agieren 90, 112f., 115, 134,243 Alltagskommunikation 146, 152ff., 163 Antwort 152 ff., 234 Aufklärung des Patienten - Diagnose 106 ff. - Behandlung 109 ff. - Gruppentherapie 223 ff. Außensei ter 252 ff. auslösende Situation 26, 268 Authentizität 145 ff. Behandlungsmotivation 171 Beliandlungsorganisation 204, 205 Behandlungsvereinbarungen 104, 113 f., 118ff., 122, 129f. Co-Therapie 258ff. Dauer der Behandlung 135 f., 214 Definition der Situation 122f.,218ff., -239,247,290 Diagnostik 103, 105, 106f., 110, 233f. Enactment 16,90, 186 Erzählen 80, 83 Fokus 95, 123 f., 204 f. Fragen des Patienten 106, 108, 110 Gegenübertragung 36, 148 f., 156 ff., 163, 178
- komplementäre 157 - konkordante 157 Grundregel 126, 127 f., 225 Handlungsdialog 83, 150 hilfreiche therapeutische Beziehung 74, 100 Ich-Psychologie 51 Idealisierung 164 ff., ~90 Impulskontrolle 210, 246 ff., 281 f. inneres Arbeitsmodell 21 f., 83 Interaktionsmuster 32, 163, 164,222 Interaktionsregulierung 24,44, 80ff., 141,174,181 f. Komorbidität 25 Kontaktinitiative 143f., 190f., 208, 238 Kooperation in der Therapie 113, 128 ff. Krisensituationen 22, 112, 134 f. Medikamente 76, 133 f. Mentalisieren 41 f., 49ff., 54,161 Mikroanalyse 261, 263 Mikrointeraktion 261 ff. Modell 259 nichtsprachliches Verhalten 54, 57, 82 f., 85f., 90ff., 141, 186ff., 261 Normen 218,221 f., 231 f., 236f., 239 f., 249 ff., 290 f.
Objektbeziehung 51 f., 55, 220, 238, 268 ff., 292 f. Objektkonstanz 132, 134, 142, 169, 197ff., 272 Objektverlust 138, 169, 201, 204 Öffentlichkeit 215 f. Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) 18
sexuelle Beziehungen 248 f., 256 soziale Ängste 61 ff., 94 ff., 126, 129, 140f.,144,239,242,248 soziale Lebenswelt 28 , 30, 98 soziale Phobie 62, 63 suizidales Verhalten 56, 73, 114, 118. 131 ff., 212f. szenische Darstellung 16, 89 ff., 186
Persönlichkeit 19, 20 f. Persönlichkeitsorganisation 20 f., 41, 150 f., 267 ff. Präsenz 145 Privatheit 215 f. Progression 102,151,161,206
Teilobjekt 293 therapeutische Beziehung 15, 35, 37 f., 51,75, 87f., 94,101, 112, 139f., 157, 166f.,178f.,216f.,261f. therapeutischer Raum 112, 145 Toleranzgrenzen 52, 120 f., 138, 142, 162, 163f., 194, 195, 226, 228f., 240 Träume 206 f. Trennungen 197 f., 202, 241, 256 ff.
Rahmen 111 ff., 135, 136f., 223, 243f., 246 Regression 98,102,141,151, 285f. Sanktionen 218, 221 f., 252 Schweigen 16, 82, 93, 110, 122, 143, 208,209 Selbst 31 f., 56, 59 f., 102 Selbstbeobachtung 150, 187, 280 f. Selbstgrenzen 187,274 Selbstobjekt 55,82, 160, 161, 168, 173f., 184,255 Selbstregulierung 24, 44, 53, 80 ff., 151, 173, 181f.,205,255,273f.
Übertragung 35f., 108, 133, 192,219, 227,233 - negative 210 ff. unbewusster Konflikt 39 ff., 139, 295 Verschwiegenheitsverpflichtung 229 f. Video 261 ff. Vorgespräch 113, 135 f., 223 ff. Zeit 104, 105, 213f., 223, 245 Ziele 124f., 171, 194,214
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