Frank Schneider Positionen der Psychiatrie
Frank Schneider
Positionen der Psychiatrie
K
Prof. Dr. Dr. Frank Schneider Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
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ISBN-13 978-3-642-25475-8 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetz springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Planung: Renate Scheddin, Heidelberg Projektmanagement: Katrin Meissner, Heidelberg Umschlaggestaltung: deblik Berlin Satz: Medionet, Berlin SPIN: 80113551
Gedruckt auf säurefreiem Papier
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V
Vorwort Positionen der Psychiatrie zu beschreiben heißt, den Menschen in seiner Umgebung in den Mittelpunkt zu stellen. Aspekte der Forschung und der Versorgung sind aufzunehmen, heute und in der Projektion für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Die Akteure sind zunächst einmal die Patienten und ihre Angehörigen und dann natürlich die Psychiater selbst. Einer der wichtigsten Vertreter unseres Fachs ist Univ.-Prof. Dr. Henning Saß, der zum Ende des Jahres 2010 aus dem aktiven Dienst als Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Aachen ausgeschieden ist. Zuvor war er 10 Jahre lang, von 1990 bis 2000, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum und von 1994 bis 1998 Dekan der Medizinischen Fakultät. Henning Saß war darüber hinaus in zahlreichen medizinischen Fachgesellschaften tätig, z. B. als Präsident der Europäischen Psychiatrischen Gesellschaft (EPA) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), deren Ehrenmitglied er auch ist. Er ist Herausgeber nationaler und internationaler wissenschaftlicher Fachzeitschriften, Autor von Büchern und zahlreicher Publikationen. Zu diesem besonderen Anlass haben wir Ende 2010 aus seiner ehemaligen Klinik heraus ein Symposium mit dem Titel »Positionen der Psychiatrie« in Aachen organisiert. Eine größere Anzahl an wissenschaftlichen Vorträgen hat die verschiedenen Positionen von Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik näher beleuchtet. Die Bandbreite der Interessen von Herrn Kollegen Saß, die sich von der Psychopathologie und forensischen Psychiatrie über gesellschaftliche und kulturelle Fragestellungen bis hin zu neurobiologischen Themen erstreckt, wollten wir darstellen. Es war unser Anliegen, die ver-
schiedenen Herausforderungen, Perspektiven und Standpunkte zu betonen. Außerdem war mit diesem Fokus auch die Aufforderung an jeden der Vortragenden verbunden, sich persönlich im Fach zu positionieren. Wir haben zu dieser Festveranstaltung frühere und aktuelle Wegbegleiter sowie Schüler und Enkel von Herrn Prof. Saß zu einem wissenschaftlichen Vortrag eingeladen. Es war uns ein besonderer Wunsch, gerade jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei diesem Symposium als Vortragende zu begrüßen, um an der Abfolge der Generationen die rasanten Entwicklungen unseres Fachs deutlich zu machen. Die Beiträge des Symposiums sind nun im vorliegenden Buch zusammengefasst. Besonders danken möchte ich Frau Dr. Isabelle Reinhardt und Herrn Dipl.-Psych. Volker Backes, die ganz wesentlich an der Erstellung dieses Bandes beteiligt waren. Herbst 2011 Frank Schneider
VII
Inhaltsverzeichnis I 1
Neurobiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . 1 Von neuronalen Risikomechanismen zu neuen Therapien in der Psychiatrie . . 3 Andreas Meyer-Lindenberg
2
Psychiatrische Diagnostik, Psychopathologie und Phenomics im Zeitalter der Genomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Wolfgang Maier
3
Neuronale Schaltkreise als kleinste Einheit kortikaler Netzwerke – Struktur und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Dirk Feldmeyer
4
Synapsen: Schlüsselelemente der Signalübertragung im Gehirn . . . . . . . . 21 Joachim Lübke
5
Die phrenische Komponente der Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Karl-Jürgen Bär, Heinrich Sauer
II 6
Forensische Psychiatrie: Prognose und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Stellenwert empirischer Befunde bei der Beurteilung von Schuldfähigkeit und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Jürgen Müller
7
Zur prognostischen Bedeutung des Tatverhaltens bei Sexualdelinquenz . . . 41 Klaus-Peter Dahle, Jürgen Biedermann
8
Lockerungen im Maßregelvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Norbert Leygraf
9
Zur Willensfreiheit aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht . . . . . . . 53 Dieter Dölling
10
Behandlung psychisch kranker Straftäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Norbert Nedopil
11
Psychopathischer Determinismus: nicht mildernd, sondern erschwerend und nach dem US-amerikanischen Gesetz strafbar . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Alan R. Felthous
12
Eine psychiatrische Position zur Maßregel der Sicherungsverwahrung . . . . 69 Elmar Habermeyer
III 13
Forensische Psychiatrie: neurobiologische Korrelate . . . . . . . . . . . . . 75 Hirnstrukturelle Auffälligkeiten bei Soziopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Sabrina Weber-Papen, Ute Habel
14
Neuronale Korrelate der Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Birgit Derntl
15
Neurobiologie der Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Katja Bertsch
VIII
Inhaltsverzeichnis
16
Neuronale Korrelate von Frustration und Impulsivität . . . . . . . . . . . . . . . 95 Christina Pawliczek
IV 17
Therapie bei psychischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Die Bedeutung früher psychischer Störungen für das Erwachsenenalter am Beispiel der dissozialen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Beate Herpertz-Dahlmann, Timo Vloet
18
Psychologische und neurobiologische Grundlagen von Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Sabine C. Herpertz
19
Störungsorientierte, evidenzbasierte Psychotherapieverfahren am Beispiel der Borderline-Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Klaus Lieb
20
Integrierte Behandlung bei der Komorbidität Psychose und Sucht . . . . . . 121 Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Thomas Schnell
21
Neurobiologie der Psychotherapie am Beispiel von Schizophrenie und Panikstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Benjamin Straube, Axel Krug, Tilo Kircher
22
Das Unkontrollierbare kontrollieren mit Neurofeedback? . . . . . . . . . . . . 135 Klaus Mathiak
23
Forschungsförderung und Psychotherapie – Status und Verbesserungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Peter Falkai, Fritz Hohagen
V 24
Klinische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Welche Rolle spielt Dopamin bei psychischen Erkrankungen? . . . . . . . . . 147 Ingo Vernaleken
25
Bildgebung genetischer Aspekte des Parkinson-Syndroms . . . . . . . . . . . 153 Kathrin Reetz
26
Störungen der neuronalen Repräsentation von Handlungsintentionen bei psychischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Knut Schnell
27
Metaanalysen, Datenbanken und Modelle in der psychiatrischen Forschung 169 Simon B. Eickhoff, Claudia Rottschy
28
Management in der psychiatrischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Volker Backes
29
Neurowissenschaftliche Befunde bei Drogenkonsum . . . . . . . . . . . . . . 185 Hanns Jürgen Kunert
30
Neuronale Korrelate belohnungsorientierten Verhaltens und Implikationen für Abhängigkeitserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Katja Spreckelmeyer
31
Möglichkeiten und Grenzen der Elektrokrampftherapie . . . . . . . . . . . . . 195 Michael Grözinger
IX Inhaltsverzeichnis
VI 32
Psychiatrie, Psychotherapie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Qualitätssicherung und psychiatrische Versorgungsforschung . . . . . . . . 203 Thomas Becker, Markus Kösters
33
Sektorenübergreifende psychiatrische Versorgung im Jahr 2020 . . . . . . . 209 Frank Bergmann
34
Gesundheitsökonomische Folgen psychischer Krankheiten . . . . . . . . . . 213 Jürgen Fritze
35
Psychiatrie in Europa: Stand der Dinge, Chancen und Herausforderungen . 219 Hans-Jürgen Möller
36
Leitlinien bei psychischen Erkrankungen am Beispiel der Depression . . . . 229 Mathias Berger, Frank Schneider, Christian Klesse, Martin Härter
37
Evidenzbasierte Psychiatrie – Möglichkeiten und Grenzen . . . . . . . . . . . 235 Michael Musalek
VII 38
Psychiatrie als Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Ambivalenz der Freiheit: Ideengeschichte und Psychopathologie . . . . . . 245 Matthias Bormuth
39
Das Selbst – Konstrukt oder Realität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Thomas Fuchs
40
Die Ideengeschichte psychiatrischer Krankheitsmodelle und ihre Bedeutung für die Identität der Psychiatrie im 21. Jahrhundert . . . . . 259 Paul Hoff
41
Kunst, Krankheit und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Klaus Podoll
42
Zwei ethische Grundvoraussetzungen psychiatrischer Forschung . . . . . . 271 Hanfried Helmchen
VIII 43
Positionen der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Persönlichkeit, Struktur verformung und Wahn am Beispiel der Querulanz . 279 Henning Saß
X
Autorenverzeichnis Backes, Volker, Dipl.-Psych.
Biedermann, Jürgen, Dipl.-Psych.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected]
Institut für Forensische Psychiatrie Charité - Universitätsmedizin Berlin Oranienburger Straße 285 13437 Berlin
[email protected] Bormuth, Matthias, Priv. Doz. Dr. med
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Jena Philosophenweg 3 07737 Jena
[email protected]
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Universität Tübingen Gartenstr. 47 72074 Tübingen
[email protected]
Becker, Thomas, Prof. Dr. med.
Dahle, Klaus-Peter, Priv. Doz. Dr. phil.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II Universität Ulm Bezirkskrankenhaus Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2 D-89312 Günzburg
[email protected]
Institut für Forensische Psychiatrie Charité - Universitätsmedizin Berlin Oranienburger Straße 285 13437 Berlin
[email protected]
Bär, Karl-Jürgen, Prof. Dr. med.
Derntl, Birgit Dr. rer. nat.
Kapuzinergraben 19 52062 Aachen
[email protected]
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected] und Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie Universität Wien Liebiggasse 5 1010 Wien
Bertsch, Katja, Dr. rer. nat.
Dölling, Dieter Prof. Dr. iur
Klinik für Allgemeine Psychiatrie Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Voßstr. 2 69115 Heidelberg
[email protected]
Institut für Kriminologie Universität Heidelberg Friedrich-Ebert-Anlage 6-10 69117 Heidelberg
[email protected]
Berger, Mathias, Prof. Dr. med.
Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Freiburg Hauptstr. 5 79104 Freiburg
[email protected] Bergmann, Frank, Dr. med.
XI Autorenverzeichnis
Eickhoff, Simon, Jun. Prof. Dr. med.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
[email protected] Falkai, Peter, Prof. Dr. med.
Universitätsmedizin Göttingen Georg-August Universität Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Von-Siebold-Str. 5 37075 Göttingen
[email protected] Feldmeyer, Dirk, Prof. Dr. rer. nat.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen und Forschungszentrum Jülich Leo-Brandt-Strasse 52425 Jülich
[email protected] Felthous, Alan R., M.D.
Professor Department of Neurology & Psychiatry 1438 S. Grand Blvd. St. Louis, Missouri 63104 USA
[email protected] Fritze, Jürgen, Prof. Dr. med.
Asternweg 65 50259 Pulheim
[email protected] Fuchs, Thomas, Prof. Dr. med. Dr. phil.
Klinik für Allgemeine Psychiatrie Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Voßstr. 4 D-69115 Heidelberg
[email protected]
Gouzoulis-Mayfrank, Euphrosyne, Prof. Dr. med.
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Universität Köln Kerpener Straße 62 50937 Köln
[email protected] und Allgemeine Psychiatrie II Rheinische Kliniken Köln-Merheim Wilhelm-Griesinger Str. 23 51109 Köln Grözinger, Michael, Priv. Doz. Dr. med.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected] Habel, Ute, Univ.-Prof. Dr. rer. soc.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected] Habermeyer, Elmar, Priv. Doz. Dr. med.
Forensisch Psychiatrischer Dienst Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Lenggstrasse 31 Postfach 1931 8032 Zürich
[email protected] Härter, Martin, Prof. Dr. Dr.
Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Freiburg Hauptstr. 5 79104 Freiburg
[email protected]
XII
Autorenverzeichnis
Helmchen, Hanfried, Prof. em. Dr. med.
Klesse, Christian, Dipl.-Psych.
Charité - Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Eschenallee 3 14050 Berlin
[email protected]
Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Freiburg Hauptstr. 5 79104 Freiburg
[email protected]
Herpertz, Sabine C., Prof. Dr. med.
Klinik für Allgemeine Psychiatrie, Universität Heidelberg Voßstr. 2 69115 Heidelberg
[email protected] Herpertz-Dahlmann, Beate, Dr. med.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen
[email protected]
Kösters, Markus, Dr. biol. hum.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg Ludwig Heilmeyer Str. 2 89312 Günzburg
[email protected] Krug, Axel, Dr. rer. medic.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Gießen und Marburg Rudolf-Bultmann-Straße 8 35043 Marburg
[email protected]
Hoff, Paul, Prof. Dr. med. Dr. phil.
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für Soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZH West Lenggstrasse 31 Postfach 1931 8032 Zürich Schweiz
[email protected]
Kunert, Hanns Jürgen, Priv. Doz. Dr. phil.
Universitätsmedizin Göttingen Georg-August Universität Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Von-Siebold-Str. 5 37075 Göttingen
[email protected] Leygraf, Norbert, Prof. Dr. med.
Hohagen, Fritz, Prof. Dr. med.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik für Psychosomatik Zentrum Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Schleswig Holstein Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck
[email protected] Kircher, Tilo, Prof. Dr. med.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Gießen und Marburg Rudolf-Bultmann-Straße 8 35043 Marburg
[email protected]
Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen LVR - Klinikum Essen Virchowstr. 174 45147 Essen
[email protected] Lieb, Klaus, Prof. Dr. med.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Johannes Gutenberg Universität Mainz Untere Zahlbacher Str. 8 55131 Mainz
[email protected]
XIII Autorenverzeichnis
Lübke, Joachim, Prof. Dr. rer. nat.
Müller, Jürgen, Prof. Dr. med.
Forschungszentrum Jülich Leo-Brandt-Straße 52425 Jülich und Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected]
Universität Göttingen Abt. Psychiatrie und Psychotherapie Niedersächsisches Landeskrankenhaus Göttingen Rosdorfer Weg 70 37081 Göttingen
[email protected]
Maier, Wolfgang, Prof. Dr. med
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Straße 25 53105 Bonn
[email protected] Mathiak, Klaus, Prof. Dr. med. Dr. rer. nat.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected] Meyer-Lindenberg, Andreas, Prof. Dr. med.
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5 68159 Mannheim
[email protected] Möller, Hans-Jürgen, Prof. Dr. med.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ludwig Maximilians Universität München Nußbaumstr. 7 80336 München
[email protected]. de
Musalek, Michael, Prim. Univ. Prof. Dr. med.
Anton Proksch Institut Gräfin Zichy Straße 6, 1230 Wien, Österreich
[email protected] Nedopil, Norbert, Prof. Dr. med
Forensische Psychiatrie, Ludwig Maximilians Universität München Nußbaumstr. 7 80336 München
[email protected] Pawliczek, Christina, M.Sc.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected] Podoll, Klaus, Dr. med.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected] Reetz, Katrin, Jun. Prof. Dr. med.
Neurologische Klinik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected]
XIV
Autorenverzeichnis
Rottschy, Claudia, Ärztin
Straube, Benjamin, Dr. rer. medic.
Neurologische Klinik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected]
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg Rudolf-Bultmann-Straße 8 35043 Marburg
[email protected]
Sauer, Heinrich, Prof. Dr. med
Vernaleken, Ingo B., Prof. Dr. med.
Klinik für Psychiatrie Klinikum der FSU Jena Philosophenweg 3 D-07740 Jena
[email protected]
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected]
Saß, Henning, Prof. em. Dr. med.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected] Schneider, Frank, Prof. Dr. med. Dr. rer. soc.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected] Schnell, Knut, Dr. med.
Klinik für Allgemeine Psychiatrie Zentrum für Psychosoziale Medizin Universitätsklinikum Heidelberg Voßstr. 2 69115 Heidelberg
[email protected] Spreckelmeyer, Katja, Dr. rer. nat.
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen
[email protected]
Vloet, Timo D., Dr. med.
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindesund Jugendalters Universitätsklinikum Aachen Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen
[email protected] Weber-Papen, Sabrina, Dipl.-Psych. und Ärztin
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 D-52074 Aachen
[email protected]
1
Neurobiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen Kapitel 1
Von neuronalen Risikomechanismen zu neuen Therapien in der Psychiatrie – 4 Andreas Meyer-Lindenberg
Kapitel 2
Psychiatrische Diagnostik, Psychopathologie und Phenomics im Zeitalter der Genomik – 10 Wolfgang Maier
Kapitel 3
Neuronale Schaltkreise als kleinste Einheit kortikaler Netzwerke – Struktur und Funktion – 16 Dirk Feldmeyer
Kapitel 4
Synapsen: Schlüsselelemente der Signalübertragung im Gehirn – 22 Joachim Lübke
Kapitel 5
Die phrenische Komponente der Schizophrenie – 28 Karl-Jürgen Bär, Heinrich Sauer
I
3
Von neuronalen Risikomechanismen zu neuen Therapien in der Psychiatrie Andreas Meyer-Lindenberg
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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1
Kapitel 1 · Von neuronalen Risikomechanismen
In der Rückschau auf das letzte Jahrzehnt der psychiatrischen Forschung ergibt sich immer deutlicher eine auffällige Diskrepanz: Auf der einen Seite ist ein rasanter, anhaltender und sich beschleunigender Fortschritt der psychiatrischen Grundlagenforschung zu verzeichnen. »The decade of the brain« hat in keiner anderen Disziplin so tiefgreifende inhaltliche undkonzeptuelle Umwälzungen bewirkt, wie in der Psychiatrie. Dem steht jedoch ein erhebliches Defizit im Bereich der Therapie gegenüber.
z
Psychiatrie nach der »decade of the brain«
Um die Schizophrenie als Beispiel zu nehmen, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Sterblichkeit bei dieser Erkrankung in den letzten Jahrzehnten gefallen ist. Im Gegenteil ist sie relativ zur Gesamtbevölkerung wahrscheinlich sogar gestiegen (Sahaet al. 2007). Auch im Bereich der Krankheitslast und Lebenszufriedenheit sind Fortschritte nur eingeschränkt zu verzeichnen. Dies ist bei der Häufigkeit und Schwere psychischer Erkrankung nicht akzeptabel: Die »European-burden-of-brain-disorders-Studie« zeigte klar, dass die Krankheitslast durch Erkrankungen des Gehirns, von denen der Löwenanteil auf das Konto psychiatrischer Erkrankung geht, fast so groß ist, wie die insgesamt auf die somatischen Erkrankungen entfallende (Wittchen et al. 2005). Die dadurch verursachten direkten und indirekten Kosten überstiegen 2005 die Größe des Haushalts der Bundesrepublik Deutschland. z
Defizite der Translationsforschung
Worauf ist dieses schmerzliche Defizit im Bereich der Translationsforschung zurückzuführen? Einige Aspekte betreffen die Therapieforschung im Bereich der Medizin allgemein. Wir fokussieren im Folgenden auf den Bereich der Pharmakaentwicklung. Hier ergibt sich trotz ständig ansteigender Ausgaben sowohl im Bereich der industriellen Forschung und Entwicklung als auch im Bereich der Förderung der öffentlichen Hand ein beständiges Abfallen der Anzahl der auf den Markt kommenden, tatsächlich innovativen Medikamente (»new molecular entities«). Die Pipelines der »forschenden Pharmaindustrie« waren noch nie so schlecht gefüllt wie in den letzten Jahren. Die Führung eines innovativen Medikaments zur Marktreife ist entsprechend angestiegen und beläuft sich nach ei-
ner neuen Hochrechnung auf 3,9 Mrd. Dollar. Die Gründe für dieses auffällige Versagen der translationalen Psychopharmakaentwicklung haben sich im Laufe der letzten Jahre deutlich verschoben. Während es in den 1990er Jahren im Wesentlichen noch um Probleme mit der Pharmakologie, d. h. mit der unzureichenden Bioverfügbarkeit oder Pharmakokinetik der Substanzen, ging, so ist dieses Problem in den letzten Jahren deutlich in den Hintergrund getreten. Nach wie vor besteht jedoch eine Schwierigkeit in der Vorhersage der »efficacy«, also der Frage, auf welche Zielsymptome und in welchem Ausmaß eine Kandidatensubstanz therapeutischen Einfluss nehmen kann. Diese Probleme sind im Bereich der Psychiatrie besonders deswegen ausgeprägt, weil das Verständnis der molekularen Pathophysiologie psychischer Erkrankungen nur in unzureichendem Ausmaß Eingang in die Medikamentenentwicklung gefunden hat. Stattdessen sind zahlreiche, in der Medikamentenforschung eingesetzte Tiermodelle nach wie vor auf den Wirkmechanismen bereits vorher entdeckter, häufig durch Zufall gefundener Medikamentenklassen basiert. Ein wesentliches Beispiel sind hier die typischen Neuroleptika und die durch sie induzierte Dopamin-Rezeptor-Blockade, deren Auswirkung in Tiermodellen abgebildet wird. Die so zur Prüfung neuer Substanzen eingesetzten Tiermodelle bergen daher die Gefahr der Entwicklung stets ähnlicher Wirkmechanismen in sich, also der Entwicklung von »me-too-drugs«, die sich in der Tat in der Psychopharmakologie der letzten Jahre und Jahrzehnte auch bestätigt findet. Diese schwierige Situation hat im Jahre 2010 zu einer erheblichen Desinvestition führender Unternehmen der Pharmaindustrie geführt. Beispielsweise haben sowohl GlaxoSmithKline als auch AstraZeneca in diesem Jahr einen Rückzug aus der im Hause durchgeführten Psychopharmakaforschung angekündigt. z
Kombination von Genetik und Systembiologie – ein Ausweg?
Kann diese Pattsituation der Translationsforschung durch neurowissenschaftliche Entwicklungen behoben werden? Ein in der ersten Woche des Jahres 2010 erschienenes Editorial der führenden Wissenschaftszeitschrift Nature gab dieser Hoffnung Ausdruck (Nature 2010). Der Autor rief eine »decade
5 5
1 · Von Neuronalen Risikomechanismen
for psychiatric disorders« aus, in der neurowissenschaftliche Ansätze zum Erfolg in der Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen wie der Schizophrenie führen würden. Science griff im März desselben Jahres diesen Ball auf und skizzierte in einem Übersichtsartikel die Zukunft der psychiatrischen Translationsforschung als eine Kombination genomischer Forschung mit Erkenntnissen auf der neuronalen Systemebene (Akil et al. 2010). Diesen hoffnungsvollen forschungsstrategischen Ansichten möchte ich beipflichten und sie im Folgenden durch ein Beispiel aus der eigenen translationalen Arbeit illustrieren. z
Gene als Indikatoren von Risikomechanismen
Die Wichtigkeit eines genetischen Ansatzes für die Translationsforschung im Bereich der Psychiatrie ist nicht zu überschätzen. Das liegt nicht etwa daran, dass einzelne Gene, für sich genommen, wesentlichen prädiktiven Anteil an seelischen Erkrankungen hätten. Zwar sind häufige seelische Erkrankungen hochgradig (wie bei Schizophrenie, Autismus) oder doch wesentlich (bspw. bei der Depression der Angststörung) heritabel, d. h., der Gesamtanteil genetischer Faktoren an der Krankheitsvarianz ist erheblich. Jedoch haben die genomweiten Assoziationsstudien der letzten Jahre klar gezeigt, dass häufige genetische Varianten für sich genommen jeweils ein nur eingeschränktes Risiko erklären, das selten den Bereich einer 20 %igen Erhöhung überschreitet (Purcell et al. 2009). Die Wichtigkeit der Erforschung genetischer Risikovarianten liegt aus meiner Sicht vielmehr darin, dass sie einen hypothesenfreien Eintrittspunkt in die Entdeckung tatsächlich neuer biologischer Risikomechanismen dieser Erkrankungen erlauben. Der Forschungsansatz der 1980er und 1990er Jahre, über ein Verständnis der den Symptomen psychiatrischer Erkrankungen zugrunde liegenden kognitiven Phänomene zu einer therapeutisch umsetzbaren Neurobiologie vorzudringen, ist aus meiner Sicht wenig erfolgreich geblieben. Dies ist wahrscheinlich deshalb der Fall, weil auch kognitive Abläufe noch zu weit von den eigentlichen biologischen Risikofaktoren schwerer seelischer Erkrankungen entfernt sind und diese Risikofaktoren selbst häufig eine Entwicklungsperspektive besitzen, also bereits in Hirnreifungsvorgänge in frü-
1
hen Entwicklungsstadien eingreifen, lange bevor die Erkrankung die Aufmerksamkeit des Klinikers erregt. Hier bieten genetische Faktoren die Möglichkeit, tatsächlich Mechanismen aufzuklären, die bereits in den frühesten Phasen der Erkrankung wirksam sind. Sicherlich ist diese Strategie kein Allheilmittel. Die mit einzelnen genetischen Varianten verknüpfte geringe Varianz impliziert auch, dass nicht jede so untersuchte biologische Risikokaskade therapeutisch wesentlich sein wird. Auch wenn sie es ist, muss das vom Gen kodierte Protein nicht notwendigerweise einer medikamentösen Beeinflussung zugänglich sein. In jedem Fall ist es aber so, dass eine vielversprechende Strategie nicht nur in der Entdeckung solcher genetischen Varianten, wie sie hypothesenfrei durch genomweite Assoziationsstudien inzwischen möglich ist, liegen kann, sondern dann besonders auch in der Aufklärung ihrer Wirkung durch die gesamte Kaskade biochemischer, zellulärer, neuronaler Systemeffekte, die dann schließlich auf der Ebene des Verhaltens, der klinischen Symptome und des Therapieverlaufs manifest werden (Meyer-Lindenberg 2010). z
Ein Beispiel: CACNA1C
Als Beispiel hierfür kann eine genetische Variante in CACNA1C dienen, die die Untereinheit eines spannungsabhängigen Kalziumkanals, des »L-type voltage-dependent calcium channel Cav1.2«, kodiert. Diese Variante wurde 2008 zunächst genomweit mit bipolarer Störung assoziiert gefunden. Weitergehende Untersuchungen zeigten dann auch eine eindeutige Assoziation mit schizophrenen Psychosen. Der vom Gen, in dem die Variante liegt, kodierte Kalziumkanal war bereits vorher ausführlich untersucht worden. Er ist insbesondere im Hippocampus vorhanden und dort notwendig für die NMDA-unabhängige synaptische Plastizität. Entsprechend fanden sich in Knock-out-mouseModellen, in denen dieses Gen ausgeschaltet war, erhebliche Störungen der Hippocampusfunktion, beispielsweise im Bereich des Raumgedächtnisses. Bei unserer eigenen Untersuchung mit Hilfe der »Imaging Genetics«, bei der die Auswirkungen häufiger genetischer Risikovarianten an menschlichen Normalprobanden durch bildgebende Verfahren sichtbar gemacht werden, erwarteten wir daher einen Einfluss auf die Hippocampusfunktion
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Kapitel 1 · Von neuronalen Risikomechanismen
(Erk et al. 2010). Diese Hypothese bestätigte sich in der Tat. Wir fanden eine eindrückliche Störung der Aktivierung des vorderen Hippocampus bei einem episodischen Gedächtnisparadigma. Insofern ergab sich einerseits eine erfreuliche Korrespondenz zum Tiermodell, andererseits eine plausible mechanistische Brücke zum Schizophrenierisiko, das in zahlreichen Theoriebildungen mit der Hippocampusfunktion, -integrität und -konnektivität verknüpft ist. Offen blieb jedoch die Frage, inwieweit auch das Risiko für eine affektive Störung, insbesondere die bipolare Störung, auf der neuronalen Systemebene an Korrelat finden würde. Hier ergab sich jedoch in unserer Untersuchung ein im Tierexperiment nicht gefundener Befund, der eine solche Brücke darstellte: Wir fanden nämlich eine ausgeprägte regionalspezifische Funktionsstörung im Bereich des subgenualen Cingulums. Das subgenuale Cingulum ist eine entscheidende präfrontale Hirnregion zur Regulation des limbischen Systems – insbesondere der Amygdala – im Kontext negativer Affektivität, Risiko für eine affektive Störung, insbesondere Depression, und Mechanismen wie Extinktion. In zahlreichen Vorarbeiten ist es als Region des Haupteffekts insbesondere serotonerger genetischer Risikovarianten für affektive Störungen im Kontext von Gen-Umwelt-Interaktionen hervorgetreten (Pezawas et al. 2005). Die Tatsache, dass diese Region, die auch Zielpunkt von innovativen interventionellen Verfahren wie der Tiefenhirnstimulation bei der Depression ist, assoziiert mit dem genetischen Risiko für CACAN1C gefunden wurde, legt einen Mechanismus nahe, der die Assoziation dieser genetischen Risikovariante auch mit affektiven Störungen zu erklären hilft. Was bedeuten die Befunde nun für die Therapieforschung? Einerseits ist der von dem Gen kodierte Kalziumkanal selber ein attraktives »Target« für die Medikamentenentwicklung. Ionenkanäle gehören zu den häufigsten Zielen von Medikamenten überhaupt, und es gibt bereits Medikamente, die, wenn auch unspezifisch, an diesen Kanal binden, wie beispielsweise einige der gebräuchlichen Kalziumantagonisten. Ein vielversprechender Weg ist also die Verfeinerung dieser Medikamente zur Entwicklung spezifischer Agonisten und Antagonisten. Darüber hinaus ergibt sich aber auch aus den translationalen Befunden auf dem Bereich der
neuronalen Systemebene dadurch ein potenzieller Angriffspunkt für die Entwicklung neuer Therapieverfahren, dass das so charakterisierte System mit anderen, biochemisch und genetisch nicht mit dem ursprünglichen Gen verwandten Substanzen in Verbindung gebracht werden kann. z
Prosoziale Neuropeptide
Als Beispiel hierfür sollen die prosozialen Neuropeptide, Oxytozin und Vasopressin dienen. Diese im Laufe der Evolution überaus konstanten, bei allen Wirbeltieren in der auch bei Menschen vorliegenden Form gefundenen Nonapeptide sind die entscheidenden Mediatoren prosozialen Verhaltens, insbesondere von Vertrauen und Bindung. Pharmakologisch sind die prosozialen Neuropeptide direkt dadurch einsetzbar, dass sie nach nasaler Gabe in das Liquorkompartiment geraten. Darüber hinaus ist die Entwicklung nicht peptiderger Agonisten an den Hirnrezeptoren der prosozialen Neuropeptide ein Gegenstand großen Interesses in der gegenwärtigen Medikamentenentwicklung. Therapeutisch ist eine Erhöhung prosozialer Aspekte des menschlichen Verhaltens einerseits direkt für Erkrankungen von Interesse, bei denen eine Störung der Sozialfunktion im Vordergrund steht; zu denken sei hier neben der Schizophrenie insbesondere an den Autismus, aber auch an Erkrankungen wie die soziale Phobie. Andererseits sind prosoziale Neuropeptide deswegen auch attraktiv, weil sich hier potenziell eine Synergie mit der Psychotherapie auftut: Basis- und Achsenvariable der Psychiatrie ist das Vertrauen zwischen Therapeut und Klient; durch eine pharmakologische Intervention an dieser Stelle, die natürlich nur unter strikter Beachtung ethischer Kautelen erfolgen kann, kann möglicherweise ein multiplikativer Effekt einer psychotherapeutischen Intervention erfolgen, wie es einzelne neue Studien tatsächlich nahelegen. Die Verbindung zur neuronalen Systemebene wird nun dadurch hergestellt, dass eine Reihe von Untersuchungen einen Effekt prosozialer Neuropeptide genau auf den Amygdala-subgenualesCingulum-Kreislauf zeigt. Oxytozin, akut gegeben, führt zu einer Dämpfung der Amygdalaaktivierung (Kirsch et al. 2005). Eine Akutzugabe von Vasopressin führt hingegen zu einem spezifischen Effekt auf das Cingulum (Zink et al.2010). Genetische Vari-
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1 · Von neuronalen Risikomechanismen
anten für die Hirnrezeptoren für die prosozialen Neuropeptide (AVPR1A und OXTR), die mit Autismus sowie mit Aspekten sozialer Funktion und Persönlichkeitassoziiert sind, haben ebenfalls einen spezifischen Einfluss auf dieses System: Genetische Varianten in AVPR1A modulieren die Amygdalaaktivität (Meyer-Lindenberg et al. 2009), während genetische Risikovarianten im Hirnrezeptor für Oxytozin OXTR unter anderem das subgenuale Cingulum und die Amygdala beeinflussen (Tost et al. 2010). Mit anderen Worten, diese Verknüpfung von Pharmako-fMRI mit Genetik und neuronaler Systemebene ergibt einen »translational-therapeutischen Baukasten«, in dem beide Schenkel des Systems pharmakologisch beeinflusst werden können und häufige genetische Varianten ggf. zur Individualisierung der Therapie genutzt werden können. Die vorangegangenen inhaltlichen Beispiele sind bestenfalls exemplarisch anzusehen. Ob sich spezifisch aus diesen Genen und aus diesem wissenschaftlichen Ansatz Neurotherapien, die tatsächlich zu einer Verbesserung der therapeutischen Landschaft im Bereich der Psychiatrie führen werden, entwickeln lassen, ist abzuwarten. Wesentlich kam es mir jedoch darauf an, eine translationale Forschungsstrategie exemplarisch darzustellen, die unter Verknüpfung der Wissenschaftskompetenzen auf dem Bereich der genetischen, zellulären, neuronalen Systemebenen und der klinischen Ebene zur Entwicklung neuer Pharmaka führen kann, die dann über den Bereich der »zweiten Translation«, der Versorgungs- und Verlaufsforschung, Eingang in die Therapie finden wird.
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Psychiatrische Diagnostik, Psychopathologie und Phenomics im Zeitalter der Genomik Wolfgang Maier
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 2 · Psychiatrische Diagnostik, Psychopathologie und Phenomics
Die klassische psychiatrische Diagnostik wurde durch die Genomikforschung zunehmend in ihrem Nutzen relativiert. Diese »Krise der Diagnostik« eröffnet aber auch die Möglichkeit der Wiederbelebung einer umfassenden Psychopathologie als Grundlage für das neurowissenschaftliche Studium von Ursache-Wirkung-Beziehungen in der Entstehung psychischer »Störungen«. Diese wissenschaftlichen Notwendigkeiten stellen natürlich nicht die Diagnosesysteme in Frage, die sich in der Praxis als hilfreiche Systeme für Behandlung und Versorgung unter den gegenwärtigen therapeutischen Möglichkeiten bewährt haben. Die langfristige Entwicklung neuer Wirkmechanismen für zukünftige Therapien macht jedoch in der neurowissenschaftlichen Erforschung psychischer Krankheit die Loslösung bzw. Relativierung von gängigen diagnostischen Orientierungen notwendig.
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Diagnosen Hypothesen geblieben, die bisher nicht überzeugend bezüglich ätiologischer und pathogenetischer Homogenität bestätigt werden konnten. Die fehlende Prüfbarkeit hat die diagnostischen Konzepte einem kontinuierlichen Wandel unterworfen, der sich auch in konkurrierenden diagnostischen Konzepten in der Forschung (»Polydiagnostik«) und in Reformulierungen von diagnostischen Konzepten ausdrückt. Saß (1987) hat diese Situation Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Nervenarzt-Arbeit »Die Krise der psychiatrischen Diagnostik« präzise beschrieben. Diese Arbeit macht deutlich, dass Diagnosen – jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt –nichts anderes als Konventionen darstellen, auf die sich Diagnosekommissionen unter Betrachtung von verschiedenen Forschungsergebnissen und aufgrund klinischer Erfahrungen geeinigt haben.
Krise der psychiatrischen Diagnostik 1987
Diagnosen haben in allen klinischen Fächern 2 Ziele: 4 für Patienten in der Versorgung Merkmale bereitzustellen, die bezüglich Behandlungsstrategien, Verlaufsprognose, Krankheitsfolgen, Inanspruchnahme und Kosten möglichst homogene Gruppen kennzeichnen; 4 für die Forschung bezüglich Ursachen und Pathogenese möglichst homogene Gruppen zu definieren. In der Psychiatrie werden Diagnosen mit psychopathologischen Mitteln definiert: Selbstschilderungen des Erlebens und Beschreibungen des Verhaltens werden in psychopathologische Merkmale übersetzt, die dann zusammen mit Zeitkriterien und spezifischen Schwellenwerten in der operationalisierten Diagnostik die Diagnose ergeben. Dieses Prozedere hat sich im Versorgungsalltag bewährt, und es resultieren nützliche Gruppierungsmerkmale. Fast alle Diagnosen für psychische Störungen finden in der Versorgung breite Akzeptanz. Die gängigen diagnostischen Konzepte haben sich damit in der Versorgungspraxis bewährt. In der Forschung sind die resultierenden Definitionsklassen dagegen weniger gut begründet. In Ermangelung eines direkten Zugangs zu dem zugrundeliegenden Substrat der Erkrankung (d. h. zur Pathogenese und zu den Ursachen) sind
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Molekulargenetische Forschung mit psychiatrischen Diagnosen
Vor allem die molekulargenetische Forschung hat die Gültigkeit solcher Konventionen in Frage gestellt. Seit langem ist bekannt, dass alle psychischen Störungen unter genetischem Einfluss stehen; dabei handelt es sich nicht um kausal-genetische Erkrankungen, vielmehr spielen viele verschiedene Gene mit ihren genetischen Varianten bei jeder einzelnen psychischen Störung eine Rolle. Die Verfügbarkeit von effizienten molekulargenetischen Methoden hat erstmals einen direkten Weg zur Aufdeckung von molekularen Ursachen- und Bedingungsfaktoren für Erkrankungen geschaffen. Dieser gigantische Fortschritt ist vor allem für Erkrankungen relevant, über deren Pathogenese bisher wenig gesichertes Wissen vorliegt, was insbesondere für alle psychischen Erkrankungen zutrifft. Drei Voraussetzungen begründen die Aussagekraft solcher modernen molekulargenetischen Methoden: 4 Das menschliche Genom, d. h. die gesamte DNA-Sequenz des Menschen, ist zwar riesig, aber begrenzt. 4 Die interindividuelle Variabilität der DNASequenz, auf die alle genetisch begründeten Merkmalsunterschiede zwischen Menschen zurückführbar sind, ist seit kurzem kartiert (»Humangenomprojekt«).
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2 · Psychiatrische Diagnostik, Psychopathologie und Phenomics
4 Die gesamte interindividuelle Variabilität von DNA-Sequenzen kann über effiziente Verfahren erschöpfend erfasst werden (v. a. Genotypisierung mit der Microarraytechnik). Damit kann der genetische Anteil in der Verursachung von Erkrankungen ohne Vorwissen über die Natur der Erkrankung erschöpfend auf genetische Einflüsse auf DNA-Sequenz-Ebene auf die Krankheitsentstehung abgeprüft werden. Besonders erfolgreich sind dabei in den letzten Jahren die genomweiten Assoziationsuntersuchungen (GWAS). Bereits vorher konnten genomweite Kopplungsanalysen robuste Ergebnisse bringen. Bei allen multifaktoriellen Krankheiten wurden diese Suchstrategien eingesetzt. Sie deckten bei all diesen polygenen Krankheiten eine komplexe genetische Architektur auf: Die beeinflussenden Genvarianten tragen jeweils nur einen sehr geringen Anteil zum genetisch vermittelten Krankheitsrisiko bei; die relevanten Risikogene sind jeweils zahl-
reich; keine genetische Variante ist für die Krankheitsentstehung notwendig. Besonders intensiv sind Schizophrenie und bipolare Störungen mit diesen Methoden untersucht worden. Da beide Erkrankungen zu ca. 80 % ihrer Varianz genetisch begründet sind (Ergebnisse von Metaanalysen aus Zwillingsstudien) bieten sich beide Erkrankungen als ideale Kandidaten für die Anwendung von genomweiten Assoziations- und Kopplungsuntersuchungen an. Für beide Erkrankungen liegen derzeit mehrere genomweite Assoziationsuntersuchungen mit hinlänglich großen Fall-Kontroll-Stichproben vor; Metaanalysen zu diesen genomweiten Assoziationsuntersuchungen zeigen konsistente Ergebnisse. Diese ergänzen die Resultate von Kopplungsanalysen, die ebenso – allerdings in weniger effizienter Form – molekulare genetische Einflussfaktoren in replizierbarer Form auffinden konnten. Die Ergebnisse für beide Erkrankungen sind summarisch in . Abb. 2.1 aufgeführt. DTNBP1 PRSS16 PGDD1 RPP21 NOTCH4 Hist1H2B1
CCKAR PDE4B
RGS4
DISC1 AHI1 ZNF804A
DRD4 TPH1
DRD2
5HT2A DAOA
NRGN
AKT
COMT
TCF4
Assoziiert mit SZ und BP
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Gemeinsame Risikogene mit bipolarer Störung
. Abb. 2.1 Die am besten bestätigten Risikogene für Schizophrenie
Ebenso assoziiert mit BP
NRG1
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Kapitel 2 · Psychiatrische Diagnostik, Psychopathologie und Phenomics
Die von Kraepelin begründete Dichotomie zwischen Schizophrenie und bipolaren Störungen beinhaltet implizit die Hypothese einer differenten, krankheitsspezifischen Ätiologie und Pathogenese. Aus der Grafik ist unmittelbar ersichtlich, dass es bezüglich molekularer Ursachenfaktoren für beide Erkrankungen deutliche Überlappungen gibt: Krankheitsunspezifische genetische Einflussfaktoren auf DNA-Ebene sind nahezu ebenso zahlreich wie die schizophreniespezifischen (9 im Vergleich zu 13). So kann geschlussfolgert werden, dass die klassischen Diagnosen wenig zur Identifikation und Differenzierung ätiologisch homogener Patientengruppen beitragen. Es ist aber anzuerkennen, dass die klassischen Diagnosen dieser Störungen geeignete Phänotypen waren, um molekulargenetische Einflussfaktoren sicherzustellen. Damit haben diese Diagnosen eine teilweise Validierung erhalten, wenngleich sie das Ziel ätiologischer Homogenität verfehlen. Analoge Feststellungen zur fehlenden ätiologischen Homogenität von Einzeldiagnosen können auch über andere Diagnosen wie unipolare Depression und Angsterkrankungen getroffen werden. Interessanterweise können solche Feststellungen auf der Grundlage des heutigen Wissenstands nicht auf die multifaktoriell begründeten Demenzerkrankungen ausgedehnt werden. z
Top-down- und Bottom-up-Strategien
Für ätiologisch inhomogene Diagnosen wie Schizophrenie und bipolare Störungen ist damit auch die Top-down-Strategie zum Zweck der Aufdeckung krankheitsbezogener molekularer Ursachen pathophysiologischer Prozesse an eine Grenze gestoßen. Nach Identifikation von molekulargenetischen Einflussfaktoren stellt sich sofort die Frage, über welche Mechanismen diese Faktoren zum erhöhten Krankheitsrisiko beitragen. Da kein molekulargenetischer Faktor notwendig oder hinreichend für die Krankheitsentwicklung ist und sich die molekularen Einflussfaktoren in ihrer risikosteigernden Wirkung gegenseitig vertreten können, muss von einer sogenannten gemeinsamen Endstrecke ausgegangen werden, die schließlich aus unterschiedlichen molekularen Ausgangskonstellationen zur Krankheitsentstehung führt. Die entscheidende Forschungsfrage richtet sich also
an die vermittelnden Glieder und ihre molekulargenetische Beeinflussung. Hier helfen Diagnosen wegen der Komplexität ihrer »genetischen Architektur« nicht mehr weiter, vielmehr sind unmittelbare Effekte von molekularen Einflussfaktoren auf spezifische Hirnfunktionen bzw. Regulationsmechanismen gefragt. Die Aufdeckung dieser Zusammenhänge erfordert Bottom-up-Strategien, die an der krankheitsrelevanten molekulargenetischen Sequenzveränderung ansetzen; zu suchen sind deren Einflüsse auf spezifische pathophysiologische Schaltkreise. Diese diagnosefreie Strategie erweist sich als ungewöhnlich erfolgreich. Hierzu ein paar Beispiele: Das G72 (DAOA)-Gen, auf Chromosom 13 kodiert, beeinflusst die D-Amino-Oxidase, ein die glutamaterge Transmission beeinflussendes Enzym. Eine G72-(DAOA-)Gen-Variante ist sowohl mit der Schizophrenie als auch der bipolaren Störung assoziiert. Genauere Analysen ergaben, dass die genetische Assoziation zu einem der– beiden Erkrankungen zugehörigen– Symptome, dem Verfolgungswahn und paranoiden Bereitschaften, besteht; diese Assoziation vermittelt den Zusammenhang zu beiden Erkrankungen (Schulze et al. 2005). Eine Zink-Finger-Gen-Variante ZNF804 A (Chromosom 2) ist konsistent mit der Schizophrenie und bipolaren Störungen assoziiert mit jeweils geringer Risikoerhöhung (Odds-Ratio ~1,1); es bedurfte sehr umfangreicher Fall-Kontroll-Stichproben mit mehreren Tausend Probanden, um diese genetische Krankheitsassoziation zu sichern. Diese genetische Variante beeinflusst die Informationsverarbeitung im Gehirn, was in einer fMRT-Untersuchung an einer relativ geringen Anzahl bei wenigen Gesunden (n=80) festgestellt werden konnte. Dabei ist die Risikogenvariante in einem Gedächtnisparadigma zwar nicht mit geringerer Leistung verbunden, aber mit einem veränderten Zusammenspiel von Hirnarealen bei der Leistungserbringung (gestörte »Konnektivität«), der genetische Einfluss ist dabei so stark, dass er schon in kleinen Stichproben gefunden werden kann. Dieses Beispiel belegt deutlich: Die Zusammenhänge zwischen DNA-basierten Risikovarianten mit hirnbiologischen Aktivierungsmustern sind stärker als die darauf aufbauenden genetischen Assoziatio-
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2 · Psychiatrische Diagnostik, Psychopathologie und Phenomics
nen desselben Risikoallels zur Krankheitsdiagnose (Esslinger et al. 2009). Ein analoges Beispiel stellt der Zusammenhang zwischen dem derzeit wohl am besten bestätigten Risikogen für Schizophrenie, dem Gen für TCF4 (Transkriptionsfaktor 4), und der Prepulse-Inhibition (PPI) dar. Reduzierte PPI-Amplituden kennzeichnen eine verringerte Adaption an die Vorinformation; sie wird auch als eine verringerte Fähigkeit zur Vernachlässigung irrelevanter Information interpretiert. Schizophrenie ist bekanntermaßen durch eine reduzierte PPI-Amplitude charakterisiert. Die schizophrenieassoziierte TCF4-Gen-Variante geht ebenso mit einer reduzierten PPI-Amplitude (bei Erkrankten und Gesunden) einher (Odds-Ratio ~2,3). Dabei ist erneut der Zusammenhang zwischen dem Risikoallel und der defizitären Informationsverarbeitung beim PPI viel stärker (Odds-Ratio ~2,2) als mit der Krankheitsdiagnose Schizophrenie (Odds-Ration ~1,2) (Quednow et al. 2011). Diese Beispiele belegen: Die Bottom-up-Strategie, die bei der genetischen Variante beginnt und den Zusammenhang mit hirnphysiologischen Prozessen oder einzelne psychopathologische Merkmale prüft, ist die für Aufdeckung im Krankheitsprozess zielführend. Dagegen ist die diagnosegeleitete Top-down-Strategie allein wegen geringer Effektstärken auf die Entdeckung von Risikovarianten beschränkt. z
Krise der psychiatrischen Diagnostik 2010 und einige Konsequenzen
Diese erfolgreiche Forschungsentwicklung relativiert den Nutzen von Diagnosen für die gegenwärtige und künftige Ursachenforschung bei psychischen Erkrankungen. Es ist unmittelbar erkennbar, dass die erfolgreiche Bottom-up-Strategie eine umfassende und erschöpfende Methode der Charakterisierung von Verhalten, Erleben und pathophysiologischen Vorgängen auf der Phänotypseite benötigt. Auch in anderen Bereichen der molekularen Verhaltenswissenschaften wird deshalb der Ruf nach einer Entwicklung von »Phenomics« laut (Houle et al. 2010), die ein solches Beschreibungsrepertoire zur Verfügung stellen sollen. Die in der biologischen Forschung üblich gewordene Ver-
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kürzung der Phänotypen auf psychopathologisch definierte Diagnosen wird diesem Erfordernis bei weitem nicht gerecht. Auch wenn die Entwicklung von DSM-V bzw. ICD-11 derzeit in der klinischen »Community« breite Aufmerksamkeit auf sich zieht, liegen doch die vom wissenschaftlichen Fortschritt getragenen Entwicklungen und Erfordernisse in Bezug auf Phänotypen für psychische Krankheit an anderer Stelle. In dieser Hinsicht sind erforderlich: 4 Entwicklung eines breit angelegten dimensionalen Beschreibungssystems von Verhalten und Erleben, die die Varianten »gesunden« psychischen Lebens wie auch alle Varianten psychopathologischer Abwandlungen beinhaltet 4 Ergänzung dieser Beschreibungsebene durch korrespondierende biologische Indikatoren und experimentelle Paradigmen zur Abbildung zugrundeliegender hirnphysiologischer Schaltkreise So führt die heutige, durch die genomische Forschung herbeigeführte Krise der Diagnostik bei psychischen Erkrankungen unweigerlich zum Wiederbeleben einer umfassenden Psychopathologie als Grundlage für das neurowissenschaftliche Studium von Ursache-Wirkung-Beziehungen in der Entstehung psychischer Störungen. Diese wissenschaftlichen Notwendigkeiten stellen natürlich nicht die Diagnosesysteme in Frage, die sich in der Praxis als hilfreiche Systeme für Behandlung und Versorgung unter den gegenwärtigen therapeutischen Möglichkeiten bewährt haben. Die langfristige Entwicklung neuer Wirkmechanismen für zukünftige Therapien macht jedoch in der neurowissenschaftlichen Erforschung psychischer Krankheiten die Loslösung bzw. Relativierung von gängigen diagnostischen Orientierungen notwendig.
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Kapitel 2 · Psychiatrische Diagnostik, Psychopathologie und Phenomics
Literatur
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Neuronale Schaltkreise als kleinste Einheit kortikaler Netzwerke – Struktur und Funktion Dirk Feldmeyer
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 3 · Neuronale Schaltkreise als kleinste Einheit
Die Informationsfortleitung und -verarbeitung im Gehirn wird weitgehend durch die neuronalen Schaltkreise, die an diesem Prozess beteiligt sind, determiniert. Die Eigenschaften dieser Schaltkreise sowie die Mechanismen, die die neuronale Konnektivität bestimmen, sind daher in den letzten Jahren das Objekt einer intensiven Forschungstätigkeit.
Bei vielen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen hat sich gezeigt, dass sie zumindest zum Teil auf Veränderungen in der neuronalen Konnektivität und/oder den Eigenschaften der synaptischen Transmission beruhen. Derartige Modifikationen reichen von einer verminderten bis zu einer stark erhöhten Konnektivität, wobei spezifische neuronale Verbindungen betroffen sein können oder aber auch ganz generell erregende und/ oder hemmende Synapsen fehlgebildet sind (z. B. Bureau et al. 2008; Fazzari et al. 2010; Rinaldi et al. 2008). Die genauen Ursachen der fehlerhaften neuronalen Konnektivität bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen sind aber weitgehend unbekannt, da einzelne neuronale Schaltkreise selbst im gesunden Organismus oft nicht oder nur unzureichend charakterisiert worden sind. Hier setzt unsere Arbeit an. Da es im Rahmen eines kurzen Übersichtsartikels kaum möglich ist, ein solches Thema erschöpfend zu behandeln, werde ich an dieser Stelle exemplarisch die Methoden und die Probleme bei der Untersuchung neuronaler Schaltkreise im Gehirn und hier insbesondere im Neokortex von Nagern darstellen. Bei Untersuchen von neuronalen Schaltkreisen in den verschiedenen Hirnregionen ist es von entscheidender Bedeutung, die Identität der präund postsynaptischen Neurone zu kennen. In allen Hirnregionen, insbesondere aber im Neokortex, gibt es zahlreiche unterschiedliche Typen von Neuronen, die sich sowohl bezüglich ihrer Morphologie als auch in ihrer Funktion unterscheiden. Es ist schon seit längerem bekannt, dass es eine hohe Zahl verschiedener Typen von inhibitorischen GABAergen Interneuronen gibt (Ascoli et al. 2008; Gupta et al. 2000; Kawaguchi u. Kubota 1997; Somogyi et al. 1998). Diese Neurone sind in die Steuerung der neuronalen Rhythmik des Gehirns involviert und regulieren die Aktivität der exzitatorischen Nervenzellen. Es existieren verschiedenartige Typen
GABA-erger Interneurone, die sich grundlegend in ihrer Struktur, d. h. im Aufbau ihrer somatodendritischen und der axonalen Domäne, unterscheiden. Dies ist in . Abb. 3.1 beispielhaft für den somatosensorischen Kortex der Ratte gezeigt, wobei hier nur Neurone der kortikalen Schichten 2, 3 und 4 dargestellt sind. Einige Interneurone weisen einen sehr lokalen axonalen Plexus mit starker Kollateralisierung auf, der oftmals auf nur eine einzige kortikale Schicht beschränkt ist (. Abb. 3.1a,e,g,h,i). Das Axon anderer Interneurontypen projiziert dagegen über mehrere kortikale Schichten (. Abb. 3.1b,c,d,f,j,k,l) und kann dabei entweder sehr kompakt oder aber auch von eher geringer Dichte, dafür aber größerer Reichweite sein. Die tatsächliche Anzahl der kortikalen Interneurontypen ist beträchtlich höher als hier gezeigt, da in anderen Schichten und Hirnregion mit hoher Wahrscheinlichkeit auch noch andere morphologische bzw. funktionelle Typen existieren. Im Gegensatz zu den Interneuronen war die strukturelle und funktionelle Diversität der glutamatergen, exzitatorischen Neurone lange nicht im Fokus der neurowissenschaftlichen Forschung. Neuere molekularbiologische, anatomische und zellphysiologische Ergebnisse zeigen jedoch, dass es auch zahlreiche verschiedenartige Typen an exzitatorischen Neuronen gibt (z. B. Brown u. Hestrin 2009; Doyle et al. 2008; Groh et al. 2010; Molnár u. Cheung 2006). Dies ist auch in . Abb. 3.2 zu ersehen, die eine Auswahl von exzitatorischen Neuronen aus allen kortikalen Schichten des somatosensorischen Kortex der Ratte zeigt. Eine Analyse der neuronalen Schaltkreise setzt also die Kenntnis dieser neuronalen Zelltypen voraus. Dies ist ein erster, aber zentraler Schritt bei unserer Arbeit. Um verschiedene Zelltypen zu identifizieren, gehen wir so vor, dass wir die Zellen in einem frischen, akut präparierten Hirnschnitt elektrophysiologisch (d. h. mit der »Patch-clamp-Technik«; Neher u. Sakmann 1992) charakterisieren und für eine anschließende morphologische Darstellung färben. Die gefärbten Neurone werden histochemisch aufbereitet; anschließend werden sie mit Hilfe eines an einen Computer angeschlossenen Mikroskops dreidimensional rekonstruiert. Die in Abb.3.1 und 3.2 gezeigten neuronalen Rekonstruktionen sind auf diese Weise in unserem Labor
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3 · Neuronale Schaltkreise als kleinste Einheit
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. Abb. 3.1 Morphologische Heterogenität von inhibitorischen Interneuronen. Rekonstruktionen von biocytin markierten inhibitorischen Interneuronen der Schichten 4 und 2/3 des somatosensorischen Kortex der Ratte. Das Axon der Neurone ist hellgrau, Soma und Dendriten sind schwarz. Die kortikale Schichtung ist links gegeben. Man beachte, dass der Axonbaum einiger Interneurone dicht ist und weitgehend in einer Schicht verbleibt, bei anderen jedoch über mehrere kortikale Schichten projiziert
entstanden. Zusammen mit den elektrophysiologischen Daten zur Aktionspotenzialkinetik und der zeitlichen Dynamik der Aktionspotenzialmuster eines Neurons erlauben die Rekonstruktionen dessen quantitative Charakterisierung. Diese dient dann als Basis für eine weitergehende Klassifizierung der Neurone (Helmstaedter et al. 2009; Helmstaedter u. Feldmeyer 2010). Ausgehend von einer eindeutigen Klassifizierung werden dann in unseren Experimenten einzelne neuronale Schaltkreise im Detail untersucht. Wir arbeiten dazu an neokortikalen Hirnschnittpräparaten der Ratte oder der Maus. Zu Beginn des Experiments werden synaptisch gekoppelte Neurone identifiziert. Von diesen neuronalen Schaltkrei-
sen wird dann elektrophysiologisch abgeleitet und so die synaptische Transmission an einem definierten Neuronenpaar untersucht (Paarableitung, engl. »paired recording«). Eine gleichzeitige Färbung der abgeleiteten Neurone mit einem intrazellulären Marker (Biocytin) erlaubt nach dem Experiment eine morphologische Analyse der Neurone bis hin zur Identifizierung der zwischen ihnen gebildeten synaptischen Kontakte. Im elektrophysiologischen Experiment können zahlreiche Faktoren, die eine synaptische Verbindung auszeichnen, untersucht werden. Zum einen lässt sich die Konnektivitätsrate bestimmen, die eine Aussage darüber trifft, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein definiertes präsynaptisches Neuron mit einem definierten
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Kapitel 3 · Neuronale Schaltkreise als kleinste Einheit
. Abb. 3.2 Morphologische Heterogenität von exzitatorischen Neuronen. Rekonstruktionen von biocytinmarkierten exzitatorischen Neuronen der Schichten 2–6 des somatosensorischen Kortex der Ratte. Axone sind hellgrau, Soma und Dendriten schwarz. Die kortikalen Schichten und Sublaminae sind links markiert. Während die Mehrheit der exzitatorischen Neurone im Neokortex Pyramidenzellen sind, finden sich in der Schicht 4 und Schicht 6B auch nichtpyramidale exzitatorische Neurone (C,K,L). Im Gegensatz zu den Interneuronen projizieren die Axone der exzitatorischen Neurone generell über mehrere Schichten und oftmals auch in andere kortikale und subkortikale Hirnstrukturen
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postsynaptischen Neuron verbunden ist. Die Konnektivitätsrate ist für verschiedene neuronale Verbindungen sehr unterschiedlich und kann deutlich über 50 % aber auch unter 1 % liegen, je nach synaptischer Verbindung. Die Konnektivität von verschiedenen synaptischen Verbindungen ist ein bestimmender Faktor für das Verhalten des gesamten neuronalen Netzwerks in einer Hirnregion; sie wird entwicklungsabhängig reguliert und ist sehr spezifisch für bestimmte Neuronentypen. Kommt es aufgrund von genetischen Faktoren oder äußeren (epigenetischen) Einflüssen zu Veränderungen in der Konnektivität innerhalb eines neuronalen Netzwerks, so kann dies pathophysiologische Konsequenzen nach sich ziehen. Dies ist bisher aber noch nicht ausreichend untersucht worden, ist aber ein Ziel zukünftiger Forschung. Von besonderem
Interesse wären in diesem Zusammenhang Konnektivitätsstudien an Tiermodellen von neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen. Neben der Konnektivität von neuronalen Netzen lässt sich mittels elektrophysiologischer Ableitungen von synaptisch gekoppelten Neuronen auch die Dynamik der synaptischen Transmission untersuchen. Darunter versteht man Phänomene wie die sogenannte Kurzzeit- bzw. Langzeitplastizität der synaptischen Transmission, die wahrscheinlich beim Lernen und Gedächtnis eine wichtige Rolle spielen. Sie sind daher auch von Bedeutung für die Erforschung von neurodegenerativen Veränderungen kognitiver Prozesse. Bei der Kurzzeitplastizität handelt es sich um Veränderungen der Amplitude der durch präsynaptische Aktionspotenziale ausgelösten postsyn-
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3 · Neuronale Schaltkreise als kleinste Einheit
aptischen Antworten aufgrund von kurzfristigen Veränderungen in der Wahrscheinlichkeit der Neurotransmitterfreisetzung. Dies ist im Wesentlichen eine präsynaptische Modifikation, die auch nur über einen kurzen Zeitraum (im Bereich weniger Millisekunden) anhält. Ein derartiger Vorgang kann auch der Langzeitplastizität einer synaptischen Verbindung zugrunde liegen, er hält hier jedoch für mehrere Stunden oder noch länger an (Langzeitpotenzierung oder -depression). Daneben sind oft auch noch andere Vorgänge in die Langzeitplastizität involviert, z. B. eine Veränderung in der Zahl der Neurotransmitterrezeptoren, die zu einer Erhöhung oder Erniedrigung der postsynaptischen Antwort führen würde. Ein weiterer Fokus der Untersuchung synaptischer Verbindungen liegt im Studium der postsynaptischen Neurotransmitterrezeptoren. Glutamaterge Synapsen enthalten mindestens 2 Rezeptortypen (d. h. ligandengesteuerte Ionenkanäle), die schnellen Glutamatrezeptoren des AMPA- (α-Amino-3-Hydroxy-5-Methyl-4-Isoxazolpropionsäure-) Typs und die langsameren des NMDA- (N-Methyl-D-Aspartat-) Typs. Beide Rezeptorklassen haben mehrere Subtypen, die unter anderem den Zeitverlauf der synaptischen Antwort und die Leitfähigkeit der Ionenkanäle bestimmen. Hier spielt insbesondere die Kalziumleitfähigkeit eine große Rolle, da Kalzium ein wichtiger intrazellulärer Botenstoff ist. Die bei einer synaptischen Verbindung vorliegenden Rezeptorsubtypen sind für diese hochspezifisch. Inhibitorische Synapsen besitzen GABA(γ-Aminobuttersäure-) oder Glyzinrezeptoren. Ähnlich wie die Glutamatrezeptoren existiereren auch bei diesen verschiedene Subtypen, welche die Dynamik der postsynaptischen Antwort bestimmen und so den Zeitverlauf der synaptischen Hemmung determinieren. Nach den elektrophysiologischen Messungen untersuchen wir, an welcher Stelle das präsynaptische Axon mit dem postsynaptischen Dendriten synaptische Kontakte bildet. Die räumliche Anordnung der synaptischen Kontakte bestimmt, in welcher Weise das präsynaptische Neuron die Aktivität des postsynaptischen Neurons beeinflusst. So bilden einige inhibitorische Interneurone, die Chandelier- oder axo-axonischen Interneurone
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(ein Beispiel ist in Abb. 3.1e gezeigt) Kontakte direkt am Axoninitialsegment aus. Dadurch können diese Neurone sehr effektiv die Signalfortleitung im postsynaptischen Neuron beeinflussen. Umgekehrt haben distale synaptische Kontakte einen eher geringen Einfluss auf die neuronale Aktivität im Soma oder Axon, können aber die Aktivität anderer Neurone mit distalen Eingängen regulieren. Auch bei exzitatorischen Neuronen ist die räumliche Verteilung der synaptischen Kontakte von entscheidender Bedeutung. Somanahe Kontakte tragen erheblich zur Fortleitung der neuronalen Aktivität bei; im Gegensatz dazu können somaferne synaptische Kontakte die Verteilung der Aktivität innerhalb einer Nervenzelle maßgeblich beeinflussen. Eine Veränderung allein in der räumlichen Anordnung von inhibitorischen oder exzitatorischen Kontakten – ohne dass die Konnektivität grundlegend modifiziert wird – könnte schon eine beträchtliche Verschiebung im neuronalen Aktivitätsmuster verursachen und so pathophysiologische Zustände bedingen. Aus diesem Grund ist eine detaillierte Kenntnis der funktionellen und strukturellen Eigenschaften neuronaler Schaltkreise im gesunden Organismus von entscheidender Bedeutung, denn nur so kann beurteilt werden, auf welche Weise deren Veränderung zu neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen beiträgt. Darüber hinaus untersuchen wir auch, in welcher Weise die synaptische Aktivität verschiedener neuronaler Verbindungen durch neuromodulatorisch wirkende Transmitter beeinflusst wird und so die Übergänge von einem Zustand der Hirnaktivität zu einem anderen (z. B. vom Schlaf- zum Wachzustand) reguliert. In neueren Studien wurde nachgewiesen, das neuromodulatorisch wirkende Neurotransmitter wie Acetylcholin, Noradrenalin oder Dopamin, die den Übergang von einem Aktivitätszustand des Hirns zum anderen modulieren, eine neuronspezifische Wirkung aufweisen. In unseren eigenen Arbeiten konnten wir z. B. zeigen, dass Acetylcholin exzitatorische Neurone in der Schicht 4 hemmt, Pyramidenzellen der Schichten 2/3, 5 und 6 dagegen eher stimuliert. Acetylcholin aktiviert demzufolge nicht einfach alle kortikalen Neurone, sondern verändert die relative Aktivität einzelner neuronaler Schaltkreise.
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Kapitel 3 · Neuronale Schaltkreise als kleinste Einheit
Die Methode der Paarableitung zeichnet sich dadurch aus, dass sie gleichzeitig eine Fülle von strukturellen und funktionellen Informationen über identifizierte synaptische Verbindungen einer definierten Hirnregion liefert. Auch wenn diese Methodik sehr anspruchsvoll ist und dem Experimentator viel Geschick und Geduld abverlangt, wird sie daher weiterhin ein wichtiges Werkzeug des Neurowissenschaftlers in der Grundlagenforschung bleiben.
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Synapsen: Schlüsselelemente der Signalübertragung im Gehirn Joachim Lübke
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 4 · Synapsen: Schlüsselelemente der Signalübertragung
Synapsen und Neurotransmitterrezeptoren sind Schlüsselelemente der Signalübertragung zwischen Neuronen unterschiedlichster Netzwerke und ermöglichen somit erst die Komplexität und Vielfalt der Leistungen, zu denen unser Gehirn fähig ist. Untersuchungen zum strukturellen Aufbau von Synapsen sowie zur Verteilung, Dichte und möglichen Kolokalisation von Neurotransmitterrezeptoren haben mittlerweile einen sehr aktuellen Bezug hinsichtlich der Zunahme neurologischer und neurodegenerativer Erkrankungen weltweit. Derartige Erkrankungen, wie beispielsweise Schizophrenie oder Morbus Alzheimer, lassen sich letztlich auf massive strukturelle Veränderungen an Synapsen bzw. auf die Verschiebung der Balance zwischen Erregung und Hemmung im Gehirn zurückführen und erklären damit die Dysfunktion dieser Strukturen. Den strukturellen Aufbau einzelner Synapsen bzw. die Dichte und Verteilung und mögliche Kolokalisation von Neurotransmitterrezeptoren und deren Untereinheiten in verschiedenen Gehirnregionen haben wir bis ins Detail untersucht und anschließend in virtuellen dreidimensionalen Modellen nachgestellt.
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Synapsen – Kommunikationsschnittstellen im Gehirn
Die Großhirnrinde – oder Neokortex – umfasst beim Menschen ca. 20–40 Mrd. Neurone; dabei ist jedes Neuron über ca. 10.000–15.000 Synapsen mit anderen Neuronen eines gegebenen Netzwerks verbunden. Synapsen nehmen daher bei der Signalübertragung bzw. der Regulation und Aufrechterhaltung neuronaler Plastizität eine Schlüsselposition in der Kommunikation unterschiedlicher Netzwerke des Gehirns ein. Obwohl der Begriff »Synapse« durch Charles Sherrington vor ca. 150 Jahren eingeführt wurde, liegen bis heute– trotz des enormen Erkenntnisgewinns in den letzten 15 Jahren durch die Weiterentwicklung bzw. Einführung moderner Verfahren in der Licht- und Elektronenmikroskopie sowie des Einsatzes molekularer Techniken – nur wenige detaillierte Modelle von Synapsen und ihren postsynaptischen Zielstrukturen sowie entsprechende Quantifizierungen struktureller Parameter vor (Held’sche Calyx: Nicol u. Walmsley 2002; Sätzler et al. 2002; Moosfaserbouton im Zerebellum: Xu-Friedman et al. 2001; Moosfaserbouton im Hippocampus: Rollenhagen et al. 2007; Synapse im Gyrus dentatus: Marrone et al. 2005; CA1-Syn-
apsen: Schikorski u. Stevens 1999; »Ribbon-Synapse« der Retina: Sikora et al. 2005; zusammengefasst durch Rollenhagen u. Lübke 2006, 2010). Trotzdem ist für viele Synapsen unterschiedlichster Netzwerke in verschiedenen Gehirnregionen bis heute nur unzureichend geklärt, wie diese Schaltstellen im Detail aufgebaut sind. Quantitative Untersuchungen ihrer dreidimensionalen Struktur sind jedoch eine wesentliche Grundvoraussetzung für das Verständnis der funktionellen Signalkaskaden, die synaptischer Übertragung und Plastizität zugrunde liegen. Die dreidimensionale Rekonstruktion und Quantifizierung zentraler Synapsen erlaubt die direkte Korrelation struktureller und funktioneller Eigenschaften dieser Strukturen und bildet die Grundlage für realistische Modellierungen verschiedener Parameter synaptischer Transmission und Plastizität, die bis heute experimentell nicht zugänglich sind. Diese Erkenntnisse tragen letztlich entscheidend zu einem elementaren Verständnis der Funktion von Synapsen in den unterschiedlichsten neuronalen Netzwerken im normalen und pathophysiologisch veränderten Gehirn bei. z
Quantitative Geometrie von Synapsen
Der einzige Weg einer detaillierten morphologischen Beschreibung synaptischer Strukturen ist die computergestützte, dreidimensionale Rekonstruktion aus seriellen Ultradünnschnitten bzw. digitalen elektronenmikroskopischen Bildserien. Auf diese Weise können diese Strukturen en détail dargestellt werden. Aus diesen Daten entstehen – in silico– am Computer räumliche (dreidimensionale) quantitative Modelle für verschiedene Typen von Synapsen. Alle Synapsen des Zentralnervensystems sind prinzipiell aus den gleichen strukturellen Subelementen aufgebaut: einer jeweils hochspezialisierten prä- und postsynaptischen Membran mit entsprechenden Rezeptoren und Kanälen, die beide durch einen schmalen synaptischen Spalt voneinander getrennt sind. Die beiden Dichten zusammen mit dem synaptischen Spalt bilden sog. aktive Zonen, die funktionell Transmitterfreisetzungsstellen entsprechen; zusammen mit dem Pool synaptischer Vesikel, die je nach Synapsentypden entsprechenden exzitatorischen oder inhibitorischen
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4 · Synapsen: Schlüsselelemente der Signalübertragung
Neurotransmitter enthalten, bilden sie die funktionelle Einheit. Die Anzahl und Verteilung dieser strukturellen Subelemente ist entscheidend für die Stärke, Effizienz und Modulation der zu übertragenden Information an einer solchen Kommunikationsschnittstelle. In den letzten 10 Jahren haben wir folgende Synapsen untersucht und miteinander verglichen: die sog. Held’sche Calyx im medialen Nukleus des Trapezkörpers, eine exzitatorische Riesensynapse im auditorischen Teil des Hirnstamms (Sätzler et al. 2002), den sog. Moosfaserbouton (Rollenhagen et al. 2007, zusammengefasst durch Rollenhagen u. Lübke 2010), eine Synapse der CA3-Region des Hippocampus, die in Lern- und Gedächtnisvorgänge eingebunden ist, und exzitatorische und inhibitorische Synapsen an morphologisch und physiologisch identifizierten Schicht-5-Pyramidenneuronen, den wichtigsten Outputneuronen des Neokortex in subkortikalen Arealen (. Abb. 4.1). Die bisherigen Ergebnisse zeigen deutliche Unterschiede nicht nur hinsichtlich der Größe und Form der untersuchten Synapsen, sondern auch in der Anzahl, Größe und Verteilung der aktiven Zonen und der Größe und Organisation der sog.Pools synaptischer Vesikel. Bezüglich der Held’schen Calyx konnte gezeigt werden, dass die Komposition struktureller Subelemente, vor allem die Anzahl, Größe und Verteilung synaptischer Kontakte (Transmitterfreisetzungsstellen) und die Organisation und Größe des Pools synaptischer Vesikel, die Übertragungseigenschaften und synaptische Plastizität an dieser Synapse beeinflusst und die physiologischen Befunde erklärt. An den ca. 600 synaptischen Kontakten konnten individuelle Cluster synaptischer Vesikel, im Mittel ca. 130 Vesikel/ aktive Zone, nachgewiesen werden. Daraus ergab sich eine Gesamtpoolgröße von ca. 75.000 Vesikeln für die Held’sche Calyx, von denen 50 % innerhalb eines Perimeters von 200 nm von der präsynaptischen Membran lokalisiert waren. Diese Befunde deuten strukturell auf einen großen »Readily-releasable-« und »Recycling-Pool« hin (s. a. Rizzoli u. Betz 2005), der die hohe Effizienz synaptischer Übertragung an dieser Synapse erklärt. Mit der dreidimensionalen Rekonstruktion der Held’schen Calyx war die Hoffnung verbunden, diese Synapse als »Modellsynapse« zur Modellie-
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. Abb. 4.1 A Ultradünnschnitt durch die somatische Region einer Schicht-5-Pyramidenzelle im Gyrus temporalis superior (humanes Biopsiematerial). Zur besseren Orientierung ist die postsynaptische Region schwarz umrandet, ebenso sind die an diesem Abschnitt des Somas terminierenden Synapsen schwarz umrandet; A1 Dreidimensionale Rekonstruktion der synaptischen Strukturen aus Abbildung A; B Ultradünnschnitt eines dendritischen Spines und einer »En-passant-Synapse«, die an 2 Stellen aktive Zonen mit der postsynaptischen Membran ausbildet; B1 Dreidimensionale Rekonstruktion des in Abb. 4.1B gezeigten Spines und der »En-passant-Synapse«. Die synaptischen Vesikel sind als hellgraue, sog. Dense-core Vesikel als dunkelgraue Kugeln und das Mitochondrium in weiss wiedergegeben. Die aktiven Zonen sind als weiße Konturen dargestellt.
rung verschiedener Parameter synaptischer Transmission zu nutzen (Meinrenken et al. 2003). Leider stellte sich sehr bald heraus, dass sich die Held’sche Calyx hinsichtlich ihrer funktionellen Eigenschaften, besonders in ihren plastischen Eigenschaften, wesentlich von anderen zentralen Synapsen unterscheidet und eher die Ausnahme als die Regel darstellt. In einer Nachfolgestudie wurde deshalb der Moosfaserbouton des Hippocampus, eine Synapse, die in ein hierarchisch höher angesiedeltes kortikales Netzwerk eingebunden ist und zudem funkti-
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Kapitel 4 · Synapsen: Schlüsselelemente der Signalübertragung
onell sehr gut charakterisiert ist (Salin et al. 1996; Toth et al. 2000; Hallermann et al. 2003; Engel u. Jonas 2005), strukturell untersucht und quantifiziert (Rollenhagen et al. 2007). Wir konnten zeigen, dass der Moosfaserbouton strukturell anders aufgebaut ist. Das gilt im Wesentlichen für die Verteilung der beiden auch in der Held’schen Calyx vorkommenden Membranspezialisierungen, der aktiven Zonen (Transmitterfreisetzungsstellen) und derPuncta adhaerentia (Haftkomplexe), und für die Organisation und Größe des Pools synaptischer Vesikel. Im Gegensatz zur Held’schen Calyx, an der die Puncta adhaerentia in Form von sog. Clustern zwischen einzelnen synaptischen Kontakten lokalisiert sind und diese voneinander isolieren, sind beim Moosfaserbouton Puncta adhaerentia nur am Dendritenschaft, aktive Zonen jedoch vorwiegend an den simplen und komplexen Spines der CA3-Pyramidenneurone zu finden und somit klar voneinander getrennt (Rollenhagen et al. 2007). Diese unterschiedliche Verteilung– zusammen mit dem relativ geringen Abstand (0,45 μm) zwischen aktiven Zonen an dendritischen Spines des Moosfaserboutons – legt nahe, dass an dieser Synapse »glutamate spillover« und als Konsequenz »synaptic cross talk« sehr wahrscheinlich sind. Dieser »cross talk« könnte einer der Gründe für die hohe Effizienz synaptischer Übertragung sein, der zweite ist die Organisation und Größe der Pools synaptischer Vesikel. Im Gegensatz zur Held’schen Calyx, in der Cluster synaptischer Vesikel um individuelle synaptische Kontakte gruppiert sind, kommen solche Vesikelcluster im Moosfaserbouton nur vereinzelt vor, d. h., der Gesamtpool synaptischer Vesikel füllt nahezu den Moosfaserbouton aus; und obwohl der Moosfaserbouton ca. 25fach kleiner als die Held’sche Calyx ist, beträgt die mittlere Größe des Gesamtpools ca. 25.000 Vesikel. Ein Vergleich der 3 funktionell beschriebenen Pools synaptischer Vesikel zeigt, dass der »Readily-releasable-«, der »Recyling-« und der »Reserve-Pool« um das 3fache, 5fache bzw. 10fache größer sind als in der Held’schen Calyx (Sätzler et al. 2002; Rollenhagen et al. 2007). Diese Befunde zur Größe und strukturellen Organisation der 3 funktionellen Pools zusammen mit der Anzahl und Verteilung aktiver Zonen erklärt und unterstützt funktionelle Befunde, die zeigen, dass es bei frequenzabhängiger Faszilitierung bzw. posttetanischer
Potenzierung zu einer ca. 10fachen Erhöhung der Effizienz synaptischer Übertragung bzw. zu starken Veränderungen in der Plastizität an dieser Synapse kommt (Salin et al. 1996). Erste Ergebnisse zu Eingangssynapsen an kortikalen Schicht-5-Pyramidenzellen weisen wiederum auf eine völlig andere Verteilung von aktiven Zonen (Transmitterfreisetzungsstellen) bzw. die Größe und Organisation der Pools synaptischer Vesikel hin. In der Regel verfügen kortikale Schicht-5-Synapsen über 1 aktive Zone, die aber sehr groß sein kann (0,1–0,2 μm2, siehe auch Abb. 4.1). Interessanterweise ist der Pool synaptischer Vesikel sehr variabel und reicht von ca. 250 bis zu ca. 2.000 synaptischen Vesikeln pro aktiver Zone. Beide strukturellen Parameter deuten auf eine hohe Effizienz synaptischer Übertragung, aber auch auf einen hohen Grad synaptischer Plastizität hin. Im Gegensatz zum Moosfaserbouton und der Held’schen Calyx dringen die feinen Astrozytenfortsätze bis zum synaptischen Spalt vor, d. h., es treten hier keine »Glutamate-spillover-Effekte« auf, was auf eine sehr gerichtete Signaltransduktion an diesen Synapsen hindeutet. Der Vergleich der Geometrie und die Quantifizierung relevanter struktureller Parameter synaptischer Transmission und Plastizität an den bisher untersuchten zentralen Synapsen zeigen, dass die Komposition struktureller Subelemente die Funktionalität dieser Synapsen entscheidend determiniert und letztlich die Unterschiede in synaptischer Effizienz und Plastizität zu anderen zentralen Synapsen erklärt (zusammengefasst durch Rollenhagen u. Lübke 2006). Der Traum von einer »Standardsynapse« im Gehirn ist deshalb wohl nicht realistisch. z
Verteilung von Neurotransmitterrezeptoren an Synapsen
Neurotransmitterrezeptoren der klassischen exzitatorischen und inhibitorischen Systeme sind auf molekularer Ebene entscheidend an der Initialisierung, Aufrechterhaltung und Modulation synaptischer Transmission und Plastizität beteiligt (zusammengefasst durch Rao u. Finkbeiner 2007). Dabei bestehen deutliche Unterschiede in der Expression von z. B. Glutamatrezeptoruntereinheiten zwischen Prinzipalneuronen und verschiedenen
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4 · Synapsen: Schlüsselelemente der Signalübertragung
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. Abb. 4.2 Immunhistochemische Darstellung von Glutamatrezeptoren des AMPA-Typs (A) und der NR1-Untereinheit des NMDA-Rezeptors an postsynaptischen Dichten (schwarze Konturen) auf Freeze-Fracture-Replica-Präparationen. Die unterschiedliche Dichte und Verteilung von AMPA-Rezeptoren und der NR1-Untereinheit des NMDA-Rezeptors ist durch die Markierung dieser Rezeptoren durch Goldpartikel (schwarze Punkte) deutlich zu erkennen.
GABA-ergen Interneuronen (Nusser 2000). Die unterschiedliche Expression von AMPA-Rezeptoruntereinheiten reguliert z. B. sowohl die Ca2+Permeabilität als auch die Deaktivierungs- bzw. Desensitisierungskinetik an Prinzipal- und Interneuronen (Geiger et al. 1995). Des Weiteren weisen zahlreiche Arbeiten auf eine unterschiedliche Beteiligung von ionotropen AMPA- und NMDARezeptoren an synaptischer Übertragung und auf eine Kolokalisation dieser Glutamatrezeptoren an synaptischen Kontakten hin (zusammengefasst durch Nusser 2000). Neben einer möglichen Kolokalisation kommt es offenbar entscheidend auf die subzelluläre Lokalisation eines entsprechenden Rezeptors entweder auf der prä- oder der postsynaptischen Seite der aktiven Zone an. Die präsynaptische Lokalisation des NMDA-Rezeptors führt bei einer Lokalisation auf der präsynaptischen Seite zu einer Suppression (»paired pulse depression«), auf der postsynaptischen Seite zu einer Faszilitierung (»paired pulse facilitation«) synaptischer Transmission (Rodriguez-Moreno u. Paulsen 2008). Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Dichte, Verteilung und mögliche Kolokalisation von
Neurotransmitterrezeptoren darzustellen. Eine der heutzutage gängigsten Methoden ist eine Kombination von Hochdruckgefrieren, Kryosubstitution, Ultradünnschnitten und Gefrierbruchpräparationen in Kombination mit hochsensitiven Postimmunogoldmarkierungen. Während auf Ultradünnschnitten die Dichte, Verteilung und mögliche Kolokalisation von Neurotransmitterrezeptoren nur für einen bestimmten Bereich der aktiven Zone dargestellt werden können, erlauben sog. FreezeFracture-Replica-Präparationen die Darstellung über die gesamte aktive Zone (. Abb. 4.2). Unsere bisherigern Untersuchungen zeigen, dass AMPA- und NMDA-Rezeptoren und ihre Untereinheiten an kortikalen Synapsen kolokalisiert vorkommen, sich aber deutlich nicht nur in ihrer Expression, Dichte und Verteilung, sondern auch in ihrer schichtenspezifischen Expression unterscheiden. Beide Rezeptoren und ihre Untereinheiten kommen kolokalisiert an sog. Schaft- und Spinesynapsen vor. Während der AMPA-Rezeptor eher die zentrale Region der postsynaptischen Dichte besetzt, sind die Untereinheiten des NMDA-Rezeptors, NR1,
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Kapitel 4 · Synapsen: Schlüsselelemente der Signalübertragung
NR2A,NR2C, eher an den lateralen Rändern der postsynaptischen Dichte zu finden. Nicht nurhinsichtlich der Dichte der Expression beider Rezeptoren ergeben sich signifikante schichtenspezifische Unterschiede, sondern auch hinsichtlich ihrer Verteilung an Schaft- und Spinesynapsen. Während der AMPA-Rezeptor an beiden Typen von Synapsen in relativ hoher Dichte vorkommt, liegen deutliche Unterschiede in der Dichte und Verteilung für den NMDA-Rezeptor und seiner Untereinheiten an diesen Synapsen vor. Die NR1-Untereinheit kommt an nahezu allen bisher untersuchten postsynaptischen Dichten vor, ist dort aber unterschiedlich stark exprimiert. Die Untereinheiten NR2A, B und C kommen in deutlich geringerer Dichte oder gar nicht an den beiden Typen von Synapsen vor. Interessanterweise zeigen die NR1- und die NR2B-Untereinheit – neben einer postsynaptischen– in einigen Fällen eine präsynaptische Expression. Unsere Befunde zur Dichte, Verteilung und Kolokalisation erklären und unterstützten funktionelle Studien im Neokortex und anderen Gehirnregionen, die deutliche Unterschiede in der Signalübertragung und synaptischen Plastizität einzelner neuronaler Verbindungen im Gehirn zeigen. Dies lässt sich neben deutlichen strukturellen Unterschieden im Aufbau von Synapsen auch auf die unterschiedliche Expression, Dichte und Verteilung von Neurotransmitterrezeptoren zurückführen. Damit eröffnen sich auch völlig neue Möglichkeiten für strukturelle Untersuchungen neurologischer und neurodegenerativer Erkrankungen entweder an definierten Tiermodellen oder,sofern möglich, an humanem Biopsiematerial.
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Die phrenische Komponente der Schizophrenie Karl-Jürgen Bär, Heinrich Sauer
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 5 · Die phrenische Komponente der Schizophrenie
Die kardiale Mortalität ist bei Patienten mit einer schizophrenen Erkrankung um das 3- bis 4fache erhöht (Rosh et al. 2003). Zu dieser Erhöhung tragen verschiedene Faktoren bei, wie z. B. der erhöhte Nikotinkonsum oder das metabolische Syndrom. In epidemiologischen Studien wurde nachgewiesen, dass etwa 40–45 % der natürlichen Todesfälle von schizophrenen Patienten primär kardiovaskulär verursacht sind (Koponen et al. 2008). Eine mögliche Ursache hierfür ist eine Dysfunktion des autonomen Nervensystems. Im nachfolgenden Kapitel soll daher die autonome Funktionsweise bei Patienten mit Schizophrenie ohne antipsychotische Medikation beschrieben werden. Zunächst wird sie auf kardialer Ebene dargestellt, anschließend wird die Interaktion verschiedener Teilbereiche des autonomen Systems beschrieben. Ferner soll gezeigt werden, dass eine autonome Dysfunktion auch bei gesunden Angehörigen zu finden ist. Abschließend werden die klinischen Konsequenzen der autonomen Dysfunktion dargestellt.
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Autonome Dysfunktion auf kardialer Ebene
Die Variabilität des Herzschlags ist eine wesentliche Voraussetzung für die Adaptationsfähigkeit des Organismus. Zur Beschreibung der autonomen Funktion am Herzen wird daher die Variabilität des Herzschlags untersucht. Bei Patienten mit Schizophrenie ohne antipsychotische Therapie konnte in vielen Studien nachgewiesen werden, dass die erhöhte Herzfrequenz (. Abb. 5.1a) mit einer Verminderung der Variabilität einhergeht (Bär et al. 2008; Boettger et al. 2006). Diese Verminderung der Variabilität wurde in einfachen Parametern der Zeitdomäne (z. B. Standardabweichung) oder durch Frequenzanalysen dargestellt. Hierbei zeigte sich, dass die Verminderung der Variabilität des Herzschlags bei Patienten mit Schizophrenie vor allem durch ein Fehlen von hochfrequenten Herzschlagänderungen (. Abb. 5.1b) zustande kommt. Es ist bekannt, dass hochfrequente Herzschlagänderungen durch die Innervation des Nervus vagus hervorgerufen werden. Daher wurde in vielen Studien eine Unterfunktion der efferenten vagalen Funktion für die schizophrene Erkrankung postuliert (Bär et al. 2005). Eine ganz ähnliche Aussage konnte durch die Untersuchung von Komplexitätsmaßen gemacht werden. Hier wurde gezeigt, dass neben der verringerten Variabilität des Herzschlags
schizophrener Patienten dieser auch durch eine verminderte Komplexität charakterisiert ist. Eine verminderte Komplexität bedeutet auch eine reduzierte Anpassungsfähigkeit des Herzens und damit die Prädisposition zu Arrhythmien und anderen Funktionsstörungen (Bär et al. 2007b). Neben der Variabilität des Herzschlags kann auch die Variabilität der QT-Intervalle untersucht werden. Klinisch wird die QT-Zeit als einmaliger Wert angegeben, als sei die QT-Zeit über die gesamte Herzschlagfolge konstant. Tatsächlich ändert sich auch die Repolarisationsdauer, welche durch die QT-Zeit in Abhängigkeit von Herzfrequenz und anderen Faktoren beschrieben wird, fortlaufend. Eine hohe Variabilität der QT-Zeit bedeutet, dass eine kurze Repolarisationsdauer von langen Repolarisationszeiten abgelöst wird, und dies prädisponiert zu Arrhythmien. Auch dieses Phänomen wurde für schizophrene Patienten ohne Medikation beschrieben (Bär et al. 2007c). Es wird angenommen, dass eine erhöhte Variabilität der Erregungsrückbildung durch eine erhöhte Sympathikusaktivität entsteht. Neben den Veränderungen der Herzfrequenzvariabilität und der QT-Variabilität konnte für die akute schizophrene Psychose nachgewiesen werden, dass die Blutdruckvariabilität unverändert ist. Im Gegensatz dazu wurde die erhöhte Sympathikusaktivität auch am Schrittmacher des Magens beschrieben (Peupelmann et al. 2009b). Insgesamt zeigen die Untersuchungen auf Einzelorganebene einen verminderten vagalen Tonus verbunden mit einer erhöhten sympathischen Aktivität. z
Interaktion von Herzschlag und Blutdruck sowie Atmung und Herzfrequenz
Die Feinabstimmung von Herzfrequenz und Blutdruck wird im Glomus caroticum durch Druckrezeptoren, die sog. Barorezeptoren, vermittelt. Eine Zunahme des Blutdrucks bewirkt eine Abnahme der Herzfrequenz und eine Abnahme des Blutdrucks eine Zunahme der Herzfrequenz. Die Sensitivität der Feinabstimmung beider Parameter beschreibt die kardiale Gesundheit eines Menschen. So wurde in epidemiologischen Studien nachgewiesen, dass die Baroreflexsensitivität bei Patienten mit Diabetes mellitus und bei Patienten nach
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5 · Die phrenische Komponente der Schizophrenie
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. Abb. 5.1 Darstellung der mittleren Herzfrequenz (a) von 20 schizophrenen Patienten ohne Medikation, ihren gesunden erstgradigen Angehörigen (n=20) und 20 Kontrollprobanden. Die verminderte vagale Aktivität (hochfrequente Herzschlagänderungen) bei Patienten und ihren Angehörigen wird in (b) gezeigt. Die Atemfrequenzen aller Gruppen werden in (c) illustriert. Pathologische, hochfrequente Änderungen der mittleren Atemfrequenzen finden sich ausschließlich bei Patienten (d)(Peupelmann et al. 2009a) (Bär et al. 2010, mit freundlicher Genehmigung von Oxford University Press)
Herzinfarkt oder mit Kardiomyopathie ein guter Prädiktor für die kardiale Gesundheit ist. In verschiedenen Studien wurde gezeigt, dass die Sensitivität der Barorezeptoren bei Patienten mit Schizophrenie deutlich reduziert ist, dass also Blutdruck und Herzfrequenz nur wenig sensitiv aufeinander abgestimmt sind. Auch dies ist ein weiteres Indiz für eine vagale Unterfunktion bei diesen Patienten (Bär et al. 2007a). Die respiratorische Sinusarrhythmie (RSA) beschreibt die Interaktion zwischen Herzfrequenz und Atmungsfrequenz. Während des Einatmens kommt es zu einer Zunahme der Herzfrequenz, während beim Ausatmen eine Abnahme zu verzeichnen ist. Interessanterweise fanden wir eine stark verminderte respiratorische Sinusarrhythmie
bei Patienten mit Schizophrenie. Zusätzlich wurde eine signifikante Zunahme der Atemfrequenz auf etwa 25 Atemzüge pro Minute (. Abb. 5.1c) gefunden (Peupelmann et al. 2009a). Diese Zunahme der Atemfrequenz bei Patienten mit Schizophrenie war Anlass, die Atemregulation bei diesen Patienten näher zu untersuchen. Dabei zeigte sich, dass die erhöhte Atemfrequenz mit einer starken Abnahme der Expirationsdauer verbunden ist, d. h., dass Patienten mit Schizophrenie deutlich flacher atmen und dass das Atemminutenvolumen unverändert ist. Dabei wurde zusätzlich gezeigt, dass das Atemmuster durch viele hochfrequente Änderungen gekennzeichnet (. Abb. 5.1d) ist. Patienten mit Schizophrenie scheinen schneller zu atmen und sie haben in dieser schnellen Atmung viele hochfre-
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Kapitel 5 · Die phrenische Komponente der Schizophrenie
quente Atemanteile. Dies ist aus unserer Sicht eine fundamentale Beobachtung, da die Atmung viele weitere autonome Funktionen beeinflusst. Dies betrifft u. a. die kardiale Funktion, die hiervon stark beeinflusst wird. Es bleibt zu prüfen, inwieweit Sauerstoffaufnahme und Kohlendioxidabgabe oder körperliche Leistungsfähigkeit davon beeinflusst werden. Zudem beleibt zu prüfen, ob eine Beeinflussung des pathologischen Atemmusters auch zu einer Verbesserung kardialer Funktionen führt. z
Untersuchung gesunder erstgradiger Angehöriger von Schizophreniepatienten
Interessanterweise hatte sich gezeigt, dass die Analyse der Herzratenvariabilität (HRV) bei Angehörigen von Patienten mit Schizophrenie deutliche Abweichungen zu Gesunden zeigt. Im Gegensatz zu Gesunden haben Angehörige ersten Grades eine erhöhte Herzfrequenz und eine verminderte HRV (Abb. 5.1a,b). Diese verminderte Variabilität der Angehörigen entspricht, wie bei den schizophrenen Patienten auch, einer verminderten vagalen Aktivität (Bär et al. 2009). Es kann vermutet werden, dass hierbei eine genetische Ursache zu diesen veränderten Mustern bei gesunden Angehörigen und Patienten beiträgt, da viele Studien zeigen, dass eine hohe Herzfrequenz und ihre Variabilität genetisch determiniert zu sein scheinen. Im Gegensatz dazu ist bei gesunden Angehörigen keine erhöhte Atemfrequenz zu finden (Abb. 5.1c,d). Die Atmungsregulation ist bei gesunden Angehörigen offenbar unverändert. Auch die dynamische Interaktion zwischen Herzfrequenz und Atmung ist bei gesunden Angehörigen nicht verändert. Dies könnte bedeuten, dass die Herzfrequenzvariabilitätsveränderung bei Patienten mit Schizophrenie eher einer genetisch determinierten Veränderung entspricht, wogegen die Atmungsveränderungen mit der akuten Psychose zu korrelieren scheinen. Diese Atmungsveränderungen entsprechen sehr stark Veränderungen, die wir bei Gesunden finden, wenn diese einer Stresssituation unterzogen werden. z
Zentrales autonomes Netzwerk in der Schizophrenie
Mit Hilfe funktioneller Bildgebung wurde begonnen, die zentralen Korrelate der autonomen Dys-
funktion bei Patienten mit Schizophrenie zu beschreiben. Hierbei deuten die Befunde an, dass eine erhöhte Aktivität in verschiedenen Zentren des Hirnstamms und im posterioren zingulären Kortex mit der veränderten kardialen Regulation assoziiert ist. Dieser Befund korreliert mit einer veränderten Aktivität der rechten Amygdala in Abhängigkeit vom Herzschlag bei Patienten mit Schizophrenie. Es bleibt zu prüfen, ob bzw. inwieweit eine verminderte Konnektivität zwischen präfrontalen Hirnarealen und limbischen bzw. Hirnstammarealen als eine mögliche Ursache in Betracht kommt. z
Klinische Relevanz
Die dargestellten Studien zeigen eine Veränderung der Balance von Sympathikus und Parasympathikus bei Patienten mit Schizophrenie. Diese Veränderung des autonomen Nervensystems prädisponiert für Arrhythmien und andere kardiale Rhythmuskomplikationen. Die Medikation sollte demzufolge immer unter Bezugnahme auf diese veränderte kardiale Situation ausgewählt werden. Auch die Veränderung der QT-Variabilität erfordert eine sorgfältige Auswahl der Medikation nach Nebenwirkungsprofil. Bisher liegen wenige Studien vor, die die autonome Dysfunktion unter typischer bzw. atypischer Medikation bei Patienten mit Schizophrenie untersuchen. Diese Studien sind aber erforderlich, um gegebenenfalls das individuelle kardiale Risiko besser abschätzen zu können. Die Störung der Atemregulation muss unbedingt näher analysiert werden, um eine wahrscheinlich hohe klinische Relevanz abschätzen zu können.
Literatur Bär KJ, Letzsch A, Jochum T, Wagner G, Greiner W, Sauer H (2005) Loss of efferent vagal activity in acute schizophrenia. J Psychiatr Res 39:519–527 Bär KJ, Boettger MK, Berger S, Baier V, Sauer H, Yeragani VK, Voss A (2007a) Decreased baroreflex sensitivity in acute schizophrenia. J Appl Physiol 102:1051–1056 Bär KJ, Boettger MK, Koschke M, Schulz S, Chokka P, Yeragani VK, Voss A (2007b) Non-linear complexity measures of heart rate variability in acute schizophrenia. Clin Neurophysiol 118:2009–2015 Bär KJ, Koschke M, Boettger MK, Berger S, Kabisch A, Sauer H, Voss A, Yeragani VK (2007c) Acute psychosis leads to
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5 · Die phrenische Komponente der Schizophrenie
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Forensische Psychiatrie: Prognose und Therapie Kapitel 6
Stellenwert empirischer Befunde bei der Beurteilung von Schuldfähigkeit und Prognose – 36 Jürgen Müller
Kapitel 7
Zur prognostischen Bedeutung des Tatverhaltens bei Sexualdelinquenz – 41 Klaus-Peter Dahle, Jürgen Biedermann
Kapitel 8
Lockerungen im Maßregelvollzug – 47 Norbert Leygraf
Kapitel 9
Zur Willensfreiheit aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht – 53 Dieter Dölling
Kapitel 10
Behandlung psychisch kranker Straftäter – 57 Norbert Nedopil
Kapitel 11
Psychopathischer Determinismus: nicht mildernd, sondern erschwerend und nach dem US-amerikanischen Gesetz strafbar – 65 Alan R. Felthous
Kapitel 12
Eine psychiatrische Position zur Maßregel der Sicherungsverwahrung – 69 Elmar Habermeyer
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Stellenwert empirischer Befunde bei der Beurteilung von Schuldfähigkeit und Prognose Jürgen Müller
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 6 · Stellenwert empirischer Befunde bei Schuldfähigkeit und Prognose
Das deutsche Strafrecht geht von der Verantwortlichkeit eines Täters für seine Handlungen aus. Im § 20 StGB werden aber Ausnahmen im Sinne konkret definierter juristischer Eingangsmerkmale begründet durch psychische Beeinträchtigungen, die so ausgeprägt sind, dass sie Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit in erheblicher Weise beeinträchtigt oder sogar aufgehoben haben. Auf diese kategorial zu begreifenden juristischen Eingangsmerkmale sind die psychischen Beeinträchtigungen im Sinne der aktuell gültigen operationalisierten Diagnosesysteme zu übertragen. Dabei wird das dimensionale Konzept psychischer Störungen in einem doppelt quantifizierenden Vorgehen auf das kategoriale Konzept juristischer Eingangsmerkmale und die hierdurch bedingte Relevanz bei Begehung der Straftat übertragen. Hierzu werden die vorläufigen Symptome aufgeführt, die Kriterien für die Annahme einer ICD-10- bzw. DSM-IV-Diagnose gewertet und in einem weiteren Schritt deren Schweregrad und Taterheblichkeit geprüft.
Ungeachtet unseres aktuellen, biologisch geprägten Verständnisses von psychischen Störungen ist der Stellenwert empirischer, neurobiologischer Untersuchungen für die Feststellung einer psychiatrischen Diagnose bislang gering. Ihre wesentliche Bedeutung gewinnen apparative Untersuchungen über die Notwendigkeit, organische Veränderungen, die zu vergleichbaren psychischen Auffälligkeiten führen können, auszuschließen. Zu den dazu notwendigen Verfahren zählen nicht nur bildgebende Diagnostik, sondern auch Untersuchungen von Blut und Liquor (Müller 2009a). In jüngerer Zeit finden empirische Befunde zu psychischen Störungen, die unter das 4. juristische Eingangsmerkmal – das der schweren anderen seelischen Abartigkeit – zu subsumieren sind, zunehmend Beachtung: Beispielsweise bei Probanden mit Psychopathie (Müller 2010) oder auch bei Sexualstraftätern wird die Diagnose klinisch syndromatologisch gestellt, ungeachtet dessen weist eine inzwischen vorliegende Vielzahl von empirischen Befunden auf eine organische (Mit)verursachung hin. Die Bedeutung organischer Faktoren und damit auch die Notwendigkeit einer genauen, auch organische Ursachen abklärenden Untersuchung
bei Sexualstraftaten wird durch folgende spektakuläre Kasuistik illustriert: Ein vierzigjähriger Schullehrer fiel durch sexuell enthemmtes Verhalten auf. Er wurde unter anderem zum Nachteil seiner Stieftochter übergriffig und konsumierte exzessiv kinderpornographisches Material. Auffällig geworden wegen Kopfschmerzen, wurde eine kernspintomographische Untersuchung durchgeführt. Dabei fand sich bei dem Probanden ein etwa tennisballgroßer, frontal gelegener Tumor. Nach der operativen Entfernung des Tumors klang die neurologische Symptomatik ab, sein sexuelles Verhalten war wieder kontrollierbar. Nach einigen Monaten wurde er erneut rückfällig, wobei er erneut pornographisches Material sammelte und konsumierte. Eine Nachuntersuchung zeigte, dass ein Tumorrezidiv nachgewachsen war (Burns u. Swerdlow 2003). Ungeachtet der tatsächlichen ätiopathogenetischen Bedeutung des präfrontal gelegenen Tumors für die Begehung pädophiler Delikte, unterstreicht diese Kasuistik durchaus, dass auch bei bislang nicht auf organische Veränderungen zurückgeführtem Verhaltens- und Delinquenzmuster biologische Faktoren eine große Rolle spielen können. Dabei lässt der Tumornachweis in der geschilderten Kasuistik allerdings offen, ob es sich um pädophile Handlungen im Rahmen eines frontalen Disinhibitionssyndroms handelt oder ob alternativ ein frontales Pädophiliezentrum zu diskutieren ist (Burns u. Swerdlow 2003). Neben dieser spektakulären Kasuistik liegt inzwischen eine Vielzahl empirischer Befunde zur Pädophilie vor. Eine strukturelle Untersuchung des Gehirns von pädophilen Patienten aus dem Maßregelvollzug ergab bei 7 von 15 bereits bei der Analyse des individuellen Täterhirns eine makroskopisch fassbare Aufweitung des rechten Temporalhorns (Schilz et al. 2007). Die Gruppenstatistiken unterstrichen diesen Befund und ergänzten ihn durch weitere Größenanomalien von sexuell relevanten Hirnarealen. In einer eigenen kasuistischen Untersuchung zu einem Mörder mit sexuellem Sadismus und Autismus fand sich eine deutliche bilaterale, doch rechts akzentuierte Aufweitung des Temporalhorns als Ausdruck einer amygdalo-hippokampalen Atrophie (Müller et al. 2009b). Nedopil et al. (2008) wiesen bei der Beschreibung eines vielfachen Mörders und Vergewaltigers mit sadistischem
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6 · Stellenwert empirischer Befunde bei Schuldfähigkeit und Prognose
Fetischismus auf pathologische, postinflammatorische Veränderungen im Bereich des Marklagers und des rechten Hippocampus hin. Entsprechende Veränderungen fanden sich in früheren Untersuchungen bei 50 % der Probanden mit sexuellem Sadismus (Langevin et al. 1988). Diese amygdalohippokampalen Veränderungen betreffen eine Schlüsselregion von Emotionsregulation und sexuell relevantem Verhalten (Pfaus 2009). Angesichts dieser überwiegend kasuistischen Evidenz sind die bislang vorliegenden Befunde allerdings noch nicht hinreichend, um ein konsistentes Model einer organischen Genese sexueller Devianz zu postulieren. Wenn die Befunde auch Hypothesen generierend zu weiteren Forschungen und verstärkter wissenschaftlicher Aufmerksamkeit veranlassen sollten, so reichen die Hinweise insbesondere noch nicht für die Beantwortung juristisch relevanter Fragestellungen. Die organischen Befunde, die sich bei mehr als der Hälfte der Probanden mit sadistischen Sexualstraftaten bzw. der Diagnose einer Paraphilie finden lassen, sind in ihrer ätiopathogenetischen Relevanz ebenso wie in ihrer Bedeutung für Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit noch unklar. Diese biologischen Befunde werfen weitere Fragen auf, wenn sie zur Beantwortung juristischer Fragen herangezogen werden sollen, und zwar insbesondere nach den wissenschaftlichen Anforderungen, die erfüllt sein müssen, um anzunehmen, dass organische Veränderungen individuelles Verhalten notwendig begründen. Insbesondere muss die Bedeutung von zentralnervösen und psychischen Ressourcen, diese Veränderung zu kompensieren, stärker beachtet werden. Asymptomatisch verlaufende Hirnläsionen und Anomalien verdeutlichen die Plastizität des Gehirns beim Prozessieren und Bewältigen spezifischer Anforderungen und Leistungen. Die andere Hälfte der Probanden in den vorgestellten Studien hatte ja ohne organischen Befund ein vergleichbares Delikt begangen, dementsprechend müssen andere Faktoren wirksam geworden sein. Die Erforschung des Zusammenhangs von organischen Veränderungen mit Life-Events, psychischen Ressourcen, Tatkonstellationen, protektiven Faktoren und Copingmechanismen steht insbesondere in der neurobiologisch orientierten forensischen Psychiatrie bislang weitgehend aus.
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Einen anderen Ansatz als den, nachdem vom organischen Substrat auf eine Diagnose geschlossen wird, nämlich einen, nach dem ausgehend von der Diagnose die beteiligten organischen Korrelate erforscht werden, beschreiben aktuelle Untersuchungen, die die sexuelle Orientierung unabhängig von den Probandenangaben festzustellen beanspruchen. Diese Studien sind von hoher praktischer Relevanz. Probanden, denen pädophile Handlungen zur Last gelegt werden, haben aus Angst vor der drohenden Verurteilung bzw. der drohenden Inkriminierung ihrer sexuellen Orientierung oder Handlungen gute Gründe, ihre sexuellen Neigungen und Interessen zu bagatellisieren oder abzustreiten. Dies gilt auch für Kindesmissbrauchstäter, die nach Verbüßen einer Haftstrafe bzw. nach einer Therapie im Maßregelvollzug auf eine günstige Prognoseeinschätzung vor einer Entlassung angewiesen sind. Neben der nachvollziehbaren Tendenz, zu leugnen oder zu bagatellisieren, wird die Aussagekraft der Probandenangaben aber auch durch eine geringe Introspektionsfähigkeit sowie eine Neigung zur Fremdattribution der Verantwortung an die Opfer eingeschränkt. Um einer Fehlbeurteilung aufgrund dieser Probandenangaben zu entgehen, versuchen verschiedene aufmerksamkeitsbasierte empirische Verfahren die sexuelle Orientierung der Probanden über die kontrollierte und automatische Aufmerksamkeitszuweisung an sexuell relevante Stimuli zu objektivieren (Hutwelker 2007, unveröff. Dissertation; Mokros et al. 2009). In der Abteilung für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Göttingen wird mit Hilfe des Verfahrens der Blickregistrierung (Eye-Tracking) die sexuelle Orientierung von Kindesmissbrauchern im Vergleich zu Kontrollprobanden und im Vergleich zu wegen anderer Sexualstraftaten untergebrachten Patienten erforscht (Fromberger et al. 2011). In diesen Studien unterschieden sich pädophile von nichtpädophilen Probanden signifikant in der Wahrscheinlichkeit der ersten Fixation auf Kinderbilder. Auch die kumulierte Zeit der Fixation beim Betrachten sexuell relevanter Stimuli trennte signifikant pädophile von nichtpädophilen Probanden. Unter Errechnen eines Alterspräferenzindex und der Berücksichtigung der relativen Fixationszeit war es möglich, pädophile von nichtpädophilen Straftätern mit ei-
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Kapitel 6 · Stellenwert empirischer Befunde bei Schuldfähigkeit und Prognose
ner Sensitivität von 95 % und einer Spezifität von 84,6 % zu trennen (Fromberger et al. 2011). Diese Ergebnisse konnten unter Einbeziehung der Körperregionen, auf die sich die Blicke richteten, weiter verbessert werden. Pädophile Probanden fixierten in deutlich höherem Prozentsatz Brust und Schambereich als nichtpädophile Probanden. Diese Ergebnisse zeigen, dass es möglich ist, mit Hilfe empirischer Verfahren und unabhängig von den Probandenangaben mit hoher Spezifität und Sensitivität auf die sexuelle Orientierung zu schließen. Hinsichtlich der Beurteilung der Schuldfähigkeit könnten diese Daten, sofern sie sich auch bei einer Einzelfalluntersuchung als reliabel und valide erweisen, Hinweise auf eine pädophile Orientierung des zu Untersuchenden liefern. Doch selbst wenn sich diese Untersuchungsbefunde auch bei der Einzelfallbeurteilung als reliabel und valide erweisen, sagen sie jedoch noch nichts darüber aus, ob diese pädophile Orientierung wirklich handlungsleitend werden wird oder geworden ist. Entsprechende Dunkelfelduntersuchungen weisen auf einen hohen Anteil (im Prozentbereich) von pädophilen Neigungen bei erwachsenen Männern hin. Nur ein geringer Teil derer ist aber strafrechtlich durch pädophile Handlungen wirklich in Erscheinung getreten. Dies weist auf die Bedeutung von Kompensationsmechanismen und Kontrollinstanzen hin, die ein Umsetzen der pädophilen Neigungen verhindern konnten. Von erheblicher Relevanz ist es also, präventiv wirksame Mechanismen, beispielsweise inhibitorische Hirnareale, abzubilden und zu erforschen. Kombiniert man hierzu die Eye-Tracking-Technik mit dem Verfahren der funktionellen Magnetresonanztomographie, können die beim Betrachten der sexuell relevanten Bilder aktivierten Hirnareale abgebildet werden. Erwartungsgemäß bildeten sich die die sexuell relevanten Stimuli prozessierenden Hirnareale in einer Göttinger Vorstudie ab. In weiterführenden Untersuchungen werden nun auch inhibitorische Hirnareale, die beispielsweise handlungsbahnende sexuelle Impulse kontrollieren, intensiver erforscht. Die Analyse des Zusammenwirkens inhibitorischer Zentren mit den sexuell aktivierenden Hirnarealen kann Hinweise auf die Kontrollierbarkeit sexueller Impulse bzw. auch den drohenden Verlust über die Kontrolle sexuell relevanter Handlungen liefern.
Eine entsprechende Untersuchung wird an der Universität Göttingen gegenwärtig in Angriff genommen. Solche Untersuchungen mit empirischen Verfahren sind ein wichtiger Schritt dabei, Diagnose, Therapie und Prognose auch bei Sexualstraftätern zu objektivieren und zu verbessern. Vor der Verwendung dieser Daten zur Beantwortung forensisch relevanter Fragen müssen allerdings die etablierten wissenschaftlichen Gütekriterien erfüllt sein. So müssen die Daten reliabel, valide und konsistent sein. Es müssen mögliche Einflussfaktoren und die Möglichkeit des Verfälschens dargelegt werden können. Erst dann sind die wissenschaftlichen Mindestanforderungen für den Einsatz entsprechender empirischer Verfahren für Gerichtszwecke erfüllt. Diese können meines Erachtens noch auf recht lange Sicht die kompilierenden klinischen Expertenurteile nicht ersetzen. Von einer empirischen, also einer neurowissenschaftlich gestützten Strafverfolgung und Strafvollstreckung sind wir meines Erachtens noch weit entfernt. Angesichts des rasant zunehmenden empirischen Wissens wird die große Herausforderung künftiger forensischer Psychiater darin liegen, den Stellenwert empirischer Befunde und das wachsende Wissen in die bestehenden Beurteilungskonzepte zu integrieren. Hierzu sind vom Jubilar sicher noch wichtige Beiträge und Anregungen zu erhoffen.
Literatur Burns JM, Swerdlow RH (2003) Right Orbitofrontal Tumor With Pedophilia Symptom and Constructional Apraxia Sign (reprinted). Arch NeuroI 60(3):437–40 Fromberger P, Jordan K, Herder J v, Steinkrauss H, Nemetschek R, Stolpmann G et al. (2011) Initial Orienting towards Sexually Relevant Stimuli: Preliminary Evidence from Eye Movement Measures. Arch Sex Behav (im Druck) Langevin R, Bain J, Wortzman G, Hucker S, Dickey R, Wright P (1988) Sexual sadism: brain, blood, and behavior. Ann NY Acad Sci 528:163–7 Mokros A, Dombert B, Osterheider M, Zappalà A, Santtila P (2009) Assessment of Pedophilic Sexual Interest with an Attentional Choice Reaction Time Task.Arch Sex Behav 39(5):1081–90 Müller JL(2009a) Forensische Psychiatrie im Zeitalter der »Neuroscience«.Stand und Perspektive neurobiologi-
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6 · Stellenwert empirischer Befunde bei Schuldfähigkeit und Prognose
scher Forschung bei der Beantwortung forensisch-psychiatrischer Fragestellungen. Nervenarzt 80(3):241–51 Müller JL (2009b) Sadomasochism and hypersexuality in autism linked to amygdalohippocampal lesion? J Sex Med (im Druck) Müller JL (2010) Psychopathy – an approach to neuroscientific research in forensic psychiatry. Behav Sci Law 28(2):129–47 Nedopil N, Blümcke I, Bock H, Bogerts B, Born C, Stübner S (2008) Tödliche Lust – sadistischer Fetischismus. Forensisch-psychiatrische Begutachtung von Sexualstraftäter. Nervenarzt 79:1249–1262 Pfaus JG (2009) Pathways of Sexual Desire. J Sex Med 6:1506–33 Schiltz K, Witzel J, Northoff G, Zierhut K, Gubka U, Fellmann H, Kaufmann J, Tempelmann C, Wiebking C, Bogerts B (2007) Brain pathology in pedophilic offenders: evidence of volume reduction in the right amygdala and related diencephalic structures. Arch Gen Psychiatry 64(6):737–46
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Zur prognostischen Bedeutung des Tatverhaltens bei Sexualdelinquenz Klaus-Peter Dahle, Jürgen Biedermann
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 7 · Zur prognostischen Bedeutung des Tatverhaltens
Die im kriminalistisch-polizeipsychologischen Kontext entwickelte Form der Tathergangsanalyse soll in ihrem eigentlichen Anwendungsfeld unterstützend der Ermittlung unbekannter Täter bei schweren Gewalt- und Sexualdelikten dienen. Die vorliegende Arbeit zeigt zunächst theoretisch auf, wie die hierbei entwickelten Methoden der Tathergangsanalyse potenziell auch bei der forensisch-kriminalprognostischen Einschätzung von Tätern ihre Anwendung finden könnten. Eine empirische Rückfallstudie an 850 Sexualdelinquenten aus Berlin belegt im Weiteren das tatsächliche prognostische Potenzial von tathergangsanalytischen Variablen. Sie erwiesen sich demnach nicht nur für sich genommen als valide, sondern führten auch im Kontext etablierter standardisierter Prognoseinstrumente zu substanziellen Verbesserungen der Prognosegenauigkeit und könnten sogar klinisch-idiographische Einschätzungen weiter substanziieren.
Tatverhalten ist seit jeher Gegenstand rückfallprognostischer Einschätzungen von Straftätern im Allgemeinen und damit auch von Sexualstraftätern. Die Analyse des Tatverhaltens wird dabei implizit vom Gesetzgeber erwartet (§ 464 II StPO) und explizit durch die Rechtsprechung (vgl. u. a. KG-Berlin, 5 Ws 672/98) gefordert; sie ging auch in die methodischen Abschnitte der »Mindestanforderungen für Prognosegutachten« ein (Boetticher et al. 2007). Grundsätzlich lässt sich die erforderliche Prognoseeinschätzung dabei als Urteilsbildungsprozess auffassen, der sich im Wesentlichen auf 2 wissenschaftstheoretisch fundierte Erkenntnisquellen stützen kann und sollte. Hierbei handelt es sich 1) um empirisch gesichertes Erfahrungswissen (insbesondere in Form standardisierter aktuarischer Prognoseinstrumente), wobei individuelle Besonderheiten des Einzelfalls weitgehend vernachlässigt werden und der Proband aus der Perspektive einer statistisch konstruierten Gruppe von Personen mit vergleichbaren Merkmalen beurteilt wird. Darüber hinaus kann der Proband 2) aus einer individuellen klinisch-idiografischen Perspektive beurteilt werden, die sich auf die Rekonstruktion der spezifischen Ursachen der bisherigen Delinquenz dieses speziellen Täters stützt und diese individuellen Faktoren im Lichte seiner Entwicklung seit der letzten Tat unter Zugrundelegung seines aktuell erreichten Entwicklungstands und un-
ter Annahme wahrscheinlicher zukünftiger Rahmenbedingungen fortschreibt. Es konnte gezeigt werden, dass beide Herangehensweisen einander ergänzen und empirisches Hintergrundwissen der klinisch-idiografischen Methodik als sinnvoller Input und notwendiges Korrektiv dient (Dahle 2007, 2010). Ein Blick in die empirische Prognoseforschung zeigt indessen, dass das konkrete Tatgeschehen zumindest im Bereich der Sexualdelinquenz als potenzieller Prädiktor bislang vernachlässigt wurde. So wird in den einschlägigen Reviews und metaanalytischen Zusammenfassungen (Hanson u. Bussière 1998; Hanson u. Morton-Bourgon 2004) deutlich, dass sich die dort zusammengetragenen Risikofaktoren weitgehend auf die strafrechtliche und biografische Vorgeschichte des Täters, auf soziodemografische Merkmale, psychopathologische Faktoren und auf Merkmale der Täterpersönlichkeit beziehen. Zum konkreten Tatverhalten finden sich allenfalls einige Aspekte der Opferwahl (Geschlecht, Alter), der Täter-Opfer-Beziehung (fremd, außerfamiliär), der grundsätzlichen Deliktform (»non-contact«) und – schon selten – des Gewaltgebrauchs (Waffeneinsatz, Verletzung des Opfers). Dem entspricht, dass auch die einschlägigen standardisierten Prognoseinstrumente kaum Merkmale des eigentlichen Tatverhaltens berücksichtigen. Auf der anderen Seite wird in jüngerer Zeit vermehrt betont, dass der Rekurs auf kriminalistisch-polizeipsychologische Konzepte der Tathergangsanalyse neue Impulse im rechtspsychologischen und forensisch-psychiatrischen Umgang mit Rechtsbrechern setzen und speziell auch die Risikoprognose bei schwerer Gewalt- und Sexualdelinquenz verbessern könnte (z. B. Marx et al. 2006; Müller et al. 2005; Nitschke et al. 2010;vgl. auch das Schwerpunktheft »Tathergangsanalyse« der Praxis der Rechtspsychologie 2008;18[1]). Die empirische Grundlage für diese Annahme ist indessen bislang gering. In ihrem originären Feld zielt die Tathergangsanalyse auf die Ermittlung eines unbekannten Täters. Es geht um Rückschlüsse aus einem rekonstruierten Tatgeschehen auf die möglichen Motive, Fertigkeiten und Bedürfnisse des Täters, um hierüber letztlich zu begründeten Hypothesen über seine Person bzw. einen Kreis von möglichen Tätern
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7 · Zur prognostischen Bedeutung des Tatverhaltens
zu gelangen (Was + Warum = Wer). Im Rahmen forensischer Fragestellungen ist die Ausgangslage hingegen anders, da man den Täter, seine Biografie, seine Persönlichkeit und seine Lebenssituation zur Tat bereits kennt (Kröber 2006) und aus der retrospektiven Analyse des Tatverhaltens darüber hinausgehende Rückschlüsse auf dessen Motive, Fertigkeiten und Handlungsbereitschaften zu gewinnen versucht (Wer + Was = Warum). In beiden Ansätzen nimmt allerdings die Frage nach dem Warum, also nach der Bedeutung der Tat für den Täter und seiner Motivationsstruktur eine zentrale Rolle ein. Insoweit erscheint die Hoffnung auf gewinnbringende Anleihen an polizeipsychologische Konzepte und Methoden im Rahmen prognostischer Problemstellungen nicht unplausibel, zumal die Tathergangsanalyse in jahrzehntelanger Forschung elaborierte Methoden, Strategien und Erkenntnisse hervorgebracht hat. Hierzu zählen etwa Arbeiten zur Sequenzierung eines Tatgeschehens in zweckmäßige Analyseeinheiten, zu Beschreibungskonzepten wie dem Täter- und Opferrisiko, zur Stabilität spezifischer Tatmerkmale und -konfigurationen bei Wiederholungs- und Seriendelikten oder auch zum geographischen Bewegungsverhalten der Täter bei Tatbegehung. Vor allem aber zählen hierzu Forschungen zur zentralen Frage nach der Korrespondenz zwischen Tatverhalten und Tätermerkmalen (Übersicht z. B. bei Mokros 2008). Empirische Untersuchungen tathergangsanalytischer Methoden und Konstrukte mit direktem Bezug zu Rückfallrisiko und Rückfallprognose sucht man indessen auch hier weitgehend vergeblich. Anliegen der im Weiteren vorgestellten Studie war es daher, unter Rekurs auf Konzepte und Konstrukte der Tathergangsanalyse gezielt Merkmale des Täterverhaltens bei der Begehung von Sexualdelikten auf ihre mögliche rückfallprognostische Bedeutung hin zu untersuchen und dabei auch zu prüfen, ob sich durch die Einbeziehung prädiktiver Verhaltensvariablen ein möglicher prognostischer Mehrwert gegenüber eingeführten standardisierten Prognoseinstrumenten (z. B. dem Static99; Hanson u. Thornton 2000) ergibt.
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z Studie z z Stichprobe
Die Stichprobe resultierte aus einer Totalerhebung aller Sexualdelinquenten, die zwischen 1994 und 2001 in Berlin wegen eines sexuellen Missbrauchsoder Gewaltdelikts polizeilich registriert und anschließend für dieses Anlassdelikt rechtskräftig verurteilt wurden. Als Prognosekriterium wurde eine rechtskräftige Neuverurteilung aufgrund eines Sexualdelikts innerhalb eines festen Zeitraums von 5 Jahren nach Urteilsspruch bzw. nach Entlassung aus einer etwaigen Freiheitsentziehung aufgrund des Anlassdelikts definiert, wobei etwaige Haftzeiten aufgrund anderweitiger Delikte herausgerechnet wurden. Die resultierende Stichprobe reduzierte sich jedoch wegen fehlender Fallakten um einige weitere Fälle und es wurden 2 weibliche Täter ausgeschlossen, sodass letztlich eine Stichprobe von N=850 männlichen Sexualstraftätern ausgewertet wurde. Das Alter dieser Täter lag zum Zeitpunkt der Tat zwischen 14 und 77 Jahren (Mittelwert [M]=34,87 Jahre; Standardabweichung [SD]=±11,82 Jahre). Als Indexdelikt wurde bei 44 % aller Täter ein sexuelles Missbrauchsdelikt, bei 48 % eine sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung und bei 8 % beide Deliktgruppen verurteilt. Einschlägig bereits vorbestraft waren 18 % der Täter; die einschlägige Rückfallquote innerhalb von 5 Jahren lag bei 14 %. Zu den 850 Sexualstraftätern wurden Informationen zu ihrer strafrechtlichen Geschichte sowie biografische und vor allem tathergangsanalytische Informationen zusammengetragen. Diese stützten sich auf aktuelle Bundeszentralregisterauszüge, auf die polizeilichen Ermittlungsakten sowie auf Datenbankinformationen aus dem polizeilichen Informationssystem. Die letztgenannte Quelle enthielt neben allgemeinen und biografischen Angaben zum Täter bereits einige grundlegende Informationen zum Hergang der von den Tätern begangenen Taten. Diese schwankten in Umfang, Qualität und Ausführlichkeit allerdings stark, sodass die Tathergänge zum Indexdelikt systematisch anhand der polizeilichen Ermittlungsakten inhaltsanalytisch ausgewertet wurden. Hierzu wurde im Rahmen von Vorstudien ein Instrument zur Erfassung des Tathergangs und Tatverhaltens entwickelt. Der Aufbau orientiert sich an der Chronologie eines Tatgeschehens; inhaltlich wurde eine möglichst
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Kapitel 7 · Zur prognostischen Bedeutung des Tatverhaltens
breite Erfassung der relevanten Variablen auf objektiv-qualitativem Niveau angestrebt, aber auch einige abschließende Gesamtbeurteilungen einbezogen (z. B. zum Planungsgrad, zur Risikobereitschaft oder zur Rolle der Gewalt). Das Instrument wurde an unterschiedlichen Datenquellen erprobt, die Beurteilerübereinstimmung lag in Abhängigkeit vom Datenniveau der jeweils erfassten Variablen auf befriedigendem bis sehr gutem Niveau (M[κ]=0,74).
zielte Opfersuche im Tatvorfeld (»Cruising«) – aufgenommen. Insoweit zeigten sich 9 der Variablen als stabile und unabhängige Prädiktoren des Tatverhaltens für einschlägige Rückfälle und weitere 5 Merkmale als zwar für sich genommen ebenfalls prognostisch bedeutsam, im Hinblick auf ihren inkrementellen Beitrag aber als abhängig von der spezifischen Zusammensetzung der Gesamtstichprobe. Die 9 stabilen Tatverhaltensmerkmale sind hier aufgeführt und näher beschrieben:
z z Auswertung und Ergebnisse
Risikofaktoren des Tatbild-Risiko-Scores
Anhand univariater Analysen1 ergaben sich zunächst 20 Verhaltensvariablen, die sich jeweils als bedeutsam für die Prognose eines einschlägigen Rückfalls erwiesen. Diese deckten Elemente des Tatanlaufs, des Tatablaufs, des Nachtatverhaltens sowie der abschließenden Gesamtbeurteilung ab, wobei bewusst keine Charakteristika, die bereits in gängigen aktuarischen Prognoseinstrumenten wie dem Static99 enthalten sind (wie z. B. die Wahl eines männlichen oder fremden Opfers), berücksichtigt wurden. Mittels schrittweise rückwärts gerichteter logistischer Regressionsanalyse wurden diese Variablen nun auf ihre unabhängigen prognostischen Beiträge hin untersucht2. Es verblieben letztlich 11 Tatmerkmale, die gemeinsam zu einer hochsignifikanten Aufklärung des Rückfallrisikos beitrugen. Im Vergleich zu einer etwas früheren Auswertung einer Teilgruppe der bis zu diesem Zeitpunkt erfassten 612 Täter (Dahle et al. 2010) erwiesen sich 9 dieser Merkmale als stabil. Drei der im ursprünglichen Modell noch als unabhängig relevant einbezogenen Variablen – mehrere Tatopfer, Tatanlauf außerhalb des üblichen Umfelds des Täters und erniedrigende Tatelemente – wurden indessen im neuen Modell nicht mehr berücksichtigt und stattdessen 2 andere Variablen – unvermittelter Angriff auf das Opfer (»Blitz-Attacke«) und ge-
1. Tatanlauf außerhalb eines Gebäudes 2. Vertrauensbildende Kontaktaufnahme zum Opfer (Täter freundete sich im Vorfeld der Tat mit dem Opfer an oder lockte das Opfer mittels eines Vorwands oder mit Versprechungen [Geld, Süßigkeiten etc.]) 3. Überredender Kommunikationsstil (Täter überredet das Opfer mitzukommen oder auch direkt zu sexuellen Handlungen o. ä.) 4. Einzeltäter (keine Tätergruppe) 5. Betäubung des Opfers 6. Längeres Tatgeschehen (singuläres Tatgeschehen von mehr als 1 h) 7. Visuell sexuelle Stimulation durch Opfer (Opfer musste masturbieren und/oder wurde vom Täter während des Tatablaufs gefilmt) 8. Anale Penetration mit Penis 9. Tatplanung (liegen sichere Hinweise auf Tatplanung vor: ja/nein)
1 Bei ordinalem Datenniveau der unabhängigen Variablen erfolgten entsprechende Analysen mittels der SpearmanBrown-Korrelation, bei dichotomen sowie nominalem Datenniveau bei ausreichender Zellbesetzung mittels des Chi-Quadrats, ansonsten mittels des Fisher-Exakt-Tests. 2 Die Überprüfung der statistischen Bedeutsamkeit erfolgte mittels »Likelihood-ratio-Statistik«, wobei das bei dieser Analyse übliche Signifikanzniveau von 10 % angesetzt wurde.
Der ungewichtete Summenwert dieser 9 Variablen bildete die Grundlage eines Tatbild-Risiko-Scores, der im Weiteren hinsichtlich seiner prognostischen Charakteristika dargelegt wird. ROC-Analysen ergaben eine signifikante prognostische Validität des Scores von AUC=.73 und einer punktbiserialen Korrelation von r=.32. Mittels CHAID-Analyse3 wurden geeignete Schwellenwerte für die Unterteilung der Täter in Gruppen mit möglichst un-
3 Der Algorithmus »Chi-Square Automatic Interaction Detectors«(CHAID) ist in der Lage, auf der Grundlage von χ²-Statistiken die optimale Anzahl und Lage von Schwellenwerten zur Differenzierung hinsichtlich des Kriteriums möglichst heterogener Gruppen zu bestimmen (BaltesGötz 2004).
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7 · Zur prognostischen Bedeutung des Tatverhaltens
40 35 30 25 20 15 10 5 0 0-1 Punkt (n=178)
2 Punkte (n=222)
3-4 Punkte (n=350)
5-8 Punkte (n=100)
. Abb. 7.1 Einschlägige Rückfallquoten (%) erneuter Sexualdelikte der mittels CHAID-Analysen gewonnen Risikogruppen anhand des Tatbild-Risiko-Scores
terschiedlichen Rückfallraten ermittelt. Hierdurch ließen sich 4 Risikogruppen differenzieren, die sich deutlich hinsichtlich ihrer einschlägigen Rückfallrisiken unterschieden (. Abb. 7.1). Im Weiteren wurde untersucht, inwiefern der Risikoscore prognostische Informationen enthielt, die in dem gängigsten Prognoseinstrument für Sexualstraftäter, dem Static99, nicht repräsentiert sind. Dabei ergab sich für den Static99 allein eine Validität von AUC=.72 bzw. r=.30, die damit auf dem Niveau internationaler Befunde lag. Die Durchführung einer zweistufigen hierarchisch-logistischen Regressionsanalyse zeigte indessen, dass der Tatbild-Risiko-Score die Prognose einschlägiger Rückfälligkeit durch den Static99 hochsignifikant zu verbessern vermochte. Die Varianzaufklärung nach Nagelkerke stieg dabei von 15 % mit dem Static99 als alleinigen Prädiktor auf 22 %, sobald der Tatbild-Risiko-Score in die Prognose mit einbezogen wurde. Weitere Analysen legten nahe, das sich der prognostische Mehrwert des TatbildRisiko-Scores vor allem über Verbesserungen der Prognose bestimmter Tätergruppen ergab, die mit dem Static99 nur schwer bis gar nicht hinsichtlich ihrer Rückfälligkeit differenziert werden konnten, z. B. jugendliche Tätern (AUC[Static99]=.66; AUC[Tatbild]=.76), Täter mit Verurteilung sowohl wegen Vergewaltigung als auch sexuellem Kindesmissbrauch (AUC[Static99]=.63; AUC[Tatbild]=.79) oder gezielt Täter, die mit dem Static99 eine unspezifische mittlere Risikoeinschätzung erzielen (AUC[Static99]=.52; AUC[Tatbild]=.72).
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Um abzuschätzen, inwiefern sich die gefundenen Ergebnisse auch in der Übertragung auf andere Stichproben zeigen würden, erfolgte eine Kreuzvalidierung an einer weiteren Stichprobe. Dabei handelte es sich um alle zwischen 1995 und 1998 aus dem Berliner Männervollzug der JVA Tegel entlassenen Sexualstraftäter (n=108), die zuvor eine Freiheitsstrafe von mehr als 2 Jahren verbüßt hatten und im Vergleich zur Entwicklungsstichprobe hinsichtlich der Schwere ihrer Anlasstaten und ihrer kriminellen Vorgeschichte stärker belastet waren. Da diese Stichprobe ursprünglich für Zwecke der prognostischen Methodenentwicklung vergleichsweise intensiv untersucht wurde, lagen Daten in einer Qualität vor, die neben der Einschätzung des Tatbild-Risiko-Scores und des Static99 auch die Einschätzung von komplexeren Risikoinstrumenten der sog. dritten Generation (z. B. SORA, s. Quinsey 1998; SVR-20, s. Boer et al. 1997) sowie klinisch-idiografische Prognosebeurteilungen ermöglichten. Auch in der Kreuzvalidierungsstichprobe erwies sich die Validität der Tatbildfaktoren mit einem AUC-Wert von .73 bzw. r=.32 als stabil. Mittels einer blockweise durchgeführten hierarchischlogistischen Regressionsanalyse konnte überdies gezeigt werden, dass die Prognose durch mehrere simultan eingeführte standardisierte Instrumente der zweiten und dritten Generation (Static99, SORAG, SVR-20) in Block 1 (R2=17 %, p<.001) durch eine klinisch-idiografische Beurteilung in Block 2 zwar erheblich verbessert wurde (R2=38 %, Gewinn: p<.001), gleichwohl die Einbeziehung von Tatverhaltensvariablen in Form des Tatbild-RisikoScores in Block 3 noch einen zusätzlichen hochsignifikanten prognostischen Gewinn ergab (R2=43 %, Gewinn: p<.001). z
Diskussion und Ausblick
Die eingangs formulierte Erwartung, dass Konzepte und Konstrukte der Tathergangsanalyse, die ihre Anwendung klassischerweise im Rahmen der polizeilichen Ermittlung unbekannter Täter finden, sich auch im Kontext der Rückfallprognose als gewinnbringend erweisen könnten, erfährt durch die vorliegende Studie eine eindeutige Bestätigung. Aus 9 prognostisch bedeutsamen Tatbildvariablen ließ sich ein Tatbild-Risiko-Score entwickeln, der
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Kapitel 7 · Zur prognostischen Bedeutung des Tatverhaltens
für sich genommen eine beachtliche und vor allem auch stabile Vorhersagegüte bei der Prognose einschlägiger Rezidive bei Sexualstraftätern aufwies. Noch bedeutender erscheint allerdings der Befund, dass die hier erfassten Faktoren des Tatbilds rückfallprognostische Informationen zu enthalten scheinen, die bis dato in den einschlägigen aktuarischen Risikoinstrumenten keine hinreichende Berücksichtigung fanden und auch bei klinisch-idiografischen Einschätzungen möglicherweise noch nicht ausreichend gewürdigt werden. Es liegen somit erste Hinweise vor, dass der verstärkte Rekurs auf tathergangsanalystische Konstrukte und das konkrete Tatverhalten beide Grundsäulen der kriminalprognostischen Urteilsbildung – sowohl die empirisch-statistische als auch die klinischidiografische Beurteilung – in ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Fundierung und in ihrer Zuverlässigkeit unterstützen und verbessern könnten. Vor allem für die mit den klassischen Prognoseinstrumenten bislang nur schwer einzuschätzenden Teilgruppen von Sexualstraftätern, wie jugendliche Sexualstraftäter mit meist kurzer und daher wenig aussagekräftiger krimineller Vorgeschichte, Täter mit Mischdelikten mit mehreren verurteilten Tatbeständen sexueller Art oder die Problemgruppe von Tätern mit unspezifischer »mittlerer« Risikoprognose, könnten sich durch einen auf das konkrete Tatverhalten abzielenden Ansatz der Rückfallprognose Vorteile ergeben. Neben einer weiteren empirischen Fundierung sollten zukünftige Studien das Zusammenspiel von Tatverhaltensvariablen im Kontext der Risikoprognose stärker betonen und durch psychologische Interpretationen des Tatbildes und des hiervon ausgehenden Rückfallrisikos zu einer elaborierten Theoriebildung gelangen. Zu diesem Zweck würde sich neben dem bislang verfolgten Ansatz der bloßen linear-additiven Verknüpfung von Merkmalen des Tatverhaltens auch die gezielte Analyse rückfallrelevanter Konfigurationen von Verhaltensmerkmalen anbieten, um spezifische Kombinationen von Verhaltensmustern zu identifizieren. Es besteht jedenfalls Grund, optimistisch zu sein, dass tathergangsanalytische Methodik und der gezielte, systematische Rekurs auf Tatverhalten zu einer substanziellen Bereicherung der kriminalpsychologischen Prognose beitragen könnte.
Literatur Baltes-Götz B (2004) Segmentierung und Klassifikation mit AnswerTree 3.1. Universitäts-Rechenzentrum, Trier Boer DP, Hart SD, Kropp PR, Webster CD (1997) Manual for the Sexual Violence Risk – 20: Professional guidelines for assessing risk of sexual violence. The Mental Health, Law, and Policy Institute, Vancouver Boetticher A, Kröber H-L, Müller-Isberner R, Böhm KM, MüllerMetz R, Wolf T (2007) Mindestanforderungen für Prognosegutachten. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1:90–100 Dahle K-P (2007) Methodische Grundlagen der Kriminalprognose. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1:101–110 Dahle K-P (2010) Die Begutachtung der Gefährlichkeits- und Kriminalprognose des Rechtsbrechers. In: R Volbert, K-P Dahle (Hrsg) Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren. Hogrefe, Göttingen, S 67–114 Dahle K-P, Biedermann J, Gallasch-Nemitz F, Janka C (2010) Zur rückfallprognostischen Bedeutung des Tatverhaltens bei Sexualdelinquenz. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4:126–135 Hanson RK, Bussière MT (1998) Predicting relapse: A metaanalysis of sexual offender recidivism studies. J Clin Consult Psychol 66:348–362 Hanson RK, Morton-Bourgon K (2004) Predictors of sexual recidivism: An updated meta-analysis. Public Works and Government Services, Ottawa Hanson RK, Thornton D (2000) Improving risk assessments for sex offenders: A comparison of three actuarial scales. Law Hum Behav 24:119–136 Kröber H-L (2006) Der Psychiater als Profiler? Pflichten und Grenzen bei der Berücksichtigung des Tatgeschehens im Gutachten. In: Seimeh N (Hrsg) Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Maßregelvollzug als soziale Verpflichtung. Psychiatrie-Verlag, Bonn, S 176–184 Marx W, Mokros A, Osterheider M, Müller T (2006) Instrumentalisierte Erfassung tatortanalytischer Merkmale bei Patienten des Maßregelvollzugs – ein Pilotprojekt. In: Seimeh N (Hrsg) Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Maßregelvollzug als soziale Verpflichtung. PsychiatrieVerlag, Bonn, S 228–243 Mokros A (2008) Fallanalysen und Täterprofile: Ergebnisse einer empirisch fundierten Methodik? Prax Rechtspsychol 18:15–33 Müller S, Köhler D, Hinrichs G (2005) Täterverhalten und Persönlichkeit. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt Nitschke J, Schinke D, Ottermann B, Thomas J, Osterheider M (2010) Forensische Psychiatrie und operative Fallanalyse. Nervenarzt 81.doi:10.1007/s00115-010-2980-1 Quinsey V, Harris GT, Rice M, Cormier C (1998) Violent offenders: Appraising and managing risk. American Psychological Association, Washington DC
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Lockerungen im Maßregelvollzug Norbert Leygraf
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 8 · Lockerungen im Maßregelvollzug
Im Bereich des psychiatrischen Maßregelvollzugs gemäß § 63 StGB gibt es im Wesentlichen 3 unterschiedliche gefährlichkeitsprognostische Fragestellungen. Im Vorfeld der Maßregel geht es um die Frage, ob deren Voraussetzungen überhaupt vorliegen, ob von dem Betroffenen also »infolge seines Zustandes erhebliche rechtwidrige Taten zu erwarten sind«. Hier stellt die Beurteilung der aktuellen Rückfallgefahr in der Regel nicht das Hauptproblem dar. Sehr viel schwieriger ist oft die Frage nach dem geforderten »Zustand«, womit eine längerfristig andauernde psychische Erkrankung oder Störung gemeint ist, die die strafrechtliche Schuldfähigkeit zumindest vermindert hat. Dies ist insbesondere bei der Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen kritisch zu prüfen, was Henning Saß in seinen Arbeiten immer wieder aufgegriffen hat (Saß 1987) und womit er sehr zur Systematisierung und zu einer Klarheit und Überprüfbarkeit dieser Beurteilung beigetragen hat.
Am Ende der Maßregel geht es um die Aussetzung ihrer Vollstreckung zur Bewährung, wofür eine umgekehrte Erwartung erforderlich ist, nämlich dass von dem Betroffenen keine rechtswidrigen Taten mehr zu erwarten sind (§ 67d (2) StGB). Ferner bedarf es der gutachterlichen Feststellung, dass die »durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit« nicht mehr fortbesteht (§ 454 Abs. 2 StPO). Dies stellt insofern eine weise Formulierung des Gesetzgebers dar, als sie klarstellt, dass die Gefährlichkeit eines Menschen an seinen früheren Taten geeicht wird. Solche Entlassungsprognosen sind bekanntlich vor allem deshalb schwierig, weil sie über einen jahre- bis jahrzehntelangen Zeitraum erfolgen sollen. Insofern sind die Prognosen, die tatsächlich im Maßregelvollzug, also während der Unterbringung, getroffen werden müssen, vergleichsweise unproblematisch. Hier geht es um die Risikobeurteilung ganz konkreter, unmittelbar bevorstehender Situationen, deren Rahmenbedingungen weitestgehend bekannt sind. z
Bedeutung und Risiken von Lockerungen im Maßregelvollzug
In der Praxis des Maßregelvollzugs nimmt die Frage der Gewährung von Lockerungen einen erheblichen Stellenwert ein. Für den Patienten entspricht
seine »Lockerungsstufe« nicht nur dem Maß seiner wiedererlangten Eigenständigkeit, sondern gilt ihm auch als Zeichen seines Behandlungsfortschritts. Lockerungen sind kein Selbstzweck und für sich genommen auch keine Therapie. Sie sind Bestandteil eines Gesamtrehabilitationsplans und ihr Einsatz sollte stets klar definierten Zielen dienen. Sie können dazu genutzt werden, den Patienten zur Mitarbeit in der Behandlung zu motivieren. Ihnen kann direkte therapeutische Funktion zukommen, z. B. zum Erlernen und Einüben von Freizeitgestaltung. Sie werden als Möglichkeit der Belastungserprobung genutzt und sind insbesondere im Rahmen von Entlassungsvorbereitungen nicht verzichtbar. Im Rahmen der Reformbemühungen des Maßregelvollzugs in den 1980er Jahren standen Vollzugslockerungen hoch im Kurs, zumal sie seinerzeit durch die neu in Kraft getretenen Maßregelvollzugsgesetze vielerorts überhaut erst möglich gemacht wurden. Dabei hatte die vermehrte Offenheit in der Behandlung natürlich mit zu einer Senkung der Verweildauer im Maßregelvollzug beigetragen. Sie hatte aber offenbar auch das Gefahrenpotenzial erhöht (Seifert u. Leygraf 1997).So verfügten 1984 in NRW nur 17 % der nach § 63 StGB untergebrachten Patienten über freien Ausgang, 1994 war dies hingegen bei mehr als 30 % der Patienten der Fall. Dabei waren Mitte der 1980er Jahre lediglich 4 % der Patienten während der Unterbringung erneut straffällig geworden. Zehn Jahre später fand sich dagegen ein entsprechender Anteil von 14 %. 1984 fanden sich unter 1.973 Patienten bundesweit lediglich 2 Fälle mit einem während der Unterbringung begangenen Tötungsdelikt, davon keines in NRW. Zehn Jahre später fanden sich dagegen unter den 556 Patienten in NRW 5 solcher Fälle. Offensichtlich hatte also mit der zunehmenden Offenheit in der Behandlung auch die Zahl schwerwiegender Delikte im Maßregelvollzug zugenommen. Man hat darauf im Maßregelvollzug reagiert und durch ein sorgfältigeres Vorgehen bei den Lockerungsprognosen für einen deutlichen Rückgang der Lockerungsmissbräuche gesorgt. Dies lässt sich zumindest indirekt an der Zahl der Entweichungen aus dem Maßregelvollzug ablesen, die in NRW
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8 · Lockerungen im Maßregelvollzug
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. Abb. 8.1 Entweichungen aus dem Maßregelvollzug (NRW gesamt)
im Verlauf der 1990er Jahre deutlich gesunken ist (. Abb. 8.1). Leider hat sich das Ansehen des Maßregelvollzugs dadurch kaum grundlegend gewandelt. Gerade die Angst vor gelockerten Patienten spielte im Kampf von Bürgerinitiativen gegen den Bau neuer Maßregeleinrichtungen eine zentrale Rolle, weshalb von den Einrichtungen erwartet wird, die Zahl fehlgeschlagener Lockerungen quasi auf Null zu fahren. z
Ohne Lockerungen keine Entlassung
Nun gibt es aber im Maßregelvollzug Situationen, in denen man gewisse Fehlschläge von vornherein mit einkalkulieren muss, etwa die Gefahr eines Suchtmittelrückfalls, der dann oft auch damit endet, dass der Betroffene nicht von sich aus in die Einrichtung zurückkehrt. Geht man derartige Risiken gar nicht mehr ein, wird man kaum mehr jemanden aus der Maßregel entlassen können. Tatsächlich ist die Entlassverweildauer aus dem Maßregelvollzug auch in den letzten Jahren deutlich angestiegen, und zwar von 2002 bis 2006 im Mittel
von 4,8 auf 6,5 Jahre (Kröninger 2004; Dessecker 2008). Die Zahl der Neueinweisungen in den Maßregelvollzug scheint sich in den letzten Jahren auf einem hohen Niveau stabilisiert zu haben (. Abb. 8.2, Daten des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden). Der scheinbare Anstieg im Jahre 2007 erklärt sich damit, dass seitdem auch die Unterbringungsanordnungen der neuen Bundesländer mit erfasst werden. Die Zahl der im Maßregelvollzug untergebrachten Patienten ist dagegen weiter deutlich angestiegen, wobei sich diese Bestandszahlen weiterhin nur auf die alten Bundesländer beziehen. Die Hürden für eine Entlassung werden also offenbar immer weiter nach oben gehängt, was mit den geänderten rechtlichen Bestimmungen zu tun haben mag, aber wahrscheinlich noch mehr mit der zunehmenden Bereitschaft von Therapeuten, Gutachtern und Gerichten, jegliches nicht völlig auszuschließende Rückfallrisiko zu Lasten des Patienten zu bewerten. Dies fängt eben nicht erst bei der Entlassung an. Natürlich kann man im Maßregelvollzug auch ohne Lockerungen behandeln. Sobald man aber
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Kapitel 8 · Lockerungen im Maßregelvollzug
Untergebrachte pro Jahr 1.400 weiterhin nur alte Bundesländer 1.200
Untergebrachte insgesamt 7.000 6.500 6.000 5.500
1.000
5.000 4.500
Gesamtzahl der untergebrachten Patienten
4.000
800 ab 2007 einschl. neue Bundesländer
3.500 3.000
600
2.500 2.000
400
1.500 Zahl jährlicher Neuunterbringungen
1.000
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200
500 0
09 20
06 20
03 20
00 20
97
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91
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85
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(jeweils alte Bundesländer; Neuunterbringungen ab 2007 einschl. neue Bundesländer) . Abb. 8.2 Prävalenz und Inzidenz der Unterbringung gemäß § 63 (42b a.F.) StGB
auf den Gedanken kommt, man könnte einen Patienten nicht nur behandeln, sondern vielleicht auch irgendwann einmal entlassen, kommt man nicht mehr ohne Lockerungen aus. Lockerungsentscheidungen stellen aber in gleicher Weise wie Entlassungen stets Risikoentscheidungen dar. z
Risikominimierung durch operationalisierte Prognoseinstrumente?
An dieser Stelle treten nun die modernen operationalisierten Prognoseinstrumente auf den Plan. Die tatsächliche prognostische Treffsicherheit dieser Instrumente ist bei Patienten des Maßregelvollzugs letztlich noch unklar, insbesondere im Zusammenhang mit Lockerungsentscheidungen. Speziell bei dem am weitesten verbreiteten HCR-20 hat sich gezeigt, dass aggressive und sexuell motivierte Zwischenfälle im Maßregelvollzug damit gerade nicht prognostizierbar sind (Tengström et al. 2006). Dennoch werden diese Instrumente gerade für diese Zwecke vielerorts eingesetzt, auch wenn den meisten Beteiligten klar ist, dass Lockerungs-
entscheidungen dadurch in der Regel nicht sicherer werden. Aber man hat zumindest das Gefühl, alles Erdenkliche zur Absicherung getan und – wenn es trotzdem schiefgehen sollte – genügend in der Hand zu haben, um die bei der Entscheidung angewandte Sorgfalt nachweisen zu können. Diese Instrumente dienen also weniger der Risiko- als eher der Angstabwehr. Zudem bergen sie die Gefahr, immer mehr den einen Aspekt von Lockerungsprognosen zu betonen, nämlich den der Entscheidung über die Gewährung einer Lockerung. Die besondere Zuverlässigkeit von Lockerungsprognosen basiert aber darauf, dass sie nur für einen kurzen und hinsichtlich der verschiedenen Einflussvariablen überschaubaren Zeitraum erfolgen und dass auf Veränderungen dieser Entscheidungsgrundlage schnell reagiert werden kann. Daher sind gewährte Lockerungen regelmäßig dahingehend zu überprüfen, ob sich Veränderungen in diesem prognoserelevanten Bereichen ergeben haben. Diese Verlaufskontrolle lässt sich vielleicht auch in gewisser Weise operati-
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8 · Lockerungen im Maßregelvollzug
onalisieren, aber ihre Qualität hängt entscheidend davon ab, dass sich alle Mitarbeiter einer Maßregelklinik mit ihrer Tätigkeit identifizieren, also mit der Aufgabe, Behandlung und Sicherung stets gleichermaßen im Auge zu behalten.
Literatur Dessecker A (2008) Lebenslange Freiheitsstrafe, Sicherungsverwahrung und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Dauer und Gründe der Beendigung im Jahr 2006. KrimZ, Wiesbaden Kröniger S (2004) Lebenslange Freiheitsstrafe, Sicherungsverwahrung und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Dauer und Gründe der Beendigung im Jahr 2002. KrimZ, Wiesbaden Saß H (1987) Psychopathie – Soziapathie – Dissozialiät: zur Differentialtypologie der Persönlichkeitsstörungen. Springer, Berlin Seifert D, Leygraf N (1997) Straftaten während und nach einer Behandlung im Maßregelvollzug gemäß § 63 StGB. Deutsche Richter Zeitung 75:338–335 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10/Reihen Strafverfolgung und Strafvollzug; Fachserie 12/Reihe Gesundheitswesen Wiesbaden Tengström A, Hodgins S, Müller-Isberner R, Jöckel D, Freese R, Özokyay K, Jens Sommer J (2006) Predicting Violent and Antisocial Behavior in Hospital Usingthe HCR-20: The Effectof Diagnoses on Predictive Accuracy. International Journal of Forensic Mental Health 5:39–53
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Kapitel 7 · Zur prognostischen Bedeutung des Tatverhaltens
für sich genommen eine beachtliche und vor allem auch stabile Vorhersagegüte bei der Prognose einschlägiger Rezidive bei Sexualstraftätern aufwies. Noch bedeutender erscheint allerdings der Befund, dass die hier erfassten Faktoren des Tatbilds rückfallprognostische Informationen zu enthalten scheinen, die bis dato in den einschlägigen aktuarischen Risikoinstrumenten keine hinreichende Berücksichtigung fanden und auch bei klinisch-idiografischen Einschätzungen möglicherweise noch nicht ausreichend gewürdigt werden. Es liegen somit erste Hinweise vor, dass der verstärkte Rekurs auf tathergangsanalystische Konstrukte und das konkrete Tatverhalten beide Grundsäulen der kriminalprognostischen Urteilsbildung – sowohl die empirisch-statistische als auch die klinischidiografische Beurteilung – in ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Fundierung und in ihrer Zuverlässigkeit unterstützen und verbessern könnten. Vor allem für die mit den klassischen Prognoseinstrumenten bislang nur schwer einzuschätzenden Teilgruppen von Sexualstraftätern, wie jugendliche Sexualstraftäter mit meist kurzer und daher wenig aussagekräftiger krimineller Vorgeschichte, Täter mit Mischdelikten mit mehreren verurteilten Tatbeständen sexueller Art oder die Problemgruppe von Tätern mit unspezifischer »mittlerer« Risikoprognose, könnten sich durch einen auf das konkrete Tatverhalten abzielenden Ansatz der Rückfallprognose Vorteile ergeben. Neben einer weiteren empirischen Fundierung sollten zukünftige Studien das Zusammenspiel von Tatverhaltensvariablen im Kontext der Risikoprognose stärker betonen und durch psychologische Interpretationen des Tatbildes und des hiervon ausgehenden Rückfallrisikos zu einer elaborierten Theoriebildung gelangen. Zu diesem Zweck würde sich neben dem bislang verfolgten Ansatz der bloßen linear-additiven Verknüpfung von Merkmalen des Tatverhaltens auch die gezielte Analyse rückfallrelevanter Konfigurationen von Verhaltensmerkmalen anbieten, um spezifische Kombinationen von Verhaltensmustern zu identifizieren. Es besteht jedenfalls Grund, optimistisch zu sein, dass tathergangsanalytische Methodik und der gezielte, systematische Rekurs auf Tatverhalten zu einer substanziellen Bereicherung der kriminalpsychologischen Prognose beitragen könnte.
Literatur Baltes-Götz B (2004) Segmentierung und Klassifikation mit AnswerTree 3.1. Universitäts-Rechenzentrum, Trier Boer DP, Hart SD, Kropp PR, Webster CD (1997) Manual for the Sexual Violence Risk – 20: Professional guidelines for assessing risk of sexual violence. The Mental Health, Law, and Policy Institute, Vancouver Boetticher A, Kröber H-L, Müller-Isberner R, Böhm KM, MüllerMetz R, Wolf T (2007) Mindestanforderungen für Prognosegutachten. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1:90–100 Dahle K-P (2007) Methodische Grundlagen der Kriminalprognose. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1:101–110 Dahle K-P (2010) Die Begutachtung der Gefährlichkeits- und Kriminalprognose des Rechtsbrechers. In: R Volbert, K-P Dahle (Hrsg) Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren. Hogrefe, Göttingen, S 67–114 Dahle K-P, Biedermann J, Gallasch-Nemitz F, Janka C (2010) Zur rückfallprognostischen Bedeutung des Tatverhaltens bei Sexualdelinquenz. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4:126–135 Hanson RK, Bussière MT (1998) Predicting relapse: A metaanalysis of sexual offender recidivism studies. J Clin Consult Psychol 66:348–362 Hanson RK, Morton-Bourgon K (2004) Predictors of sexual recidivism: An updated meta-analysis. Public Works and Government Services, Ottawa Hanson RK, Thornton D (2000) Improving risk assessments for sex offenders: A comparison of three actuarial scales. Law Hum Behav 24:119–136 Kröber H-L (2006) Der Psychiater als Profiler? Pflichten und Grenzen bei der Berücksichtigung des Tatgeschehens im Gutachten. In: Seimeh N (Hrsg) Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Maßregelvollzug als soziale Verpflichtung. Psychiatrie-Verlag, Bonn, S 176–184 Marx W, Mokros A, Osterheider M, Müller T (2006) Instrumentalisierte Erfassung tatortanalytischer Merkmale bei Patienten des Maßregelvollzugs – ein Pilotprojekt. In: Seimeh N (Hrsg) Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Maßregelvollzug als soziale Verpflichtung. PsychiatrieVerlag, Bonn, S 228–243 Mokros A (2008) Fallanalysen und Täterprofile: Ergebnisse einer empirisch fundierten Methodik? Prax Rechtspsychol 18:15–33 Müller S, Köhler D, Hinrichs G (2005) Täterverhalten und Persönlichkeit. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt Nitschke J, Schinke D, Ottermann B, Thomas J, Osterheider M (2010) Forensische Psychiatrie und operative Fallanalyse. Nervenarzt 81.doi:10.1007/s00115-010-2980-1 Quinsey V, Harris GT, Rice M, Cormier C (1998) Violent offenders: Appraising and managing risk. American Psychological Association, Washington DC
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Zur Willensfreiheit aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht Dieter Dölling
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 9 · Zur Willensfreiheit
Die Problematik der Willensfreiheit hat für das Strafrecht große Bedeutung. Sie ist in den letzten Jahren aufgrund von Befunden der Neurobiologie Gegenstand intensiver Debatten gewesen. Die Annahme der Willensfreiheit wird durch die bisherigen Befunde der empirisch-kriminologischen Forschung nicht widerlegt. Das Strafrecht dient der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Die Menschen verstehen sich als frei. Will das Strafrecht seine Aufgabe erfüllen, muss es diesem Selbstverständnis der Menschen Rechnung tragen.
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Einleitung
Zu den Schwerpunkten des umfangreichen Werks von Henning Saß gehört die forensische Psychiatrie. Er hat auf diesem Gebiet grundlegende wissenschaftliche Beiträge geleistet (vgl. Saß 1983, 1985, 2003, 2008) und in zahlreichen Strafverfahren Gutachten erstattet. Er ist hierbei immer um den Dialog mit der Strafrechtswissenschaft, der Kriminologie und der Strafrechtspraxis bemüht. Dies zeigen u. a. das von ihm mit herausgegebene Handbuch der Forensischen Psychiatrie (Kröber et al. 2006) und die von ihm mit herausgegebene Zeitschrift Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie. Zu den Themen im Grenzbereich zwischen Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtswissenschaft, die das besondere Interesse von Henning Saß gefunden haben, gehört die Problematik der Willensfreiheit. Diese Problematik ist in den letzten Jahren aufgrund von Befunden der Neurobiologie und deren teilweise weitreichenden Interpretationen Gegenstand intensiver Debatten gewesen. Henning Saß hat sich an dieser Debatte u. a. mit einem Beitrag über »Menschenbild, Verantwortung und Verantwortlichkeit aus psychopathologischer und forensischer Perspektive« beteiligt (Saß 2010). Deshalb sollen im Folgenden einige Gedanken zur Willensfreiheit aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht dargelegt werden. z
Willensfreiheit und Kriminologie
Wenn wir sagen, dass ein Straftäter Willensfreiheit hat, so meinen wir, dass er die Wahl hat, die Straftat zu begehen oder sie zu unterlassen. Der Täter entscheidet sich nach dieser Sichtweise trotz Andershandeln-Könnens für die Begehung der unrechten Tat. Hierauf gründet sich nach herkömmlicher
Auffassung der Schuldvorwurf gegen den Täter (Bundesgerichtshof 1952) und dieser legitimiert die Verhängung der Strafe. Wäre es nun so, dass vom Täter nicht beeinflussbare Merkmale seiner Person und/oder der ihn umgebenden Umwelt die Tat zwangsläufig hervorbringen, ohne das der Täter hieran etwas ändern könnte, wäre Willensfreiheit nicht gegeben und die Legitimität der Strafe müsste entweder anders begründet oder verneint werden. Die Ursachen von Straftaten zu erforschen, gehört zu den Aufgaben der Kriminologie, der Wirklichkeitswissenschaft vom Verbrechen. Die Kriminologie sucht diese Ursachen in der Person des Täters, in der Situation, in der der Täter handelt, in der früheren und gegenwärtigen engeren sozialen Umgebung des Täters und in gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten. Die in der Kriminologie getroffenen Aussagen über die Ursachen kriminellen Verhaltens werden als Kriminalitätstheorien bezeichnet (s. Meier 2010, S. 30 ff.). Könnte mit einer oder mit mehreren Variablen aus den genannten Bereichen delinquentes Verhalten vollständig erklärt werden, könnte die Willensfreiheit als empirisch widerlegt angesehen werden. Dies ist von Kriminologen immer wieder behauptet worden (vgl. Dölling 2008). Manche Kriminalbiologen sahen früher Straftäter als Rückfälle in ein frühes Entwicklungsstadium der Menschheit an, die aufgrund defizitärer biologischer Ausstattung zwangsläufig kriminell werden müssen, und manche Neurowissenschaftler nehmen heute an, dass delinquentes Verhalten durch Hirndefekte und neuronale Prozesse determiniert sei. Nach der situativen Kriminalitätstheorie führen bestimmte Situationen, z. B. leichte Zugriffsmöglichkeiten auf ungeschützte Tatobjekte, zu Delikten. Manche Kriminologen sind der Auffassung, kriminelles Verhalten wurde durch Lernprozesse determiniert, in denen kriminalitätsbegünstigende Einstellungen und Techniken der Tatbegehung vermittelt werden. Andere Kriminologen vertreten die Ansicht, Delinquenz sei nicht den Individuen, sondern den sie bestimmenden sozialen Systemen zuzurechnen, die es etwa dem Täter unmöglich machen, kulturell vorgegebene Ziele auf legalen Wegen zu erreichen. Manche Vertreter des Mehrfaktorenansatzes nehmen an, dass ein Individuum mit bestimmten biopsychologischen Eigenschaften unter bestimm-
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ten physischen und sozialen Lebensbedingungen zwangsläufig ein bestimmtes Verbrechen begeht. Abgesehen davon, dass diese Theorien teilweise nicht miteinander kompatibel sind, lässt sich feststellen, dass es bisher keiner Kriminalitätstheorie gelungen ist, delinquentes Verhalten vollständig zu erklären. Nach bisherigem Stand erfassen die Kriminalitätstheorien Risikofaktoren, die kriminelles Verhalten wahrscheinlicher machen, nicht aber determinieren (Dölling 2008). Dies wird auch daran deutlich, dass es bisher nicht gelungen ist, sicher vorauszusagen, ob eine Person Straftaten begehen wird. Wäre Kriminalität vollständig erklärt, müssten sichere Kriminalprognosen möglich sein. Denkbar ist es freilich, dass die Erklärungsdefizite nicht auf Entscheidungsspielräumen potenzieller Täter beruhen, sondern darauf, dass relevante Variablen bisher noch nicht erkannt sind. Auch wenn diese Möglichkeit in Betracht gezogen wird, bleibt es jedoch dabei, dass nach dem bisherigen Erkenntnisstand die Annahme der Willensfreiheit durch die Befunde der empirisch-kriminologischen Forschung nicht widerlegt wird. z
Willensfreiheit und Strafrecht
Aus der Sicht der Strafrechtswissenschaft lässt sich feststellen, dass die neuere Debatte um die Willensfreiheit nicht zu einem Umbau der Grundlagen des Strafrechts geführt hat. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass nicht alle das Strafrecht auf die Annahme der Willensfreiheit stützen, sondern vielfach angenommen wird, das Strafrecht sei unabhängig von dieser Annahme zu legitimieren. So wird für den Schuldbegriff teilweise nicht auf ein Anders-handeln-Können des individuellen Täters abgestellt, sondern darauf, ob ein Durchschnittsmensch an der Stelle des Täters in der Tatsituation anders gehandelt hätte (vgl. Schreiber 1977). Andere knüpfen den Schuldvorwurf nicht an die konkrete Entscheidung zur Tat, sondern an den Charakter des Täters, dessen Ausfluss die Tat sei und für den er einstehen müsse (vgl. Engisch 1965). Von anderen Autoren wird der Schuldbegriff funktional von den Zwecken des Strafrechts her konzipiert. Danach wird eine Tat als schuldhaft definiert, wenn der Täter spezialpräventiv durch Strafe ansprechbar ist (Haddenbrock 1972) oder wenn es der Bestrafung des Täters bedarf, um generalpräventiv die
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Geltung der vom Täter verletzten Norm zu stabilisieren (Jakobs 1976). Auf Willensfreiheit des Täters kommt es nach diesen Lehren für das Strafrecht nicht an. Es ist zweifelhaft, ob diese Auffassungen tragfähig sind (Dölling 2006). Einen Angeklagten wird es kaum überzeugen, wenn seine Bestrafung darauf gestützt wird, dass nicht er, aber ein Durchschnittsmensch die Tat hätte vermeiden können. Inwieweit dem Täter sein Charakter vorgeworfen werden kann, ist fraglich. Der präventive Schuldbegriff wird der Aufgabe des Schuldprinzips, den Einzelnen vor unverdienter Bestrafung zu schützen, nicht gerecht. Festzuhalten ist jedoch, dass das Strafrecht, das der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens dient, seine Aufgaben nur erfüllen kann, wenn es von den Menschen verstanden und akzeptiert wird. Die Menschen aber verstehen sich und die anderen als frei und schreiben sich wechselseitig Verantwortung zu (Burkhardt 2005). Diesem Selbstverständnis der Menschen muss das Strafrecht Rechnung tragen. Es ist zweifelhaft, ob ein Strafrecht, das sich hiervon löst und alle Täter von Freiheit, Schuld und Verantwortung freispricht, in der Lage wäre, seine Aufgaben zu erfüllen. Hinreichend dargetan ist das bisher nicht. Auf eine Gefahr, die ein von der Willensfreiheit losgelöstes Strafrecht mit sich brächte, sei hingewiesen: Nach geltendem Recht ist der Straftäter, mag er auch eine äußerst schwere Straftat begangen haben, eine Person, die Menschenwürde und deshalb Anspruch auf Achtung hat. Menschenwürde ist nach dem vorherrschenden Verständnis eng mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung verknüpft. Wird dem Täter diese Fähigkeit abgesprochen, geraten auch sein Status als Person und sein Achtungsanspruch in Gefahr. Dies kann schwerwiegende Konsequenzen für Strafverfolgung und Sanktionierung haben und muss beim strafrechtlichen Umgang mit der Problematik der Willensfreiheit bedacht werden. Eine sachgerechte Lösung der Problematik ist nur in einem Dialog von Strafrechtswissenschaft, Kriminologie und Psychiatrie möglich, zu dem Henning Saß wichtige Beiträge geleistet hat.
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Literatur
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Bundesgerichtshof (1952) Beschluss vom 18. März 1952 – GSSt 2/51 – Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Bd 2. Heymanns, Köln, S 194, 200 Burckhardt B (2005) Wie ist es, ein Mensch zu sein? In: Arnold J et al. (Hrsg) Menschengerechtes Strafrecht. Festschrift für A Eser zum 70. Geburtstag. Beck, München, S 77-100 Dölling D (2006) Zur Willensfreiheit aus strafrechtlicher Sicht. Forensische Psychiatrie Psychologie Kriminologie 1:59–62 Dölling D (2008) Willensfreiheit und Verantwortungszuschreibung unter kriminalitätstheoretischen Aspekten. In: Lampe EJ, Pauen M, Roth G (Hrsg) Willensfreiheit und rechtliche Ordnung. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 371–395 Engisch K (1965) Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 2. Aufl. De Gruyter, Berlin Haddenbrock S (1972) Strafrechtliche Handlungsfähigkeit und »Schuldfähigkeit« (Verantwortlichkeit); auch Schuldformen. In: Göppinger H, Witter H (Hrsg) Handbuch der forensischen Psychiatrie Bd II. Springer, Berlin, S 863–946 Jakobs G (1976) Schuld und Prävention. Mohr, Tübingen Kröber HL, Dölling D, Leygraf N, Saß J (Hrsg) (2006) Handbuch der Forensischen Psychiatrie, 5 Bände. Springer, Berlin Meier BD (2010) Kriminologie, 4. Aufl. Beck, München Saß H (1983) Affektdelikte. Nervenarzt 54:557–572 Saß H (1985) Ein psychopathologisches Referenzsystem für die Beurteilung der Schuldfähigkeit. Forensia 6:33–43 Saß H (2003) Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Verantwortung: forensisch-psychiatrische und anthropologische Aspekte. In: Herpertz SC, Saß H (Hrsg) Persönlichkeitsstörungen. Georg Thieme, Stuttgart, S 177–182 Saß H (2008) Psychische Störungen und Schuldfähigkeit– Ein psychopathologisches Referenzsystem. Psychiatrie 5:182–189 Saß H (2010) Menschenbild, Verantwortung und Verantwortlichkeit aus psychopathologischer und forensischer Perspektive. In: Fuchs T, Schwarzkopf G (Hrsg) Verantwortlichkeit – nur eine Illusion? Winter, Heidelberg, S 471–485 Schreiber HL (1977) Was heißt heute strafrechtliche Schuld und wie kann der Psychiater bei ihrer Feststellung mitwirken? Nervenarzt 48:242–247
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Behandlung psychisch kranker Straftäter Norbert Nedopil
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 10 · Behandlung psychisch kranker Straftäter
Die Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher unterscheidet sich in vielen Aspekten von anderen Formen der medizinischen Behandlung: Rechtlichen Vorgaben und Besonderheiten der Patienten wie Komorbiditäten, Sozialisationsdefizite und lange Unterbringungsdauern sind die wichtigsten Unterschiede zur Allgemeinpsychiatrie. Verbesserungen der Behandlung in den letzten 25 Jahren wurden durch die Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse, durch eine Kombination von systematischer Risikoeinschätzung und Therapie und durch eine strukturierte forensisch-psychiatrische Nachsorge erreicht. Allerdings bestehen weiterhin durch lange Aufenthaltsdauern, Personalwechsel, Verlegungen und Umstrukturierungen sowie externe Einflussnahmen erhebliche Unsicherheiten in einem relativ komplexen System. Analysen von komplexen Abläufen in anderen Fachgebieten und einigen forensischen Einrichtungen haben gezeigt, dass systematische Strukturierung die Risiken reduziert und den Behandlungsverlauf verbessert. Dabei führen erprobte Hierarchisierungen von Analyse, Risikomanagement, Ausgleich von Defiziten, Ressourcenaktivierung und Evaluation zu einer Struktur, die für alle Beteiligten, aber auch für Gutachter und Gerichte eine gewisse Verbindlichkeit erreichen sollte.
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Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte
Wer in den letzten 25 Jahren die Entwicklung der forensischen Psychiatrie verfolgt hat – und Herr Professor Saß tut das noch länger – wird ebenso wie der Autor die dramatische Entwicklung dieses Fachs registrieren. Die Fortschritte sind weitaus mehr bei der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher als bei der Begutachtung zu verzeichnen. Sie sind aber auch an dem Klima zu erkennen, welches zwischen Gutachtern und Behandlern entstanden ist. In den Anfangsjahren unserer Karriere, d. h. etwa 1984, bestanden durchaus spürbar Gegnerschaft und Misstrauen zwischen Wissenschaftlern und Praktikern sowie zwischen Gutachtern und Behandlern. Etwa ab Mitte der 9. Dekade des 20. Jahrhunderts begann eine Wende, die sich durch erste gemeinsame Veröffentlichungen von Universitäts- und Maßregelvollzugseinrichtungen auszeichnete (Nedopil u. Müller-Isberner 1995; Nedopil u. Ottermann 1993). Dies hat sich seither fortgesetzt und intensiviert (Herpertz et al.
2001; Schiltz et al. 2007; Tengström et al. 2006). Gleichzeitig entwickelte sich in einigen Maßregelvollzugseinrichtungen ein intensives Forschungsinteresse, (Müller-Isberner et al. 2007; Schanda et al. 2009) und Kooperationen zwischen Maßregelvollzugskliniken und Universitätseinrichtungen entstanden (Steinböck et al. 2004; Stübner et al. 2006). Ein weiterer Schritt zur Verbesserung der Kooperation war der Plan verschiedener Universitäten (Göttingen, Regensburg, Ulm), Professuren mit Behandlungsauftrag im Maßregelvollzug zu errichten, der bislang aber nur in Göttingen durchgesetzt wurde. Andere Universitätsinstitute (Berlin, Hamburg, Kiel, München) nahmen sich zumindest zeitweise der ambulanten Behandlung von Straftätern an. Die Entwicklung der letzten 25 Jahre hat deutlich sichtbare Fortschritte bei der Behandlung erbracht. Die Behandlungsqualität wurde verbessert, Qualitätsmerkmale wie Evidenz, Effizienz und Effektivität haben auch in die Bewertung der Maßregelvollzugstherapie Einzug gehalten. Inhaltlich sind diese Fortschritte erkennbar an einer beginnenden Systematik von Therapiekonzepten, die sich durch folgende Merkmale auszeichnet: Eine differenzierte Analyse der therapeutisch angehbaren Defizite, die Entwicklung manualisierter Therapieprogramme, die das Gefährdungsrisiko, die Bedürfnisse und den Lernstil der Patienten berücksichtigten (Andrews u. Bonta 1994; Andrews et al. 2006), die Anwendung multimodaler Behandlungskonzepte und die nachgehende spezialisierte forensisch-psychiatrische Nachsorge (Brett et al. 2007; Freese 2003; Stübner u. Nedopil 2009). Die in der Prognoseforschung entwickelte Aufteilung der Risikofaktoren in statische, fixiert dynamische und akut dynamische (Hanson u. Bussière 1998) ließ erkennen, dass es die fixiert dynamischen Risikofaktoren sind, die im Fokus der Therapie stehen müssen. Für die Überwindung dieser Defizite, die bei Gewalttätern als C-Variablen des HCR-20 (Webster et al. 1997) oder bei Sexualstraftätern im STABLE (Hanson u. Harris 2000) operationalisiert sind, sind entsprechende Therapieprogramme entwickelt worden, z. B. das R.u.R-Programm, das die dissozialen Denk- und Verhaltensstrukturen in den Mittelpunkt der Behandlung stellt, oder das SOTP-Programm für Sexualstraftäter, welches
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auf die sexuell devianten und dissozialen Einstellungen der Betroffenen eingeht. Viele Programme verwenden explizite Manuale, die wesentlich dazu beitragen, die Programmintegrität – ein wesentlicher Bestandteil der Qualität eines Behandlungsmoduls (Lösel 1998) – zu gewährleisten. Insbesondere bei multimodalen Therapieformen, die von unterschiedlichen Behandlern über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden, bedarf es einer strengen Kohärenz der Therapieziele und des Therapiekonzepts, wofür die Manualisierung des therapeutischen Vorgehens ein wesentliches Hilfsmittel ist. Eine weitere maßgebliche Entwicklung der letzten Jahre bestand im Aufbau und in der Evaluation der ambulanten Nachsorge, die Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts als Modellprojekt gestartet war (Nedopil u. Banzer 1996), in den letzten Jahren evaluiert, in vielen Bundesländern flächendeckend eingeführt und 2007 in das Gesetz zur Novellierung der Führungsaufsicht aufgenommen wurde (Freese 2010; Stübner u. Nedopil 2009). z
Unterschiede zur Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie
Wenn man die Behandlungsmodalitäten im forensischen Maßregelvollzug mit jenen der Allgemeinpsychiatrie vergleicht, beruhen die Unterschiede darin, dass sich das Klientel des Maßregelvollzugs in verschiedenen Aspekten von jenem der Allgemeinpsychiatrie unterscheidet, die Therapie im Maßregelvollzug in viel größerem Umfang von externen Vorgaben abhängt und sich auch die Behandlungsziele deutlich unterscheiden: 4 Die Patienten im Maßregelvollzug zeichnen sich im Vergleich zu jenen aus der Allgemeinpsychiatrie durch eine höhere Komorbidität, durch größere Sozialisationsdefizite, durch stärkere Behandlungsresistenz und durch ungleich längere Unterbringungsdauern aus. Die mittlere Dauer der Unterbringungen liegt bei Stichtagserhebungen in den verschiedenen Einrichtungen zwischen 4 und 7 Jahren. 4 Die externen Vorgaben werden zunächst durch die entsprechenden Paragraphen im Strafgesetzbuch (§§ 20,21, 63, 64, 67d u. 67e) und durch die Maßregelvollzugsgesetze der Länder bestimmt. Die Entlassung hängt darüber hin-
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aus von der Nachsorge und diese wiederum in starkem Maß von den gesetzlichen Vorgaben über die Führungsaufsicht ab. Externe Vorgaben werden aber in gleichem Umfang durch politische Entscheidungen auferlegt. Diese Vorgaben haben erheblichen Einfluss auf den Umgang zwischen Therapeuten und Klientel. 4 Der Umgang von Behandlern mit dem Klientel der forensischen Psychiatrie ist zudem von den Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern und noch viel häufiger von jenen der Staatsanwaltschaften abhängig. Letztere bestimmen wesentlich das Ausmaß der Rehabilitation mit, da sie über alle Aspekte mitentscheiden oder zumindest mitberaten, die Außenaktivitäten der Patienten betreffen. 4 Die gesetzlichen und strukturellen Besonderheiten führen dazu, dass sich die Therapeuten-Klienten-Beziehung in der forensischen Psychiatrie wesentlich von der üblichen ArztPatienten-Beziehung unterscheidet: Therapie im Maßregelvollzug ist unabhängig von Behandlungsauftrag oder Behandlungsbedürfnis eines Patienten. Sie wird inhaltlich kaum kontrolliert – weder vom Patienten selber noch von den Kostenträgern. Das Ergebnis, kaum aber die Methode, wird kontrolliert von Gutachtern und Gerichten. Die Behandler sind weitaus mehr in einer paternalistischen Position, durch die sie nicht nur über die Therapie, sondern auch über die gewährten Freiräume die Kontrolle behalten, aber gleichwohl kaum eigenständig entscheiden können. Viele der üblichen Behandlungsbedingungen, wie Schweigepflicht oder Vertraulichkeit, Selbstbestimmung über Behandlungsbedingungen sind deutlich eingeschränkt. Die Behandlungsziele sind nicht – wie in der Allgemeinpsychiatrie– das subjektive Wohlbefinden und die Verhinderung einer sozialen Desintegration; der vordringliche Behandlungsauftrag besteht in der Gewährleistung von Sicherheit für andere, im Bemühen um soziale Rehabilitation und um delinquenzbezogene Rückfallprophylaxe.
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Kapitel 10 · Behandlung psychisch kranker Straftäter
Strafe gemäß Schuld
Strafe gemäß Schuld (juristisch) und Sicherungsverwahrung
Gefängnis
Strafminderung und Unterbringung im Maßregelvollzug
Maßregelvollzug Entziehungsanstalt
Sozialtherapeutische Abteilung
Keine Strafe aber Unterbringung im Maßregelvollzug
Maßregelvollzug im psychiatrischen Krankenhaus
Führungsaufsicht
Bewährungshilfe
Sicherungsverwahrung im Gefängnis
Nachsorgeambulanz
. Abb. 10.1 Wege durch die Justiz
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Risikoeinschätzung und Risikomanagement – Konvergenz von Prognose und Behandlung
Die Behandlung von psychisch kranken Rechtsbrechern ist somit in erster Linie Risikomanagement. Risikomanagement heißt das richtige Erkennen der richtigen Risikofaktoren zum richtigen Zeitpunkt und deren angemessene Behebung oder deren Ausgleich durch protektive Faktoren. Die grundlegende Frage ist dabei mit jener der prognostischen Risikoeinschätzung identisch und lautet (Nedopil 2005): Wer wird wann, unter welchen Umständen, mit welchem Delikt rückfällig? Und wie können wir es verhindern? Risikoeinschätzung und Risikomanagement gehören direkt zusammen, die Konzepte der Rückfallprognose und der Behandlung konvergieren unter dem Gesichtspunkt des Risikomanagements. Prognosebegutachtung ist externe Risikoerfassung sowie Beurteilung, Anregung und Hilfestellung für das Risikomanagement. Behandlung im Maßregelvollzug ist Risikomanagement, welches auf die richtige Erfassung der Risikofaktoren angewiesen ist. Ziel der Behandlung ist »die günstige Prognose«; Ziel der Prognosebegutachtung ist »die richtige Behandlung«. Die Vernetzung von Begutachtung und Behandlung beginnt mit der Einweisungsprognose, die in den Maßregelvollzug führt, und dauert über die Entlassungsprognose hinaus. Die Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher ist eingebettet in ein komplexes Regelungs-
system, über welches für den Außenstehenden nur schwer der Überblick zu gewinnen ist. Versucht man dieses Regelungssystem anhand eines Diagramms darzustellen, so sieht man die Vielzahl von Verschiebemöglichkeiten, die in . Abb. 10.1 durch Pfeile gekennzeichnet sind. Jede Verschiebung ist im Wesentlichen von einer Prognose abhängig, welche die Frage beantworten soll, durch welche Maßnahme die Vollzugsziele der Rehabilitation und der Sicherheit am besten erreicht werden können Dieses System wurde in den letzten Jahren noch verworrener, als nahezu in jährlichem Abstand neue Gesetze verabschiedet und neue Entscheidungen gefällt wurden, die das Handeln in der forensischen Psychiatrie beeinflussen, zumal viele Beteiligte mit unterschiedlichen Interessen innerhalb dieses Systems agieren. Es gibt viele Übergänge, einige davon sind gesetzlich vorgeschrieben, andere sind institutionell bedingt, z. B. durch Verlegungen auf andere Stationen oder durch Personalwechsel. Übergänge sind, wenn man klinische Plausibilität und empirische Forschung betrachtet (Stübner u. Nedopil 2005), Risikosituationen für Zwischenfälle und Rückfälle. Diese Risiken werfen besondere Probleme in der Behandlung des Maßregelvollzugs auf, und es fragt sich, ob die Struktur der Einrichtungen ausreicht, um diese Risiken ausreichend unter Kontrolle zu halten.
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Notwendigkeit systematischer Strukturierung
Wie wenig Struktur in vielen Einrichtungen tatsächlich vorhanden ist, haben wir mit 2 Untersuchungen in den letzten Jahre feststellen können: 2004 sind wir der Frage nach Lockerungsvoraussetzungen und Lockerungshindernissen in einer Umfrage bei den deutschen Maßregelvollzugseinrichtungen nachgegangen. Es gab etwa 110 unterschiedliche Lockerungskriterien, die allenfalls narrativ aufgezählt werden konnten, aber eine Strukturierung etwa im Sinne eines kumulierten Expertenwissens nicht zuließen. Ähnlich war es mit den Lockerungshindernissen (Stübner et al. 2006). Wie problematisch das sein kann, zeigt sich an dem häufig als Entlassungs- und Lockerungshindernis betrachteten Kriterium »Fehlende Auseinandersetzung mit der Tat« (Kröber 2010), welches von manchen nahezu als bedeutungslos, von anderen als das entscheidende Kriterium angesehen wird. Unterschiedliche Auffassungen über die Kriterien lassen u. U. sowohl die therapeutischen Einrichtungen und als auch die Gutachter untereinander in Widerspruch geraten, was dazu beiträgt, die Verlässlichkeit der forensischen Psychiatrie zu hinterfragen. Auch für deren Klientel sind dadurch die Bedingungen schwer durchschaubar. Ein vergleichbares und ebenso heterogenes Ergebnis erhielten wir, als wir 2009 eine Befragung zu den Therapiekonzepten in den Entziehungseinrichtungen nach § 64 StGB durchführten (Müller 2011, unveröff. Diss.). Von den insgesamt 33 antwortenden Einrichtungen gab es kaum 2, die ähnliche Behandlungskonzepte oder -strukturen in ihren Einrichtungen eingeführt und durchgehalten haben. Dies ist umso bedauerlicher, als eine Vielzahl von Untersuchungen belegen, dass eine verbindliche und konsequent eingehaltene Struktur in vielen Behandlungssettings und auch in der forensischen Psychiatrie bessere Ergebnisse erbringt als eine Behandlung nach Gutdünken und persönlicher Intuition der Therapeuten (Müller-Isberner u. Eucker 2009). In der forensischen Psychiatrie ist dies umso wichtiger, als hier – wie dargestellt – die Behandlungsorte und die Therapeuten häufiger wechseln als in anderen medizinischen Disziplinen.
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Um eine vernünftige Struktur zu entwickeln, erscheint es sinnvoll, dort zu suchen, wo sie bereits funktioniert. Versucht man die analytische Technik der Industrie auf die forensisch psychiatrischen Gegebenheiten anzuwenden, so wären auch im Maßregelvollzug die Ziele, die vorhandenen Ressourcen, die zur Verfügung stehenden Methoden, die denkbaren und realistischen Optionen und die Grenzen, in denen man agieren kann, auszuloten. Anschließend sind die Ziele zu hierarchisieren, die Methoden zu optimieren und die damit erzielten Ergebnisse kontinuierlich zu evaluieren. Die Ziele im Maßregelvollzug sind gesetzlich vorgegeben und lauten Risikomanagement und Rehabilitation. Sie lassen sich jedoch in ihre wesentlichen Aspekte hierarchisch aufgliedern, nämlich in: 1. Sicherheit von Personal und Patienten, 2. Vermeidung von Zwischenfällen, 3. Behandlung der Störung, die zur Delinquenz geführt hat, und 4. gesellschaftliche Reintegration der Patienten ohne Rückfälle. z z Analyse
Grundlage jeder Behandlung ist die sorgfältige Analyse. Sie sollte eine strukturierte Erfassung der Defizite und der damit verbundenen Risiken enthalten, wobei sowohl die Risiken für einen Rückfall wie jene für einen Zwischenfall gesondert analysiert werden müssen. Beispielhaft für eine derartige systematische Analyse bezüglich der behandlungsrelevanten Risiken für Rückfälle bei Sexualstraftätern ist der STABLE (Hanson u. Harris 2000) und für Zwischenfälle der ACUTE (Hanson et al. 2007). Eine solche Analyse sollte – unter Berücksichtigung der oben beschriebenen Konvergenz von Risikoeinschätzung und Risikomanagement – schon Aufgabe des Einweisungsgutachtens sein. Hierzu ist es erforderlich, dass der Gutachter mit der Struktur und den Möglichkeiten der aufnehmenden Einrichtung vertraut ist. z z Risikoerfassung
Auch das Risikomanagement in der Einrichtung fordert ein strukturiertes und gleichzeitig individualisiertes Vorgehen, bei welchem sowohl die situationsspezifischen Risiken sowie die individuellen Frühwarnzeichen frühzeitig identifiziert werden
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Kapitel 10 · Behandlung psychisch kranker Straftäter
Gefährliche Gegenstände
. Abb. 10.2 Abnahme von intramuralen Zwischenfällen durch systematische Dokumentation
Woche 25
Körperteile
Woche 1
**) Gegenstände
**) Verbale Aggression
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0,5
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Zwischenfälle/Woche/Patient **) = p < 0,01
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und ein klarer und für alle verbindlicher Risikomanagementplan erarbeitet wird. Szenarioanalysen und Instrumente wie START (Webster et al. 2004), DASA (Daffern u. Howells 2007) und Broset (Almvik et al. 2000) sind sinnvolle Hilfsmittel zur Strukturierung von intramuraler Risikoeinschätzung. Wie effektiv eine strukturierte intramurale Risikoeinschätzung sein kann, konnten wir in einer kleinen Studie nachweisen, in welcher 2 Stationen des Bezirkskrankenhauses Gabersee mit jeweils 22 Patienten, die sich bezüglich Diagnosen, Einweisungsdelikten und bisherige Unterbringungsdauer nicht unterschieden, verglichen wurden (DolnyOkrojek 2007, unveröff. Diss.). In einer wurde vom Pflegepersonal täglich der DASA ausgefüllt, in der anderen wurde die Pflegedokumentation unverändert beibehalten. Auf beiden Stationen wurden verbale und tätliche Aggressionen nach dem DASA-Protokoll aufgezeichnet, Verglichen wurde der Mittelwert der Aufzeichnungen in der 1. und in der 25. Woche. Während auf der Station mit der üblichen Pflegedokumentation keine Änderung registriert wurde, nahm die Zahl aggressiver Übergriffe in der Experimentalgruppe signifikant ab (. Abb. 10.2).
jene der Institution und des Behandlungs- und Betreuungspersonals an. Die Ressourcen müssen koordiniert werden, um einerseits ihre Vergeudung und andererseits ihre Überforderung zu vermeiden. Das Ergebnis ist dann eine gezielte und dokumentierte Ressourcenanpassung und ggf. -aktivierung. Instrumente wie der SAPROF (de Vogel et al. 2009) oder der START (Webster et al. 2004) können dazu beitragen, Ressourcen und Ressourcenaktivierung systematisch zu erfassen. z z Methoden
Eine Aufzählung der Behandlungsmethoden, die sich bislang im Maßregelvollzug bewährt haben und deren Evidenz erwiesen wurde, würde den Rahmen eines Übersichtsartikels sprengen. Sie füllen mittlerweile Bücher (Andrews u. Bonta 1998; Bauer u. Kielisch 2005; Müller-Isberner u. Eucker 2009; Rehn et al. 2004). Wesentliche Elemente aller erfolgreichen Therapiemethoden sind die Multimodalität, welche die Komorbidität der Patienten und deren Sozialisationsdefizite in den Fokus nimmt, und die Berücksichtigung von Gefährdungsrisiko, Bedürfnissen und Lernstil der Klientel.
z z Ressourcenaktivierung
z z Evaluation
Die Ressourcen, die bei der Behandlung ausschlaggebend sind, müssen ebenso strukturiert analysiert werden, dabei kommt es nicht nur auf die individuellen Ressourcen des Patienten, sondern auch auf
Die Dokumentation von Therapieverläufen beschränkt sich in Deutschland auf wenige Modelluntersuchungen (Müller-Isberner u. Eucker 2006; Nuhn-Naber et al. 2002; Schmucker 2004; Stübner
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u. Nedopil 2009) und bezieht nur wenige Merkmale ein, häufig nur jene 5 Items, die als klinische (C-)Variablen im HCR-20 (Webster et al. 1997) enthalten sind. Es fehlt an systematischen Untersuchungen zur Effizienz von Behandlungsmethoden im Maßregelvollzug, obwohl manche, z. B. das R.u.R.-Programm oder die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) sich dem Eindruck nach bei der Behandlung psychisch gestörter Rechtsbrecher bewährt haben, wenn sie indikationsgerecht angewandt wurden. Für eine systematische Evaluation wären jedoch einheitliche und verbindliche Dokumentation und Beurteilungsmaßstäbe erforderlich, die zwar schon lange gefordert (Eucker et al. 1992; Gericke et al. 2004; Mann et al. 2003; Nedopil 1988;), aber nie durchgesetzt wurden. Gleichzeitig ist die Verbindlichkeit des Behandlungs- und Beurteilungskonzepts für alle an der Therapie beteiligten Berufsgruppen zu fordern und die Verbesserung der Behandlungsintegrität durch gemeinsame und interdisziplinäre Weiterbildung und Supervision zu sichern. In einem solchen Gesamtkonzept könnte die externe Begutachtung als Hilfe zur Effizienzüberprüfung entwickelt werden. Nach den Mindestanforderungen für Prognosegutachten (Boetticher et al. 2006) haben diese nicht nur dazu Stellung zu nehmen, ob ein Patient von der Therapie profitiert hat, sondern auch, ob die Therapie indiziert und geeignet war, das Rückfallrisiko des Patienten zu minimieren. Die Konvergenz hat insofern auch Konsequenzen für die Begutachtungen – insbesondere wenn diese nicht nur dazu dienen, eine Frage des Gerichts zu beantworten, sondern, wie die 5-Jahres-Gutachten, auch eine Statusfeststellung und Evaluation enthalten sollen. Dabei sollte eine gewisse Kohärenz zwischen Therapie und Gutachten bestehen. Das Gutachten sollte in die Struktur der Behandlung eingebunden sein, es sollte evaluieren und Anregungen geben und nicht ohne Not die Therapie auf den Kopf stellen. z
Schlussbemerkung
Wenn im Vorhergehenden Systematik und Struktur vor allem an operationalisierten Methoden aufgezeigt wurde, so ist dies lediglich als Ausgangsposition gedacht, die es ermöglichen soll, der Heterogenität und dem Wirrwarr von Methoden, Einstellungen und eher individuellen und kaum
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empirisch abgesicherten Konzepten von Gefährlichkeitsannahmen, Behandlungsmöglichkeiten und chancen ein Gerüst entgegenzusetzen, welches fundierte empirische Erkenntnisse und daraus resultierende verbindliche Empfehlungen und Maßnahmen ableiten lässt. Daraus könnte sich eine empirisch fundierte Struktur entwickeln, der sich alle verpflichtet fühlen, nicht nur Behandler oder Behandlungsteam, sondern auch Gutachter und Richter, die die Fälle begleiten, und das Nachsorgeteam, evtl. auch der runde Tisch, der mittlerweile auch die Polizei mit einschließen kann. Es sollte nicht ein mit operationalisierten Vorgaben schematisch zu erfüllendes Konstrukt entstehen, sondern eine Behandlungs- und Evaluationskultur mit systematischer Struktur.
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Kapitel 10 · Behandlung psychisch kranker Straftäter
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Psychopathischer Determinismus: nicht mildernd, sondern erschwerend und nach dem US-amerikanischen Gesetz strafbar Alan R. Felthous
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 11 · Psychopathischer Determinismus
Psychische Störungen sind Anlass zu Behandlung, nicht Bestrafung. Unter den verschiedenen Methoden, durch die psychopathische Störungen zur Einschränkung der Freiheit einer Person unter dem Zivil- und Strafrecht führen können, stellt die Verhängung der Todesstrafe die extremste dar. Die psychiatrische Aussage, dass ein Angeklagter an einer psychopathischen Störung leidet, trägt zum Beweis des erschwerenden Faktors unveränderlicher Gefährlichkeit bei. Würde das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten sein eigenes Prinzip anwenden, dass eine Person nicht für eine psychische Störung bestraft werden darf, und würde es die Aussage vor Gericht nicht zulassen, dass die psychische Störung eines Angeklagten tatsächlich einen erschwerenden Faktor darstellt, so könnten unziemliche psychiatrische Aussagen in bedeutendem Maße bei Verhandlungen zur Verhängung der Todesstrafe vermieden werden.
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Eine psychische Störung wird im Allgemeinen als Zustand betrachtet, der Behandlung erfordert. Eine Person mit einer psychischen Störung sollte nicht bestraft werden, weil sie unglücklicherweise an dieser Krankheit leidet. Das Prinzip, dass einer Person aufgrund einer Krankheit keine Kriminalstrafe auferlegt werden sollte, wurde im Jahr 1962 vom Obersten Gericht der Vereinigten Staaten in Kraft gesetzt. Der US-Bundesstaat Kalifornien hatte die Rauschgiftsucht illegalisiert. Nachdem die strafrechtliche Verfolgung einer der Rauschgiftsucht angeklagten Person erfolgreich verlaufen war, entschied das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten, dass die Bestrafung einer Person auf Grundlage einer als Krankheit eingestuften Sucht eine »unbarmherzige, außergewöhnliche Bestrafung« darstellen würde und daher verfassungswidrig sei (Robinson gegen Kalifornien 1962). Der Aspekt der psychischen Störung kann zum Teil oder in vollem Umfang zur Verteidigung bei der Strafverfolgung oder zur Milderung bei der Strafzumessung eingesetzt werden. Nur im Falle antisozialer Persönlichkeitsstörung oder Psychopathie ist eine psychische Störung jedoch als erschwerender Faktor anzusehen, der die Strafe erhöhen oder die Verhängung einer Strafe sicherstellen kann. Es liegt im Interesse der Gesellschaft, zu ihrem Schutz den aktiven Psychopathen außer Gefecht
zu setzen. Dies wird durch verlängerte zivil- oder strafrechtlich (Manguno-Mireet al. 2007) bedingte Unterbringung, verlängerte Inhaftierung sowie durch die Verhängung der Todesstrafe erzielt. Es ist diese Differenzialbehandlung von Personen mit psychopathischen Störungen, mit der wir uns befassen wollen. z
Zwangsunterbringung nach Schuldunfähigkeit wegen psychischer Störung
Terry Foucha litt an einer von Drogen verursachten Psychose während der Straftat. Beim Strafprozess wurde er wegen Geistesstörung als schuldunfähig beurteilt; eine Zwangsunterbringung wurde beschlossen. Nach Behandlung im Krankenhaus und Erholung von der Psychose hatte er noch eine antisoziale Persönlichkeitsstörung und war deswegen vermutlich gefährlich. Trotzdem fand das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten, eine fortgesetzte Zwangsunterbringung ohne ernste Geistesstörung sei verfassungswidrig, da sie gegen die Rechtsstaatsgarantie der Vereinigten Staaten verstoße (Foucha gegen Louisiana 1992). Im grundlegenden Fall zu dieser Frage beruhte die vermutete Gefährlichkeit der wegen einer psychischen Störung freigesprochenen Person auf antisozialer Persönlichkeitsstörung, für die es nach Auffassung des Hohen Gerichts keine wirksame Behandlung gab, weshalb eine Unterbringung auf unbestimmte Zeit als nicht gerechtfertigt erachtet wurde. z
Zwangsunterbringung von Sexualdelinquenten
Wie die herkömmliche zivilrechtliche Zwangsunterbringung erfolgt auch die Zwangsunterbringung von Sexualdelinquenten auf zivilrechtlicher, nicht strafrechtlicher Basis und hat statt einer Bestrafung die Behandlung zum Ziel. Anders als bei herkömmlichen zivilrechtlichen Zwangsunterbringungen ist die Diagnose einer psychopathischen Störung als qualifizierender Zustand allgemein besser akzeptierbar. Der Zweck der Unfähigmachung oder Sicherungsverwahrung zum Schutz der Öffentlichkeit führt zu verlängerten Zeiträumen der Zwangsunterbringung. Die »Gesetze zur Sexualpsychopathie«, die die zivilrechtliche Zwangsunterbringung von Sexualdelinquenten ermöglichten, wurden ab Anfang der späten 1930er Jahre erlassen
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11 · Psychopathischer Determinismus
(Tucker u. Brakel 2003). In einem Musterfall entschied das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten, dass die Diagnose der »psychopathischen Persönlichkeit« als Grund zur Zwangsunterbringung verfassungsmäßig war (Minnesota ex. rel. Pearson gegen Nachlassgericht [1940]). Die Gesetze zur Sexualpsychopathie verloren schließlich an Bedeutung und wurden aufgehoben. Einige existieren jedoch weiterhin (z. B. Illinois, Allen gegen Illinois 1986). Ab 1989 und bis in die 1990er Jahre erließen mehrere Bundesstaaten Gesetze zum Umgang mit Sexualgewalttätern, die eine zivilrechtliche Zwangsunterbringung von Sexualdelinquenten auf unbestimmte Zeit ermöglichten, typischerweise nach dem Abbüßen der Haftstrafe im Gefängnis. Die üblichen Kriterien für die Zwangsunterbringung von Sexualgewalttätern sind: 4 eine oder mehrere Anklagen (wenn als nicht schuldunfähig wegen einer psychischen Störung oder verfahrensunfähig befunden) oder Verurteilung wegen sexueller Gewaltdelikte, 4 eine qualifizierende »geistige Abnormalität«, 4 die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Sexualgewalttaten begangen werden und 4 eine zumindest teilweise Kausalverbindung zwischen der geistigen Abnormalität und dem Risiko sexueller Rückfälligkeit. Eine typische Definition »geistiger Abnormalität« bietet das Gesetz des Bundesstaates Kansas zu Sexualgewalttätern: »Ein angeborener oder erworbener Zustand, der die emotionale oder willensmäßige Kapazität beeinflusst, wodurch die Person für das Begehen von sexuellen Gewaltdelikten anfällig wird, und zwar in einem Ausmaß, dass eine solche Person eine Bedrohung der Gesundheit und Sicherheit anderer darstellt.« (Kans. Stat. Ann., Section 59-29a02[b]) Meistens ist dieser Zustand eine sexuelle Paraphilie, doch kann auch eine Persönlichkeitsstörung wie die antisoziale Persönlichkeitsstörung die Voraussetzung der geistigen Abnormalität erfüllen (Tucker u. Brakel 2003). Das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten entschied, dass ein totaler Mangel an Kontrolle bei Sexualstraftaten in verfassungsmäßiger Hinsicht nicht erforderlich ist, sondern dass »ernsthafte Schwierigkeiten bei der Verhaltenskontrolle« ausreichen würden (Kansas gegen Crane 2002). Unter Annahme einer gestör-
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ten Willenskontrolle und einer besseren Aufnahmefähigkeit im Hinblick auf eine Behandlung wäre Paraphilie gegenüber psychopathischen Störungen als qualifizierende geistige Abnormalität begünstigt. Psychopathische Störungen sind jedoch ebenfalls qualifizierend, und Straftäter, die an Störungen dieser Art leiden, werden unter den Gesetzen zu Sexualgewalttätern zwangsuntergebracht. z
Die Todesstrafe
Bei der Todesstrafe werden die Annahmen von »Unbehandelbarkeit« und deterministischer zukünftiger Gewalttätigkeit aufgrund psychopathischer Störungen kombiniert, um die Verhängung der Todesstrafe bei Kapitaldelikten sicherzustellen. Die US-amerikanischen Gesetze zu Kapitaldelikten schließen mildernde oder erschwerende Faktoren ein. Ein typischer erschwerender Faktor ist die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Gefährlichkeit. Die psychiatrische Aussage, dass die psychopathische Störung eines Angeklagten unbehandelbar sei und auf vorhersagbare Weise die Wahrscheinlichkeit zukünftiger gewalttätiger Rückfälligkeit erhöhe (Estelle gegen Smith 1980; Barefoot gegen Estelle 1983) hat die Verhängung der Todesstrafe für zahlreiche Personen, die eines Kapitaldelikts angeklagt waren, unterstützt (Felthous 1989; Wolfson 2007). z
Schlussfolgerung
Obgleich sich das Oberste Gericht gegen Kriminalstrafen für den Zustand einer psychischen Störung ausgesprochen hat (Robinson gegen Kalifornien 1992) und psychopathische Störungen sogar aus historischer Sicht für die Verteidigung bei psychischen Störungen gegenüber krimineller Verantwortung dienlich waren (Greenberg u. Felthous 2007; Wolfson 2007) wird die Diagnose psychopathischer Störung heute verwendet, um Zwangsunterbringungen und Inhaftierungen zu verlängern, zivilrechtliche Zwangsunterbringungen von Sexualdelinquenten einzuleiten und zu verlängern und um die Todesstrafe zu verhängen. Solche Verwendungen der Diagnose einer psychopathischen Störung basieren auf der Annahme einer erhöhten gewalttätigen Rückfälligkeit unter Personen mit psychopathischen Störungen und insbesondere mit erhöhten PCL-R-Punkten (Hareet al. 2000; Hare 2007).
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Kapitel 11 · Psychopathischer Determinismus
Bei den verschiedenen Verwendungen einer Psychopathiediagnose zur Einschränkung der Freiheit einer Person ist die Verhängung der Todesstrafe besonders problematisch. Wolfson (2007) kommt zum Schluss, dass die Diagnose einer psychopathischen Störung weder notwendig noch ausreichend ist, um eine Verhängung der Todesstrafe zu rechtfertigen. Andere vertreten den Standpunkt, dass Psychiater bei der Verhängung von Todesstrafen nicht beteiligt sein sollten (Felthous 2001) und wiederum andere sprechen sich für die Abschaffung der Todesstrafe aus (Gunn 2007). Wenn eine psychische Störung als eine Grundlage der Verhängung der Todesstrafe ausgeschlossen würde, wäre ein Großteil der unziemlichen psychiatrischen Beteiligung am Prozess nicht mehr notwendig.
Literatur
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Eine psychiatrische Position zur Maßregel der Sicherungsverwahrung Elmar Habermeyer
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 12 · Maßregel der Sicherungsverwahrung
Vor mehr als 10 Jahren offerierte Prof. H. Saß dem Autor die Möglichkeit, Gutachten bei Sicherungsverwahrten zu erstellen. Damit begann eine Beschäftigung mit der Sicherungsverwahrung, die zunächst ein Außenseiterthema darstellte, dann aber zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit rückte und den wissenschaftlichen Werdegang des Autors bis heute prägt (Habermeyer 2008; Habermeyer u. Saß 2004; Habermeyer et al. 2007, 2008, 2009). Die folgenden Zeilen fassen aktuelle Entwicklungen in diesem Bereich zusammen. Sie bieten darüber hinaus die Möglichkeit, Prof. Saß für die Schulung im forensisch-psychiatrischen Bereich und seine Bereitschaft, dem Autor frühzeitig interessante und anspruchsvolle Aufgaben zu übertragen, zu danken.
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Sicherungsverwahrung und kein Ende, oder doch?
Jörg Kinzig, der strafrechtliche Experte für die Maßregel der Sicherungsverwahrung (SV) (Kinzig 1996), hat die Entwicklung der Sicherungsverwahrung von einem kriminalpolitischen Auslaufmodell hin zu einer nachgerade boomenden Maßregel in seiner letzten Monographie zum Thema (2008) in 5 Phasen eingeteilt, die 1) vom Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998 über 2) die landesrechtlichen Gesetze und vorbehaltene Sicherungsverwahrung, 3) die teilweise Einbeziehung von Heranwachsenden in das System der Sicherungsverwahrung, 4) die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2004 bis hin zu 5) der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung reichen. Infolge dieser Aktivitäten kam es zu einer massiven Steigerung der Unterbringungszahlen: Während Ende des letzten Jahrhunderts über Jahre hinweg lediglich 200 Sicherungsverwahrte in der Maßnahme untergebracht waren, sind diese Zahlen innerhalb weniger Jahre auf 524 Untergebrachte angestiegen. So rechnet man allein für Berlin in den nächsten Jahren mit ca. 100 Sicherungsverwahrten. Somit wird in Kürze die Hälfte der früheren deutschlandweiten Unterbringungszahlen in einem Stadtstaat erreicht. Während diese Entwicklung und der Großteil der gesetzlichen Modifikationen von juristischen Experten mit Sorge und Skepsis betrachtet wurden, wurde die Abschaffung der früher gültigen Höchst-
frist von 10 Jahren bei Straftätern, die bereits vor Abschaffung der Höchstfrist im Gesetz zur Bekämpfung von Sexualstraftaten untergebracht waren, vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2004 gebilligt. In dieser sog. Höchstdauerentscheidung wurde betont, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung nicht um eine Strafe handele. Daher verstoße die Aufhebung der früheren Höchstdauer von 10 Jahren auch bei den Personen, die bereits vor Abschaffung der Höchstfrist in der Sicherungsverwahrung untergebracht waren, nicht gegen das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes. Dieses Urteil hat den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ins Spiel gebracht, der in einer Entscheidung vom 17.12.2009 Erwägungen angestellt hat, die der ungebremsten Fortentwicklung dieser Maßregel Einheit bieten. Der Europäische Gerichtshof geht nämlich davon aus, dass sich die Sicherungsverwahrung, wie sie in Deutschland praktiziert wird, einer Strafe entspricht. Die 1998 im Rahmen des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten vorgenommene Aufhebung der früheren Höchstfrist von 10 Jahren Verwahrung sei daher für diejenigen Verwahrten, bei denen die Maßregel vor der Gesetzesänderung angeordnet wurde, unzulässig. Das Rückwirkungsverbot und der Grundsatz »keine Strafe ohne Gesetz« betrifft nach einer weiteren Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes von Januar 2011 auch die Anordnung einer nachträglichen SV bei Delinquenten, die Delikte vor dem 29.07.2004, also vor Inkrafttreten des Gesetzes zur nachträglichen Sicherungsverwahrung, begangen haben. Einige juristische Kritiker der Maßregel gingen, nachdem der Ausschuss des Europäischen Gerichtshofs am 11.05.2010 die Beschwerde der Bundesregierung gegen den erstgenannten Beschluss schon vorinstanzlich abgelehnt hatte, davon aus, dass die Sicherungsverwahrung nun am Ende sei. In der Tat hätte das Vorgehen der Europäischen Gerichtsbarkeit einen Diskussionsprozess über das deutsche Maßregelsystem einleiten können, und eine intensive fachliche und an empirischem Material orientierte Diskussion über Wirksamkeit und Grenzen von Maßregeln hätte langfristig Früchte tragen können. Jedoch ließ das kurzsichtige, zunehmend an Einzelschicksalen und den Argumenten bzw. Schlagzeilen von Boulevardme-
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12 · Maßregel der Sicherungsverwahrung
dienorientierte politische Klima eine an langfristigen Behandlungskonzepten bzw. kriminologischen und forensisch-psychiatrischen Daten orientierte Diskussion nicht zu. Vielmehr reagierte die Politik auf das »Fehlverhalten« des Europäischen Gerichts ähnlich wie auf das Fehlverhalten einzelner Straftäter, nämlich mit übereilten und allenfalls kurzfristig wirksamen Entscheidungen, u. a. mit dem sog. Therapieunterbringungsgesetz. z
Das sogenannte Therapieunterbringungsgesetz
Nunmehr wurde nämlich für diejenigen Sicherungsverwahrten, die nach Ablauf ihrer Höchstfrist zu entlassen waren, ein sog. Therapieunterbringungsgesetz verabschiedet, das Rechtsgrundlage für eine Fortsetzung der Unterbringung schaffen kann. Im Titel dieses Gesetzes ist zwar explizit von Therapie die Rede, jedoch ist offen, was hier wie therapiert werden soll. Vielmehr hat man kurzerhand Gefährlichkeit bzw. wiederholte Delinquenz mit psychischer Gestörtheit gleichgesetzt und als Ziel therapeutischer Bemühungen adressiert. Allein das ist hochproblematisch und vor diesem Hintergrund fällt kaum mehr ins Gewicht, dass konsequenterweise auch nicht bedacht wurde, ob die hier avisierte Klientel überhaupt motiviert zur Behandlung ist bzw. durch therapeutische Maßnahmen erreicht werden kann. z
An wen richtet sich das Therapieunterbringungsgesetz?
Um diese Frage zu beantworten, soll an dieser Stelle auf eigene Untersuchungen zum Klientel der Sicherungsverwahrten eingegangen werden. Die Daten wurden 2009–2010 im Rahmen eines DFGgeförderten Projekts (HA 3414/2-2) in der JVA Straubing erhoben. Ähnlich wie bei einer ebenfalls DFG-geförderten Untersuchung von Gutachten im Kontext der Sicherungsverwahrung (HA 3414/2-1) zeigte sich, dass es sich bei den Sicherungsverwahrten um eine Gruppe handelt, die schwerwiegende Gewalt und Sexualstraftaten begangen hat (Habermeyer et al. 2007, 2008, 2009). Mehrheitlich (73 %) wurden Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und in 19 % Straftaten gegen das Leben/die körperliche Unversehrtheit (Mord, Totschlag, Körperverletzung) begangen, 40 % der Anlasstaten in
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Bewährungszeiträumen. Die Sicherungsverwahrten wiesen vor der Anlasstat im Schnitt bereits 10,8 Vorstrafen, 3,5 Inhaftierungen und 9,3 in Haft verbrachte Jahre auf. Somit kann man durchaus von einer Klientel mit einer hohen Gefährdung für Gewalt- und Sexualdelikte sprechen. Bezüglich psychiatrischer Diagnosen bzw. der psychiatrischen Vorgeschichte bleibt festzuhalten, dass bei einem Großteil der Sicherungsverwahrten eine psychische Störung diagnostiziert werden kann: Sie weisen in 81 % der Fälle eine Persönlichkeitsstörung und dann auch regelhaft eine antisoziale Persönlichkeitsstörung auf. Dieser Befund ist nicht überraschend, da in den diagnostischen Kriterien der antisozialen Persönlichkeitsstörung rezidivierende Delinquenz eine entscheidende Rolle spielt. Dieser Punkt führte und führt zu Kritik an diesem Störungskonzept (Habermeyer u. Herpertz 2005; de Tribolet et al. 2011). Außerdem handelt es sich um ein Störungsbild, dem bei fehlender Motivation der Betroffenen kaum beizukommen ist. Darüber hinaus waren die Sicherungsverwahrten unserer Untersuchung im Mittel 53 Jahre alt. Sie hatten seit der Anlasstat bereits 13 Jahre in Haft verbracht, davon 3,5 Jahre in Sicherungsverwahrung, und wiesen eine Lebenshaftzeit von 22 Jahren auf. Die Biografie der Untergebrachten war darüber hinaus nicht nur durch eine Institutionalisierung im Erwachsenenalter, sondern in 54 % der Fälle auch durch Heimunterbringungen im Jugendalter gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund ist, insbesondere bei den Delinquenten, bei denen bereits vor 1998 die Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, mit fortgeschrittenem Lebensalter und erheblichen Institutionalisierungs- bzw. Hospitalisierungseffekten zu rechnen, was die therapeutische Erreichbarkeit nicht fördert. Genau an diese ältere Personengruppe richtet sich aber das sog. Therapieunterbringungsgesetz. Bedenken hinsichtlich der Behandelbarkeit der Sicherungsverwahrten allgemein ergeben sich darüber hinaus, wenn man die PCL-Werte der Betroffenen betrachtet (Habermeyer et al. 2010): Die Werte der Sicherungsverwahrten liegen bei 23 und damit deutlich über denjenigen anderer Häftlinge (Dahle 2006; Endrass et al. 2008), was nicht nur für eine kriminalprognostische Risikoklientel, sondern für
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Kapitel 12 · Maßregel der Sicherungsverwahrung
eine eingeschränkte therapeutische Erreichbarkeit spricht. z
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Fazit
In der Sicherungsverwahrung sind Täter mit gravierenden Delikten und kriminologischen Risikofaktoren untergebracht. Beim Großteil der Insassen handelt es sich um sozial desintegrierte Wiederholungstäter fortgeschrittenen Lebensalters mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen. Unsere Befunde lassen hinsichtlich einer therapeutischen Erreichbarkeit dieses Klientels erhebliche Zweifel aufkommen. Es fehlt nicht nur an effektiven Therapieprogrammen für antisoziale Wiederholungstäter mit »Psychopathy-Merkmalen«, sondern man sieht sich darüber hinaus mit einer über Jahrzehnte ihres Lebens institutionalisierten und daher wohl kaum therapieoffenen Gruppe von älteren Straftätern konfrontiert. Die in 2010 eingeleitete Reform der Sicherungsverwahrung ist nicht geeignet, grundlegende Mängel bei der Versorgung antisozialer Straftäter zu beheben. Sie dient vorwiegend dazu, der Öffentlichkeit das Gefühl zu vermitteln, dass eine maximale Sicherheit gewährleistet sei. Leider wurde hier nicht nur eine Chance zur Optimierung des deutschen Maßregelsystems vertan, sondern en passant auch die Psychiatrie in einer Weise instrumentalisiert, die bei Psychiatern nur zu heftiger Empörung führen kann. Nun ist unser Fach mit einem Gesetz konfrontiert, das bei – laut Vorgabe der Europäischen Gerichtsbarkeit – aus einer Sicherungsmaßregel zu entlassenden Straftätern eine Zwangstherapie anordnet. Da evidenzbasierte therapeutische Möglichkeiten für die Zielgruppe dieses Gesetzes fehlen, läuft das Therapieunterbringungsgesetz hinsichtlich Therapie ins Leere, während die Unterbringung greift. Somit dient eine allenfalls vage Therapieoption als Feigenblatt für eine Fortführung der Sicherungsverwahrung in neuem Gewand. Die Psychiatrie wird in diesem Kontext nicht als medizinisch-therapeutisches Fachgebiet, sondern lediglich als Instrument zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit definiert. Damit sprechen die aktuellen gesetzlichen Aktivitäten den Bemühungen von Prof. Saß (Saß 1987) um Ordnung in dem unübersichtlichen Grenzgebiet zwischen sozialer Abweichung, psy-
chischer Störung und therapeutisch beeinflussbarer Auffälligkeit Hohn. Die Chance, über flexiblere Anordnungsmöglichkeiten forensisch-psychiatrischer Maßregelnnachzudenken – z. B. 1) weniger nach Schuldfähigkeit als vielmehr nach Rückfallgefährdung, Behandlungsbedürftigkeit und -willigkeit, 2) sozialtherapeutisch bzw. psychagogisch ausgerichtete Maßregeln für junge Erwachsene oder 3) milieutherapeutische Einrichtungen für Straftäter mit antisozialen Persönlichkeitseigenschaften innerhalb des Strafvollzugs –, wurde zugunsten kurzfristiger Lösungsansätze für eine überschaubare Gruppe älterer Straftäter verpasst. Nach wie vor scheint es der Politik weniger um Prävention von problematischen Delinquenzkarrieren als vielmehr darum zu gehen, einzelne Delinquenten, nachdem sie über Jahrzehnte andere Menschen, aber auch sich selbst gefährdet haben, unbefristet aus dem Verkehr zu ziehen. Zu diesem Zweck weicht die Politik, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den deutschen Gesetzgeber in die Grenzen gewiesen hat, auf die Psychiatrie aus. Dabei wird Gefährlichkeit mit psychischer Gestörtheit gleichgesetzt und über die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Störungen hinausgehend in Kauf genommen, dass jahrzehntelange Bemühungen, die Psychiatrie und das Teilgebiet der forensischen Psychiatrie als medizinisch-(psycho)therapeutisches Fach zu etablieren und für junge Ärzte attraktiv zu machen, zunichte gemacht werden. Es bleibt abzuwarten, wie die Mitarbeiter betroffener Kliniken und die Europäische Gerichtsbarkeit auf diesen durchschaubaren Versuch, der unbefristeten Unterbringung ein therapeutisches Mäntelchen umzuhängen, reagieren werden.
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12 · Maßregel der Sicherungsverwahrung
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Forensische Psychiatrie: neurobiologische Korrelate Kapitel 13
Hirnstrukturelle Auffälligkeiten bei Soziopathie – 77 Sabrina Weber-Papen, Ute Habel
Kapitel 14
Neuronale Korrelate der Empathie – 83 Birgit Derntl
Kapitel 15
Neurobiologie der Aggression – 89 Katja Bertsch
Kapitel 16
Neuronale Korrelate von Frustration und Impulsivität – 95 Christina Pawliczek
III
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Hirnstrukturelle Auffälligkeiten bei Soziopathie Sabrina Weber-Papen, Ute Habel
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 13 · Hirnstrukturelle Auffälligkeiten bei Soziopathie
Das Forschungsinteresse zur Soziopathie und seinen neurobiologischen, speziell den neuroanatomischen Grundlagen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Dennoch stützt sich das neurobiologische Verständnis der Soziopathie noch immer auf eine recht dünne und vor allem heterogene Datenlage, nicht zuletzt aufgrund einer großen Variabilität in den Studiendesigns. Bisherige Befunde bringen Soziopathie in Zusammenhang mit hirnstrukturellen Auffälligkeiten in präfrontalen, temporalen und subkortikal-limbischen Arealen, also Hirnarealen, die besonders für die Emotionsregulation und -verarbeitung, für soziale Kognition, Lernprozesse und Verhaltenskontrolle bedeutsam sind.
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Konzept der Soziopathie
Das Konzept der Soziopathie (Synonym Psychopathie/»psychopathy«) basiert auf bestimmten zwischenmenschlichen, affektiven und behavioralen Eigenschaften wie mangelnde Empathie und emotionale Ansprechbarkeit, Affektflachheit, mangelndes Schuld- und Reuegefühl, oberflächlicher Charme sowie manipulatives und antisoziales Verhalten. Soziopathie ist nicht gleichzusetzen mit der dissozialen (ICD-10) oder antisozialen (DSM-IVTR) Persönlichkeitsstörung, sondern beschreibt eine bestimmte Unterform dieser Persönlichkeitsstörungen (. Abb. 13.1) mit hoher delinquenter Rückfallwahrscheinlichkeit und besonders emotionalen Auffälligkeiten und sollte daher als eigene nosologische Entität verstanden werden. Soziopathen finden sich nicht ausschließlich unter Straftätern. Cleckley beschrieb in seinem Werk »The Mask of Sanity« (1976) soziopathische Persönlichkeiten anhand von Kasuistiken, wobei er sich dabei nicht nur auf kriminelle Personen bezog, sondern auch auf sozial erfolgreiche Menschen, denen es durchaus gelingt, mit oberflächlichem Charme und chamäleonartiger Anpassungsfähigkeit andere Menschen zu täuschen und zu manipulieren, ohne jedoch strafrechtlich auffällig zu werden. z
Operationalisierung der Soziopathie
Zur Operationalisierung und Erfassung der Soziopathie hat sich weltweit die PCL-R (»Psychopathy Checklist-Revised«) von Hare (1991) durchgesetzt. Soziopathie sensu Hare beschreibt ein Störungs-
Persönlichkeitsstörungen
Dissoziales Verhalten
Soziopathie/ Psychopathie
Dissoziale Persönlichkeitsstörung
. Abb. 13.1 Klassifikation des Konzepts Soziopathie/Psychopathie (Herpertz u. Saß (2000) John Wiley and Sons)
muster von sozial verantwortungslosem, impulsivem und aggressivem Verhalten sowie einem Mangel an Schuldgefühlen und Empathie. Entsprechend einem 2-Faktoren-Modell lassen sich die Items der PCL-R (bis auf 3 Ausnahmen) einem der beiden Faktoren »emotionale Gleichgültigkeit« und »antisoziales Verhalten« zuordnen (. Tab. 13.1). Insgesamt besteht die PCL-R aus 20 Items, die alle auf einer 3-stufigen Skala (0 – 1 – 2) beurteilt werden. Der Summenwert auf der PCL-R kann folglich zwischen 0 und maximal 40 variieren. Gemäß der PCL-R werden für die Diagnose der Soziopathie Werte ≥ 30 gefordert. Dieser Schwellenwert wurde anhand nordamerikanischer Kollektive gewonnen. Für den europäischen Raum sind insgesamt niedrigere Werte anzunehmen, sodass hier in Studien häufig auch niedrigere Schwellenwerte (≥25 oder sogar ≥ 23) akzeptiert werden. z
Neuroanatomische Korrelate
Bereits im 19. Jahrhundert formulierte Wilhelm Griesinger den bekannten Satz »Der erste Schritt zum Verständnis der Symptome ist ihre Lokalisation«. Als historisches Beispiel für mögliche neuroanatomische Korrelate der Soziopathie wird gerne der Fall des damals 25-jährigen Eisenbahnarbeiters Phineas Gage herangezogen, der im Jahre 1848 einen schweren Unfall erlitt. Es ist überliefert, dass sich bei einer Sprengung eine Eisenstange durch seinen Schädel bohrte und den Orbitofrontalkor-
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13 · Hirnstrukturelle Auffälligkeiten bei Soziopathie
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. Tab. 13.1-Faktoren-Struktur der PCL-R Emotionale Gleichgültigkeit (Faktor 1)
Antisoziales Verhalten (Faktor 2)
Oberflächlicher Charme
Sensationslust, Erlebnisdrang
Überhöhtes Selbstwertgefühl
Ausnutzen Anderer
Pathologisches Lügen
Schwache Verhaltenskontrolle
Betrügerisch, manipulativ
Frühe Verhaltensprobleme (vor dem 12. Lebensjahr)
Mangel an Reue und Schuldgefühlen
Mangel an realistischen, langfristigen Zielen
Affektflachheit
Impulsivität
Mangel an Empathie
Verantwortungslosigkeit
Unvermögen, Verantwortung für eigene Handlungen zu übernehmen
Jugendkriminalität (vor dem 17. Lebensjahr) Verletzung von Bewährungsauflagen
Oberflächliches Sexualverhalten Viele kurze eheliche/eheähnliche Beziehungen Kriminelle Vielseitigkeit
tex verletzte. Gage überlebte diesen Unfall – wie berichtet wird, ohne wesentliche kognitive, perzeptuelle oder motorische Beeinträchtigungen. Jedoch soll sich nach diesem schweren Unfall seine Persönlichkeit deutlich verändert haben. Wurde er vor dem Unfall als verantwortungsvoller, liebenswerter und ruhiger Mensch beschrieben, soll sein Wesen und Auftreten nach dem Unfall launisch, unhöflich und aufbrausend gewesen sein. Dieser Vorfall lieferte wahrscheinlich den ersten Hinweis dafür, dass eine Läsion des Frontalkortex, speziell des Orbitofrontalkortex, die Persönlichkeit beeinflussen und sozial angepasstes Verhalten beeinträchtigen kann. Solche soziopathischen Persönlichkeitsveränderungen nach Läsionen des Frontalkortex werden auch als »erworbene Soziopathie« bezeichnet. Ein anderes Beispiel kommt aus der Gerontopsychiatrie: So ist bekannt, dass demenzielle Abbauprozesse in frontotemporalen Arealen (z. B. bei Morbus Pick) zu gravierenden Persönlichkeitsveränderungen mit soziopathischen Wesenszügen führen können. Auch Infektionen wie Herpes-simplex-Enzephalitis, Hirngewebszerstörungen in limbischen Strukturen, im Temporallappen oder Temporallappenepilepsien können mit aggressivem Verhalten assoziiert sein.
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Hirnstrukturelle Bildgebung
Die bisherigen hirnstrukturellen magnetresonanztomographischen (MRT) Studien bei soziopathischen Persönlichkeiten weisen auf morphologische Auffälligkeiten in präfrontalen, temporalen und subkortikal-limbischen Strukturen, einschließlich bestimmter Faserbahnen, hin. z z Präfrontaler Kortex
Die erste strukturelle MRT-Studie an Personen mit soziopathischen Persönlichkeitszügen stammt von Raine et al. (2000). Diese untersuchten 21 Personen aus der Allgemeinbevölkerung mit der Diagnose einer antisozialen Persönlichkeitsstörung und soziopathischen Wesenszügen (erfasst mit der PCLR, mittlerer PCL-R-Gesamtwert 28,5) wiesen keine zerebralen Läsionen in der Anamnese auf. In der Gruppe der antisozialen Persönlichkeiten mit soziopathischen Persönlichkeitszügen fand sich, verglichen mit einer gesunden Kontrollgruppe, eine 11 %ige Volumenreduktion der grauen Substanz im präfrontalen Kortex. Dieses Ergebnis eines frontalen Volumendefizits konnte in weiteren Untersuchungen nicht (Laakso et al. 2002) oder nur teilweise repliziert werden. So zeigte sich in einer Studie von Yang et al. (2005) ausschließlich für »erfolglose Soziopa-
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Kapitel 13 · Hirnstrukturelle Auffälligkeiten bei Soziopathie
then« (= strafrechtlich sanktionierte Soziopathen; PCL-R ≥ 23), nicht jedoch für »erfolgreiche Soziopathen« (= nicht strafrechtlich sanktionierte Soziopathen; PCL-R ≥ 23) eine 22,3 %ige Volumenreduktion der grauen Substanz im präfrontalen Kortex, verglichen mit einer Kontrollgruppe. In dieser strukturellen MRT-Studie war der PCL-R-Wert nur bei den erfolglosen Soziopathen negativ korreliert mit dem Volumen des präfrontalen Graus. Dieser Befund scheint insofern nicht überraschend, als eine gestörte Frontalhirnfunktion das Erkennen von Gefahrensignalen sowie Verhaltenssteuerung und -planung beeinträchtigen und damit das Risiko für impulsive Taten wie auch dafür, bei diesen entdeckt zu werden, erhöhen kann. z z Temporaler Kortex
Müller et al. (2008) konnten mit Hilfe der voxelbasierten Morphometrie (VBM) eine Minderung der grauen Substanz in frontotemporalen Hirnregionen, insbesondere im rechten superioren temporalen Gyrus, bei kriminellen Soziopathen (PCLR > 28) im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden (PCL-R < 10) nachweisen. Der superiore temporale Gyrus spielt eine zentrale Rolle bei der Perspektivübernahme und Empathie, eine Fähigkeit, die bei Soziopathen vermindert ist.
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z z Amygdala und Hippocampus
Bekannt ist, dass sich Soziopathen durch eine mangelhafte Angstkonditionierung auszeichnen. Da Amygdala und Hippocampus Regionen sind, die bei der Angstkonditionierung eine wichtige Rolle spielen, wird auch auf diese Regionen vermehrt Augenmerk gelegt. In einer MRT-Studie von Yang et al. (2009) zeigten Soziopathen (PCL-R ≥ 23), die über Zeitarbeitsfirmen rekrutiert wurden, im Vergleich zu Kontrollprobanden eine bilaterale signifikante Volumenreduktion in der Amygdala. Zudem fand sich eine negative Korrelation zwischen dem PCLR-Wert und dem Amygdalavolumen, wobei die Korrelation zwischen dem Amygdalavolumen und dem affektiven/interpersonellen Subfaktor (Faktor 1) der PCL-R am stärksten war. Laakso et al. (2001) berichteten einen Zusammenhang zwischen dem PCL-R-Wert und dem Volumen des posterioren Hippocampus: je höher der
Psychopathiewert, desto geringer das posteriore Hippocampusvolumen. In einer Studie von Raine et al. (2004) zeigte sich der anteriore Hippocampus im Gruppenvergleich bei erfolglosen Soziopathen (PCL-R ≥ 23) deutlich asymmetrisch (rechts > links), nicht jedoch bei erfolgreichen Soziopathen (PCL-R ≥ 23) und den Kontrollprobanden. Die Autoren fassen die strukturelle Hippocampusasymmetrie bei erfolglosen Soziopathen als eine frühe Störung der neurokognitiven Entwicklung auf, die den präfrontal-hippocampalen Regelkreis beeinträchtigt und in einer gestörten Affektregulation und Angstkonditionierung sowie in einem mangelhaften Erkennen von Gefahren-/Hinweisreizen resultiert. Boccardi et al. (2010) konnten keine hippocampalen Volumenunterschiede zwischen kriminellen Soziopathen (PCL-R ≥ 30) und gesunden Kontrollprobanden feststellen, dafür aber Unterschiede in der Form der Hippocampi mit einer abweichenden hippocampalen Morphologie bei den Soziopathen. z z Striatum
Eine neuere Studie von Glenn et al. (2010) deutet darauf hin, dass auch das Striatum, welches eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Belohnungsreizen spielt, eine Bedeutung für die Pathogenese der Soziopathie haben könnte. In dieser MRT-Studie konnte für über Zeitarbeitsfirmen rekrutierte Soziopathen (PCL-R ≥ 23), verglichen mit bezüglich Alter, Geschlecht, Ethnizität und Substanzabhängigkeit gematchten Kontrollprobanden, ein erhöhtes Volumen des Striatums festgestellt werden. Analysen mit den Subfaktoren der PCLR zeigten, dass Volumina des Corpus des Nucleus caudatus primär mit der affektiven/interpersonellen Komponente und Volumina des Kopfes des Nucleus caudatus primär mit dem impulsiven/antisozialen Subfaktor des Soziopathiekonstrukts assoziiert sind. z z Weiße Substanz
Die präfrontalen und temporolimbischen Areale, die sich bei Soziopathen als strukturell auffällig zeigten, sind durch bestimmte Faserbahnen miteinander verbunden, was die Aufmerksamkeit auch auf die weiße Hirnsubstanz lenkt. Dementsprechend ließ sich in einer Studie von Craig et al.
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13 · Hirnstrukturelle Auffälligkeiten bei Soziopathie
(2009) mit dem Verfahren der Diffusions-TensorBildgebung (»diffusion tensor imaging«, DTI) eine Verminderung der fraktionellen Anisotropie im Fasciculus uncinatus bei kriminellen Soziopathen (PCL-R ≥ 25) im Vergleich zu bezüglich Alter und IQ gematchten Kontrollprobanden darstellen. Der Fasciculus uncinatus ist ein Nervenfaserbündel, das temporale Areale (Hippocampus, Amygdala) mit dem Orbitofrontalkortex verbindet. Zudem wird ein größeres Volumen der weißen Substanz im Corpus callosum bei soziopathischen Persönlichkeiten berichtet (Raine et al. 2003). z
Fazit
Die dargestellten Befunde unterstützen die Hypothese, dass an der Pathogenese der Soziopathie ein dysfunktionales fronto-temporo-limbisches Netzwerk beteiligt zu sein scheint. Involviert sind also Strukturen und Verbindungen, die bedeutsam sind für Verhaltenssteuerung und -planung sowie kognitive und emotionale Prozesse. Bei einer insgesamt noch relativ geringen Anzahl an Studien zu hirnstrukturellen Auffälligkeiten bei Soziopathie und erheblichen methodischen Unterschieden sind die Daten zu den morphologischen Korrelaten recht heterogen und die vielen Einzelbefunde wenig repliziert und nicht reliabel nachweisbar. Die methodischen Unterschiede zwischen den Studien, die sicherlich wesentlich zur Variabilität der Daten beitragen, betreffen besonders die uneinheitliche Definition des PCLR-Schwellenwerts mit zwischen den Studien unterschiedlichen Schweregraden der Ausprägung soziopathischer Wesenszüge, die uneinheitliche phänotypische Charakterisierung der Probanden (z. B. kriminelle versus nicht kriminelle Soziopathen) und die verschiedenen Studiendesigns (z. B. Korrelations- und Regressionsanalyse versus Zwischengruppenanalysen). Die differierenden Befunde bei erfolglosen versus erfolgreichen Soziopathen und Befunde, wonach hirnstrukturelle Auffälligkeiten mit bestimmten Facetten des Soziopathiekonstrukts unterschiedlich korrelieren, verdeutlichen, dass Soziopathie kein homogenes Konstrukt ist, sondern darunter verschiedene Subgruppen zusammengefasst werden mit möglicherweise unterschiedlichen neurobiologischen Charakteristika, was ebenfalls zum Teil die inhomogenen Befunde
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bei sehr verschiedenartig definierten Stichproben erklären könnte. Erste, bisher unveröffentlichte Ergebnisse unserer eigenen strukturellen MRT-Studie bestätigen weitgehend die in der Literatur beschriebenen hirnstrukturellen Auffälligkeiten bei der von uns untersuchten Gesamtgruppe von 27 kriminellen männlichen Soziopathen (PCL-R ≥ 25). So fanden wir bei den untersuchten Soziopathen im Vergleich zu 27 männlichen Kontrollen Volumenminderungen der grauen Substanz im linken Orbitofrontalkortex, im temporalen Kortex sowie in Amygdala und Hippocampus. Darüber hinaus zeigten sich aber die deutlichsten Volumenminderungen bei der Gruppe der Soziopathen in zerebellären Regionen. Dies zeigt einmal mehr, dass das Zerebellum nicht nur an motorischen, sondern zudem an kognitiven und emotionalen Prozessen beteiligt ist. Hinzuweisen sei hier auf das von Schmahmann und Sherman (1998) beschriebene sog. zerebelläre affektive kognitive Syndrom: An Patienten mit Läsionen des Zerebellums beobachteten sie u. a. eine Dysregulation des Affekts mit Impulsivität, Reizbarkeit und Aggressivität, einen Mangel an Empathie und Störungen exekutiver Funktionen. Weitere Analysen unserer Daten sollen zeigen, inwieweit der Schweregrad der Ausprägung soziopathischer Wesenszüge und die beiden Komponenten des Konstrukts Soziopathie »emotionale Gleichgültigkeit« und »antisoziales Verhalten« unsere vorläufigen Ergebnisse zu den hirnstrukturellen Auffälligkeiten bei Soziopathie beeinflussen.
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Kapitel 13 · Hirnstrukturelle Auffälligkeiten bei Soziopathie
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Neuronale Korrelate der Empathie Birgit Derntl
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 14 · Neuronale Korrelate der Empathie
Die Fähigkeit, empathisch reagieren zu können, prägt unser soziales Verhalten. Obwohl eine einheitliche Definition bislang nicht existiert, herrscht Konsens darüber, dass es unterschiedliche Komponenten der Empathie gibt. In den letzten Jahren haben sich auch die Neurowissenschaften diesem Thema angenommen und vielfältig untersucht. Im Rahmen dieser Übersichtsarbeit werden Ergebnisse hinsichtlich der neuronalen Korrelate der Empathie bei Frauen und Männern vorgestellt. Darüber hinaus werden auch Befunde zu empathischen Dysfunktionen bei Patienten mit Schizophrenie berichtet.
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Einleitung
Empathie spielt eine wichtige Rolle innerhalb sozialer Gemeinschaften, denn erfolgreiches soziales Verhalten beinhaltet ein Verständnis für die Emotionen, das Verhalten und die Intentionen anderer. In der Psychologie stehen zahlreiche Definitionen dieses Begriffs nebeneinander, in denen auch die unterschiedlichen Auffassungen der zugrundeliegenden Prozesse von Empathie zum Ausdruck kommen. Einerseits verstehen einige theoretische Ansätze Empathie als automatische Reaktion, die durch emotionale Ansteckung im Sinne einer Simulation des Zustands einer anderen Person ausgelöst wird. Andererseits wird Empathie als kognitiver Prozess des Verstehens des inneren Zustands anderer angesehen, der höhere kognitive Operationen erfordert (vgl. Preston u. de Waal 2002). Decety und Lamm (2006) gelingt es, eine klare Trennung zwischen kognitiven und affektiven Komponenten bei Empathie vorzunehmen, indem sie 2 Prozesse des Empathiekonstrukts postulieren. Zum einen sei für die Emotionsnachempfindung ein »Bottomup-Prozess« verantwortlich, der automatisch und unbewusst abläuft. Zum anderen existiert eine exekutive Kontrolle als »Top-down-Prozess«, der eine bewusste kognitive Regulierung und Modulation von Empathie bewirkt. Nach Decety und Jackson (2004) stellt Empathie eine komplexe Form psychologischer Interferenz dar, in der Beobachtung, Gedächtnisleistung, Wissen und Schlussfolgern kombiniert werden, um Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer zu bekommen. Somit involviert Empathie nicht nur die Erkennung und das Verstehen des emotionalen Zustands anderer, sondern beinhal-
tet auch die affektive Erfahrung eines emotionalen Zustands. Decety und Jackson (2004) nehmen 3 funktionelle Komponenten der Empathie an, die dynamisch miteinander interagieren, sodass keine Komponente allein für das Konstrukt der Empathie stehen kann, sondern alle 3 Komponenten notwendig sind, um Empathie zu ermöglichen: 1. Emotionserkennung als Unterscheidung zwischen selbst erlebten und fremden Emotionen durch die Erkennung emotionaler Gesichtsstimuli, verbaler oder behavioraler Emotionsäußerungen 2. Perspektivenübernahme (kognitive Komponente) als Fähigkeit, die Sichtweise anderer unabhängig vom subjektiven Zugang zu übernehmen 3. Affektives Nacherleben (affektive Komponente) als Fähigkeit, eigene Emotionen empfinden zu können und folglich emotionale Zustände anderer zu simulieren z
Neuronale Korrelate der Empathie bei gesunden Personen
Empathie ist seit einigen Jahrzehnten ein Kernthema der kognitiven Neurowissenschaften. Durch bildgebende Verfahren ist es möglich, unterschiedliche Domänen der Empathie ausfindig zu machen und z. B. affektive oder kognitive Komponenten neuroanatomisch zu lokalisieren. Hinsichtlich der neuronalen Grundlagen der Empathie gehen die meisten Studien von einem geteilten neuronalen Netzwerk, den sog. »shared neural representations« aus (vgl. Preston u. de Waal 2002). Hierbei steht die Annahme im Vordergrund, dass das Beobachten anderer Personen in gewissen emotionalen Zuständen oder die Vorstellung dieser automatisch nicht nur eine neuronale Repräsentation dieses Zustands in uns auslöst, sondern auch die damit verbundenen autonomen und somatischen Prozesse. Das heißt, wenn wir versuchen zu verstehen, wie sich eine Person in einer gewissen Situation fühlt, dann simulieren wir diese Gefühle mittels unseres eigenen affektiven Programms (vgl. Singer u. Lamm 2009). Bildgebende Studien zur Empathie haben sich einer großen Anzahl an unterschiedlichen Aufgaben und Stimuli bedient. So kam eine große Bandbreite an Gefühlen zum Einsatz – von Schmerz
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14 · Neuronale Korrelate der Empathie
. Abb. 14.1 Grafische Darstellung der 3 Komponenten der Empathie und ihrer bislang zugeschriebenen neuronalen Korrelate bei gesunden Personen
über Ekel bis hin zu Freude – und auch die Aufgabe variierte diesbezüglich stark: von einfacher Beobachtung über Imagination bis hin zu Evaluation. Damit einhergehend wurden auch viele unterschiedliche neuronale Aktivierungen berichtet und die Frage aufgeworfen, welche Strukturen in einem generellen Empathienetzwerk enthalten sind. Im Rahmen einer aktuellen quantitativen Metaanalyse von 40 Studien mit funktioneller Kernspintomographie (fMRT) konnten Fanet al. (2011) nachweisen, dass unabhängig von der Emotion der linke dorsale anteriore midzinguläre Kortex (aMCC) eine Schlüsselstruktur für den kognitiven Anteil der Empathie darstellt. Hingegen kann eine Aktivierung der bilateralen anterioren Insula eher während affektiver Resonanz und emotionalem Erleben, sprich der affektiven Komponente der Empathie, beobachtet werden. Hinsichtlich der neuronalen Korrelate von Empathie bezogen auf Schmerzreize konnten Lamm et al. (2011) mittels Metaanalyse von 32 fMRT-Studien zeigen, dass die bilaterale anteriore Insula, der anteriore mediale zinguläre Kortex und posteriore zinguläre Kortex Schlüsselpositionen einnehmen und somit auch die Ergebnisse der Metaanalyse von Fan et al. (2011) teilweise bestätigen (. Abb. 14.1). Ein potenzieller Einflussfaktor sowohl auf die verhaltensmäßigen als auch die neuronalen Grundlagen der Empathie stellt das Geschlecht dar. Neben signifikanten Geschlechtsunterschieden in der Selbstdarstellung (Rueckert u. Naybar 2008), bei der sich Frauen als deutlich empathischer darstellen als Männer, zeigen einige Studien auch Ge-
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schlechterunterschiede in den zugrundeliegenden, neuronalen Korrelaten. So berichten Singer et al. (2006), dass Frauen eine neuronale Aktivierung in schmerzassoziierten Arealen zeigen, wenn andere Personen einen milden Elektroschock bekommen, selbst wenn diese zuvor unfair gespielt hatten. Hingegen zeigten Männer eine Aktivierung in belohnungsrelevanten Arealen, wenn die unfairen Spieler mittels Elektroschock bestraft wurden. Aktuellere fMRT-Studien konnten ebenfalls Geschlechterunterschiede aufzeigen: So berichten Schulte-Rüther et al. (2008), dass Frauen eher inferior-frontale und superior-temporale Regionen zur emotionalen Perspektivübernahme rekrutieren, während Männer stärkere Aktivierung in der linken temporoparietalen Übergangsregion aufweisen. Ein ähnlicher Effekt zeigte sich in einer fMRTStudie aus unserer Gruppe (Derntl et al. 2010), bei der wir die 3 Komponenten der Empathie mittels einzelner Paradigmen bei Frauen und Männern untersuchten. So schätzten sich die Frauen nicht nur empathischer ein, sondern wiesen auch eine stärkere Aktivierung emotionsassoziierter Areale auf, z. B. der Amygdala, während die männlichen Teilnehmer eher kognitionsbezogene Regionen, wie z. B. die temporoparietale Übergangsregion, rekrutierten. Somit zeigten sich erste Hinweise, dass Frauen und Männer auf unterschiedliche Verarbeitungsstrategien zurückgreifen, wenn sie emotionale, empathische Fähigkeiten messende Aufgaben lösen. Allerdings konnte die Metaanalyse von Lamm et al. (2011) keinen Geschlechtereffekt nachweisen und in der Metaanalyse von Fan et al. (2011) wurde dieser Faktor nicht in die Berechnungen mitaufgenommen. Daher sind weitere Untersuchungen zu dieser Fragestellung essenziell, um klären zu können, in welchem Ausmaß diese Geschlechterunterschiede tatsächlich vorliegen, welche Regionen sie betreffen und unter welchen Bedingungen sie auftreten. z
Neuronale Korrelate der Empathie bei Schizophrenen
Defizite in emotionalen Fähigkeiten kennzeichnen Patienten mit Schizophrenie. Hinsichtlich empathischer Fähigkeiten schätzen sich schizophrene Patienten nicht nur signifikant schlechter ein, sie zeigen auch auf Verhaltensebene immense Beein-
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Kapitel 14 · Neuronale Korrelate der Empathie
trächtigungen in allen Kernkomponenten, die auch mit der vorherrschenden Psychopathologie assoziiert sind und eine neuronale Dysfunktionalität präfrontal-limbischer Areale vermuten lassen (Derntl et al. 2009). Sie weisen daher ein viel umfassenderes Defizit emotionaler Kompetenzen auf als bislang angenommen. Hinsichtlich der neuronalen Grundlagen dieser Empathiedefizite haben sich die meisten bildgebenden Studien bislang auf eine Komponente beschränkt. Bezüglich Emotionserkennung wird hauptsächlich eine Hypoaktivierung jener Regionen berichtet, die zur Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke beitragen, z. B. Gyrus fusiformis, Insula, Amygdala (z. B. Habel et al. 2010). Unter Verwendung ähnlicher Cartoonaufgaben untersuchten sowohl Benedetti et al. (2009) als auch Lee et al. (2010) die neuronalen Substrate der kognitiven und affektiven Empathie bei schizophrenen Patienten. Während Benedetti et al. (2009) eine stärkere Aktivierung des rechten Gyrus temporalis superior bei der Bearbeitung affektiv-empathischer Cartoons beobachteten, berichten Lee et al. (2010) eine stärkere Aktivierung der linken Insula für diese Bedingung. Hinsichtlich der kognitiven Empathie berichten beide Studien eine signifikante Beteiligung des rechten Gyrus temporalis superior in der Patientengruppe. In einer aktuellen fMRT-Studie haben wir die 3 Komponenten der Empathie schizophrenen Patienten separat vorgegeben. Die Verhaltensdaten weisen auf signifikante Beeinträchtigungen in den einzelnen Empathiekompetenzen der Patienten hin, die die Annahme eines generellen Empathiedefizitsweiter stützen. Die Analyse der fMRT-Daten ließ eine Wechselwirkung zwischen Gruppe und Aufgabe erkennen, wobei die Patienten großteils eine Hypoaktivierung in emotionsassoziierten Arealen wie dem medialen anterioren zingulären Kortex oder auch in sog. Mentalizing-Arealen wie dem Precuneus und dem Gyrus frontalis inferior, beide bilateral, über alle 3 Bedingungen hinweg aufweisen. Dies deutet darauf hin, dass Patienten bei sämtlichen Anforderungen der Empathie eine Minderaktivierung der emotionalen Areale zeigen, die eine mangelnde emotionale Reagibilität auf Emotionen anderer suggeriert. Sowohl in der Wahrnehmung als auch der Verarbeitung dieser emotionalen Reize und in grundle-
genden empathischen Fähigkeiten haben die Patienten demnach Schwierigkeiten, die sich auch auf neuronaler Ebene abbilden. Darüber hinaus lassen diese Befunde den Schluss zu, dass es sich bei der Schizophrenie um eine genuine Störung von emotionalen Fähigkeiten handelt, die durch Dysfunktionen in den zugrundeliegenden neuronalen Netzwerken charakterisiert ist und nicht allein als Folge weiterer neuropsychologischer Defizite verstanden werden kann.
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14 · Neuronale Korrelate der Empathie
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Neurobiologie der Aggression Katja Bertsch
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Aggression ist ein weitverbreitetes soziales Verhalten, mit dem nahezu jeder irgendwann in seinem Leben konfrontiert wird, sei es als Täter, Opfer oder Beobachter (Renfrew 1997). Die Allgegenwart aggressiven Verhaltens im täglichen Leben und seine weltweit enormen sozialen und ökonomischen Kosten (Krug et al. 2002) verdeutlichen die Relevanz der Untersuchung von Ursachen und Folgen aggressiven Verhaltens. Obwohl Aggression schon seit jeher ein zentrales Thema der Psychologie und Psychiatrie darstellt, ist bisher nur wenig über ihre neurobiologischen Grundlagen bekannt. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass aggressives Verhalten multiple soziale, psychische und biologische Ursachen und Folgen hat (Anderson u. Bushman 2002). Dieses Kapitel versucht, einen kurzen Überblick über aktuelle Erkenntnisse der neurobiologischen Grundlagen von Aggression zu geben.
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Aggression – Definition und Klassifikation
Aggression wird im Allgemeinen definiert als jedes Verhalten, das darauf abzielt, einem anderen Lebewesen einen Schaden oder eine Verletzung zuzufügen, welches diese Behandlung zu vermeiden versucht (Baron u. Richardson 1994, S. 7). Trotz anhaltender Kritik (z. B. Bushman u. Anderson2001) ist eine Klassifizierung aggressiven Verhaltens in impulsive und instrumentelle Aggression in der neurobiologischen Aggressionsforschung immer noch gängig (Blair 2010). Während als impulsive Aggression eine gedankenlose und gefühlsgetriebene Reaktion auf eine Provokation, Bedrohung oder Frustration bezeichnet wird, ist instrumentelle Aggression ein geplantes, proaktives und zielgerichtetes Verhalten. Aggression wird bei Letzterem also als Mittel zur Erreichung anderer Ziele – etwa um an die Besitztümer des Opfers zu gelangen– eingesetzt (Berkowitz 1993; Bushman u. Anderson 2001). Beide Formen der Aggression sind Bestandteil und Ursache zahlreicher psychiatrischer Störungen, z. B. der Borderline-Persönlichkeitsstörung, der antisozialen Persönlichkeitsstörung oder von Verhaltens- und Anpassungsstörungen (z. B. Dougherty et al. 1999; Giegling et al. 2009). Es wird vermutet, dass impulsive Aggression auf einer dysfunktionalen Regulation von Emotionen basiert (Davidson et al. 2000), während instrumentelle Aggression eher mit Defiziten in emotionalem Empfinden, Em-
pathie und Reue zusammenzuhängen soll (Blair 2010). z
Neuronales Netzwerk der Aggression
Als neuronale Grundlage von Aggression wird daher ein frontolimbisches System der Emotionsverarbeitung und -regulation angesehen. Als wichtigste Komponenten dieses Systems beschrieben Davidson et al. (2000) die Amygdala, den anterior-zingulären Kortex (ACC), die Insula sowie präfrontale Regionen, insbesondere den orbitofrontalen (OFC), dorsolateralen präfrontalen (DLPFC) und den ventromedialen präfrontalen (VMPFC) Kortex. Darüber hinaus weisen tierexperimentelle Studien auf die entscheidende Rolle eines hierarchischen subkortikalen Systems, bestehend aus medialer Amygdala, Hypothalamus und periaquäduktalem Grau (PAG) für die Entstehung aggressiven Verhaltens hin (Siegel u. Victoroff 2009). Eine elektrische Stimulation bzw. Läsionierung dieser Strukturen führt direkt zur Auslösung bzw. Reduktion aggressiver Angriffe bei Nagetieren, Katzen und nichthumanen Primaten (Kruk et al. 2004; Lipp u. Hunsperger 1978; Siegel 2005). Über den Hypothalamus besteht eine direkte Verbindung zum endokrinen System (Rushton 2009). Dem frontolimbischen System, insbesondere dem orbitofrontalen Kortex, wird eine modulierende, regulierende und kontrollierende Rolle über direkte und indirekte, wahrscheinlich serotonerge Projektionen zu oben genannten Strukturen zugedacht (Summers u. Winberg 2006; Toth et al. 2010). Zahlreiche Humanstudien konnten mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT), Positronenemissionstomographie (PET) und Elektroenzephalographie (EEG) eine Beteiligung des frontolimbischen Systems an der Verarbeitung von Ärger sowie bei Impulsivität und Aggression untermauern (siehe z. B. Blair 2010). Allerdings untersuchten bisher nur wenige Studien die neuronalen Korrelate von Provokation, Aggression und Rache online, also während oder nachdem Probanden experimentell zu aggressivem Verhalten provoziert wurden. Krämer et al. (2007) fanden bei gesunden Probanden eine erhöhte Aktivität in der anterioren Insula und im rostralen sowie dorsalen ACC infolge einer starken Provokation. In 2 eigenen EEG-Studien (Bertsch et al. 2009,
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2011) zeigte sich eine generell erhöhte Relevanz für emotionale Gesichtsausdrücke bei gesunden Probanden, nachdem sie für 10 min stark provoziert wurden, gegenüber einer nur wenig provozierten Kontrollgruppe. Darüber hinaus berichten Krämer et al. (2007) erhöhte Aktivierungen im medialfrontalen Kortex bei stark provozierten Probanden, die sich hierfür jedoch nicht oder kaum bei einem gemeinen Mitspieler rächten. Im EEG zeigte sich in 2 ähnlichen Studien derselben Arbeitsgruppe zum einen ein erhöhtes frontolaterales, ereigniskorreliertes Potenzial (Krämer et al. 2008) und zum anderen erhöhte frontale Thetaaktivität (Krämer et al. 2009) bei Probanden, die sich nicht für aggressive Provokationen ihrer Mitspieler rächten. Beides könnte auf erhöhte Aktivierungen im dorsalen ACC zur Kontrolle reaktiver Aggression hinweisen. Passend hierzu fand sich bei Probanden, die auf diese Provokationen mit reaktiver Aggression reagierten, eine erhöhte frontale Thetaaktivität (Krämer et al. 2009). Können Probanden beobachten, wie ein Mitspieler unter einer von ihnen ausgeführten aggressiven Handlung leidet, so führt dies zu einer erhöhten Aktivität im orbitofrontalen und ventromedial präfrontalen Kortex (Lotze et al. 2007), welche positiv mit der dispositionalen Empathie der Probanden zusammenhängt. Insgesamt können diese Studien also die regulierende Rolle präfrontaler Regionen während und nach Provokationen, dem Ausführen und dem Beobachten der Konsequenzen impulsiver (reaktiver) Aggression belegen. Die geringe Anzahl der Studien weißt jedoch auf einen weiterhin großen Forschungsbedarf in diesem Bereich hin. Die Untersuchung der neuronalen Aktivität pathologisch aggressiver oder impulsiver Probanden während und nach Provokationen sowie dem Ausführen aggressiver Handlungen und der Vergleich dieser mit wenig aggressiven Probanden könnte weiteren Aufschluss über neuronale Grundlagen der Aggression geben. Bisherige Studien konzentrierten sich überwiegend auf den Zusammenhang von dispositioneller Impulsivität und Aggressivität mit der Verarbeitung bedrohlicher (sozialer) Informationen, insbesondere von wütenden Gesichtsausdrücken. Bei Personen mit erhöhter Impulsivität oder Aggressivität konnte übereinstimmend eine Hyperaktivität der Amygdala während der Betrachtung wütender
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Gesichter gezeigt werden – unabhängig davon, ob es sich um gesunde Probanden oder Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung oder Impulskontrollstörung handelte (z. B. Coccaro et al. 2007; Herpertz et al. 2001). Weiterhin berichten einige Studien über einen negativen Zusammenhang zwischen Impulsivität und der Konnektivität von Amygdala und orbitofrontalem Kortex (z. B. Fritzgerald et al. 2006; Schulze et al. 2011). Insgesamt können diese Ergebnisse eine hyperreagible Amygdala und eine dysfunktionale präfrontale Regulation amygdalärer Aktivität als neuronales Korrelat der Impulsivität und impulsiver Aggression belegen. Darüber hinaus spielen das ventrale Striatum und das ventrale und dorsale ACC eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung wütender Gesichtsausdrücke. Während Vermeidungstendenzen bei gesunden Probanden mit einer erhöhten Aktivierung im dorsalen ACC und einer verminderten Aktivierung in der Insula zusammenhängen, korrelieren Annäherungs- oder Kampftendenzen mit verminderten Aktivierungen im ventralen Striatum und ventralen ACC sowie mit einer erhöhten Amygdalaaktivität (z. B. Beaver et al. 2008; Passamonti et al. 2008). Weitere Untersuchungen deuten darüber hinaus auf einen Zusammenhang instrumenteller Aggression mit einer Hyperreagibilität der Amygdala und des orbitofrontalen Kortex hin (Blair 2004, 2010), welche Grundlage der mangelnden Emotionalität, Empathie und Reue sein könnten. z
Neuroendokrinologie der Aggression
Trotz teilweise inkonsistenter Ergebnisse, wahrscheinlich aufgrund von unterschiedlichen psychometrischen und endokrinen Messverfahren und Prozeduren, verdichten sich die Hinweise auf einen negativen Zusammenhang zwischen basalen (tonischen), also in Ruhe gemessenen Kortisolspiegeln und Aggressivität oder impulsiver Aggression. Erstaunlicherweise besteht dieser Zusammenhang sowohl bei Nagetieren (z. B. Haller et al. 2004) als auch bei gesunden (z. B. Böhnke et al. 2010a, 2010b) und pathologisch aggressiven oder impulsiven Menschen (z. B. Cappadocia et al. 2009; van Goozen et al. 2007). Darüber hinaus zeigen tierexperimentelle und Humanstudien, dass die akute Verabreichung synthetischer Glukokortikoide (Hydrokortison beim Menschen und Kortikoste-
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Kapitel 15 · Neurobiologie der Aggression
ron bei Nagern) zu einer Veränderung aggressiven Verhaltens führen kann. Bei äußerst aggressiven, hypochortisolären Nagern führt die Kortikosteroninjektion zu einer »Normalisierung« des aggressiven Verhaltens (Halász et al. 2002). Bei gesunden Nagern kann hiermit aber auch die Schwelle zur Auslösung von aggressiven Attacken durch elektrische Stimulation heruntergesetzt werden, d. h., aggressive Attacken werden nach einer Kortikosteroidinjektion leichter ausgelöst (Kruk et al. 2004). Beim Menschen führt eine einmalige orale Hydrokortisonverabreichung zu einer Reduktion von Geschlechtsunterschieden im aggressiven Verhalten: Während Frauen infolge dieser Administration erhöhte Aggression zeigen, ändert sich das Verhalten bei Männern, welche ohnehin schon höhere Aggression als Frauen zeigten, nicht (Böhnke et al. 2010b). Weitere Befunde deuten auf einen eher anxiolytischen Effekt einer einmaligen Kortisolgabe im Sinne einer Reduktion eines impliziten Bias für soziale Bedrohungsreize (Bertsch et al.2011; van Peer et al. 2010). Insgesamt deuten diese Ergebnisse also auf eine bedeutende Rolle des Stresshormons Kortisol im Rahmen aggressiven Verhaltens hin. Testosteron kann sicherlich als das am meisten diskutierte Steroidhormon bei der Entstehung von Aggression angesehen werden. Vor allem zur Erklärung von Geschlechtsunterschieden bei aggressivem Verhalten (Archer 2004) werden häufig geschlechtsbedingte Unterschiede im Testosteronspiegel als mögliche Ursache herangezogen. Die Befunde von neueren Metaanalysen finden jedoch kaum Bestätigung für diese Annahme und berichten über schwach positive Zusammenhänge zwischen Testosteronspiegeln und Aggression (Archer 2005; Book et al. 2001; Strüber et al. 2008). Interessant dabei ist vor allem, dass die größten positiven Zusammenhänge bei Frauen gefunden werden. Einige Studien finden darüber hinaus eine Fokussierung auf bedrohliche soziale Information und ein erhöhtes Misstrauen bei Probanden – meist weiblichen Probandinnen – infolge einer oralen Testosterongabe (Bos et al. 2010; Hermans et al. 2008). Ein relativ neues Modell sieht in der Kombination niedriger basaler Kortisol- und hoher basaler Testosteronspiegel eine wichtige Grundlage von Aggression (van Honk et al. 2010). Jedoch fehlen noch weitere empirische Belege für einen solchen
Zusammenhang. Verschiedene Hormone des Hypothalamus-Hypophysen-Systems (wie z. B. Kortisol, Testosteron, aber auch Oxytozin) scheinen eine bedeutende Rolle bei der Verarbeitung und Regulation von Emotionen und der Entstehung von Aggression zu spielen. Insgesamt deutet immer mehr auf einen konditionalen und kontextabhängigen endokrinen Einfluss auf die Verarbeitung sozialer Reize und hierüber auf das Verhalten hin: Abhängig von der jeweiligen Situation verstärken Hormone diejenige Handlungstendenz, welche in dieser spezifischen Situation adaptiv erscheint, sei es Flucht oder Kampf (de Kloet et al. 1999; Putman u. Roelofs 2011). Dysregulationen im basalen (tonischen) Hormonhaushalt, aber auch in der situativen (phasischen) Anpassung könnten dann zu einer veränderten Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen und darüber zu Verhaltensänderungen wie etwa zu unangemessener impulsiver Aggression führen. Dies würde unter anderem den tierexperimentellen Befunden Rechnung tragen, welche erhöhte Aggression sowohl bei hypo- als auch hyperkortisolären Tieren fanden (Haller u. Kruk 2006). z
Neurobiologie der Aggression – Fazit und Ausblick
Aggression ist ein komplexes Verhalten mit multiplen sozialen, psychischen und biologischen Ursachen und Folgen (Anderson u. Bushman 2002). Die entscheidende Rolle des frontolimbischen Emotionsregulationsnetzwerks gilt für die Modulation aggressiven Verhaltens inzwischen als relativ gut belegt (Blair 2010; Davidson et al. 2000). Weitere Studien sind jedoch zur Klärung der Rolle von Hypothalamus und periaquäduktalem Graus bei der menschlichen Aggression notwendig. Darüber hinaus sollten zukünftige Humanstudien den Einfluss des endokrinen Systems auf Aggression untersuchen. Auch hier könnte eine Untersuchung der Involviertheit des Hypothalamus als entscheidende Schnittstelle zwischen Aggressions- und endokrinem System wertvolle Erkenntnisse liefern. Weiterhin stehen systematische Untersuchungen der neurobiologischen Ursachen von Geschlechtsunterschieden in aggressivem Verhalten sowie von neurobiologischen Veränderungen infolge von Psychotherapie und Psychopharmako-
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logie aus. Nicht vergessen werden darf letztendlich eine gründliche Diskussion potenzieller Folgen der neurobiologischen Aggressionsforschung für die Begutachtung und Behandlung von beispielsweise gewalttätigen Straftätern.
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Kapitel 15 · Neurobiologie der Aggression
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Neuronale Korrelate von Frustration und Impulsivität Christina Pawliczek
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 16 · Korrelate von Frustration und Impulsivität
Aggression und Impulsivität haben weitreichende sozioökonomische Folgen. Jährlich sterben weltweit 1,43 Mio. Menschen infolge selbstverschuldeter oder interpersoneller Gewalt (WHO). In Deutschland stieg die Zahl der Gewaltverbrechen von 1993 bis 2009 um fast ein Drittel auf 208.446 Fälle, im Vollzug wurden bei 88 % aller Männer und Frauen psychische gewaltassoziierte Erkrankungen festgestellt (von Schönfeld et al. 2006). Viele Studien haben in der Vergangenheit neuronale und Verhaltensgrundlagen von aggressivem Verhalten in pathologisch gewalttätigen Gruppen untersucht. Trotz der Tatsache, dass Aggressivität als Kontinuum zwischen normaler und pathologischer Verhaltensreaktion gesehen werden kann und damit Untersuchungen in Gruppen mit niedriger und hoher Traitaggressivität und -impulsivität vielversprechend wären, gibt es dazu bisher keine Ergebnisse. Daher wird im Folgenden eine Untersuchung zu neuronalen und Verhaltenskorrelaten von Frustration und Impulsivität bei Männern mit hohen und niedrigen Ausprägungen dieser Wesenszüge vorgestellt.
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Einleitung
Ein Gefühl der Frustration, wie es beispielsweise auftritt, nachdem ein persönliches Ziel nicht erreicht wurde, wird vielen von uns bekannt sein. Häufig geht es einher mit einem starken Ärgerempfinden. Frustrationen werden als aversiv beschrieben und können Aggressionen bzw. aggressives Verhalten hervorrufen. Aggression kann dabei eine durchaus angemessene Verhaltensreaktion auf Frustration und auch Bedrohung darstellen. Wird sie allerdings häufig anstatt einer prosozialen Verhaltensalternative gewählt oder ist sie überstark, kann sie als pathologisch gelten. Dies ist bei verschiedenen psychiatrischen Störungsbildern zu beobachten, so z. B. bei antisozialer (ASPS) oder auch der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). In der Literatur wird häufig zwischen impulsiver und instrumenteller Aggression unterschieden. Erstere ist dabei stark emotional motiviert und kann als Reaktion auf Bedrohung/Frustration gesehen werden, während instrumentelle Aggression geplant, zielgerichtet und nicht notwendigerweise emotional ist. Borderline- und auch die antisoziale Persönlichkeitsstörung gehen mit einem erhöhten Risiko für impulsive Aggression einher, während ein erhöhtes Maß an instrumenteller Aggression
häufig bei Psychopathie zu beobachten ist. Das aggressive Verhalten resultiert dabei aus einer mangelnden Verhaltenskontrolle. Die entsprechende Person ist oft unfähig, ihren Ärger und ihre Frustration zu kontrollieren. Damit ist ein Defizit in der Verhaltenskontrolle bzw. ein erhöhtes Maß an Impulsivität ein weiterer wichtiger Faktor im Zusammenhang mit Aggressivität. Impulsivität wird definiert als ein Verhalten ohne vorherige adäquate Gedanken sowie eine Prädisposition zu schnellen, ungeplanten Reaktionen, ohne deren negative Konsequenzen in Betracht zu ziehen. Deutlich wird der Zusammenhang auch noch einmal in den mit Aggressivität assoziierten Störungsbildern. In den Kriterien für die BPS werden unangemessene, heftige Wut bzw. Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren, aufgeführt. Die Kriterien der ASPS beinhalten eine geringe Frustrationstoleranz und impulsiv-aggressives Verhalten. In verschiedenen Studien mit oft sehr unterschiedlichen Probandengruppen wurden die zugrunde liegenden neuronalen Korrelate von Frustration und Impulsivität untersucht. So finden sich, bezogen auf die Frustration, Aktivierungen in der linken (Rilling et al. 2002) und rechten anterioren Inselrinde sowie im rechten ventralen Präfrontalkortex (Abler et al. 2005). Als Paradigmen zur Induktion von Frustration wurden hier das sog. Gefangenendilemma und ein Test mit monetären Leistungsanreizen benutzt. Im Letztgenannten wurden die Probanden in 40 % der Fälle trotz korrekter Lösung der Aufgabe nicht belohnt. Für die experimentelle Untersuchung des Impulsivitätskonzepts wurden häufig Inhibitionsparadigmen wie der Go/No-go-Test und der Stop-Signal-Test eingesetzt. Letztgenannter scheint für die Untersuchung von Inhibitionsprozessen geeignet und kam außerdem in der vorliegenden Untersuchung zum Einsatz. Die erfolgreiche Inhibition in diesem Paradigma wird in Zusammenhang gebracht mit Aktivierungen in einem Kreislauf, der den Frontalkortex, genauer gesagt den inferioren, mittleren und medialen Frontalkortex, sowie die Basalganglien umfasst (Verbruggen u. Logan 2008). Dahingegen finden sich die neuronalen Korrelate nicht erfolgreicher Inhibitionsprozesse in medialfrontalen Regionen, genauer gesagt dem anterior-zingulären
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16 · Korrelate von Frustration und Impulsivität
Kortex (ACC; dorsaler Teil), im prä-/supplementär-motorischen Areal (prä-SMA) und in mittleren frontalen Arealen. Da die Aktivierung des ACC in einigen Studien allerdings auch bei erfolgreicher Inhibition beobachtet wurde, wird angenommen, dass diese Region auch in Kontroll- bzw. sog. Monitoringprozesse der Inhibition mit eingebunden ist. Medialfrontale Regionen werden häufig mit der Fehler- sowie Konfliktdetektion bzw. dem Verhaltensmonitoring in Verbindung gebracht, während mittlere Frontalkortexregionen mit Verhaltensanpassung nach Fehlern oder Konflikten assoziiert werden. Sowohl der Frustration als auch der Impulsivität scheint also eine Kontrolle durch präfrontale Regionen gemein zu sein. Auch bei der Regulation und Verarbeitung von Aggression fanden viele Studien eine Involvierung des frontalen Kortex. Dementsprechend gibt es in der Literatur viele Untersuchungen zu Ärger und Aggressionsverarbeitung, die auf dysfunktionale Präfrontalkortexfunktionen bei gewalttätigen oder aggressiven Populationen hinweisen. Ein weiteres Gehirnareal, welches beeinträchtigt zu sein scheint, ist die Amygdala. Diese ist Teil des limbisches Systems und als solcher bedeutsam für die Emotionserkennung und -verarbeitung. Bezogen auf das Verhalten lässt sich festhalten, dass allerdings auch schon gesunde Probanden mit hoher Traitaggressivität aggressiver reagieren als ihre Vergleichsgruppe (Zeichner et al. 1999). Trotz dieser Befunde und der Tatsache, dass die Trennlinie zwischen normaler und pathologischer Aggression weder eindeutig noch fest ist, betrachten wenige Studien das Konstrukt Aggressivität als ein Kontinuum. Die wenigen bestehenden Vorbefunde zeigen, dass gesunde männliche Probanden mit hoher Traitpsychopathie erhöhte Aktivierungen in frontalen Arealen zeigen, während die Amygdalaaktivität in der hohen im Vergleich zur niedrigen Gruppe sowohl erhöht (Gordon et al. 2004),als auch verringert (Rilling et al. 2007) sein kann. Bisher wurde noch keine bildgebende Untersuchung bei gesunden männlichen Probanden mit hohen und niedrigen Ausprägungen von Aggressivität und Impulsivität durchgeführt. Daher lautete die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung: Was sind die neuronalen und Verhaltenskorrelate von
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Frustration und Impulsivität bei gesunden Männern mit hoher und niedriger Traitaggressivität und Traitimpulsivität? z
Eigene Untersuchung
Für diese Studie wurden daher 550 gesunde männliche Studenten verschiedener Fachrichtungen der RWTH Aachen mit 2 kurzen Fragebögen untersucht. Dieses war zum einen die Barratt-Impulsiveness-Skala (BIS; Patton et al. 1995), zum anderen der Aggressionsfragebogen (AQ; Buss u. Perry 1992). Die Studenten wurden dann auf Basis ihrer Werte in dem AQ und in der BIS (oberhalb des 85./75. bzw. unterhalb des 15./25. Perzentils) 2 Gruppen zugeteilt. Zum einen eine Gruppe mit hoher Traitaggressivität und -impulsivität (HA, 21 Probanden), zum anderen eine Gruppe mit niedriger Traitaggressivität und -impulsivität (LA, 18 Probanden). Die Gruppen unterschieden sich weder in ihrem Durchschnittsalter, ihrem IQ noch in den erhobenen neuropsychologischen Testverfahren zu Aufmerksamkeit und Gedächtnisfunktionen. Neben einer ausführlichen Erhebung der aggressiven Tendenzen beider Gruppen, unter anderem mit dem Freiburger Aggressions-Inventar (FAI), der Life History of Aggression und dem Psychopathy Personality Inventory (PPI-R) wurden die fMRT-Daten (fMRT = funktionelle Magnetresonanztomographie) mittels eines SiemensTrio-3T-Scanners erhoben. Zu Beginn der fMRT-Messung wurde zunächst das Impulsivitäts-/Inhibitionsparadigma ausgeführt. Dabei handelte es sich um die emotionale Variante des sog. Stop-Signal-Tests. Das Paradigma wurde in vorherigen Studien oft verwendet, um motorische Impulsivität zu untersuchen (Li et al. 2006). Impulsivität und Aggressivität treten oft in sozialen Situationen, beispielsweise in Interaktion mit anderen, auf. Daher haben wir eine emotionale Variante des Tests mit männlichen und weiblichen Gesichtsfotografien, die jeweils einen ärgerlichen oder neutralen Gesichtsausdruck haben, entwickelt. 400 Gesichtsstimuli werden dabei kontinuierlich präsentiert. Aufgabe der Probanden ist es, auf jedes Gesicht so schnell wie möglich per Tastendruck zu reagieren (»Go-Signal«), aber immer darauf gefasst zu sein, dass ein gelber Rahmen auftauchen kann (»Stop-Signal«). Tritt dieses Ereignis
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ein, ist es Aufgabe der Probanden, die Reaktion zurückzuhalten. 100 von den 400 Gesamtstimuli werden dabei Stop-Signale sein. Durch Anpassung der Zeiten, zu denen der gelbe Rahmen auftaucht, wird sichergestellt, dass jeder Proband eine gleiche Anzahl von inhibierten und nichtinhibierten StopSignalen erzielt, was besonders für die Auswertung der fMRT-Daten Relevanz hat. In einem zweiten Paradigma werden den Probanden nach der visuellen Präsentation einer Sequenz lösbarer Anagramme nur noch unlösbare Anagramme gezeigt, was zu Frustration und Ärger führt (Schneider et al. 1996). Für diesen sog. Anagrammtest werden 48 Anagramme von deutschen Hauptwörtern präsentiert. Die Wörter bestehen aus jeweils 4 Buchstaben, 24 der Anagramme sind lösbar, die anderen 24 sind unlösbar. Die Probanden haben für die Bearbeitung jedes Anagramms 7 Sekunden Zeit, nach 4 Sekunden bekommen sie bereits den Hinweis »Bitte antworten!«. Zur Steigerung der Motivation und Selbstrelevanz wird den Probanden vorab mitgeteilt, dass die Anagramme im Laufe der Testung schwieriger werden, dass sie bei guter Performanz allerdings zusätzliches Geld gewinnen können. Nach jedem gelösten Anagramm kommt daher ein Smiley mit dem Hinweis »Du hast 30 Cent gewonnen«, nach jedem ungelösten ein Frowney und der Hinweis »Du hast 30 Cent verloren«. Vor und nach diesem Paradigma wurde die aktuelle Stimmung der Probanden mit Hilfe der Positive and Negative Affective Scale (PANAS) sowie dem Emotional Self Rating (ESR) erhoben. Es wurde erwartet, dass HA im Vergleich zu LA auf allen eingesetzten Aggressionsskalen höhere Werte erzielen. Des Weiteren wurden, basierend auf den Vorbefunden, erhöhte Aktivierungen in frontalen, parietalen und limbischen (Amygdala und Inselrinde) Arealen während der Verarbeitung der unlösbaren Anagramme angenommen. Frontale Regionen sollten bei LA weniger aktiviert sein, während eine erhöhte Amygdalareaktion als Korrelat eines höheren Ärgerempfindens bei HA nach dem Anagrammtest erwartet wurde. Bezogen auf den Stop-Signal-Test wurde angenommen, dass HA während der Inhibitionsprozesse weniger Aktivierungen in mittleren und medialfrontalen Arealen aufweisen. Der ACC, als neuronales Korrelat von Monitoringprozessen, sollte bei HA ebenfalls
. Abb. 16.1 Aktivierungsmuster der Gruppe mit hoher (HA, oben) und niedriger (LA, unten) Traitaggressivität und -impulsivität im Vergleich Inhibition vs. Nichtinhibition
weniger aktiv sein und damit zusammen mit der niedrigeren frontalen Aktivität eine geringere Reaktion auf Inhibitionsfehler als auch weniger kognitive Kontrollprozesse bei der Konfliktdetektion zeigen. z
Resultate
Die Gruppe mit hoher Traitaggressivität und -impulsivität zeigte auf allen eingesetzten Aggressionsskalen höhere Werte. Besonders interessant sind hierbei die Werte des PPI-R-Faktors 2, da dieser impulsives Verhalten widerspiegelt. Auch der Gesamtwert des FAI sowie der Unterskalen reaktive und impulsive Aggressivität sind bei HA erhöht. Des Weiteren berichten HA verglichen mit LA wie erwartet mehr negativen Affekt (PANAS) sowie Ärger (ESR) nach dem Anagrammtest. Interessanterweise fanden sich weder im Anagrammtest noch im Stop-Signal-Test Unterschiede in der Performanz der beiden Gruppen. Die funktionellen Daten zeigten im Anagrammtest erhöhte frontale Aktivierungen sowie Aktivierungen im zingulären Gyrus der LA bei der Verarbeitung der unlösbaren Anagramme (. Abb. 16.1). Erstaunlicherweise fand sich allerdings eine Hypoaktivierung in der Amygdala in HA trotz erhöhter Ärgerwerte in dieser Gruppe. Beim Inhibitionsparadigma fanden sich höhere Aktivierungen im mittleren, medialen und inferi-
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dadurch in der Folge auch prosoziale Verhaltensalternativen zu wählen. z
. Abb. 16.2 Aktivierungsmuster der Gruppe mit hoher (HA, oben) und niedriger (LA, unten) Traitaggressivität und -impulsivität im Vergleich unlösbare vs. lösbare Anagramme
or-frontalen Kortex während der erfolgreichen Inhibition der Stop-Signale (. Abb. 16.2). Des Weiteren zeigte der ACC in der Gruppe mit hoher Traitaggressivität und -impulsivität mehr Aktivität im Vergleich zur Gruppe mit niedrigen Werten. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass sich in beiden Paradigmen verminderte Aktivierungen im Frontalkortex von hoch aggressiven Probanden zeigen. Damit sind bereits in einer gesunden Stichprobe mit hoher Traitaggressivität und -impulsivität Gehirnregionen betroffen, die auch bei pathologischer Aggressivität eine Rolle spielen. Limbische Areale, die unterschiedliche Aktivierungen aufweisen, betreffen zum einen die Amygdala und zum anderen den anterioren zingulären Kortex, welcher neben kognitiven Kontrollprozessen auch an der Verarbeitung und Regulation von Emotionen beteiligt ist (Murphy et al. 2003). Interessanterweise zeigen die Gruppen allerdings keine Unterschiede in der Performanz bei beiden Aufgaben. Es scheint also, dass die beiden Gruppen sowohl bei der Verarbeitung von Frustration als auch bei Inhibitionsprozessen die jeweiligen neuronalen Netzwerke in unterschiedlichem Maße aktivieren, dass diese Unterschiede sich allerdings nicht im Verhalten niederschlagen. Anscheinend ist es Individuen mit hoher Traitaggressivität und -impulsivität also möglich, ihre Minderaktivierung mit Hilfe von alternativen Strategien zu kompensieren und
Ausblick
Festzuhalten ist, dass diese Untersuchung einen relevanten Beitrag für die Aggressionsforschung liefert, da es wichtig ist, Verarbeitungsprozesse zunächst im gesunden Gehirn zu verstehen, um daraus Rückschlüsse auf pathologisches Verhalten ziehen zu können. Ein wichtiger Faktor für das Auftreten von prosozialen Verhaltensalternativen ist sicher auch die Bereitschaft, diese einsetzen zu wollen, und bildet damit einen weiteren interessanten Forschungsansatz in einer ähnlichen oder auch anderen Probandengruppe. Daher möchten wir in weiteren Untersuchungen mit diesen oder verwandten Paradigmen auch psychiatrische Störungsbilder, wie beispielsweise die Borderlineoder antisoziale Persönlichkeitsstörung, untersuchen.
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Kapitel 16 · Korrelate von Frustration und Impulsivität
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Therapie bei psychischen Erkrankungen Kapitel 17
Die Bedeutung früher psychischer Störungen für das Erwachsenenalter am Beispiel der dissozialen Störungen – 103 Beate Herpertz-Dahlmann, Timo Vloet
Kapitel 18
Psychologische und neurobiologische Grundlagen von Persönlichkeitsstörungen – 109 Sabine C. Herpertz
Kapitel 19
Störungsorientierte, evidenzbasierte Psychotherapieverfahren am Beispiel der Borderline-Persönlichkeitsstörung – 115 Klaus Lieb
Kapitel 20
Integrierte Behandlung bei der Komorbidität Psychose und Sucht – 121 Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Thomas Schnell
Kapitel 21
Neurobiologie der Psychotherapie am Beispiel von Schizophrenie und Panikstörung – 127 Benjamin Straube, Axel Krug, Tilo Kircher
Kapitel 22
Das Unkontrollierbare kontrollieren mit Neurofeedback? – 135 Klaus Mathiak
Kapitel 23
Forschungsförderung und Psychotherapie – Status und Verbesserungsansätze – 141 Peter Falkai, Fritz Hohagen
IV
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Die Bedeutung früher psychischer Störungen für das Erwachsenenalter am Beispiel der dissozialen Störungen Beate Herpertz-Dahlmann, Timo Vloet
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 17 · Die Bedeutung früher psychischer Störungen
Während die Kinder- und Jugendkriminalität insgesamt in den letzten Jahren einen leichten Rückgang zeigt, haben Gewalthandlungen in dieser Altersgruppe deutlich zugenommen. Neben soziokulturellen Faktoren spielt die biologische Disposition für die Entwicklung dissozialen Verhaltens eine wesentliche Rolle. Es ist eine wichtige Aufgabe kinder- und jugendpsychiatrischer Forschung, »neurobiologische Marker« zu identifizieren und hieraus therapeutische Strategien abzuleiten. Diese sollten so früh wie möglich eingesetzt werden, um die Plastizität des sich entwickelnden Gehirns zu nutzen und der hohen Chronifizierungsneigung dissozialer Störungen entgegenzuwirken.
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Störungen des Sozialverhaltens, insbesondere Gewalthandlungen von Kindern und Jugendlichen, haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Ihre Prävalenz in Westeuropa und USA beträgt ca. 10 %, in kinder- und jugendpsychiatrischen Inanspruchnahmepopulationen sogar 30–50% (Schmeck u. Poustka 2000). Entsprechend der Kriminalstatistik des letzten Jahres bildeten Körperverletzungen im Jugendalter mit 24 % den höchsten Deliktanteil. Nicht wenige der Täter zeigen bereits als Kinder ausgeprägt aggressives und dissoziales Verhalten, das bei einem Teil der Betroffenen in der Adoleszenz an Häufigkeit und Schwere zunimmt und bis in das Erwachsenenalter bestehen bleiben kann. Als mit am besten gesicherter Risikofaktor für anhaltendes dissoziales Verhalten ist das Lebensalter zum Zeitpunkt der Manifestation der Symptomatik anzusehen (Übersicht s. Olsson 2009). Die Bedeutung des Manifestationsalters wurde primär in einer Langzeituntersuchung der Gruppe um Moffitt identifiziert, welche im Rahmen der sog. Dunedin-Studie eine große Geburtenkohorte zwischen dem 3. und 26. Lebensjahr in Neuseeland untersuchte (Moffitt et al. 2002). Die Gruppe um Moffitt etablierte die Begriffe des sog. »early starters« oder »Life-course-persistent-Typus«, bei dem die Symptomatik vor dem 10. Lebensjahr beginnt. Als »adolescent limited« oder »late starter« wird ein Typus bezeichnet, der nach diesem Alter, d. h. in der frühen Adoleszenz, erstmals ausgeprägt dissoziales Verhalten zeigt. Diese Klassifizierung entsprechend dem Manifestationsalter hat auch Ein-
gang in das DSM-IV gefunden (Übersicht s. Vloet u. Herpertz-Dahlmann 2011). Die Gruppe der »early starter« fällt durch gravierende dissoziale Handlungen auf, z. B. Tierquälerei, körperliche Aggressivität, Heimtücke, teilweise mit »psychopathischen« Eigenschaften. Der Ausdruck »Psychopathie« beschreibt dabei bestehende emotionale Auffälligkeiten wie Furchtlosigkeit und mangelnde Empathie, die eine Untergruppe von Individuen mit dissozialer Persönlichkeitsstörung zusätzlich charakterisieren (Herpertz u. Saß 2000). Des Weiteren weist die Gruppe der »early starter« eine erhöhte Rate an neuropsychologischen Störungen auf. Besonders hoch ist die Komorbidität mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). In Abhängigkeit von der Art der Erhebung sowie dem Alter der Stichprobe besteht bei 9–45 % der Kinder und Jugendlichen mit einer »conduct disorder« nach DSM-IV zusätzlich eine ADHS (Herpertz-Dahlmann et al. 2007; Übersicht s. De Brito u. Hodgins 2009). Jüngere Arbeiten weisen darauf hin, dass das gemeinsame Auftreten von »conduct disorder« und ADHS die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung deutlich erhöht (s. a. Vloet et al. 2006a). Entwicklungsstörungen wie die der Sprache, des Lesens und der Rechtschreibung sind in der Gruppe der »early starter« ebenfalls häufig. Ein großer Teil von ihnen weist darüber hinaus schon als Kind gestörte Beziehungen zu Gleichaltrigen auf. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass ca. 25–35 % der »early starter« als Erwachsene eine antisoziale Persönlichkeitsstörung (ASPD) entwickeln (s. auchVloet u. Herpertz-Dahlmann 2011). In der jüngeren Vergangenheit wurde versucht, mittels neurobiologischer Studien weitere Subtypen innerhalb der Gruppe der Individuen mit anhaltendem dissozialem Verhalten zu identifizieren, um sowohl in der Prävention als auch in der Therapie spezifischere Vorgehensweisen zu finden. Hierzu wurden psychophysiologische, neuroanatomische und neuroendokrinologische Untersuchungen durchgeführt.
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17 · Die Bedeutung früher psychischer Störungen
Psychophysiologie
Psychophysiologische Merkmale, insbesondere die Reagibilität des autonomen Nervensystems, reflektieren, wie das Wort bereits andeutet, die dynamische Wechselwirkung zwischen psychologischen und physiologischen Prozessen. Bei der Untersuchung des peripheren autonomen Nervensystems werden Hautleitwert und Herzfrequenz als Maße des autonomen Arousals angesehen. Zahlreiche Untersuchungen haben Hinweise auf eine verminderte autonome Reagibilität bei Probanden mit dissozialem Verhalten ergeben (Vloet et al. 2006b; Herpertz et al. 2008). Dieses »autonome Hypoarousal« wurde erstmals bei Probanden mit antisozialer Persönlichkeitsstörung, insbesondere beim psychopathischen Subtypus, gefunden. Insbesondere herabgesetzte Hautleitwertreaktionen auf unkonditionierte Stimuli während der Antizipation von Strafe und Gefahr konnten in mehreren Untersuchungen repliziert werden (Herpertz et al. 2001; für eine Übersicht s. Vloet et al. 2010). Aus diesen Befunden zur autonomen Hyporeagibiität ist die sog. Theorie der pathologischen Angstfreiheit abgeleitet worden (Herpertz u. Saß 2000). Entsprechend dieser Theorie ist niedriges autonomes Arousal mit geringem Angsterleben assoziiert, was wiederum zu reduzierten Lerneffekten negativer Konsequenzen führt. Dies erhöht das Risiko für delinquentes Verhalten und körperliche Aggressivität. Darüber hinaus wird postuliert, dass autonomes Hypoarousal von den Betroffenen als aversiv erlebt wird und so reizsuchendes Verhalten (in Form von körperlicher Aggressivität, Weglaufen, Diebstählen) begünstigt. Entsprechend konnten wir in einer eigenen psychophysiologischen Untersuchung zeigen, dass Jungen mit »conduct disorder« bzw. »kombinierter conduct disorder/ADHS« im Vergleich zu gesunden Kontrollen und zu Jungen mit »reiner« ADHS eine reduzierte autonome Reagibilität zeigten. In dieser Untersuchung wurden sowohl Ruhemessungen durchgeführt als auch Reaktionen auf Orientierungs- und Schreckreize sowie Arousalreaktionen beim Betrachten von Bildern unterschiedlichen emotionalen Inhalts erhoben (Herpertz et al. 2005). Die Befunde machen deutlich, dass bei dissozialen Kindern und Jugendlichen vergleichbare Auffälligkeiten wie bei erwachsenen Straftätern
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bestehen. In einer weiteren Untersuchung konnten wir zeigen, dass die leiblichen Väter der obengenannten Probanden durch eine vergleichbar verminderte autonome Reagibilität charakterisiert waren wie ihre Söhne (Herpertz et al. 2003). Da wir eine sehr hohe Korrelation der psychophysiologischen Parameter zwischen Vätern und Söhnen fanden, könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass autonome Hyporeagibilität zur Transmission dissozialen Verhaltens beiträgt. z
Neuroanatomie
Mit Hilfe der Magnetresonanztomographie (MRT) wurden in den letzten Jahren erstmals größere Stichproben von kindlichen Probanden mit Störungen des Sozialverhaltens im Vergleich zu gesunden Kontrollen untersucht (Übersicht bei Vloet et al. 2008). Diese Untersuchungen konnten übereinstimmend aufzeigen, dass sich ein vermindertes Volumen der grauen Substanz im Bereich des limbischen Systems und im präfrontalen Kortex nachweisen lässt (z. B. Hübner et al. 2008). Weiterhin konnte gezeigt werden, dass die strukturellen Veränderungen mit dem Grad der Ausprägung der aggressiven und dissozialen Verhaltensweisen korrelieren. Widersprüchliche Befunde ergaben sich im Bereich funktioneller MRT-Untersuchungen. Während unsere eigene Gruppe eine erhöhte Aktivierung der Amygdala bei »conduct disorder/ADHS« nachweisen konnte (Herpertz et al. 2008), fand sich bei anderen Untersuchungen ein gegenläufiger Befund, d. h. eine verminderte Aktivierung des limbischen Systems (Sterzer et al. 2005). Dabei zeigte sich, dass vor allem emotionale Einflüsse auf Seiten des Probanden, z. B. die Ausprägung der individuellen Ängstlichkeit bzw. psychopathischer Tendenzen, für die Befunde von wesentlicher Bedeutung waren. z z Dissoziales Verhalten und Angststörungen
Während die Komorbidität von ADHS und Störungen des Sozialverhaltens intensiv untersucht wurde, liegen zur Komorbidität von Angststörungen und Störungen des Sozialverhaltens nur wenige Befunde vor. Feldstudien zeigen auf, dass Prävalenzraten komorbider Angststörungen bei dissozialen Kindern und Jugendlichen zwischen 22 und 33 %
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Kapitel 17 · Die Bedeutung früher psychischer Störungen
Individuen mit früh beginnendem und stabilem dissozialem Verhaltens über die Lebensspanne Subtyp mit geringer Ängstlichkeit
Subtyp mit geringer Ängstlichkeit
Subtyp mit hoher Ängstlichkeit
5 Starke psychopathische Tendenzen
5 Keine psychopathischen Tendenzen
5 Keine psychopathischen Tendenzen
5 Reaktive und proaktive Aggressivität
5 Reaktive und proaktive Aggressivität
5 Vorwiegend reaktive Aggressivität
. Abb. 17.1 Individuen mit früh beginnendem und stabilem dissozialen Verhalten über die Lebensspanne
zu finden sind, in klinischen Populationen sogar zwischen 60 und 75 % (für eine Literaturübersicht s. Vloet u. Herpertz-Dahlmann 2011). Entsprechend bestehen auch bei erwachsenen Personen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung gleichzeitig Angststörungen (Lenzenweger et al. 2007). Vor allem De Brito und Hodgins (z. B.2009) haben die Bedeutung komorbider Ängstlichkeit bei dissozialen Störungen aufgegriffen, indem sie Ängstlichkeit als ein wichtiges Differenzierungskriterium innerhalb der Gruppe von Individuen mit dissozialem Verhalten kategorisieren. Die Autoren postulieren einen Subtyp mit hoher Ängstlichkeit und zusätzlichen internalisierenden Störungen und einen weiteren Subtyp mit keiner oder geringer Ängstlichkeit (. Abb. 17.1). Es wird weiterhin ein Subtyp mit geringer Ängstlichkeit und psychopathischen Merkmalen unterschieden, der u. a. durch ein autonomes Hypoarousal charakterisiert ist (s.o.). Neben reaktiver Aggressivität weisen diese Individuen häufig eine kontrolliert-proaktiv-instrumentell-räuberische Aggressivität auf, die durch operantes Konditio-
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nieren erworben wurde. Diese Form der Aggressivität wird instrumentell eingesetzt, um dadurch überlegt ein Ziel zu erreichen, welches über den kurzfristigen Effekt einer Schädigung des Gegners hinausgeht. Diese Form der Aggressivität ist überwiegend kognitiv gesteuert und mit positiven Konsequenzen verbunden, die das Verhalten des Aggressors verstärken (für eine Übersicht s. Vloet u. Herpertz-Dahlmann 2011). Hingegen findet sich bei dem Subtyp mit dissozialem Verhalten und hoher Ängstlichkeit eine impulsiv-reaktiv-feindselig-affektive Aggressivität, die mit hohen Emotionen, meist Angst oder Ärger, und einem autonomen Hyperarousal einhergeht. Die aggressiven
Handlungen erfolgen ungeplant und finden nach Zurückweisung oder Enttäuschung statt. z
Neuroendokrinologie
Wie schon lange bekannt ist, wird das autonome Arousal durch die Aktivität der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrindenachse beeinflusst. Diese wird durch limbische und kortikale afferente Bahnen aktiviert. Aufgrund der mittlerweile deutlich verbesserten Methoden zur Bestimmung von Kortisol, z. B. im Speichel, wurden in letzter Zeit zunehmend mehr Kinder und Jugendliche mit dissozialen Störungen in Bezug auf die Veränderung des Kortisols als Reaktion auf Stress untersucht. Bei Individuen mit niedriger Ängstlichkeit (»pathologische Angstfreiheit«) scheint ein inverser Zusammenhang zwischen der Höhe der Konzentration von Kortisol im Speichel und der Ausprägung dissozialer Verhaltensweisen zu bestehen. Dabei deutet sich ein Zusammenhang zwischen einer verminderten basalen Kortisolkonzentration und vermehrt aggressiven und delinquenten Verhaltensweisen (»proaktiv«, s. o.) an. Allerdings weisen viele dieser Studien methodische Probleme auf, z. B. zu geringe Probandenzahl, Nichtbeachtung der zirkadianen Rhythmik der Kortisolsekretion, keine Differenzierung nach dem Schweregrad der dissozialen Störung, keine Berücksichtigung traumatischer Erfahrungen in der Anamnese des Betroffenen, die die Aktivität der HypothalamusNebennierenachse verändern können etc. Hier sind weitere Studien vonnöten, die sehr differenziert zwischen den Subtypen dissozialen Verhaltens einschließlich der Form der Aggressivität und dem Manifestationsalter differenzieren.
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17 · Die Bedeutung früher psychischer Störungen
Schlussfolgerungen und Ausblick
Sogenannte neurobiologische Marker werden wahrscheinlich zukünftig bei der Differenzierung aggressiven Verhaltens wesentliche Hilfestellung geben. Diese hat Einfluss auf die Wahl der Therapie. So konnte z. B. gezeigt werden, dass dissoziale Kinder, die durch eine verminderte autonome Reagibilität charakterisiert waren, am wenigsten von einer Kombination aus kognitiver Verhaltenstherapie und Elterntraining profitierten (van de Wiel et al. 2004). Andererseits konnte durch eine sehr frühe psychosoziale Intervention Einfluss auf die autonome Reagibilität genommen werden (Raine et al. 2001). Es ist anzunehmen, dass Kinder mit hoher Ängstlichkeit und reaktiver Aggressivität eher vom Bindungsangebot einer psychotherapeutischen Beziehung profitieren, während Individuen mit gering ausgeprägter Ängstlichkeit andere therapeutische Angebote brauchen, wie z. B. vorwiegend kognitive Strategien zur Identifizierung und Abwägung eigenen dissozialen Handelns. Therapeutische Interventionen und Prävention müssen frühzeitig, d. h. am besten im Kindergarten- oder Vorschulalter einsetzen, um vor dem Hintergrund der Plastizität des sich entwickelnden kindlichen Gehirns langfristige Effekte zu erzielen.
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Kapitel 18 · Grundlagen von Persönlichkeitsstörungen
Traditionell gingen die Klassifikationssysteme von einer hohen Stabilität von Persönlichkeitsstörungsdiagnosen sowie von einem Fehlen nennenswerter zerebraler Funktionsbeeinträchtigungen aus. Die Persönlichkeitsstörungsforschung der letzten 20 Jahren konnte beide definitorischen Kriterien widerlegen. Ausgehend von der detaillierten Beschreibung der psychopathologischen Phänomene mittels experimentell psychologischer und psychopathologischer Forschung war die neurobiologische Forschung in der Lage, eine präfrontolimbische Dysfunktion bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung als Korrelat der charakteristischen Affektstörung zu detektieren und Hinweise für Auffälligkeiten im Opioidsystem zu finden. Eine Störungsspezifität dieser Befunde ist nicht bewiesen, sie könnten auch assoziiert mit grundlegenden Persönlichkeitsdimensionen sein, die in der zukünftigen Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen eine zentrale Rolle einnehmen sollen, auch wenn ihre klinische Brauchbarkeit fraglich bleibt.
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Persönlichkeitsstörungsdiagnosen im Wandel
Nach 25 Jahren intensiver PersönIichkeitsstörungsforschung stehen wir derzeit vor einer grundsätzlichen Revision der bisherigen Klassifikation auf diesem Gebiet, die die Grundpfeiler unseres bisherigen Verständnisses von Persönlichkeitsstörungen berührt. So wird in der noch aktuellen Definition von Persönlichkeitsstörungen in der DSM-IV-Klassifikation eine hohe Stabilität der Störung über die Zeit angenommen. Diese Definition entspricht der traditionellen Annahme, Persönlichkeitsstörungen ließen sich hinsichtlich ihres Verlaufs grundsätzlich den klassischen psychiatrischen Erkrankungen als episodenhaft oder schubförmig verlaufende Erkrankungen gegenüberstellen, verbunden mit einer schlechteren therapeutischen Beeinflussbarkeit. Ein großes Fragezeichen hinter diese Definition haben die Ergebnisse von Langzeitstudien (Collaborative Longitudinal Personality Disorders Study, CLPS: Gunderson et al. 2011; McLean Study of Adult Development, MSAD: Zanarini et al. 2006) gesetzt, die zeigen konnten, dass bereits nach 2 Jahren ein Drittel der Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung – aber in ähnlicher Weise auch bei solchen mit ängstlich-vermeidender und zwanghafter Persönlichkeitsstörung –nicht mehr
die diagnostischen Kriterien erfüllen und nach 10 Jahren nur noch 15 %. Diese überraschenderweise geringe diagnostische Stabilität ging allerdings mit keiner hinreichenden Verbesserung einher, vielmehr erreichten selbst nach 10 Jahren nicht mehr als 50 % ein ausreichendes psychosoziales Funktionsniveau. Weiterhin problematisch ist, dass Persönlichkeitsstörungen nach Beschreibung im DSM-IV nicht mit einer deutlichen Funktionsstörung des Gehirns einhergehen dürfen. Auch dieses Kriterium blickt auf eine lange Tradition zurück, die Persönlichkeitsstörungen im Rahmen des triadischen Systems als »Variation abnormen seelischen Erlebens« von den mit einem gesicherten organischen Korrelat einhergehenden organischen Psychosen und den mit einem vermuteten, wenn auch noch nicht sicher identifizierten organischem Korrelat assoziierten endogen Psychosen abgrenzte. Dieser Konzeptionalisierung steht eine wachsende Reihe von neurowissenschaftlichen Untersuchungen entgegen, die vor allem bei der Borderline- und der antisozialen Persönlichkeitsstörung eindrucksvolle Normabweichungen in umschriebenen Hirnfunktionen nachweisen konnten und eine scharfe Grenzziehung zwischen biologischer und psychogener Genese als problematisch erscheinen lassen. In den 1980er Jahren war die Realisierung einer reliablen Diagnostik von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen für die psychiatrische Forschung auf diesem Gebiet entscheidend und wurde in Deutschland vor allem von Henning Saß vorangetrieben. Eine operationalisierte Diagnostik von Menschen mit schwierigen Verhaltensstilen, konflikthaften Interaktionsmustern und erheblichen Beeinträchtigungen im sozialen Alltag, die Psychiater in Klinik und Praxis viel beschäftigten, schaffte den Ausgangspunkt für eine enthusiastische Forschung, die ein tieferes psychopathologisches Verständnis dieser Störungen zur Folge hatte. Eine Aufschlüsselung der Störungen in ihre exakten psychopathologischen Merkmale bildete in den 1990er Jahren den notwendigen Hintergrund für die Erforschung neurobiologischer Korrelate und Grundlagen, die das psychiatrische Verständnis weiter veränderten und mit einer nachlassenden Stigmatisierung der Betroffenen einhergingen. Parallel dazu intensivierten sich die Bemühungen um
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18 · Grundlagen von Persönlichkeitsstörungen
wirksamere, auf die Bedürfnisse der Patienten genau zugeschnittene Psychotherapien, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Manualisierung auch schnell Verbreitung fanden. Diese wissenschaftliche Entwicklung soll im Folgenden am Beispiel der Borderline-Persönlichkeitsstörung aufgezeigt werden und deutlich machen, wie sich dieses Störungsbild von einem Sammelbecken für diagnostisch und/oder therapeutisch schwierige Patienten wandelte hin zu einer klar konzeptionalisierten Störung mit den 3 wesentlichen Problembereichen, nämlich Affektregulation, Impulskontrolle und zwischenmenschliche Hyperreagibilität. Diese 3 Problembereiche stellen sich faktorenanalytisch als 3 unabhängige, klinisch relevante Facetten der Störung dar, sie konnten inzwischen aber auch experimentell bestätigt werden. z
Experimentell-psychopathologische Befunde bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die meisten Forschungsbemühungen der letzten 20 Jahre widmeten sich der Affektstörung von Borderlinepatienten, die auch zum zentralen Zielsymptom des ersten störungsspezfischen Therapieansatzes, der dialektisch-behavioralen Therapie, wurde. An der Affektdysregulation sind ein gesteigertes Ruhearousal, eine erhöhte emotionale Ansprechbarkeit als auch eine defizitäre Emotionssteuerung beteiligt. So berichteten Kuo und Linehan (2009), dass sich Borderlinepatienten bereits im Ruhezustand durch negative Gestimmtheit, verminderten vagalen Tonus und erhöhten Sympathikotonus auszeichnen. Eine erhöhte emotionale Reaktivität äußert sich in rasch aufschießenden Affekterregungen bereits auf schwach ausgebildete, emotional relevante Reize hin (Herpertz et al. 1997). Dabei können die Patienten unterschiedliche Gefühlsqualitäten der Angst, der Wut oder Verzweiflung nicht voneinander differenzieren (Wolff et al. 2007) und sie neigen zu einer undifferenzierten dysphorischen Verstimmung, die in quälenden aversiven Spannungszuständen kumuliert, die einen verzögerten Abfall zeigt. Zudem zeigen Borderlineindividuen Schwierigkeiten, irrelevante emotionale Distraktoren zu unterdrücken mit der Folge, dass sie attentionale Prozesse laufend stören und damit
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zielorientiertes Handeln beeinträchtigen (Domes et al. 2006). Daneben wird eine gestörte Impulskontrolle als ein zwar mit der Affektdysregulation in einem Zusammenhang stehendes, aber dennoch unabhängiges Charakteristikum der Borderlinestörung angesehen. Die erhöhte Impulsivität von Borderlinepatienten stellt sich neben einem Mangel an planerischem Denken als herabgesetzte Aktivierungsschwelle für motorische Antworten auf äußere Reize dar, wodurch Handlungen unreflektiert, aus dem Moment heraus und ohne an langfristige Konsequenzen zu denken vollzogen werden. Die größte klinische Bedeutung erlangt Impulsivität bei den aggressiven und autoaggressiven Handlungen von Borderlinepatienten. Indem sich die impulshafte (Auto)Aggression mit instabiler Affektmodulation paart, treten Handlungsimpulse aus Ärger, Angst- und Verzweiflungsaffekten heraus auf. Am klinischen Bild der Borderline-Persönlichkeitsstörung weiterhin beteiligt ist eine zwischenmenschliche Hyperreagibilität, vor allem im Sinne der Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung und des erhöhten Misstrauens über die Motive anderer Menschen. Die verzerrte Wahrnehmung menschlicher Gesichter als bedrohlich und abweisend stellte sich beispielsweise in der Bereitschaft dar, Ärger im Gesicht des Gegenübers besonders sensibel oder auch fälschlich zu entdecken (Domes et al. 2008) sowie in Beeinträchtigungen der kognitiven Empathie mit einer geringen Fähigkeit zur Mentalisierung der Intentionen anderer (Ritter et al. 2011). Dabei scheinen Defizite in »Theory-of-mind-Funktionen« durch eine gleichzeitig verstärkte affektive Empathie oder »emotionale Ansteckung« eine weitere Zuspitzung zu erfahren. z
Neurobiologische Befunde bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Funktionelle Bildgebungsuntersuchungen zeigen recht übereinstimmend Hinweise auf eine Hypersensitivität der Amygdala gegenüber negativen Stimuli. Für die Annahme einer verminderten präfrontalen Top-down-Kontrolle im Sinne einer präfrontolimbischen Dysfunktion sprechen Bildgebungsuntersuchungen, die bei impliziter und expliziter Aufforderung zur Affektregulation eine verminderte Aktivität des orbitofrontalen Kortex
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Kapitel 18 · Grundlagen von Persönlichkeitsstörungen
sowie auch des anterioren Cingulums zeigen (Übersicht: Herpertz 2011). Wurden Schlüsselreize für aversive autobiografische Erinnerungen in Form des thematischen Apperzeptionstests verwandt, so unterschieden sich die Borderlinepatientinnen von den Kontrollen auch bezüglich der Aktivierungen im orbitofrontalen, anterior-zingulären sowie insulären Kortex (Schnell et al. 2007). Des Weiteren gibt es eine recht konsistente Datenlage reduzierter Amygdala- und Hippocampusvolumina sowie auch einer Volumenminderung im anterioren Cingulum bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung (Nunes et al. 2009), die umso prononcierter zu sein scheint, je schwereren Traumata die Betroffenen in der frühen Kindheit ausgesetzt waren. Auch ist die Reaktivität der Amygdala nach Darbietung wütender Gesichter bei gleichzeitig reduzierter Aktivität im orbitofrontalen Kortex erhöht (Coccaro et al. 2007). Während bei Gesunden eine korrelierte Aktivität zwischen Amygdala und orbitofrontalem Kortex zu finden war, fehlte diese bei den Borderlinepatienten. Abweichungen in der Aktivität der vorderen Inselregion zeigten Borderlinepatienten auch im Zusammenhang mit der Verletzung sozialer Normen und sie wiesen eine erhöhte insuläre Aktivität bei der Konfrontation mit ungelösten aversiven Lebensereignissen auf (King-Casas et al. 2008). Es ist eine wichtige Forschungsfrage für die Zukunft, ob die hohe insuläre Aktivität ein neurofunktionelles Korrelat des erhöhten Spannungsniveaus von Borderlinepatienten sein könnte. Ein weiteres interessantes, wahrscheinlich auch recht spezifisches Detail ist die von Schmahl und Kollegen (2006) berichtete Deaktivierung der Amygdala sowie des perigenualen anterioren Cingulums während der Exposition gegenüber Schmerzreizen. Heute wird das selbstverletzende Verhalten nicht zuletzt in Folge dieser Forschungsarbeiten als Ausdruck einer maladaptiven Affektregulationsstrategie von Borderlinepatienten aufgefasst. Einen ersten Hinweis auf einen Zusammenhang mit einem gestörten Opioidsystem bietet eine Studie von Prossin et al. (2010), die eine verringerte basale β-Endorphinkonzentration und übersensible μ-opioid-Rezeptoren bei Borderlinepatienten in vor allem limbischen Arealen feststellten, die zum Affektregulationsnetzwerk zählen.
Die charakteristische Impulsivität und Aggressivität bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung wird im Zusammenhang mit einer verminderten serotonergen präfrontalen Kontrolle gesehen, die vor allem im orbitofrontalen Kortex und im rostralen anterioren Cingulum repräsentiert ist. Studien mittels Positronenemissionstomographie (PET) fanden nach Gabe von Serotoninagonisten einen verminderten Metabolismus im medialen orbitofrontalen Kortex und im anterioren zingulären Gyrus und eine SPECT-Untersuchung berichtete eine verminderte präfrontale Aktivität des Serotonintransporters (Übersicht: Herpertz 2011). Bei einem Aggressionsspiel zeichneten sich Borderlinepatienten durch eine erhöhte limbische Aktivität und eine verminderte anteriore und dorsolaterale präfrontale Aktivität aus (New et al. 2009). Neueste Untersuchungen zur Borderline-Persönlichkeitsstörung könnten auf eine Beteiligung von Neuropeptiden an der psychopathologischen Symptomatik verweisen. So führte die Gabe von Oxytozin bei Borderlinepatienten nicht – wie von Gesunden zu erwarten – zu einem Anstieg von kooperativem Verhalten, sondern im Gegenteil zu einer Zunahme eines misstrauisch und feindselig anmutenden Verhaltensstils, der vor allem im Zusammenhang mit einem ängstlich-vermeidenden Interaktionsstil stand (Bartz et al. 2010). z
Ausblick auf eine zukünftige Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen
Bis heute ist ungeklärt, inwieweit die dargestellten neurobiologischen Befunde spezifisch für Menschen bzw. Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung sind. Der mangelnde Beweis von Spezifität liegt vor allem in mangelnden Studien begründet, die klinische Vergleichsgruppen einbezogen. Zudem muss von einer hohen Heterogenität der Stichproben bei hoher Komorbidität ausgegangen werden. Möglicherweise ist die dargestellte präfrontolimbische Dysfunktion eher Ausdruck einer zugrunde liegenden Temperamentsdimension, vor allem Neurotizismus bzw. emotionale Labilität. So zeigte ein fMRT-Befund von Cremers et al. (2010) eine defizitäre Konnektivität zwischen Amygdala und rostralem anterioren Cingulum bei Menschen mit hoher Ausprägung auf der Neurotizismusdimension. Ein ähnlicher Zusammenhang
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. Abb. 18.1 Funktionsbezogene Diagnostik
Persönlichkeitsstörungen
Funktionelle Domänen Affekt- u. Stressregulation
Selbstidentität
Soziale Interaktion/Kognition
Desaktualisierungsfähigkeit
Impulskontrolle
Phänomenologische und Experimentelle Psychopathologie, Neurophysiologoie einschl. Bildgebung, Psychoendokrinologie, Biologische Marker, Mediatoren psychotherapeutischer Effekte
Therapeutische Interventionen
konnte zwischen emotionaler Labilität und hoher insulärer Aktivität während Entscheidungsaufgaben festgestellt werden. Von daher ist der Gedanke eines stärker dimensionalen Ansatzes in der Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen für die Forschung und hier vor allem für die neurobiologische Forschung begrüßenswert, erleichtern sie doch den methodischen Zugang (. Abb. 18.1). Die revidierte Klassifikation im DSM-5 sieht die Schaffung einer begrenzten Zahl von Persönlichkeitsfacetten höherer Ordnung vor: negative Emotionalität, Antagonismus, Enthemmung, Zwanghaftigkeit, Schizotypie. Diese soll durch eine empirisch fundierte breite Struktur von Persönlichkeitsmerkmalen (engl. »traits«) ergänzt werden wie z. B. emotionale Labilität und Ängstlichkeit als Eigenarten der negativen Emotionalität sowie Dominanzstreben und Feindseligkeit als Merkmale von Antagonismus. Zusammen mit zahlenmäßig begrenzten, nämlich 5 Persönlichkeitsstörungstypen (antisozial/psychopathisch, Borderline, vermeidend, zwanghaft und schizotypisch) entspräche eine solche Klassifikation einem Hybridmodell. Die anderen 5 im DSM-IV aufgeführten Persönlichkeitsstörungen sowie die heutige Restkategorie der »Persönlichkeitsstörungen nicht anderweitig spezifiziert« könnten nur noch dimensional als »Persönlichkeitsstörungen spezifiziert anhand von Merkmalen« diagnostiziert werden, und zwar einerseits durch ihr Ausmaß an Funktionsbeeinträchtigung im Sinne von Kerndefiziten und andererseits durch die Spezifizierung eines individuellen Musters von Persönlichkeitsmerkmalen. Gleichzeitig stehen wir
mit einer Mehrebenen-Persönlichkeitsstörungsdiagnostik vor dem Dilemma, dass trotz der klaren Kriterien im DSM-IV die Mehrzahl der Kliniker auf eine Persönlichkeits(störungs)diagnostik wegen des damit verbundenen Zeitaufwands schon heute verzichtet. Eine weitere Zunahme der Komplexität lässt befürchten, dass die Persönlichkeitsstörungsdiagnosen noch stärker aus dem klinischen Alltag verschwinden. Derzeit stellt sich die Frage, ob eine Klassifikation auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen tatsächlich gleichzeitig den Bedürfnissen von Forschung und Klinik gerecht werden kann. Damit stehen wir heute erneut vor Fragen, mit denen sich schon das Lebenswerk von Henning Saß auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen beschäftigt. In jedem Fall kann eine dimensionale Betrachtung von Persönlichkeitsstörungen die Therapieplanung unterstützen. Die Persönlichkeitsfacetten nämlich lassen sich typischen psychologischen Dysfunktionen wie z. B. Affektdysregulation, Impulskontrollstörung und gestörter Interaktion zuordnen, wie sie Fokus von psychotherapeutischen Interventionen werden und in die individuelle Fallkonzeption jenseits der nosologischen Diagnostik eingehen sollten (Abb. 18.1).
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Kapitel 18 · Grundlagen von Persönlichkeitsstörungen
Literatur
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Störungsorientierte, evidenzbasierte Psychotherapieverfahren am Beispiel der Borderline-Persönlichkeitsstörung Was können wir daraus für die Weiterentwicklung der Psychotherapie lernen und fordern? Klaus Lieb
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 19 · Störungsorientierte, evidenzbasierte Psychotherapieverfahren
Die Behandlung psychischer Störungen mittels Psychotherapie hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten kontinuierlich hin zu störungsorientierten, evidenzbasierten Verfahren entwickelt und zumindest im wissenschaftlichen Bereich das Denken in Psychotherapieschulen abgelöst. Diese neuen Entwicklungen werden anhand der störungszentrierten und evidenzbasierten psychotherapeutischen Behandlungsverfahren der Borderline-Persönlichkeitsstörung nachvollzogen und diskutiert. Aus den Erfahrungen in der Psychotherapieforschung zu Persönlichkeitsstörungen werden programmatische Empfehlungen zur zukünftigen Weiterentwicklung der Psychotherapieforschung und der Finanzierung von Psychotherapie gegeben.
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Einleitung
Unter den Persönlichkeitsstörungen gibt es keine Erkrankung, die vergleichbar intensiv bezüglich psychotherapeutischer Behandlungsverfahren erforscht ist wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Dies liegt u. a. an den besonderen Herausforderungen, die Borderlinepatienten für das Gesundheitssystem darstellen: Sie sind im Vergleich zu anderen Persönlichkeitsstörungen sehr häufig in Behandlung und verursachen durch ihr ausgeprägtes Inanspruchnahmeverhalten hohe Kosten (Bohus 2007; Lieb et al. 2004). Seit der Entwicklung der ersten störungsspezifischen Behandlungsform, der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) durch Marsha Linehan (Linehan et al. 1991), haben sich nicht nur die Behandlungsmöglichkeiten für diese oft schwer kranken Patienten erheblich verbessert, sondern es wurden auch viele weitere störungsorientierte Verfahren entwickelt und in randomisierten kontrollierten Studien (RCT) bezüglich ihrer Wirksamkeit überprüft. Anhand der Entwicklung von Psychotherapieverfahren zur Behandlung der BPS können einige Trends nachvollzogen werden, die sich auch bei der psychotherapeutischen Behandlung anderer psychischer Erkrankungen finden. Erstens hat sich gezeigt, dass schwer kranke Patienten, die lange Zeit als unbehandelbar galten, erfolgreich mit Psychotherapie behandelt werden können. Zweitens haben in der Behandlung der BPS konventionelle psychotherapeutische Behandlungsverfahren, die sich an Schulen orientie-
ren, weitgehend versagt, während störungsspezifisch adaptierte Therapieformen eine viel bessere Wirksamkeit zeigen, da sie auf einem spezifischen Krankheitsmodell der Störung basieren und entsprechend zugeschnittene Interventionen einsetzen. Drittens zeigt sich bei der Entwicklung neuer Verfahren, dass diese nicht nur störungsspezifisch sind, sondern in eklektischer Form Elemente aus verschiedenen »Schulen« integrieren. So verwenden viele – auch psychodynamische Ansätze wie z. B. die übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) – das ursprünglich verhaltenstherapeutische Element des Therapievertrags, die meisten setzen psychoedukative Therapiebausteine ein, räumen der therapeutischen Beziehung einen besonderen Stellenwert ein oder ergänzen beispielsweise kognitive Verfahren durch einen Fokus auf die Kindheitsentwicklung (Schematherapie). Möglicherweise eignen sich aufgrund ihrer spezifischen und vielschichtigen Anforderungen gerade die Borderlinetherapie und ihre Erforschung dazu, überkommene Gräben zwischen den Therapieschulen zu überwinden (Doering et al. 2011). Viertens liegen für die Behandlung der BPS evidenzbasierte, also wirksame Therapieverfahren vor. Auf der Basis einer Vielzahl von durchgeführten RCTs (s. u.) kann es als gesichert angesehen werden, dass eine manualisierte und störungsspezifische Behandlung der BPS einer unspezifischen Psychotherapie überlegen ist (S2-Leitlinien Persönlichkeitsstörungen: DGPPN 2008; Stoffers et al. 2010; Stoffers et al., eingereicht; Doering et al. 2011). Für die Orientierung, welche Therapie zum Einsatz kommt (in den letzten Jahren sind allein in deutscher Sprache 24 Therapiehandbücher und Behandlungsmanuale für die BPS erschienen; Übersicht in Doering et al. 2011), sollten die Ergebnisse der Psychotherapieforschung herangezogen werden. Fünftens hat sich gezeigt, dass zumindest bei komplexer stationärer Psychotherapie wichtige Aspekte psychotherapeutischer Arbeit nicht nur von Psychologen und Ärzten, sondern auch von Pflegekräften, Bewegungstherapeuten, Sozialarbeitern oder Kunsttherapeuten erbracht werden.
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19 · Störungsorientierte, evidenzbasierte Psychotherapieverfahren
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. Tab. 19.1 Psychotherapieformen zur Behandlung der BPS mit Evidenzgrad Ia–IIa Verfahren
Setting
Evidenzgrad I: wirksam Ia – Metaanalysen über mehrere randomisiert-kontrollierte Studien Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT)
Ambulante Einzel- und Gruppentherapie
Ib – mindestens 2 randomisiert-kontrollierte Studien aus unabhängigen Gruppen Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP)
Ambulante Einzeltherapie
Evidenzgrad II: möglicherweise wirksam IIa – 1 randomisiert-kontrollierte Studie Schematherapie (ST)
Ambulante Einzeltherapie Ambulante Gruppentherapie
Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT)
Ambulante Einzel- und Gruppentherapie Teilstationär
Systems Training for Emotional Predictability and Problem Solving (STEPPS)
Ambulantes Gruppenprogramm, adjuvant zu Einzeltherapie
Emotion Regulation Group
Ambulantes Gruppenprogramm und komplementäre Einzelsitzungen Ambulante Gruppentherapie
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Interpersonelle Psychotherapie modifiziert für Borderline-Persönlichkeitsstörungen (IPT-BPD)
Einzeltherapie (in Kombination mit Fluoxetin)
Dialektisch-behaviorale Therapie – Skillsgruppe (DBT-ST)
Ambulante Skillsgruppe
Dialektisch-behaviorale Therapie – Sucht (DBT-S)
Ambulante Einzel- und Gruppentherapie (bei komorbider Suchterkrankung)
Dialektisch-behaviorale Therapie – PTSD(DBT-PTSD)
Stationäre Einzel- und Gruppentherapie bei komorbider PTSD
Evidenzbasierte Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Im Folgenden werden Psychotherapieansätze zur Behandlung der BPS vorgestellt, für die ein empirischer Wirksamkeitsnachweis mit einem Evidenzgrad von IIa oder höher vorliegt (. Tab. 19.1). Nach den Evidenzkriterien für empirische Studien (vgl. S2-Leitlinien Persönlichkeitsstörungen 2008) können Therapieverfahren mit einem Evidenzgrad von I als wirksam und mit einem Evidenzgrad von II als möglicherweise wirksam angesehen werden. Für den Evidenzgrad Ia wird eine Metaanalyse über mehrere RCTs gefordert, für Evidenzgrad Ib mindestens 2 RCTs aus unabhängigen Gruppen und für Evidenzgrad IIa mindestens 1 RCT.
Für insgesamt 10 Psychotherapieansätze wurde in RCTs die Wirksamkeit bei der Behandlung der BPS empirisch belegt. Davon (DBT und TFP) sind 2 als wirksam einzustufen, 8 als möglicherweise wirksam. Darüber hinaus gibt es für weitere 5 Verfahren vorläufige, aber noch nicht ausreichende empirische Nachweise. Die mit Abstand am besten belegte Methode ist die DBT (Linehan et al. 1991), für die eine Metaanalyse sowie jeweils 10 randomisiert-kontrollierte und nicht randomisiert-kontrollierte Studien vorliegen (Stoffers et al., eingereicht). Ebenfalls als wirksam ist die übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) einzustufen, die in 2 randomisiert-kontrollierten und 3 nicht randomisiert-kontrollierten Studien ihre Effektivität bewie-
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Kapitel 19 · Störungsorientierte, evidenzbasierte Psychotherapieverfahren
sen hat (Doering et al. 2010; Doering et al. 2011). Für die Schematherapie liegen zwar auch 2 RCTs vor, jedoch jeweils nur eine für Einzel- (Giesen-Blo et al. 2006) und für Gruppentherapie (Farrell et al. 2009), sodass trotz zweier hochwertiger Studien und der Überlegenheit gegenüber der TFP in der Studie von Giesen-Blo et al. (2006) Evidenzgrad I (wirksam) noch nicht vergeben werden kann. Da aktuell weitere Studien laufen, dürfte das aber in den nächsten Jahren der Fall sein. Ähnliches gilt für die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT), die in 2 RCTs erfolgreich war, allerdings einmal im teilstationären Setting (Bateman u. Fonagy 1999) und einmal in einer Kombination von ambulanter Einzel- und Gruppentherapie (Bateman u. Fonagy 2009). Zukunftsweisend erscheinen darüber hinaus Therapieverfahren bei gleichzeitig vorliegenden komorbiden Störungen (z. B. DBT-PTSD oder DBT-Sucht), adjuvante Therapieverfahren mit psychoedukativen Elementen wie das »Systems Training for Emotional Predictability and Problem Solving« (STEPPS) oder andere Gruppentherapieverfahren, deren Effekte aber noch verifiziert werden müssen (Übersicht in Stoffers et al., eingereicht; Doering et al. 2011). z
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Methodische Kritik und Weiterentwicklung
Trotz der relativ großen Anzahl vorliegender Psychotherapiestudien existieren Probleme hinsichtlich der Tragfähigkeit der Befunde. Zum einen handelt es sich überwiegend um kleine Studien (meist an Frauen) mit wenig robusten Effekten. Nur selten werden Outcomemaße aus verschiedenen Bereichen und zur Messung der besonderen Borderlinepathologie (z. B. Beziehungspathologie, Identitätsstörung, affektive Instabilität, innere Leere) eingesetzt, obwohl derartige Instrumente vorliegen. Für viele Studien kann ein »allegiance effect« nicht ausgeschlossen werden, da die Evaluationsstudien durch die Autoren bzw. Entwickler der jeweiligen Interventionen oftmals selbst federführend durchgeführt wurden und Bestätigungen durch andere, unvoreingenommene Untersucher nicht vorliegen (außer DBT). Weiterhin stellt ein Problem dar, dass sich die verschiedenen Therapieansätze oftmals mit unterschiedlich rigorosen Vergleichsbedingungen (Warteliste, jede Art der üblichen Behandlung außer der jeweils untersuchten Intervention, unspezi-
fisch supportive Ansätze oder leitlinienorientierte Versorgung) messen. Unklar sind oft auch die notwendige Therapiedauer und v. a. die Nachhaltigkeit der Therapieeffekte. Weitgehend unklar ist die Wirksamkeit spezifischer psychotherapeutischer Ansätze bei verschiedenen Komorbiditäten, ebenso im Zusammenspiel mit pharmakotherapeutischen Behandlungen (Lieb et al. 2010). Beides stellt in der klinischen Praxis eher die Regel denn eine Ausnahme dar, sodass hier differenziertere Untersuchungen dringend erforderlich sind. Für die Zukunft der Psychotherapieforschung bei der BPS stellen sich entsprechend folgende spezifische Aufgaben: 4 Durchführung von RCTs an großen Kollektiven über lange Untersuchungszeiträume von mehreren Jahren mit Langzeit-Follow-ups, um die Evidenzlage zu stabilisieren 4 Bestätigung der Effekte durch unabhängige Psychotherapieforscher, um Allegianceeffekte zu überwinden 4 Verwendung von Outcomemaßen, die allgemeine Schweregradinstrumente verwenden sowie das gesamte Symptomspektrum der Störung abbilden 4 Entwicklung von weiteren modifizierten Verfahren, die die Besonderheiten von relevanten Komorbiditäten berücksichtigen 4 Untersuchungen zur differenziellen Wirksamkeit der einzelnen Ansätze und zum Vorgehen bei Therapieresistenz mit dem Ziel, Patienten mit bestimmten Eigenschaften der einen oder anderen Therapieform zuweisen zu können 4 Forschung zur Implementierung der wirksamen Verfahren in die Praxis z
Empfehlungen für die wissenschaftliche Weiterentwicklung und Finanzierung von Psychotherapie
Abgeleitet aus den Erfahrungen der Psychotherapieforschung der BPS sollen im Folgenden Empfehlungen zur wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Psychotherapieforschung und der Weiterbildung in und Finanzierung von Psychotherapie gegeben werden. Erstens muss mehr Geld für die Überprüfung der Wirksamkeit von Psychotherapieverfahren zur Verfügung gestellt werden. Von den Kranken-
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19 · Störungsorientierte, evidenzbasierte Psychotherapieverfahren
kassen werden jedes Jahr Milliarden Euro für die Erbringung von Psychotherapieleistungen ausgegeben, während die Evidenzbasierung von vielen angewandten Verfahren bestenfalls mangelhaft ist. Denkbar ist, einen Teil dieser verausgabten Gelder für Psychotherapieforschung einzusetzen, was letztendlich den Patienten und damit auch wieder den Kassen zugute käme. Die Forschung kann dabei keinesfalls nur den Universitäten überlassen werden, an denen sie ganz wesentlich vom persönlichen Engagement einzelner (und eher weniger werdender) Forscher abhängig ist. Denkbar wäre, dass unabhängige Gremien den patientenzentrierten Forschungsbedarf identifizieren und auf der Basis dieser Empfehlungen Untersuchungen ausgeschrieben werden, die ausreichend finanziert sind und auf die sich geeignete Wissenschaftlergruppen bewerben können. Zweitens erscheint es erforderlich, die Psychotherapieforschung auf die Entwicklung von Verfahren für schwer gestörte Patienten zu fokussieren. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus mindestens 2 Gründen: Zum einen stehen für leichtere Störungen bereits eine Vielzahl von Verfahren zur Verfügung, die zunehmend unter Begriffen wie Coaching, Beratung oder Lebenshilfe subsumiert werden, die aber bei komplexer gestörten Patienten nicht mehr greifen. Zum anderen hat sich v. a. im Bereich der stark neurobiologisch mitbedingten Störungen wie z. B. den schweren Depressionen oder Schizophrenien in vielen Fällen gezeigt, dass die Pharmakotherapie an ihre Grenzen kommt, dass hier entscheidende Innovationen in den nächsten Jahren nicht zu erwarten sind und Kombinationen mit Psychotherapie immer mehr zum »state of the art« werden (Lieb u. Berger 2006). Es erscheint dringend geboten, die zumeist additive Wirkung von Psycho- und Pharmakotherapie bei der Behandlung psychischer Störungen intensiver zu evaluieren und – auch unter Einbeziehung neurobiologischer Faktoren – zu klären, welche Patienten von welcher Therapieform eher profitieren. Dies wird in Zukunft die Entscheidung erleichtern, welcher Patient welcher Therapieform zugeführt werden sollte. Passend dazu muss in Zukunft noch deutlicher auf die Beantwortung der Frage hingearbeitet werden, auf welchen Stufen des Versorgungssystems welche Psychotherapieform ange-
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wendet werden sollte. Anders ausgedrückt ist es notwendig, gerade für schwer gestörte Patienten für jede Stufe des Versorgungssystems spezifische Therapieprogramme zu entwickeln. In solchen integrierten Konzepten ist Psychotherapie in allen Versorgungsstufen in jeweils angepasster Form von Bedeutung. Die Anwendung von Psychotherapie kann dann je nach Versorgungsstufe reichen von begleitendem Abwarten (»watchful waiting«), Kurzinterventionen/motivationaler Beratung bis hin zu symptomorientierter Therapie (z. B. kognitive Therapie), komplexer Psychotherapie (z. B. DBT oder Schematherapie) im ambulanten und stationären Setting und spezifischen Interventionen im Rahmen der Rehabilitation. Drittens sollte die Aus- und Weiterbildung in Schulen (im Wesentlichen Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische Verfahren) konsequent in eine Aus- und Weiterbildung in störungsorientierten Psychotherapieverfahren überführt werden. Dies findet ansatzweise bereits in vielen Ausbildungsinstituten statt, sollte aber zum Prinzip gemacht werden. Denkbar wäre eine Art »Common-trunk-Modell«, im dem zu Beginn der Ausbildung Grundlagen der Psychotherapie aus verschiedenen Schulen vermittelt werden, während im zweiten Teil nur noch störungsspezifische und v. a. evidenzbasierte Therapieverfahren vermittelt werden. Das Beispiel der BPS-Behandlung zeigt schön, dass ein reiner Verhaltenstherapeut oder Tiefenpsychologe mit diesen Patienten in der Regel überfordert ist. Jeder Psychotherapeut, der BPS-Patienten behandelt, sollte daher eine entsprechende Ausbildung in einem störungsspezifischen Verfahren absolvieren. Viertens sollte das Finanzierungssystem von Psychotherapie grundlegend geändert werden (Lieb u. Berger 2006). Mit dem gegenwärtigen Finanzierungssystem/Antragsverfahren für Psychotherapie kann eine Psychotherapie prinzipiell mit den bestehenden Richtlinienverfahren genehmigt werden, unabhängig von der Passung des Verfahrens auf die jeweilige Störung. Dieses System hält sich dadurch selbst aufrecht, dass analytische oder tiefenpsychologische Anträge nur von Analytikern bzw. Tiefenpsychologen begutachtet werden, verhaltenstherapeutische Anträge nur von Verhaltenstherapeuten usw. Dementsprechend liegt die Ablehnungsquote im marginalen Bereich. Wie un-
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Kapitel 19 · Störungsorientierte, evidenzbasierte Psychotherapieverfahren
sachlich das Vorgehen ist, wird am Vergleich mit der Pharmakotherapie deutlich: Es wäre völlig abwegig, den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), weil sie z. B. bei einigen psychischen Erkrankungen wirksam sind, die Generalabsolution für alle Erkrankungen, z. B. Schizophrenie, Alkoholismus, BPS, Anorexie etc., zu erteilen. Bei den Psychotherapien ist es also dringend erforderlich, Wirksamkeitsnachweise für bestimmte Krankheitsbilder des Gesamtspektrums zu erbringen, die dann wiederum die Entscheidungsgrundlage dafür bilden werden, welche Psychotherapie dann auch tatsächlich honoriert wird.
Literatur
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Integrierte Behandlung bei der Komorbidität Psychose und Sucht Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Thomas Schnell
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 20 · Integrierte Behandlung bei Psychose und Sucht
Die Komorbidität Psychose und Sucht ist generell mit einem ungünstigen klinischen Verlauf assoziiert. Dieser lässt sich in geeigneten Behandlungssettings günstig beeinflussen, wenn Konzepte der psychiatrischen Krankenversorgung und der Suchttherapie integrativ zusammengeführt werden. Die Therapien sollen möglichst langfristig angelegt sein und schwerpunktmäßig im ambulanten Setting auf die Stärkung der Motivation für eine Reduktion des Konsums oder Abstinenz setzen. Pharmakotherapie, Psychoedukation und kognitiv behaviorale Elemente gehören zu den wichtigen Bestandteilen erfolgreicher Programme. Weitere Studien sind notwendig, um die differenziellen Effekte einzelner Behandlungsmodule sowie das unterschiedliche Ansprechen verschiedener Subgruppen innerhalb der Patienten auf die Therapien zu evaluieren.
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Prävalenz und klinische Relevanz
Etwa die Hälfte aller Patienten mit Schizophrenie entwickeln irgendwann im Laufe ihres Lebens einen Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen. Verschiedene Hypothesen wurden vorgeschlagen, um diese hohe Komorbidität zu erklären, wie die Modelle der Selbstmedikation oder Affektregulation, das Supersensitivitätsmodell, das Modell der Psychoseinduktion durch die Drogenwirkungen sowie Modelle gemeinsamer ätiologischer Faktoren; dennoch vermag kein Modell das Ausmaß des klinischen Phänomens der Komorbidität zu erklären (Gouzoulis-Mayfrank 2007). Die Patienten nehmen die kurzfristigen Auswirkungen des Substanzkonsums in der Regel positiv wahr, im Durchschnitt erfahren sie aber mittelund langfristig einen schlechteren Verlauf der Erkrankung als andere schizophrene Patienten ohne Suchterkrankung: Häufigere psychotische Exazerbationen und Rehospitalisierungen, ein höherer Chronifizierungsgrad, schlechtere sozio-rehabilitative Langzeitergebnisse und häufigere Suizidversuche/Suizide zeichnen diese Subgruppe schizophrener Patienten aus. Andererseits spricht nichts dafür, dass die komorbiden Patienten einer Untergruppe der Schizophrenie mit primär schlechter Prognose entsprechen könnten. Es liegen sogar einige auf den ersten Blick überraschende Befunde in Richtung unauffälligerer prämorbider psychosozialer Anpassung und besserer kognitiver Leistungsfähigkeit insbe-
sondere bei Cannabis konsumierenden Patienten mit Schizophrenie vor. Diese könnten dafür sprechen, dass die komorbide Patientengruppe eine sogar eher günstige Prognose haben könnte, vorausgesetzt, den Patienten gelingt es, den Substanzkonsum einzustellen oder zumindest einzuschränken (Schnell et al. 2009; Loberg u. Hugdahl 2009; Yücel et al. 2010) z
Allgemeine Therapieprinzipien
In der Therapie der komorbiden Patienten müssen Vorgehensweisen miteinander verzahnt werden, die zunächst konträr erscheinen mögen: einerseits die psychiatrische Krankenversorgung mit stützend-fürsorglichem Charakter, andererseits die Suchttherapie mit Betonung der Eigenverantwortlichkeit des Patienten. Mittlerweile herrscht Einigkeit darüber, dass die Behandlung als integrierte Behandlung für die Psychose und die Suchterkrankung erfolgen soll (Green et al. 2007). Hierbei werden stützend-fürsorgliche Konzepte aus der psychiatrischen Krankenversorgung und klassische suchttherapeutische Ansätze modifiziert, flexibel gewichtet und aufeinander abgestimmt. Neuere Studien legen nahe, dass die Mehrzahl der komorbiden Patienten von niederschwelligen, schwerpunktmäßig ambulanten integrierten Therapiemaßnahmen profitieren können, insbesondere wenn die Behandlung langfristig angelegt ist. Wichtigstes Ziel ist dabei die Stärkung von Abstinenzmotivation durch geeignete motivationale Interventionen, die sich nach den Prinzipien des Motivational Interviewing richten. Erste Erfolge zeigten sich bereits nach einer Behandlungsdauer von 6 Monaten, eine größere Anzahl von Studien berichteten noch längere Behandlungsdauern von 1 bis 4 Jahren. Neben niedrigen Drop-out-Raten wurden Stabilisierungen der Psychose, Besserungen der sozialen Anpassung und/oder Reduktionen der Konsummengen berichtet (Drake u. Mueser 2000; Dixon et al. 2010). Diese positiven Auswirkungen integrierter ambulanter Behandlungsprogramme wurden durch eine Analyse von 26 kontrollierten Studien aus den Jahren 1994–2003 bestätigt (Drake et al. 2004). Dennoch sprechen nicht alle Patienten auf die ambulanten Behandlungsprogramme an. Drake und Mitarbeiter (2008) schlugen auf der Basis
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20 · Integrierte Behandlung bei Psychose und Sucht
der Literatur und ihrer eigenen klinischen Erfahrung eine Einteilung der komorbiden Patienten in 4 Subgruppen vor: Zum einen wird eine Patientengruppe identifiziert, die schnell und stabil auf die Behandlung anspricht. Die zweite Subgruppe profitiert ebenfalls relativ schnell von der Behandlung, zeigt jedoch keinen stabilen Verlauf. Eine weitere Gruppe zeigt langsame, aber kontinuierliche Behandlungserfolge. Schließlich wird die vierte Gruppe der sog. Nonresponder identifiziert, die weder von kurzen Interventionen noch von langen ambulanten Behandlungen ausreichend profitieren. Zu der zumeist schwer betroffenen Patientengruppe der ambulanten Nonresponder gehören die sog. Triple-Diagnose-Patienten (Psychose + Sucht + antisoziale Persönlichkeitsstörung) sowie Patienten, die keinen festen Wohnsitz haben. Bei den Nonrespondern mit intensivem Substanzkonsum ist am ehesten eine langfristig angelegte stationäre bzw. sozial-rehabilitative Therapie mit dem Gebot einer Abstinenz für den Zeitraum des institutionellen Aufenthalts indiziert (Drake et al. 2008). Allerdings existieren nur wenige Studien zu langfristigen stationären und rehabilitativen Behandlungen. In einer Übersichtsarbeit identifizierten Drake und Mitarbeiter (2008) 5 quasiexperimentelle Studien, die integrative stationär-rehabilitative Behandlungen mit einer Dauer von 1 Jahr oder länger untersuchten. In 2 dieser Studien wurden Patienten ohne festen Wohnsitz behandelt. Verglichen wurde jeweils ein spezifisches Angebot für komorbide Patienten mit entweder einem spezifischen Kurzzeitangebot oder einem Langzeitangebot entsprechend der psychiatrischen Standardbehandlung. Hinsichtlich des Substanzkonsums war das langfristig angelegte, stationäre spezifische Angebot in allen Studien überlegen, hinsichtlich der Psychopathologie waren die Ergebnisse inkonsistent. z
Elementeder integrierten Behandlung
Die meisten internationalen Therapieprogramme entsprechen eklektischen Behandlungsmodellen bestehend aus Psychoedukation, Elementen aus der Motivationsbehandlung abhängiger Patienten, Verhaltenstherapie, Familieninterventionen und Pharmakotherapie (Gouzoulis-Mayfrank 2007).
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Grundgedanke der Motivationsbehandlung (Motivational Enhancement Therapy = MET) ist, dass in Bezug auf das Abstinenzziel verschiedene motivationale Stadien existieren; dabei kann die Abstinenzmotivation nicht external diktiert oder »verschrieben« werden, sondern sie muss vom Betroffenen selbst intrinsisch generiert werden. Durch stadiengerechte Interventionen soll der Therapeut den Patienten bei seiner Vorwärtsbewegung im Motivationszyklus unterstützen. Inhaltlich werden die Patienten u. a. dahingehend angeleitet, Vor- und Nachteile eines fortgesetzten Substanzkonsums gegeneinander abzuwägen sowie Bezüge der Suchtproblematik zu ihren längerfristigen Lebenszielen herzustellen. Dabei wird von den Therapeuten gefordert, zunächst ambivalente Grundhaltungen der Patienten hinsichtlich einer Verhaltensänderung zu tolerieren, die Exploration von Gründen für einen fortgesetzten Substanzkonsum möglichst ohne negative Bewertung durchzuführen sowie jeglichen Bemühungen der Patienten hinsichtlich einer angestrebten positiven Verhaltensänderung wertschätzend zu begegnen. Bei wenig motivierten Patienten liegt der Schwerpunkt der Behandlung zunächst in motivationalen Interventionen und der Psychoedukation. Bei der Letzteren soll auf die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen Psychose, individueller Vulnerabilität für Psychosen und Sucht fokussiert werden. Ohne ein ausreichendes Wissen über diese Zusammenhänge ist es für die Patienten schwer nachzuvollziehen, wieso der Verlauf der Psychose in Zusammenhang mit ihrem Drogenkonsum stehen soll. Somit kann die Psychoedukation bereits einen ersten motivationalen Anstoß für die weitere Therapie geben. Für diese gezielte Psychoedukation von komorbiden Patienten liegen bereits 2 deutschsprachige Manuale vor (Gouzoulis-Mayfrank 2007; D´Amelio et al. 2007). Eine Evaluation der Programme steht noch aus. Bei Patienten in höheren motivationalen Stadien kommen Ansätze der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) zum Einsatz. Es wird eine Kombination aus speziellen abstinenzbezogenen Fertigkeiten (z. B. Erkennen und Vermeiden von Risikosituationen, »resistance skills«) und allgemeinen sozialen Fertigkeiten, wie z. B. Kommunikationsfertigkeiten und selbstsicheres Auftreten,
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Kapitel 20 · Integrierte Behandlung bei Psychose und Sucht
empfohlen. Ein deutschsprachiges KVT-Gruppentherapieprogramm enthält übende und kognitive Elemente über 21 Sitzungen (Schnell u. GouzoulisMayfrank 2007). So wird die Identifizierung von Warnsignalen für bevorstehende psychische Krisen geübt, die Risiken sowohl hinsichtlich psychotischer Exazerbationen als auch hinsichtlich des Substanzkonsums in sich tragen. Damit geht schließlich die Entwicklung präventiver Strategien einher, mit deren Hilfe kritischen Warnsignalen begegnet werden kann. Ferner beinhalten KVT-Ansätze den Aufbau von »substanzfreien« Aktivitäten sowie von Copingstrategien zum Umgang mit Suchtdruck. Wichtig für den klinischen Verlauf ist auch eine gute familiäre Umgebung mit verständnisvollen, akzeptierenden und stützenden, aber nicht überinvolvierten Angehörigen. In einem deutschsprachigen Psychoedukationsprogramm mit Modulen für psychoedukative Angehörigengruppen wird auf die reziproken Zusammenhänge zwischen Psychose und Sucht eingegangen (D´Amelio et al. 2007). In englischer Sprache liegt seit mehreren Jahren ein umfangreicheres Familieninterventionsprogramm für Familien komorbider Patienten vor, das sowohl psychoedukative als auch KVT-Elemente (Kommunikations- und Problemlösetraining) enthält (Mueser u. Fox 2002). Den Schwerpunkt der Pharmakotherapie von komorbiden Patienten mit Psychose und Sucht stellt die antipsychotische Medikation dar. Zudem gibt es therapeutische Rationale, die den zusätzlichen Einsatz einer antidepressiven Medikation oder von Stimmungsstabilisatoren rechtfertigen. Schließlich kann auch der Einsatz spezifischer Medikationen für die Suchtkomponente der Erkrankung erwogen werden (Green 2007; GouzoulisMayfrank 2007; Zhornitsky et al. 2010). z
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Schlussfolgerungen
Intensive stationäre Therapieprogramme mit striktem Abstinenzgebot haben sich überwiegend als zu fordernd für das Kollektiv der Patienten mit Psychose und Sucht herausgestellt, sodass hohe Dropout-Raten (45–85 %) sowie häufige Rückfälle resultieren. Tolerierbarer für einen Großteil der komorbiden Patienten scheinen die langfristig angelegten, niederschwelligen, motivationsbasierten ambulanten Programme zu sein. Die Drop-out-Raten sin-
ken in diesen Settings auf bis zu 25 % und neben der Stabilisierung der psychotischen Symptomatik kann in den meisten Studien und wissenschaftlich begleiteten Programmen ein allmählicher Rückgang der Konsummengen verzeichnet werden. Lediglich für eine Subgruppe der sog. Nonresponder, welche sozial desintegrierte Patienten mit intensivem Substanzkonsum und Patienten mit der zusätzlichen Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung umfasst, werden längerfristige stationäre bzw. stationär-rehabilitative Behandlungsprogramme für sinnvoll und erforderlich erachtet (Drake et al. 2008). Zusammenfassend kann auf Metaanalysen verwiesen werden, die mittlerweile 26 bzw. 45 kontrollierte Studien integrieren (Drake et al. 2004, 2008). Dennoch sind Aussagen über die differenzielle Effektivität spezifischer Interventionen nicht möglich, da die Studien verschiedene psychotherapeutische Elemente, insbesondere kognitive Verhaltenstherapie sowie stadienabhängige motivationale Interventionen, kombinieren. Künftige Studien sollten daher die Wirksamkeit der einzelnen therapeutischen Elemente fokussieren. Ferner sollten künftige Untersuchungen die Heterogenität der komorbiden Patienten und das damit einhergehende differenzielle Ansprechen auf die Therapieprogramme bei den verschiedenen Subgruppen berücksichtigen (Drake et al. 2008). Diese Heterogenität kann die Schwere der Psychose, das Ausmaß des Konsums und die präferierten Substanzen sowie weitere Komorbiditäten wie die antisoziale Persönlichkeitsstörung betreffen.
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20 · Integrierte Behandlung bei Psychose und Sucht
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Neurobiologie der Psychotherapie am Beispiel von Schizophrenie und Panikstörung Benjamin Straube, Axel Krug, Tilo Kircher
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Die Etablierung von bildgebenden Verfahren in der psychiatrischen Forschung hat es ermöglicht, Hirnaktivierungen zu identifizieren, die mit Symptomen einhergehen. Über die Veränderung von Hirnaktivierungen durch Psychotherapie ist bisher weniger bekannt. Die vorliegende Arbeit gibt einen aktuellen Überblick über die Befunde zu neuralen Korrelaten von Psychotherapie bei der Panikstörung und der Schizophrenie. Die klinische Relevanz der Untersuchungen wird aufgezeigt und im Kontext aktueller Multizentrumsstudien diskutiert.
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Bildgebung in der Psychotherapieforschung
Die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungsverfahren ist empirisch gut belegt. Die Bildgebungsforschung kann nun einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis dieses therapeutischen Wirkprozesses leisten, indem sie versucht, die hirnphysiologischen Veränderungen, die mit dem therapeutischen Prozess einhergehen, abzubilden. Dies macht es möglich, neurobiologisch fundierte Modelle einzelner Störungsbilder zu entwickeln und ggf. daraus therapeutische Implikationen abzuleiten. In Zukunft könnte die Berücksichtigung dieser Erkenntnisse beispielsweise Psychotherapeuten dabei helfen, effizientere Behandlungsentscheidungen zu treffen sowie ihre Interventionsstrategien zu optimieren. Bei der Erforschung von Hirnaktivierung in Zusammenhang mit Veränderungsprozessen wird angenommen, dass Lernen und Verhaltensänderung nur aufgrund der plastischen Eigenschaften unseres Gehirns möglich sind. Aus diesem Grund gehen Effekte von Psychotherapie voraussichtlich auch mit Veränderungen der Hirnphysiologie und -mikrostruktur einher. Dieser Prozess wird unter dem Begriff »neurale Plastizität« zusammengefasst. Im Rahmen psychiatrischer Krankheitsbilder interessiert nun, wie das Gehirn als plastisches Organ auf psychotherapeutische Interventionen reagiert. Der Therapieerfolg wird generell durch Fragebögen und/oder experimentelle Paradigmen erfasst, die die jeweiligen Konstrukte oder Parameter abbilden. Da das Untersuchungsmaterial durch das Prä-post-Design insgesamt zweimal dargeboten wird, besteht die Problematik einer Habituation an das Untersuchungsmaterial, die sich bei fMRT-Messungen durch zerebrale Aktivitätsre-
duktionen zeigen könnten. Zur Kontrolle dieser unerwünschten Einflussfaktoren können an den jeweiligen Messzeitpunkten Parallelversionen der entsprechenden Stimuli verwendet werden, um Wiederholungseffekte bezüglich der Bekanntheit des Stimulusmaterials zu minimieren. Darüber hinaus können fMRT-Aufnahmen vor und nach Psychotherapie durch Gewöhnung an die Umgebung, in der die Aufnahme stattfindet, entsprechend verzerrt werden. Durch Kontrollbedingungen innerhalb des Experiments und vergleichbare Kontrollprobanden, die ebenfalls zu beiden Messzeitpunkten untersucht werden, ist es jedoch möglich, dieser methodischen Schwierigkeit adäquat zu begegnen. Bisher wurden die neuralen Korrelate von Therapieeffekten vor allem in Bezug auf spezifische Phobien und depressive Störungen erforscht (z. B. Goldapple et al. 2004). Hier soll nun über die Befunde zu 2 Krankheitsbildern berichtet werden, die im Rahmen von Psychotherapieeffekten auf neuraler Ebene bisher nur wenig untersucht wurden: die Schizophrenie und die Panikstörung. Diese unterschiedlichen Störungen sind sehr gut geeignet, um die verschiedenen Wirkmechanismen von Psychotherapie aufzuzeigen. z
Befunde zu Therapieeffekten bei Schizophrenie
Die Schizophrenie zählt zu den beeinträchtigendsten psychiatrischen Erkrankungen. Antipsychotische Medikation wird besonders erfolgreich zur Reduktion der Positivsymptomatik akut Erkrankter eingesetzt, jedoch bleibt bei einigen Patienten trotz vorhandener Medikamentenadhärenz eine residuale psychotische Symptomatik und Negativsymptomatik stabil. Dies macht die Notwendigkeit zusätzlicher psychotherapeutischer Maßnahmen deutlich. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) im Bereich schizophrener Psychosen steht in erster Linie die Positivsymptomatik im Vordergrund. Aus kognitionspsychologischer Perspektive werden wahnhaften Denkinhalten dysfunktionale kognitive Schemata, Wahrnehmungsverzerrungen und Fehler im schlussfolgernden Denken zugrunde gelegt, die im Rahmen einer KVT identifiziert, hinterfragt und letztendlich modifiziert werden sollen. Metaanalysen zeigen, dass KVT bei psycho-
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21 · Neurobiologie der Psychotherapie
tischen Störungen wirksam ist, allerdings liegen die Effektstärken eher im moderaten Bereich, wobei nur ca. die Hälfte aller mit KVT behandelten Patienten eine bedeutsame Verbesserung zeigen (Wykes et al. 2008). Um die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen zu verbessern, ist es erforderlich, die wirksamkeitsvermittelnden Faktoren einer KVT genauer zu verstehen. Dabei kann es helfen, die neurobiologischen Grundlagen der Entstehung und Besserung von Symptomen näher zu beleuchten. In Studien zur neuralen Veränderungen unter Psychotherapie wurden Patienten bisher nur vor der KVT gemessen und es wurde versucht, aus dem Aktivierungsmuster oder den hirnstrukturellen Gegebenheiten das klinische Ansprechen auf die Therapie vorherzusagen (. Tab. 21.1a). Es wurde z. B. in einer strukturellen MRT-Studie untersucht, ob sich bestimmte Hirnarealepsychotischer Patienten als Prädiktoren für das therapeutische Ansprechen auf eine KVT herausstellen (Premkumar et al. 2009). Dabei zeigte sich eine Assoziation zwischen dem Volumen einer Struktur des rechten Kleinhirns und einer Verbesserung in der Positivsymptomatik, während das Volumen einer Struktur des linken präzentralen Gyrus und des rechten inferioren Parietallappens mit einer Reduktion der Negativsymptomatik zusammenhing. Reduktionen in der Gesamtsymptomatik gingen mit einem größeren Volumen der grauen Substanz des rechten superioren temporalen Gyrus, des Cuneus und des Zerebellums einher. Außerdem verfügten KVT-Responder über ein größeres hippokampales Volumen als Personen, die nicht auf KVT ansprachen. Insgesamt erwiesen sich bei KVT-Patienten mit Schizophrenie diverse Hirnareale als prädiktive neurobiologische Korrelate des Therapieresponse, die im Rahmen mentaler Aktivität, kognitiver Flexibilität sowie verbalem Lernen und Gedächtnis eine koordinierende Position einnehmen. Allerdings beziehen sich die berichteten Befunde nur auf Gruppeneffekte, die Vorhersage am Einzelprobanden gelingt leider nicht. Neben dieser Studie zu Zusammenhängen von Hirnstruktur und Therapieerfolg wurden in 2 neueren Studien funktionelle Paradigmen eingesetzt (Kumari et al. 2009, 2010). In der ersten Studie wurde das N-back-Paradigma verwendet, um an-
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hand der Aktivität arbeitsgedächtnisassoziierter Netzwerke das Ansprechen auf eine therapeutische Intervention vorherzusagen. Hypothesengemäß erwies sich die aufgabenbezogene Aktivierung des dorsolateralen Präfrontalkortex (DLPFC) in der 2-back-Bedingung als Prädiktor für das KVT-Ansprechen (Kumari et al. 2009). In Konnektivitätsanalysen erwies sich eine stärkere prätherapeutische Aktivierung im DLPFC und deren Konnektivität mit dem Zerebellum als guter Prädiktor für ein stärkeres Ansprechen auf die Therapie. In der zweiten fMRT-Studie wurde ein Paradigma eingesetzt, das die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen selbst- und fremdgenerierten sprachlichen Äußerungen erforderte (Kumari et al. 2010). In dieser Studie zeigte sich die Aktivierung des linken inferioren frontalen Gyrus (IFG) bezüglich aller PANSS-Dimensionen als neuraler Prädiktor des therapeutischen Ansprechens. Außerdem zeigte sich eine positive Assoziation zwischen therapeutischem Effekt und einer geringeren bilateralen Deaktivierung des inferioren Parietallappens während eigenem im Vergleich zu fremdem verbalem Feedback. Eine schwächere Deaktivierung des medialen PFC und eine stärkere Aktivierung des Thalamus und des Praecuneus während der Präsentation von verzerrtem vs. unverzerrtem sprachlichen Stimulusmaterial erwiesen sich ebenfalls als prädiktiver Marker, da Patienten ohne Deaktivierung in den unverzerrten Bedingungen am stärksten auf die therapeutische Intervention ansprachen. Diese Befunde weisen darauf hin, dass sprachverarbeitende Mechanismen (IFG), Aufmerksamkeitsprozesse (Thalamus) sowie Einsicht und ein Bewusstsein des Selbst (medialer PFC, inferiorer Parietalkortex, Praecuneus) bei der Frage nach den Mediatoren der Wirksamkeit der KVT bei Schizophrenie eine wichtige Rolle spielen. Um also die bisher recht geringe Responderrate zu erhöhen, wäre es nach diesen Ergebnissen eventuell sinnvoll, Strategien zur Verbesserung der Selbstbeobachtung (»self-monitoring«), der sprachlichen Fähigkeiten und des Problembewusstseins in das therapeutische Setting zu implementieren. Zusammenfassend konnten in allen 3 Bildgebungsstudien Hirnareale identifiziert werden, die bei Patienten mit Schizophrenie mit einem bedeutsamen Ansprechen auf KVT assoziiert sind. Dabei
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Kapitel 21 · Neurobiologie der Psychotherapie
. Tab. 21.1 Befunde aus der Bildgebung zu Therapieeffekten bei Schizophrenie und Panikstörung Studie
Stichprobe
Bildungsverfahren
Prädiktoren des Therapieoutcomes
a) Prädiktoren des Therapieoutcomes bei Schizophrenie (Messung ausschließlich vor der Therapie) Premkumar et al. (2009)
Patienten mit Schizophrenie
Strukturelles MRT
KVT-Gruppe: höheres Volumen der Zerebellums, des linken präzentralen Gyrus, des rechten inferioren Parietallappens, des rechten superioren temporalen Gyrus, des Cuneus und des Zerebellums
fMRT, N-back-Aufgabe
KVT-Gruppe: stärkere Aktivierung des DLPFC, Konnektivität zwischen DLPFC und dem Zerebellum
fMRT, auditive Stimulation
KVT-Gruppe: stärkere Aktivierung des linken IFG, geringere inferiore parietale Deaktivierung, geringere mediale präfrontale Deaktivierung und stärkere Aktivierung des Thalamus und des Praecuneus; Patienten im Vergleich zu linken IFG und des Thalamus
n=25: KVT n=19: ST n=25: Kontrollen Kumari et al. (2009)
Patienten mit Schizophrenie n=16: KVT n=26: ST n=17: Kontrollen
Kumari et al. (2010)
Patienten mit Schizophrenie n=26: KVT n=26: ST n=20: Kontrollen
b) Therapieeffekte bei Panikstörung (Prä-post-Messungen) Prasko et al. (2004)
Patienten mit Panikstörung n=6: KVT
FDG-PET, RestingState, normalisierte Daten
Beide Behandlungsgruppen: Aktivierungsverminderungen hauptsächlich in rechten frontalen und temporalen Regionen, teilweise mit Überlappungen zwischen beiden Gruppen; Aktivierungsanstiege hauptsächlich in linken frontalen und temporalen Regionen, teilweise mit Überlappungen zwischen beiden Gruppen
FDG-PET, RestingState, normalisierte Daten
Aktivierungsverminderungen im rechten Hippocampus, im linken ACC, im linken Zerebellum und in der Pons; Aktivierungsanstiege im bilateralen mPFC
fMRT, Go-/No-go-Task mit Panik relativierten negativen und neutralen/positiven Wörtern
Vor der Behandlung Hyperaktivierung in limbischen Strukturen (Hippocampus und Amygdala) und Hypoaktivation im Prefrontalkortex in Response auf negative Wörter. Nach der Behandlung Normalisierung der Aktivierung
n=6: verschiedene Antipressiva
SakaI et al. (2006)
Patienten mit Panikstörung n=11: KVT
Beutel et al. (2010)
Patienten mit Panikstörung n=9: psychodynamische Therapie n=18: Kontrollen
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KVT: kognitive Verhaltenstherapie; ST: Standardtherapie; DLPFC: dorsolateraler präfrontaler Kortex; IFG: inferiorer frontaler Gyrus
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handelt es sich jedoch um Effekte auf Gruppenebene, die Einzelfallaussagen nicht zulassen. Dass die jeweiligen Areale zwischen den einzelnen Studien differieren, kann z. B. an den unterschiedlichen Aktivierungsparadigmen liegen. Bedenkt man allerdings die einzelnen Teilfunktionen wie Wahrnehmung, Kognition und Sprache, die bei diesen Patienten zum Teil stark beeinträchtigt sind, könnten die unterschiedlichen Aktivierungsmuster auch für mehrere funktionell abgrenzbare Bereiche oder Netzwerke des Gehirns sprechen, die spezifisch gestört sind. Problematisch bei diesen Studien ist, dass kein Prä-post-Vergleich durchgeführt wurde und dass die geringen Stichprobenumfänge die Generalisierbarkeit deutlich einschränken. z z Eine multizentrische Studie zu den Effekten der KVT bei Schizophrenie
Um dem Mangel an großen und aussagekräftigen Studien zu den Effekten von Psychotherapie bei Schizophrenie entgegenzuwirken, wurde der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte »Forschungsverbund Psychotherapie Psychotischer Syndrome« ins Leben gerufen, der durch die Zusammenarbeit von 8 nationalen Forschungseinrichtungen in der Lage ist, eine sehr große Anzahl von Patienten rekrutieren, therapieren und mit fMRT messen zu können. Innerhalb dieser multizentrischen, randomisierten klinischen Studie wird als übergeordnetes Ziel untersucht, ob durch störungsangepasste KVT eine bedeutsame Reduktion der Positivsymptomatik bei Patienten mit psychotischen Störungen erzielt werden kann und sich von einer supportiven Therapie (ST) abgrenzen lässt. In dem Teilprojekt zu den »Neuronalen Korrelaten von Effekten kognitiver Verhaltenstherapie bei der Behandlung von positiven Symptomen bei psychotischen Störungen«, ist das Ziel, mittels funktioneller Bildgebung diejenigen zerebralen Prozesse näher zu identifizieren, die mit der Entstehung und der Verbesserung dieser Symptome assoziiert sind. Dazu wurden 2 Paradigmen eingesetzt, die zum einen die neuralen Korrelate der Attributionsverzerrung (»attributional bias«) und zum anderen die neuralen Korrelate des vorschnellen Schlussfolgerns (»jumping to conclusions«) abdecken, welche häufig mit der wahnhaften Symp-
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tomatik einhergehenden. Es wird erwartet, dass sich anhand spezifischer, bereits vor der Therapie bestehender Gehirnaktivierungsmuster Aussagen bezüglich des Behandlungsergebnisses ableiten lassen. Da die Patienten vor Beginn und im Anschluss an die Therapie mittels fMRT gemessen werden, besteht ein weiteres Anliegen darin, Komponenten neuronaler Netzwerke ausfindig zu machen, die potenziell durch KVT verändert werden können. In ersten Auswertungen zeigt sich, dass sich neuroplastische Effekte von KVT bei Schizophrenie finden. Dies hat deshalb besondere Bedeutung, da es sich bei dieser Studie um therapieresistente Patienten handelt, die dennoch durch eigene Anstrengung im Rahmen der Therapie neuromodulatorische Effekte induzieren können. Auch bei chronischer Schizophrenie sind also trotz fortschreitenden störungsinhärenten neurodegenerativen Abbaus plastische Veränderungen gezielt möglich. z
Befunde zu Therapieeffekten bei Panikstörung
Innerhalb der Angststörungen, welche zu den häufigsten psychiatrischen Störungen zählen, stellt die Panikstörung mit Agoraphobie eine den Patienten zum Teil sehr beeinträchtigende Erkrankung dar. Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) fokussiert auf die Reduktion antizipatorischer Angst, die Verminderung der Frequenz spontaner Panikattacken und die Modifikation des Vermeidungsverhaltens. In den letzten Jahren sind wichtige Fortschritte bei der Entwicklung eines neurobiologisch fundierten pathogenetischen Konzepts der Panikstörung gemacht worden. In tierexperimentellen Studien zeigte sich, dass dem sog.»Furchtnetzwerk«, bestehend aus kortikalen und subkortikalen Strukturen, eine tragende Bedeutung zukommt. Auf subkortikaler Ebene spielen die Mandelkerne (Ncc. amygdalae) eine zentrale Rolle bei der Ausbildung des Furchtgedächtnisses und der Furchtextinktion (Sehlmeyer et al. 2010). Die Amygdalae sind verbunden mit anderen Regionen, welche für die Exekution der Furchtreaktionen (z. B. Hypothalamus und Hirnstamm) und für die Regulation der Furcht (z. B. Hippocampus und präfrontaler Kortex), aber auch für die Aufmerksamkeitslenkung des Organismus (z. B. Thalamus) von Bedeutung sind. Es wird angenommen, dass eine pathologische und
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antizipatorische Angst mit einer gesteigerten Erregbarkeit der Amygdalae in Verbindung steht, da möglicherweise hemmende Mechanismen seitens des präfrontalen Kortex zu wenig greifen (Hariri et al. 2003). Obwohl die Wirksamkeit der KVT schon lange bekannt ist und durch kontrollierte klinische Studien mehrfach nachgewiesen wurde (s. SanchezMeca et al. 2006), gibt es bisher nur wenig Evidenz darüber, welche Hirnareale bzw. Netzwerke durch die Intervention moduliert werden. Zur Klärung der zentralen Frage nach den neuralen Korrelaten von Therapieeffekten im Rahmen der Panikstörung wurden bisher 3 Studien durchgeführt. Zwei mit geringen Fallzahlen setzten die Positronenemmissionstomographie (PET) und den Stoffwechselmarker Fluor-18-markierte Desoxyglukose (18-FDG) ein, um veränderte neurale Prozesse in Response auf KVT zu erforschen. Die dritte Studie mit 9 Patienten nutzte fMRT, um Effekte einer psychodynamischen Therapie abzubilden (Tab. 21.1b). Die erste Studie untersuchte die Effekte von KVT und antidepressiver Medikation auf die Symptomatik der Panikstörung, indem sie die Hirnaktivierung im Ruhezustand (»resting state«) vor und nach verhaltenstherapeutischer Intervention mittels 18-F-FDG-PET verglichen (Prasko et al. 2004). In beiden Verfahren zeigte sich eine signifikante Reduktion der Symptomatik. Weiterhin gingen sowohl die psychotherapeutische als auch die pharmakologische Intervention mit statistisch bedeutsamen neuralen Veränderungen einher (Tab. 21.1). Nach KVT zeigte sich eine Verminderung der Glukoseutilisation im inferioren temporalen Gyrus sowie im superioren und inferioren frontalen Gyrus der rechten Hemisphäre sowie im medialen frontalen Gyrus der linken Hemisphäre. Im Gegensatz dazu war eine erhöhte Glukoseutilisation vor allem linkshemisphärisch zu beobachten und betraf den inferioren frontalen Gyrus, den mittleren temporalen Gyrus und die Insula. Obwohl die psychotherapeutische Intervention in dieser Studie hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nicht mit der pharmakologischen Intervention statistisch verglichen wurde, zeigte sich eine hohe Übereinstimmung zwischen beiden Therapieformen. Dies könnte dafür sprechen, dass KVT und antidepressive Medikation ihre Wirkung über ähnliche
neurale Mechanismen entfalten. Allerdings wurde in anderen Studien, vor allem zur Depression, die gegenteilige Vermutung aufgestellt, dass Psychotherapie und Psychopharmaka über entgegengesetzte Top-down- und Bottom-up-Wirkungsweisen operieren (Goldapple et al. 2004). Die zweite Studie wies mittels 18-F-FDG-PET bei Patienten mit Panikstörung vor einer KVT im Vergleich zu Gesunden erhöhten Glukoseverbrauch in der bilateralen Amygdala, dem Hippocampus, dem Thalamus, im Mittelhirn um das periaquäduktale Grau (PAG), im kaudalen Pons, in der Medulla und dem Kleinhirn nach (Sakai et al. 2006). Diese Regionen könnten einem neuralen »Panikschaltkreis« angehören, welcher auch das obengenannte Furchtnetzwerk beinhaltet. Insgesamt sprechen die Befunde für eine adaptive Modulierung und Normalisierung der genannten Strukturen durch KVT. Dies legt nahe, dass zumindest verhaltenstherapeutisch bedingte Verbesserungen der Symptome einer Panikstörung auch mit signifikanten Veränderungen in bestimmten Hirnarealen einhergehen. Obwohl beide PET-Studien die Modifikation zerebraler Aktivierungsmuster durch KVT bei Patienten mit Panikstörung belegen, ergaben sich auch heterogene Befunde. Dafür können methodische Mängel und eine mangelnde Vergleichbarkeit im Studiendesign verantwortlich sein. Die dritte Studie leitete eine vierwöchige psychodynamische Intervention ein, bei der es besonders um die mit Panik und Agoraphobie verbundenen Erfahrungen und die damit verbundenen inneren Konflikte geht (Beutel et al. 2010). Vor und nach der psychodynamischen Intervention wurde ein emotional-linguistisches Go-/No-go-Paradigma eingesetzt, um die therapiebedingten neuralen Veränderungen mit Hilfe der fMRT zu messen. Parallel zur Symptomverbesserung im Verlauf der Therapie zeigte sich auch eine Normalisierung des Aktivierungsmusters in der Patientengruppe, welches vor der Therapie durch eine Hyperaktivität limbischer Strukturen und eine Hypoaktivität des Frontalkortex ausgezeichnet war. Trotz des sehr unterschiedlichen therapeutischen Ansatzes sind diese Ergebnisse relativ konsistent mit den beiden PET-Studien zur KVT. Dies könnte ein erster Hinweis auf ähnliche Wirkmechanismen dieser unterschiedlichen Therapieverfahren sein. Vor einer übermäßigen Interpretation der bishe-
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rigen Ergebnisse ist allerdings zu warnen, da die kleinen Stichprobenumfänge und eine mangelnde Randomisierung ein besonders gravierendes Problem der 3 Studien darstellen. Ein geringer Stichprobenumfang geht mit einer niedrigen Power sowie einer hohen Wahrscheinlichkeit falsch-positiver Befunde einher und begrenzt die Generalisierbarkeit der Ergebnisse. In Zukunft sind deshalb dringend größere Stichproben sowie Patienten- und Gesundenkontrollgruppen erforderlich, um die interne und externe Validität zu erhöhen und den Einfluss konfundierender, aber auch klinisch relevanter Variablen zu untersuchen. z z Eine multizentrische Studie zu den Effekten der KVT bei Panikstörung
Um den Bedarf an großen und aussagekräftigen Studien zu den Effekten von Psychotherapie bei Panikstörung zu decken, wurde das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte multizentrische Projekt »PANIC-NET« ins Leben gerufen (Arolt et al. 2009). Mit bundesweit 8 Zentren (Aachen, Berlin, Bremen, Dresden, Greifswald, Marburg, Münster, Würzburg) ist die Rekrutierung der bisher weltweit größten Patientenstichprobe im Bereich der Panikstörung gelungen. Das übergeordnete Untersuchungsziel umfasst die Frage nach den entscheidenden Wirkmechanismen der KVT bei Patienten mit Panikstörung und Agoraphobie. Das Forschungscluster »Emotionale Reizverarbeitung und Aktivität des Angstnetzwerks bei Panikstörung: Eine multizentrische 3-TeslafMRT-Studie« befasst sich dabei mit der funktionellen Bildgebung innerhalb des PANIC-NET. Es wurden hierbei Patienten mit Panikstörung und Agoraphobie und eine gesunde Kontrollgruppe mit 3 fMRT-Paradigmen untersucht. Die Paradigmen fokussierten auf 1) die Missinterpretation sensorischer Wahrnehmung (Wahrnehmung eines veränderten Herzschlags) sowie deren kognitive Verarbeitung, 2) die Antizipation panikrelevanter Bilder und 3) den Erwerb und die Löschung konditionierter Angstassoziationen (Reinhardt et al. 2010). Alle Paradigmen wurden vor und nach der verhaltenstherapeutischen Intervention durchgeführt, um Informationen über therapieinduzierte Veränderungen im Furchtnetzwerk der Patienten zu liefern. Erste Analysen lassen bereits vielversprechende
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Tendenzen erkennen und sprechen für eine veränderte Aktivierung des Furchtnetzwerks bei Panikpatienten und für eine Normalisierung der veränderten neuralen Aktivierungsmuster nach KVT (Reinhardt et al. 2009). Weiterhin scheint bei Patienten mit Panikstörung der linke inferiore Frontalkortex eine besondere Rolle in der Akquisition einer Furchtreaktion auf einen neutralen Stimulus zu spielen. Weitere Analysen werden Aufschluss darüber geben, welche Komponenten an der pathologischen Konditionierungsreaktion und ihrer Therapie beteiligt sind und ob sich der Therapieerfolg durch bestimmte Aktivierungsmuster vorhersagen lässt. Im Rahmen einer zweiten Förderphase sollen nun die bisherigen Befunde mit Ergebnissen von 3 neuen fMRT-Paradigmen ergänzt werden: 1) Ein Paradigma zum semantischen Priming, um die neuralen Korrelate dieser gestörten Assoziationen zu identifizieren, 2) ein Paradigma zur interozeptiven Wahrnehmung angstrelevanter Stimuli und 3) ein Maskierungsparadigma mit unmaskierten und maskierten emotionalen Gesichtern. Analog zur ersten Förderphase liegt der Fokus auch hier auf den Kernmechanismen von KVT bei Panikstörung und deren neuralen Korrelate. Zusammenfassend hat sich bei der Untersuchung der neuralen Korrelate von Psychotherapieeffekten bei psychiatrischen Störungen gezeigt, dass es differenzielle zerebrale Wirkorte von Psychotherapie gibt, die abhängig vom jeweiligen Störungsbild und dem angewandten Therapieverfahren sehr unterschiedlich ausfallen können. Mit steigender Anzahl, Größe und Qualität an Studien könnte in Zukunft das Wissen über die neurobiologischen Korrelate von Psychotherapie einerseits einen Beitrag zur Klärung der Wirkmechanismen von Psychotherapie leisten, andererseits als neurale Prädiktoren des Therapieansprechens eingesetzt werden. Die Einführung der funktionellen Bildgebung in die klinische Forschung eröffnet somit ganz neue Perspektiven bezüglich Prävention und Intervention.
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Das Unkontrollierbare kontrollieren mit Neurofeedback? Klaus Mathiak
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 22 · Das Unkontrollierbare kontrollieren mit Neurofeedback?
Biofeedback hat aufgezeigt, dass sog. autonome Funktionen auch bewusst gesteuert werden können, und ist seit vielen Jahren im klinischen Routineeinsatz. Neurofeedback mit funktioneller Magnetresonanztomographie kann zur bewussten Regulation umschriebener Hirnregionen führen. Das Gehirn wird durch dieses psychologische Verfahren direkt moduliert und könnte so bewusst aus krankhaften Zuständen gesteuert werden. Wir stellen die Methodik und die bislang einzelfallartigen klinischen Daten vor. Es bestehen konkrete Aussichten auf klinische Anwendungen, die zumindest von hohem Forschungsinteresse sind.
Durch den Einsatz von Biofeedback haben wir gelernt, dass sog. autonome Funktionen durchaus der bewussten Kontrolle zugänglich sind. Über ein entsprechendes Feedback können die meisten Menschen lernen, Herzrasen, Hautgleitfähigkeit, periphere Pulsamplitude oder Temperatur der Extremitäten zu kontrollieren. Die Grundlage dazu bildet das autonome Nervensystem, das zumindest indirekt über klassische oder operante Konditionierung durch bewusste Kontrolle zu steuern ist. Auch Tierexperimente haben gezeigt, dass eine Vielzahl von neuronalen Netzwerken so konditioniert werden können und Tiere zur Erlangung einer Belohnung umschriebene Netzwerke hoch- oder herunterregulieren. Insbesondere konnten Affen lernen, über Multielektrodenableitung Roboterarme gezielt zu steuern, um Aufgaben durchzuführen. Hier scheint es nicht übertrieben zu sein, von einer bewussten Kontrolle zu sprechen, soweit dies bei Tieren möglich ist. In den letzten Jahrzehnten wurde ebenfalls gut etabliert, dass der Mensch viele neuronale Prozesse, die im Enzephalogramm (EEG) messbar sind, bewusst kontrollieren kann. Insbesondere können wir lernen, das Potenzial an einer zentral montierten Elektrode positiv oder negativ zu regulieren. Dies führte bereits zu Einsätzen, um die Anfallshäufigkeit bei Epilepsie zu modulieren. Es gelingt aber auch, spezifische Frequenzbänder absolut und relativ zu regulieren. Allerdings ist eine genauere räumliche Auflösung mit der EEGTechnik nicht möglich. In dieser Übersicht wollen wir uns deswegen auf den Einsatz der räumlich auflösenden funktionellen Kernspintomographie (fMRT) fokussieren (de Charms 2008).
Der prinzipielle Aufbau von Bio- und Neurofeedbacksystemen unterscheidet sich nicht. Zur Spezifizierung des Neurofeedback basierend auf der fMRT gilt es, 5 Ebenen zu unterscheiden. Zunächst muss das neuronale Signal erfasst und gemessen werden. In einem zweiten Schritt erfolgt die Darstellung dieses Signals nach Verarbeitung, um ein Feedback mit bewusster Verarbeitung dem Probanden zu ermöglichen. Für diesen besteht nun drittens die Instruktion, dieses Feedbacksignal kontrollieren zu lernen. Die Instruktionen haben einen bedeutsamen Einfluss auf den Lernerfolg und die Lerngeschwindigkeit. Wir gehen davon aus, dass Verstärker beim Lernen wirksam sind. Meist sind diese nur intrinsisch und nicht explizit definiert, etwa dadurch, dass der Proband beobachtet, dass ein Zeiger nach oben geht und dies dem gewünschten Ziel entspricht. Vermutlich wirkt hier eine implizite soziale Verstärkung. Diese Verstärker können auch direkt dargeboten werden durch verbales oder visuelles soziales Feedback oder über monetäre Verstärker. Über diesen Mechanismus lässt sich ein operantes Lernmodell gut erklären. Führt etwa eine bestimmte neuronale Aktivierung zur erkennbaren Erhöhung der Verstärkerwahrscheinlichkeit, so wird in Zukunft in derselben Situation diese neurale Aktivierung mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auftreten und somit als gelerntes Verhalten zu beobachten sein. Andererseits ist häufig zu beobachten, dass Probanden berichten, sie würden bestimmte Bilder oder kognitive Strategien anwenden (Weiskopf et al. 2003). Es ist nicht klar, ob es eine prinzipielle Möglichkeit gibt, zu unterscheiden, ob operantes Konditionieren zum Tragen kommt oder schlicht die richtigen kognitiven Strategien erkannt werden, noch ist klar, ob dies ggf. experimentell zu unterscheiden ist. Einem vierten Aspekt des Bio- und des Neurofeedback wird häufig wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Grundsätzlich ist eine Generalisierung des Lernens zu avisieren. Insbesondere soll die bewusste Kontrolle der neuralen Aktivität möglich sein, auch unabhängig vom gegebenen Feedback. Somit soll der Proband lernen, einerseits auch ohne das Feedback Signale zu haben und andererseits ohne in der spezifischen Situation zu sein, das heißt, nicht innerhalb des fMRT-Scanners, die
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22 · Das Unkontrollierbare kontrollieren mit Neurofeedback?
bewusste Kontrolle über die lokalisierte neurale Aktivität beibehalten zu können. Ein anderer Aspekt von Generalisierung ist im Allgemeinen beim Biofeedback erwünscht. Etwa soll die Temperaturregulation, die nur lokal an einem Finger gemessen wird, auf alle Extremitäten ausgedehnt werden. Ähnliches ist auch beim Neurofeedback ein avisiertes Ziel. Insbesondere für komplexe kognitive Funktionen stellen lokale Netzwerkknoten immer nur Teilfunktionen zur Verfügung. Die Erwartung ist etwa, dass es über eine lokale Faszilitation der Kontrolle beispielsweise im vorderen Cingulum gelingt, auch mit anderen Strukturen zusammenhängende Aktivierungen zu modifizieren – etwa Aktivierung in Spracharealen bei auditorischen und verbalen Halluzinationen. Aus klinischer Sicht kommt der fünften und letzten Ebene die meiste Bedeutung zu. Hier stellt sich die Frage, ob die bewusste Regulation letztendlich zur Symptomverbesserung und im größeren Kontext ggf. zur Verbesserung der Lebensqualität von Probanden oder Patienten führt. z
Aufbau eines Neurofeedbacksystems basierend auf fMRT
Praktisch kommen momentan nur Kernspintomographen mit einer Feldstärke von 3 Tesla beim fMRT-Neurofeedback zur Anwendung. Dies liegt an der Notwendigkeit, eine hohe Signalintensität zu haben, aber auch eine stabile klinische Anwendbarkeit. Echoplanare Bildgebung ermöglicht, alle 1–2 sec ein relevantes Volumensegment des Gehirns abzubilden. Hierzu werden alle 16–32 Schichten akquiriert. Im Gegensatz zu vielen anderen kognitiven Bildgebungsexperimenten schränkt man hier häufig das Bildgebungsvolumen ein, um dafür die interessierende Region häufiger abbilden zu können – etwa jede Sekunde – mit dem Ziel, die Reaktionszeit des Systems zu erledigen und auch die Signalsensitivität zu optimieren. Bei modernen Kernspintomographen findet die Bildrekonstruktion mit wenig Zeitverzug statt, sodass die spezialisierte Echtzeit-fMRT-Software auf bereits rekonstruierte Schichten mit Hilfe einer Netzwerkverbindung zugreifen kann. Auf diesen Datensatz werden nun ähnliche Algorithmen wie auch in der Vorverarbeitung von allgemeinen funktionellen Datensätzen angewendet. Bedeutsam hier ist ins-
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besondere eine effiziente, aber auch robuste Korrektur von Bewegungsartefakten. Im einfachsten Fall wird nun aus einer vordefinierten Region, etwa dem vorderen Cingulum, die mittlere Signalstärke extrahiert. Dieser nun alle 1–2 sec erhobene Zahlenwert wird dem sog. Brain-Computer-Interface (BCI) zugeführt. Die Aufgabe des BCI ist es, das beobachtete Signal so aufzuarbeiten und dem Probanden zu präsentieren, dass es möglichst leicht wird, die lokale neurale Aktivität zu steuern. Neben der Signalfilterung und dem Ausschluss von Extremwerten geht es hier um eine Anpassung an das Darstellungsfenster, die Umwandlung in ein gut erkennbares grafisches Display. Im Neuro- und Biofeedbackbereich wurden auch andere Rückmeldungsmodalitäten, wie auditorisch und taktil, erprobt, allerdings eignen sich diese weniger und sind insbesondere im lauten und vibrationsreichen MRT weniger geeignet. In den ersten Anwendungen wurde in der Tat die gesamte Aktivierungskarte dem Probanden zurückgemeldet, was jedoch dazu führt, dass die reichhaltige Information kaum verarbeitet werden kann und deswegen ein Lernen von systematischen Zusammenhängen erschwert wird. Infolgedessen wurde vermehrt eine Darstellung des Zeitverlaufs des regionalen Signals vorgenommen. Da in vielen frühen Untersuchungen nur Experten die Selbstkontrolle ihrer eigenen Hirnaktivierung erlernt hatten, schien dies ausreichend. In letzter Zeit beschränkt man sich auf die Rückmeldung eines einzelnen Signals. Die Darstellung kann etwa in Form eines Thermometers erfolgen, bei dem je nach Farbe eine Hoch- oder Herabregulation erfolgen soll. Weitergehend versuchen neuere Designs das Feedbad als direkten Verstärker wirken zu lassen. So etwa kann das Neurofeedback in Durchgänge eingeteilt werden und nach einem Zeitraum von etwa 10–20 sec wird eine Rückkoppelung gegeben, ob das Ziel erreicht wurde oder nicht; dies kann typischerweise durch das Gewinnen oder Verlieren von Geldbeträgen erfolgen. Als alternativen Weg haben wir beschrieben (Mathiak et. al. 2010), dass der Signalrückkoppelungswert in einem mehr oder weniger belohnenden Gesichtsausdruck verwandelt werden kann und so eine direkte soziale Verstärkung von Regulationserfolg stattfindet.
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Kapitel 22 · Das Unkontrollierbare kontrollieren mit Neurofeedback?
Zusammenfassend liegt der Proband oder Patient in einem klinischen fMRT-Gerät und beobachtet auf einem Display, ob oder wie gut seine Regulationen funktionieren (Weiskopf et al. 2004). z
Symptomverbesserung durch fMRT-Neurofeedback
Unsere momentanen Kenntnisse über klinische Anwendbarkeit und klinische Effekte von fMRTbasiertem Neurofeedback sind relativ klein. Dies ist allerseits durch die Neuheit der Methode begründet, andererseits gilt dies aber auch für andere Neurofeedback- und sogar für das klassische Biofeedbackverfahren. Bislang pilotierte klinische Anwendungsbereiche umfassen motorische Rehabilitation, Tinnitus und Schmerzerleben. Ziel einer neuroplastischen Behandlung bei motorischen Ausfällen kann die verbesserte Nutzung von motorischen Kontrollarealen sein. Etwa bei durch Schlaganfall bedingten Bewegungseinschränkungen kann die »Contraint-Induced-MovementTherapie« zentralnervös ein vergrößertes Kontrollareal erzeugen (Liepert et al. 1998). Ähnliche Vergrößerung von Kontrollarealen konnten durch Einsatz eines fMRT-BCI erlangt werden (z. B. de Charms et al. 2005). Insbesondere konnte durch die Steigerung neuraler Aktivität in prämotorischen Kontrollarealen die Fähigkeit für schnelle motorische Antworten gesteigert werden (Weiskopf et al. 2004). Die Vorstellung eines derartigen Lernprozesses ist, dass es ohne die Notwendigkeit einer erfolgreichen Kontrolle des motorischen Effektors bereits im Sinne eines »chainings« gelingt, zentralnervöse Motorareale zu konditionieren und dann in der Folge die gesamte motorische Kette zu rehabilitieren (Mathiak u. Weiskopf 2010). In einer Pionierarbeit haben de Charms et al. (2005) erstmals eine fMRT-Neurofeedbackstudie an einer Patientengruppe mit akuten Schmerzen vorgelegt. Zunächst wurde in einer Gruppe von gesunden Probanden der dorsale Anteil des vorderen Cingulums kontrolliert. Nachdem diese Kontrolle erlernt werden konnte, zeigte sich, dass die Bewertung von Schmerzreizen proportional zur regulierten Hirnaktivität ist. In der darauf basierenden Therapiestudie wurde das Neurofeedback mit einem peripher-physiologischen Biofeedback verglichen und in einer relativ kleinen Gruppe eine
signifikant verbesserte Schmerzbewältigung nach dem Neurofeedback im Vergleich zum peripheren Biofeedback festgestellt. Somit wurde hier erstmals das Potenzial eines lokalisierten Neurofeedbackverfahrens illustriert. Für den Bereich der psychischen Störungen liegen noch keine klinischen Studien vor. In laufenden Studien wird die Wirkung auf psychopathologische Symptome wie Halluzinationen bei Schizophrenie und Depressivität untersucht. In eigenen Pilotdaten beschreiben Patienten mit langjähriger therapieresistenter auditorischer Halluzination, dass durch Neurofeedback der Eindruck einer Kontrollierbarkeit dieser Symptome entstehen kann. Dies hat eine durchaus signifikante Bedeutung für die Erlebnisqualität einzelner Patienten. Bezüglich des Affekts von Normalprobanden wurde wiederholt beobachtet, dass erfolgreiches Neurofeedback zur Modulation des Affekts führen kann. Einerseits konnte Ekel durch die Kontrolle der vorderen Insel moduliert werden (Caria et al. 2007), aber auch die Kontrolle des vorderen Cingulums führte zur Verbesserung des Stimmungsratings (z. B. Weiskopf et al. 2003). Das dabei involvierte Netzwerk ähnelt sehr dem der gestörten Kontrolle bei depressiven Patienten. Weiter als unterstützend für die Hypothese eines Positiveffekts sei erwähnt, dass auch Tiefenhirnstimulation im Bereich des subgenualen Cingulums zu Stimmungsbesserung bei therapieresistenten Depressionen geführt hat. Im Parallelschluss zu neuromodulatorischen Verfahren durch Tiefenhirnstimulation oder transkranieller Magnetstimulation können Hypothesen zur Modulation von psychopathologischen Symptomen entwickelt werden. Es ergeben sich Hinweise darauf, dass Neuromodulation akut, aber auch im Kurzzeittransfer Effekte auf Schmerz, Stimmung, aber auch psychotische Symptome haben kann. Auch wenn schwer zu antizipieren ist, dass das aufwendige Verfahren des fMRT-Neurofeedbacks breite Anwendung finden wird, so kann es jedoch als Modell zur psychogenen Modulation von bisher unkontrollierbaren psychopathologischen Symptomen führen. Deswegen ist die Selbstregulation lokalisierter Hirnaktivitäten vielversprechender Zweig der aktuellen Psychotherapieforschung. Die Erweiterung zur netzwerkspezifisch modulier-
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22 · Das Unkontrollierbare kontrollieren mit Neurofeedback?
ten Psychopharmakotherapie ist allerdings bislang noch nicht erfasst. Als bemerkenswerte Eigenschaft für Psychotherapieforschung zeigt sich, dass durch die Lokalisationsspezifität sehr genau Hypothesen kontrolliert und verglichen werden können. Somit kann auch hier ein Transfer geleistet werden, inwieweit therapeutische Verfahren spezifisch auf ein theoretisiertes Netzwerk wirken.
Literatur Caria A, Veit R, Sitaram R, Lotze M, Weiskopf N, Grodd W, Birbaumer N (2007) Regulation of anterior insular cortex activity using real-time fMRI. NeuroImage 35:1238–46 de Charms RC (2008) Applications of real-time fMRI. Nat Rev Neurosci 9:720–9 de Charms RC, Maeda F, Glover GH, Ludlow D, Pauly JM, Soneji D, Gabrieli JD, Mackey SC (2005) Control over brain activation and pain learned by using real-time functional MRI. PNAS USA 102:18626–31 Liepert J, Miltner WHR, Bauder H, Sommer M, Dettmers C, Taub E, Weiller C (1998) Motor cortex plasticity during constraint-induced movement therapy in stroke patients. Neurosci Lett 250:5–8 Mathiak K,Weiskopf N (2010) Neurofeedback mit EchtzeitfMRT. In: Schepank G (Hrsg) Neurobiologie der Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart Mathiak KA, Koush Y, Dyck M, Gaber T, Zepf F, Zvyagintsev M, Mathiak K (2010) Social reinforcement can regulate localized brain activity. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 260:132–136 Weiskopf N,Veit R, Erb M,Mathiak K,Grodd W,Goebel R, Birbaumer N (2003)Physiological self-regulation of regional brain activity using real-time functional magnetic resonance imaging (fMRI). NeuroImage 19:577–586 Weiskopf K, Mathiak K, Bock SW, Scharnowski F, Veit R, Grodd W, Goebel R, Birbaumer N (2004) Principles of a BrainComputer Interface (BCI) Based on Real-Time Functional Magnetic Resonance Imaging (fMRI). IEEE Trans Biomed Eng 51:966–970
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Forschungsförderung und Psychotherapie – Status und Verbesserungsansätze Peter Falkai, Fritz Hohagen
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 23 · Forschungsförderung und Psychotherapie
Die Medizin hat sich in den letzten Jahrzehnten sowohl methodisch als auch technisch atemberaubend weiterentwickelt. Auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie betrifft dies insbesondere die Entwicklung neuer Psychotherapiemethoden von der Konzeptualisierung bis hin zur Anwendung unter Routinebedingungen. Besonders prominent sind hierbei die interpersonelle Psychotherapie (IPT) und die sog. kognitive Verhaltenstherapie (KVT) für Psychosen. Zu diesem Fortschritt hat entscheidend die Förderung des BMBF in enger Abstimmung mit der DFG beigetragen, die leider 2012 ausläuft. Dieser Beitrag soll kurz den aktuellen Stand der Psychotherapieforschung in Deutschland unter diesen Rahmenbedingungen darstellen und notwendige Zukunftsperspektiven entwickeln.
z
. Tab. 23.1 Phasenmodell einer evidenzbasierten Psychotherapie Phase
Schwerpunkt
Art des Vorgehens
Phase I
Konzeptualisierung
1. Bestandsaufnahme vorhandener Therapieerfahrungen 2. Symptom- und Problemanalyse 3. Manualisierung
Phase II
Nichtkontrollierte Studien
2. Offene Studien 3. Durchführbarkeitsstudien
Notwendigkeit für neue Psychotherapiemethoden in der Psychiatrie und Psychotherapie?
In der Bundesrepublik Deutschland steht nur jeder dritte psychisch Erkrankte im Kontakt mit einer therapeutischen Einrichtung, hiervon erhalten wiederum nur ca. 10 % eine adäquate, leitliniengerechte Behandlung (Wien et al. 2008). Für die großen psychischen Erkrankungen wie Suchterkrankungen, affektive Störungen, psychotische Erkrankungen oder hirnorganische Psychosymptome gibt es qualifizierte Psychotherapieverfahren, die aber in der klinischen Routineversorgung nur unzureichend angewendet werden. Dies beruht im Wesentlichen auf der Anwendung dieser Verfahren im Rahmen der sog. Richtlinienpsychotherapie, die ein aufwendiges Antragsverfahren und eine starre Anwendung in stabileren Phasen der Erkrankungen beinhalten. Psychische Erkrankungen haben aber einen fluktuierenden Verlauf und somit besteht ein der Aktualität und Ausprägung der Symptomatik anzupassender Hilfebedarf. Auch sollten unterschiedliche Verlaufsformen berücksichtigt werden, die mit sehr unterschiedlichen Prognosen für den Langzeitverlauf einhergehen. Zusammengefasst existieren sehr gute, teilweise für die breite klinische Anwendung validierte Psychotherapieverfahren, was aber nicht für störungsspezifische Ansätze in unterschiedlichen Phasen bei psychischen Krankheiten gilt. Dementsprechend müssen neue evidenzbasierte Psychotherapien entwickelt bzw. existente Verfahren
1. Verlaufsbeschreibende Prä-post-Analysen
4. Prozessoutcomestudien (Wirkfaktoren) Phase III
Phase IV
Kontrollierte Studien
1. Efficacystudien/RCTs
Anwendungsstudien unter Routinebedingungen
1. Nichtrandomisierte Effectivenessstudien
2. Randomisierte Effectivenessstudien mit erweiterten Einschlusskriterien („large pragmatic trials“)
2. Anwendungsbeobachtungen
den aktuellen Versorgungsbedürfnissen angepasst werden. Zudem bedarf es einer wissenschaftlich fundierten Überprüfung, welcher Personenkreis ab wann eine Psychotherapie benötigt, wie lange und mit welcher Methodik. z
Wie werden neue Psychotherapieverfahren evidenzbasiert entwickelt?
Ein an die Entwicklung von Psychopharmaka angelehntes Phasenmodell zeigt die Entwicklung evidenzbasierter Psychotherapie von der Konzeptualisierung bis hin zu Anwendungsstudien unter Routinebedingungen (. Tab. 23.1). Dabei erfolgt zunächst eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Therapieerfahrungen nebst einer Symptom- und Problemanalyse. Die für die Symptomatik ent-
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23 · Forschungsförderung und Psychotherapie
wickelten Lösungsansätze werden in Form eines Manuals schriftlich niedergelegt und zunächst in nichtkontrollierten, offenen Studien überprüft, um nach Hinweis auf die Wirksamkeit der Therapieintervention anschließend in einer kontrollierten Studie im Sinne eines »randomized clinical trials« untersucht zu werden. Um ihre Anwendung unter Routinebedingungen zu ermöglichen, müssen schließlich in Phase IV Anwendungsbeobachtungen bzw. nichtrandomisierte Effectivenessstudien erfolgen. Aus diesem Phasenmodell wird ersichtlich, dass die Entwicklung evidenzbasierter Psychotherapiemethoden mit erheblichen Investitionen verbunden ist und es vieler Jahre bedarf, einzelne psychotherapeutische Verfahren voranzubringen. Darum ist eine längerfristige und angemessene Förderung der Psychotherapieforschung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unerlässlich, damit Deutschland in diesem Bereich auch künftig kompetitionsfähig bleibt. z
Wer fördert Psychotherapieforschung?
Im Rahmen des Förderschwerpunktes Psychotherapie fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zwischen 2006 und 2012 die Psychotherapieforschung in Deutschland mit einem Gesamtvolumen von bis zu 25 Mio. Euro. Unter dem Dach von 5 Netzwerken erhielten 24 Institutionen Zuwendungen. Die 5 Netzwerke konzentrieren sich auf Essstörungen (EDNET), soziale Phobie (SOPHO-NET), Panikstörungen (Panik), psychotische Störungen (POSITIVE-NET) und ADHS (ADHD). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt die Psychotherapieforschung mit allen verfügbaren Förderinstrumenten zur Antragstellung. Von 2005 bis 2010 wurden 25 Projekte innerhalb der Fachkollegien bewilligt, davon 14 im Bereich Psychologie und 7 im Bereich Neurowissenschaft. Die Fördersummen liegen zwischen 20.000 und 1.114.000 Euro pro Projekt. Betrachtet man die antragstellenden Institutionen, so wurden die Bewilligungen 11-mal an Kliniker für Psychiatrie/Psychosomatik und Psychotherapie, 8-mal an psychologische Institute und in 2 Fällen an weitere Institutionen ausgesprochen. Zu den antragsstellenden Institutionen zählen die Universitäten Freiburg,
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Jena, München, Bochum, Mannheim (Zentralinstitut), Düsseldorf, Köln, Göttingen, Bonn, Dresden, Heidelberg, Marburg, Irvin (University of California) und Toronto (York University Kanada). Der Blick auf die Themen und Projekte zeigt, dass 19 der 21 Projekte für den Bereich der Erwachsenen und lediglich 2 für den Bereich der Kinder und Jugendlichen ausgelegt sind. Beim Verfahren wurden überwiegend Studien zur kognitiven Verhaltenstherapie (n=7), 2 zur Extinktion/Exposition, 2 zur Psychoedukation und jeweils eine zu CBASP und zur dialektisch-kognitiven Traumatherapie gefördert. Ein substanzieller Anteil der Studien betraf das Krankheitsbild Depression (n=6), gefolgt von jeweils 2 Projekten im Bereich PTSD, soziale Phobie, Schizophrenie und koronare Herzerkrankung. Paruresis, chronischer Schmerz, Bulimia nervosa und bipolare Störungen wurden mit jeweils einem Projekt unterstützt. z
Wie soll es weitergehen?
Die Forschungskosten für neue Arzneimittel werden von der Industrie über den Preis an Patienten und die Solidargemeinschaft der Versicherten weitergegeben. Diese Art der Forschung gilt als Investition in zukünftige Renditeerwartungen. z
Wie sieht es nun mit der Förderung der Psychotherapieforschung in Deutschland aus?
Der »Förderschwerpunkt Psychotherapieforschung« des BMBF läuft 2012 aus. In Gesprächen des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) mit der Spitze des Ministeriums kam dieser Umstand deutlich zur Sprache und schien beim Gesprächspartner auf eine gewisse Offenheit zu stoßen. Leider ist der Förderarm »Klinische Studien« seitens des BMBF ebenfalls ausgelaufen, auch wenn selbstverständlich weiterhin die Möglichkeit besteht, im Rahmen der DFG-Förderinstrumente Psychotherapiestudien, insbesondere der Phasen I und II, vorzuschlagen. An dieser Stelle gilt es aber nochmals, die Forderungen des wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie aus dem Jahre 2000 zu unterstreichen:
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Kapitel 23 · Forschungsförderung und Psychotherapie
1. Schaffung der organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen für eine adäquate Evaluationsforschung im Bereich der Psychotherapie 2. Kontinuierliche Förderung 3. Bewilligungsstrukturen, die ggf. auch erforderliche Studien initiieren können (vgl. NIMH, NHS). Es gilt zu verhindern, dass Kosten für die Entwicklung neuer Psychotherapieverfahren ebenfalls der Solidargemeinschaft aufgebürdet werden. Vielmehr müssen diese Forschungskosten über die Allgemeinheitssteuer finanziert und die Gelder transparent über die Ministerien und Anstalten Öffentlichen Rechts verteilt werden. Psychotherapie muss im Rahmen der Strukturqualitätssicherung gewährleistet werden. Abschließend sei an dieser Stelle Herrn Prof. Henning Saß für seinen unermüdlichen Einsatz für das Fach Psychiatrie und insbesondere für die Psychotherapieforschung in der Psychiatrie gedankt. Neben seinen wegweisenden Arbeiten im Bereich der Forensik und der Forschung zu Persönlichkeitsstörungen hat er wesentliche Anstöße zur Bearbeitung von Psychotherapieverfahren in der Psychiatrie gegeben. Dies mündet in der aktuellen Wirkungsweise seiner Schülerin Prof. Sabine Herpertz, die als Lehrstuhlinhaberin unseres Fachs in Heidelberg ihren Schwerpunkt in den Bereich der Psychotherapieforschung gelegt hat.
Literatur Wien S, Bergmann F, Niebling W, Schneider F (2008) Grundlagen. In: Schneider F, Niebling W (Hrsg) Psychische Erkrankungen in der Hausarztpraxis. Springer, Heidelberg, S 3–18
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Klinische Forschung Kapitel 24
Welche Rolle spielt Dopamin bei psychischen Erkrankungen? – 147 Ingo Vernaleken
Kapitel 25
Bildgebung genetischer Aspekte des ParkinsonSyndroms – 153 Kathrin Reetz
Kapitel 26
Störungen der neuronalen Repräsentation von Handlungsintentionen bei psychischen Erkrankungen – 159 Knut Schnell
Kapitel 27
Metaanalysen, Datenbanken und Modelle in der psychiatrischen Forschung – 169 Simon B. Eickhoff, Claudia Rottschy
Kapitel 28
Management in der psychiatrischen Forschung – 179 Volker Backes
Kapitel 29
Neurowissenschaftliche Befunde bei Drogenkonsum – 185 Hanns Jürgen Kunert
Kapitel 30
Neuronale Korrelate belohnungsorientierten Verhaltens und Implikationen für Abhängigkeitserkrankungen – 191 Katja Spreckelmeyer
Kapitel 31
Möglichkeiten und Grenzen der Elektrokrampftherapie – 195 Michael Grözinger
V
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Welche Rolle spielt Dopamin bei psychischen Erkrankungen? Ingo Vernaleken
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 24 · Welche Rolle spielt Dopamin bei psychischen Erkrankungen?
Es gibt deutliche Hinweise für eine dopaminerge Beeinflussungsfähigkeit wie auch für eine diesen Therapieprinzipien reziprok entgegenstehende Pathologie bei verschiedenen psychischen Erkrankungen. Dabei stellen diese Befunde nicht notwendigerweise die primären ätiogenen Faktoren dar, können aber als gemeinsame Endstrecke verschiedener pathogener Faktoren verstanden werden.
Für den klinisch tätigen Psychiater nimmt das dopaminerge Transmittersystem insbesondere in therapeutischer Hinsicht eine herausragende Rolle ein. Ohne dass beispielsweise das Wirkprinzip von D2-Rezeptorantagonisten zu Beginn ihrer klinischen Verwendung durch eine wissenschaftliche Hypothese gestützt oder auch nur bekannt gewesen wäre, war es jedoch genau diese Substanzklasse, die beginnend durch die eher zufällige Entdeckung ihrer antipsychotischen Wirkung durch Delay und Deniker (1952) sowohl die Behandlungsstrategien wie auch das biologische Verständnis der psychotischen Krankheitsbilder maßgeblich und dauerhaft verändert hat. Auch wenn es aktuell Bestrebungen gibt, andere Substanzen neben den D2-Antagonisten zur Produktreife zu bringen, so sind zurzeit noch alle klinisch einsetzbaren Antipsychotika obligat Inhibitoren (allenfalls Partialagonisten) am D2-Rezeptor. Umgekehrt kann jeder Substanz, welche die Blut-Hirn-Schranke passieren kann und einen relevanten D2-Antagonismus zeigt, eine antipsychotische Wirkung unterstellt werden. Dieses für Psychiater nahezu zur Selbstverständlichkeit gewordene Prinzip muss allerdings unter Würdigung der Gesamtsituation der psychiatrischen Krankheitslehre bzw. der Psychopharmakologie als außergewöhnliches Charakteristikum gelten. Grundsätzlich sind bedingt durch die frustranen Versuche, biologische Krankheitsentitäten zu definieren, alle Erkrankungen der Psychiatrie eher prototypische – rein durch den Phänotyp, allenfalls zusätzlich durch den zeitlichen Verlauf – definierte Erkrankungen, denen man durchaus eine heterogene Ätiologie zusprechen muss. Für viele psychische Leiden ist die Wirksamkeit von recht unterschiedlichen Substanzen mannigfaltigster Pharmakodynamik belegt. Eine depressive Episode beispielsweise kann sowohl durch noradrenerge, serotonerge als auch dopaminerge Mecha-
nismen beeinflusst werden. Trotz einer der Depression vergleichbaren klinischen Komplexität ist das pharmakologische Therapieprinzip der Psychosen bisher noch weitestgehend monomorph. Dem Dopaminsystem kann weder eine durchgängig inhibitorische noch eine exzitatorische Wirkung zugeordnet werden; die Funktion jenes Transmittersystems ist vielmehr hochgradig modulatorisch zu verstehen. Makroanatomisch definiert man dieses System noch immer nach der Klassifikation von Dahlström und Fuxe (1964) als A8-A10-Neurone (A für Dopamin/Noradrenalin; B für Serotonin und C für Adrenalin). Aus psychiatrischer Sicht sind hier insbesondere die Bahnen von Bedeutung, welche aus der Substantia nigra pars compacta (A9) in das ventrale Striatum sowie aus der ventralen Brückenhirnhaube in den Nucleus accumbens projizieren (A10). Dabei wird es unter anderem auch Bestandteil des allgemein etwas vereinfachend Belohnungssystem genannten Bahnensystems, welches wie eine Bedeutungszuweisung für Stimuli fungiert, die Wahrnehmungen, Erlebnisse, Emotionen und Gedanken codieren. Unerwartete Ereignisse oder »Gewinn- und Belohnungserwartungen« führen zu einer Aktivierung des Systems und messen dieser Situation bzw. den assoziierten Aktivierungen eine höhere Bedeutung zu bzw. ermöglichen deren neuronale Weiterleitung. Dieser Prozess ist insbesondere für Lern- und Löschungsvorgänge von besonderer Relevanz. Die dopaminergen Neurone wirken dabei auf kortikostriatothalamische Kreisläufe in hochregulierender sowie regulierter Weise ein. D1- und D2-rezeptorvermittelte Wirkungen beeinflussen zum Teil unterschiedliche Projektionswege, die funktionell antagonistisch reagieren. Aber auch auf kortikaler Ebene findet sich ein komplexer funktioneller Antagonismus von D1- und D2-artigen Rezeptoren, welcher aber nicht einfach als Stimulation oder Inhibition gewertet werden kann. Der dopaminerge Einfluss moduliert die Exzitabilität der glutamatergen Pyramidenzellen entweder direkt oder aber über die Modulation, deren Inhibition via GABAerger Interneurone. Der funktionelle Effekt hängt dabei nicht nur vom Dopaminrezeptortypus ab, sondern auch von der Dopaminkonzentration, dem zeitlichen Verlauf sowie denintrazellulären Potenzialen. Diese Interaktionen sind hochgradig
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24 · Welche Rolle spielt Dopamin bei psychischen Erkrankungen?
komplex, aber gut untersucht (Seamans u. Yang 2004). Auf der Grundlage dieser Informationen stellten die Autoren Durstewitz und Seamans (2002) die Hypothese auf, dass unter D1-vermitteltem Einfluss eher eine fokussierte Informationsverarbeitung stattfindet, welche viele niedrigschwellige Informationen filtert und überschwellige Reize verstärkt. Unter D2-vermitteltem Einfluss wurde eine eher liberale Prozessierung vermutet. Vor diesem Hintergrund kann man postulieren, dass der Dopamineinfluss das Signal-Rausch-Verhältnis dieser Prozesse regelt. Eine simplifizierende Übertragung dieser Hypothese von jenen elektrophysiologischen Daten hin zu einer Deutung im eher komplexen klinischen Sinn ist sicher angreifbar. Tatsächlich konnte aber im Tierversuch erkannt werden, dass insbesondere die experimentelle Manipulation der D1Transmission sowohl durch eine zu starke Inhibierung als auch durch eine zu starke Aktivierung insbesondere Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisleistungen verschlechtern kann. Weniger gut untersucht sind die Effekte der D2-Rezeptoren auf die Kognition. Auch hier ergeben sich aber biphasische Effekte. Interessanterweise sind Störungen der Aufmerksamkeit durchaus Kernsymptome einiger Erkrankungen, die sich rein empirisch betrachtet gut durch anti- oder prodopaminerge Substanzen behandeln lassen. Über das Konstrukt der reinen Aufmerksamkeitsstörung hinaus wurde für die Schizophrenie sehr früh die Hypothese aufgestellt, dass Patienten insbesondere in Bezug auf die Wahrnehmung Probleme haben, relevante von irrelevanten Inhalten zu unterscheiden. Patienten berichten häufig insbesondere für Zeiträume nahe bei oder vor dem Beginn der Psychose, dass sie das Selbstverständliche der Interpretation von Wahrnehmungen, aber auch in abstrakterer Form von Empfindungen und Gedanken verloren haben. Unter anderem deswegen wurde der Bergriff der Filterstörung postuliert. Für eine relevante Rolle des Dopamins in der Schizophrenieentwicklung sprechen somit sowohl die oben genannte obligate D2-antagonistische Wirkung eines jeden klinisch verfügbaren Antipsychotikums als auch oben genannte Befunde und Modellrechungen aus der Eletrophysiologie.
24
Für Erkrankungen, die aufgrund der klinischen Empirie primär auf pro- oder antidopaminerge Therapiestrategien ansprechen, wäre vor diesem Hintergrund folgerichtig eine beobachtbare Pathologie dieses Transmittersystems anzunehmen. Exemplarisch soll dies hier für die Schizophrenie (Therapie durch D2-Rezeptorantagonisten), das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (D2-Rezeptorantagonimus als wichtiger Therapiebestandteil) sowie das Aufmeksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHD) (Therapie durch DAT-Inhibitoren) erörtert werden. Zur Darstellung entsprechender Pathologien kann die Positronenemissionstomographie (PET) trotz einiger methodischer Einschränkungen, die sich primär aus der geringen zeitlichen sowie auch begrenzten räumlichen Auflösung und der Limitierung der intraindividuellen Wiederholbarkeit solcher Untersuchungen ergeben, entscheidend beitragen. Sie stellt die aktuell beste Möglichkeit dar, In-vivo-Befunde der Rezeptorverfügbarkeit, Transporterdichte und der Transmittersynthese zu erheben. Sehr früh wurden daher bereits in den 1980er Jahren PET-Untersuchungen bei Schizophreniepatienten durchgeführt. Auch wenn aus methodischen Gründe die Daten einer gewissen Varianz und Inkonsistenz unterliegen, kann in der Zusammenschau recht sicher davon ausgegangen werden, dass insbesondere die D2-Rezeptoren im Striatum um ca. 10–20 % in ihrer Verfügbarkeit erhöht sind, was vermutlich tatsächlich auf eine erhöhte Dichte dieser Rezeptorklasse zurückzuführen ist. Für die extrastriatalen Areale ist die Datenlage kontroverser. Es finden sich Berichte von erniedrigten bis hin zu erhöhten D2-Rezeptorverfügbarkeiten im Thalamus sowie in kortikalen Regionen, so etwa dem Temporalpol. Möglicherweise kommen diese Unterschiede durch Variationen des Patientenkollektivs zustande. So scheinen Patienten am Anfang ihrer Erkrankung sowie eventuell noch vor der akuten produktivpsychotischen Exazerbation eine deutliche Erhöhung der D2-Rezeptoren zu zeigen, während Patienten mit längerer Erkrankungsdauer eine Normalisierung dieser Befunde aufweisen (Vernaleken et al. 2008). Für die D1-Rezeptoren ist die Datenlage noch nicht eindeutig. Aber nicht nur auf D2-Rezeptorebene finden sich Befunde; auch die präsynaptischen Syntheseprozesse scheinen verändert zu
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Kapitel 24 · Welche Rolle spielt Dopamin bei psychischen Erkrankungen?
sein. Sowohl für Patienten wie auch für Prodrompatienten ist übereinstimmend eine erhöhte Dopaminsynthesekapazität im [18]F-FDOPA-PET gezeigt worden (Kumakura et al. 2007). Im Rahmen des Versuchs, Parameter für den dopaminergen Umsatz zu definieren, fanden sich deutliche Erhöhungen dieses Turn-over bis zum doppelten des Normalen. Üblicherweise ist bei gesunden Personen der dopaminerge Umsatz gut reguliert. Bei Patienten scheint dagegen die Dopaminausschüttung entkoppelt zu sein. Somit ergibt sich gleichzeitig bei den Patienten eine Erhöhung der Dopaminausschüttung bei erhöhter Dopaminsynthesekapazität als auch eine Erhöhung der D2-Rezeptorendichte. In Zusammenschau mit den oben genannten elektrophysiologischen Ergebnissen spräche dies hypothetisch für eine zu »liberale« Form der Informationsprozessierung, was möglicherweise als Vulnerabilitätsfaktor für produktiv-psychotisches Erleben gewertet werden kann. Diese Veränderungen scheinen dabei eher langfristiger und stabiler Natur zu sein; es erscheint trotz einiger gegenteiliger Beobachtungen als eher unwahrscheinlich, dass es eine direkte Kopplung mit der akuten Befundschwere gibt. Über die Gründe, welche zu dieser dopaminergen Dysregulation führen, kann lediglich spekuliert werden, wahrscheinlich handelt es sich dabei auch um multiple und polyfaktorielle Prozesse. Die Medikation durch D2-Rezeptorantagonisten, welche trotz der klinischen Komplexität – wie geschildert – empirisch eine klare Wirksamkeit nachweisen konnte, muss jene D2-Rezeptoren mit mindesten 60 % inhibieren. Unklar ist dabei allerdings, welche Zielregion hier relevant ist. PET-Untersuchungen mit hochaffinen D2-Rezeptorliganden konnten jedoch Hinweise liefern, dass nicht nur striatale Regionen, sondern auch thalamische oder kortikale Strukturen für die klinische Wirkvermittlung relevant sein können (Vernaleken et al. 2011). Darüber hinaus verursacht eine D2-antagonistische Behandlung aber auch Wirkungen auf präsynaptischer Seite. So konnte invivo erkannt werden, dass die Dopaminsynthesekapazität bei chronischer Behandlung nach initialem Anstieg deutlich und signifikant abnimmt (Zusammenfassung: Vernaleken et al. 2008). Insofern kann durch bildgebende Verfahren sowohl auf prä- als auch auf postsynaptischer Seite eine deutliche gegensinnige
Beeinflussung der Dopamintransmission exakt bei den Parametern detektiert werden, welche bei Patienten pathologisch verändert sind. Eine ähnliche Situation ergibt sich bei Gillesde-la-Tourette-Patienten (GTS). Auch diese können zu einem erheblichen Anteil von zentralen D2-Antagonisten profitieren. Es finden sich zur D2-Rezeptorendichte bei diesen Patienten etliche methodisch gut durchgeführte Untersuchungen. In der Zusammenschau findet sich primär im Gegensatz zur Schizophrenie eine Reduktion der D2Rezeptordichte bei allerdings deutlich erhöhtem Dopaminumsatz (erhöhte Ausschüttung) (Wong et al. 2008). D2-Rezeptorantagonisten können das Ausmaß der D2-vermittelten Transmission naturgemäß reduzieren. Es stellt sich aber die Frage, ob wichtige Alternativverfahren – beispielsweise bei Therapieresistenz – ebenfalls auf das Dopaminsystem wirken. Als hocheffektive Maßnahme hat sich bei therapierefraktären Patienten die tiefe Hirnstimulation erwiesen. Als Zielpunkte können hier beispielsweise die Capsula interna, der Nucleus accumbens oder die ventrolateralen sowie die mediodorsalen Kerne des Thalamus genannt werden. Bei Patienten mit stabiler thalamischer Stimulation, welche ein gutes Therapieansprechen gezeigt haben, fanden sich konsistent deutliche Reduktionen des Bindungspotenzials für den Radioliganden, wenn experimentell bedingt die Stimulation ausgeschaltet wurde (Vernaleken et al. 2009). Diese Effekte waren deutlich räumlich auf die Elektrodenposition limitiert, zeigten aber inverse Effekte in weiten Teilen des Striatums. Auch für das GTS zeigt sich, dass trotz einer anderen Pathologie die Beeinflussung einer zugrundeliegenden dopaminergen Veränderung mittels durchaus unterschiedlichen Mechanismen deutliche positive Effekte auf die Klinik der Erkrankung hat. Ähnliches gilt für ADHD-Patienten, welche im Mittel eine Erhöhung der Dopamintransporterdichte aufweisen, was simplifiziert ausgedrückt eine Reduktion synaptischer Dopaminkonzentrationen zur Folge hat. Die in klinischer Hinsicht rasch und recht zuverlässig wirkende Methylphenidatbehandlung verursacht pharmakodynamisch u. a. die Blockade dieser Transporter. Obgleich durch solche molekularen Bildgebungsverfahren nicht die primären ätiologischen
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24 · Welche Rolle spielt Dopamin bei psychischen Erkrankungen?
Faktoren aufgedeckt werden können, kann doch ein Mechanismus postuliert werden, über welchen die primären, zumeist noch unbekannten Pathologien ihre Symptomatik verursachen. Eine pathogene wie aber auch eine artifizielle Störung des bei gesunden Personen sonst hochgradig regulierten dopaminergen Umsatzes verursacht sowohl auf kognitiver als auch auf produktiv-psychotischer Ebene erhebliche Symptome. Durch eine kürzlich durchgeführte Untersuchung (Vernaleken et al., in Vorbereitung) wird dies in besonderer Weise deutlich: So kann auch bei gesunden Personen durch den Einsatz einiger Halluzinogene eine Produktivsymptomatik erzeugt werden. NMDA-Antagonisten führen überdies zu einer Entwicklung von Negativsymptomen und kognitiven Störungen. Die Anfälligkeit für psychotische, kognitive oder sprachassoziierte Folgen einer NMDA-antagonistischen Beeinflussung ist allerdings hochgradig individuell. Wiederum ist es die D2-Rezeptorendichte, welche in beträchtlichem Maß die psychopathologische Reaktion auf einen propsychotischen Reiz prädiziert. Dabei machen höhere D2-Rezeptorendichten den Probanden deutlich vulnerabler. Zusammenfassend kann trotz der deutlichen und bisher noch wenig auflösbaren Komplexität psychischer Erkrankungen doch für einige Phänomene (insbesondere psychotische Störungen sowie Beeinträchtigungen in der Handlungskontrolle und der Kognition) sowohl ein deutlicher Hinweis für eine dopaminerge Beeinflussungsfähigkeit wie auch für eine diesen Therapieprinzipien reziprok entgegenstehende Pathologie beschrieben werden. Dabei stellen diese Befunde nicht notwendigerweise die primären ätiogenen Faktoren dar, können aber als gemeinsame Endstrecke verschiedener pathogener Faktoren verstanden werden.
Literatur Dahlström A, Fuxe K (1964) Evidence for the existence of monoamine-containing neurons in the central nervous system. Acta Physiol Scand 62(Suppl 232):5–52 Delay J, Deniker P (1952) Le traitments de psychoses par une méthode neurolytique dérivée de l’hibernothérapie; le 4560 RP utilisée seul en cure prolongée et continue. CR Congr Méd Alién Neurol (France) 50:497–502
24
Durstewitz D, Seamans JK (2002) The computational role of dopamineD1 receptors in working memory. Neural Netw 15:561–572 Kumakura Y, Cumming P, Vernaleken I et al. (2007) Elevated [18F] fluorodopamine turnover in brain of patients with schizophrenia: an [18F] fluorodopa/positron emission tomography study. J Neurosci 27:8080–8087 Seamans JK, Yang CR (2004) The principal features and mechanisms of dopmamine modulation in the prefrontal cortex. Prog Neurobiol 74:1–57 Vernaleken I, Cumming P, Gründer G (2008) Imagingstudies – differential action of typical and atypical antipsychotics in a network perspective. Pharmacopsychiatry 41(Suppl 1):60–69 Vernaleken I, Kuhn J, Lenartz D, Raptis M, Huff W, Janouschek H, Neuner I, Schaefer WM, Gründer G, Sturm V (2009) Bithalamical Deep Brain Stimulation in Tourette Syndrome is associated with Reduction in Dopaminergic Transmission. Biol Psychiatry 66(10):15–7 Vernaleken I, Peters L, Raptis M, Lin R, Buchholz H-G, Zhou Y, Winz O, Rösch F, Bartenstein P, Wong DF, Schäfer WM, Gründer G (2011) The Applicability of SRTM in [(18)F] Fallypride PET Investigations: Impact of Scan Durations. J Cereb Blood Flow Metab (im Druck) Wong DF, Brasic JR, Singer HS, Schretlen DJ, Kuwabara H, Zhou Y, Nandi A, Maris MA, Alexander M, Ye W, Rousset O, Kumar A, Szabo Z, Gjedde A, Grace AA (2008) Mechanisms of Dopaminergic and SerotonergicNeurotransmission in Tourette Syndrome: Clues froman In Vivo Neurochemistry Study with PET. Neuropsychopharmacology 33:1239–51
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Bildgebung genetischer Aspekte des ParkinsonSyndroms Kathrin Reetz
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 25 · Bildgebung genetischer Aspekte des Parkinson-Syndroms
Die Zahl der mit dem Parkinson-Syndrom identifizierten krankheitsassoziierten Gene ist seit der Erstentdeckung im Jahre 1997 stetig – auf nunmehr insgesamt 18 Genorte – angestiegen (PARK1-18). Dies erlaubt einen tieferen Einblick in die zugrunde liegenden pathophysiologischen Grundlagen. Träger der krankheitsassoziierten Gene bieten uns die einzigartige Gelegenheit, auch die präsymptomatische Phase dieser neurodegenerativen Erkrankung zu untersuchen. Erste Bildgebungsstudien konnten bereits Veränderungen im präsymptomatischen Stadium asymptomatischer Mutationsträger nachweisen. Nuklearmedizinisch zeigte sich eine Reduktion der striatalen Dopaminaufnahme, strukturell in der kranialen Magnetresonanztomographie (MRT) eine Volumenzunahme der grauen Substanz im Striatum, die negativ mit der striatalen Dopaminaufnahme korrelierte, und funktionell eine Mehraktivierung motorischer Areale bei motorischen Aufgaben bei asymptomatischen Parkinund PINK1-Mutationsträgern im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen. Diese polymodalen Veränderungen sind höchstwahrscheinlich als eine präsymptomatische Kompensation des latenten dopaminergen Mangels zu werten. Es zeichnet sich damit ein spannender Ausblick auf weitere Untersuchungen zur komplexen Interaktion von genetischen und auch Umweltfaktoren bei neurodegenerativen Erkrankungen ab.
weltweit die Hypothese stärken, dass genetische Faktoren eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Parkinson-Syndroms Rolle spielen. Seit 1997 wurden insgesamt 18 solcher Genorte durch Kopplungsanalysen (PARK1–15) und genomweiten Assoziationsstudien (GWASs) (PARK16–18) (Bekris et al. 2010; Farrer 2006; Pankratz et al. 2003) beschrieben. Die häufigsten Mutationen finden sich in den Genen für LRRK2, Parkin and PINK1 und machen ca. 3 % aller Patienten mit einem Parkinson-Syndrom aus (Klein u. Schlossmacher 2006). Bei den bisher 5 klinisch am besten charakterisierten monogenen Formen handelt es sich um die autosomal-dominant vererbten Formen SNCA und LRRK2 sowie die autosomal-rezessiven Formen Parkin, PINK1 und DJ-1 (. Tab. 25.1). Warum aber sind die krankheitsassoziierten Gene und deren Mutationsträger für uns so interessant? Sie bieten uns eine einzigartige Gelegenheit, die präsymptomatische Phase dieser neurodegenerativen Erkrankung zu erforschen und zu verstehen. Es wird angenommen, dass es bei einer Degeneration von ca. 70–80 % der nigrostriatalen Neurone zu einer Manifestation motorischer Symptome kommt und dass diese präsymptomatische Phase ca. 5–20 Jahre dauern kann.
z
Patienten mit einem idiopathischen ParkinsonSyndrom zeigen in den Basalganglien kontralateral zur klinisch stärker betroffenen Seite eine deutlichere Reduktion der präsynaptischen striatalen Neurotransmission. In den letzten Jahren haben mehrere Arbeitsgruppen untersucht, wie sich Mutationen in den Genen auswirken, die mit dem Parkinson-Syndrom assoziiert sind. Symptomatische Träger von Mutationen im Parkin- oder PINK1Gen weisen zwar den typischen rostrokaudalen putaminalen Gradienten, aber eine eher symmetrische Störung der präsynaptischen nigrostriatalen Funktion auf und zeigen eine langsamere Progression (Hilker et al. 2002; Khan et al. 2002a, 2002b) (. Tab. 25.2). Mehrere Studien bei asymptomatischen Mutationsträgern konnten nachweisen, dass heterozygote Mutationen, assoziiert mit einem Parkinson-Syndrom, zu einem latenten präsynaptischen Dopaminmangel führen können (Hilker et al. 2002; Khan et al. 2002b).
z Hintergrund/Genetik
Das Parkinson-Syndrom ist die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung, charakterisiert durch einen progressiven Verlust dopaminerger Neurone in der Substantia nigra und Bildung von LewyKörperchen im zentralen und peripheren Nervensystem (Braak u. Del Tredici 2008). Neben den charakteristischen motorischen Symptomen sind in den letzten Jahren zunehmend auch nichtmotorische Symptome wie z. B. psychisch-psychiatrische, kognitive, vegetative und sensorische Störungen in den Vordergrund gerückt. Darüber hinaus konnten – durch die Entdeckung genetischer Faktoren – in den letzten Jahren auch wesentliche Fortschritte bei der Aufklärung pathophysiologischer Zusammenhänge, die zur Entstehung des Parkinson-Syndroms beitragen, erzielt werden. In der letzten Dekade konnten genetische Studien in Familien mit einem Parkinson-Syndrom in unterschiedlichen geographischen Regionen
Nuklearmedizinische Bildgebung
155 155
25 · Bildgebung genetischer Aspekte des Parkinson-Syndroms
25
. Tab. 25.1 Übersicht über die am besten charakterisierten monogenen Formen des Parkinson-Syndroms (van der Vegt et. al. 2009). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier. Akronym Gen/ Protein
Lokus
Erbgang
Klinische Merkmale
Proteineigenschaften
PARK1/4 SNCA
4q21-23
AD
Früher Beginn (Gipfel um das 40. Lj.), Demenz bei Triplikationen
Hauptbestandteil von LewyKörperchen
PARK2 PARKIN
6q25.3-27
AR
Früher Beginn (Gipfel 30.–40. Lj.), langsame Progression, sehr gutes Ansprechen auf L-Dopa
Neuroprotektiv, kann Mitophagie induzieren
PARK6 PINK1
1q35-36
AR
Früher Beginn (Gipfel 30.– 40. Lj.), langsame Progression, sehr gutes Ansprechen auf LDopa, gehäuft psychiatrische Symptome
Interaktion mit Parkin, mitochondriale Serin-ThreoninKinase
PARK7 DJ-1
1p36
AR
Früher Beginn (Gipfel 30.–40. Lj.)
Antioxidativ
PARK8 LRRK2
12q12
AD
Später Beginn (Gipfel 50.–60. Lj.), klassischer Parkinsonismus
Mutationen verstärken die Kinaseaktivität
AD = autosomal-dominant, AR = autosomal-rezessiv, LRRK2 = Leucine Repeat Rich Kinase 2, PINK1 = Phosphatase and tensin homolog (PTEN)-induced putative kinase 1, SNCA = alpha-Synuclein
z
Strukturelle MRT-Bildgebung
Die T1-gewichtete, hochauflösende MRT erlaubt eine detaillierte Darstellung anatomischer Veränderungen regionaler Hirnstrukturen. Die voxelbasierte Morphometrie (VBM) bietet sich hier als objektives Verfahren an, um regionale strukturelle Hirnauffälligkeiten zu lokalisieren. Erste VBM-Untersuchungen zeigten sowohl bei den asymptomatischen heterozygoten Trägern der Parkin- als auch bei der PINK1-Mutation eine Zunahme der grauen Substanz im Striatum (Binkofski et al. 2007). Ähnliche Befunde zeigten sich auch bei asymptomatischen ATP13A2-Mutationsträgern, kaum jedoch bei asymptomatischen LRRK2-Mutationsträgern (Reetz et al. 2010). Eine direkte Voxel-für-VoxelKorrelation zwischen dem striatalen Dopaminuptake (Hilker et al. 2002) und den Werten der grauen Substanz bei asymptomatischen heterozygoten Parkin-Mutationsträgern zeigte eine negative Korrelation zwischen dem verminderten Dopaminuptake und der Volumenzunahme im Striatum. Die striatale Volumenzunahme wurde als adaptiver
Mechanismus gewertet, der einer zugrunde liegenden latenten nigrostriatalen Dysfunktion kompensatorisch entgegenwirkt. Interessanterweise konnten bei PINK1-Mutationsträgern gehäuft psychiatrische Auffälligkeiten (Depression, Schizophrenien, Panik- und Anpassungsstörungen, Persönlichkeitsveränderungen) beobachtet werden, die den motorischen Symptomen auch vorausgehen können (Steinlechner et al. 2007). Im Vergleich zu gesunden Kontrollen zeigten PINK1-Mutationsträger in der VBM spezifische Degenerationsmuster, die mit den psychiatrischen Auffälligkeiten bei den PINK1-Mutationssträgern assoziiert waren (Reetz et al. 2008). z
Funktionelle MRT-Bildgebung
Mutationen in einem der mit dem Parkinson-Syndrom assoziierten Gen führen nicht nur zu einer abnormalen striatalen dopaminergen Neurotransmission oder zu regionalen Veränderungen der Hirnstruktur, sondern auch zu einer veränderten Funktionsweise des Gehirns, die sich mit der funk-
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Kapitel 25 · Bildgebung genetischer Aspekte des Parkinson-Syndroms
. Tab. 25.2 Übersicht über die dopaminerge Neurotransmission der am besten charakterisierten monogenen Formen des Parkinson-Syndroms (nach van der Vegt et. al. 2009). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier. Akronym Gen/Protein
Dopamintransporter
Präsynaptische DOPAAufnahme
Postsynaptische D2-Rezeptorbindung
Methode
SPECT: (123I)FP-CIT (a)
PET: (18F)DOPA
PET: (11C)Racloprid (c)
PET: (11C)MP (b)
25
SPECT: (123I)IBZM (d)
Symptomatische Mutationsträger PARK1/4 SNCA
Reduzierte Aufnahme Put>Cauda
Reduzierte Aufnahme Put>Caud
Normalc
PARK2 PARKIN
Reduzierte Aufnahme* Put>Cauda
Reduzierte Aufnahme Put>Caud
Reduzierte striatale Racloprid Bindungc
PARK6 PINK1
Reduzierte Aufnahme* Put>Cauda
Reduzierte Aufnahme Put>Caud
Normald
PARK7 DJ-1
Reduzierte Aufnahme Put>Cauda
Reduzierte striatale Aufnahme
--
PARK8 LRRK2
Reduzierte Aufnahme Put>Cauda,b
Reduzierte Aufnahme Putd>Caud
Normalc
Asymptomatische Mutationsträger PARK1/4 SNCA
Normala
Normal
Normalc
PARK2 PARKIN
Leicht reduzierte striatale Aufnahmea
Leicht reduzierte striatale Aufnahme
Normalc
PARK6 PINK1
Leicht erhöhte Aufnahme Put und Cauda
Leicht reduzierte striatale Aufnahme
Normalc
PARK7 DJ-1
Normala
Normal
Normalc
PARK8 LRRK2
Reduzierte Aufnahme Putb
Normal
Normalc
Caud = Caudatum, (18F)DOPA = 18-F Fluorodopa, LRRK2 = Leucine Repeat Rich Kinase 2, PINK1 = Phosphatase and tensin homolog (PTEN)-induced putative kinase 1, PET = Positronenemissionstomographie, Put = Putamen, SNCA = alpha-Synuclein, SPECT = Single Photon Emission Computed Tomography, * = symmetrische Reduktion, a = SPECT: (123I)FP-CIT, b = PET: (11C)MP, c = PET: (11C)Racloprid, d = SPECT: (123I)IBZM
tionellen MRT (fMRT) untersuchen lassen. In einer ersten fMRT-Studie wurde die interne Bewegungsselektion bei den asymptomatischen heterozygoten Parkin-Mutationsträgern untersucht. Hierbei suchte sich der Proband selbst auf ein Signal hin einen Finger für die motorische Aufgabe (Fingertapping) aus. Bei vergleichbarer motorischer Leistung bei der Ausführung einer motorischen Fingertappingaufgabe, fand sich bei der internen Bewegungsselektion ein signifikanter Unterschied in Form von
einer Mehraktivierung im rostralen zingulären motorischen Areal und dorsalen prämotorischen Kortex bei den asymptomatischen heterozygoten Parkin-Mutationssträgern im Vergleich zur gesunden Kontrollgruppe (Buhmann et al. 2005). In einer weiteren fMRT-Studie zeigte sich bei asymptomatischen Parkin- und PINK1-Mutationsträgern im Vergleich zu gesunden Kontrollen bei einer einfachen sequenziellen motorischen Aufgabe eine ganz ähnliche – also unabhängig vom
157 157
25 · Bildgebung genetischer Aspekte des Parkinson-Syndroms
Genotyp – zusätzliche Mehraktivierung prämotorischer Areale (rostrale SMA und rostral-dorsaler prämotorischer Kortex) bei gleicher motorischer Leistung. Beide fMRT-Studien deuten darauf hin, dass asymptomatische Träger einer heterozygoten Mutation im Parkin- oder PINK1-Gen ihr latentes dopaminerges Defizit im Striatum durch eine vermehrte kortikale Mehrarbeit ausgleichen und somit ein normales Performanceniveau aufrechterhalten.
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Störungen der neuronalen Repräsentation von Handlungsintentionen bei psychischen Erkrankungen Knut Schnell
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
26 I
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Kapitel 26 · Neuronale Repräsentation von Handlungsintentionen
Die Untersuchung der Repräsentation von Handlungsintentionen ermöglicht die psychopathologische Erhebung objektivierbarer Befunde, indem anstatt der Qualität subjektiver Erlebensinhalte das strukturelle Merkmal der Relation zwischen Subjekt und Stimulusmaterial untersucht wird. Dabei lässt die zunehmende Bestätigung der Assoziation von Ich-Störungen und Dysfunktionen des sensomotorischen Selbstbezugs diesen Symptomkomplex als sensorische Regulationsstörung erscheinen, der den Halluzinationen ähnlicher ist als in traditionellen psychopathologischen Konzepten angedeutet. Störungen des Selbstbezugs bei der Mentalisierung von Handlungsintentionen bilden möglicherweise einen gemeinsamen funktionellen Endophänotyp schizophrener und bipolarer affektiver Psychosen, d. h. einen basalen, genetisch bedingten neurofunktionellen Mechanismus, der bereits bei Gesunden mit genetischen Risikofaktoren für die Manifestation einer Schizophrenie nachweisbar ist.
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Relationales Erleben von Handlungsintentionen als Kategorie struktureller Psychopathologie
Ein grundsätzliches erkenntnistheoretisches Problem der experimentellen Psychopathologie ist die Objektivierbarkeit der subjektiven phänomenalen Qualität des Erlebens eines Individuums in einem bestimmten Kontext. Es existiert bis heute kein empirisch konsistentes psychopathologisches Konzept der Beschreibung psychischer Erlebensweisen, mit dem sich subjektive phänomenale Zustände in faktorenanalytisch trennscharfe kategoriale oder – besser noch – dimensionale Variablen überführen ließen, um einen statistischen Zusammenhang mit behavioralen, physiologischen oder strukturell morphologischen Messwerten zu prüfen. Dieser Mangel an klassifikatorischen Möglichkeiten spiegelt eine grundlegende erkenntnistheoretische Schwierigkeit der psychopathologischen Beobachtung aus der 3.-Person-Perspektive wieder. Jaspers definiert in seiner Einführung zur allgemeinen Psychopathologie den Analogschluss über Wahrnehmungen des Patienten als grundlegende Methode der Phänomenologie (Jaspers 1946): »Was in der Phänomenologie vergegenwärtigt wird, wissen wir nur indirekt aus der Selbstschilderung des Kranken, die wir nach Analogie unserer eigenen Erlebnisweisen auffassen.«
Dieses Prinzip der Analogschlüsse aus einer 3.-Person- oder 2.-Person-Perspektive auf die Erlebensinhalte einer 1.-Person-Perspektive ist mit einem von Jaspers im selben Zusammenhang behandelten epistemologischen Grundproblem verbunden, nämlich der Unmöglichkeit der (wissenschaftlichen) Erfassung der phänomenalen Qualität individueller Wahrnehmungen. Dieses Problem wird besonders eindrücklich in der von Thomas Nagel (Nagel 1974) formulierten Position verdeutlicht: Die Unfähigkeit, sich in die sensorische Qualität der Wahrnehmung einer Fledermaus einzufühlen, illustriert die grundlegende Unmöglichkeit, die qualitative Beschaffenheit der Wahrnehmungen eines anderen Individuums nachzuvollziehen. So ernüchternd der Einwurf zunächst erscheint, so sehr kann er auch als Ansporn verstanden werden. Über seine methodische Kritik hinaus leitet sich aus Nagels Position auch die Idee einer objektiven Phänomenologie der Wahrnehmung ab, die sich nicht an qualitativen sondern an strukturellen Eigenschaften der Wahrnehmungen orientiert. Wie lässt sich diese Grundidee in der Konzeption der (experimentellen) Psychopathologie abbilden? Nagel beschreibt die Objektivierung als eine Ablösung der Untersuchung von Wahrnehmungen aus der Abhängigkeit von ihrer Perspektive. Diese Forderung ist im Bereich der Psychopathologie möglicherweise zu verwirklichen, indem die Perspektive der Wahrnehmung selbst Gegenstand der Untersuchung wird. Das bedeutet, dass das Subjekt nicht ausschließlich über die phänomenale Qualität seines Erlebens befragt wird, sondern statt der qualitativen Eigenschaften des Stimulusmaterials vielmehr das strukturelle Merkmal der Relation zwischen Subjekt und Stimulusmaterial untersucht bzw. variiert wird. Experimentell lässt sich diese Idee verwirklichen, indem nur die Beziehung zwischen einem internen Vorhersagemodell eines Reizes und dem tatsächlichen afferenten Reiz variiert wird. Es kann beispielsweise untersucht werden, ob der Tastendruck eines Probanden zeitlich mit der Präsentation eines Reizes zusammentrifft oder nicht bzw. ob er aus seiner Sicht kausal mit diesem zusammenhängt. Das Subjekt kann in diesem Fall eine bewusste, für den Beobachter eindeutige Feststellung darüber treffen, ob die eigene Vorhersage/ Erwartung erfüllt oder verletzt wurde bzw. ob ein
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26 · Neuronale Repräsentation von Handlungsintentionen
Reiz von ihm selbst erzeugt wurde oder nicht. Diese Betrachtungsweise ermöglicht in der psychopathologischen Erhebung eine eindeutige Übereinkunft zwischen Untersucher und untersuchtem Subjekt in der dichotomen Unterscheidung zwischen 2 relationalen Zuständen, d. h. in der Mitteilung eines Urteiles in der Frage: 4 Bin ich oder ist jemand anderes der Verursacher eines wahrgenommenen Ereignisses? 4 Ziehe ich zum Verständnis eines wahrgenommenen Ereignisses das Modell einer fremden Handlungsintention heran oder verstehe ich das Ereignis aus meiner eigenen Perspektive? Dementsprechend könnte ein System der psychopathologischen Symptombeschreibung z. B. darin bestehen, zu erheben, ob ein Individuum in der Lage ist, solche Relationen festzustellen oder nicht. Tatsächlich bieten bereits vorhandene psychopathologische Instrumente, wie z. B. einige Kategorien des AMDP-Systems, schon Ansätze für solche strukturellen Beschreibungen. Einige der Symptomkategorien dieses Systems, wie z. B. die IchStörungen, bilden eher strukturelle als qualitative Eigenschaften des subjektiven Erlebens ab. Im Sinne einer strukturellen Beschreibung des Symptoms erklären Frith et al. (2000) Ich-Störungen durch einen gestörten selbstreferenziellen Bezug selbsterzeugter Reize auf eigene Denkakte und Handlungen. Es liegt in diesem Fall ein strukturelles Symptomverständnis vor in Form eines falschen relationalen Bezugs zwischen Subjekt und verarbeitetem Reiz, für deren Verständnis prinzipiell keine Einfühlung in die phänomenale Qualität des Erlebens erforderlich ist. Es geht vielmehr darum, die Regulation der Salienz selbsterzeugter sensorischer Reize in ihrer physiologischen Funktion und pathologischen Bedeutung zu erfassen. Der Begriff Salienz bezeichnet in diesem Fall in Anlehnung an die Wahrnehmungsphysiologie den Grad, in dem ein Reiz aus seinem Kontext hervortritt und Aufmerksamkeitsprozesse auf sich zieht, um schließlich Eingang ins Arbeitsgedächtnis zu finden. Jeder mit seiner Umwelt interagierende Organismus produziert im Prinzip ständig selbst neue saliente Reize – z. B. bei Bewegungen von Objekten – in seiner Umwelt. Diese Reize würden normalerweise zu einer
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hochgradigen Bindung von Aufmerksamkeitsprozessen führen und so mit »echten« Umweltreizen konkurrieren, d. h. mit Informationen über unabhängig vom agierenden Organismus tatsächlich in der Umwelt neu auftretenden Ereignissen, die zur motivationalen Steuerung erforderlich sind. Der Organismus würde ohne eine regulatorisch wirksame Verbindung eigener Handlungsintentionen mit den resultierenden Reizen daher gewissermaßen das Bild seiner Umwelt durch die sensorischen Resultate aus seinen eigenen Aktionen selbst »verrauschen«. Die Erfordernis zur selektiven Reduzierung der Salienz selbsterzeugter Reize bzw. die Notwendigkeit zur Unterscheidung selbst und extern erzeugter Aktionen wurde bereits 1867 von Helmholtz beschrieben. Angel und Malenka demonstrierten 1982 die Suppression der Sensibilität der Haut für Berührungsreize bei der Ausführung von Bewegungen. Daniel Wolpert entwarf 1997 ein mathematisches Modell dieses Regulationsmechanismus (Wolpert 1997). Dieses Modell besagt, dass zu jedem motorischen Programm eine Efferenzkopie generiert wird, die wiederum das sensorische Reizmuster prädiziert, das als Folge der Handlung entsteht. Dieser Abgleich von prädizierten und tatsächlich eintreffenden Reizen besitzt eine implizite und eine explizite Funktion. Implizit wird bei Gleichheit von Prädiktor und afferentem Reizmuster die Salienz des Reizes für die weitere Verarbeitung vermindert, weshalb der Reiz normalerweise nicht ins Bewusstsein tritt. Explizit führt die Übereinstimmung von Prädiktor und sensorischem Reiz zum phänomenalen Erleben der eigenen Urheberschaft einer Handlung, d. h. der eigenen »Agentenschaft« einer wahrgenommenen Aktion, was in der psychopathologischen Beschreibung der Meinhaftigkeit einer Handlung entspricht ( Frithet al. 2000). Sowohl eine Differenz zwischen afferentem Reiz und prädiktiver Efferenzkopie als auch das Fehlen eines Prädiktors führen zur Beibehaltung der Salienz des Reizes bzw. zum expliziten phänomenalen Erleben der fremden Urheberschaft der wahrgenommenen Handlung, das mit dem Erleben einer Handlung als fremd bzw. als von außen gemacht korrespondiert, wie es bei Ich-Störung beschrieben wird (Schneider 1967).
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Kapitel 26 · Neuronale Repräsentation von Handlungsintentionen
Die sensorische Regulation durch prädiktive Efferenzkopien motorischer Programme findet sich nicht nur bei Menschen, sondern bei vielen Organismen im Verlauf der Phylogenese wieder. So zeigten Bell et al. 1982, dass Fische, die sich mit Hilfe der Echos der Signale ihres eigenen elektrischen Organs orientieren, die interne Verarbeitung der im Seitenlinienorgan einlaufenden Signale durch Efferenzkopien regulieren. Die prädiktiven sensorischen Modelle bzw. die Efferenzkopien werden hierbei den variierenden physikalischen Voraussetzungen der Entstehung der sensorischen Echos der eigenen Aktionen angepasst. Hierdurch können z. B. variable Laufzeiten des Echos eines ausgesandten Signals kompensiert werden. Ähnliche Mechanismen der sensorischen Regulation durch Efferenzkopien finden sich bei Insekten, Vögeln, Nagetieren. z
Gestörte sensomotorische Selbstreferenz bei schizophrenen Psychosen
In der heute angewandten, grundlegenden psychopathologischen Kennzeichnung der schizophrenen Psychosen durch das übergreifende phänomenale Kriterium des »Von-außen-Gemachten« der subjektiven Erlebnisse (Schneider 1967) wird bereits nahegelegt, dass die Störungen der sensomotorischen Selbstreferenz für die Entstehung der Symptome verantwortlich sein könnten. Tatsächlich finden sich experimentelle Hinweise, dass das Auftreten schizophrener Positivsymptome mit einer Störung der prädiktiven sensorischen Regulation assoziiert ist. Patienten, die zum Zeitpunkt eines entsprechenden Versuchs unter Positivsymptomen litten, zeigten keine Verminderung der Intensität selbst verursachter Berührungen der Haut im Vergleich zu fremd applizierten Berührungen. Mit Hilfe der Positronenemissionstomographie ließ sich darüber hinaus auch ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Psychopathologie des Erlebens eigener Handlungsintentionen und neurophysiologischen Veränderungen nachweisen. Spence et al. zeigten 1997, dass bei schizophrenen Patienten mit Ich-Störungen bereits die Ausführung einfacher Bewegungen zu einer erhöhten Aktivierung des inferioren parietalen Kortex führt (Spence et al. 1997). Darüber hinaus ist auch direkt experimentell überprüfbar, ob eine Störung
des Mechanismus der selbstreferenziellen sensomotorischen Regulation für das Auftreten von Ich-Störungen verantwortlich ist. Wir haben hierzu den kontinuierlichen Abgleich eigener Handlungen und ihrer visuellen Darstellung mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) untersucht (Schnell et al. 2008). Als Korrelat der Detektion einer Inkongruenz zwischen eigenen Bewegungen und deren visueller Darstellung zeigte sich hierbei bei gesunden Probanden eine Aktivierung des bilateralen inferioren parietalen Kortex im temporoparietalen Übergang, imposterioren Anteil des frontalen zingulären und parazingulären Kortex sowie des lateralen prämotorischen Kortex der rechten Hemisphäre und der linken Kleinhirnhemisphäre. Mit diesem Versuchsdesign ließ sich bei 15 männlichen Schizophreniepatienten tatsächlich ein symptomspezifischer korrelativer Zusammenhang zwischen der dimensionalen Ausprägung von Ich-Störungen in den AMDP- und SAPS-Skalen und einer behavioralen Störung bei der Selbstreferenzprüfung nachweisen, d. h. einer reduzierten Zahl erfolgreicher Detektionen von Inkongruenzen zwischen eigener Bewegung und visuellem Feedback (Schnell et al. 2008). Dabei korrelierte das Ausmaß der Ich-Störungen in beiden Ratingsystemen signifikant mit einer gesteigerten Aktivierung des inferioren posterioren parietalen Kortex, der physiologischerweise der Bewegungswahrnehmung und Analyse dient, sowie des primär motorischen Kortex. Zudem fand sich als weiterer Hinweis auf einen echten funktionellen Zusammenhang zwischen funktioneller Aktivierung, Verhalten und psychopathologischem Symptom eine Korrelation der Aktivität des linken inferioren parietalen Kortex und der Anzahl und Latenz der erfolgreichen Detektionen von sensomotorischen Inkongruenzen. Da eine wesentliche sensorische Funktion des inferioren parietalen Kortex die Repräsentation externer Bewegungen ist, lässt sich die erhöhte Aktivierung dieser Region als Korrelat einer verminderten Inhibition eines sensorischen Areals durch Efferenzkopien eigener Bewegungsprogramme verstehen, die letztlich vermutlich zur subjektiven Wahrnehmung eigener Bewegungen als extern generierte Reize führt. Zur Erklärung der neurophysiologischen Grundlage dieser Störung könnten 2 mögliche
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26 · Neuronale Repräsentation von Handlungsintentionen
Modelle herangezogen werden: Erstens könnte die Generierung der prädiktiven Efferenzkopie beeinträchtigt sein, wie beispielsweise anhand der motorischen Überkompensation visueller Bewegungsverzerrungen bei schizophrenen Patienten gezeigt werden kann. Zweitens könnte der Abgleich dieser Kopie mit den entsprechenden sensorischen Arealen bei der Schizophrenie durch Dyskonnektivität, d. h. ein Muster aus Hyper- und Hypokonnektivität, von Hirnregionen gestört sein (Stephan et al. 2009). Die Ergebnisse der Studien legen nahe, dass ein durch die erhöhte sensorische Salienz eigener Bewegungen verstärktes sensorisches »Grundrauschen« das Urteil über eigene/fremde Verursachung der Bewegung bei Patienten mit Ich-Störungen deutlich erschwert. Auf dem aktuellen Stand des Wissens erscheint es sinnvoll, von einer Störung der Regulation der Salienz selbsterzeugter Reize zu sprechen. Für die letztliche Entstehung des Symptoms Ich-Störung, d. h. der bewussten Feststellung der Steuerung eigener Bewegungen durch eine fremde Instanz bzw. einen personifizierten externen Agenten, ist es von großem Interesse, ob ein propositionales Konzept bzw. eine psychoedukativ vermittelbare, selbstregulatorisch wirkende Einsichtsmöglichkeit darüber besteht, dass dieser sensorische Eindruck ein psychotisches Symptom infolge einer Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns ist. Dieses Wissen steht beim erstmaligen Auftreten von IchStörungen vermutlich nur wenigen Menschen zur Verfügung. Auf diesem Wissensstand wird der sensorische Eindruck einer eigenen Bewegung, die dieselbe Salienz besitzt wie eine extern herbeigeführte, wahrscheinlich am ehesten durch eine externe Ursache erklärt und führt somit zu dem subjektiv phänomenalen Erleben, das allgemein als Ich-Störung bezeichnet wird. Im Rahmen dieses pathophysiologischen Modells sind die Ich-Störungen in Abweichung von der kategorialen Zuordnung von Schneider (1967) zunächst als sensorische Störung mit anschließender, möglicherweise sogar funktionaler kognitiver Bewertung zu verstehen. Dies bedeutet gleichzeitig auch eine Relativierung der Bezeichnung als Form des Wahns im Begriff »delusions of control« in den Konzepten der englischsprachigen Psychopathologie. Aus den experimentell-psychopathologischen
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Studien der letzten Jahre ergibt sich eher das Bild der Ich-Störungen als Störungen der sensorischen Regulation, die von einigen Autoren mit demselben Modell der gestörten sensomotorischen Selbstreferenz wie akustische Halluzinationen erklärt werden. Tatsächlich lässt sich die selbstreferenzielle sensomotorische Regulation auch im auditorischen System nachweisen. Allerdings ergaben sich bisher widersprüchliche Befunde zur Frage, ob akustische Halluzinationen in der Tat spezifisch von einer gestörten selbstreferenziellen Überwachung der Sprachproduktion abhängen oder eine gestörte Überwachung der Sprachproduktion allgemein mit schizophrener Positivsymptomatik assoziiert ist. Diese Frage ist bis heute ungeklärt, obwohl immerhin gezeigt werden konnte, dass akustische Halluzinationen mit veränderten strukturellen Verbindungen und verminderter oszillatorischer Kopplung zwischen frontalem und temporalem Kortex verbunden sind, die sich mithilfe der fMRT und des EEG darstellen lassen. Unter der Annahme, dass Störungen der sensomotorischen Selbstreferenz ein symptomunspezifisches Kennzeichen der Schizophrenie darstellen, wurde auch die Hoffnung geäußert, dass diese Störungen als funktioneller Marker zur Früherkennung schizophrener Psychosen dienen könnten. Die weitere Erforschung dieses sensomotorischen Regulationsmodells verspricht darüber hinaus auch pharmakologische Modelle, mit denen sich die Funktion von glutamaterger Transmission und dopaminerger Modulation in die Entstehung von Positivsymptomen integrieren lassen. Bisher unveröffentlichte Beobachtungen aus einem unserer Versuchsdesigns zeigen, dass das Auftreten zeitlicher sensomotorischer Inkongruenzen sowohl in visuellen wie akustischen sensorischen Modalitäten zu einer kombinierten Aktivierung des ventralen Striatums und des dorsomedialen Thalamus führt. Entsprechend dem Vorwissen über die Funktion dieser Region im motivationalen System und in der Aufmerksamkeitssteuerung kann die Aktivierung des ventralen Striatums in diesem Fall als Korrelat der Kodierung der Salienz eines selbsterzeugten Reizes angesehen werden, die als Folge des Prädiktionsfehlers entsteht. Kapur hat 2003 in einempharmakologischen Modell die gestörte Sa-
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Kapitel 26 · Neuronale Repräsentation von Handlungsintentionen
lienzkodierung als dopaminabhängige Störung bei der Schizophrenie beschrieben, die in den letzten Jahren vor allem für die Kodierung motivationaler Salienz, d. h. des Belohnungssystems, nachgewiesen und als möglicher Mechanismus der Wahnentstehung angesehen wurde. Es ist nun anhand der Experimente zur selbstreferenziellen sensorischen Regulation zu prüfen, inwiefern auch die sensorischen Symptome der Schizophrenie mit der dopaminergen Modulation der Salienzkodierung im ventralen Striatum in Verbindung stehen. Weiterhin ist dieses sensorische Regulationsmodell zur weiteren Klärung der Funktion des NMDA-Rezeptors in der Ätiologie schizophrener Symptome von großem Interesse. Es lässt sich vermuten, dass der Abgleich der Efferenzkopien motorischer Programme mit afferenten sensorischen Informationen auf durch NMDA-Rezeptoren vermittelten Lernprozessen basiert, mit denen die prädiktiven Modelle kontinuierlich an die variierenden Voraussetzungen der motorischen Effektoren und Umweltfaktoren adaptiert werden, die ein sensorisches »Echo« eigener Handlungsprogramme bzw. Intentionen beeinflussen. Diese Adaptation ist bei schizophrenen Patienten nachweislich gestört. Störungen dieser Art lassen sich im experimentellen Modell tatsächlich durch Ketamingabe hervorrufen. Es konnte zudem bereits gezeigt werden, dass die schizophrenieassoziierte Störung der elektrophysiologischen Missmatchnegativität, die ebenfalls einen adaptiven prädiktiven Prozess darstellt, tatsächlich von der NMDAR-Funktion abhängt. Das Modell der selbstreferenziellen sensomotorischen Regulation eröffnet somit die Möglichkeit zur translationalen Untersuchung der pharmakologischen Grundlagen schizophrener Positivsymptome. z
Störungen der Mentalisierung von Handlungsintention
Über die dargestellte Störung des unmittelbaren Bezugs afferenter sensorischer Informationen auf eigene Handlungsprogramme hinaus zeigen inzwischen 2 Metaanalysen, dass schizophrene Psychosen offensichtlich auch mit Störungen der als »Mentalisierung« oder »Theory of Mind« bezeichneten Repräsentation von Handlungsintentionen und Affekten anderer Menschen im Rahmen der
sozialen Kognitionen assoziiert sind. Die Störung der sozialen Kognition stellt somit nicht nur ein zunehmend beachtetes Ziel der Behandlung verschiedener psychischer Störungen dar. Störungen der Mentalisierungsfunktionen bilden möglicherweise auch einen gemeinsamen funktionellen Endophänotyp schizophrener und bipolarer affektiver Psychosen, d. h. einen basalen physiologischen Pathomechanismus, der bereits bei Gesunden mit genetischen Risikofaktoren für die Manifestation einer Schizophrenie nachweisbar ist. Als Grundlage entsprechender Untersuchungen lässt sich sehr reliabel zeigen, dass die Mentalisierung physiologischerweise mit der Aktivierung eines funktionellen Netzwerks aus temporoparietalem Übergang, dem Sulcus temporalis superior, dem dorsomedialen präfrontalen Kortex, Praecuneus und lateralem prämotorischen Kortex verbunden ist. In einer aktuellen fMRT-Studie mit 109 gesunden Probanden korrelierte innerhalb dieses funktionellen Netzwerks eine Verminderung der differenziellen Aktivierung bei Mentalisierungsprozessen mit dem Vorliegen eines Einzelnukleotidpolymorphismus mit dem bisher höchsten genomweit assoziierten Schizophrenierisiko (Walter et al. 2010). Dieser Einzelnukleotidpolymorphismus (rs1344706) im vermutlich während der Embryogenese regulatorisch wirksamen ZNF804A-Gen wurde in einer inzwischen replizierten genomweiten Assoziationsstudie als Risikofaktor für die Entwicklung eines psychopathologisch breiten Phänotyps identifiziert, der die Schizophrenie und bipolare affektive Störungen umfasst. Die Analyse zeigte, dass die individuelle Anzahl der Risikoallele tatsächlich parametrisch mit einer verminderten differenziellen Aktivierung des Mentalisierungsnetzwerks korreliert. Die spezifisch in der Mentalisierungsbedingung zu erwartende differenzielle Aktivierung war im dorsomedialen präfrontalen Kortex, dem linken temporoparietalen Übergang, im linken inferioren Parietallappen, dem posterioren Cingulum undimlinken ventrolateralen präfrontalen Kortex vermindert. Dabei zeigte sich bei den gesunden Probanden keine Korrelation der Zahl der Risikoallele mit den behavioralen Leistungen bei der Mentalisierung. Diese Befunde weisen somit auf die Existenz eines Endophänotyps für Schizophrenie und bipolare Störungen hin, der sich in einer
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funktionellen Störung der Mentalisierung äußert. Tatsächlich korrespondiert dieser Endophänotyp mit dem metaanalytisch bestätigten Phänotyp einer behavioralen sowie einer in mehreren fMRTStudien beobachteten neurofunktionellen Störung der Mentalisierung bei manifesten schizophrenen Psychosen. So zeigen der temporoparietale Übergang und der dorsomediale präfrontale Kortex bei schizophrenen Patienten eine geringere differenzielle Aktivierung bei der Mentalisierung von Handlungsintentionen. Insgesamt ist zu vermuten, dass funktionelle Störungen des Mentalisierungsnetzwerks somit prinzipiell einen gemeinsamen Mechanismus für die Entstehung schizophrener und bipolarer affektiver Psychosen darstellen, wobei Patienten mit symptomatischenund aktuell asymptomatischenbipolaren Störungen behaviorale Defizite eher im Bereich der Mentalisierung von Affekten als von Intentionen zeigen. Die Störung der Mentalisierungsfunktionen an sich als intermediären Phänotyp zu verstehen, wäre eine recht unbestimmte Definition, da es sich offensichtlich um eine komplexe zerebrale Funktion handelt. Es ist vielmehr notwendig, die tatsächlich betroffenen, basalen Unterfunktionen der Mentalisierungsfähigkeit genauer zu definieren, um sie einerseits für zukünftige Studien operationalisierbar zu machen und andererseits eine Verbindung mit der Funktion der funktionell assoziierten Gene zu ermöglichen. Hierbei sind vor allem der temporoparietale Übergang und der dorsomediale präfrontale Kortex von großem Interesse. Die beiden Regionen besitzen in der Mentalisierung verschiedene Funktionen: Die Aktivierungssteigerung im temporoparietalen Übergang stellt sich eher als Haupteffekt der Übernahme einer 3.-Person-Perspektive dar, während die Aktivierung des dorsomedialen präfrontalen Kortex vor allem durch motivationale und affektive Inhalte der Mentalisierungsprozesse bestimmt wird. Der temporoparietale Übergang scheint dabei vor allem in die Repräsentation der Handlungsprogramme und Ziele, d. h. der spatialen und motorischen Koordinaten einer beobachteten Handlung, integriert zu sein: Eine Neuronenpopulation des inferioren parietalen Kortex ist auf die Repräsentation von Bewegungszielen spezialisiert. Ihre
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Aktivierung ist mit einer Aufmerksamkeitsausrichtung verbunden, d. h. mit der Auslösung einer Sakkade in denjeweils von einem dieser Neurone repräsentierten Bereich des Gesichtsfelds. Decety und Lamm schlagen entsprechend vor, dass die »Aktivierung des temporoparietalen Überganges während sozialer Kognitionen auf einem basalen Verarbeitungsmechanismus beruht, der an der Generierung, Testung und Korrektur von Vorhersagen über äußere Ereignisse beteiligt ist« (Decety u. Lamm 2007). Es ist allerdings anzumerken, dass der temporoparietale Übergang offenbar nicht bei einfachen visuospatialen Transformationen etwa im Sinne der Simulation einer Kameraperspektive aktiviert wird, sondern in den entsprechenden Verarbeitungsprozess mindestens eine Inferenz auf kognitive Operationen anderer Menschen oder Handlungsziele eines externen Akteurs einbezogen sein muss. Diese Idee ist wiederum gut mit der Beobachtung zu vereinbaren, dass der inferiore parietale Kortex als Teil dieser Regionbei pathologischer Erhöhung der Salienz eigener Bewegungen aktiviert wird, die bei Störungen der sensomotorischen Selbstreferenz und Ich-Störungen auftritt. Die Aktivierung des inferioren parietalen Kortex ist somit wahrscheinlich mit 2 Funktionsstörungen assoziiert: einerseits mit Störungen der prädiktiven sensomotorischen Regulationbei Patienten mit Ich-Störungen, andererseits mit einer pathologisch unselektiven Mentalisierung im Sinne einer pathologischen Assoziation rein physikalisch bedingter, nicht i. e. S. intentional zielgerichteter Objektbewegungen mit Handlungsintentionen und Zielen, wie sie bei biologischen Bewegungen auftreten. In dieser Definition wird wiederum die konzeptionelle Nähe der Mentalisierung zur sensomotorischen Selbstüberwachung bzw. zu Urteilen über die Agentenschaft beobachteter Ereignisse deutlich. Aus der Zusammenschau der Befunde werden die Störungen der sozialen Kognition bei schizophrenen Psychosen möglicherweise pathophysiologisch verständlicher, und zwar als Ausdruck einer gleichzeitigen basalen Störung im funktionellen System der selektiven Repräsentation von Handlungsintentionen bzw. -zielen zugunsten einer unselektiven Aktivierung von Mentalisierungsfunktionen in der Selbstperspektive und einer fehlerhaften sensomo-
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Kapitel 26 · Neuronale Repräsentation von Handlungsintentionen
torischen Attribution von sensorischen Ereignissen auf fremde Ursachen und Intentionen. z
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Ausblick
Die erhobenen Befunde bestätigen insgesamt das ätiologische Konzept, die Schizophrenie als Dyskonnektivitätssyndrom aufzufassen.In der Studie zur Korrelation der Funktion des Mentalisierungsnetzwerks mit dem Vorliegen eines schizophrenieassoziierten Risikoallels konnte eine frontoparietale funktionelle Dyskonnektivität direkt nachgewiesen werden. In diesem Sinne stellen selbstreferenzielle Prozesse eine offensichtliche Prädilektionsstelle für ein Dyskonnektivitätssyndrom dar, da sie einerseits besonders lange frontoparietale Transmissionswege, z. B. zum Abgleich motorischer Programmeundafferenter sensorischer Informationen, und andererseits eine stabile zeitliche Synchronisation der beteiligten Hirnregionen erfordern. Dies erklärt möglicherweise die Störungen des Selbstbezugs in der Akutphase der Erkrankung, die sich als erstes Symptom der Dyskonnektivität manifestieren könnten, während andere, transkortikal weniger integrierte Funktionen weiterhin erhalten bleiben. Dieses pathophysiologische Modell bietet gleichzeitig auch Ansätze zur Entwicklung neuer pharmakologischer Strategien zur Behandlung von Positivsymptomen durch Beeinflussung des dopaminergen und des glutamatergen Systems, da selbstreferenzielle Funktionen offenbar von beiden Systemen abhängen und im Unterschied zu den Positivsymptomen an sich prinzipiell auch translational in ihren physiologischen und pharmakologischen Grundlagen erforschbar sind. Die zunehmende experimentelle Bestätigung der angenommenen Assoziation von Ich-Störungen und Dysfunktionen des sensomotorischen Selbstbezugs lässt die Ich-Störungen als sensorische Störungen erscheinen, die den Halluzinationen möglicherweise ähnlicher sind als z. B. im psychopathologischen Konzept von Kurt Schneider angedeutet. Es bleibt allerdings bisher noch die Frage offen, inwieweit die nicht auf motorische Aktionen, sondern auf rein kognitive Prozesse bezogenen Ich-Störungen experimentell fassbar sind bzw. anhand welcher Signale kognitive Prozessierungsschritte vom Denkenden überhaupt wahrgenommen werden. Aus dieser Überlegung ergibt
sich wiederum die Frage, inwiefern auch kognitive Prozesse ohne motorische Umsetzung neurofunktionell den Programmen für motorische Aktionen ähneln, d. h. gewissermaßen Simulationen motorischer Aktionen darstellen. Letztlich bieten diese Fragestellungen eine nützliche Anregung zur weiteren Entwicklung einer strukturellen Psychopathologie, die sich mit neurophysiologischen und pharmakologischen Untersuchungen zu einem detaillierten Konzept der Ätiologie schizophrener und affektiver Psychosen ergänzt.
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26 · Neuronale Repräsentation von Handlungsintentionen
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Metaanalysen, Datenbanken und Modelle in der psychiatrischen Forschung Simon B. Eickhoff, Claudia Rottschy
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 27 · Metaanalysen, Datenbanken und Modelle
Die PET- und fMRT-Bildgebung hat zu einem immensen Zuwachs an Befunden über die Lokalisation motorischer, kognitiver und affektiver Prozesse im menschlichen Gehirn geführt. Es besteht jedoch eine deutliche Diskrepanz zwischen der großen Zahl verfügbarer Studien und der eingeschränkten Aussagekraft jedes einzelnen Experiments. Um diese Befunde möglichst vollständig objektiv zu integrieren, bieten sich quantitative, koordinatenbasierte Metaanalysen an. Diese ermöglichen es auch, Patientenkollektive zu untersuchen, welche weit über die Möglichkeiten eines individuellen Zentrums hinausgehen, und erlauben somit Aussagen über allgemeine Pathomechanismen. Durch Referenz an computerisierte Datenbanken können mögliche dysfunktionale Prozesse den regionalen Veränderungen bei psychiatrischen Patienten objektiv zugeordnet werden. Dies stellt einen wichtigen Fortschritt zu den ansonsten oft subjektiven Rückschlüssen über die Bedeutung der beobachteten Veränderungen dar. Die Anwendung und Erweiterung der heutigen neuroinformatischen Ansätze zu koordinatenbasierten Metaanalysen und funktioneller Charakterisierung sowie das Wachstum von entsprechenden Datenbanken sollten somit eine wichtige Perspektive zur weiteren Erforschung der neuronalen Korrelate psychiatrischer und neurologischer Krankheiten bieten.
z Funktionelle Bildgebung des Gehirns z z In-vivo-Bildgebung der Gehirnfunktionen
Funktionelle Bildgebung mittels Positronenemissionstomographie (PET) und funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) erlaubt die nichtinvasive Untersuchung von Gehirnfunktionen des lebenden Menschen. Beide Verfahren messen dabei die Gehirnaktivität nicht direkt, sondern die durch neuronale Aktivität hervorgerufenen Änderungen des regionalen Blutflusses oder Glukoseverbrauchs. Um Regionen zu identifizieren, die während einer Aufgabe, wie z. B. sensorischer, motorischer, kognitiver oder affektiver Verarbeitung, aktiv sind, werden Messungen während der Durchführung dieser speziellen Aufgaben mit Messungen während Ruheperioden, also solchen ohne gerichtete Aufgabe, verglichen. Die funktionelle Bildgebung erlaubt somit die Untersuchung der Organisation des arbeitenden menschlichen Gehirns. Darüber hinaus lassen sich über den Vergleich der Aktivität zwischen Patienten und einer Kontrollgruppe bei Durchfüh-
rung einer bestimmten Aufgabe auch Aussagen über pathologische Aktivitätsmuster gewinnen. Genauer gesagt ist es möglich, regionale, kontextspezifische Hypo- oder Hyperaktivierungen zu identifizieren, wodurch neurobiologische Substrate psychopathologischer Phänomene im Kontext des jeweiligen Experiments sichtbar gemacht werden. z z Verbreitung und klinische Anwendung
Durch die Möglichkeit, Gehirnaktivität nichtinvasiv zu messen und potenzielle neuronale Korrelate psychiatrischer Erkrankungen zu untersuchen, entwickelte sich die funktionelle Bildgebung schnell zu einem intensiv genutzten Werkzeug in der neurowissenschaftlichen Forschung. So finden sich allein in der Literaturdatenbank Pubmed, nach konservativen Suchkriterien, fast 12.000 funktionelle Bildgebungsstudien mittels fMRT und PET (Eickhoff et al. 2010). Sucht man nach Studien, welche Veränderungen in der regionalen Gehirnaktivität bei Patienten mit Schizophrenie, Depression und Autismus untersuchten, kommt man auf gut 1.200 Artikel. Angesichts dieses reichhaltigen Fundus an Befunden zur physiologischen Organisation des Gehirns und der Pathophysiologie psychiatrischer Erkrankungen stellt sich recht bald die Frage, inwieweit diese Daten zu einem Gewinn an Erkenntnis geführt haben. Dabei soll es völlig unbestritten bleiben, dass das Wissen über die Funktion und Organisation des menschlichen Gehirns in den letzten 2 Dekaden einem bisher einzigartigen Zuwachs unterworfen war. Nichtsdestotrotz scheint ein mechanistisches Verständnis der physiologischen Funktionsweise des menschlichen Gehirns und der Pathophysiologie von Erkrankungen, die als rein funktionelle Phänomene ohne ausgeprägte morphologische Veränderungen angesehen werden müssen, noch in weiter Ferne. Dies liegt zum Teil an der Komplexität des Organs Gehirn und seiner Störungen. Um mögliche neue Konzepte für die funktionelle Hirnforschung zu entwickeln, ist es jedoch auch lohnenswert, Stärken, aber auch Schwächen der funktionellen Bildgebung, insbesondere in Hinblick auf ihre Anwendung in den klinischen Neurowissenschaften, zu reflektieren.
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27 · Metaanalysen, Datenbanken und Modelle
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z z Stärken der funktionellen Bildgebung
z z Schwächen der funktionellen Bildgebung
Sowohl fMRT- als auch PET-Studien bieten eine Reihe von einzigartigen Möglichkeiten, welche mittels klassischer neuropsychologischer Testung, Läsionsstudien, Stimulationsverfahren oder elektrophysiologischer Messungen nicht zu realisieren sind. 4 Funktionelle Bildgebung erlaubt die Lokalisation neuronaler Prozesse im arbeitenden Gehirn und somit Einblicke in die dynamische Rekrutierung von Gehirnregionen während der Durchführung experimenteller Paradigmen mit einer Auflösung von wenigen Millimetern. Diese Präzision stellt einen wesentlichen Vorteil gegenüber elektrophysiologischen Messungen mittels EEG oder MEG dar. Auch Aussagen darüber, welche Regionen im Vergleich zweier Gruppen differenziell aktivieren, sind mit einer ähnlich hohen Auflösung möglich, sodass pathologische Über- oder Unteraktivität präzise auf einzelne Gehirnareale oder -kerngruppen lokalisiert werden kann (Barbour et al. 2010). 4 Da die gemessenen metabolischen bzw. hämodynamischen Signale robuster sind als Messungen der elektromagnetischen Gehirnaktivität, reichen oft wenige Durchgänge jeder experimentellen Bedingung, was die Messzeit verkürzt und Ermüdungs- oder Gewöhnungseffekte reduziert. Die Auswahl experimenteller Aufgaben ist dabei nur durch die räumlichen Möglichkeiten innerhalb des Scanners und die Notwendigkeit der ruhigen Kopfposition eingeschränkt, sodass sich eine Vielzahl von mentalen Prozessen und Gehirnleistungen systematisch untersuchen lassen. 4 Insbesondere die fMRT stellt ein vollkommen nichtinvasives Verfahren dar und ist somit nicht nur routinemäßig, sondern auch wiederholt beim selben Probanden oder Patienten anwendbar. Hierdurch werden z. B. Verlaufsbeobachtungen bei Patienten und somit Aussagen über die neuronalen Korrelate psychopathologischer Veränderungen im Krankheitsverlauf möglich.
Diesen einzigartigen Möglichkeiten der funktionellen Bildgebung (insbesondere mittels fMRT) stehen jedoch eine Reihe von methodenimmanenten Einschränkungen gegenüber. 4 Die Anzahl der in einer fMRT- oder PET-Studie eingeschlossen Probanden oder Patienten liegt heute in der Regel bei ca. 10–30 pro Gruppe. Dies ist zwar eine deutliche Steigerung zu den früheren Tagen der Bildgebung, doch im Vergleich zu anderen Feldern der Kognitionsund Sozialwissenschaften oder der klinischen Forschung immer noch sehr gering. Es stellt sich somit die Frage, ob von einem Vergleich zwischen 12 Patienten und 12 Kontrollen auf einen allgemeinen Pathomechanismus einer Erkrankung geschlossen werden kann. 4 Weiterhin ist es, im Gegensatz zur experimentellen Psychologie, durch den logistischen Aufwand und die Kosten einer Bildgebungsstudie selten möglich, weitere Experimente zur Bestätigung und Absicherung der Befunde durchzuführen, was daher häufig zur Veröffentlichung isolierter Befunde führt. Die Verbindung mehrerer Experimente zu ergänzenden Aspekten einer Fragestellung ist ebenso selten wie die direkte Replikation eines Befundes, wie sie z. B. in der Populationsgenetik fast zum Standard geworden ist. 4 Sowohl PET als auch fMRT messen neuronale Aktivität über die hervorgerufenen lokalen metabolischen bzw. hämodynamischen Veränderungen nur indirekt. Die entsprechenden Messsignale können dabei von einer Vielzahl biologischer, technischer und methodischer Faktoren beeinflusst werden, wodurch die Reliabilität der Ergebnisse sinkt. Entscheidend ist hierbei vor allem der gerade in seiner Variabilität nur schwer zu erfassende Zusammenhang zwischen neuronaler Aktivität und gemessenem Signal. 4 Die gemessenen Signale sind nicht absolut, sondern vor allem auf Unterschiede zwischen 2 Bedingungen sensitiv. Die Ergebnisse der meisten Bildgebungsstudien beziehen sich somit auf den Unterschied zwischen einer experimentellen Bedingung und der gewählten Kontrollbedingung. In der Regel wird aber
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Kapitel 27 · Metaanalysen, Datenbanken und Modelle
versucht, auf Basis dieser speziellen, kontextabhängigen Befunde Aussagen über allgemeine physiologische oder pathologische Mechanismen zu treffen, was wiederholt kritisch hinterfragt worden ist (Newman et al. 2001). z
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Quantitative Integration über Metaanalysen
Es wird ersichtlich, dass die Aussagekraft jeder einzelnen Bildgebungsstudie relativ limitiert ist. Wie bereits erwähnt, existiert aber eine enorme Vielzahl an Studien zur physiologischen Organisation des Gehirns und den neuronalen Korrelaten psychiatrischer Erkrankungen. Die Zusammenschau der Ergebnisse vieler individueller Studien sollte somit in der Lage sein, diese Schwächen zu überwinden und Einblicke in grundlegende Organisationsprinzipien des gesunden und erkrankten Gehirns zu liefern. Ein Ansatz hierfür sind qualitative Überblicksarbeiten, welche jedoch immer nur eine orientierende oder fokussierte Zusammenfassung liefern können. Quantitative Metaanalysen funktioneller Bildgebungsstudien hingegen erlauben es, die Gesamtheit aller Ergebnisse zu nutzen und statistisch testbare Aussagen über deren Konvergenz zu treffen. Eine solche modellbasierte Integration vieler Bildgebungsstudien ermöglicht es, Schlussfolgerungen über die Lokalisation von Funktionen und Dysfunktionen, basierend auf Hunderten von Probanden und vielfältigen Variationen eines Paradigmas, zu ziehen. Hinzu kommt, dass sich funktionelle Bildgebungsstudien hervorragend zur quantitativen Zusammenfassung eignen: Zum einen wurden in der funktionellen Bildgebung von Anfang an standardisierte Referenzräume genutzt, um die Ergebnisse einzelner Studien zu berichten (Evans et al. 1992). Zum anderen werden die Ergebnisse von funktionellen Bildgebungsstudien sehr standardisiert als Tabellen der entsprechenden Koordinaten veröffentlicht. z z Ansätze zu quantitativen Metaanalysen
Zur quantitativen Zusammenfassung individueller funktioneller Bildgebungsstudien stehen eine Reihe von Verfahren zur Verfügung (Eickhoff et al. 2010). Zunächst wäre hier die bildbasierte Auswertung zu nennen, welche auf den Rohdaten bzw. zumindest den vollständigen Aktivierungskarten
jeder einzelnen Studie beruht und somit die volle Information aller Studien nutzt. Da hierbei jedoch Zugriff auf sämtliche Originaldaten nötig ist, lassen sich solche Untersuchungen in der Praxis nur selten realisieren. Darüber hinaus sind sie anfällig für Verzerrungen, da sie nicht auf einem vollständigen Literaturüberblick beruhen, sondern nur auf den Studien, für die entsprechende Daten zugänglich sind. In den letzten Jahren haben sich deshalb koordinatenbasierte Metaanalysen durchgesetzt. Diese beruhen auf der modellbasierten Integration der publizierten Aktivierungskoordinaten und können somit auf Basis der gesamten zur Verfügung stehenden Literatur durchgeführt werden. Entsprechend erlauben koordinatenbasierte Metaanalysen eine quantitative Zusammenfassung der Aussagen dutzender oder gar hunderter Experimente. Die Frage, die hierbei statistisch beantwortet wird, lautet: »An welchen Stellen des Gehirns ist die Konvergenz über die eingeschlossenen Studien größer, als dies bei einem zufälligen Zusammenhang der Ergebnisse zu erwarten wäre?« z z Integration von Befunden mittels »activation likelihood estimation«
Für eine solche Zusammenfassung mittels koordinatenbasierter voxelweiser Metaanalysen hat sich die Methode der »activation likelihood estimation« (ALE, Vereinigungsmenge der modellierten Aktivierungswahrscheinlichkeiten) weitgehend durchgesetzt (Eickhoff et al. 2009). Wie jede Metaanalyse beginnt eine Zusammenfassung funktioneller Befunde mittels der ALE mit der Recherche der relevanten Literatur, d. h. möglichst aller zu dem gewählten Thema veröffentlichten Artikel. Die in den jeweiligen Studien für den Zielvergleich berichteten Koordinaten stellen die Ausgangsdaten für die Metaanalyse dar. Beispielhaft ist dies in . Abb. 27.1a dargestellt, welche die in insgesamt 155 individuellen Experimenten berichteten Aktivierungen in Bildgebungsstudien zu Arbeitsgedächtnisaufgaben bei gesunden Probanden illustriert. Es fällt, neben der deutlichen Varianz der gefundenen Lokalisationen auf, dass diese Aktivierungen anscheinend nicht zufällig über das Gehirn verteilt sind, sondern sich in bestimmten Bereichen häufen. Somit stellt sich, wie oben erwähnt, die Frage, welche
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. Abb. 27.1 a Signifikante Aktivierungen aus 155 individuellen Experimenten an insgesamt 2.352 gesunden Probanden zu den neuronalen Grundlagen von Arbeitsgedächtnisleistungen, b die »activation likelihood estimation« (ALE) beschreibt die lokale Konvergenz über Studien, c das Signifikanzniveau eines ALE-Wertes entspricht der Wahrscheinlichkeit, mit der man diesen oder einen höheren Wert bei einem zufälligen Zusammenhang finden würde. Das Bild zeigt die signifikante Konvergenz der Arbeitsgedächtnisstudien nach Korrektur für multiple Vergleiche.
dieser zu beobachtenden Konvergenzen deutlicher ist, als per Zufall zu erwarten wäre. Die Grundidee hinter ALE ist die, dass die berichteten Koordinaten nicht als absolute Lokalisationsangaben (ausdehnungslose Punkte), sondern als Zentren dreidimensionaler Wahrscheinlichkeitsverteilungen betrachtet werden, um so die räumliche Unsicherheit von Bildgebungsdaten abzubilden. Die Wahrscheinlichkeiten für die »wahre« Lage jeder einzelnen Aktivierung werden durch Gauß’sche Verteilungsfunktionen modelliert, de-
ren Schwerpunkt auf den berichteten Koordinaten liegt und deren Breite auf empirischen Werten für die Variabilität funktioneller Aktivierungen beruht. Diese räumliche Unsicherheit hängt dabei von der Anzahl der untersuchten Probanden ab, wodurch Studien, welche eine größere Zahl an Probanden oder Patienten untersucht haben, in der Metaanalyse mehr Gewicht erhalten. Für die Analyse werden zunächst alle Aktivierungen einer Studie auf diese Weise in Wahrscheinlichkeitsverteilungen überführt und dann
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die lokale Konvergenz der Aktivierungswahrscheinlichkeiten über Studien hinweg modelliert (Eickhoff et al. 2009). Die entstehende ALE-Karte gibt dann für jeden Voxel die Wahrscheinlichkeit an, mit der das »wahre Zentrum« mindestens einer berichteten Aktivierung genau an dieser Stelle lag. Für die beispielhafte Untersuchung der funktionellen Bildgebungsbefunde zum Arbeitsgedächtnis ist diese ALE-Karte in . Abb. 27.1b dargestellt. Diese resultierende Karte stellt letztendlich die Wahrscheinlichkeit dar, mit der jeder Bereich des Gehirns an Arbeitsgedächtnisaufgaben beteiligt ist. So reich sie daher an Informationen ist, so schwer ist sie jedoch auch zu interpretieren, da letztendlich die Beteiligung quasi keiner Region ausgeschlossen werden kann. Um eine überzufällige Konvergenz der Befunde einzelner Studien von zufälligem Rauschen zu unterscheiden, werden die erhaltenen Werte dann mit einer Nullverteilung verglichen, welche einen fehlenden räumlichen Zusammenhang zwischen den in die Metaanalyse eingeschlossenen Ergebnissen annimmt. Diese wird durch ein Permutationsverfahren ermittelt und erlaubt es, solche Regionen zu Identifizieren, in denen signifikant höhere Konvergenz vorliegt, als es bei einem zufälligen räumlichen Zusammenhang zu erwarten wäre. Diese statistische Charakterisierung der ALE-Karte erlaubt es dann, Rückschlüsse auf die am untersuchten Prozess beteiligten Regionen zu ziehen. Dies ist in . Abb. 27.1c dargestellt, in der sich zeigt, dass Arbeitsgedächtnisaufgaben konsistent mit signifikanter bilateraler Aktivierung des intraparietalen Sulcus, des prämotorischen Kortex sowie des unteren frontalen Gyrus in der Broca‘schen Region und des präfrontalen Kortex einhergehen. z z Potenzial quantitativer Metaanalysen
Durch die statistische Integration von Aktivierungen unter Berücksichtigung räumlicher Unsicherheit wird eine Konvergenz zwischen den Befunden verschiedener Studien quantitativ erfasst. Dabei liegt das Potenzial quantitativer Metaanalysen vor allem in den folgenden Punkten (Caspers et al. 2010; Eickhoff et al. 2009; Laird et al. 2009a). 4 Sie erlauben die quantitative Lokalisation überzufälliger Konvergenz in einem 3D-Referenzraum und somit Aussagen über die neu-
ronalen Grundlagen psychologischer Prozesse, die deutlich besser zu verallgemeinern sind als die Ergebnisse einer einzelnen Studie. 4 Metaanalysen bieten gegenüber traditionellen Übersichtsarbeiten eine höhere Objektivität, da durch den algorithmischen Ansatz alle Ergebnisse einer Studie gleich gewichtet werden. Sie differenzieren somit nicht zwischen den erwarteten, gut zu interpretierenden Befunden, welche oft in der Diskussion einen breiten Raum einnehmen, und den Nebenbefunden, welche oft nur kurz diskutiert werden. Somit können quantitative Metaanalysen dazu beitragen, dass auch wenig beachtete, aber konsistente Befunde stärker wahrgenommen werden. 4 Letztendlich ermöglichen quantitative, koordinatenbasierte Verfahren wie ALE nicht nur eine objektive Zusammenschau der bisher verfügbaren Befunde zu einem Thema, sondern können vielmehr über quantitative Metaanalysen auch Aussagen über unterschiedliche Aktivierungen bei verschiedenen Paradigmen oder bei verschiedenen Patientengruppen treffen. z z Metaanalysen in den klinischen Neurowissenschaften
Das wahrscheinlich größte Potenzial für Metaanalysen findet sich im Bereich jener klinischen Bildgebungsstudien, welche in der Regel eher kleinere Fallzahlen aufweisen. Diese begründen sich durch die schwierigere Rekrutierung, die klinischen Einund Ausschlusskriterien und den größeren Anteil an abgebrochenen Messungen durch Noncompliance. Führt man sich weiterhin die größere interindividuelle Varianz klinischer Populationen vor Augen, so wird ersichtlich, wie sehr allgemeingültige Schlüsse über regionale Dysfunktionen auf die Integration einzelner Studien angewiesen sind. Metaanalysen klinischer Bildgebungsstudien konzentrieren sich dabei auf die Konvergenz der für die Vergleiche zwischen Patienten und einer Kontrollgruppe berichteten Hyper- oder Hypoaktivität. Führt man eine Metaanalyse über Studien durch, die untersucht haben, wo sich bei der Durchführung von Arbeitsgedächtnisaufgaben eine verminderte Aktivität bei schizophrenen Patienten findet, so zeigt sich das in . Abb. 27.2a gezeigte Muster. Es kommt also, über Studien hinweg, bei Schizo-
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. Abb. 27.2 a ALE-Metaanalyse über die in 34 Studien berichtete Reduktionen der fMRT-Aktivierung bei Arbeitsgedächtnisaufgaben schizophrener Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden, b Vereinigungsmenge beider in Abb. 27.1 (Arbeitsgedächtnis bei Gesunden) und 27. 2 (verminderte Arbeitsgedächtnisaktivität bei Schizophrenen) gezeigten Analysen; die gezeigten Areale sind konsistent bei Arbeit sgedächtnisaufgaben beteiligt und weisen eine reduzierte Aktivität bei Patienten mit Schizophrenie auf
phrenen zu einer konsistent verringerten Aktivität bilateral im Bereich des inferioren frontalen Gyrus und der vorderen Insel sowie linksseitig im hinteren Anteil des präfrontalen Kortex. Der Vergleich dieser Befunde mit der zuvor genannten Metaanalyse zeigt dann (. Abb. 27.2b), dass alle Areale, die bei Patienten veränderte Aktivierungen aufweisen, auch tatsächlich reliabel bei Arbeitsgedächtnisaufgaben aktiviert werden. Die Anwendbarkeit von ALE-Metaanalysen ist dabei nicht auf funktionelle Bildgebungsstudien beschränkt. Vielmehr können die entsprechenden Algorithmen auch zur Zusammenfassung der Befunde anatomischer Bildgebungsstudien, wie die der voxelbasierten Morphometrie (VBM), angewandt werden. Diese basieren ebenfalls auf einem Vergleich zwischen Patienten und Kontrollen, berichten jedoch keine Über- bzw. Unteraktivierungen, sondern Unterschiede im regionalen Volumen der grauen oder weißen Gehirnsubstanz. Da die Ergebnisse dieser Untersuchungen im selben Re-
ferenzraum vorliegen, wie die Ergebnisse funktioneller Bildgebungsdaten, und als standardisierte Koordinaten berichtet werden, können sie analog zu funktionellen Daten auf Konvergenz, also über Studien konsistent gefundene Atrophie bzw. Volumenzunahme, getestet werden. Dies ist in . Abb. 27.3 verdeutlicht, in der das Ergebnis aus einer Metaanalyse über 17 Studien zu morphologischen Unterschieden zwischen Patienten mit Autismus und gesunden Kontrollen dargestellt ist. Hierbei zeigt sich, dass autistische Patienten konsistente Veränderungen im ventralen Striatum aufweisen. z Rückschlüsse auf dysfunktionale Prozesse z z Wie sind Gruppenunterschiede zu interpretieren?
Aktivierungsunterschiede, die sich in einer quantitativen Metaanalyse zwischen Patienten und Kontrollen zeigen, sind auf der Ebene neuronaler Mechanismen oft nur schwer zu deuten. So kann eine vermehrte Aktivität in der Patientengruppe
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. Abb. 27.3 Links oben: ALE-Metaanalye über 17 VBM-Studien zu morphologischen Unterschieden von Patienten mit Autismus im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden. Es zeigt sich eine signifikante Veränderung im ventralen rechten Striatum bei autistischen Patienten. Rechts und unten: Funktionelle Charakterisierung aller Studien der BrainMap-Datenbank, die im rechten Striatum Aktivierungen zeigen. Das ventrale Striatum, also die bei Autisten morphologisch veränderte Region, ist vor allem bei Studien zur Emotionsverarbeitung, und hierbei speziell bei der Verarbeitung von Freude, aktiv
im Sinne einer vermehrten Anstrengung bei insuffizienter Verarbeitung interpretiert werden. Eine verminderte Aktivität könnte jedoch z. B. über eine unzureichende Rekrutierung ebenfalls als insuffiziente Verarbeitung gedeutet werden. In vielen Fällen können neuropsychologische Leistungsdaten eine potenzielle Auflösung für das entsprechende Dilemma bereithalten. So lassen sich die bei Schizophrenen konsistent gefundenen Hypoaktivierungen im frontoinsulären Bereich (. Abb. 27.2b) am ehesten als insuffiziente Rekrutierung dieser Regionen interpretieren, wenn man berücksichtigt, dass im Vergleich zu gesunden Kontrollen reduzierte Leistungen in Arbeitsgedächtnisaufgaben bei diesen Patienten bereits sehr gut dokumentiert sind. In anderen Situationen kann der klinische Phänotyp im Verhältnis zum experimentellen Paradigma Hinweise auf die Interpretation geben. In vielen Situationen lässt sich jedoch keine so genaue Aussage treffen und es muss daher in einer konservativeren Interpretation eher von (konsistenten) Hinweisen auf eine regionale Dysfunktion ausgegangen werden. Letztendlich stellt sich dabei vor allem die Frage nach den zugrunde liegenden, krankheitsbe-
dingt veränderten Prozessen. In einem als »reverse inference« bezeichneten Schritt wird dabei aus der Lage der veränderten Aktivität, der durchgeführten Aufgabe und der Literatur auf den betroffenen mentalen Prozess geschlossen. z z Funktionelle Charakterisierung mittels Datenbanken
Eine Alternative zur subjektiven Zuordnung möglicherweise dysfunktionaler mentaler Prozesse zu den identifizierten neuronalen Aberrationen wäre ein systematischer Überblick über die gesamte verfügbare Bildgebungsliteratur. Ein solcher ist aufgrund der Anzahl an Vorstudien jedoch nur über einen automatisierten Abgleich mit publizierten Aktivierungskoordinaten für funktionelle Studien möglich. Mit anderen Worten, Rückschlüsse über möglicherweise betroffene mentale Prozesse lassen sich quantitativ am ehesten dadurch ziehen, dass untersucht wird, was für Paradigmen in eben jenen Studien durchgeführt wurden, die hier Aktivierungen berichteten. Eine solche funktionelle Charakterisierung möglicherweise betroffener Prozesse lässt sich da-
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bei über Datenbanken funktioneller Bildgebungsergebnisse realisieren. Entsprechende Datenbanken wie BrainMap (http://brainmap.org; Laird et al. 2009a) haben in den letzten Jahren als elektronische Sammlung funktioneller Befunde eine stetig wachsende Rolle eingenommen. Dadurch, dass die Aktivierungskoordinaten sämtlicher in der Datenbank enthaltener Befunde (immerhin gut ein Viertel der gesamten verfügbaren Literatur) automatisiert mit der Lage der zu charakterisierenden Region verglichen werden, können dabei alle diese Studien identifiziert werden, welche an dieser Stelle Aktivierungen aufweisen. Die entsprechenden Studien können dann weiter bezüglich der durch sie abgebildeten Prozesse untersucht werden. Dies kann entweder manuell geschehen oder über die in der BrainMap-Datenbank ebenfalls enthaltenen Beschreibungen des verwendeten Paradigmas. Die entscheidende Frage zur funktionellen Charakterisierung lautet damit: »Welche Art von Studien aktiviert die gefundene Region häufiger als per Zufall zu erwarten wäre?« Besonders relevant ist eine solche Charakterisierung bei der Interpretation von Ergebnissen, deren zugrunde liegende Daten keinen direkten funktionellen Bezug haben. Als Beispiel können hierfür die in Abb. 27.3 gezeigten, in der Metaanalyse als konsistent bestätigten morphologischen Befunde angesehen werden. Gerade die Interpretation solcher struktureller Veränderungen kann zu Spekulationen über vermeidlich betroffene mentale Prozesse einladen, da die Daten selber keine funktionelle Information tragen. Eine funktionelle Charakterisierung jeder Studie in der Brain MapDatenbank, welche in der entsprechenden Region Aktivierungen hervorruft, erlaubt jedoch die objektive Interpretation der morphologischen Befunde. In dem oben beschriebenen Beispiel bezüglich morphologischer Unterschiede zwischen Patienten mit Autismus und gesunden Kontrollen fand sich das ventrale Striatum als konsistent veränderte Region. Weiterführend konnte nun gezeigt werden, dass diese Region vor allem bei Studien zur Emotionsverarbeitung und hierbei speziell bei der Verarbeitung positiver Emotionen, also Freude, aktiviert wird (. Abb. 27.3).
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Management in der psychiatrischen Forschung Volker Backes
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 28 · Management in der psychiatrischen Forschung
Strukturiertes Projektmanagement in Forschung und Entwicklung ist bei Wirtschaftsbetrieben ein verbreitetes Instrument. In der öffentlich finanzierten Forschung, insbesondere in der länderfinanzierten universitären Forschung, hingegen wird die Projektleitung weitgehend den Wissenschaftlern selbst überlassen, sie werden hierbei von mehr oder weniger zentralisierten Einrichtungen der Hochschulen unterstützt. Gerade auch die durch die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder beförderte Öffnung der Hochschulen zu weitergehenden Kooperationen, z. B. zwischen RWTH Aachen und Forschungszentrum Jülich GmbH im Rahmen der Jülich Aachen Research Alliance (JARA), müssen die derzeit gegebenen Strukturen kritisch überprüft und weiterentwickelt werden. Dies wird auch zunehmend von den Einrichtungen der öffentlichen Forschungsförderung zu gesehen, so hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Ausbildungsprogramm für Forschungsmanagement initiiert. Die Besonderheiten des Forschungsmanagements in der psychiatrischen Forschung werden definiert durch die allgemeinen Rahmenbedingungen medizinischer, patientennaher und translationaler Forschung, unterliegen aber insbesondere in den Bereichen Ethik und Öffentlichkeitsarbeit ganz spezifischen Bedingungen, die ein dezidiertes Forschungsmanagement in der Psychiatrie allein oder in kleineren Einrichtungen, im Konzert mit weiteren klinischen Neurowissenschaften, rechtfertigt.
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Projektmanagement im Allgemeinen und im Umfeld universitärer Forschung
In Firmen mit und ohne explizite Forschungsabteilungen findet man häufig ein gezieltes Projektmanagement. Schwieriger ist es hingegen, eine allgemeinverbindliche Definition von »Projekt« zu finden. Wastian, Braumandl und von Rosenstiel (2009) verweisen hier auf die wenig spezifische DIN 69901, welche ein Projekt als ein »Vorhaben, das im Wesentlichen durch die Einmaligkeit der Bedingungen in ihrer Gesamtheit gekennzeichnet ist« beschreibt. Etwas konkreter und unmittelbarer nachvollziehbar schildern die Autoren ein Projekt als ein Vorhaben im Interessenkonflikt im Spannungsfeld konkurrierender Rahmenbedingungen bezüglich Laufzeit, Kosten und erwarteter Ergebnisse. Das heißt, ein Projekt umfasst zusammenhängende Aufgaben mit definierten erwarteten
Resultaten von längerer, aber bestimmter Dauer, die mit einem in der Regel spezifisch zusammengestellten Projektteam mit vorgegebenen Ressourcen zu erledigen sind. In der Wirtschaft werden Projekte hierbei häufig durch konkrete Aufgabenstellungen von Kunden oder Entwicklungspartnern extern definiert. Dadurch sind die Projektziele und die Projektlaufzeit bereits vorgegeben und das wesentliche Ziel des Projektmanagements besteht darin, diese Vorgaben mit einem Minimum an Ressourcen zu erfüllen. Im Bereich der experimentellen Wissenschaften hingegen wird als Projekt in der Regel eine durch Drittmittelgeber finanzierte Forschungsaufgabe verstanden. Diese wird, abhängig von der Finanzierung, in der Regel in einem Zeitraum von 1 bis 3 Jahre bearbeitet und soll neben dem durch Publikationen belegten Erkenntnisgewinn auch der Vorbereitung weiterführender Forschungsarbeiten dienen. Die Finanzierungszusage des Förderers umfasst häufig auch eine klare Vorgabe, wie und in welchem Zeitraum die Mittel zu verausgaben sind. Im Gegensatz zu Forschungsprojekten in der Wirtschaft ergibt sich also in öffentlich geförderter Forschung nicht die Aufgabe, ein Ziel mit möglichst geringem Mitteleinsatz zu erreichen, sondern die Herausforderung, mit klar definierten Ausgabenpositionen ein maximales Ergebnis zu erreichen. Ein typischer Projektablauf in der drittmittelfinanzierten Forschung ist in . Abb. 28.1 skizziert. Die in der oben zitierten DIN 69901 beschriebene Einmaligkeit der Gesamtheit der Rahmenbedingungen ist in Forschungsprojekten praktisch immer gegeben. Sowohl die Rahmenbedingungen der Finanzierer als auch die genaue Zusammensetzung des Teams sind nur selten auf andere Projekte übertragbar, die konkreten Fragestellungen und das Arbeitsprogramm sind immer für ein Projekt spezifisch. Eine weitere Besonderheit von Forschungsprojekten besteht in der geringeren Isolierbarkeit des Projekts, d. h., mehrere Forschungsprojekte in einem Lehr- und Forschungsbereich sind eigentlich immer eng miteinander verknüpft hinsichtlich der beteiligten Mitarbeiter, der Hauptfragestellungen und auch der eingesetzten Ressourcen (z. B. Forschungshardware wie Bildgebungsgeräte).
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28 · Management in der psychiatrischen Forschung
Drittmittelantrag
(Revision des Antrags)
Formantrag (z.B. bei BMBF)
Gewinnung und Einstellung von Mitarbeitern Rechtliche Genehmigungen (Ethik, BfArm etc.) Beschaffung und Installation von Ausstattung
Projektmonitoring und Berichtswesen
Anpassungen im Projektteam (z.B. Mutterschaft, Auslandsaufenthalt)
Abschlussberichte und Publikationen
Folgeanträge
. Abb. 28.1 Typische Projektmanagementaspekte eines Drittmittelprojekts in der experimentellen Forschung
z
Status quo
Die Projektleitung in der universitären Forschung obliegt organisatorisch und juristisch im Regelfall dem verantwortlichen (habilitierten) Wissenschaftler. Auch wenn bei einigen Finanzierern die Bewilligung formal gegenüber der Hochschule ausgesprochen wird, liegt die inhaltliche Verantwortung bei dem federführenden Wissenschaftler. In der Regel wird dieser durch speziell für das Projekt eingestellte Mitarbeiter unterstützt. Diese Unterstützung ist oft nur unbefriedigend, da die
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typische wissenschaftliche Karriere verbunden mit nahezu durchgängig befristet gestalteten Anstellungsverträgen zu einer vergleichsweise hohen Personalfluktuation führt und neueingestellte Mitarbeiter kurz nach Abschluss ihres Studiums üblicherweise nur fachspezifisch ausgebildet sind, aber oft keine Ausbildung in den juristischen, finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen von Drittmittelprojekten haben. Auch Kenntnisse in den Grundlagen des Projektmanagements werden außerhalb betriebswirtschaftlicher oder ingenieurwissenschaftlicher Studiengänge nur selten vermittelt. Die diesbezüglichen Anforderungen an Akteure in der Wissenschaft werden darüber hinaus zunehmend komplexer. Das reicht insbesondere in der Psychiatrie und neurowissenschaftlichen Forschung von immer komplexeren Untersuchungsparadigmen über die notwendige Vernetzung über Organisationsformen hinaus bis hin zu internationalen Zusammenarbeiten. Neben erheblichen Anforderungen an Datenmanagement, Strukturierung von Zusammenarbeit z. B. in Kooperationsverträgen werden auch die Finanzverwaltung und das Berichtswesen zunehmend komplexer. Nicht zuletzt auch die Verwaltung und Betreuung von Personalvorgängen erfordern oft spezifische Kenntnisse z. B. bezüglich der Einstellungsvoraussetzungen für ausländische Wissenschaftler. Eine weitere Unterstützung wird dem Projektleiter durch die Rahmenbedingungen der entsprechenden Hochschule angeboten. So verfügt sicher jede Hochschule über Abteilungen für Forschungsförderung oder internationale Kooperationen. Auch die einzelnen Fakultäten einer Hochschule haben überwiegend Dekanatsbereiche für Forschungsförderung eingerichtet. Aus Sicht des Wissenschaftlers ist diese Unterstützung aber oft unbefriedigend, da diese Abteilungen einerseits eher strategischen Zielen dienen und vorrangig der Hochschulleitung zuarbeiten, andererseits aber auch einen zu kleinen Personalschlüssel haben, um wirklich im Einzelfall projektnah zu helfen. Was diesen Ansätzen aber insbesondere fehlt, ist die Verortung in der forschenden Einheit und hiermit verbunden insbesondere die spezifische fachliche Qualifikation. Eine zentrale Abteilung einer Universität kann nicht alle notwendige Kompetenz
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Kapitel 28 · Management in der psychiatrischen Forschung
vorhalten, um beispielsweise an der RWTH Aachen 450 Professoren an 9 Fakultäten fachlich qualifiziert zu unterstützen. Auch ein Forschungsreferat einer Fakultät wird angesichts einer thematischen Breite von Kardiologie über Onkologie bis hin zu Neurowissenschaften oder Medizin und Technik bestenfalls formale Hilfestellung leisten können. Ein Ausdruck dieser fehlenden Spezialisierung ist oft eine sinnfreie Weiterleitung von aktuellen Ausschreibungen, da der Multiplikator nicht hinreichend einschätzen kann, ob die spezifische Ausschreibung für seine Adressaten überhaupt relevant ist. Vor dem Hintergrund knapper Zeitressourcen und einer schon bestehenden »Flut« von E-Mails besteht die Gefahr, dass dieses Distributionsverhalten eher die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass relevante Ausschreibungen nicht wahrgenommen werden. z
Forschungsmanagement in der Psychiatrie
Die Angebote der Hochschule sind, wie oben skizziert, in der Regel nicht hinreichend fachspezifisch. Sie sind aber auch oft nicht unmittelbar verfügbar, d. h., der verantwortliche Projektleiter muss sich bei konkreten Fragen erst über die zuständige Abteilung informieren, dort einen geeigneten Mitarbeiter kontaktieren und diesem sein Anliegen nahebringen. Gerade vor dem Hintergrund oft drängender Fristen fühlt sich der einzelne Wissenschaftler nicht immer suffizient unterstützt. Vor dem Hintergrund der bis hier skizzierten Gesichtspunkte entstand an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (heute Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik) im Jahr 2005 ein hausinternes Forschungsmanagement. Die Aufgaben dieser Stabstelle gehen über die unmittelbar mit dem oben skizzierten Projektmanagement verbundenen Aufgaben hinaus und sind stichpunktartig hier zusammengefasst. Aufgaben der Stabsstelle Forschungskoordination an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik 4 Unterstützung bei der Beantragung neuer Drittmittelprojekte 5 Finanzkalkulation 5 Überprüfen der Formalia 5 Inhaltliches Gegenlesen
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4 4 4 4 4 4 4
5 Abwicklung der Einreichung (Drucken, Binden, Versenden) Unterstützung des Projektmanagements 5 Personalverwaltung 5 Finanzverwaltung und -controlling 5 Schnittstelle zur Verwaltung 5 Berichtswesen Forschungsmonitoring (Ethik etc.) Betreuung wissenschaftlicher Gäste Öffentlichkeitsarbeit und projektübergreifendes Berichtswesen Betreuung von Publikationen, z. B. Sonderhefte und Bücher Raumverwaltung Sonderprojekte (JARA-BRAIN) Veranstaltungsorganisation
Insgesamt lassen sich die Aufgaben dieser Stabstelle auf einen Nenner bringen: Unterstützung aller Wissenschaftler der Klinik bzw. von JARA-BRAIN mit fachlichem Verständnis vor Ort. z
Exkurs: JARA-BRAIN und XINI als Strukturmaßnahme
Diese Entwicklung, die hausintern bereits im Jahr 2005 umgesetzt wurde, erfuhr weiteren Rückenwind durch die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder in den Jahren 2006 und 2007 sowie in der aktuellen zweiten Runde, die den Zeitraum ab November 2012 adressiert. In der sog. dritten Linie der Exzellenzinitiative werden Zukunftskonzepte der Hochschulen begutachtet und ggf. gefördert. Der Wissenschaftsrat und die DFG schreiben hierzu in ihren Merkblättern: »Ziel der Förderlinie ist es, die universitäre Spitzenforschung in Deutschland auszubauen und international konkurrenzfähiger zu machen. Die Förderung soll die Universitäten in die Lage versetzen, ihre international herausragenden Bereiche nachhaltig zu entwickeln und zu ergänzen und sich als Institution im internationalen wissenschaftlichen Wettbewerb in der Spitzengruppe zu etablieren.« Hieraus sowie aus den weiteren Vorgaben ergibt sich, dass die dritte Förderlinie weniger inhaltsgetrieben ist, als vielmehr strukturelle Maßnahmen unterstützt. Ein hier häufig genanntes Stichwort ist die Professionalisierung des universitären Managements, welche sich einerseits in einer weiteren Entwicklung der
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28 · Management in der psychiatrischen Forschung
Hochschulleitung zu einem Steuerungsgremium mit eigenen Ressourcen, andererseits aber auch in der Einsetzung von Geschäftsführern für wichtige Projekte der Maßnahmen der Exzellenzinitiative ausdrückt. Ein besonderer Gesichtspunkt ergab sich am Standort Aachen aus der Nähe zum Forschungszentrum Jülich, einer Forschungseinrichtung der Helmholtz-Gemeinschaft. Beide Einrichtungen, RWTH Aachen und Forschungszentrum Jülich, weisen eine längere Geschichte gemeinsamer Forschungsprojekte auf und traten in einzelnen Settings als gemeinsame Partner auf. So bilden beispielsweise Aachen und Jülich gemeinsam die deutsche Seite einer langjährigen Kooperation mit dem Technion in Haifa, Israel, unter dem Stichwort »Umbrella«. Im Rahmen der Bewerbung der RWTH Aachen für die dritte Linie der Exzellenzinitiative wurden die gemeinsamen Forschungsschwerpunkte in eine einheitliche Struktur zusammengefasst. Die Jülich Aachen Research Alliance (JARA; www.jara.org) fokussiert sich aktuell auf die Bereiche »Translationale Hirnforschung in Psychiatrie und Neurologie«, »Future of Information Technologies«, »High Performance Computing« sowie »Energieforschung der Zukunft«. Eine Besonderheit dieses Modells ist die modulare Organisation, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die inhaltlichen Interessen der Hochschule und des Forschungszentrums nicht in allen Bereichen übereinstimmen. Eine gemeinsame Struktur erstreckt sich mit JARA nur auf die Bereiche des gemeinsamen Interesses und erlaubt Änderungen aufgrund strategischer Entscheidungen durch Wegfall bestehender oder Aufnahme neuer Sektionen. Die Entwicklung der sog. Sektionen wird durch Geschäftsführer in den einzelnen Bereichen unterstützt, die im Wesentlichen die Aufgaben eines Forschungskoordinators erfüllen und darüber hinaus in dieser heterogenen Konstruktion die besondere Aufgabe haben, die Rahmenbedingungen der Universität und des Forschungszentrums in der Helmholtz-Gemeinschaft gleichsam zu beachten. Eine Aufgabe, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher Buchhaltungskulturen, z. B. mit einer im Vergleich zur Hochschule sehr weitgehenden Vollkostenrechnung in dem als GmbH organisierten For-
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schungszentrum, eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Kooperation ist. z
Profil eines Forschungskoordinators/Forschungsmanagers
In einer gewissen Weise übernimmt ein Forschungskoordinator Aufgaben, die früher eher dem wissenschaftlichen Mittelbau anvertraut wurden. Es ergeben sich auch fachliche Anforderungen an einen Forschungskoordinator. Im Idealfall verbindet eine solche Person fachliche Kenntnisse, z. B. im Bereich »klinische Neurowissenschaften«, mit erweiterten Kenntnissen, die den Bereichen Verwaltung, Projektmanagement und Soft Skills zuzuordnen sind. Eine solche Person kann insbesondere dann auch eine wertvolle Unterstützung in der Betreuung wissenschaftlichen Nachwuchses, z. B. Doktoranden, sein. So kann ein Forschungskoordinator dem wissenschaftlichen Betreuer die organisatorische Einweisung eines Doktoranden abnehmen. Es ist sicher nicht effizient, wenn der Umgang mit hauseigener IT, Bestellwesen etc. vom wissenschaftlichen Betreuer vermittelt werden muss, aber auch die Vermittlung der Angebote der Hochschule z. B. im Bereich der Soft Skills oder auch die Unterstützung bei ersten, meist eher formalen Aufgaben (z. B. Prüfung des Vorliegens aller notwendigen Genehmigungen vor Projektbeginn) kann der Forschungskoordinator übernehmen. Der zunehmende Bedarf an solchen Positionen wird aktuell in den Stellenausschreibungen im wissenschaftlichen Bereich deutlich. Es vergeht nahezu keine Woche, in der nicht Projektkoordinatoren oder Projektmanager für Forschungsinitiativen wie Graduiertenschulen, Graduiertenkollegs oder Sonderforschungsbereiche gesucht werden. Andererseits wird der Bedarf auch dadurch dokumentiert, dass die Zahl der entsprechenden Ausbildungsprogramme stetig zunimmt. Neben dem Zentrum für Wissenschaftsmanagement in Speyer, welches schon länger berufsbegleitende Lehrgänge für Forschungsmanagement anbietet, hat kürzlich auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein sog. Forum Hochschul- und Wissenschaftsmanagement ins Leben gerufen. Die hier vermittelten Schwerpunkte betreffen beispielsweise »Finanzen und Controlling«, »Transfer erlernen und managen« oder »Management von (inter-)diszip-
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Kapitel 28 · Management in der psychiatrischen Forschung
linären Forschungsverbünden« und bilden so das beschriebene Profil eines Forschungskoordinators/ einer Forschungskoordinatorin als fachnahe Stabsstelle ab. z
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Ausblick
Die aktuellen Entwicklungen im Bereich der öffentlich geförderten Forschung erlauben die Prognose, dass der Bedarf an professionalisiertem Projektmanagement zunehmen wird. Während in strukturierten Programmen wie der Exzellenzinitiative, den Graduiertenkollegs oder den Sonderforschungsbereichen explizit Mittel für das Management bzw. die Geschäftsführung beantragt werden können, sieht das Normalgeschäft in Form von Projektbewilligungen im Einzelverfahren dieses nicht vor. Somit stellt sich die Frage, ab welcher Größenordnung die Position eines Forschungskoordinators sinnvoll sein mag. Nicht jedes Institut oder jede Klinik erreicht die kritische Größe, um ein eigenes Forschungsmanagement zu etablieren. Ein Ausweg wäre hier die Organisation auf der Ebene von Forschungsschwerpunkten. Diese zeichnen sich durch eine relative Homogenität und Stabilität in Organisation und Thematik aus. Hier könnte ein Forschungsreferent (oder koordinator) möglicherweise über die Unterstützung der einzelnen Beteiligten hinaus insbesondere auch identitätsstiftend und kooperationsfördernd sein. Die Finanzierung einer solchen Position wäre sicher aus Fakultätsmitteln zu rechtfertigen, in Zeiten zunehmender Vollkostenrechnung bei Forschungsprojekten aber auch bald über Overheadmittel zu refinanzieren. Überhaupt darf angenommen werden, dass die Entlastung der wissenschaftlichen Projektleiter, d. h. der Professorinnen und Professoren, Freiräume schafft, die die erfolgreiche Einwerbung von Drittmitteln befördern und somit die Position indirekt bezahlt machen.
Literatur Wastian, BraumandI, Rosenstiel L von (Hrsg.) (2009) Angewandte Psychologie für Projektmanager. Ein Praxisbuch für die erfolgreiche Projektleitung. Springer, Heidelberg
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Neurowissenschaftliche Befunde bei Drogenkonsum Hanns Jürgen Kunert
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_29, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 29 · Neurowissenschaftliche Befunde bei Drogenkonsum
Obwohl das mesolimbische dopaminerge System als die zentrale Suchtregion im Gehirn identifiziert wurde, zeigt sich die wissenschaftliche Befundlage zu den spezifischen neurobehavioralen Korrelaten des Drogenkonsums immer noch sehr lückenhaft. Die bisher vorliegenden Studienergebnisse geben daher nur orientierende Hinweise. Noch weitgehend unerforscht sind Aspekte der Hirnreifung und psychosozialen Entwicklung bei Langzeitkonsum unterschiedlicher Drogen, insbesondere was die Wechselwirkung zwischen genetischer Suszeptibilität und Konsumbeginn in vulnerablen Entwicklungsphasen betrifft. Bei Betrachtung der wissenschaftlichen Datenlage wird aber auch deutlich, wie schwierig Untersuchungen zu diesen Themenkomplexen sind, da eine Vielzahl von Faktoren Einfluss auf die Untersuchungsergebnisse nehmen kann.
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z
Zum Problem sogenannter weicher Drogen am Beispiel von Cannabis und Nikotin z z Neurowissenschaftliche Aspekte des Cannabiskonsums
Drogenkonsum ist immer in gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge eingebettet, was letztlich auch Einfluss auf wissenschaftliche Untersuchungen nehmen kann. Am Beispiel der Cannabisforschung, die erst ab den 1970er Jahren ihre Entwicklung nahm, kann gezeigt werden, wie ideologisch geprägte Vorannahmen diese Forschung nahezu diskreditiert hatten. So wiesen viele Studien bis Ende der 1980er Jahre erhebliche methodische Mängel auf. Die neurobiologisch ausgerichtete Neuorientierung dieser Forschung ab Mitte der 1990er Jahre aufgrund der Entdeckung des sog. Endocannabinoidsystems (z. B. Devane et al. 1992) fand dann zunächst nur in kleinen Fachkreisen Beachtung und stand damals noch nicht im Fokus der »Verhaltenswissenschaften«, obwohl das zu dieser Zeit identifizierte Endocannabinoidsystem in komplexe neuronale Regelkreise eingebunden ist und aufgrund seiner neuromodulatorischen Funktion an kognitiven und emotionalen Verarbeitungsprozessen partizipiert (Pertwee 1992). Endocannabinoide wirken dabei auf unterschiedlicher Ebene, z. B. hinsichtlich der Freisetzung oder Speicherung einzelner Neurotransmitter, und können dadurch die Aktivität des jeweiligen Systems erheblich beeinflussen, was dann auch für psychiatrische Erkrankungen von Bedeutung sein kann (Schneider
et al. 2000). Vermutet wird, dass sich die neurobehaviorale Bedeutung des Endocannabinoidsystems auch aus dem Verteilungsmuster der Rezeptoren im Gehirn ergibt (Baker et al. 2003), zumal es auch an neurobiologischen Reifungsprozessen beteiligt ist (Fernandez-Ruiz et al. 2000). Obwohl veränderte Hirnaktivitäten bei chronischen Cannabiskonsumenten festgestellt wurden, ließ sich bislang dennoch nicht die Frage beantworten, ob damit auch überdauernde funktionelle oder strukturelle Hirnveränderungen assoziiert sind. Während der akuten Intoxikationsphase wurden assoziierte hirnorganische Veränderungen festgestellt (z. B. Änderungen des Blutflusses oder des Glukosemetabolismus), die mit den Auffälligkeiten des Erlebens und Empfindens wie z. B. Änderung des Zeitsinns, Angst und Depersonalisationserlebnissen assoziiert waren (Block et al. 2002). Trotz dieser zahlreichen noch ungeklärten Fragen bleibt aber festzustellen, dass bei chronischen Cannabiskonsumenten zahlreiche »subtile Auffälligkeiten« die therapeutischen Bemühungen im erheblichen Maße negativ beeinflussen können, wie z. B. das sog. amotivationale Syndrom, das mit Lethargie, Passivität, verflachtem Affekt und mangelndem Interesse einhergeht. Häufig werden zudem die nicht minder bedeutsamen Auffälligkeiten aus dem Bereich der Anosognosie (d. h. das verminderte oder aufgehobene Krankheitsgefühl) und der Anosodiaphorie (d. h. die Gleichgültigkeit gegenüber bestehenden Störungen oder Beeinträchtigungen) übersehen. Festgestellt wurde, dass viele Cannabiskonsumenten während der Zeit ihres chronischen Konsumverhaltens kaum in der Lage sind, Ausmaß und Qualität bestehender kognitiver und psychosozialer Beeinträchtigungen zu erkennen. Dies zeigte sich erst nach Absetzen der Droge als teilweise verbessert. Anhedonie (Unfähigkeit, Freude zu empfinden) und Alexithymie (Unfähigkeit oder Einschränkungen darin, Emotion bewusst zu erleben) können weitere Auffälligkeiten von nicht minder bedeutsamer therapeutischer Relevanz darstellen. Unter anderem werden hierfür durch Drogenkonsum verursachte dysfunktionale neuronale Schaltkreise der Emotionsverarbeitung verantwortlich gemacht. Psychische Erkrankungen sind bei abhängigen Cannabiskonsumenten in den letzten Jahren ver-
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29 · Neurowissenschaftliche Befunde bei Drogenkonsum
stärkt untersucht worden, zumal psychische Störungen einschließlich Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen eher die Regel als die Ausnahme darstellen (Copeland et al. 2001). Das Ausmaß dieser Störungen zeigte sich dabei auffallend hoch mit dem Einstiegsalter und der Stärke des Cannabiskonsums korreliert (Patton et al. 2002). Immer wieder ist auch auf den engen Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und schizophreniformen Störungen verwiesen worden. So ist die Prävalenz von Cannabiskonsum bei Schizophrenen etwa 5-mal höher als in der Normalpopulation, und umgekehrt ist bei regelmäßigem Cannabiskonsum das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, bis zu 6-mal höher (Andréasson et al. 1987; van Os et al. 2002). Ob hier ein ursächlicher Zusammenhang vorliegt, wurde zunächst kontrovers diskutiert. Neue epidemiologische Studien lassen aber einen sehr viel engeren Zusammenhang zwischen dem Cannabiskonsum und dem Ausbruch einer schizophrenen Erkrankung vermuten (Fergusson et al. 2006). Gegenwärtig wird davon ausgegangen, dass höherfrequenter und/ oder höherdosierter Cannabiskonsum als Stressor im Sinne des Vulnerabilitäts-Stress-Konzepts der Schizophrenie einzustufen ist und damit das Profil eines Risikofaktors besitzt (Stefanis et al. 2004). In diesem Zusammenhang sind neuerdings auch genetische Studienansätze von Bedeutung. Caspi et al. (2005) konzentrierten sich auf das CatecholO-Methyltransferase-Gen (COMT), das eine zentrale Rolle bei der Produktion von Dopamin spielt und eine entscheidende Rolle bei der Schizophrenieerkrankung spielen soll. Gegenwärtig gibt es deutliche Hinweise dafür, dass die Wechselwirkung zwischen Cannabiskonsum und genetischer Veranlagung bedeutsam für Erkrankungen aus dem schizophrenen Störungskreis ist. So konnte gezeigt werden, dass Δ9-THC zu einer erhöhten Entladungsfrequenz dopaminerger Neurone führt und agonistische Effekte in dopaminergen Projektionen des medialen Vorderhirnbündels nachweisbar sind. Ein Ansteigen der Δ9-THC-Spiegels führt zudem zu einem erhöhten dopaminergen Tonus im Bereich des limbischen Vorderhirns (Navarro et al. 1993). Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass das endogene Cannabinoidsystem auch für die Ent-
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wicklung einer Angsterkrankung bzw. einer posttraumatischen Belastungsstörung von Bedeutung sein kann (Marsicano et al. 2002). Studien unterschiedlicher Arbeitsgruppen verweisen zudem auf den Zusammenhang zwischen dem Age of Onset des regelmäßigen Cannabiskonsums und der Entwicklung affektiver Störungen und Angsterkrankungen, die häufig erst Jahre nach dem Konsumbeginn klinisch manifest werden (Rey et al. 2002). Chronischer Cannabiskonsum führt weiterhin zu Lern- und Gedächtnisstörungen, verzögerten Reaktionszeiten, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie zu Beeinträchtigungen bei komplexeren Alltags- und Umweltanforderungen, die ein hohes Maß an planerischen Fähigkeiten sowie Flexibilität und Umstellfähigkeit erfordern. Generell gilt, je schwieriger und komplexer die Anforderungen ausfallen, desto deutlicher lassen sich kognitive Leistungsminderungen erkennen (Pope et al. 2001; Solowij 1998). Selbst nach Absetzen der Droge können kognitive Funktionen noch gestört sein (Solowij et al. 2002), wobei über die Dauer und ggf. weitere Auswirkungen dieser Funktionsbeeinträchtigungen noch Unklarheit herrscht. Ereigniskorrelierte Potenzialveränderungen im Rahmen von hirnelektrischen Funktionsmessungen, die Hinweise auf Störungen früher Aufmerksamkeitsprozesse geben, wurden bei chronischen Langzeitkonsumenten noch nach 5-jähriger Abstinenz festgestellt (Solowij et al. 1995). Seit einigen Jahren treten auch entwicklungsneurobiologische und (neuro)psychologische Fragestellungen stärker in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Festgestellt wurden bei jugendlichen Konsumenten Lern- und Gedächtnisstörungen sowie Störungen in höheren Funktionsbereichen der Verhaltensregulation. In einer bisher einzigartigen Langzeitstudie stellte Fried (1996) überdauernde kognitive Störungen bei Kindern und Jugendlichen fest, deren Mütter während der Schwangerschaft Cannabis konsumiert hatten. Darüber hinaus wurden in Abhängigkeit vom Age of Onset des regelmäßigen Cannabiskonsums visuelle Aufmerksamkeitsstörungen (Kunert et al. 2000) sowie Störungen okulomotorischer Teilprozesse bei experimentell induzierten Blickbewegungen (Huestegge et al. 2002) festgestellt. Warum gerade Jugendliche und Adoleszente gegenüber einem
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Kapitel 29 · Neurowissenschaftliche Befunde bei Drogenkonsum
Drogenkonsum so anfällig sind, wurde ebenfalls erst seit wenigen Jahren neurowissenschaftlich thematisiert. Hier stand folgender Verhaltenskomplex im Mittelpunkt des Interesses, der mit Drogenbzw. Suchtgefährdung in Zusammenhang gebracht wurde: Antrieb und Motivation, Impulsivität sowie »novelityseeking«. Als neurobiologische Korrelate dieser Verhaltenstendenzen werden entwicklungsbezogene Veränderungsprozesse im frontokortikalen und subkortikalen monoaminergen System verantwortlich gemacht (Chambers et al. 2003), wobei hier noch zahlreiche Fragen ungeklärt sind, u. a. auch was Aspekte der interindividuellen Unterschiede hinsichtlich der Wirkungsweise und des Suchtpotentials einzelner Drogen betrifft (Yacubian u. Buchel 2009). Unter psychiatrischen Gesichtspunkten findet diese Entwicklungsperspektive zunehmend Beachtung (Sundram 2006). z z Neurowissenschaftliche Aspekte des Nikotinkonsum
Die psychiatrische Relevanz des Nikotinkonsums ist bisher weitgehend übersehen worden (Wessels u. Winterer 2008). Ähnlich wie beim Cannabiskonsum ist auch hier der Zusammenhang über einen spezifischen Neurotransmitter, d. h. dem nikotinergen System, von Interesse. Nikotinkonsum während der Schwangerschaft kann die zerebrale Entwicklung im Kindes- und Jugendalter negativ beeinflussen. Darüber hinaus kann Nikotinkonsum während kritischer Phasen der Hirnentwicklung zu einer überdauernden Schädigung neuronaler Transmissionssysteme sowie zu morphologischen Veränderungen im Gehirn führen. Festgestellt wurden beispielsweise mittels fMRI funktionelle Auffälligkeiten im Aufmerksamkeitsnetzwerk (Musso et al. 2007) sowie in Hirnstrukturen, die mit mnestischen Verarbeitungsprozessen in Verbindung gebracht werden (Jacobsen et al. 2007). Die psychiatrische Relevanz des chronischen Nikotinkonsums auch für psychische Erkrankungen wird derzeit verstärkt thematisiert. z
Neurowissenschaftliche Korrelate des Konsums anderer Drogen einschließlich Polytoxikomanie
Neurowissenschaftliche Forschungsdaten zu den langfristigen Auswirkungen des polyvalenten Dro-
genkonsums liegen bisher kaum vor, was u. a. auf das heterogene Konsummuster dieser Gruppe zurückzuführen ist. Weiterhin weisen Polytoxikomane in der Regel eine hohe Rate an unterschiedlichen komorbiden psychiatrischen Störungen auf, was die generelle Aussagekraft entsprechender Untersuchungen zusätzlich erschwert. Dennoch liegen Hinweise auf jeweils unterschiedliche neurofunktionelle Störungen in Abhängigkeit einzelner Drogen vor (Ornstein et al. 2000). Diese beziehen sich beispielsweise auf das serotonerge System bei chronischen Ecstasykonsumenten (Sola Llopis et al. 2008). Bei Amphetamin- oder Kokainlangzeitkonsumenten scheinen zudem unterschiedliche Hirnregionen betroffen zu sein. Mittels MRI fanden Bartzokis et al. (2000) eine auffallende Volumenminderung im temporalen Kortexbereich insbesondere bei Kokainkonsumenten, wobei frontale Strukturen gleichermaßen bei Amphetamin- und Kokainkonsumenten betroffen waren. Auf die spezielle Bedeutung frontaler Funktionseinschränkungen bei Kokainkonsumenten wurde später von Lim et al. (2002) verwiesen. Generell wird aber angenommen, dass sich sog. frontolimbische Regelkreise substanzübergreifend beim Drogenmissbrauch beeinträchtigt zeigen, insbesondere was inhibitorische Kontroll- und Steuermechanismen betrifft (Goldstein u. Volkow 2002). Allerdings besteht das Problem, dass selbst bei überwiegendem Konsum einer bestimmten Droge ein gelegentlicher, dennoch aber überdauernder Konsum anderer Drogen nicht einzuschätzende Verhaltenseffekte haben kann. Nur wenige Studien haben sich diesem Problem gezielt gestellt (z. B. SolaLlopis et al. 2008). Letztlich bleibt noch festzustellen, dass auch der sozioökonomische Status relevante neurobiologiche Effekte aufweisen kann (Gianaros u. Manuck 2010), was in einzelnen Untersuchungen bisher nicht berücksichtigt wurde. Auf ein komplexes Zusammenspiel zwischen genetischen, entwicklungsneurobiologischen, psychosozialen und substanzbezogenen Aspekten verweisen in diesem Zusammenhang dann auch Gillespie et al. (2007). Aufgrund der komplexen und vielschichtigen neurobiologischen Veränderungen durch chronischen Drogenkonsum (Ross u. Peselow 2009) werden aktuell noch hypothetische »neuroplastische
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29 · Neurowissenschaftliche Befunde bei Drogenkonsum
Veränderungen« auf unterschiedlichen Funktionsebenen (z. B. unter molekularen, neuronalen oder neurofunktionellen Gesichtspunkten) thematisiert (O’Brien 2009). Neuroplastische Veränderungsprozesse sollen dann auch für die Therapie von Drogenabhängigen von Bedeutung sein, beispielsweise im Sinne der in Tierexperimenten festgestellten positiven Effekte des »enrichedenvironment« (Solinas et al. 2008). Hier scheinen neuere neurowissenschaftliche Erkenntnisse die in der bisherigen Praxis bewährten multimodalen Therapieansätze zu bestätigen. Letztlich erscheint aufgrund der bisher vorliegenden neurowissenschaftlichen Erkenntnisse die Einteilung in sog. weiche oder harte Drogen fraglich.
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Kapitel 29 · Neurowissenschaftliche Befunde bei Drogenkonsum
Ornstein TJ, Iddon JL, Baldacchino AM, Sahakian BJ, London M, Everitt BJ, Robbins TW (2000) Profiles of cognitive dysfunction in chronic amphetamine and heroin abusers. Neuropsychopharmacology 23:113–126 Os J van, Bak M, Hanssen M, Bijl RV, de Graaf R, Verdoux H (2002) Cannabis use and psychosis: longitudinal population based study. Am J Epidemiol 156:319–327 Patton GC, Coffey C, Carlin JB, Degenhardt L, Lynskey M, Hall W (2002) Cannabis use and mental health in young people: cohort study. BMJ 325:1195–1198 Pertwee RG (1992) In vivo interactions between psychotropic cannabinoids and other drugs involving central and peripheral neurochemical mechanisms. In: Murphy L, Bartke A (Hrsg) Marijuana/Cannabinoids: Neurobiology and Neurophysiology. CRC Press, BocaRaton, S 165–218 Pope HG Jr, Gruber AJ, Hudson JI, Huestis MA, Yurgelun-Todd D (2001) Neuropsychological performance in long-term cannabis users. Arch Gen Psychiatry 58:909–915 Rey JM, Sawyer MG, Raphael B, Patton GC, Lynskey M (2002) Mental health teenagers who use cannabis. Results of an Australian survey. Br J Psychiatry 180:216–221 Ross S, Peselow E (2009) The neurobiology of addictive disorders. Clin Neuropharmacol 32:269–276 Schneider U, Müller-Vahl KR, Stuhrmann M, Gadzicki D, Heller D, Seifert JN, Emrich HM (2000) Die Bedeutung des endogenen Cannabinoidsystems bei verschiedenen neuropsychiatrischen Erkrankungen. Fortschr Neurol Psychiat 68:433–438 SolaLlopis de S, Miguelez-Pan M, Peña-Casanova J, Poudevida S, Farré M, Pacifici R, Böhm P, Abanades S, Verdejo García A, Langohr K, Zuccaro P, de la Torre R (2008) Cognitive performance in recreational ecstasy polydrugusers: a two-yearfollow-upstudy. J Psychopharmacol 22(5):498– 510 Solinas M, Chauvet C, Thiriet N, El Rawas R, Jaber M (2008) Reversal of cocaine addiction by environmental enrichment. PNAS 105:17145–17150 Solowij N (1998) Cannabis and cognitive functioning. University Press, Cambridge Solowij N, Michie PT, Fox AM (1995) Differential impairments of selective attention due to frequency and duration of cannabis use. Biol Psychiatry 37:731–739 Solowij N, Stephens RS, Roffman RA, Babor T, Kadden R, Miller M, Christiansen K, McRee B, Vendetti J (2002) Cognitive functioning of long-term heavy cannabis users seeking treatment. JAMA 287:1123–1131 Stefanis NC, Delespaul P, Henquet C, Bakoula C, Stefanis CN, van Os J (2004) Early adolescent cannabis exposure and positive and negative dimensions on psychosis. Addiction 99:1333–1341 Sundram S (2006) Cannabis and neurodevelopment: implications for psychiatric disorders. Hum Psychopharmacol 21:245–254 Wessels C, Winterer G (2008) Nikotin und Gehirnentwicklung. Nervenarzt 79:7–16
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Neuronale Korrelate belohnungsorientierten Verhaltens und Implikationen für Abhängigkeitserkrankungen Katja Spreckelmeyer
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_30, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 30 · Neuronale Korrelate belohnungsorientierten Verhaltens
Drogen entfalten ihre abhängigmachende Wirkung maßgeblich über dopaminerge Hirnmechanismen, die allgemein für die Steuerung belohnungsorientierten Verhaltens verantwortlich sind. Dabei modulieren sie die synaptische Funktion und Plastizität dopaminerger Neurone im Nucleus accumbens, wodurch es immer wieder zu erheblicher positiver Verstärkung des konditionierten Verhaltens, d. h. des Drogenkonsums, kommt.
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Zielgerichtetes Verhalten wird im Allgemeinen von der persönlichen Überzeugung angetrieben, dass das Erreichen des Ziels zu einer (wenn auch häufig kurzfristigen) Verbesserung des eigenen Wohlbefindens führen wird. Dem Ziel werden somit belohnende Eigenschaften beigemessen. Das Entstehen eines motivationalen Antriebs für belohnungsorientiertes Verhalten setzt voraus, dass die Belohnung zuvor bekannt ist, d. h., dass der Zusammenhang zwischen dem eigenen Verhalten und der dadurch zu erreichenden Belohnung bereits zu einem früheren Zeitpunkt gelernt wurde. Das Erlernen dieses Zusammenhangs wird als operante Konditionierung bezeichnet. Im Sinne der operanten Konditionierung zeigt ein Organismus die Wiederholung eines bestimmten Verhaltens, wenn durch das Verhalten eine angenehme Empfindung ausgelöst wird (positive Verstärkung) oder eine unangenehme Empfindung verhindert oder beendet wird (negative Verstärkung). In den Jahren 1954–1958 beschrieb James Olds mehrere Versuchsreihen (Olds u. Milner 1954; Oldset al. 1956; Olds 1958), in denen er Versuchstieren Elektroden implantiert hatte, über die die Tiere bei sich selbst die neuronale Aktivität in bestimmten Hirnregionen erhöhen konnten, indem sie eine Taste drückten (intrakranielle Selbststimulation). Wurde die Elektrode so platziert, dass sie auf Projektionsbahnen wirkte, die vom Mittelhirn aus zum Striatum und in kortikale Projektionsgebiete führen, betätigten die Tiere den Hebel mit weitaus höherer Frequenz (bis zu 5.000 mal pro Stunde) als in anderen Regionen. Als verantwortliche Nervenzellen wurden später dopaminerge Projektionsbahnen identifiziert, die ihren Ursprung im ventralen tegmentalen Areal (VTA) haben und durch die Stimulation zu einer erhöhten Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens (NAcc), einem Kern
im ventralen Striatum, führen. Die Dopaminausschüttung im NAcc konnte somit als unmittelbarer positiver Verstärker des Verhaltens identifiziert werden und stellt die neurobiologische Grundlage belohnungsorientierten Verhaltens dar. Der NAcc gilt seitdem als zentrales Element des neuronalen Belohnungssystems. Seither konnte – auch im menschlichen Hirn – für eine große Anzahl positiv besetzter Tätigkeiten des Alltags nachgewiesen werden, dass sie verstärkte neuronale Aktivität (die i. Allg. auf dopaminerge Aktivität zurückgeführt wird) im NAcc provozieren. Dazu gehören u. a. Nahrungsaufnahme (Wise 2006), soziale Zuwendung (Spreckelmeyer et al. 2009) und sexuelle Aktivität (Becker et al. 2001; Georgiadis et al. 2006). Dass Drogen ebenfalls belohnende Eigenschaften haben, die im Sinne der operanten Konditionierung starken Einfluss auf das Verhalten des Konsumenten haben, ist seit Jahrhunderten bekannt. Der Nachweis, dass Drogen ihren verhaltensmodulierenden Einfluss ebenfalls über Beeinflussung des dopaminergen Belohnungssystems ausüben, wurde durch eine Erweiterung des intrakraniellen Selbststimulationsparadigmas ermöglicht, die Olds und Kollegen 1958 einführten (Olds u. Olds 1958). Bei der intrakraniellen Selbstadministration wird den Tieren ermöglicht, sich durch Tastendruck statt elektrischer Stimulation selbst Drogen zuzuführen. Selbstgesteuerte Infusion von Amphetamin, Morphium, Phencyclidin oder Kokain in den NAcc führt zu frenetischer Hebelbetätigung bei denimplantierten Tieren (s. Übersicht in McBrideet al. 1999). Ein gemeinsamer Wirkmechanismus abhängig machender Drogen scheint darin zu bestehen, dass sie den Dopaminspiegel im striatalen Belohnungssystem erhöhen. Mit Hilfe von Mikrodialyse konnte für zahlreiche Suchtstoffe gezeigt werden, dass sie die Dopamintransmission im Nucleus accumbens stimulieren (Imperato u. Di Chiara 1986; Kuczenski u. Segal 1992; Urbanet al. 2010). Ebenso wie bei konventionellen Belohnungen fungiert die Dopaminausschüttung im NAcc als positive Verstärkung des belohnungsorientierten Verhaltens. Anders jedoch als bei konventionellen Belohnungen wird das drogenkonsumassoziierte Verhalten auch dann fortgesetzt, wenn der Konsum beginnt,
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30 · Neuronale Korrelate belohnungsorientierten Verhaltens
negative und für das Individuum eindeutig schädliche Konsequenzen zu haben. Statt dass die Belohnung durch mehrfache Wiederholung oder mit eintretender Sättigung ihren Reiz verliert, kommt es zu verstärktem Verlangen nach Wiederholung und Dosissteigerung, die sich allein durch Willensstärke nicht unterdrücken lässt. Es ist physische Abhängigkeit eingetreten. Welche Mechanismen sorgen nun dafür, dass die belohnungsassoziierte Dopaminausschüttung im NAcc bei manchen Drogen in Abhängigkeit mündet, während sie das bei anderen Drogen (z. B. Koffein) und konventionellen Belohnungen nicht tut? Ein wesentlicher Unterschied zwischen konventionellen und abhängig machenden Belohnungen besteht darin, dass Drogen direkt im Gehirn wirken und unmittelbar die Dopamintransmission beeinflussen. Für die meisten abhängig machenden Drogen wurde der Mechanismus entschlüsselt, mit dem sie den präsynaptischen Dopaminspiegel im NAcc erhöhen. Während einige direkt die neuronale Aktivität dopaminerger Zellen erhöhen (Nikotin), erhöhen andere durch Reduktion GABA-erger Kontrolle indirekt die Aktivität dopaminerger Neurone (angenommen für Opiate und Alkohol) oder hemmen die Wiederaufnahme von Dopamin in die Präsynapse (Kokain). Offenbar kommt es durch die direkte Wirkung am dopaminergen System zu einer Manipulation desselben, die bei konventionellen Belohnungen nicht auftritt. Ein wesentlicher Unterschied in der physiologischen Reaktion auf abhängig machende Drogen im Vergleich zu konventionellen Belohnungen ist die fehlende Habituation der dopaminergen Antwort auf die Drogenexposition. Bei konventionellen Belohnungen nimmt die Dopaminantwort nach wiederholter Reizdarbietung/Konsum ab, während es bei abhängig machenden Drogen bei wiederholtem Konsum sogar zu einer erheblichen Verstärkung der drogenassoziierten Dopaminantwort kommt. Es findet also eine Sensibilisierung statt. Die verstärkte Dopaminantwort scheint spezifisch für die Droge und durch klassische Konditionierung mit der Droge assoziierte Reize zu sein. Die Patienten zeigen keine Sensibilisierung des dopaminergen Belohnungssystems für konventionelle Belohnungen.
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Möglicherweise als kompensatorische Reaktion auf die übermäßige drogeninduzierte Dopaminausschüttung findet man bei Patienten mit Abhängigkeitserkrankung häufig eine verminderte Anzahl postsynaptischer Dopaminrezeptoren. Mit Hilfe der Positronenemissionstomographie konnte mittlerweile für eine Reihe von Substanzen inklusive Kokain (Martinez et al. 2004), Nikotin (Fehr et al. 2008) und Alkohol (Hietala et al. 1994) gezeigt werden, dass die Dopaminrezeptorverfügbarkeit im Striatum (entwöhnter) Substanzabhängiger im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden vermindert ist. Noch ist allerdings unklar, ob es sich bei der verminderten Rezeptorverfügbarkeit tatsächlich um eine kompensatorische Reaktion handelt. Alternativ wäre es möglich, dass sich darin eine prädispositive Gefährdung für eine Abhängigkeitserkrankung ausdrückt, die reduzierte Rezeptorverfügbarkeit also schon vor Entwicklung der Abhängigkeit bestand. Unabhängig von der Ursache wird die verminderte Anzahl an Dopaminrezeptoren im Allgemeinen als Zeichen dafür gewertet, dass die basale, d. h. die tonische Aktivität des belohnungsassoziierten Dopaminsystems bei Suchtpatienten reduziert ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Drogen ihre abhängigmachende Wirkung maßgeblich über dopaminerge Hirnmechanismen entfalten, die allgemein für die Steuerung belohnungsorientierten Verhaltens verantwortlich sind. Allerdings »kidnappen« die Drogen diese Mechanismen, indem sie die synaptische Funktion und Plastizität dopaminerger Neurone im NAcc modulieren. Durch diese Manipulation kommt es immer wieder zu erheblicher positiver Verstärkung des konditionierten Verhaltens, d. h. des Drogenkonsums.
Literatur Becker JB, Rudick CN et al. (2001) The role of dopamine in the nucleus accumbens and striatum during sexual behavior in the female rat. J Neurosci 21(9):3236–41 Fehr C, Yakushev I et al. (2008) Association of low striatal dopamine d2 receptor availability with nicotine dependence similar to that seen with other drugs of abuse. Am J Psychiatry 165(4):507–14
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Kapitel 30 · Neuronale Korrelate belohnungsorientierten Verhaltens
Georgiadis JR, Kortekaas R et al. (2006) Regional cerebral blood flow changes associated with clitorally induced orgasm in healthy women. Eur J Neurosci 24(11):3305–16 Hietala J, West C et al. (1994) Striatal D2 dopamine receptor binding characteristics in vivo in patients with alcohol dependence. Psychopharmacology (Berl) 116(3):285–90 Imperato A, Di Chiara G (1986) Preferential stimulation of dopamine release in the nucleus accumbens of freely moving rats by ethanol. J Pharmacol Exp Ther 239(1):219–28 Kuczenski R, Segal DS (1992) Differential effects of amphetamine and dopamine uptake blockers (cocaine, nomifensine) on caudate and accumbens dialysate dopamine and 3-methoxytyramine. J Pharmacol Exp Ther 262(3):1085–94 Martinez D, Broft A et al. (2004) Cocaine dependence and d2 receptor availability in the functional subdivisions of the striatum: relationship with cocaine-seeking behavior. Neuropsychopharmacology 29(6):1190–202 McBride WJ, Murphy JM et al. (1999) Localization of brain reinforcement mechanisms: intracranial self-administration and intracranial place-conditioning studies. Behav Brain Res 101(2):129–52 Olds J (1958) Self-stimulation of the brain; its use to study local effects of hunger, sex, and drugs. Science 127(3294):315–24 Olds J, Milner P (1954) Positive reinforcement produced by electrical stimulation of septal area and other regions of rat brain. J Comp Physiol Psychol 47(6):419–27 Olds J, Olds ME (1958) Positive reinforcement produced by stimulating hypothalamus with iproniazid and other compounds. Science 127(3307):1175–6 Olds J, Killam KF et al. (1956) Self-stimulation of the brain used as a screening method for tranquilizing drugs. Science 124(3215):265–6 Spreckelmeyer K, Krach S et al. (2009) Anticipation of monetary and social reward differently activates mesolimbic brain structures in men and women.Soc Cogn Affect Neurosci 4(2):158–65 Urban NB, Kegeles LS et al. (2010) Sex differences in striatal dopamine release in young adults after oral alcohol challenge: a positron emission tomography imaging study with [(1)(1)C]raclopride. Biol Psychiatry 68(8):689–96 Wise RA (2006) Role of brain dopamine in food reward and reinforcement.Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci 361(1471):1149–58
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Möglichkeiten und Grenzen der Elektrokrampftherapie Michael Grözinger
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_31, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 31 · Möglichkeiten und Grenzen der Elektrokrampftherapie
Die Möglichkeiten und Grenzen von therapeutischen Verfahren hängen in der Psychiatrie mehr als in den anderen medizinischen Fächern von der Einstellung der Patienten und vom gesellschaftlichen Kontext ab. In ganz besonderem Ausmaß trifft dies für die Elektrokrampftherapie (EKT) zu. Ihre Geschichte spannt einen weiten Bogen von der völligen therapeutischen Hilflosigkeit der Psychiatrie bis zum heutigen Repertoire der Behandlungsmöglichkeiten. Die Anwendung der EKT wird bei Patienten, der öffentlichen Meinung und auch bei Ärzten oft von einer Zurückhaltung begleitet, die nur aus ihrer Geschichte heraus zu verstehen ist.
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Die pharmakologische Konvulsionstherapie
Ladislas J. (von) Meduna (1896–1964) hat den generalisierten Krampfanfall als therapeutisches Agens erstmals erkannt und wissenschaftlich untersucht. Zwar gab es frühe Beobachtungen am Menschen über die Besserung psychischer Symptome nach epileptischen Anfällen, aber im Gegensatz zu diesen Berichten war der Ansatz Medunas experimentell und durch Hypothesen geleitet. Als junger Neuropathologe in Budapest machte er in den späten 1920er Jahren die Entdeckung, dass die Hirnschnitte von epileptischen und schizophrenen Patienten im Vergleich zu Kontrollpersonen entgegengesetzte Veränderungen aufwiesen. Dies führte ihn zu der Hypothese eines Antagonismus zwischen den Krankheiten Epilepsie und Schizophrenie. Epidemiologische Daten schienen den Verdacht zu stützen. Inspiriert hierdurch entwickelte Meduna die Idee, pharmakologisch provozierte Krampfanfälle als Therapie bei schizophrenen Patienten einzusetzen. Dieses Vorhaben erscheint heute umso beachtlicher, als es im Gegensatz stand zu der damals geltenden Auffassung von Schizophrenie als einer hereditären, nicht behandelbaren Erkrankung. Nach Versuchen mit verschiedenen Substanzen entdeckte er, dass die Injektion von Kampfer in öliger Lösung bei Tieren und Menschen häufig Krampfanfälle auslöste. Ein erster therapeutischer Versuch bei einem schwer katatonen Patienten verlief Anfang des Jahres 1934 erfolgreich. Später verwendete Meduna Pentylenetetrazol (Cardiazol), einen GABAA-Antagonisten, zur Induktion von Anfällen, weil die Substanz im Vergleich mit Kampfer effektiver und schneller wirkte. Die Erfolge der pharmakologischen Konvulsionstherapie waren so
offensichtlich und sicher reproduzierbar, dass sich die Methode schnell verbreitete. Es zeigte sich bald, dass affektive Erkrankungen besser auf die Therapie ansprachen als schizophrene. Allerdings waren die Nebenwirkungen dramatisch. Nach der Injektion von Cardiazol klagten die Patienten regelmäßig über quälende Angstgefühle. Der Krampfanfall trat nach einer nicht sicher voraussagbaren Zeit auf oder er blieb aus. Die ruckartige Beugung des Rumpfes führte häufig zu Haarrissen der Wirbelkörper und zu anderen Frakturen. Um diesen Komplikation vorzubeugen, wurden die Patienten präiktal in Hyperlordose fixiert. Als Nebenwirkung im erweiterten Sinn muss auch die psychische Stresssituation genannt werden, die solch eiatrogen herbeigeführten generalisierten Krampfanfälle für die anwesenden Behandler dargestellt haben müssen. In Anbetracht dieser Begleiterscheinungen einer Prozedur, die beim selben Patienten Dutzende Male wiederholt werden musste, erscheint der zweifelhafte Ruf wenig verwunderlich, der die Behandlungsmethode und ihre Nachfolgerin, die EKT, begleitete. Für Nichtbetroffene und die öffentliche Meinung ist die EKT ein seltenes und fernes Ereignisses, zu dem mehr eine gefühlsmäßige als eine rationale Beziehung besteht. Zusammen mit der ohnehin vorhandenen Stigmatisierung psychischer Erkrankungen lässt dies eine realistische Abwägung der Vor- und Nachteile einer solchen Behandlung verschwimmen. Aus heutiger Sicht mag das Verfahren rüde bis barbarisch erscheinen. Im Kontext der damaligen Lebensbedingungen psychiatrischer Patienten muss diese Einschätzung relativiert werden. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs standen keine wirksamen Therapiemöglichkeiten für Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen zur Verfügung. Mit Julius Wagner-Jauregg (1857–1940) und der Behandlung der Neurosyphilis durch Malariafieber 1917 begann die Ära der biologischen Therapien in der Psychiatrie. Der Entdecker erhielt 1927 den Nobelpreis für Medizin. Mit der Entwicklung dieser und anderer Methoden standen erstmals effektive Therapiemöglichkeiten für schwere psychische Erkrankungen zur Verfügung. Dies beendete eine lange Epoche des therapeutischen Nihilismus. Gleichzeitig verhalfen sie dem Paradigma zum Durchbruch, dass psychische Erkrankungen
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31 · Möglichkeiten und Grenzen der Elektrokrampftherapie
durch somatische Therapien beeinflusst werden können. z
Die Elektrokonvulsionstherapie
Ugo Cerletti (1877–1963) und sein Assistent Lucio Bini (1908–1964) revolutionierten die Methode der Konvulsionstherapie, indem sie zur Auslösung des generalisierten Krampfanfalls elektrischen Strom verwendeten. Die Möglichkeit mittels elektrischer Stimulation des Gehirns einen epileptischen Anfall zu initiieren, war bereits lange zuvor aus Tierversuchen bekannt. Im April 1938 setzten sie die Methode erstmals beim Menschen ein. Sie waren sich bewusst, dass ihr Verfahren keine neue Therapiemethode darstellte, sondern eine – allerdings entscheidende – Verbesserung der Konvulsionstherapie Medunas. Damit war es möglich, generalisierte Anfälle zuverlässig, zeitlich präzise und ohne unangenehme Aura auszulösen. Aufgrund der unübersehbaren Vorteile verbreitete sich die Methode rasch in Europa und Amerika und ersetzte die pharmakologische Stimulation. Bis dahin war die Psychoanalyse das wesentliche Standbein psychiatrischer Therapie gewesen. Mit der EKT war innerhalb kurzer Zeit ein Konkurrent mit einem völlig konträren Therapieverständnis entstanden, was schnell zu einem angespannten, aber auch ambivalenten Verhältnis führte. Angesichts der Erfolge der EKT spielten Nebenwirkungen und Stigmatisierung zunächst eine geringe Rolle. In den 1940er Jahren stand in den großen Verwahranstalten der damaligen Psychiatrie plötzlich mit der EKT eine einfach anzuwendende, billige und relativ sichere Therapiemethode zur Verfügung, deren Indikationsgrenzen noch nicht endgültig ausgelotet waren. Vielerorts entwickelte sich aus dieser einzigartigen Konstellation heraus ein erheblicher Missbrauch z. B. als elektrische Zwangstherapie bei Kriegsneurosen, als Disziplinierungsmaßnahme in Anstalten und als allwirksame Therapieoption. Weiterhin ging die Anwendung zum Teil in die Hände nichtärztlichen Personals über. Diese Entwicklungen trugen zusammen mit den bereits bei der pharmakologischen Konvulsionstherapie besprochenen Gründen zu der immer schlechter werdenden Reputation der EKT bei und führten zu einer zunehmenden Stigmatisierung. Mit den Erfolgen der Psychopharmako-
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logie setzte ab Ende der 1960er Jahre deshalb eine Abkehr von der EKT ein. Trotz aller Anstrengungen und Erfolge gibt es bis heute eine nicht unerhebliche Zahl von Patienten, die nicht ausreichend auf die medikamentösen Therapiemöglichkeiten ansprechen. Die Notwendigkeit, diesen eine Behandlungsoption anzubieten, führte seit Mitte der 1980er Jahre wieder zu einer allmählichen Zunahme der EKT-Behandlungen. In der täglichen Praxis stellt die Therapieresistenz unter Psychopharmaka meist ein Mindestkriterium für den Einsatz der EKT dar. Dies verhindert eine rechtzeitige optimale Behandlung und trägt zur weiteren Stigmatisierung der Methode bei. Gleichzeitig erscheint sie damit als Ultima Ratio. Durch die Einbeziehung der EKT in den Behandlungsplan wird die Prognose gewissermaßen herabgestuft und bei ausbleibendem Erfolg oder bei Rückfall werden die Heilungsaussichten generell in Frage gestellt. In der Auseinandersetzung mit berechtigter Kritik hat sich die EKT kontinuierlich weiterentwickelt. Während sie in dem Film »Einer flog übers Kuckucksnest« (1975) noch wie ein Spektakulum mittelalterlicher Prägung erscheint, war der Übergang zu einem modernen medizinischem Eingriff durch die Kombination mit Kurznarkose und Muskelrelaxation in der Realität damals bereits vollzogen. Gleichzeitig wurde der Missbrauch in Form von willkürlicher Indikationsstellung und Anwendung durch nichtärztliches Personal in den westlichen Industriestaaten unterbunden. Dieser Wandel hat die Öffentlichkeit aus nachvollziehbaren Gründen noch nicht in vollem Ausmaß erreicht. Hier sind die Anwender der Therapie mit Geduld und Ausdauer gefordert, die Botschaft zu transportieren und die langen Schatten der Vergangenheit zu bewältigen. z
Möglichkeiten und Grenzen jenseits der Entstigmatisierung
Die EKT hat als einzige der frühen somatischen Therapien in der Psychiatrie bis heute überlebt. Das ist sicherlich einer großen Zahl positiver Untersuchungen zu verdanken. Daneben muss man das zähe Überleben nach mittlerweile fast 75 Jahren und in Anbetracht der kontinuierlichen An-
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Kapitel 31 · Möglichkeiten und Grenzen der Elektrokrampftherapie
feindungen als eigenständigen Beleg für ihre Wirksamkeit und Nützlichkeit ansehen. Derzeit gibt es in der Fachwelt keinen ernstzunehmenden Zweifel daran, dass der EKT ein fester Platz im Repertoire moderner psychiatrischer Therapien zukommt. Dies gilt natürlich nur so lange, wie keine Behandlung zur Verfügung steht, die besser wirksam ist, weniger Nebenwirkungen hat oder einfacher durchzuführen ist. Wenn es gelänge, den Wirkmechanismus generalisierter Krampfanfälle auf psychiatrische Symptome aufzuklären, könnte die EKT vielleicht zu einer noch effizienteren Therapiemethode weiterentwickelt werden. Hierin liegt möglicherweise – ähnlich wie beim Schlafentzug – eine große Chance für die Entwicklung besserer psychiatrischer Therapien. Die Historie der EKT zeigt auch, dass sie keine veraltete, seit den 1930er Jahren unveränderte Methode ist, sondern kontinuierlich verbessert wurde und auch heute stetig weiterentwickelt wird. Beginnend mit der Optimierung der Stimulusform und der Elektrodenposition über die Einführung der Muskelrelaxation und der Narkose bis hin zu Strategien der Rückfallprophylaxe und zum EEGMonitoring des Anfalls haben Innovationen immer wieder dazu beigetragen, dass die EKT bis heute die wirksamste Behandlungsmethode bei schweren Formen der Depression geblieben ist. So konnten beispielsweise Kriterien für die Qualität eines Anfalls entwickelt werden, die mit der psychopathologischen Besserung des Patienten korreliert sind. Wie in vielen anderen Bereichen der Medizin ist in den nächsten Jahren eine Personalisierung der EKT zu erwarten. Beispielsweise könnten genetische und bildgebende Untersuchungen voraussagen helfen, welche Patienten auf EKT ansprechen, welche vermehrt mit Gedächtnisproblemen reagieren und welche sich durch eine bestimmte Art der Weiterbehandlung stabilisieren. Auch eine weitere Optimierung der Behandlungsparameter kann erwartet werden. Beides könnte zu einer weiteren Reduktion der Rückfallhäufigkeit und der Nebenwirkungen sowie zu einer noch besseren Wirksamkeit beitragen. Wichtige Rahmenbedingungen für die Zukunft der EKT sind die Ausbildung der Anwender, die Qualitätssicherung, die Kostenerstattung und die ambulanten Möglichkeiten der Behandlung. Kaum
überschätzt werden kann in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Zuweiser, d. h. die Krankenhausärzte ohne eigene Behandlungsmöglichkeit, die niedergelassenen Fachärzte für psychische Erkrankungen und die psychiatrisch interessierten Kollegen anderer Fachrichtungen. Ihre emotionale Einstellung und ihr Wissensstand hinsichtlich der EKT entscheiden darüber, ob Patienten über die Behandlungsoption aufgeklärt werden. Die Zuweiser filtern aus der riesigen Anzahl psychisch kranker Patienten die wenigen aus, die für EKT in Frage kommen und denen sie helfen kann. Die Kollegen sollten hierbei durch Aufklärung und Hilfestellungen unterstützt werden. z
EKT am Universitätsklinikum Aachen
Die medizinische Fakultät an der RWTH Aachen wurde im Juni 1966 gegründet, seit Mai 1968 gibt es einen Lehrstuhl für Psychiatrie. Im November 1984 zog das Klinikum in das jetzige Gebäude ein. Prof. Dr. H. Saß wurde im Juli 1990 Direktor der Psychiatrischen Klinik. Erst unter seiner Leitung konnte im Dezember 1993 das erste EKT-Gerät angeschafft werden. In den folgenden Jahren wurde die Indikation zur EKT eher restriktiv gestellt, ungefähr 5 Patienten pro Jahr wurden so behandelt. Unter der kommissarischen Leitung von Prof. Dr. Dr. P. Hoff erhielt die Klinik im Oktober 2002 mit dem Thymatron IV ein moderneres Gerät, das auch derzeit noch in Gebrauch ist. Prof. Dr. Dr. F. Schneider leitet die Klinik seit Dezember 2003. Seither gelang es in Absprache mit der Klinik für Anästhesiologie, die Behandlungen aus dem Operationstrakt in den Aufwachraum zu verlegen und die Behandlungskapazität zu erweitern. Derzeit können an 5 Tagen in der Woche jeweils 3 Patienten behandelt werden. Im Hinblick auf EKT erstreckt sich unser Einzugsgebiet bis Düsseldorf, Köln und Bonn, auch belgische Patienten kommen für die Therapie nach Aachen. Im Lauf der letzten Jahre hat sich das Universitätsklinikum zu einem regionalen Zentrum für EKT-Behandlungen entwickelt. EKT wird in unserem Haus bei etwa 1,5 % aller stationären Fälle und bei 5 % der Fälle mit den ICD-10-Diagnosen F32 oder F33 angewandt. 21% der mit EKT behandelten Patienten wurden wegen ICD-10-Diagnosen F2x stationär behandelt, der Rest abgesehen von wenigen Sonderindikationen wegen therapieresistenter
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31 · Möglichkeiten und Grenzen der Elektrokrampftherapie
Depression. Im Jahr 2010 haben wir insgesamt 325 Behandlungen durchgeführt. Mehr als diese Anzahl führen 15 % der uns bekannten Kliniken in Deutschland durch, die selbst mit EKT therapieren. In einem Klinikum erfolgten im Jahr 2010 mehr als 1.000 Behandlungen. Im Mittel besserten sich unsere Patienten durch die Behandlung um 30 GAFPunkte (Global Assessment of Functioning Scale), 67,5 % besserten sich um mehr als 20 GAF-Punkte. Weltweit hat die Zahl der EKT-Behandlungen seit Mitte der 1980er Jahre wieder zugenommen. Auch in Deutschland ist dieser Trend nachweisbar. Während 1982 pro 105 Einwohner noch 0,82 Patienten mit EKT behandelt wurden, waren es 1994 bereits 1,3. Aus Hochrechnungen des Herstellers von Verbrauchsmaterialien zur EKT ergeben sich für die letzten Jahre 3,8 Patienten pro 105 Einwohner. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland damit trotzdem eher im niedrigen Bereich. In Australien, Dänemark und den USA werden zwischen 25 und 40, im weltweiten Durchschnitt wahrscheinlich um 15 Patienten pro 105 Einwohner mit EKT behandelt. In den meisten Ländern Europas sind es dagegen unter 10 pro 105 Einwohner. z
Plattformen für EKT in Deutschland
Um geeignete Rahmenbedingungen für die EKT zu schaffen und zu erhalten, bedarf es eines gemeinsamen Vorgehens aller, die EKT propagieren und anwenden. In Deutschland gibt es hierfür mehrere Plattformen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) hat im November 2010 ein länderübergreifendes Referat gegründet, das sich dieser und anderer Themen annimmt. Beim DGPPN-Kongress in Berlin findet regelmäßig ein Workshop »EKT kompakt – für Einweiser und Anwender« statt. Dort werden Grundkenntnisse für Anwender vermittelt, aber auch für ein psychiatrisches Fachpublikum, das selbst keine EKT-Behandlungen durchführt. Daneben gibt es seit 3 ½ Jahren einen Kreis interessierter Kollegen, die halbjährlich EKT-Workshops an wechselnden Orten in Deutschland veranstaltet. Fortbildungsveranstaltungen für angehende Anwender durch Prof. Folkerts an der Klinik in Wilhelmshaven ergänzen das Spektrum.
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Psychiatrie, Psychotherapie und Gesellschaft Kapitel 32
Qualitätssicherung und psychiatrische Versorgungsforschung – 203 Thomas Becker, Markus Kösters
Kapitel 33
Sektorenübergreifende psychiatrische Versorgung im Jahr 2020 – 209 Frank Bergmann
Kapitel 34
Gesundheitsökonomische Folgen psychischer Krankheiten – 213 Jürgen Fritze
Kapitel 35
Psychiatrie in Europa: Stand der Dinge, Chancen und Herausforderungen – 219 Hans-Jürgen Möller
Kapitel 36
Leitlinien bei psychischen Erkrankungen am Beispiel der Depression – 229 Mathias Berger, Frank Schneider, Christian Klesse, Martin Härter
Kapitel 37
Evidenzbasierte Psychiatrie – Möglichkeiten und Grenzen – 235 Michael Musalek
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Qualitätssicherung und psychiatrische Versorgungsforschung Thomas Becker, Markus Kösters
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_32, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 32 · Qualitätssicherung und psychiatrische Versorgungsforschung
Qualitätssicherung und psychiatrische Versorgungsforschung benötigen eine solide Evidenzbasis sowie Validität von Qualitätsindikatoren, um eine praxisrelevante Beurteilung der Ergebnisqualität zu ermöglichen. Dies wird anhand von methodischen Beispielen aus beiden Arbeitsgebieten untersucht und hergeleitet, wobei aufgrund der komplexen Behandlungsprozesse und der daraus resultierenden zahlreichen Einflussfaktoren der Expertenkonsens, theoretische Grundlagen und praktische Umsetzung großes Gewicht haben. Klinische Qualitätssicherung, Therapieprozessforschung und Studien zu komplexen Interventionen können sich gegenseitig bereichern. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf.
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In einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Versorgungsforschung in Deutschland werden in einem Abschnitt zur Begriffsklärung verschiedene Bedeutungen des Begriffs »Versorgungsforschung« genannt. Zum einen beschreibe er ein besonderes Problemfeld – die gesundheitliche oder medizinische Versorgung der Bevölkerung – als Gegenstand, zum anderen beschreibe der Begriff eine Perspektive, welche auf die Organisation, Regulierung und Verbesserung dieser Versorgung zielt, schließlich gehe es um ein multi- und transprofessionelles Praxisfeld, in dem u. a. auch die wissenschaftlich fundierte Information und Beratung von Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen gemeint sei (Raspe et al. 2010). Dies macht deutlich, dass die Themenfelder Qualitätssicherung und Versorgungsforschung sich überlappen. Merkmale eines hohen medizinischen Behandlungsstandards wurden u. a. durch die American Medical Association vorgelegt und von Gaebel (1999) referiert. Genannt werden Merkmale wie die Betonung von Gesundheitsförderung und Krankheitsvorbeugung, zeitgerechte Behandlung, die Gewährleistung partizipativer Entscheidungsfindung, das Festhalten an erprobten Grundsätzen medizinischer Wissenschaft bei Offenheit für andere Gesundheitsberufe und Technologien, eine einfühlsame, subjektiv angemessene Behandlung, das Erreichen guter Behandlungsergebnisse sowie eine ausreichende Dokumentation des Behandlungsergebnisses. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der sog. Qualitätsverbesserungs-
zyklus, in dem verschiedene, jeweils aufeinander bezogene Schritte regelhaft aufeinanderfolgen und von der Qualitätssicherung (Aktion I) über die Problemerkennung (Aktion II) sowie die Problemanalyse (Planen) zur Problemlösung (Handeln) fortschreiten und mit dem Schritt der Evaluation (Prüfen) zur Bewertung der Problemlösung und zur nächsten Qualitätssicherungsrunde führen (Gaebel 1999). Es liegt in der Natur von Qualitätsverbesserungsprozessen, dass dieser Zyklus wiederholt durchlaufen wird. In der Betrachtung von Qualitätssicherungsprozessen auf verschiedenen Planungs- und Versorgungsebenen wird deutlich, dass solche Prozesse auf unterschiedlichen Aggregationsniveaus stattfinden. Gesundheitspolitik und Gesundheitsprogramme bilden die höchste Aggregationsebene, auf der Qualitätsstandards gesetzt und evaluiert werden können. Die Umsetzung erfolgt in einem Versorgungssystem mit einzelnen Behandlungseinrichtungen, in denen wiederum spezifische Therapieverfahren zum Einsatz kommen. Auf jeder dieser Ebenen können die Beurteilungskategorien der Qualitätssicherungsprozesse zur Anwendung kommen. Mit den verschiedenen Ebenen der Betrachtung (Gesundheitspolitik, Versorgungssystem, Therapieverfahren) ist ein wichtiges Merkmal der Versorgungsforschung angesprochen. Die Versorgungsforschung nutzt u. a. auch Phasenmodelle zur Ordnung ihrer Themenfelder, beispielsweise hat sich das Modell der Unterscheidung von »input – throughput – output – outcome« bewährt. Benannt werden mit: 4 Inputforschung: Projekte zu den Themen »Eintritt in das Versorgungssystem«, »Weiterbildung« usw.; 4 Throughputforschung: Forschungsvorhaben zu Strukturen und Prozessen im Behandlungsgeschehen (z. B. Wartezeiten, Schnittstellen, Implementierung und Anwendung von Leitlinien, partizipative Entscheidungsfindung, therapeutische Beziehung usw.); 4 Outputforschung: Forschung über Versorgungsleistungen (z. B. die Erstellung von Diagnosen sowie Zahlen, Arten und andere Beschreibungskriterien für Eingriffe am Patienten) unabhängig von der Wirkung auf das Behandlungsergebnis;
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32 · Qualitätssicherung und psychiatrische Versorgungsforschung
32
. Tab. 32.1 Strukturelle Qualitätsindikatoren höchster Prioritätsstufe (nach Weinmann et al. 2010, Cambridge University Press) Bezeichnung Qualitätsindikator
Aussage
Psychiatrische Komorbidität
Erfasst, welche und wie viele psychiatrische Diagnosen neben der Diagnose einer Schizophrenie in Abrechnungsdaten kodiert wurden
Somatische Komorbidität
Erfasst die Anzahl unterschiedlicher somatischer Diagnosen, die in Abrechnungsdaten kodiert wurden
Mittlere jährliche kumulative Verweildauer in stationärpsychiatrischer Behandlung
Erfasst die Anzahl der stationären Behandlungstage innerhalb eines Bezugsjahrs in einer psychiatrischen Klinik
Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt
Erfasst die Anzahl an eingeschriebenen Personen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt, d. h.in kompetitiver Umgebung, in Teil- oder Vollzeit arbeiten
Regelung zur Informationsübermittlung stationär/ ambulant
Erfasst das Vorhandensein einheitlicher Regelungen zur Informationsübermittlung zwischen ambulantem und stationärem Sektor
4 Outcomeforschung: Forschungsprojekte zum Erreichen von gesundheitlichen Zielen (kurzund langfristige Behandlungsergebnisse). Ein Projekt zu Qualitätsindikatoren für die integrierte Versorgung von Menschen mit Schizophrenie bearbeitet das Qualitätsthema in diesem Indikationsbereich in 2 Stufen (Weinmann u. Becker 2009). Die erste Projektphase galt der Entwicklung der Qualitätsindikatoren. Dabei handelt es sich um quantitative Maße, welche die Qualität der Versorgung nicht direkt abbilden, aber für deren Bewertung geeignet sind. Gute Qualitätsindikatoren sollten die Eigenschaften Bedeutsamkeit (»meaningfulness«), Machbarkeit (»feasibility«) sowie Handlungsrelevanz (»actionability«) besitzen (Hermann et al. 2002). Die Entwicklung der Qualitätsindikatoren basierte auf einer systematischen Literaturrecherche nach potenziellen Qualitätsindikatoren (Medline, Cochrane, EMBASE, PsycINFO), es folgte die Systematisierung der identifizierten Indikatoren sowie der Entwurf eines Indikatorensets. In diesem Prozess wurden aus 78 recherchierten Qualitätsindikatoren 12 Basisindikatoren und 22 behandlungsbezogene Qualitätsindikatoren ausgewählt. Im Anschluss wurden die potenziel-
len Indikatoren durch einen Expertenworkshop begutachtet und hinsichtlich ihrer Priorität beurteilt. Der entwickelte Indikatorensatz wurde einer externen Begutachtung unterzogen. Die 12 Basisindikatoren bilden Merkmale der Strukturqualität ab und eignen sich zum Teil als Case-Mix-Variablen in Modellen der integrierten Versorgung (IV, . Tab. 32.1). Hinzu kamen 22 behandlungsbezogene Qualitätsindikatoren, von denen 5 als »essenziell« eingestuft wurden und damit die höchste Priorität erhielten (. Tab. 32.2). 14 der Qualitätsindikatoren wurden als ergänzende Qualitätsindikatoren erster Wahl eingestuft, 3 weitere Indikatoren erhielten die niedrigste Priorität (ergänzende Qualitätsindikatoren zweiter Wahl) (Weinmann et al. 2010). Die 22 behandlungsbezogenen Qualitätsindikatoren wurden im Hinblick auf die wissenschaftliche Evidenz der zugrundeliegenden Empfehlung und der Validierung des Indikators betrachtet (Weinmann u. Becker 2009). Für 3 der Qualitätsindikatoren lag der zugrundegelegten Empfehlung eine Evidenz der Stärke A, also Evidenz aus randomisierten kontrollierten Studien zugrunde. Bei 4 Qualitätsindikatoren lagen den Empfehlungen quasiexperimentelle Studien zugrunde (Evidenzlevel B), bei 15 Qualitätsindikatoren gab es einen Expertenkonsens oder keine Evidenz (Evidenzlevel C). Noch bescheidener stellten sich die Qualitätsindikatoren
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Kapitel 32 · Qualitätssicherung und psychiatrische Versorgungsforschung
. Tab. 32.2 Behandlungsbezogene Qualitätsindikatoren höchster Prioritätsstufe (nach Weinmann et. al. 2010, Cambridge University Press) Bezeichnung Qualitätsindikator
Aussage
Kontinuität ambulanter Behandlung nach Entlassung aus der Klinik
Erfasst den Anteil eingeschriebener Personen, die nach Entlassung aus stationärer psychiatrischer Behandlung mit der Entlassdiagnose Schizophrenie innerhalb von 7 Tagen ambulanten Kontakt zu einem Facharzt für Psychiatrie, zum Hausarzt oder zu anderen Therapeuten hatten
Krankenhauswiederaufnahmeraten (innerhalb von 30 Tagen nach Entlassung)
Erfasst den Anteil der Personen, die nach Entlassung aus stationärpsychiatrischer Behandlung mit der Entlassdiagnose Schizophrenie innerhalb von 30 Tagen wieder stationär aufgenommen wurden
Antipsychotische Polypharmazie
Erfasst den Anteil der Personen, die in einem bestimmten Zeitraum (mit Ausnahme kurzer überlappender Medikationsumstellungsphasen) mehrere Antipsychotika gleichzeitig verschrieben bekommen
Dauer und Dosis der Erhaltungstherapie mit Antipsychotika
Erfasst den Anteil der Personen, die in einem Zeitraum von 12 Monaten nach Exazerbation der Erkrankung (stationärer/teilstationärer Aufenthalt) Antipsychotika nicht über den empfohlenen Dosisbereich hinaus erhalten haben
Zwangsbehandlung
Erfasst den Anteil der Personen, die im Rahmen eines stationären Aufenthalts eine Behandlung gegen ihren Willen erfahren (gesetzliche Unterbringen, Zwangsmedikation, Fixierung, Isolierung)
32 im Hinblick auf ihre Validierung dar. Zu keinem der Qualitätsindikatoren gab es experimentelle Studien, die einen Zusammenhang des Ausmaßes der Indikatorkonformität mit dem Behandlungsergebnis untersuchten, nur dies würde die Vergabe des Validierungsgrads A erlauben. In 6 Fällen lag indirekte Evidenz einer Verbesserung der Behandlungsergebnisse bei höheren Erfüllungsraten aus Beobachtungsstudien vor (Validierungsgrad B), für 16 Qualitätsindikatoren gab es keine Validierungsbasis (C). Beispielhaft sei mit dem Qualitätsindikator Polypharmazie ein Indikator mittlerer bis hoher Validität vorgestellt. Es gibt Konsens, dass eine hohe Rate an antipsychotischer Polypharmazie auf Qualitätsprobleme in der Behandlung hinweisen kann. Die Reliabilität des Indikators ist hoch, er ist über Abrechnungsdaten im Versorgungssystem zuverlässig erfassbar. Die Handlungsrelevanz des Indikators ist gegeben, da das Medikationsregime vom verordnenden Arzt verändert werden kann. Die wissenschaftliche Evidenz der zugrundeliegenden Empfehlung entspricht der Stufe B. Für diesen
Indikator liegt zudem eine Studie vor, die den Indikator im stationären Setting evaluiert. Patienten mit antipsychotischer Polypharmazie im stationären Setting hatten ein ungünstigeres Outcome (GAF und PANSS), dies galt auch nach Case-MixAdjustierung (Janssen et al. 2004). In einer zweiten Phase wird derzeit eine Anwendungsstudie zur praktischen Erprobung und Validierung der Qualitätsindikatoren (bei AOKVersicherten) in 2 Versorgungsregionen Süddeutschlands (Augsburg und Günzburg) durchgeführt. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Basisindikatoren für AOK-Versicherte in beiden Versorgungsregionen gut ermittelbar sind, die stationären und teilstationären Verweildauern lassen sich problemlos ermitteln, ebenso der Anteil von Patienten mit Wiederaufnahme innerhalb von 30 Tagen, auch der Anteil der Patienten mit unfreiwilliger Behandlung sowie der Anteil von Patienten, die zufrieden mit der Behandlung waren, ließ sich problemlos ermitteln. Der Anteil der Patienten mit einer stationären Wiederaufnahme innerhalb von
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32 · Qualitätssicherung und psychiatrische Versorgungsforschung
30 Tage nach Entlassung gibt einen ersten Hinweis auf die Zweckmäßigkeit der Indikatoren. Hier wurde der Grenzwert (»red flag«) von 10 % mit 25 % deutlich überschritten, was möglicherweise auf ein strukturelles Problem einer Versorgungsregion zurückzuführen ist, in der es relativ wenig Modellprojekte/Angebote integrierter Versorgung gibt. Zu beachten ist jedoch, dass ambulante Daten erst mit einer erheblichen Verzögerung zur Verfügung stehen und daher hier nicht berücksichtigt werden konnten. Projekte der Qualitätssicherung in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Routinebehandlung haben mit Interventionsstudien der Versorgungsforschung gemein, dass die Behandlungsprozesse komplex sind. Werden Behandlungsprozesse modifiziert oder Behandlungsinnovationen eingeführt, so ist in der Regel davon auszugehen, dass im Zustandekommen der »Wirkung« verschiedene aktive Komponenten nebeneinander, additiv oder interaktiv zur Wirkung kommen. Dies erfordert ein theoretisches Wissen über aktive Wirkmechanismen, im Fall von »negativen« Ergebnissen stellt sich die Frage der Unterscheidung zwischen Problemen der Implementierung versus einem »genuinen« Mangel an Routinewirksamkeit. Komplexe Interventionen unterliegen einer Vielzahl von Einflussfaktoren auf verschiedenen Ebenen, so können sich die Ergebnisse einer Intervention in Abhängigkeit von Patientengruppen, Kliniken oder auch Ländern unterscheiden. Daher können Verfahren wie Clusterrandomisierung oder Multilevelmodelle hilfreich sein, die diese unterschiedlichen Ebenen berücksichtigen. Zudem kann es in der Erforschung der Wirkungen komplexer Interventionen sinnvoll sein, mehrere Behandlungsendpunkte anstatt eines primären Behandlungsergebnisses zu untersuchen (Campell et al. 2007). Vor diesem Hintergrund fordern viele Autoren eine gründliche Prozessevaluation in randomisierten kontrollierten Studien komplexer Interventionen (Oakley et al. 2006). So sollten die Mechanismen und Prozesse beschrieben werden, die nach Erwartung der Entwickler einer Intervention zum Behandlungsergebnis führen sollen. Diese Beschreibung sollte durch im Fortschritt der Studie gewonnene Evidenz ergänzt werden.
32
Als Beispiele für Studien komplexer Interventionen sei eine DFG-Studie zur bedarfsorientierten Entlassplanung bei Menschen mit hoher Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgung (randomisierte kontrollierte Multicenterstudie) genannt. Die Intervention war sowohl im Hinblick auf den primären Ergebnisparameter (im Krankenhaus verbrachte Tage) als auch im Hinblick auf sekundäre Ergebnisparameter nicht erfolgreich (Puschner et al. 2011). Die Entlassintervention der NODPAMStudie wurde ausführlich beschrieben (von Rad et al. 2010), es wurden Unterschiede zwischen den Zentren, Subgruppenunterschiede sowie DosisWirkung-Beziehungen untersucht. Es ergab sich ein interessanter, jedoch statistisch nicht signifikanter Zusammenhang dergestalt, dass bei Erhalt der Entlassintervention unbefriedigte Behandlungsbedarfe im Prä-post-Vergleich deutlich abnahmen. Bei Studienteilnehmern, die die Entlassintervention nicht erhielten, blieben sie dagegen unverändert (Steffen et al. 2010). Mittlerweile liegen zahlreiche Beispiele für die Prozessevaluation bei komplexen Interventionen vor; Studien zu komplexen Interventionen in der Versorgungsforschung werden dies in der Zukunft berücksichtigen müssen. Für die Arbeitsgebiete Qualitätssicherung und Versorgungsforschung mag deutlich geworden sein, dass sowohl bei den Bemühungen um Qualitätsverbesserung, als auch bei der Bemühung um gute Studien der Versorgungsforschung die Beurteilung der Ergebnisqualität ein wichtiges Thema ist. Evidenzbasis und Validität von Qualitätsindikatoren sind in aller Regel nicht trivial, der Expertenkonsens spielt eine gewichtige Rolle in der Entwicklung von Indikatorensets. Möglichen negativen Auswirkungen arbiträrer Gruppenentscheidungen kann nur entgegengesteuert werden, indem beispielsweise Indikatorensets variiert und die Effekte der Variation in Bezug auf das Behandlungsergebnis erfasst und evaluiert werden. Das vorliegende Forschungs- und Praxisfeld kommt ohne Expertenmeinungen nicht aus. Sowohl in der Forschung als auch in der Weiterentwicklung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung muss aber ein hohes Maß an methodischer und prozeduraler Transparenz bestehen, damit Bemühungen um Qualitätssicherung und Versorgungsforschung inkrementelle Schritte der Quali-
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Kapitel 32 · Qualitätssicherung und psychiatrische Versorgungsforschung
tätsbesserung erlauben und nicht die Verwirrung erhöhen. Das Verständnis der Wirkung komplexer Interventionen ist nicht ausreichend, die Prozessevaluation bietet jedoch Möglichkeiten, dieses Verständnis zu verbessern. Die Grundlagenforschung hat demzufolge viele Aufgaben in der psychiatrischen Versorgungsforschung, wenn wir etwa an Themen wie Therapeut-Patient-Beziehung, Compliance oder Adhärenz sowie an das Thema »klinische Entscheidungsfindung« denken. Hier gibt es viel Raum für qualitativ hochwertige, interdisziplinäre Forschung zwischen klinischer Medizin, Wirtschaftsund Sozialwissenschaften. Der Methodenstandard der Versorgungsforschung kann insgesamt als hoch angesehen werden, so stehen komplexe Methoden und Modelle zur Verfügung, jedoch gibt es auch hier Spielraum für weitere Verbesserungen. Qualitativ hochwertige Studien zur Routinewirksamkeit bleiben wichtig und auch das Scheitern innovativer komplexer Interventionen bietet Möglichkeiten – wenn diese genutzt werden –, das Wissen über Therapieprozesse nachhaltig zu verbessern.
32 Literatur Campbell NC, Murray E, Darbyshire J, Emery J, Farmer A, Griffiths F, Guthrie B, Lester H, Wilson P, Kinmonth AL (2007) Designing and evaluating complex interventions to improve health care. BMJ 334(3):455–459 Gaebel W (1999) Qualitätssicherung in der Psychiatrie. In: Helmchen H, Henn F, Lauter H, Sartorius N (Hrsg) Psychiatrie der Gegenwart, Bd 2. Springer, Berlin,S 367–393 Hermann RC , Finnerty M, Provost S, Palmer RH, Chan J, Lagodmos O, Teller T, Myrhol BJ (2002) Process measures for the assessment and improvement of quality of care for schizophrenia. Schizophrenia Bull 28 (1): 95–104 Janssen B, Weinmann S, Berger M, Gaebel W (2004) Validation of Polypharmacy Process Measures in Inpatient Schizophrenia Care. Schizophrenia Bull 30(4):1023–1033 Oakley A, Strange V, Bonell C, Allen E, Stephenson J, RIPPLE Study Team (2006) Process evaluation in randomised controlled trials of complex interventions. BMJ 332:413– 416 Puschner B, Steffen S, Völker KA, Spitzer C, Gaebel W, Janssen B, Klein HE, Spießl H,Steinert T, Grempler J, Muche R, Becker T (2011) Needs oriented discharge planning for high utilisers of psychiatric services: German multicentre randomised controlled trial. Epidemiol Psychiatr Sci 20(2):181–92
Rad Kvon, Steffen S, Kalkan R, Puschner B, Becker T (2010) Entlassungsplanung bei Menschen mit hoher Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgung in einer randomisierten kontrollierten Multizenterstudie. Entwicklung und Beschreibung der Intervention. Psychiat Prax 37(4):191–195 Raspe H, Pfaff H, Härter M, Hart D, Koch-Gromus U, Schwartz FW, Siegrist J, Wittchen HU, Frank Wissing F (2010) Versorgungsforschung in Deutschland: Stand – Perspektiven – Förderung. Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Versorgungsforschung (DFG). WileyVCH, Weinheim Steffen S, Kalkan R, Völker K, Freyberger H, Janssen B, Ramacher M, Klein HE, Sohla K, Bergk J, Grempler J, Becker T, Puschner T (2010) Entlassungsplanung bei Menschen mit hoher Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgung in einer randomisierten kontrollierten Multicenterstudie: Durchführung und Qualität der Intervention. Psychiat Prax. doi:10.1055/s-0030-1248576 Weinmann S, Becker T (2009) Qualitätsindikatoren für die Integrierte Versorgung von Menschen mit Schizophrenie. Handbuch, gefördert vom AOK-Bundesverband. Psychiatrie Verlag, Bonn Weinmann S, Roick C, Martin L, Willich S, Becker T (2010) Development of a set of schizophrenia quality indicators for integrated care. Epidemiol Psichiatr Soc 19(1):52–62 Wobrock T, Reich-Erkelenz D, Janssen B, Sommerlad K, Gaebel W, Falkai P, Zielasek J (2010) Qualitätsindikatoren in der Psychiatrie. Die Psychiatrie 7:3
209
Sektorenübergreifende psychiatrische Versorgung im Jahr 2020 Frank Bergmann
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_33, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 33 · Sektorenübergreifende psychiatrische Versorgung im Jahr 2020
In der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung sind aktuell einige wichtige Entwicklungen zu beschreiben, die auch für die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von großer Bedeutung sind.
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Überalterung der Ärzteschaft
Im Jahr 2010 hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) Arztgruppen identifiziert, bei denen zukünftig Versorgungsengpässe im vertragsärztlichen Bereich drohen. Dazu zählt die KBV auch die Gruppe der Nervenärzte, Neurologen und Psychiater. Die Gründe für den prognostizierten Arztzahlrückgang sind vielfältig. Zum einen die Entwicklung des Durchschnittsalters in der Vertragsärzteschaft: Das Durchschnittsalter von Vertragsärzten hat sich in der Zeit von 1993 bis zum Jahr 2009 von 46,6 Jahren auf 51,9 Jahren erhöht. Darüber hinaus kommt es zu einem kontinuierlichen Rückgang der Zahl praktizierender Nervenärzte aufgrund der Tatsache, dass das Fachgebiet Nervenheilkunde als eigenständiges Weiterbildungsfach in der Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer nicht mehr vorgesehen ist. So kam es seit 1994 zu einer Reduktion von 3.524 auf 2.394 Nervenärzte. Zwar ist diese Entwicklung begleitet von einem deutlichen Anstieg der Fachärzte für Neurologie sowie der Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie (von 772 tätigen Psychiatern im Jahr 1994 auf 2.960 im Jahr 2008), gleichwohl ist dieser erfreuliche Anstieg der Zahl der Psychiater noch nicht ausreichend, um den sowohl altersbedingten als auch strukturellen Rückgang der Zahl der Nervenärzte und Psychiater zu kompensieren. Darüber hinaus führt eine weitere Entwicklung zu ansteigendem Personalbedarf: z
Feminisierung der ärztlichen Profession
Von 35,5 % Anteil von Ärztinnen an den berufstätigen Ärztinnen und Ärzten im Jahr 1995 kam es zu einem Anstieg auf 42,2 % im Jahr 2009 mit weiterhin deutlich ansteigender Tendenz. z
nur 3,2 % der Ärzte. Zwischen 21 und 31 Stunden haben 10,9 % der Ärztinnen gearbeitet, hingegen nur 1,6 % der Ärzte. 52,5 % der Ärzte haben 45 und mehr Stunden gearbeitet, jedoch nur 29,9 % der Ärztinnen.
Trend zur Arbeitszeitverkürzung
Auf den zukünftigen Bedarf an Ärztinnen und Ärzten wirkt sich diese Entwicklung insofern aus, da z. B. Ärztinnen wesentlich häufiger in Teilzeit tätig sind als Ärzte. So haben 12,9 % der Ärztinnen im Jahr 2008 unter 21 Stunden gearbeitet, hingegen
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Zunahme angestellter Ärzte
Die Zahl der an der Versorgung teilnehmenden Vertragsärzte im Bereich Nervenärzte, Psychiater, Neurologen hat sich von 5.624 im Jahr 2008 auf 5.493 im Jahr 2009 verringert. Demgegenüber kam es zu einem Anstieg angestellter Ärzte von 107 auf 142. z
Bedarfszunahme
Ein vermehrter Bedarf an medizinischen Leistungen wird von KBV und Bundesärztekammer zurückgeführt auf die Entwicklung des medizinischen Fortschritts und den demografischen Wandel der Bevölkerung. Allein aufgrund des demografischen Wandels ist zu erwarten, dass die Leistungsausgaben für Versicherte in den nächsten Jahren erheblich ansteigen werden, da der Gesamtbedarf für ambulante und stationäre Versorgung bei der Gruppe der über 60-Jährigen um das 3fache ansteigt gegenüber der Gruppe unter 60 Jahren. Bereits im Zeitraum zwischen 2002 und 2008 kam es zu einem Anstieg der Krankheitskosten für neurologische und psychiatrische Erkrankungen um rund 20 %. z
Diversifizierung des Versorgungsangebots
Ein weiterer aktueller Trend in der ambulanten Versorgung ist in allen Fachgebieten, insbesondere aber auch im Bereich der ambulanten psychiatrischen/psychotherapeutischen Versorgung zu beobachten. Im Sinne einer Diversifizierung der Versorgungsstrukturen entwickeln sich neben der klassischen Einzelpraxis zunehmend fachgleiche, aber auch fachübergreifende Gemeinschaftspraxen. Darüber hinaus wird Versorgung mit ansteigenden Fallzahlen in psychiatrischen Institutsambulanzen durchgeführt, in medizinischen Versorgungsnetzen und Praxisnetzen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung trägt dieser Entwicklung Rechnung durch die Einführung eines Versorgungsebenenmodells, in dem eine Primärversorgungsebene
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33 · Sektorenübergreifende psychiatrische Versorgung im Jahr 2020
im Sinne der hausärztlichen Versorgung definiert wird, begleitet von einer wohnortnahen fachärztlichen Versorgungsebene. Diese beiden Ebenen werden als Grundversorgungsebenen angesehen. Darüber hinaus wird (fallbezogen) eine spezialisierte fachärztliche Versorgungsebene beschrieben neben der stationären Grund- und Regelversorgung sowie der stationären spezialisierten Versorgungsebene. Dieses Versorgungsebenenmodell findet Eingang in die Vorbereitung für das aktuelle Gesetzgebungsverfahren des Jahres 2011. z
Sektorenübergreifende Bedarfsplanung
Neu in diesem Gesetzgebungsverfahren ist auch das Ziel einer Neuordnung der Bedarfsplanung, und zwar als sektorenübergreifende Bedarfsplanung. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung will damit dem Problem der Überversorgung in Ballungsgebieten und des Mangels an Hausärzten und Fachärzten in strukturschwachen Regionen begegnen. Das Konzept der KBV sieht eine kleinräumige, sektorenübergreifende Versorgungsplanung vor. Die Planungsaufgaben sollen in den Ländern übertragen werden an regionale Verbünde, die verpflichtende Vorgaben für den stationären und ambulanten Bereich geben sollen. An diesen Verbünden könnten Kassenärztliche Vereinigungen, Ärztekammern, die Krankenhausgesellschaften, aber auch Vertreter der Kommunen teilnehmen. Wichtige, noch offene Fragen in diesem Zusammenhang sind die Definition und ggf. Angleichung des Leistungskatalogs, der Qualitätsanforderungen und auch der Vergütung. Zur Planung der wohnortnahen Grundversorgung gehören die Identifikation des Versorgungsbedarfs sowie Kalkulation erforderlicher Wegezeiten, aber auch die Berechnung der wirtschaftlichen Tragfähigkeit von Arztsitzen. z
Vertragswettbewerb
Ein wesentlicher Trend, der sich auch in den kommenden Jahren fortsetzen wird, ist der durch die frühere Gesundheitsministerin eingeleitete Wettbewerb in der Versorgung durch Selektivverträge. Grundgedanke integrierter (strukturierter) Versorgung war dabei, wissenschaftliche Leitlinien bzw. Versorgungsleitlinien in der ambulanten Versorgung zu implementieren, Behandlungspfade zu
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definieren, Aufnahme- und Entlassmanagement im Sinne der Schnittstellenbeschreibung zu operationalisieren, aber auch die Kooperation zwischen Hausarzt und Facharzt zu verbessern. In der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung haben sich im Wesentlichen integrierte Versorgungsverträge gemäß § 140a ff SGB V durchgesetzt. In der Regel wurden indikationsbezogene, regional begrenzte Verträge abgeschlossen, in denen auf wenige ökonomische Kennzahlen fokussiert wurde. Aus Krankenkassensicht wurden als Ziele vor allem eine Reduktion der Arbeitsunfähigkeitstage, der Krankenhauseinweisungen und der Pharmakotherapiekosten vereinbart. Darüber hinaus wurde in den unterschiedlichen Verträgen deutlich, dass aus Kassensicht der Servicequalität für die Versicherten aus Marketinggründen bei Abschluss von Verträgen ein besonderes Augenmerk gilt. z
Versorgung in Netzen
Nicht zuletzt um auch Anreize zu geben für die Versorgung schwer und chronisch Kranker, haben die neuropsychiatrischen Berufsverbände BVDN, BDN und BVDP in Kooperation mit der Vertragswerkstatt der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ein Versorgungskonzept zur indikationsübergreifenden, flächendeckenden, qualitätsgesicherten Versorgung von Patienten im akuten Krankheitsstadium und im Langzeitverlauf entwickelt. In diesem Konzept geht es um die Stärkung der ambulanten neurologischen und psychiatrischen Versorgung, um die Implementierung leitlinienbasierter Diagnostik und Therapie in der ambulanten Versorgung, Umstrukturierung der Versorgungsabläufe, und zwar im Sinne eines flächendeckenden Angebots und mit Vertragsmonitoring zur Qualitätssicherung. Es wird als Kernelement dieses Vertragskonzepts vorgeschlagen, Versorgung in regionalen Netzen zu organisieren, und zwar mit verpflichtender Zusammenarbeit aller an der Behandlung beteiligten Ärzte und Therapeuten, unter anderem durch regelmäßig stattfindende Absprachen, Qualitätszirkel und Fallkonferenzen mit einem regelmäßigen Austausch von Haus- und Fachärzten in den regionalen Netzen.
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Kapitel 33 · Sektorenübergreifende psychiatrische Versorgung im Jahr 2020
Ökonomischer Ressourceneinsatz durch Strukturwandel – komplementäre statt konkurrierender Versorgung
Das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie, auch im Wettbewerb zu den Nachbardisziplinen wie beispielsweise der ambulanten Versorgung durch Fachärzte für Psychosomatik und Psychotherapie, wird in den nächsten Jahren einem Wandel unterworfen sein. Dazu zählt der zunehmende Rückgang klassischer Nervenarztpraxen zugunsten von Einzel- und Gemeinschaftspraxen von Psychiatern, Psychotherapeuten, auch in Kooperation mit Fachärzten für Neurologie. Gleichzeitig wird der Bedarf an psychiatrischen Leistungen nicht zuletzt durch den demografischen Wandel der Bevölkerung, aber auch durch die übrigen im Einzelnen beschriebenen strukturellen Veränderungen steigen. Die Sicherstellung von Versorgungsqualität wird aufgrund der weiterhin begrenzten finanziellen Ressourcen der gesetzlichen Krankenversicherung erfordern, dass Ressourcen nicht zuletzt auch in strukturschwachen Gebieten effektiv eingesetzt werden. Dazu gehört, dass in einem diversifizierten Versorgungssystem Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten klar geregelt sind, Transparenz von Behandlungsabläufen gegeben ist, aber auch, dass Kommunikations- und Informationswege reibungslos funktionieren und Schnittstellen in der Versorgung gut geregelt und operationalisiert sind. Neben der Entwicklung bzw. Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Leitlinien und Versorgungsleitlinien stellt sich daher die Aufgabe, tragfähige Behandlungspfade zu entwickeln, die individualisiert in den jeweiligen Regionen die Möglichkeit schaffen, Versorgung komplementär und nicht konkurrierend zu strukturieren.
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Gesundheitsökonomische Folgen psychischer Krankheiten Jürgen Fritze
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_34, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 34 · Gesundheitsökonomische Folgen psychischer Krankheiten
Aufgaben der Gesundheitsökonomie sind Analysen darüber, mit welchem Nutzen zu welchen Kosten die grundsätzlich knappen finanziellen Ressourcen eingesetzt werden, und daraus abgeleitete Vorschläge, wie der Nutzen (d. h. auch die Qualität) maximiert, die Kosten– kosteneffektiv (also unter Vermeidung von Verschwendung) – minimiert werden können und zugunsten aller tatsächlich Bedürftigen – bedarfsgerecht – eingesetzt werden. Die Gesundheitsökonomie hat dabei unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen. Das Individuum ist durch Versicherungsbeiträge und Zuzahlungen damit konfrontiert, Ausgaben zugunsten anderer Ziele zurückstellen zu müssen. Die Krankheit belastet das Individuum und seine Angehörigen mit Einschränkungen der Lebensqualität (sog. intangible Kosten). Aus Perspektive des Kostenträgers (z. B. der Krankenversicherung, der Rentenversicherung bezüglich rehabilitativer Leistungen, der Berufsgenossenschaft) interessieren die direkten Kosten der Krankheitsbehandlung, soweit damit eigene Ausgaben verbunden sind, also insbesondere ambulante Behandlung durch Ärzte und andere Gesundheitsberufe, dadurch ausgelöste Verordnungen von Arzneimitteln und Hilfsmitteln, dann Krankenhausbehandlung, ambulante und stationäre Rehabilitation, ambulante und stationäre Pflege. Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive interessieren zusätzlich die Kosten aus infolge Krankheit entgangener Produktivität, also die indirekten Krankheitskosten (Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, vorzeitiger Tod), aber auch das Gesundheitswesen als Wertschöpfungskette.
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Datenbasen
Gegenstand dieses Beitrags kann nicht eine umfassende gesundheitsökonomische Bewertung der Kosten im Verhältnis zum Nutzen für die psychisch Kranken und ihre Bezugspersonen sein. Vielmehr muss sich der Beitrag auf die Darstellung der direkten und indirekten Kosten psychischer Krankheiten (»cost of illness«) beschränken, also deskriptiv bleiben. Dabei werden – auch unter Anerkennung der gerade bei psychischen Krankheiten relevanten Problematik der finanziellen Bewertung von Produktivitätseinbußen – die indirekten Kosten nur als durch Krankheit verlorene Erwerbstätigkeitszeiten abgebildet. Die intangiblen Kosten bleiben unberücksichtigt, auch wenn sie sich selbstverständlich in monetären Einheiten abbilden lassen. Krank-
heitskosten sind grundsätzlich kaum vom Gesundheitssystem eines Gemeinwesens auf andere zu generalisieren, denn die Systeme sind höchst unterschiedlich organisiert. Deshalb beschränkt sich der Beitrag auf das deutsche Gesundheitswesen. Eine umfassende Übersicht (Hu 2004) im Kontext des Disease Control Priorities Project (DCPP) der Weltbank und der World Health Organization (WHO) enthält für Deutschland keine Daten. Umfassende Analysen der Kosten psychischer Krankheiten in Deutschland sind nicht verfügbar (König u. Friemel 2006). Das Statistische Bundesamt (2010a) hat aber beginnend mit dem Berichtsjahr 2002 alle 2 Jahre eine Krankheitskostenrechnung publiziert, deren Onlineversion (http://www. gbe-bund.de/stichworte/Krankheitskosten.html) auch individuell gestaltbare Analysen erlaubt. Mit jedem neuen Berichtsjahr erfolgen grundsätzlich auch Revisionen der früheren Berichte. Methodisch werden die direkten Kosten in einem Top-down-Ansatz den Krankheiten gemäß ICD-10 im Sinne der Prävalenz der Inanspruchnahme von Leistungen zugeordnet. Die Kostendaten entstammen der Gesundheitsausgabenrechnung (rund 30 Basisstatistiken) des Statistischen Bundesamts, aufgegliedert nach Einrichtungstypen und Leistungsarten. Leider wird die Differenzierung gemäß des ICD-Kodes des Kapitels F nur begrenzt genutzt. Zwangsläufig werden Multimorbiditäten, also auch Folgekrankheiten, unvollständig abgebildet. Differenzierungen nach Regionen sind nicht möglich. Die direkten Kosten werden als Gesamtbeträge sowie als Kosten je Einwohner präsentiert; ein Bezug je Betroffener ist nicht möglich. Als Surrogat für die indirekten Krankheitskosten wird der krankheitsbedingte Ressourcenverlust am Arbeitsmarkt infolge von Arbeitsunfähigkeit, Invalidität und Mortalität in Form von verlorenen Erwerbstätigkeitsjahren, einer kalkulatorischen Kennzahl, ermittelt. Neben Deutschland verfügen zurzeit noch die Niederlande über ein vergleichsweise weit entwickeltes und dauerhaft angelegtes Rechensystem zu den Krankheitskosten. Internationale Vergleiche sind laut einer Machbarkeitsstudie der OECD zurzeit für ausgewählte Länder möglich, aber in ihrer Aussagekraft eingeschränkt.
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34 · Gesundheitsökonomische Folgen psychischer Krankheiten
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. Abb. 34.1 Direkte Krankheitskosten in Deutschland gemäß Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamts 2010
. Abb. 34.2 Direkte Krankheitskosten psychischer und Verhaltensstörungen in Deutschland nach Einrichtungen gemäß Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamts 2010
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übrigen psychischen Krankheiten gestiegen. Die Demenzen steuern ein Drittel (9,4 Mrd. Euro) zu den direkten Kosten psychischer Krankheiten bei, die Schizophrenien, schizotypen und wahnhaften Störungen 10 % (2,9 Mrd. Euro), Depressionen 18 % (5,2 Mrd. Euro)(. Abb. 34.2). Die Arzneimittelkosten für psychische und Verhaltensstörungen in der ambulanten Versorgung sind von 2002 bis 2008 (etwa 3,1 Mrd. Euro) um 47 % gestiegen. Davon entfallen etwa 24 % auf die Schizophrenien (inkl. schizotype und wahnhafte Störungen), 8 % auf die Demenzen und jeweils ein Drittel auf Depressionen und die übrigen psychischen Krankheiten. Dem jährlich erscheinenden Arzneiverordnungsreport (AVR) sind Informationen auf Ebene der Einzelwirkstoffe und den monatlichen Berichten der GKV-ArzneimittelSchnellinformation (GAmSi) Informationen zu häufig verordneten Einzelwirkstoffen und Wirkstoffgruppen mit regionalem (KV und dadurch Bundesland) Bezug zu entnehmen, dies allerdings ohne Indikationsbezug und beschränkt auf die GKV. Auf Grundlage der im AVR genannten Einzelwirkstoffe (damit werden über 90 % des GKVMarkts erfasst) hat die GKV im Jahr 2008 für Anxiolytika und Hypnotika etwa 180 Mio. Euro aufgewendet, für Antidepressiva 690 Mio. Euro, für Neuroleptika 840 Mio. Euro, für Antidementiva 330 Mio. Euro, für Psychostimulanzien 120 Mio. Euro, für Lithiumsalze 11 Mio. Euro – insgesamt also etwa 2,13 Mrd. Euro. In anderem Kontext weist der AVR für Psycholeptika insgesamt (Antipsychotika, Lithium, Anxiolytika, Hypnotika) einen Gesamtumsatz von 1,1 Mrd. Euro und für Psychoa-
Direkte Kosten
Die direkten Kosten psychischer Krankheiten (operationalisiert als Kapitel F der ICD-10) sind von 23,3 Mrd. Euro im Jahr 2002 auf 28,7 Mrd. Euro im Jahr 2008 gestiegen. Sie sind mit 23 % stärker als die Gesamtkosten (15 %) gestiegen und machen 11,3 % der Gesamtkosten aus. Sie liegen damit auf Rang 3 nach den Kosten der Krankheiten des Kreislaufsystems (2008: 36,9 Mrd. Euro) und des Verdauungssystems (34,8 Mrd. Euro) und erstmals knapp vor den muskuloskeletalen Krankheiten (28,5 Mrd. Euro). Diese 4 Krankheitsgruppen verursachen rund 50 % der gesamten Krankheitskosten (2008: 254 Mrd. Euro)(. Abb. 34.1). Die Kostensteigerung war für Arzneimittel mit einem Anteil von 9 % im Jahr 2002 auf 10,8 % im Jahr 2008 etwas überproportional. Auf niedergelassene Ärzte entfallen bei den Kosten psychischer Krankheiten etwa 7,7 %, auf Krankenhäuser 26 % (rund 7,5 Mrd. Euro), auf Rehabilitation 7 %, auf Pflege ambulant 6 % und teil-/stationär 26 %. Demgegenüber liegen die entsprechenden Anteile bei den somatischen Krankheiten bei 15 % bzw. 16 %, 27 %, 3 %, 3 % und 8 %. Der hohe Anteil der Pflegekosten ist im Wesentlichen den Demenzen zuzuschreiben, wo sie etwa 83 % der direkten Krankheitskosten ausmachen. Hier liegen die Anteile für niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser und Arzneimittel jeweils bei ca. 2 %. Der Anteil niedergelassener Ärzte an den Krankheitskosten der Depression liegt mit etwa 10 % mehr als doppelt so hoch wie derjenige der Schizophrenien (4 %), die Kosten für Arzneimittel liegen bei 19 % gegenüber 25 % bei Schizophrenien. Die Krankheitskosten der Demenzen sind seit 2002 etwas stärker als die der
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34
Kapitel 34 · Gesundheitsökonomische Folgen psychischer Krankheiten
naleptika insgesamt (Antidepressiva, Psychostimulanzien, Antidementiva) einen Gesamtumsatz von 1,2 Mrd. Euro aus, insgesamt etwa 2,26 Mrd. Euro. Die Ausgaben der GKV für Neuroleptika und Antidepressiva sind seit 1994 stärker als der gesamte GKV-Arzneimittelmarkt gestiegen, was gegen eine systematische Behinderung psychisch Kranker in ihrer Teilhabe an Innovationen spricht (Fritze 2010). Die GKV-Ausgaben für Antidementiva steigen – mit einem Einbruch im Jahr 2004 infolge des grundsätzlichen Ausschlusses von rezeptfreien Arzneimitteln durch den Gesetzgeber – infolge Einführung der Cholinesteraseinhibitoren seit 1999, wovon nominal aber nur etwa 27 % der Alzheimerkranken profitieren (Fritze 2010). Im Vergleich zur Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamts entfallen 27 % der Arzneimittelkosten für psychische und Verhaltensstörungen in der ambulanten Versorgung nicht auf zulasten der GKV verordnete Psychopharmaka. Darin enthalten sind andere bei psychischen und Verhaltensstörungen – inklusive zulasten der GKV – verordnete Arzneimittel, aber auch Arzneimittel zulasten anderer Kostenträger; die Datenbasen erlauben keine detailliertere Zuordnung. Die GKV-Arzneimittel-Schnellinformation (GAmSi) gibt aggregierte Informationen zu »Psychopharmaka« und fasst unter diesem Begriff – wie der Arzneiverordnungsreport – Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquillanzien, Phasenprophylaktika (z. B. Lithium) und Psychostimulanzien zusammen. Demnach gab es im Jahr 2009 ein Süd-NordGefälle (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern) mit den höchsten Verordnungsraten (DDD je GKV-Versicherten) in Bayern, RheinlandPfalz und im Saarland. Der Variationskoeffizient zwischen den Bundesländern erreicht für die Tagesdosen je GKV-Versicherten wie auch die Bruttoumsätze (Euro) je Versicherten rund 8 % (Fritze 2010). Da Verteilung und Variabilität der Verordnung von Psychopharmaka im Wesentlichen denjenigen in den Vorjahren entsprechen, handelt es sich eher nicht um zufällige regionale Schwankungen. Da das Verteilungsmuster der gesamten Arzneimittelverordnungen eher ein Nord-Süd- und ein Ost-West-Gefälle aufweist, liegt wohl kein generell unterschiedliches Inanspruchnahmeverhalten der Bevölkerung für Arzneimittel zugrunde.
Ohne Indikationen- und Wirkstoffbezug müssen tragfähige Deutungsversuche scheitern. Zur Psychotherapie fehlen umfassende Kosteninformationen. Gemäß einer in Oberbayern durchgeführten, vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Studie (Melchinger et al. 2003) entfielen drei Viertel der Ausgaben für vertragsärztliche (inkl. psychologische Psychotherapeuten) Leistungen auf psychotherapeutische Leistungen, davon wiederum 80 % auf Richtlinienpsychotherapie. 52 % der Ausgaben gingen dabei an psychologische bzw. ärztliche Psychotherapeuten, nur 18 % an Nervenärzte und Psychiater. Gemäß einem Gutachten zur ambulanten Versorgung, das Melchinger (2008) im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung erstellt hat, ergab sich anhand aktuellerer Daten, dass 65,3 % der GKV-Ausgaben auf psychologische und ärztliche Psychotherapeuten für die ambulante Versorgung von 25,1 % der Fälle entfielen, demgegenüber nur 34,6 % der GKV-Ausgaben auf niedergelassene Nervenärzte und Psychiater (23,3 %) sowie Institutsambulanzen (11,3 %) für die ambulante Versorgung von 74,9 % (Vertragsärzte 64,6 %, Institutsambulanzen 10,3 %) der Fälle. z
Indirekte Kosten
Die Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamts vermeidet bei den indirekten Kosten die dem Humankapitalansatz inhärenten Probleme, indem sie sich auf die verlorenen Erwerbstätigkeitsjahre beschränkt. Es ist bekannt, dass Arbeitsunfähigkeiten – wenn auch krankheitsbedingt – von vielen anderen Faktoren, u. a. der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, mitbestimmt wird. Von den 4,251 Mio. durch Krankheit verlorenen Erwerbstätigkeitsjahren entfielen im Jahr 2008 18 % (0,763 Mio.) auf psychische und Verhaltensstörungen und lagen damit deutlich vor Neubildungen (12,4 %) und Krankheiten des Kreislaufsystems (9 %). Während insgesamt ein rückläufiger Trend (wenn auch von 2006 auf 2008 ein Anstieg) zu verzeichnen ist, nehmen die durch psychische Krankheit verlorenen Erwerbstätigkeitsjahre über die Jahre grundsätzlich zu. Dabei bleiben die Anteile von Arbeitsunfähigkeit (etwa 25 %), Erwerbsunfähigkeit (70 %) und Mortalität (5 %) über die Jahre recht stabil, kontrastieren aber mit denen bei somatischen Krankheiten (etwa 35 %, 35 %, 30 %).
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34 · Gesundheitsökonomische Folgen psychischer Krankheiten
Dies erklärt sich beispielhaft daraus, dass Suizide seltene Ereignisse darstellen und die Suizidrate seit 30 Jahren sinkt. Bei den Schizophrenien (inklusive schizotypen und wahnhaften Störungen) sind über 90 % der verlorenen Erwerbstätigkeitsjahre der Invalidität zuzuschreiben, weil diese so früh eintritt, aber auch weil nur Bruchteile der schizophren Kranken überhaupt am Arbeitsleben teilhaben. Bei den Depressionen liegt der Anteil bei 60 %, bei den übrigen psychischen Störungen bei 75 %. z
Schlussfolgerungen
Wozu können diese Daten nützlich sein? Das Statistische Bundesamt führt dazu im Qualitätsbericht zur Krankheitskostenrechnung aus (2010b, S. 4): »Die Ergebnisse der Krankheitskostenrechnung können in Verbindung mit weiteren epidemiologischen Daten zur Überprüfung der gegenwärtigen und Regulierung der künftigen Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen verwendet werden. Sie liefern Hinweise auf mögliche Einsparpotenziale für die Entwicklung gesundheitspolitischer Instrumente, dienen als Entscheidungshilfe bei der Vergabe von Forschungsmitteln, unterstützen die Gesundheitsberichterstattung sowie die Evaluation von Gesundheitszielen und können als Ausgangsbasis für die Vorausberechnung künftiger Kostenentwicklungen – insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels – genutzt werden.« Die Daten belegen eine auch gesundheitsökonomisch herausragende Bedeutung psychischer Krankheiten, die gesundheitspolitisch angemessen zu würdigen eine Daueraufgabe darstellt. Dies auch wegen des demografischen Wandels: Gemäß der Vorausberechnung des Statistischen Bundesamts wird bei schrumpfender Gesamtbevölkerung (etwa −15 %) der Anteil der über 65-Jährigen von 20 % (2008) auf 34 % (2060) steigen. Das bedeutet einerseits eine Verdopplung der Prävalenz der Demenzen. Da die Prävalenzen der übrigen psychischen Krankheiten (und die damit verbundenen Krankheitskosten) deutlich weniger mit dem Alter korrelieren als bei somatischen Krankheiten, ist gemäß Statistischem Bundesamt eine Abnahme (−8 % im Jahr 2030 gegenüber 2005) insbesondere der Inanspruchnahme von Krankenhausleistungen wegen
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psychischer und Verhaltensstörungen zu erwarten, in somatischen Einrichtungen aber ein Anstieg.
Literatur Fritze J (2010) Psychopharmaka-Verordnungen: Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungsreport 2009. Psychopharmakotherapie 17:240–250 Hu T-W (2004) An international review of the economic costs of mental illness. Disease control priorities project, Working Paper No. 31. University of California, Berkeley.www. dcp2.org/file/45/wp31.pdf. Zugegriffen: 29. August 2011 König HH, Friemel S (2006) Gesundheitsökonomie psychischer Krankheiten. Bundesgesundheitsblatt 49(1):46–56 Melchinger H (2008) Strukturfragen der ambulanten psychiatrischen Versorgung unter besonderer Berücksichtigung von Psychiatrischen Institutsambulanzen und der sozialpsychiatrischen Versorgung außerhalb der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung. Expertise im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. http://dgsp-brandenburg.de/sites/default/files/Melchinger_KBV_Gutachten.pdf. Zugegriffen: 29. August 2011 Melchinger H, Rössler W, Machleidt W (2003) Psychiatrische Versorgung. Ausgaben auf den Prüfstand. Dtsch Ärztebl 100 (44):A 2850–2852 Statistisches Bundesamt (2010a) Krankheitskosten – Fachserie 12 Reihe 7.2 – 2002, 2004, 2006 und 2008. http://www. destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/ DE/Content/Publikationen/Fachveroeffentlichungen/Gesundheit/Krankheitskosten/Krankheitskosten212072008 9004,property=file.pdf. Zugegriffen: 29. August 2011 Statistisches Bundesamt (2010b) Qualitätsbericht Krankheitskostenrechnung. http://www.destatis.de/jetspeed/ portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Qualitaetsberichte/Gesundheitswesen/Krankh eitskostenrechnung,property=file.pdf. Zugegriffen: 29. August 2011
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Psychiatrie in Europa: Stand der Dinge, Chancen und Herausforderungen Hans-Jürgen Möller
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_35, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 35 · Psychiatrie in Europa
Psychiatrie in Europa ist ein sehr zeitgemäßes Thema. Mit dem zunehmenden Zusammenschluss der europäischen Staaten zur europäischen Union entwickelt sich mit den politischen und wirtschaftlichen Einigungen auch das Bedürfnis, andere, bisher nationalstaatlich geprägte und getragene Systeme den europäischen Konzepten und Strukturen anzupassen und eine möglichst weitgehende Integration zu erreichen. Diese Entwicklung betrifft die Medizin als Gesamtfeld sowie bestimmte Fachrichtungen der Medizin, u. a. die Psychiatrie. Es ist deshalb sinnvoll, den Stand der Dinge, die Chancen und die Herausforderungen der Psychiatrie in Europa darzustellen und dabei auf wichtige aktuelle Entwicklungen hinzuweisen.
z
35
Die europäische Tradition der Psychopathologie und psychiatrischen Klassifikation
Wichtige Ansätze und Konzepte der wissenschaftlichen Psychiatrie wurden im 19. und 20. Jahrhundert in Europa entwickelt. Diesbezügliche Beiträge, insbesondere zur Psychopathologie und zur psychiatrischen Klassifikation, wurden vorrangig in Deutschland und Frankreich entwickelt (Höschl 2008), und dann doch mehr oder weniger weitgehend von den verschiedenen nationalen Psychiatriegesellschaften Europas übernommen und als ein gemeinsames Kulturerbe der europäischen Psychiatrie verstanden. Der Einfluss dieser Tradition brach auch durch die Spaltung Europas nach dem zweiten Weltkrieg nicht ab. Die mittel- und osteuropäischen Staaten, einschließlich Russlands, fühlen sich z. B. dieser psychiatrischen Tradition weiterhin verbunden, die man deswegen durchaus als eine europäische Tradition der Psychopathologie und psychiatrischen Klassifikation bezeichnen kann. Abgesehen von ihrem Einfluss für die Psychiatrie Europas hatte und hat diese Tradition auch einen wichtigen Einfluss auf die internationale Psychiatrie, der heute unter anderem auch in den internationalen Klassifikationssystemen, wenn auch in »verdünnter« Form (Möller 2008a), erkennbar ist. Nachfolgend werden einige dieser Elemente der europäischen Tradition der Psychopathologie und der Systematik psychischer Störungen ausgeführt, ohne dass angesichts der Kürze des Beitrags Vollständigkeit angestrebt wird. Auch mag die Auf-
listung subjektiv geprägt sein und möglicherweise im Sinne der deutschen Psychopathologietradition »gebiased« sein: 4 Zahlreiche nosographische Ansätze im 19. Jahrhundert, u. a. in Frankreich (z. B. Esquirol), Deutschland (z. B. Kahlbaum, Hecker) 4 Entwicklung mehrerer Systeme psychischer Störungen, z. B. Benedict Morel, Emil Kraepelin 4 Dichotomie zwischen Dementia praecox und manisch-depressiver Störungen (Emil Kraepelin) 4 Differenzierung zwischen bipolarer und unipolarer Depression (JP Falret, Karl Leonhard) 4 Differenzierung zwischen exogenen and endogenen Störungen, z. B. exogener Reaktionstyp (Karl Bonhoeffer), demenzielle Erkrankungen (Alois Alzheimer) 4 Konzept der psychogenischen Störungen, z. B. das Hysteriekonzept von Charcot, das Neurosekonzept von Sigmund Freud 4 Lang anhaltende Debatte über kategorische (z. B. die Kraepelin-Dichotomie) vs. syndromatologische Ansätze (Alfred Hoche) 4 Lang anhaltende Debatte über unitarische Ansätze im Sinne der Einheitspsychose (z. B. Albert Zeller, Wilhelm Griesinger) vs. weitgehender Aufspaltung in verschiedene Krankheitskategorien (Kraepelin, Leonhard) 4 Deskriptive Psychopathologie basierend auf differenzierter Phänomenologie(z. B. Karl Jaspers, Kurt Schneider) 4 Hierarchische Rangordnung von Symptomen nach pathognomonischer Relevanz, z. B.»Schichtenregel« nach Jasper 4 Das Konzept der Erstrangsymptome von Kurt Schneider als erste Operationalisierung psychiatrischer Diagnostik 4 Entwicklung einer modernen Temperamentenlehre, Verschränkung von Temperament und psychischer Erkrankung (z. B. Ernst Kretschmer, Kurt Schneider) Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Ansätze und Konzepte wurden z. T. weiterentwickelt bzw. führten zur fortdauernden Diskussion gegensätzlicher Standpunkte. Man denke z. B. an die Weiterentwicklung der differenzierten
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35 · Psychiatrie in Europa
phänomenologischen Erfassung der psychopathologischen Symptomatik zur einerseits reduktionistischen, andererseits standardisierten Symptomerfassung (Möller 2009), an die fortdauernde Diskussion über die Abgrenzung unipolarer und bipolarer Depressionen (Akiskal 2007) sowie die Infragestellung der Aufteilung der nichtorganischen Psychosen in die 2 großen Gruppen der schizophrenen Erkrankungen und der affektiven Erkrankungen (Angst et al. 2005; Crow 1987) Viele dieser traditionellen Konzepte werden nicht in einem der derzeitigen oder zukünftigen internationalen Klassifikationssysteme aufgeführt (Möller 2008c). Trotzdem bleibt diese Tradition doch auch weiterhin für europäische Psychiater als inhaltlicher/konzeptioneller Schmelztiegel und gleichzeitiges methodisches Rüstzeug von Bedeutung (Klosterkötter 2010; Saß u. Hoff 2010). So ist z. B. die Dichotomie zwischen schizophrenen und affektiven Erkrankungen für die meisten Psychiater weiterhin ein bedeutsames Konzept, auch wenn es derzeit durch genetische Daten oder sonstige für die Klassifikation relevante Daten nicht oder nur unzureichend gestützt wird. Auch die Unterteilung zwischen stimmungskongruenten und nichtstimmungskongruenten psychotischen Symptomen wird von vielen europäischen Psychiatern als relevant angesehen, auch wenn z. B. DSM-IV diese Differenzierung hinsichtlich der Aufteilung in affektive und schizophrene Psychosen nicht berücksichtigt (Möller 2008b). Neben der noch immer lebendigen europäischen Tradition in der Psychopathologie und der Systematik psychischer Störungen gibt es eine Tradition im Bereich der Therapie. Man denke an die Ursprungsformen der Psychotherapie im 19. Jahrhundert, wie sie z. B. im »traitement morale« der französischen Psychiatrie (z. B. Jean Esquirol) oder in den »psychischen Komethoden« (Johann Reil) zum Ausdruck kam, ganz besonders natürlich an die Entwicklung der psychoanalytischen Therapie durch Sigmund Freud und die Ansätze zur Verhaltenstherapie durch Hans Eysenck. Daneben ist an die große europäische Tradition der Psychopharmakotherapie zu erinnern, die die mikrobiologischen Therapiemöglichkeiten in der Psychiatrie revolutioniert hat. Es sei erwähnt, dass ein Großteil der Psychopharmaka, wie z. B. die Neuroleptika,
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die Antidepressiva und die Benzodiazepine, in Europa entwickelt wurden (Jean Delay, Paul Deniker, Roland Kuhn, Leo Sternbach). z
Charakteristika der derzeitigen Situation der Psychiatrie in Europa
Die derzeitige Situation der Psychiatrie in Europa ist sicherlich durch diese dargestellte gemeinsame Tradition in Psychopathologie und psychiatrischer Systematik sowie durch die dargestellten therapeutischen Traditionen gekennzeichnet, wenn hierbei auch nationale Differenzierungen erkennbar sind. Trotz dieser langen gemeinsamen Tradition gibt es aber in vielen Bereichen Unterschiede in den einzelnen Staaten Europas, die es als unzulässig erscheinen lassen, derzeit von einer europäischen Psychiatrie im engeren Sinne zu sprechen. Auch dies kann angesichts der Kürze des Beitrags nur schlagwortartig angerissen werden, und subjektiv geprägte Selektionen/Fokussierungen scheinen bei dieser Auflistung unvermeidbar: 4 Trotz einer langen gemeinsamen Tradition in den Versorgungskonzepten (z. B. psychiatrisches Großkrankenhaus) heute Bevorzugung unterschiedlicher Versorgungskonzepte in einzelnen Ländern: z. B. Dominanz von Krankenhauspsychiatrie in Deutschland vs. »community psychiatry« in Großbritannien. 4 Diese Bevorzugung unterschiedlicher Versorgungsstrukturen hat nicht nur Konsequenzen für die Patienten, sondern auch für verschiedene psychiatrische Berufsgruppen (z. B. Rolle der Ärzte, des Pflegepersonals etc.) und ebenso für therapiebezogene Sichtweisen (Bedeutung der Psychopharmaka, der psychosozialen Therapien). 4 Psychiatrieleitlinien in den einzelnen europäischen Ländern vermitteln trotz »EBMMethodik« z. T. unterschiedliche Sichtweisen und Therapievorgaben durch Fokussierung auf eigene Sichtweisen und Traditionen, z. B. Stellenwert Psychopharmaka vs. Psychotherapie, z. B. Psychoedukation in Großbritannien (NICE statement) vs. deutsche Psychiatrie. 4 Trotz einer gemeinsamen europäischen Zulassungsbehörde für Medikamente (EMA) und damit der einheitlichen Zulassung von Psychopharmaka für Europa sind die Verfüg-
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Kapitel 35 · Psychiatrie in Europa
barkeiten der Psychopharmaka für den »Kassenpatienten« durch Intervention nachgeordneter Behörden (z. B. NICE, IQWIG, nationale Transparenzkommission) unterschiedlich. 4 Unterteilung der Psychiatrie in verschiedenen europäischen Ländern unterschiedlich, z. B. Einbeziehung oder Nichteinbeziehung der Kinder-und Jugendpsychiatrie in die Erwachsenenpsychiatrie, z. B. Einbeziehung oder Nichteinbeziehung der Psychotherapie in die Psychiatrie, Sonderstellung der Psychosomatik als eigenes Fach etc. 4 Nationale Unterschiede in der Aus-, Fort- und Weiterbildung für Psychiatrie hinsichtlich Dauer, Inhalten etc., z. B. in Deutschland das neurologische Pflichtjahr als Teil der Psychiatrieweiterbildung (gilt in einigen anderen Ländern nicht). 4 Nur die wirtschaftlich stärkeren Länder können sich eine ausreichende psychiatrische Forschung leisten, um z. B. epidemiologische Daten über psychische Erkrankungen zu sammeln, das Versorgungssystem zu evaluieren und zu forschen.
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Eine wichtiger Punkt in diesem Kontext ist, dass sich durch die weitgehend nationalstaatlich getragene und geprägte Psychiatrie keine ausreichende Repräsentanz auf der europäischen Ebene entwickelt hat, die dafür sorgen könnte, dass z. B. der Anteil der Psychiatrie an der europäischen Forschungsförderung im Vergleich zu anderen medizinischen Fächern, der derzeit noch ausgesprochen klein ist, zunimmt. Im Zuge der politischen Einigung Europas ist es natürlich wünschenswert, dass z. B. die dargestellten Unterschiede in den psychiatrischen Therapie- und Versorgungskonzepten zu einer stärkeren Angleichung geführt werden, wie es in vielen anderen medizinischen Fächern schon weitgehend erfolgt ist. Statt einer durch verschiedene nationale Sichtweisen geprägten Psychiatrie in Europa ist unter verschiedenen Gesichtspunkten die Entwicklung zu einer europäischen Psychiatrie anzustreben.
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Die Rolle der EPA auf dem Weg von der Psychiatrie in Europa zur europäischen Psychiatrie
Die 1987 gegründete Assoziation Europäischer Psychiater (AEP) hatte u. a. das Ziel, die europäische Psychiatrietradition innerhalb der internationalen Psychiatrie zu bewahren und im Widerstreit zu der immer mehr an Dominanz gewinnenden US-amerikanischen Psychiatrie einen Weg zu einer europäischen Psychiatrie zu bahnen. Im Sinne der Vereinheitlichung der Sichtweisen, Versorgungskonzepte, Diagnosen und Therapiestandards publiziert die EPA sog. Position/ Guidance Papers. Eine Liste publizierter, im Druck befindlicher oder präfinaler Versionen vorhandener Dokumente ist . Tab. 35.1 zu entnehmen. Diese Auflistung zeigt bereits, dass das Spektrum der Inhalte und der Zielsetzungen sehr breit gefasst ist. Beispielhaft sei das erste EPA-Position-Statement erwähnt, dass sich mit dem Risiko kardiovaskulärer und metabolischer Erkrankungen bei Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen beschäftigt und diesbezügliche klinische Vorgehensweisen bezüglich Monitoring und Management beschreibt (De Hert et al. 2009). Dieses primär in Englisch publizierte Dokument wurde in verschiedene europäische Sprachen übertragen (Deutsch, Französisch, Spanisch, Niederländisch, Italienisch) und hat damit, der Sprachenvielfalt Europas entsprechend, weitgehende Akzeptanz gefunden. Wichtig ist, dass dieses Positionspapier von 2 großen anderen europäischen medizinischen Gesellschaften, der European Association for the Study of Diabetes (EASD) und der European Society of Cardiology (ESC) mitgetragen wurde, eine für die EPA interessante Erfahrung und gleichzeitig auch Anerkennung insofern, als sie mit diesen »großen Schwesterngesellschaften« auf gleicher Augenhöhe verhandeln könnte. Die Auflistung der Präsidenten, zu denen u. a. Henning Saß gehörte, dem dieser Beitrag gewidmet ist, führt eine Reihe wichtiger und im europäischen und internationalen Raum anerkannter Wissenschaftler unseres Fachgebiets auf (. Abb. 35.1). Die Liste dieser Präsidenten, die natürlich nur eine sehr selektive Teilgruppe aller Wissenschaftler und Psychiatrieexperten der derzeitigen Psychiatrie Europas darstellt, macht deutlich, dass diese durchaus
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35 · Psychiatrie in Europa
35
. Tab. 35.1 EPA Position/Guidance Papers Author
Title of Guidance Paper
Status
De Hert el al.
Cardiovascular disease and diabetes in people with severe mental illness: Position statement from the European Psychiatric Association (EPA), supported by the European Association for the Study of Diabetes (EASD) and the European Society of Cardiology (ESC)
European Psychiatry 2009, 24:412–424
Möller et al.
EPA Position statement on the value of antidepressants in the treatment of unipolar depression
European Psychiatry 2010, in print
Gaebel et al.
EPA Guidance Paper on Quality of Mental Health Services
European Psychiatry 2010, in print
Bhugra a. Campio
EPA Guidance Paper on the Prevention of mental illness and promotion of mental health
Prefinal version
Höschl et al.
EPA Position paper on the Conflicts of interest
Prefinal version
Wasserman et al.
EPA Clinical guidance paper for the risk assessmet, care and treatment of suicidal patients
Prefinal version
. Abb. 35.1 AEP/EPA-Präsidenten
noch Schwergewichte auch unter internationaler Perspektive hervorbringt. Zur Zeit der Präsidentschaft von Cyril Höschl kam es, auf seine Anregung hin, zur Umbenennung der AEP zu EPA (European Psychiatric Association). Mit dieser Umbenennung sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass diese Psychiatriegesellschaft nicht nur eine Vereinigung von einzelnen Psychiatern verschiedener europä-
ischer Ländern darstellt, sondern dass sie sich als die europäische Fachgesellschaft im Hinblick auf die Definition und Entwicklung einer europäischen Psychiatrie versteht, analog zur »American Psychiatric Association« (APA). Die EPA will eine entsprechend bedeutsame Rolle in Europa einnehmen und gleichzeitig Sprachrohr der europäischen Psychiatrie in der Welt sein. Analog zu dieser Ziel-
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Kapitel 35 · Psychiatrie in Europa
setzung soll auch der Kongress der EPA zunehmend eine dem APA-Kongress entsprechende Rolle bekommen, der bekanntermaßen nicht nur tausende amerikanische Psychiater anzieht, sondern auch eine hohe Attraktionskraft auf Psychiater aus den europäischen, asiatischen und südamerikanischen Ländern hat. Es war der Wunsch, den AEP/ EPA-Kongress nicht nur hinsichtlich der Qualität und Attraktivität des wissenschaftlichen Angebots, sondern auch hinsichtlich der Zahl der Teilnehmer zunehmend auf das Niveau des APA-Kongresses zu bringen. Schon zu Zeiten von Henning Saß wurde der Begriff »European Congress of Psychiatry« entwickelt, um deutlich zu machen, dass es sich bei weitem nicht nur um einen AEP/EPA-Kongress handelt, sondern um einen Kongress, der den Anspruch erhebt, weit über die Fachgesellschaft hinaus europäische Psychiater anzuziehen. Beim letzten EPA-Kongress in München 2010 lag die Teilnehmerzahl bei ca. 3.600, für den im März 2011 stattfindenden EPA-Kongress in Wien wird, auf der Basis der bisherigen Anmeldungen und Abstrakteinreichungen, mit einer Teilnehmerzahl in einer Größenordnung von ca. 5.000 gerechnet. Es ist zu betonen, dass es sich hierbei um Psychiater bzw. Psychologen oder andere akademisch ausgebildete Berufsgruppen handelt, die im Feld der Psychiatrie tätig sind. Schon seit vielen Jahren hat sich die EPA bemüht, sich mit Kursen, die im Rahmen des EPAKongresses angeboten wurden bzw. die auch im Rahmen nationaler Kongresse veranstaltet wurden, hinsichtlich der Weiterbildung im Sinne einer europäischen Psychiatrie zu betätigen. Die Aktivitäten werden weitergeführt. Sie werden obendrein durch das Konzept einer »EPA-Akademie«, die u. a. jährlich in einer »summer school« bestimmte Themen intensiv bearbeitet, bereichert. Prof. H. Saß hat sich seit vielen Jahren für die Organisation dieser edukativen Maßnahmen besonders eingesetzt. z
Der Weg von der EPA zur Integration der nationalen Psychiatriegesellschaften in Europa
In den letzten 2 Jahren hat sich der EPA-Vorstand besonders bemüht, eine stärkere Verbindung zu den nationalen Psychiatriegesellschaften in Europa herzustellen. In dem Zusammenhang wurde der Status des »corporate membership« einge-
führt und 2010 von der »EPA General Assembly« als Veränderung der EPA-Konstitution gebilligt. Dieses Konzept sollte zunächst Anreiz dazu geben, eine engere und formalisierte Verbindung zu den nationalen Psychiatriegesellschaften in Europa herzustellen, verbunden u. a. mit wechselseitiger Hilfe bei der Bewerbung von Kongressen, Berücksichtigung der Aktivitäten und Interessen der einzelnen Gesellschaften, Stärkung des europäischen Gedankens in der Psychiatrie etc. Eine politische Macht im Sinne der EPA-Führungsstrukturen sollte damit zunächst nur in eingeschränktem Maße verbunden sein. Zunächst wurde lediglich ein »Council« als neues Strukturelement der EPA gegründet, in das die einzelnen »corporate members« ihren Präsidenten entsenden. Der vom Council gewählte Chairman ist Mitglied im »EPA Board« und kann so zur politischen Meinung und Willensbildung der EPA beitragen. Das »corporate membership« wurde sehr schnell von den Fachgesellschaften für allgemeine Psychiatrie in den einzelnen europäischen Ländern angenommen. Derzeit sind 19 Gesellschaften Europas »corporate members«, weitere 5 haben diesen Status beantragt, müssen aber 2011 noch von derGeneral Assembly bestätigt werden (. Tab. 35.2) Zugegebenermaßen stieß das Konzept des Corporate-membership-Status neben der positiven Resonanz auch relativ schnell auf die Kritik, dass die politische Mitwirkung innerhalb der EPA zu gering sei und dass deshalb eine weitergehende Integration erreicht werden muss mit stärkerer politischer Beteiligung. Das war in der Tat auch von vornherein die Vorstellung seitens der EPA; das Corporatemembership-Konzept war nur als ein Übergangsstadium gedacht. Im Sinne dieser Bedürfnislage auf beiden Seiten wird zurzeit sehr intensiv daran gearbeitet, eine Föderation der nationalen Psychiatriegesellschaften (Federation of European Psychiatric Associations, FEPA) zu gründen, und zwar nicht als autarke Gesellschaft, sondern innerhalb der EPA. Um das zu erreichen, muss die EPA bereit sein, einen Teil der politischen Macht abzugeben und ihre eigenen Strukturen im Sinne eines 2-KammernSystems zu verändern. Im Exekutivkomitee und im Board besteht die Meinung, dass diese Entwicklung aus grundsätzlichen Überlegungen notwendig sei, um der europäischen Psychiatrie eine einheitliche
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35 · Psychiatrie in Europa
35
. Tab. 35.2 Nationale Psychiatriegesellschaften, die „corporate members“ der EPA sind 1
Österreich
Austrian Association for Psychiatry and Psychotherapy
2
Belgien
Flemish Psychiatric Association
3
Tschechische Republik
Czech Psychiatric Association
4
Finnland
Finnish Psychiatric Association
5
Frankreich
French Congress of Psychiatry
6
Deutschland
German Association for Psychiatry and Psychotherapy
7
Griechenland
Hellenic Psychiatric Association
8
Irland
The College of Psychiatry of Ireland
9
Israel
Israeli Psychiatric Association
10
Italien
Italian Psychiatric Association
11
Litauen
Lithuanian Psychiatric Association
12
Portugal
Portugese Society of Psychiatry and Mental Health
13
Russland
Russian Society of Psychiatrist
14
Serbien
Serbian Psychiatric Association
15
Slowakei
Slovak Psychiatric Association
16
Slowenien
Psychiatric Association of Slovenia
17
Spanien
Spanish Society of Psychiatry
18
Schweiz
Swiss Society of Psychiatry and Psychotherapy
19
Großbritannien
Royal College of Psychiatrists
Noch zu bestätigen: 20
Weißrussland
Belarus Psychiatric Association
21
Lettland
Latvian Psychiatric Association
22
Rumänien
Romanian Psychiatric Association
23
Spanien
Spanish Association of Neuropsychiatry
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Türkei
Turkish Association of Psychiatry
Stimme und damit mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Einflussmöglichkeiten in Brüssel (z. B. europäische Wissenschaftsförderung) zu geben. Es ist zu hoffen, dass diese Entwicklung realisiert werden kann und nicht an persönlichen und partikularen Interessen scheitert. Wichtig ist im Rahmen dieser Entwicklung auch, dass eine noch stärkere EPA noch besser geeignet ist, im Wettbewerb mit den anderen europäischen medizinischen Fachgesellschaften auf der europäischen Ebene zusammenzuarbeiten und dabei die Interessen der Psychiatrie intensiv zu
vertreten. Die EPA ist zudem bereits Mitglied verschiedener europäischer medizinischer Organisationen bzw. arbeitet mit ihnen zusammen: 4 European Union of Medical Specialists (UEMS): vorwiegend fokussiert auf Weiterbildung/Fortbildung 4 Alliance for Biomedical Research in Europe: gegründet 2010, vorwiegend fokussiert auf medizinische Forschungsaktivitäten und diesbezügliche Lobbytätigkeiten in Brüssel
226
Kapitel 35 · Psychiatrie in Europa
. Abb. 35.2 Erstes Forum der European Medical Societies in Stockholm, Schweden, 1. Dezember 2009. Basierend auf diesem Meeting wurde die Alliance of Biomedical Research in Europe 2010 gegründet
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4 European Brain Council (EBC): vorwiegend fokussiert auf ZNS-Forschungsaktivitäten und diesbezügliche Lobbytätigkeiten in Brüssel 4 WHO Europe Auf die Zusammenarbeit mit der europäischen kardiologischen Gesellschaft und der europäischen Diabetesgesellschaft wurde bereits hingewiesen. Diese Zusammenarbeit führte 2009 zur Einladung in das erste Forum der European Medical Society (. Abb. 35.2). Dieses Treffen war die Basis der Gründung der Alliance for Biomedical Research in Europe.
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35 · Psychiatrie in Europa
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Leitlinien bei psychischen Erkrankungen am Beispiel der Depression Mathias Berger, Frank Schneider, Christian Klesse, Martin Härter
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_36, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Unterschiedliche Behandlungstraditionen, Schulausrichtungen und berufspolitische Interessen haben die Fertigstellung der S3-Leitlinien »Unipolare Depression« zu einem anspruchsvollen Vorhaben gemacht. Es ist allen Beteiligten Respekt zu zollen, dass es zu einem allgemein akzeptierten Konsens gekommen ist, der die Basis für eine erfolgreiche Implementierung der Leitlinien und damit einer zu erwartenden Verbesserung der Versorgung depressiv Kranker darstellt. Die Tatsache, dass der Gemeinsame Bundesausschuss der Versorgung von depressiven Patienten inzwischen prioritäre Bedeutung zumisst, lässt erhoffen, dass sich die organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen der Depressionsbehandlung in absehbarer Zeit verbessern. Dies sollte die Umsetzung der S3-Leitlinien eher ermöglichen, als es im Moment z. B. durch die sehr geringe Finanzierung der ambulanten Depressionsbehandlung in psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxen oder die schwer nachvollziehbare Trennung in stationäre Akut- und Rehabilitationsbehandlung möglich ist.
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Wie bei vielen anderen psychischen Störungsbildern, etwa Angst- oder Zwangserkrankungen, konnten u. a. eigene Studien aufzeigen, dass die Versorgung depressiver Patienten in Deutschland stark verbesserungsbedürftig ist. Dies betrifft nicht nur zu niedrige Erkennungsraten, sondern auch die Qualität der Akutbehandlung, Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe zu (Schneider et al. 2004; Härter et al. 2006). Es gibt inzwischen einen breiten internationalen Konsens, dass auf wissenschaftlichen Evidenzen und klinischem Konsens basierende Leitlinien eine entscheidende Voraussetzung für die Verbesserung der Versorgungssituation im Gesamtbereich der Medizin darstellen (Ollenschläger et al. 1999). In Deutschland hat die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) die Aufgabe übernommen, in Form der sog. S3-Leitlinienstandards für Fachgesellschaften und Berufsverbände zu erarbeiten, wie solche qualitativ hochstehenden, allgemein verbindlichen Leitlinien zu erstellen sind. Die AWMF moderiert in der Regel die einzelnen Erstellungsprozesse. Inzwischen gibt es in Deutschland annähernd 100 S3Leitlinien im gesamten Bereich der Medizin.
Bei psychischen Erkrankungen erfolgte auf Initiative der DGPPN in einem ersten Schritt die Erstellung von S3-Leitlinien zur Schizophrenie und ab 2005 zu unipolaren Depressionen. Letztere wurden Ende 2009 publiziert. Wegen der gesundheitspolitischen Bedeutung depressiver Erkrankungen wurden auf Initiative des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ) die S3-Leitlinien zu einer Nationalen Versorgungsleitlinie erweitert und damit durch Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung und AWMF als evidenzbasierte Entscheidungshilfen, z. B. für ein mögliches Disease-Management-Programm »Depression« oder für integrierte Versorgungsnetze publiziert. Durch diesen Schritt wurde die Wertigkeit der S3-Leitlinien Depression deutlich gesteigert. Bisher gibt es nationale Versorgungsleitlinien zu den Themen »Asthma und COPD«, »Typ-2-Diabetes« (Nephropathie, Netzhautkomplikationen, Fußkomplikationen und Neuropathie), »Herzinsuffizienz«, »Koronare Herzkrankheit« und »Kreuzschmerz«. An dem vierjährigen Prozess der Leitlinienerstellung waren insgesamt 29 Fachgesellschaften, Berufsverbände, Patienten- bzw. Angehörigenverbände und weitere Organisationen beteiligt. Entsprechend den Vorgaben der AWMF gab es ein an der Universitätsklinik Freiburg angesiedeltes Koordinationsteam, eine überregionale Steuergruppe, in der Vertreter des ÄZQ, der AWMF und der wichtigsten Fachgesellschaften vertreten waren, sowie die zentrale Konsensusgruppe mit allen Beteiligten, in der die vom Koordinationsteam und der Steuergruppe vorbereiteten Texte in insgesamt 14 moderierten Treffen diskutiert und in Form von 107 sog. Statements und Empfehlungen konsentiert wurden. Die Empfehlungen basieren einerseits auf der synoptischen Integration internationaler und nationaler Leitlinien (insgesamt 6), wobei als zentrale Quellleitlinie die britische NICE-Guideline (2004, Revision 2009) fungierte. Andererseits wurden, wenn Empfehlungen aus den vorliegenden Leitlinien keine hinreichende Antwort auf die Schlüsselfragen gaben bzw. nicht auf das deutsche Versorgungssystem passten, systematische Literaturrecherchen insbesondere nach Metaanalysen, systemischen Übersichtsarbeiten und randomisiert-kontrollierten Studien vorgenommen. Diese Arbeit erfolgte initial durch das Koordinati-
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onsteam, die Ausformulierung der resultierenden Empfehlungen durch die Steuergruppe und die Konsentierung wurde in den Konsensusgruppentreffen vorgenommen. z
Zentrale Statements und Empfehlungen der S3-Leitlinien
Bezüglich der Diagnostik wird in den Leitlinien eine präzise Orientierung an den ICD-10-Kriterien und die Anwendung von Screeninginstrumenten bei sog. Risikogruppen (z. B. Patienten mit chronischen körperlichen Erkrankungen), wie etwa des 2-Fragen-Tests der WHO, empfohlen (Härter et al. 2010a/b). Neben dem Ausschluss organischer Verursachung depressiver Störungen legen die S3Leitlinien besonderen Wert auf die frühzeitige Erkennung von Suizidalität. Die therapeutischen Empfehlungen werden durch eine besondere Hervorhebung der Notwendigkeit der partizipativen Entscheidungsfindung auch bei depressiven Erkrankungen eingeleitet. Das heißt, bei allen therapeutischen Vorgehensweisen sollte zuvor mit dem Patienten über die Vorund Nachteile der spezifischen Behandlungsoptionen gesprochen und gemeinsam das Vorgehen entschieden werden. In diesem Zusammenhang wird besonders auch auf den Einsatz psychoedukativer Angebote für Betroffene und Angehörige hingewiesen. Entsprechend den NICE-Leitlinien wird insbesondere für den hausärztlichen Bereich initial bei leichten depressiven Störungen zunächst ein aktiv abwartendes Begleiten (»watchful waiting«) empfohlen. Das heißt, nach einer edukativen Information des Patienten über Depressionen und die Exploration besonders belastender Lebensumstände sollte zumindest 14 Tage abgewartet werden, ob es zu einer Besserung der Symptomatik kommt, bevor an eine spezifische pharmakologische oder psychotherapeutische Behandlung gedacht wird (Gensichen et al. 2011). Bei leichten depressiven Episoden, die länger als 14 Tage anhalten, wird in den S3-Leitlinien nicht die Gabe von Antidepressiva als »First-line-Therapie« empfohlen, wenn es nicht die ausdrückliche Präferenz des Patienten darstellt. Vielmehr legen die Leitlinien eher eine psychotherapeutische Behandlung nahe, da das Nutzen-Risiko-Verhältnis besser als bei einer An-
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tidepressivabehandlung ist. Bei mittelgradigen Depressionen soll eine Pharmako- oder alternativ eine Psychotherapie angeboten werden. Dagegen sollte bei schweren Depressionen eine antidepressive Medikation dem Patienten angeboten werden, da insbesondere die Kombinationstherapie aus Pharmako- und Psychotherapie bei schweren depressiven Störungen einer reinen psychotherapeutischen Behandlung, etwa mit kognitiver Verhaltenstherapie oder interpersoneller Psychotherapie, überlegen ist. Eine kombinierte Behandlung wird in den Leitlinien insbesondere auch für chronische Depressionen wie Dysthymien, Double Depression oder einer depressiven Episode, die länger als 2 Jahre anhält, empfohlen. Die S3-Leitlinien schlagen regelmäßige Zeitfenster für die Wirkungsprüfungen und eine rechtzeitige Reaktion bei nicht ausreichender Wirkung bzw. Nonresponse vor. Das heißt, spätestens nach 3–4 Wochen empfehlen die Leitlinien eine symptombezogene Wirkungsüberprüfung bei einer antidepressiven Pharmakotherapie. Stellt sich zu diesem Zeitpunkt keine positive Entwicklung (Response oder Remission) ein, sollte ein bislang unwirksames Vorgehen nicht unverändert fortgesetzt werden. Bei Nichtansprechen auf eine Pharmakotherapie kommen prinzipiell 5 Strategien in Betracht: 1. Bestimmung der Serumkonzentration mit anschließender Dosisadaptation 2. Dosiserhöhung 3. Augmentation mit einem anderen Pharmakon 4. Wechsel des Antidepressivums 5. Kombination mit einem anderen Pharmakon Dabei wird eine Dosissteigerung für trizyklische Antidepressiva und Venlafaxin, nicht aber für Serotonin-Wiederaufnahmehemmer empfohlen, wenn der Spiegel bereits im therapeutischen Bereich liegt. Eine besondere Empfehlung stellt die Augmentation einer Antidepressivamedikation mit Lithium dar (am besten belegt). Eine Kombination von zwei Antidepressiva wird nur für Mirtazapin mit einem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder einem trizyklischen Antidepressivum empfohlen. Bezüglich der Psychotherapien werden die derzeitigen Richtlinienverfahren, d. h. die kognitive Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologisch fun-
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Kapitel 36 · Leitlinien bei psychischen Erkrankungen am Beispiel der Depression
dierte Psychotherapie und die analytische Psychotherapie sowie die noch nicht in die kassenärztliche Vergütung aufgenommene interpersonelle Psychotherapie, einbezogen (Klesse et al. 2010). Dabei wird nicht – wie in den NICE-Leitlinien – eine Empfehlung für eine »First-line-Behandlung« mit KVT oder IPT vorgenommen, sondern es werden allgemeine Empfehlungen zur Psychotherapie ausgesprochen, zusätzlich werden in zahlreichen Tabellen die unterschiedlichen Evidenzgrade zu den Verfahren mittels der einbezogenen Metaanalysen und Studien aufgeführt. Dabei ist diesen Tabellen zu entnehmen, dass die Evidenzlage für kognitive Verhaltenstherapie und interpersoneller Psychotherapie zur Zeit am umfassendsten ist. Für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie liegen wenige Studien, für die analytische Psychotherapie bislang keine randomisiert-kontrollierten Studien vor. z z Red Flags
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Die Leitlinie fokussiert auf Situationen, bei denen eine bislang eingesetzte therapeutische Maßnahme entweder nicht mehr fortgesetzt oder zumindest überprüft werden sollte (Härter et al. 2010a): 1. Nach 3–4 Wochen erfolgloser (leitliniengerechter) Pharmakotherapie Überprüfung des therapeutischen Vorgehens (bei älteren Patienten nach 6 Wochen) 2. Nach 6 Wochen erfolgloser hausärztlicher Behandlung Überweisung in fachspezifische Behandlung 3. Nach 3 Monaten erfolgloser Psychotherapie Überweisung zum Facharzt 4. Nachuntersuchung von Patienten, die wegen Suizidalität stationär behandelt wurden, maximal eine Woche nach Entlassung (direkte Kontaktaufnahme, wenn Termin nicht wahrgenommen wird!) z z Pharmakotherapie bei besonderen Patientengruppen
In diesem Zusammenhang ist vor allen Dingen erwähnenswert, dass die genaue Literaturrecherche erbrachte, dass bei komorbiden somatischen Erkrankungen wie koronaren Herzerkrankungen, Schlaganfall, Tumorerkrankungen oder Diabetes mellitus und einer Depression die Evidenzlage be-
züglich Studien sehr limitiert ist. Die bisherigen Evidenzen sprechen eher für Medikamente als für Psychotherapie, vor allen Dingen für SerotoninWiederaufnahmehemmer (Härter et al. 2010a). z z Schnittstellen in der Versorgung
Die S3-Leitlinien nehmen bezüglich der Schnittstelle Rücksicht auf die bestehenden Versorgungsund Vergütungsstrukturen, insbesondere die Aufteilung in ambulante, stationäre und rehabilitative Versorgungsstrukturen und wiederum hier auf die Vergütungsformen in den unterschiedlichen Bereichen. Die Schnittstelle zwischen Hausarzt und Facharzt wird besonders gewürdigt, wobei vor allen Dingen die Überweisung eines Patienten nach sechswöchiger erfolgloser Therapie vom Hausarzt zur fachspezifischen Behandlung (»red flag«) hervorgehoben wird. Als Indikation zur stationären Behandlung werden akute Suizidalität, die Gefahr der depressionsbedingten Isolation, schwerwiegende psychosoziale Faktoren, die die Therapie massiv behindern, und Therapieresistenz gegenüber ambulanten Behandlungen mit der Gefahr der Chronifizierung aufgeführt. z
Vergleich der englischen NICE und der deutschen S3-/NVL-Leitlinien
Von den NICE-Leitlinien (NICE 2004) wurde das sog. »watchful waiting« bei leichten Depressionen übernommen und dürfte v. a. für den hausärztlichen Bereich relevant sein, d. h. eine gewisse Zurückhaltung bezüglich rascher medikamentöser Behandlung oder Überweisung zu einer Richtlinienpsychotherapie bedingen. Entgegen den NICE-Leitlinien wird in den deutschen Leitlinien nicht die Anwendung von internetbasierten Therapien empfohlen, insbesondere da hierfür noch nicht die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen sind. Anders als in den NICE-Leitlinien wurden in Deutschland keine Empfehlungen für KVT oder interpersonelle Psychotherapie als sog. »First-line-Psychotherapien« ausgesprochen. Im Gegensatz zu den NICE-Leitlinien wurde in den S3-Leitlinien auf eine primäre Empfehlung von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern verzichtet und generell von Antidepressiva gesprochen. Präparatebezogene Empfehlungen gab es nur bei der Kombinationstherapie im Hinblick auf Mirtazapin
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36 · Leitlinien bei psychischen Erkrankungen am Beispiel der Depression
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sowie auf die Empfehlung der Dosissteigerung von Venlafaxin und trizyklischen Antidepressiva bei nicht ausreichender Response nach 3–4 Wochen sowie beim Einsatz bei komorbiden somatischen Erkrankungen. Besonders hervorzuheben sind die für die Versorgung sehr relevanten Empfehlungen der deutschen Leitlinien zu »red flags«, die es in den NICE-Leitlinien bislang nicht gibt. Bei ihrer Umsetzung in den klinischen Alltag ist eine deutliche Verbesserung der Versorgung insbesondere im Hinblick auf die Nutzung von vernetzten Strukturen zu erwarten.
bunden. Erste Ergebnisse zeigen gegenüber der Regelbehandlung wesentlich höhere Remissionsraten. Ein weiteres Projekt im Rahmen des Programms der Bundesregierung »Gesundheitsregionen der Zukunft« untersucht derzeit die Implementierung der S3-/Nationalen Versorgungsleitlinie »Unipolare Depression« in einem gestuften (stepped care) Versorgungsmodell in der Region Hamburg (www. psychenet.de).
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Bauer MS (2002) A review of quantitative studies of adherence to mental health Clinical Practice Guidelines. Harvard Rev Psychiatry 10:138–153 DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BapK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW (Hrsg) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression (2009) S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, 1. Aufl. DGPPN, ÄZQ, AWMF, Berlin, Düsseldorf Gensichen J, Härter M, Klesse C, Bermejo I, Bschor T, Harfst T, Hautzinger M, Kolada C, Kopp I, Kühner C, Lelgemann M, Matzat J, Meyerrose B, Mundt C, Ollenschläger G, Richter R, Schauenburg H, Schmidt K, Schulz H, Weinbrenner S, Schneider F, Berger M, Niebling W (2011) Die NVL/S3Leitlinie Unipolare Depression – was ist wichtig für die hausärztliche Praxis? Zeitschrift für Allgemeinmedizin, DOI 10.3238/zfa.2011.0223 Härter M, Bermejo I, Ollenschläger G, Schneider F, Gaebel W, Hegerl U, Niebling W, Berger M (2006) Improving quality of care for depression: the German Action Programme for the implementation of evidence-based guidelines. Int J Qual Health Care18:113–119 Härter M, Klesse C, Bermejo I, Bschor T, Gensichen J, Harfst T, Hautzinger M, Kolada C, Kopp I, Kühner C, Lelgemann M, Matzat J, Meyerrose B, Mundt C, Niebling W, Ollenschläger G, Richter R, Schauenburg H, Schulz H, Weinbrenner S, Schneider F, Berger M (2010a) Evidenzbasierte Therapie der Depression – Die S3-Leitlinie unipolare Depression. Nervenarzt 81:1049-1068 Härter M, Klesse C, Bermejo I, Schneider F, Berger M (2010b) Unipolare Depression - Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie aus der aktuellen S3- und Nationalen VersorgungsLeitlinie »Unipolare Depression«. Dtsch Ärztebl Int 107(40):700–708 Hepner KA, Rowe M, Rost K, Hickey SC, Sherbourne CD, Ford DE, Meredith LS, Rubenstein LV (2007) The Effect of Adherence to Practice Guidelines on depression Outcomes. Ann Intern Med 147:320–329 National Institute of Clinical Excellence (NICE) (2004) National Clinical Practice Guideline Depression. NICE, London Klesse C, Berger M, Bermejo I, Bschor T, Gensichen J, Harfst T, Hautzinger M, Kolada C, Kühner C, Matzat J, Mundt C, Niebling W, Richter R, Schauenburg H, Schulz H, Schnei-
Implementierung der Leitlinien
Umfangreiche Studien haben aufgezeigt, dass die alleinige Abfassung und Publikation von Leitlinien in der Regel nicht zu einer Verbesserung der Versorgung führt (Bauer 2002; Hepner et al. 2007). Vielmehr muss eine systematische Implementierung der Leitlinien an unterschiedlichen Stellen des Versorgungssystems, möglichst auch mit finanziellen Anreizen, erfolgen (Schneider et al. 2005). In Deutschland wurden bereits neben der Publikation der Gesamtfassung der S3-Leitlinien im Internet eine deutsche und englische Kurzfassung4, eine Übersichtspublikation im Deutschen Ärzteblatt (Härter et al. 2010b), eine internetfähige Kurzversion (www.depression-leitlinie.de) sowie Leitlinien für Patienten und Angehörige5 distribuiert. In weiteren Schritten sollen Leitlinien in Computerprogramme für Arztpraxen und Kliniken installiert werden. Außerdem sollten sich Qualitätszirkel von Ärzten und Fortbildungsveranstaltungen an den S3-Leitlinien, z. B. über Veranstaltungen der Fort- und Weiterbildungsakademien der Bezirksund Landesärztekammern orientieren. Es wurde in Freiburg ein IV-Netz Depressionen mit einer Krankenkasse etabliert, bei dem Fortbildung, Qualitätszirkel sowie die Überweisungs- und Kooperationswege zwischen Hausärzten und Fachärzten nach den S3-Leitlinien erfolgen. Die Teilnahme an diesem Netz ist sowohl für Hausärzte als auch für Fachärzte mit einer deutlich verbesserten finanziellen Vergütung der Behandlungsmaßnahme ver4 http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/depression 5 http://www.versorgungsleitlinien.de/patienten/pdf/nvldepression-patienten.pdf
Literatur
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Kapitel 36 · Leitlinien bei psychischen Erkrankungen am Beispiel der Depression
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Evidenzbasierte Psychiatrie – Möglichkeiten und Grenzen Michael Musalek
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_37, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 37 · Evidenzbasierte Psychiatrie – Möglichkeiten und Grenzen
In einer sich am Positivismus orientierenden Evidencebased Medicine (EbM) wird die statistische Signifikanz zum alles entscheidenden Kriterium, womit die Empirie auf kontrollgruppengesicherte Kohortenuntersuchungen reduziert wird und Wahrscheinlichkeitsbeziehungen zu medizinischen Wahrheiten werden. Die Human-based Medicine (HbM) ist im Gegensatz zur EbM den Maximen der Postmoderne verpflichtet. Eine Human-based Psychiatry (HbP) als Tochter der Human-based Medicine (HbM) kann damit wieder auf den ganzen Menschen fokussieren. An die Stelle eines analytisch-medizinischen Monologs tritt warmherziger Dialog; dort wo »Psychoedukation« war, soll sich vertieftes, auf dem Prinzip der Reziprozität beruhendes Verstehen entwickeln. Die Behandlung des Einzelnen selbst folgt dabei nicht mehr ausschließlich defizienz-, sondern ganz wesentlich auch ressourcenorientierten Strategien, womit nicht mehr nur wie in einer evidenzbasierten Indikationsmedizin das Krankheitskonstrukt, sondern wieder der ganze Mensch zum Maß aller Dinge wird.
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Die evidenzbasierte Psychiatrie (EbP), deren Geburtsstunde üblicherweise mit der Publikation von D. L. Sackett und Mitarbeitern (1985) vom Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics der Mac Master-University Hamilton (Ontario/Canada) zur EbM aus dem Jahre 1985 festgelegt wird, bewegt sich im Spannungsfeld von Bewunderung und Verherrlichung einerseits und Dämonisierung bzw. Ablehnung andererseits (Jonitz 2007; Kunz et al. 2007; Raspe 2007). Es ist schon bemerkenswert, dass diese oft auch als neue Psychiatrie hochgelobte EbP von einem Epidemiologen, also von einem vorzugsweise in der Forschung Schaffenden und nicht von einem hauptsächlich in der klinischen Praxis Tätigen in die medizinische Welt gesetzt wurde. Das mag auch einer der Gründe dafür sein, dass diese Form der Medizin, die man eigentlich wahrheitsgetreuer als »statistikbasierte Medizin« zu bezeichnen hätte, wesentlich mehr Befürworter im universitären Bereich zählt, während sich ihre Kritiker vor allem aus der Gruppe der klinischen Praktiker rekrutieren. Trotz aller berechtigten Kritik darf aber nicht vergessen werden, dass die EbM und damit auch ihre Tochter, die EbP, in jedem Fall einen Meilenstein im medizinischen Fortschritt markiert. Nur mit ihrer Hilfe gelang es, die bis da-
hin im Übermaß vorherrschende eminenzbasierte Psychiatrie zu überwinden, eine Psychiatrie, in der einige wenige als hochrangig ernannte und als unumstritten anerkannte Eminenzen vorgaben, was denn medizinischer Standard zu sein habe. In der heute gültigen Fassung der Evidenzkriterien des (Deutschen) Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ) werden insgesamt 5 Grade der Evidenz festgelegt, wobei allerdings nur die ersten 3 als für evidenzbasiertes medizinisches Vorgehen geeignet angesehen werden, während die letzten beiden als nur »niedrige Evidenzen« desavouiert werden. Der höchste Grad der Evidenz (1) ist dann erreicht, wenn ausreichende Nachweise für die Wirksamkeit aus systematischen Überblicksarbeiten (Metaanalysen) von zahlreichen randomisiert-kontrollierten Studien zur Verfügung stehen. Gibt es Nachweise für die Wirksamkeit aus zumindest einer randomisierten, kontrollierten Studie, entspricht das dem Evidenzgrad 2. Wenn zumindest Nachweise für die Wirksamkeit aus methodisch gut konzipierten Studien, ohne randomisierte Gruppenwahl, erzielt werden können, darf noch von einem Evidenzgrad 3 gesprochen werden. Demgegenüber ist klinischen Wirksamkeitsberichten (Evidenz Grad 4a) oder Wirksamkeitsausweisen, die auf der Basis der Meinung respektierter Experten bzw. aufgrund klinischer Erfahrungswerte und/oder von Berichten von Expertenkomitees erstellt wurden (Evidenzgrad 4b), nur mehr geringe Evidenz zu bescheinigen (s. auch: www.aezq.de). Evidenz wird hier ganz offensichtlich mit statistischer Signifikanz gleichgesetzt: Statistische Signifikanzen, die aus Vergleichen verschiedener statischer Kohortenuntersuchungsberechungen stammen, also »statistische Signifikanzen der statischen Signifikanzen«, werden als höchstes Evidenzniveau (Grad 1) und damit als erlesenstes wissenschaftliches Wahrheitsniveau festgelegt. Das steht allerdings in krassem Gegensatz zu dem, was man üblicherweise unter Evidenz versteht. Das Wort Evidenz stammt vom lateinischen »evidentia« und heißt so viel wie herausscheinend, Einsichtigkeit, Klarheit. Im Lexikon der philosophischen Begriffe finden wir Evidenz definiert als eine »im allgemeinen Sinne unmittelbare Gewissheit, ein Offenbarsein, Einleuchten, ein Sichzeigen eines Gegenstandes oder Sachverhaltes und
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das damit gegebene geistige ‚Sehen‘, Einsehen. Evidenz steht damit im Gegensatz zur diskursivbegrifflichen Einsicht« (Ulfig 1999). Im Schischkoff ' schen Philosophischen Wörterbuch wird Evidenz als »Augenscheinlichkeit«, als »höchste, im Bewusstsein erlebte und zur Gewissheit führende Einsichtigkeit«, als das, was dem Denken und der Erkenntnis »einleuchtet«, definiert. »Man unterscheidet zwischen psychologischer Evidenz (Gefühl des Überzeugtseins) und logischer Evidenz, die die Überzeugung von der Gültigkeit des Urteils verleiht. Für die Wesenserfassung im phänomenologischen Sinn ist die Evidenz von besonderer Wichtigkeit.« (Schischkoff 1991). Beide Definitionen sind damit weit davon entfernt, was heute in der Medizin als Evidenz bezeichnet wird und womit bereits eine erste Sprach- und Begriffsverwirrung im Umfeld der EbM erkennbar wird. Der Begriff Evidenz ist in der deutschen Gegenwart untrennbar mit Edmund Husserl verbunden, der diesem Begriff in seiner Epistemologie zentrale Bedeutung einräumte. Er meint damit »die Selbstgegebenheit eines intentional Vermeinten für ein unmittelbar anschauendes, erfassendes Bewusstsein; sie ist als unmittelbare Evidenz das Sichzeigen eines Sachverhalts an sich selbst (‚originäre Selbstgegebenheit‘)« (Husserl 1999) (s. auch Ulfig 1999) und unterscheidet 2 Formen derselben: die prädikative Evidenz, die Einsichtigkeit von Urteilen, wobei Urteile immer das Ergebnis einer aktiven Idealisierungsleistung sind, und die vorprädikative bzw. lebensweltliche Evidenz, die genetisch in passiven Erfahrungen von individuellen Gegenständen ihr Fundament hat und selbst Fundament der prädikativen Evidenz ist. Auch wenn der Urmodus der wissenschaftlichen Evidenz immer die Wahrnehmung bleibt, handelt es sich dabei demnach aber um Urteile und damit immer auch um Ergebnisse von aktiven Idealisierungsprozessen – eine Einsicht, die von fundamentalistischen Vertretern der EbM, die Evidenzbasiertes so gern als Objektives, also als von jedweder subjektiver Kontamination freie objektive wissenschaftliche Wahrheit wähnen, nur allzu gern übersehen wird. Die Bedeutungsverwirrung um den Begriff »evidenzbasierte Medizin« wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass es sich dabei zweifelsohne um ein Konzept handelt, das im an-
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gelsächsischen Sprachraum entwickelt wurde. Nun bedeutet aber das englische Wort »evidence« keineswegs das, was man mit Evidenz in der deutschen Sprache verbindet. Evidence steht im Englischen für »Beweis«, wobei hier aber nicht der unumstößliche Beweis (»proof«), wie ihn die Mathematik, die Logik oder die Naturwissenschaft liefern, gemeint ist, sondern ein Beweis, wie er zum Beispiel bei Gericht vorgebracht wird (Kühlein u. Forster 2007). Verschiedene Beweise und Gegenbeweise bilden in ihrer Gesamtheit die Basis für ein abschließendes Urteil. Es handelt sich hier also nicht um Wahrheiten im engeren Sinn, sondern um Hinweise auf mögliche Wahrheiten, um Zeugnisse bzw. Belege. Evidenz kann damit immer nur mehr oder weniger glaubhaft sein, sie besitzt per se keine letztgültige Glaubwürdigkeit. In diesem Sinne führen uns Evidenzen mehr oder weniger zu dem, was wir als Wahrheit bezeichnen bzw. zu dem, was wir dann als Wirklichkeit ausweisen dürfen. Damit wird aber auch deutlich, wie weit dieser Evidencebegriff von dem entfernt ist, was heute in unseren Breiten der EbM angedichtet wird, nämlich die einzige objektive, »wissenschaftlich gesicherte« und damit »einzig wahre« Medizin zu sein. Gegen eine solche naive »Wissenschaftsgläubigkeit« von fundamentalistischen Vertretern der EbM wandte sich übrigens auch schon ihr Erfinder selbst. David Sackett schreibt in einem Artikel, der 1996 im British Medical Journal erschien (und dem leider weit weniger Beachtung geschenkt wurde als seiner ursprünglichen Publikation zur EbM aus dem Jahre 1985), dass eine evidenzbasierte Medizin keine »cookbook medicine« werden darf. Sie darf sich nicht in einem sklavischen Umsetzen von externen Evidenzen erschöpfen. Externe klinische Evidenz kann zwar informieren, aber nie die klinische Erfahrung ersetzen. Letztendlich muss es immer die individuelle klinische Beurteilung des erfahrenen Mediziners sein, die das Behandlungsgeschehen zu formen und prägen hat (Sackett 1996). Das Hauptproblem der EbM besteht demnach nicht so sehr in ihrem ureigensten Wesen, sondern in der Leugnung der ihr immanenten Problembereiche sowie in einer rigiden und phantasielosen Auslegung und Anwendung. Nur wer ihre Problemfelder kennt, kann EbM auch sinnvoll umsetzen.
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Kapitel 37 · Evidenzbasierte Psychiatrie – Möglichkeiten und Grenzen
Analysiert man das bisher unter dem Begriff evidenzbasierte Medizin Publizierte und Diskutierte, findet man sich mit 13 Hauptproblemkreisen konfrontiert. Probleme der evidenzbasierten Psychiatrie
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Statistische Signifikanz versus Wahrheit Reliabilität versus Validität Signifikanz versus Relevanz Selektion der Studienpatienten (»Einschlusskriterien«) Ausschlusskriterien Komorbiditäten Dauer der Studien (Behandlungsabbruch?) Studienziele(»symptom«, »suffering«, »quality of life« etc.) Outcomekriterien (»efficacy/efficiency«, »response/remission« etc.) Selektion der Studien (»Impact-Wahrheiten«) Interessensbias (»Wer finanziert welche Studie womit?«) Studiendesign (interventionell/nichtinterventionell) Übertragung der Qualitätssicherung in der Forschung auf die Qualitätssicherung in der klinischen Praxis (reduktionistische versus komplexe Ansätze)
Auf das erste Kernproblem, nämlich die Gleichsetzung bzw. Verwechslung von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, wurde bereits hingewiesen. Jedem, der sich mit den Grundbegriffen der Mathematik auseinandersetzt, ist es offensichtlich, dass mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung natürlich keine Wahrheiten, sondern eben immer nur Wahrscheinlichkeiten abgebildet werden können (Nestoriuc 2010). Ein Umstand, der von der naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrieforschung oftmals geleugnet wird. Ergebnisse von statischen Berechnungen werden hier von manchen durchaus auch als wissenschaftliche Beweise gefeiert, obwohl sie bestenfalls Indizien für bestimmte Sachzusammenhänge sein können. Durchforstet man die psychiatrischen Fachpublikationen (auch unter Einschluss solcher in sog. hochrangigen Wissenschaftsjournalen), dann findet man gar nicht selten Angaben wie »hochsignifikant« bzw. »noch höher signifikant« (manche weisen die »Höhe« der Signi-
fikanzen dann auch noch mit einem bzw. mehreren Sternchen aus). Hier wird offenbar das Signifikanzniveau als Wahrheitsschwelle aufgefasst: Einem Unterschied, der auf dem 0,1 %-Niveau signifikant ist, wird mehr Wahrheitsgehalt eingeräumt als einem auf dem 5 %-Niveau, wobei ganz außer Acht gelassen wird, dass sich die beiden Signifikanzniveaus nicht hinsichtlich eines vermeintlichen Wahrheitsgehalts, sondern nur bezüglich des Ausmaßes des Alpha- und Betafehlers unterscheiden. Bei Signifikanzberechnungen von Signifikanzberechnungen wie bei den sog. Metaanalysen zeigt sich deutlich, dass Wahrscheinlichkeit mit Wahrheit gleichgesetzt wird; ganz zu schweigen von dem zusätzlich wahrheitsverzerrenden Umstand, dass Studien, bei denen signifikante Unterschiede nachgewiesen werden können, eine weit größere Chance auf Publikation haben als solche, bei denen keine signifikanten Unterschiede erzielt wurden. Ein zweites Hauptproblem liegt in der immer wieder geäußerten Behauptung begründet, dass die externe Evidenz schon allein auch deshalb höher als die interne einzustufen wäre, weil »die Verlässlichkeit der Expertenmeinung aufgrund ihrer Varianz gering ist« (Kühlein u. Forster 2007). Es wird hier unzulässiger Weise ein hoher Grad an Reliabilität mit Validität gleichgesetzt, um daraus dann eine Evidenz mit Behandlungsrelevanz abzuleiten. Eine gute Vergleichbarkeit von Daten bzw. eine hohe Übereinstimmung von Studienergebnissen bedeutet aber keineswegs schon einen hohen Wahrheitsgehalt des Erhobenen: Von einer hohen Reliabilität von Studienergebnissen kann noch nicht auf deren Validität geschlossen werden. Schon gar nicht kann von einer guten Vergleichbarkeit von Daten auf deren Relevanz im klinischen Behandlungssetting, die ja eigentliche Zielsetzung jedweder Therapiestudien sein sollte, gefolgert werden, womit der dritte Hauptproblembereich angesprochen ist, nämlich die unstatthafte Gleichsetzung von Signifikanz und Relevanz (Musalek 2009). Darüber hinaus finden sich in der EbP mannigfache Probleme, die in den Durchführungsmodalitäten von Kohortenstudien ihren Ursprung haben. Hier wäre zum einen die Selektion von Studienpatienten zu nennen: Wer entschließt sich überhaupt, an einer Behandlungsstudie teilzunehmen (Problembereich 4)? Mit welchen »Ausschlusskriterien«
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wird das Untersuchungskollektiv eingeengt (Problembereich 5)? Welche »Komorbiditäten« werden zugelassen, welche werden kontrolliert, welche führen zum Studienausschluss (Problembereich 6)? Die sich daraus ergebenden Einschränkungen von Studienkollektiven führen dazu, dass Studienpatienten, wenn überhaupt, so dann nur in Ausnahmefällen als repräsentativ für jene Patienten anzusehen sind, die dann letztendlich in der klinischen Praxis mit den aus Therapiestudien abgeleiteten Behandlungsmodalitäten zu behandeln sind (Möller, im Druck). Der siebte Problembereich bezieht sich auf den Umstand, dass die überwiegende Mehrzahl der Behandlungsstudien nur relativ kurze Zeiträume umfassen. Die meisten Langzeitbehandlungsstudien dauern nicht länger als ein halbes bzw. selten ein ganzes Jahr. Der achte und der neunte Problemkreis entspringt den Zielsetzungen von Behandlungsstudien bzw. der Festlegung von »Outcomekriterien«. Ohne Zweifel macht es in der Beschreibung der Effektivität einer Behandlungsform einen enormen Unterschied, ob das Therapieziel Symptombeseitigung, Leidensminimierung, Wiedererlangen psychischer Gesundheit oder aber Verbesserung der Lebensqualität oder gar Erhöhung der Lebensattraktivität lautet. Ebenso kann bekanntermaßen auch nicht »Therapieresponse« mit »Remission« bzw. »efficacy« mit »efficiency« gleichgesetzt werden (Möller u. Broich 2010). In manchen Metaanalysen von Behandlungsstudien wird hier in der Unterscheidung derselben allerdings nicht immer mit der gebotenen Sorgfalt vorgegangen und allgemein von statistisch signifikanten positiven Effekten in den einzelnen Studien gesprochen, womit natürlich Aussageverzerrungen Tür und Tor geöffnet werden. Weitere Ergebnisschieflagen von Metaanalysen werden durch Publikationsselektionen (Problembereich 10) bzw. Interessensbias (Problembereich 11) bedingt. Studien, die in hochrangigen Wissenschaftsjournalen veröffentlicht werden, haben eine wesentlich größere Chance, in Metaanalysen aufgenommen zu werden, als solche, die in Zeitschriften mit niedrigen Impactpunkten publiziert werden; ganz so, als ob in Zeitschriften mit hohem Impactfaktor mehr Wahrheiten enthalten wären als in den restlichen mit niedrigen.
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Die Kreation von »Impactwahrheiten« erscheint noch fragwürdiger, wenn man sich die Mechanismen vor Augen hält, wie man hohe Impactfaktoren erzeugt, wie z. B. Erhöhung der Abonnentenzahl durch Vereine, konsequentes Anhalten der Autoren zur Eigenzitierung des Journals etc. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Durchführung von Behandlungsstudien immer auch erhebliche Geldmittel erfordert, womit verständlich wird, dass die Ausführung derselben von Interessenslagen der diese Geldmittel zur Verfügung Stellenden abhängig ist und daher manche der jeweiligen Studienkommissionen eine Durchführung »weniger interessant bzw. weniger wichtig erscheinender« Untersuchungen nicht unterstützen, wobei aber der Anschein entsteht, dass nur die durchgeführten Studien therapierelevante Bereiche abbilden. Das Gleiche gilt natürlich auch für den jeweiligen Aufwand der in einer bestimmten Studie aufzubringen bzw. zu finanzieren ist. So sind z. B. Behandlungsuntersuchungen mit interventionellem Studiendesign in der Regel wesentlich teurer als explorative Studien ohne prospektiv interventionelle Methodik (Problemkreis 12), womit die Interessenslage der Finanziers in Hinblick auf nachfolgend festgestellte hohe bzw. niedrige Evidenz noch mehr Brisanz erhält. Das alles überschattende Problem der evidenzbasierten Psychiatrie liegt allerdings in der direkten Übertragung von Maßnahmen zur Qualitätssicherung aus der Forschung auf die Qualitätssicherung in der klinischen Praxis (Problembereich 13). Forschungsvorhaben müssen naturgemäß reduktionistisch konzipiert werden; sie zielen also primär auf Vereinfachung des zu untersuchenden Gegenstands bzw. Prozesses hin. Separation, Reduktion und Abstraktion sind die Zauberworte der positivistischen empirischen Forschung. Demgegenüber ist in der klinischen Praxis vor Ort der Komplexität von Krankheitsprozessen sowie den mannigfachen Interaktionen zwischen Krankheitsprozessen, Behandlungsprozessen und Individualitäten der zu Behandelnden Rechnung zu tragen. Menschen sind in der klinischen Praxis nicht auf einfache Maschinen zu reduzieren, ihre Funktionsstörungen können daher in der Regel auch nicht mit einfachen Maßnahmen behoben werden. Schon allein deshalb wird es nie »Pilotenhandbücher« zur Behand-
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lung von kranken Menschen geben. Eine strikte, ausschließlich auf evidenzbasierte Daten sich gründende Medizin muss daher immer zu kurz greifen; sie kann nur dazu führen, dass dem Betroffenen letztendlich effektive Behandlungsmaßnahmen vorenthalten werden, wiewohl aber die komplexen Entscheidungen vom erfahrenen Kliniker in Eintracht mit den jeweiligen vom Patienten mit vorgegebenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten immer nur unter Miteinbeziehen aller derzeit zur Verfügung stehenden gesicherten Forschungsergebnisse sinnvoll zu treffen sind. Es kann demnach dem Begründer der evidenzbasierten Medizin, David Sackett, nur Recht gegeben werden, wenn er fordert, dass die evidenzbasierte Medizin einen »bottom up approach« braucht, der die bestmögliche externe Evidenz mit der individuellen klinischen Expertise und den Wahlmöglichkeiten des Patienten in Einklang bringt (Sackett 1996). So wichtig und unverzichtbar also die Errungenschaften einer evidenzbasierten Psychiatrie (EbP) sind, braucht sie doch eine Erweiterung um die Koordinaten einer humanbasierten Medizin (HbM), einer Medizin, in der nicht nur die Krankheit und ihre Behandlung, sondern wieder der ganze, von der Krankheit betroffene Mensch mit all seinen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ins Zentrum des Behandlungsinteresses rückt (Musalek 2008). Eine humanbasierte Psychiatrie (HbP) als Teildisziplin der HbM findet ihre theoretische Basis nicht mehr im Positivismus der Moderne, sondern fühlt sich den zentralen Maximen der Postmoderne verpflichtet: Letzte Wahrheiten bzw. Objektivität bei der Erfassung von Krankheitsursachen müssen uns schon aus theoretischen Überlegungen verwehrt bleiben; alles Sein ist immer kontextabhängig und damit veränderlich; die Sprache als Grundlage unseres Denkens ist mehrdeutig und verändert sich in und durch ihren Gebrauch, der Beobachter bleibt immer Teil des Systems, womit er selbst zur wesentlichsten Vorgabe der von ihm dann als »objektiv« bezeichneten Ergebnisse wird (Musalek 2009). Eine auf diesen Grundfesten aufbauende Medizin muss sich nicht zwangsläufig in einem wahrheits- und bezugspunktlosen »anything goes« verlaufen. Ganz im Gegenteil: Das Fehlen letzter Wahrheiten eröffnet die Möglichkeit zur simultanen Anerkennung unterschiedlicher, ja sogar
(vermeintlich) gegensätzlicher Wahrheiten, wie es sie im Rahmen einer mehrdimensionalen Diagnostik aufzufinden gilt. Sie ermöglicht damit auch – im Gegensatz zu der ihr in mancher Weise zwar nahestehenden aber doch noch weitgehend positivistischen Maximen verpflichteten »personenzentrierten Psychiatrie« (Cox u. Gray 2009) – die Fokussierung nicht nur auf das Konstrukt Person, sondern auf den ganzen Menschen. Aufgrund der wesentlichsten theoretischen Basis der HbP, der Kontextabhängigkeit allen Seins, wird die simultane Koexistenz mehrerer sich scheinbar widersprechender »Wahrheiten« möglich. Die EbM muss daher auch nicht in einem ausschließenden Gegensatz zur HbP verharren, sondern kann als eine der unverzichtbaren Quellen der HbP in ihr wirksam werden. Da der Hauptfokus der HbP nicht mehr nur das Krankheitskonstrukt, sondern vor allem der an einer Erkrankung leidende Mensch ist, muss sich die mehrdimensionale Diagnostik der HbP, in Erweiterung der herkömmlichen kategorialen Diagnostik (als Domäne der EbP) primär am Einzelphänomen orientieren. Es gilt also, nicht das von Menschenhand geschaffene Krankheitskonstrukt, sondern das naturgegebene Phänomen selbst zu analysieren und dann den zugrunde liegenden Mechanismen aus verschiedenen Perspektiven (z. B. psychologische, biologische, interaktionelle, ökonomisch-soziale etc.) nachzugehen, um damit die Basis für eine pathogeneseorientierte Therapie zu legen. Da psychische Krankheiten keine soliden Gebilde sind, die einmal in der Welt erscheinen und schon allein deswegen Fortbestand haben, sondern als dynamische Prozesse einer bestimmten Pathoplastizität unterworfen sind und durch krankheitserhaltende Faktoren in ihrem Verlauf bestimmt werden, muss eine solche mehrdimensionale Diagnostik immer auch prozessorientiert sein. Krankheiten im Allgemeinen und psychische Erkrankungen im Besonderen sind aber nicht nur beobachtbare Naturereignisse, sondern treten auch in den mit ihnen verbundenen Narrationen in Erscheinung (Fulford et al. 2003). Diese Erzählungen sind nicht nur bedeutungsgebende Elemente, die sich um das Krankheitsgeschehen ranken, sondern sie greifen auch als krankheitserhaltende Faktoren selbst in den pathogenetischen Prozess mit ein und werden damit zu krankheits-
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bestimmenden Momenten (Musalek 2003), womit dem Verstehen des Krankheitsgeschehens und den damit verbundenen Erzählungen eine ganz besondere Rolle im differenzialdiagnostischen Prozess zukommt. Der wohl wesentlichste und alles bestimmende Unterschied zwischen EbP und HbP liegt in den Behandlungszielen: In der HbP geht es nicht mehr nur um ein Zum-Verschwinden-Bringen von Krankheiten, sondern vor allem um das Wohlsein des Betroffenen, das Wiedererreichen eines möglichst autonomen und freudvollen Lebens des (vormals) kranken Menschen (Taylor u. Brown 1988; Bech et al. 2003). Mit anderen Worten: In der HbP wird der Mensch mit seinen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten wieder zum Maß aller Dinge. Das bedeutet aber auch, dass die mehrdimensionale Diagnostik der HbP nicht nur symptom-, pathogenese-, prozess- und verstehensorientiert, sondern ganz wesentlich auch ressourcenorientiert sein muss. Um Behandlungsziele wie z. B. gesundes Leben, freudvolles und/oder möglichst autonomes Leben zu erreichen, genügt es nicht, Defizienzen zum Verschwinden zu bringen, sondern es gilt, die Ressourcen des Einzelnen sichtbar werden zu lassen bzw. neu zu generieren (Musalek 2008,2009). Eine humanbasierte Patientenbehandlung braucht aber auch die Weiterentwicklung von Patientenumgangsformen: An die Stelle eines analytischmedizinischen Monologs soll warmherziger Dialog treten; dort wo vordergründige »Psychoedukation« war, soll sich vertieftes, auf dem Prinzip der Reziprozität beruhendes Verstehen entwickeln. Zur Umsetzung all dessen, was hier als humanorientiertes therapeutisches Vorgehen skizziert wird, bedarf es der Entwicklung einer neuen Ästhetik in der Psychiatrie. Sie kann auf der von Arnold Berleant (2005) in den philosophischen Diskurs eingebrachten Sozialästhetik aufbauen. Die Säulen der Sozialästhetik, die sich als besonderer Zweig der Alltagsästhetik verstehen lässt (Haapala 2005), sind die uneingeschränkte Wertschätzung und Achtung des Anderen, die verfeinerte und kultivierte Sinneswahrnehmung des uns Umgebenden, die Begeisterung und Faszination für das Noch-Fremde, die Anerkennung des Individuums als etwas Besonderes und Einzigartiges sowie die Maxime gegenseitiger Reziprozität (Berleant 2005).
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Eine Sozialästhetik in der Psychiatrie hat es sich dann zur Aufgabe zu machen, die Interaktionen zwischen den Patienten und Therapeuten, und hier insbesondere den für den weiteren Behandlungsverlauf so wichtigen Erstkontakt, zu kultivieren, leere Rituale und Verhaltensweisen im therapeutischen Setting mit Menschlichkeit zu füllen, fruchtbringende Atmosphären in den Behandlungsräumen und -situationen zu schaffen und echte Gastfreundschaft im Spitalsalltag zu leben, Barrieren zu dekonstruieren und Grenzen zu öffnen sowie schöne Situationen und Beziehungen trotz Krankheitsleids zu ermöglichen, um den Kranken ästhetische Zukunftsperspektiven zu eröffnen (Musalek 2010). Behandlungsangebote und Therapieformen, die aus einer solchen Sozialästhetik heraus entwickelt wurden und werden, stellen nicht mehr, wie in der evidenzbasierten Indikationsmedizin, nur das Krankheitskonstrukt ins Zentrum des diagnostischen und therapeutischen Interesses, sondern haben als vornehmstes Ziel, dem kranken Menschen wieder die Möglichkeit zu einem weitgehend autonomen und freudvollen Leben zu eröffnen. In jedem Fall hat aber auch eine solche postmoderne HbP die neuesten Ergebnisse und Errungenschaften einer modernen EbP in ihre Behandlungsüberlegungen und -strategien zu integrieren.
Literatur Bech P, Olsen RL, Kjoller M, Rasmussen NK (2003) Measuring well-being rather than the absence of distress symptoms: a comparison of the SF-36 Mental Health subscale and the WHO-Five Well-Being Scale. Int J Meth Psychiatr Research 12:85–91 Berleant A (2005) Ideas for a Social Aesthetic. In: Light A, Smith JM (Hrsg) The Aesthetics of Everyday Life. Columbia University Press, New York Cox JL, Gray AJ (2009) Psychiatry for the person. Curr OpinPsychiatry 22:587–593 Fulford B, Sadler J, Stanghellini G, Morris K (2003) Nature and Narrative. International Perspectives in Philosophy and Psychiatry. Oxford University Press, Oxford Haapala A (2005) On the Aesthetics of the Everyday. Familiarity, Strangeness and the Meaning of Place. In: Light A, Smith JM (Hrsg) The Aesthetics of Everyday Life. Columbia University Press, New York Husserl E (Hrsg: Landgrebe L) (1999) Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Philosophische Bibliothek. Felix Meiner, Hamburg (Erstveröff. 1939)
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Kapitel 37 · Evidenzbasierte Psychiatrie – Möglichkeiten und Grenzen
Jonitz G (2007) Vorwort. In: Kunz R et al. (Hrsg) Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis, 2. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Kühlein T, Forster J (2007) Welche Evidenz braucht der Arzt? In: Kunz R, Ollenschläger G, Raspe HH et al. (Hrsg) Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis, 2. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Kunz R, Ollenschläger G, Raspe HH et al. (2007) Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis, 2. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Möller HJ (im Druck) Was ist Wahrheit in der evidenzbasierten psychiatrische Therapie. In: Marneros A, Rohde A (Hrsg) Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Professor Uwe Peters. ANA Publishers, Köln Möller HJ, Broich K (2010) Principle standardsand problems regarding proof of efficacy in clinical psychopharmacology. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 260:25–39 Musalek M (2003) Meaning and causes of delusions. In: Fulford B, Sadler J, Stanghellini G, Morris K (Hrsg) Nature and Narratives. An introduction to the new philosophy of psychiatry. Oxford University Press, Oxford, S 155–169 Musalek M (2008) Neue Wege in der Diagnostik der Alkoholkrankheit: Von einer Defizienz-orientierten zur Ressourcen-orientierten Diagnostik. Journal für Neurologie, Neurochirugie und Psychiatrie 9(3):46–52 Musalek M (2009) Postmoderne Suchttherapie – Von der evidence-based zu einer human-based Medizin. In: Gottschadt E (Hrsg) Seelische Gesundheit im Gesundheitswesen. Matthias Gottschadt, Oberberg, S 79–97 Musalek M (2010) Social aesthetics and the management of addiction. Curr Opin Psychiatry 23:530–535 Nestoriuc Y, Kriston L, Rief W (2010) Meta-analysis as the score of evidence-based behavioral medicine: tools and pitfalls of a statistical approach. Curr Opin Psychiatry 23:145–150 Raspe HH (2007) Theorie, Geschichte und Ethik der Evidenzbasierten Medizin. In: Kunz R et al. (Hrsg) Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis, 2. Aufl. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Sackett DL, Haynes RB, Tugwell P (1985) Clinical Epidemiology. Little, Brown and Co., Boston Sacket DL, Rosenberg WMC, Muir GJA, Haynes RB, Richardson WS (1996) Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ 312:71–72 Schischkoff G (1991) Philosophisches Wörterbuch, 22. Aufl. Alfred Kröner, Stuttgart Taylor SE, Brown JD (1988) Illusion and well-being: A social psychological perspective on mental health. Psychological Bulletin 103:193–210 Ulfig A (1999) Lexikon der philosophischen Begriffe. Marix, Wiesbaden
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Psychiatrie als Kulturwissenschaft Kapitel 38
Ambivalenz der Freiheit: Ideengeschichte und Psychopathologie – 245 Matthias Bormuth
Kapitel 39
Das Selbst – Konstrukt oder Realität? – 253 Thomas Fuchs
Kapitel 40
Die Ideengeschichte psychiatrischer Krankheitsmodelle und ihre Bedeutung für die Identität der Psychiatrie im 21. Jahrhundert – 259 Paul Hoff
Kapitel 41
Kunst, Krankheit und Tradition – 265 Klaus Podoll
Kapitel 42
Zwei ethische Grundvoraussetzungen psychiatrischer Forschung – 271 Hanfried Helmchen
VII
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Ambivalenz der Freiheit: Ideengeschichte und Psychopathologie Matthias Bormuth
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 38 · Ambivalenz der Freiheit: Ideengeschichte und Psychopathologie
Die Ausführungen knüpfen an Überlegungen zur »Psychiatrie als Kulturwissenschaft« an, die von Max Weber ausgingen (Bormuth 2010). Hier soll der ideengeschichtliche Horizont der Freiheit skizziert werden, der von Immanuel Kant her sich im psychopathologischen Werk von Karl Jaspers, Werner Janzarik und Hans Heimann abzeichnet.
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Aufklärung – Immanuel Kant
Kant hat als führender Philosoph der Aufklärung die Freiheit als ein in sich widersprüchliches Phänomen beschrieben. Ihre Antinomie bedeutet aus naturkausaler Perspektive: Unbedingte Freiheit existiert nicht. Alles Entscheiden hat bedingende Gründe und Ursachen. Und doch erfährt der Mensch sich im moralischen Anspruch der Wahl als frei, sich mit offenem Ausgang im Gefüge der Bedingtheiten zu entscheiden (Kant 1781; Bormuth 2008). Diese Kausalität aus Freiheit stellt den Menschen in die Ambivalenz zwischen gutem und bösem Handeln, das Kant im Spannungsverhältnis von religiösem Pessimismus und aufgeklärtem Optimismus ansiedelt. Der Glauben vertritt in mythischen Bildern die schwermütige Sorge, der Mensch sei nach dem Sündenfall dem Bösen ausgeliefert, wenn nicht überirdische Gnade ihm zur Hilfe kommt. Die Aufklärung lebe von der »gutmütigen« Hoffnung auf einen beständigen Fortschritt zum Guten. Kant umreißt seine ausgleichende Position mit der Frage, »ob nicht ein Mittleres wenigstens möglich sei, nämlich: daß der Mensch in seiner Gattung weder gut noch böse, oder allenfalls auch eines sowohl als das andere, zum Teil gut, zum Teil böse sein könne?« (Kant 1793). Er vertritt damit zwischen den Extremen dogmatischer Selbsterniedrigung und utopischer Selbstherrlichkeit eine säkulare Form der Ambivalenz der Freiheit. Kant hat seinen Blick auf den Menschen als Träger des Guten und Bösen zudem in 3 anthropologischen Dimensionen entfaltet. Er spricht von »physiologischer Anthropologie«, wenn die biologisch-natürlichen Bedingungen untersucht werden, die der Freiheit als eigenständigem Phänomen kein Recht lassen. Da zu seiner Zeit das naturwissenschaftliche Wissen noch dürftig ausfiel, waren ihm jene Denkweisen als »theoretische Vernünfteleien« wenig willkommen, die mit psychosomatischen Spekulationen hierbei die Lücken des Wis-
sens zu schließen suchten. Im Vorfeld der romantischen Medizin trat er polemisch gegen all jene auf, die die Ideen des Guten und Bösen eindeutig mit körperlichen Korrelaten zu verknüpfen suchten. Heute würde Kant auf der anderen Seite wohl auch gegenüber jenen sich kritisch äußern, die es nur für eine Frage der Zeit halten, bis Freiheit und Verantwortung des Menschen rein biologisch erklärt werden können und die Metaphern des Guten und des Bösen als naive Relikte der Ideengeschichte erscheinen (Kant 1798). Als zentrale Dimension seiner Menschenkunde vertritt Kant eine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die er über Jahrzehnte lehrte und die seine Überzeugung spiegelt, dass im wandelbaren Fluss des kulturellen Lebens nur vorläufige Einsichten in die Wege und Widersprüche der Freiheit möglich sind. Nicht letzte Theoriesysteme, sondern kasuistische Ordnungsbegriffe und Selbstschilderungen gelten ihm als Möglichkeit, die heterogenen Erscheinungsformen der Freiheit in den konkreten Welt- und Selbstverhältnissen klarer zu sehen. Das Böse taucht deshalb als pragmatischer Begriff so nicht auf, sondern ist nur angedeutet in den Beschreibungen der menschlichen Passionen, die seit der Antike je nach kulturellem Horizont als Hoffnungsstreif des Guten oder Dämmer des Bösen gedeutet wurden. Kant rückt die willkürlichen Leidenschaften und Gefühle nahe an den Bedeutungshof des Sündigen und Bösen, damit der pejorativen Konnotation der antiken Stoa folgend, die mit Augustinus im spätantiken Christentum einzog (Auerbach 1967). Der Einfluss der Kultur der religiösen Innerlichkeit erweist sich auf andere Weise auch in der dritten Form von Kants Menschenkunde. Man kann sie rückblickend als existenzielle Anthropologie bezeichnen. Sie hat besonders über die regulativen Ideen von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, die Ausdruck des »metaphysischen Bedürfnisses« des Menschen sind und sich von den pragmatischen Ordnungsbegriffen in der theoretischen Ungreifbarkeit unterscheiden, Eingang in seine kritische Philosophie gefunden (Kant 1781). Auch das Gute und das Böse gebraucht Kant als regulative Grenzbegriffe oder Metaphern. Ihre Evidenz liegt in der Möglichkeit, moralphilosophisch die Erfahrung mit sich und der Welt zu verstehen, ohne dass die-
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38 · Ambivalenz der Freiheit: Ideengeschichte und Psychopathologie
se Spekulation gleichsam zu beweisen wäre. Seine Überlegungen zum »radikal Bösen« grenzen sich deshalb so klar als möglich vom dogmatischen Anspruch des Christentums ab, das seit Paulus und Augustinus die individuelle Zerrissenheit zwischen Gut und Böse, zwischen Geist und Fleisch in klassischer Weise beschrieben hatte. Kant zitiert paraphrasierend den Apostel: »Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen fehlt.« Nicht die göttliche Gnade soll die »Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten« bewirken, sondern das numinose Phänomen der moralischen Erfahrung (Kant 1793). Diese trägt das vorläufige Leben gleich den Naturgesetzen, die den Menschen als verschwindendes Element in der Unendlichkeit der Räume zeigen, ohne dass man beider Ursprung erfassen könnte: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender das Nachdenken sich damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« (Kant 1788). Kant spricht von einer »Revolution der Denkungsart«, wenn der Mensch die moralischen Ideen der Pflicht und des Guten für sich erkennt und zur steten Bildung seines Charakters wirken lässt. Deshalb heißt es: »Dieses Gefühl der Erhabenheit seiner moralischen Bestimmung öfter rege zu machen, ist als Mittel der Erweckung sittlicher Gesinnungen vorzüglich anzupreisen« (Kant 1793). z
Verstehende Psychiatrie – Karl Jaspers
Karl Jaspers hat als Existenzphilosoph sein Verständnis menschlicher Freiheit von den Überlegungen Kants her entwickelt. Die vierte und letzte Auflage der Allgemeinen Psychopathologie, die er zurückgezogen während der Kriegsjahre in Heidelberg schrieb, bietet eine existenzielle Anthropologie im kantischen Sinne (Jaspers 1946). Der Mensch ist geboren zur Freiheit und muss doch um sie kämpfen, wenn sie sich zum Guten und nicht zum Bösen auswirken soll. Naturwissenschaftlich ist sie nicht vorstellbar, aber die moralische Besinnung ermöglicht eine »Kausalität der Freiheit«, die sich gegen die »Kausalität der Natur« im Kampf behaupten kann (Bormuth 2008). Dass Jaspers die politischen Zeitläufte vor Augen hatte, als er 1935 in der Schweiz den lange ungedruckten Vortrag »Über das radikal Böse bei Kant« hielt (Jas-
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pers 1958), ist zu vermuten. In der Grenzsituation der herrschenden Willkür, die als fataler Ausdruck der Freiheit Geschichte schreibt, kann nur die angestrebte »Revolution der Denkungsart« den Einzelnen in der Krise bewahren und führen. Wie bei Kant ist die Evidenz der moralischen Erfahrung ein unlösbares Rätsel, das sich dem dogmatischen oder wissenschaftlichen Zugriff entzieht und nur in der moralischen Praxis des Lebens indirekt ahnbar wird. Jaspers bestimmt von daher das Existenzielle als eine Grenze des psychologischen Verstehens (Jaspers 1946). Die pragmatische Anthropologie behält bei Jaspers ihr begrenztes Recht, solange sie als orientierende Möglichkeit des Menschseins im Vorraum des Existenziellen verstanden wird und die Selbstschilderungen Kranker oder die psychosomatischen Entwürfe nicht als definitive Aussagen gelten. Deshalb geht der späte Jaspers auf Distanz zum Kreis um Viktor v. Weizsäcker, zur Psychoanalyse und auch zur anthropologischen Psychiatrie, wenn die existenziellen Perspektiven mit wissenschaftlichen Ansprüchen vertreten werden (Bormuth 2002). Sein gänzlicher Rückzug auf das deskriptive Verstehen, das keine genetischen Bezüge zur Biografie des Kranken herstellen will, begrenzt die pragmatische Anthropologie auf das Nötigste. Allein als »Schicksalsgefährte«, der selbst zwischen Gut und Böse im eigenen Leben zu entscheiden hat, kann der Arzt am inneren Kampf des Patienten teilnehmen, dessen Krankheit vielleicht Züge des biografischen Konflikts trägt. Alle Äußerungen über die Wege der Freiheit bleiben aber persönliche Vermutungen, entscheidend ist die existenzielle Selbstbesinnung, die radikal geschieden ist von der wissenschaftlichen Sichtweise (Jaspers 1946). z
Heidelberger Schule nach Jaspers
In der Heidelberger Schule der Psychopathologie ist das Erbe des späten Jaspers gespalten und mit einiger Skepsis aufgenommen worden. Kurt Schneider verwies seine Schüler auf die erste Auflage der Allgemeinen Psychopathologie von 1913 und konstatierte nüchtern, als er 1946 die große Neuauflage las, sie sei vom Philosophischen »überwuchert«. Dies lag nicht an einem persönlichen Desinteresse an der existenziellen Anthropologie. Im Gegenteil: Schneider hatte in den frühen 1930er Jahren,
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Kapitel 38 · Ambivalenz der Freiheit: Ideengeschichte und Psychopathologie
als er die klinische Abteilung der Münchener Forschungsanstalt für Psychiatrie übernahm, mit seinen Assistenten im privaten Kreis Jaspers Geistige Situation der Zeit (1931) und die Philosophie (1932) gelesen (Bormuth 2002). Der Arzt sollte sich jedoch ganz auf das deskriptive Verstehen beschränken und den Kampf der Freiheit zwischen Gut und Böse nicht zum appellativen Appendix einer klinisch relevanten Anthropologie werden lassen. Anders sein Schüler Werner Janzarik: Dessen strukturdynamischer Ansatz erweiterte die pragmatische Anthropologie in heuristischen Erkundungen des menschlichen Willens, ohne jedoch in der provisorischen Begriffsbildung die Idee des Guten und Bösen als ultimativen Fluchtpunkt zu übernehmen. Seine Überlegungen zur bedingten Freiheit des Menschen verbinden empirische Beobachtungen mit intuitiven Einsichten zu psychopathologischen Überlegungen, die als falsifizierbare Thesen fungieren. Ausdrücklich siedelt Janzarik ihren spekulativen Charakter diesseits von anthropologischen Ansätzen an, die in der Psychiatrie durch »Verstiegenheit und Ansprüchlichkeit« den Ruf des verstehenden Ansatzes schädigten (Janzarik 1994). Zentral ist sein Interesse an den kulturell gegebenen Wertgefügen und der Bedeutung, die sie für das dynamische Zusammenspiel von Wollen und Willen einnehmen. Janzarik betrachtet in seinen Überlegungen, wie es durch die verschiedenen Phasen der sozialen Eingewöhnung zum »lebendige[n] Ineinandergreifen autopraktischer Strebungen und willentlicher Intentionen« kommt (Janzarik 2008). Das numinose Element der moralischen Erfahrung, das im Kampf mit dem Bösen die Revolution der Denkungsart ermöglicht, wird von seinem Ansatz nicht erfasst. Im strukturdynamischen Denken ist die Ambivalenz der Freiheit nur angedeutet: im Widerspiel von Willen und Wollen und in der Spannung zwischen eingewöhntem Wertgefüge und natürlicher Anlage. Während Freud, der 1930 paradigmatisch vom Unbehagen in der Kultur beschrieb, provokativ viele Wertpositionen der bürgerlichen Kultur von den Ansprüchen der Natur her in metaphorisch suggestiven Wendungen als pathogen in Frage stellte, formuliert Janzarik vorsichtiger (Janzarik 1994). Die Strukturdynamik rechnet mit den gegebenen Normen als Einflussauf das persönliche Werden
und fühlt sich nicht genötigt, in spekulativen Ausfällen herrschende Wertpositionen anzugreifen. Die gemeinsame Wurzel dieser so unterschiedlichen Entwürfe dynamischer Anthropologien bildet die Willensphilosophie, die Schopenhauer im Blick auf das vornehme Individuum antiker Herkunft entwickelte. Der Intellekt ist das hervorragende Instrument, um Leidenschaften, Triebe und Emotionen so zu sublimieren und zu steuern, sodass man gezügelt die persönlichen Neigungen leben kann. Freiheit wird jeweils pragmatisch unter der Perspektive des lebensweltlichen Nutzens betrachtet. Das stoische Erbe ist auch in diesen Ansätzen, wenn auch epikuräisch gemildert gegenüber der christlich-kantischen Perspektive, spürbar. z
Tübinger Schule nach Jaspers
Die experimentelle Psychopathologie, die Hans Heimann fast zeitgleich mit Janzarik neckaraufwärts begründete, steht dagegen deutlich in der Tradition von Kant und Jaspers. Schon im frühen Werk hatte der Berner Assistent die existenzielle Anthropologie von Jaspers präzise skizziert (Heimann 1950). In den Tübinger Jahren wies Heimann auf die physiologische und pragmatische Sicht hin, die Kant im anthropologischen Horizont einer »Theorie der Freiheit« entfalte (Heimann 1994). Dagegen bezeichnete er verschiedene Gestalten des psychologischen Moralisierens, wie sie in der romantischen Psychiatrie in Spekulationen über Sünde, Bosheit und Schuld als Grund von Krankheit aufgekommen waren, ebenso als fragwürdige Einseitigkeit wie den positivistischen Verzicht auf leitende Ideen und Theorien. Solche monokausal verengten Perspektiven, die im Extrem zu »Psychologismus« und »Biologismus« führten, stehen nach Heimann in der Gefahr, »die Potenzen der freien Persönlichkeit zu überschätzen« oder sich der scheinbaren Präzision einer »biologistischen Deutung des Menschen« hinzugeben (Heimann 1994). In Heidelberg, dem Mekka der verstehenden Psychopathologie und Psychoanalyse, verteidigte Heimann sich in einem Vortrag gegen den Vorwurf, seine experimentelle Psychopathologie sei Ausdruck positivistischen Denkens. Vielmehr rechtfertigte er die Suche nach metrischen Korrelaten psychopathologischer Zustände, die erlaubten, die subjektive Perspektive des Verstehenden besser
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zu kontrollieren. Sie sei von Ideen und Theorien geleitet, die die gewonnenen Einsichten klar begrenzten und ihnen einen rein vorläufigen Charakter verliehen. Angesichts des holistischen Anspruchsphilosophisch ambitionierter Psychiater, die in der Tradition Heideggers argumentierten, sprach Heimann von einer »anthropologischen Inflation«, die das scheinbare »anthropologische Defizit« in der technisierten Medizin nicht rechtfertigen könne. Dagegen unterstrich er den fragmentarischen Zug der Psychopathologie. Ihre »Aspekte, Reduktionen, Torsi« stehen für ihn im individuell zu füllenden Ergänzungsverhältnis zum »Umgreifenden«, der regulativen Idee, mit der Jaspers den anthropologischen Horizont jenseits des wissenschaftlich Zugänglichen beschrieb (Heimann 1982). In Heimanns Werk ist der existenzielle Horizont der Anthropologie vor allem in pathographischen Studien präsent, in denen Denker wie Paulus, Augustinus und Pascal mit ihren religiösen Evidenzerlebnissen im Mittelpunkt stehen (Heimann 1961; Heimann 1962). Er folgt der Tradition des frühen Jaspers, der in Strindberg und van Gogh (Jaspers 1926) eine klassische Studie über den Einfluss schrieb, den psychische Störungen auf Kunst, Philosophie und Literatur nehmen können. Heimann folgt den Spuren des Pathologischen bis in die Nuancen der in den Werken ausgedrückten Transzendenzerfahrungen, ohne diese in den reduktiven Annäherungen erklären zu wollen. Die Entscheidungen für das Gute und gegen das Böse, die alle 3 homines religiosi auszeichnet, verdanken sich exzeptionellen Offenbarungserlebnissen der göttlichen Gnade, folgt man den Selbstschilderungen. Denn der »ordre de la charité«, so wie Heimann in Anlehnung an Pascal – beeindruckt und fasziniert – unterstreicht, vermag allein die Ambivalenz der Freiheit aufzuheben (Heimann 1962). Sein Aufsatz »Pascals anthropologische Lehre von den Ordnungen und das Kranksein« betont im sprachlichen Anklang an Jaspers, dass diese religiöse Menschenkunde auch paradigmatisch das zerrissene Selbstverständnis der kommenden Moderne beschreibe: »Der Bruch, der das Weltbild Pascals außerhalb der Gnade kennzeichnet und den Menschen in eine Wirrnis antinomischer Möglichkeiten stürzt, die aus sich heraus keine Geschlossenheit mehr ergeben können, ist nicht ein-
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fach Ausdruck der persönlichen Lebensproblematik Pascals, sondern charakterisiert die geistige Situation des Menschen an der Schwelle der Neuzeit« (Heimann 1962). Obwohl Pascal als Naturwissenschaftler und Moralist für den »ordre des corps« und den »ordre de esprits« zu herausragenden Einsichten gelangt sei, liegt für Heimann der entscheidende Fluchtpunkt der dreigliedrigen Anthropologie in der Möglichkeit der unverfügbaren Gnade, deren Eintritt das berühmte »Memorial«, in den Rocksaum eingenäht, für das weitere Leben dokumentieren sollte. Während Jaspers in der Nachfolge Kants die christliche Idee der Gnade durch die regulative Idee der existenziellen Freiheit zum Guten säkularisierte, spitzt Heimann den Stachel der religiösen Anthropologie noch weiter zu. Er schreibt in aller Vorsicht der persönlichen Spekulation über Pascal, der in den körperlichen Leiden der letzten Lebensmonate in tiefes Schweigen verfiel: »Es ist vielleicht ein Hinweis darauf, was Kranksein in dem ‚ordre de la charité‘ bedeuten kann: das Ausbrechen aus der Zerrissenheit des Daseins und der Gang über den Jordan in das gelobte Land« (Heimann 1962). z
Resümee
Der Ambivalenz der Freiheit, d. h. die moralische Spannung zwischen Gut und Böse, hat Kant in der existenziellen Anthropologie einen dramatischen Ausdruck gegeben. In Umdeutung der christlichen Tradition versteht er diese als Grenzerfahrung der numinosen Moralität, die eine Revolution der Denkungsart bewirken kann. Seit der romantischen Medizin und Psychiatrie bestand die Tendenz, diese Ambivalenz der Freiheit wissenschaftlich ganz erfassen zu wollen, d. h. für die pathogenetische Relevanz einer moralisch guten oder bösen Lebensführung eindeutige Zuschreibungen zu treffen. Jaspers hat im Sinne des kantischen Dualismus scharf die existenzielle von der physiologisch-pragmatischen Perspektive der Psychiatrie unterschieden und deshalb im Spätwerk alle verstehenden Ansätze kritisiert, die die menschliche Freiheit in welcher Gestalt auch immer zum Gegenstand der psychopathologisch-moralischen Spekulation machten. Kurt Schneider zog die Grenzen des Verstehens in Heidelberg noch enger und hielt auch Distanz zu dem Anliegen von Jaspers, die existenzielle Dimen-
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sion als andere Seite der ärztlichen Sorge ohne die Autorität des Wissenschaftlers zu pflegen. Werner Janzarik hingegen schloss sich dem strengen Dualismus nicht an, sondern entwickelte eine pragmatische Theorie, in der Wollen und Willen des Menschen im Blick auf gegebene Wertgefüge im strukturdynamischen Sinne ins Verhältnis gesetzt wurden. Sein Ansatz stilisiert die Freiheit nicht als existenzielle Grenzerfahrung zwischen Gut und Böse, sondern als Ausdruck einer nützlichen Balance, deren Ziel es ist, die Neigungen des Individuums mit den Interessen der Umwelt in einen lebbaren Ausgleich zu bringen. Als psychopathologische Hypothese über die menschliche Freiheit und ihre inneren wie äußeren Bedingungen beruht die Strukturdynamik ausdrücklich auf der Philosophie der Romantik, speziell der Willensmetaphysik Schopenhauers, die prägend für das bürgerliche Zeitalter und sein »Unbehagen in der Kultur« wurde. Hans Heimann wählte einen anderen Weg, um im Verstehen des Menschen, der zwischen Gut und Böse zerrissen ist, weiter als Jaspers und Schneider zu gelangen. Das Problem der subjektiven Evidenz des Verstehenden, das er in Psychoanalyse undanthropologischer Psychiatrie als eine ungelöste Hypothek betrachtete und das ihn auch skeptisch gegenüber der Heidelberger Schule der Psychopathologie stimmte, suchte er im Sinne der experimentell-metrischen Kontrolle der individuell erhobenen Befunde einzugrenzen. Nicht zufällig hatte er mit Kants pragmatischer Anthropologie darauf hingewiesen, wie sehr persönliche Emotionen unsere Urteile beeinflussen und nicht selten den »Abbruch der Freiheit und Herrschaft über sich selbst« bedeuten (Heimann 1994). Geht hier das Böse nur in Gestalt der pejorativen Konnotation der Gefühle, wie sie die stoisch-christliche Tradition eingeführt hatte, in die pragmatische Beschreibung ein, bildet es in den Bemerkungen, die Heimann zur existenziellen Anthropologie der Freiheit macht, den dramatischen Grund für die Erfahrung menschlicher Zerrissenheit und Antinomie. Diese Ausführungen sind entweder Teil des pathographischen Werks oder stehen im Rahmen eines persönlichen Bekenntnisses über die moralische Dimension der ärztlichen Tätigkeit. Anders als Kant und Jaspers fokussiert
Heimann die religiöse Erfahrung der Gnade als Möglichkeit, über die wissenschaftlich kein letztes Urteil zu fällen ist. Für ihn ist sie nicht als Relikt der Vergangenheit zu behandeln, das nur in den säkularisierten Ideen des moralisch Erhabenen oder der individuellen Transzendenzfortleben kann. Nicht zufällig kehrt die paulinische Metaphorik des »Pfahls im Fleische« über Jahrzehnte hinweg in seinen anthropologisch-ethischen Überlegungen zur Freiheit als Indiz für die religiöse Dimension wieder. Diese erscheint gespalten zwischen dem tiefen Hang zum Bösen und der Sehnsucht nach dem Guten, das aus eigenen Kräften nicht zu erreichen ist. Allerdings verbietet es sich der Wissenschaftler Heimann gleich Jaspers, dem Drang der romantischen Naturphilosophie und Medizin nach Schelling nachzugeben, diese existenzielle Dimension in das klinische Denken aufzunehmen (Heimann 1994). Dem Wunsch, die individuelle Perspektive in ein Ganzes einfügen zu können, hält er die Einsicht entgegen, dass unser Wissen fragmentarischen Charakter hat und alles holistische Bestreben inflationäre Folgen für das anthropologische Anliegen in der wissenschaftlichen Psychiatrie habe. Dies bedeutet aber nicht, dass eine Psychopathologie kritischen Anspruchs ohne normative Prämissen einen positivistischen Charakter trüge. Vielmehr müssen sich deren theoretische Voraussetzungen im Raum der experimentellen und deutenden Pragmatik begrifflich fassen lassen. Die theoretisch anspruchsvollen Wege, die Janzarik und Heimann als Psychopathologen wählten, wirken aufgrund der abstrakten Sprache und komplexen Satzmuster oft schwer zugänglich. Aber ihre Einsichten suchen gedankliche Klarheit und enthalten sich weithin der Versuchung, der gerade philosophische Ansätze nach Heidegger in der Psychiatrie verfielen, eine begrifflich grandiose Armierung zu vollziehen, um mit dem Schein des Mehrwissens die Brüche und Widersprüche der Argumentation zu überdecken und der Leserschaft den Mut zur Kritik zu rauben (Heimann 1994; Janzarik 1994). Gleichwohl unterliegen die beiden Autoren auch dem selbstschützenden Zug, persönliche Werturteile im Raum der Öffentlichkeit, zumal dann, wenn es sich um ein wissenschaftliches Publikum handelt, durch abstrakte, metaphorische und
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manchmal labyrinthische Satzwendungen zu verhüllen. Die Leserschaft ist gefordert, will sie nicht der Qualität des Gesagten entbehren, aktiv zu lesen, d. h. die Andeutungen, Abstrakta und Bilder in die Bedeutungshöfe zu versetzen, in denen sie lebendig werden und zu sprechen begingen. Wenn man – gegen den derzeitigen Trend zu kurzen Sätzen und vielen Bildern–versucht, in diesem Sinne aufmerksam ihren Argumentationen zu folgen, kann man mit der Zeit lernen, diesen Weizen von der Spreu anderer dicht geschriebener Texte zu unterscheiden. Es gilt für Janzarik und Heimann als anthropologische Grundlagenautoren in der Psychiatrie gleichermaßen die Aufforderung, mit der sich Nietzsche gegen das eilfertige Lesen wandte: »Lernt mich gut [,das heißt langsam] lesen« (Nietzsche 1887).
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Das Selbst – Konstrukt oder Realität? Thomas Fuchs
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_39, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Die unmittelbare Identifikation von Selbst und Gehirn stellt einen Kurzschluss dar, dem die Aufspaltung der Einheit des Organismus in einen Dualismus von »Mentalem« und »Physischem« zugrunde liegt. Im Gegensatz dazu verknüpft die Konzeption des Embodiment das Selbsterleben mit dem lebendigen Organismus als Ganzem. Die sich selbst erhaltende und zugleich auf die Umwelt bezogene Struktur des Organismus kehrt auf der Ebene des subjektiven Selbst wieder, das als wesentlich verkörpert verstanden werden muss. Diese Verkörperung manifestiert sich einerseits in einem basalen leiblichen Selbsterleben, andererseits in den sensomotorischen Beziehungen des Organismus zur Umwelt, als ökologisches Selbsterleben. An die Stelle eines im Gehirn produzierten Selbstmodells tritt damit die Konzeption eines lebendigen, verkörperten Selbst.
z
Einleitung
Im gegenwärtig dominierenden Paradigma der Neurobiologie erscheint das Gehirn als Produzent der erlebten Welt, als Konstrukteur des erlebenden Subjekts. Schlagworte wie »Kosmos im Kopf« oder »Das Ich als Konstrukt« zeichnen das Bild eines biologischen Apparats, der in seinen Windungen und Netzwerken eine virtuelle Welt, ein »Kopfkino« erzeugt und zugleich die Illusion eines Subjekts oder Selbst. Bewusstsein und Selbsterleben sind nur Modelle, die vom Gehirn vorübergehend aktiviert werden, um damit bestimmte Planungsaufgaben zu erfüllen. Sie haben keine notwendige Beziehung zur Struktur und Einheit des Organismus insgesamt und könnten prinzipiell auch von einem »Gehirn in einer Nährlösung« erzeugt werden. Einer der prominentesten Vertreter dieser Konzeption ist der Mainzer Neurophilosoph Thomas Metzinger.
»
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Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel. Die moderne Neurowissenschaft hat gezeigt, dass der Inhalt unseres bewussten Erlebens nicht nur ein inneres Konstrukt, sondern auch eine höchst selektive Form der Darstellung von Information ist (Metzinger 2009, S. 21).
«
»
Wir stehen also nicht in direktem Kontakt mit der Wirklichkeit oder mit uns selbst …Wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel (ebd., S. 22).
«
»
Letztlich ist subjektives Erleben ein biologisches Datenformat … In Wirklichkeit existiert so etwas wie »das« Selbst nicht (ebd., S. 23f.).
«
Diese inzwischen schon weit verbreitete Auffassung der phänomenalen Erfahrung als einer »großen Illusion« unterminiert nicht nur unseren alltäglichen Kontakt mit der Welt; sie führt letztlich auch in einen (Neuro-) Solipsismus. Denn wie die »Kommunikation von Tunnel zu Tunnel« möglich sein soll, wenn wir andere nicht als leibhaftige Personen wahrnehmen, sondern nur als gehirnerzeugte Simulationen, bleibt eine unlösbare Frage. Befinden wir uns also im Tunnel eines vom Gehirn erzeugten Weltmodells, einer Matrix-Welt? Ist unser Selbsterleben nur ein Tunnel ohne Ausgang? Ich möchte solchen Auffassungen mit 3 kurzen Thesen widersprechen: 4 Die Welt ist nicht im Kopf. 4 Das Subjekt ist nicht im Gehirn. 4 Im Gehirn gibt es keine Gedanken. Mit anderen Worten: die Neurobiologie sucht am falschen Ort. Nicht, dass die neuronalen Prozesse für das bewusste Erleben verzichtbar wären, im Gegenteil. Aber sie sind nicht der Ort, an dem wir Bewusstsein oder Geist vorfinden. Metzingers Konzeption beruht auf einer Trennung der Subjektivität vom lebendigen Organismus, so als wäre Bewusstsein nur das Erzeugnis einzelner Hirnareale und könnte im Prinzip ebenso von einem Gehirn in einer Nährlösung erzeugt werden. Diese Trennung ist nicht aufrechtzuerhalten. Das Gehirn ist primär ein Organ des Lebewesens, eingebettet in den Körper, und nur dadurch wird es zu einem Organ des Geistes. Umgekehrt sitzt der Geist nicht im Gehirn; er ist überhaupt nicht irgendwo lokalisierbar, sondern beruht, wie noch zu zeigen sein wird, auf der dynamischen Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt. So wie die Atmung sich nicht auf die Lungen beschränken lässt, sondern nur in systemischer Einheit mit der Umwelt geschieht, so lässt sich der Geist nicht auf das Gehirn begrenzen. Erwin Straus formulierte dies kurz und treffend:
»
Der Mensch denkt, nicht das Gehirn 1956).
« (Straus
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Denn ein Mensch ist im Unterschied zum Gehirn ein Lebewesen, also ein lebendiger, fühlender, wahrnehmender und tätiger Organismus. Daraus ergibt sich meine These: Subjektivität und Selbsterleben sind nicht im Gehirn lokalisiert; menschliche Subjektivität ist verkörperte Subjektivität. Diese These möchte ich im Folgenden ausführen. z
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»
Weder die Seele denkt und empfindet, noch das Hirn denkt und empfindet; denn das Hirn ist eine physiologische Abstraktion, ein aus der Totalität herausgerissenes, vom Schädel, vom Gesicht, vom Leibe überhaupt abgesondertes, für sich selbst fixiertes Organ. Das Hirn ist aber nur solange Denkorgan, als es mit einem menschlichen Kopf und Leibe verbunden ist (Feuerbach 1835).
«
Verkörperte Subjektivität
Im gegenwärtigen Paradigma der kognitiven Neurowissenschaften gilt Bewusstsein als eine interne Repräsentation der Außenwelt, die vom Gehirn erzeugt wird. Der Körper bleibt dabei eine Art physiologischer Trägerapparat für das Gehirn, in dem die unkörperliche Innenwelt des Bewusstseins entsteht. Gehirn und Körper sind zwar verbunden, doch genügt es für die Erforschung des Bewusstseins und des Selbsterlebens, nach ihren neuronalen Korrelaten im Gehirn zu suchen – nach Bewusstseinskorrelaten oder Selbstmodulen. Doch diese Fixierung auf das Gehirn, dieser »Zerebrozentrismus«, vernachlässigt die Wechselbeziehungen und Kreisläufe, in denen das Gehirn steht, so wie wenn man das Herz ohne den Kreislauf betrachten würde oder die Lungen ohne den Atemzyklus, ohne die Luft. Der Grund dafür besteht darin, dass die Neurowissenschaften keinen Begriff vom lebendigen Organismus haben. Sie sind immer noch gefangen in der Computermetaphorik des Geistes, so als ob aus neuronalen Rechenprozessen Bewusstsein herausspringen könnte, wenn sie nur genügend komplex sind. Die Hirnforschung geht im Grunde immer noch von 2 grundlegend voneinander verschiedenen Welten aus, nämlich der physikalischen Welt des »Gehirns« und der des »Geistes« oder von neuronalen und von mentalen Vorgängen. Diese als gänzlich verschieden angesetzten Welten müssen nun miteinander verknüpft werden – in der Regel so, dass die mentalen Vorgänge als Produkte der neuronalen Prozesse angesehen werden. Entscheidend ist: Das Lebewesen, der lebendige Mensch selbst tritt dabei gar nicht in den Blick. Bewusstsein wird nicht als Funktion eines lebendigen Organismus angesehen, sondern direkt mit Gehirnprozessen »kurzgeschlossen«. Was hier fehlt, hat schon im 19. Jahrhundert Ludwig Feuerbach klar erkannt.
Dem Dualismus von Mentalem und Physischem will ich daher eine andere Konzeption gegenüberstellen, in der das Lebewesen oder der lebendige Organismus die primäre Einheit darstellt. Am Lebewesen lassen sich nun einerseits bewusste (seelische, geistige) Lebensäußerungen feststellen, andererseits physiologische Prozesse in beliebiger Detailliertheit. Das Lebewesen erscheint also unter einem Doppelaspekt, und das Gleiche gilt für die menschliche Person. Im einen Aspekt haben wir es mit dem lebendigen Organismus, mit dem erlebten Leib zu tun, im anderen Aspekt mit dem physiologisch beschreibbaren Körper. Den Wechsel zwischen beiden Aspekten nimmt beispielsweise der Arzt täglich vor. Er begrüßt einen Patienten, sieht vielleicht kurz seinen freundlichen oder ängstlichen Blick; er nimmt ihn wahr als Person, als beseelten Leib. Dann aber führt er eine körperliche Untersuchung durch; z. B. nimmt er den Augenspiegel zur Hand und untersucht die Augen des Patienten. Was geschieht? – Der freundliche oder ängstliche Blick ist verschwunden. Der Arzt sieht jetzt nur noch ein Organ des Körpers. Eine unauffällige Veränderung, so scheint es – und doch ein tiefgreifender Wechsel der Einstellung: einmal der beseelte und erlebte Leib, das andere Mal der physische Körper. Gleichwohl aber richten sich beide Einstellungen oder Aspekte auf den gleichen lebendigen Organismus. Es ist keine Rede von einer »mentalen Innenwelt«, einem »immateriellen Ich«, ebenso wenig von einem rein maschinenhaften, physikalischen Körper. Anstelle eines Grabens zwischen 2 radikal voneinander verschiedenen Welten, der rein mentalen und der rein physikalischen, haben wir nun die Dualität zweier Aspekte, jedoch mit einer gemeinsamen Beziehung auf das Lebewesen oder auf die Person. Denn die Person meint immer ein Lebewesen, ein verkörpertes Subjekt. Der lebendige Orga-
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nismus ist also die Mitte, die wir zwischen mentalen und physischen Prozessen wieder einsetzen müssen, damit wir das Gehirn angemessen begreifen können, nämlich als Organ eines Lebewesens, einer Person. Es erscheint dann nicht mehr als ein isolierter Apparat, der die Welt oder das Subjekt konstruiert, sondern in erster Linie als Vermittlungsorgan für die Beziehungen der Person zu ihrer Umwelt (Fuchs 2010). In den letzten 2 Jahrzehnten hat sich nun unter dem Begriff »embodied cognition« eine neue Richtung der Kognitionswissenschaften entwickelt, die diese ökologischen Zusammenhänge in den Vordergrund rückt (Varela et al. 1992; Clark 1997; Thompson u. Varela 2001; Thompson 2007). Sie betrachtet Subjektivität als verkörpert in der sensomotorischen Aktivität des Organismus und als eingebettet in die Umwelt – »embodied«, »embedded« und »enactive«, wie es im Englischen heißt. An die Stelle von internen Repräsentationen im Gehirn treten dabei die dynamischen Operationen von Organismen in ihrer Umwelt. Das Gehirn fungiert dabei als ein Vermittlungsorgan, nicht als alleiniger Produzent des Geistes. Zwei Dimensionen dieser Verkörperung will ich kurz skizzieren: die Interaktion von Gehirn und Körper, und die Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt. Aus ihnen resultieren zugleich grundlegende Dimensionen des Selbsterlebens, nämlich das leibliche und das ökologische Selbst. z z Interaktion von Gehirn und Körper – leibliches Selbst
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Phänomenologische und neurobiologische Theorien stimmen darin überein, dass jedem bewussten Erleben ein Kernbewusstsein zugrunde liegt, das wir auch als leibliches Hintergrundempfinden oder als basales Selbsterleben auffassen können. Nach Damasios (2000) oder Panksepps (1998a, b) Konzeption entsteht es durch eine ständige Interaktion somatischer Afferenzen mit somatosensorischen Hirnzentren, vermittelt vor allem über die vegetativen Hirnstamm- und Zwischenhirnzentren. Alles bewusste Erleben beruht insofern auf der ständigen Interaktion des Gehirns mit dem übrigen Organismus, auf den Rückmeldungen etwa von den Gliedern, Muskeln, Eingeweiden, nicht zuletzt auf dem ganzen biochemischen und neurohormonalen
Milieu von Blut und Liquor, in welches das Gehirn eingebettet ist. In gleicher Weise sind die Affekte als Kern unseres subjektiven Erlebens an die ständige Interaktion von Gehirn und Körper gebunden. Stimmungen und Gefühle sind immer auch gesamtorganismische Zustände, die nahezu alle Systeme des Körpers einbeziehen: Gehirn, autonomes Nervensystem, hormonelles und Immunsystem, Herz, Kreislauf, Atmung, Eingeweide und Ausdrucksmuskulatur (Mimik, Gestik und Haltung). Jedes Gefühlserlebnis ist untrennbar verknüpft mit Veränderungen dieser Körperlandschaft. Erst wenn diese an bestimmte Areale des Gehirns weitergeleitet werden, insbesondere an den somatosensiblen Kortex, können Gefühle im vollen Sinne auftreten (Damasio 2000). Damit wird bereits deutlich, dass die auf der vegetativen Ebene bestehende Einheit von Gehirn und Organismus auch die höheren Hirnfunktionen umfasst. Alle Bewusstseinstätigkeiten wie Wahrnehmen, Denken oder Handeln, ja, auch alles Selbsterleben beruht keineswegs nur auf Neuronenaktivitäten im Neokortex, sondern ebenso auf den fortwährenden vitalen und affektiven Regulationsprozessen, die den ganzen Organismus und seinen momentanen Zustand miteinbeziehen. Der »Zerebrozentrismus« der Neurowissenschaften beruht auf einer künstlichen Trennung von Bewusstsein und Körper, die einer systemisch-biologischen Betrachtung des Organismus nicht standhält. Weder das Gehirn noch das Bewusstsein lassen sich vom lebendigen Körper insgesamt trennen. z z Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt – ökologisches Selbst
Abgesehen von der inneren Regulation besteht die Hauptaufgabe des zentralen Nervensystems darin, die sensomotorischen Beziehungen von Organismus und Umwelt zu vermitteln. »Embodiment« bedeutet hier die inhärente Verknüpfung von Wahrnehmung und Bewegung – lange schon vorweggenommen in Uexkülls Funktionskreis und Weizsäckers Gestaltkreis (Uexküll 1973; Weizsäcker 1986). Was ein Lebewesen wahrnimmt, ist abhängig von seiner Bewegung, und umgekehrt. Das gilt für die Bewegungen der Hand, die ein Objekt ertastet, ebenso wie für das Abtasten von Gegenständen mit dem Blick. Wahrnehmung ist daher kein bloßer
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Innenzustand des Gehirns, sondern eine geschickte Aktivität, die die Veränderungen der sensorischen Reize zur Eigenbewegung des Organismus fortlaufend in Beziehung setzt (O’Regan u. Noë 2001). Mit anderen Worten: Die erlebte Welt entsteht für uns im Verlauf lebendiger Interaktionen mit ihr. In diesen Interaktionen wirkt das Gehirn in erster Linie als Organ der Vermittlung und Transformation von Wahrnehmung und Bewegung (Fuchs 2011). Es stellt mit seinen Netzwerken gleichsam offene Schleifen bereit, die durch geeignete Gegenstücke der Umwelt zum aktuellen Funktionskreis geschlossen werden. Mit anderen Worten: Ein Objekt zu erkennen bedeutet immer auch zu wissen, wie man mit ihm umgeht. Die systemische Einheit von Gehirn, Organismus und Umwelt zeigt sich auch in der subjektiven Erfahrung. Beim geschickten Werkzeuggebrauch, etwa beim Schreiben, Klavierspielen oder Autofahren, schließen sich die Instrumente dem eigenen Leib an. Schreibe ich einen Brief, so wäre es sinnlos, diese Tätigkeit dualistisch aufzuteilen und sie entweder meiner Hand, meinem Gehirn oder aber meinem Bewusstsein zuzuschreiben. Papier, Stift, Hand und Gehirn bilden eine Einheit, und ich empfinde das Kratzen des Bleistifts an seiner Spitze, nicht in meiner Hand. Es ist gar nicht möglich, hier eine Grenze zwischen »Innen« und »Außen«, »Selbst« und »Nicht-Selbst« zu ziehen. Ich bin kein inneres Bewusstsein, kein Selbstmodell im Kopf, getrennt von meinem Schreiben, sondern ich bin ein verkörpertes, ja, ein »ökologisches Selbst« (Neisser 1988), dessen Grenzen nicht an der Haut enden. Ich fasse zusammen: Geist und Subjektivität finden sich nicht im Gehirn, sondern sie sind lebendig und verkörpert: in Form des leiblichen Hintergrunds für unser basales Selbsterleben und als Beziehung von verkörpertem Subjekt und Umwelt, entsprechend dem ökologischen Selbsterleben. Zweifellos ist das Gehirn das Zentralorgan geistiger Prozesse, keineswegs aber der »Ort«, an dem sie zu lokalisieren wären. Selbst und Bewusstsein entstehen nur in einem lebendigen und mit der Umwelt vernetzten Organismus. Grundlage des Psychischen ist das Gehirn in Beziehung zum Körper, zur Umwelt und zu den anderen Menschen – das Gehirn als Beziehungsorgan.
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Insofern enthält das Gehirn als solches tatsächlich nicht mehr Bewusstsein als etwa die Hände oder die Füße, auch wenn seine Funktionen dafür in besonderem Maß erforderlich sind. Bewusstsein ist die Beziehung des Lebewesens zu seiner Welt; es entsteht daher nur im übergreifenden System von Organismus und Umwelt, auf der Basis des Zusammenspiels vieler Komponenten, zu denen das Gehirn und der gesamte Körper mit seinen Sinnen und Gliedern ebenso gehören wie die passenden »Gegenstücke« der Umgebung. Zentral notwendig für die Entstehung von Bewusstsein ist das Gehirn, weil in ihm alle Kreisprozesse zusammenlaufen und verknüpft werden, so wie die Gleise in einem Hauptbahnhof. Wird dieser zerstört, dann bricht der Zugverkehr, analog dem bewussten Erleben, freilich zusammen. Dennoch, um den Vergleich fortzuführen, der Zugverkehr wird weder vom Bahnhof erzeugt noch ist er dort zu lokalisieren. Er bedient sich vielmehr umgekehrt des Gleissystems mit seinen vielfältigen Weichen, Kreuzungen und natürlich seiner zentralen Koordinationsstelle im Hauptbahnhof, damit die Transportprozesse möglichst reibungslos ablaufen und damit Personen ihre Ziele erreichen. Analog stellt die Bewusstseinstätigkeit das »Integral« der gesamten, je aktuellen Beziehungen zwischen Gehirn, Organismus und Umwelt dar. Die Gedankenexperimente von einem entkörperten Gehirn, das, in einer Nährlösung versorgt und von einer Apparatur geeignet stimuliert, ein illusionäres Bewusstsein produzieren könnte, lassen sich rasch entkräften: Um die Illusion des Inder-Welt-Seins zu erzeugen, müsste die Apparatur nicht nur die homoöstatische Selbstregulation des Organismus genau nachbilden, sondern auch alle fortlaufend rückgekoppelten Interaktionen von Gehirn, Körper und Umwelt simulieren, was wiederum nur durch einen beweglichen, gegliederten und mit beweglichen Sensoren ausgestatteten Körperapparat möglich wäre. Das heißt, das Experiment würde schließlich eine Apparatur erfordern, die nichts anderes wäre als ein lebendiger und mit der Umwelt interagierender Körper (Cosmelli u. Thompson 2011). Nur als Organ eines Lebewesens wird das Gehirn zu einem Vermittler geistiger Prozesse. Insofern ist bereits die Grundannahme irrig, die das Gedankenexperiment leitet: Es gibt nicht
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etwas in uns, das wahrnimmt, fühlt oder denkt – weder einen cartesianischen Geist noch ein körperloses Gehirn. Bewusstsein ist kein Innenzustand, kein »Tunnel«, sondern der erlebte Lebensvollzug, das In-der-Welt-Sein eines lebendigen Wesens oder einer verkörperten Person. z
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Zustände und Handlungen ermöglichen und hervorbringen. Ich bin ein lebendiges, verkörpertes Wesen – und keine neurowissenschaftlichen oder neurophilosophischen Erkenntnisse zwingen mich dazu, mich als ein Produkt einer Matrix-Welt anzusehen, die von meinem Gehirn erzeugt wird.
Resümee
Das Resümee will ich in Antworten auf 3 Fragen formulieren: 1. Ist das Selbst ein Konstrukt des Gehirns? Die Antwort lautet nein. Denn Subjektivität ist keine Innenwelt, die sich mit Hirnzuständen identifizieren ließe. Sie entsteht nur im dynamischen Zusammenspiel von Gehirn, Organismus und Umwelt und überschreitet fortwährend die Grenzen des Gehirns ebenso wie des Körpers. Subjektivität ist insofern das In-derWelt-Sein eines verkörperten Wesens. Dazu gehört aber auch die Selbsterfahrung des Lebewesens, in der sich leibliches und ökologisches Selbsterleben verknüpfen. Sie ist unabdingbarer Bestandteil der Subjektivität, noch vor allen sozialen Zuschreibungen und Selbstkonzepten, die sich im Laufe der weiteren biografischen Entwicklung ausbilden. 2. Ist die Welt im Gehirn? Nein. Die erlebte Welt ist die gemeinsame Welt verkörperter Subjekte. Das Gehirn konstruiert keine virtuelle oder rein subjektive Welt, sondern vermittelt die Wahrnehmung der Welt und der Anderen. Bei all seinen faszinierenden Leistungen ist das Gehirn kein Weltschöpfer, sondern in erster Linie ein Organ der Vermittlung und Koordination. Es ist eingebettet in die Beziehungen des Organismus zu seiner Umwelt – ein Beziehungsorgan. Als solches ist es wohl die notwendige, aber keineswegs die hinreichende Bedingung für menschliches Erleben und Verhalten. Es ist nicht das Gehirn, sondern der lebendige Mensch, der fühlt, denkt und handelt. 3. Wenn das Selbst nicht im Gehirn ist, wo dann? Ich, das bewusste, erlebende und handelnde Subjekt, befinde mich nicht im Gehirn, sondern immer genau dort, wo auch mein lebendiger Körper mit all seinen biologischen Funktionen ist, die auch meine bewussten
Literatur Clark A (1997) Being there. Putting brain, body, and world together again. MIT Press, Cambridge/Mass. Cosmelli D, Thompson E (2011) Embodiment or Envatment? Reflections on the Bodily Basis of Consciousness. In: StewartJ, GapenneO, di Paolo E(Hrsg) Enaction: Towards a New Paradigm for Cognitive Science. MIT Press, Cambridge/Mass., S 361–385 Damasio A (2000) Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. List, München Feuerbach L (1985) Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist (1846). In: Feuerbach L , Anthropologischer Materialismus. Ausgewählte Schriften I (Hrsg: A. Schmidt).EVA, Frankfurt/M., S 165–191 Fuchs T (2010) Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Fuchs T (2011) The brain – a mediating organ. Journal of Consciousness Studies 18(7–8):196–221 Metzinger T (2009) Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin Verlag, Berlin Neisser U (1988) Five kinds of self-knowledge. Philosophical Psychology 1:35–59 O’Regan JK, Noë A (2001) A sensorimotor account of vision and visual consciousness. Behavioural and Brain Sciences 24:939–1011 Panksepp J (1998a) Affective neuroscience: the foundations of human and animal emotions. Oxford University Press, Oxford Panksepp J (1998b) The periconscious substrates of consciousness: affective states and the evolutionary origins of the self. Journal of Consciousness Studies 5:566–582 Straus E (1956) Vom Sinn der Sinne, 2. Aufl. Springer, Berlin Thompson E (2007) Mind in life. Biology, phenomenology, and the sciences of mind. Harvard University Press, Cambridge/Mass. Thompson E, Varela FJ (2001) Radical embodiment: neural dynamics and consciousness. Trends Cogn Sci5:418–425 Uexküll J v (1973) Theoretische Biologie. Suhrkamp, Frankfurt/M. Varela F, Thompson E, Rosch E (1992) Der mittlere Weg der Erkenntnis. Scherz, München Weizsäcker V v (1986) Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, 5. Aufl. Thieme, Stuttgart
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Die Ideengeschichte psychiatrischer Krankheitsmodelle und ihre Bedeutung für die Identität der Psychiatrie im 21. Jahrhundert Paul Hoff
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_40, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Eine mit der aktuellen klinischen und wissenschaftlichen Praxis verbundene psychiatriehistorische Forschung, die sich mit Begriffen, Personen und Institutionen beschäftigt, ist unabdingbar. Dies gilt insbesondere in Zeiten, in denen – wie heute – die Frage nach der Identität des Fachs Psychiatrie häufiger und kritischer gestellt wird.
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Die Beschäftigung mit den historischen und konzeptuellen Grundlagen des eigenen wissenschaftlichen Arbeitens ist vor allem in solchen Gebieten, die sich als empirisch-objektivierend und quantifizierend verstehen, oft wenig populär. Nun ist die Psychiatrie ein medizinisches Spezialgebiet, das seit seiner Entstehung von ausgeprägten, ja oft fundamentalen begrifflichen Kontroversen begleitet wurde und wird. Schon eine alles andere als vollständige Aufzählung der Krankheitsmodelle, die seit der Aufklärung, aus der sich das heutige Selbstverständnis der Psychiatrie herleitet, entwickelt wurden, zeigt die schier unübersehbare Heterogenität von Annahmen und Hypothesen zum Phänomen psychische Krankheit: So etwa ist diese verstanden worden als Krankheit der Vernunft, psychische Fehlentwicklung, Erkrankung des Gehirns, Folge sozialer Missstände, existenzielles Anderssein, »Degeneration (Entartung)«, Folge schuldhaft verfehlter Lebensführung, als repressiver Begriff, der sich als wissenschaftlich tarnte, und schließlich als Kommunikationsstörung. Diese Vielfalt und Widersprüchlichkeit wird auch durch das in den letzten Jahrzehnten breit akzeptierte biopsychosoziale Modell der Entstehung psychischer Störungen nicht vollständig beseitigt, auch wenn dieses Modell zweifellos zu einer Versachlichung der – zuvor oft polemisch zugespitzten – Konfrontation zwischen verschiedenen psychiatrischen Schulen beigetragen hat. Auf diesem Hintergrund fällt es leicht, die Praxisrelevanz psychiatriehistorischer – und hier besonders ideengeschichtlicher– Forschung nicht nur zu behaupten, sondern auch zu belegen, denn jede psychiatrische Konzeption, sei sie naturalistisch, deskriptiv, hermeneutisch, anthropologisch oder sozialwissenschaftlich orientiert, ist notwendig mit einer Fülle von theoretischen Vorannahmen verknüpft. Eine für das Selbstverständnis des Fachs wirksame psychiatriehistorische Forschung bear-
beitet daher ihren Gegenstand immer auch in praktischer Absicht, etwa um dogmatische Verkürzungen zu erkennen oder zu verhindern. Nun kann hier auf die in jüngerer Zeit erfreulich zunehmende Aktivität und Binnendifferenzierung des Fachs Psychiatriegeschichte nicht en détail eingegangen werden, auch nicht auf die methodisch wesentliche Frage, ob einzelne Begriffe (etwa »Demenz«), ganze Konzepte (etwa »Dopaminhypothese der Schizophrenie«) oder klinisch beobachtbares Verhalten (etwa »gehemmt-depressives Syndrom«) Gegenstand der Untersuchung sind (Berrios 1995; Berrios u. Porter 1995). Vielmehr werden im Folgenden paradigmatisch 3 Autoren hervorgehoben, bei denen, je nach Fragestellung, beide Extreme hinsichtlich ihrer aktuellen Relevanz Gültigkeit haben: einerseits das rein historische Interesse ohne nachhaltigen Bezug auf die heutige Psychiatrie, anderseits die geradezu zentrale Bedeutung für den laufenden Forschungsdiskurs des 21. Jahrhunderts. Es handelt sich um Wilhelm Griesinger, Emil Kraepelin und Eugen Bleuler. z
Drei einflussreiche Autoren
Wilhelm Griesinger (1817–1868) war der entscheidende Wegbereiter einer sich als empirische Wissenschaft verstehenden Psychiatrie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er wandte sich konsequent gegen jede Art von unreflektierter Spekulation und darf insoweit keineswegs als unkritischer Materialist angesehen werden, obwohl er klar und nachhaltig auf die Bedeutung neurowissenschaftlicher Untersuchungen für die psychiatrische Forschung auch in ätiologischer Hinsicht hinwies. Er vertrat aber gerade keinen dogmatisch-metaphysischen, sondern einen pragmatisch-methodischen Materialismus als Richtschnur für die empirische Forschung (Griesinger 1861; Hoff u. Hippius 2001; Verwey 1985; Wahrig-Schmidt 1985). Dass für ihn die Forschung stets eine praktische Verankerung haben musste, zeigt sich in dem immer noch wenig bekannten Umstand, dass Griesinger als ein Begründer der modernen Sozialpsychiatrie anzusehen ist: So forderte und förderte er im großstädtischen Kontext in Berlin die Einführung von patientenund familiennahen »Stadtasylen«, Vorläuferinstitutionen heute selbstverständlicher ambulanter und
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teilstationärer sozialpsychiatrischer Versorgung (Rössler 1992). Nun sind zahlreiche nosologische Detailfragen, die Griesinger in den verschiedenen Auflagen seines einflussreichen Lehrbuchs und in anderen Publikationen erörtert hat, heute in Vergessenheit geraten. Seine Grundpostulate jedoch, dass es zwischen verschiedenen klinischen Erscheinungsformen psychotischen Krankseins kontinuierliche Übergänge und eben keine klaren Grenzen gebe und dass eine Psychose typischerweise in vom Schweregrad her unterscheidbaren Stadien verlaufe – das Konzept der »Einheitspsychose« – ist heute in neurowissenschaftlicher Perspektive wieder eine hochinteressante Position (Mundt u. Sass 1992; Vliegen 1980). Markant belegt wird dies etwa durch die zunehmende Kritik an Kraepelins nosologischer Dichotomie, also der kategorialen Abgrenzung des schizophrenen vom affektiven Formenkreis (Craddock u. Owen 2005; Möller 2008). Emil Kraepelin (1856–1926) stellte das im Vergleich zu Griesinger noch wesentlich weiter gehende Postulat auf, es gebe in der Psychiatrie – ähnlich wie in anderen Bereichen der Medizin – »natürliche Krankheitseinheiten«, also biologisch vorgegebene Entitäten, die vom Forscher zu entdecken und nicht etwa zu konstruieren seien, eine Position, die auch als »realwissenschaftlich« bezeichnet wird (Kraepelin 1896). Im Rahmen dieser Grundorientierung vertrat Kraepelin denn auch stets einen konsequenten Naturalismus: Für ihn (und viele seiner zeitgenössischen Fachkollegen) waren letztlich alle psychischen Phänomene, ja sogar der interpersonale, ethische und gesellschaftliche Bereich letztlich notwendig und hinreichend erklärbar als biologisch-evolutive Vorgänge. Entsprechend markant betonte er den Wert experimentell-quantitativer psychiatrischer Forschung, wohingegen er der subjektiven – und generell der qualitativen – Dimension der psychiatrischen Diagnostik, Behandlung und Forschung mit erheblicher Skepsis, ja expliziter Ablehnung begegnete (Hoff 1994). Ähnlich wie bei Griesinger, jedoch mit anderer Akzentsetzung, ist im Falle von Kraepelin festzuhalten, dass einerseits sein diagnostisches Grundgerüst mit der Dichotomie der beiden großen psychotischen Formenkreise möglicherweise zukünftig noch stärker unter Druck geraten und
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an Einfluss verlieren wird. Andererseits trifft sein Bekenntnis zu einem eng verstandenen Naturalismus den Kern der aktuellen Debatte, läuft doch innerhalb der Psychiatrie und in ihren Nachbardisziplinen zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine intensive und streckenweise kontroverse Debatte darüber, wie weit der Erklärungshorizont neurowissenschaftlicher Methoden bei der Erforschung psychischer und sozialer Phänomene reichen kann, seien diese ungestört oder alteriert (Honnefelder u. Schmidt 2007). Eugen Bleuler (1857–1939) war – ebenso wie Kraepelin – Vertreter eines deutlich naturalistischen Herangehens an psychische Störungen, doch ging er in vielen Punkten weniger weit als Kraepelin. So etwa wollte er nicht von der Krankheitsentität »Dementia praecox« sprechen, sondern in Anbetracht der extremen Heterogenität des klinischen Erscheinungsbilds und des Verlaufs lediglich von der »Gruppe der Schizophrenien«. Was ihn aber am markantesten von Kraepelin unterschied, war seine ausdrückliche Bereitschaft, ja Forderung, hermeneutische und auch dezidiert psychoanalytische Elemente in die Diagnostik und Behandlung schwerer psychotischer Erkrankungen zu integrieren (Bleuler 1911). Auch bei Bleuler finden sich Aspekte, die heute kaum noch Bedeutung haben, und solche, die überaus aktuell sind: Vor allem die erwähnte Verbindung nomothetisch-biologischer mit idiographisch-hermeneutischen Methoden sowie seine Betonung von Tagesstruktur und sozialen Kontakten gerade während einer (seinerzeit oft sehr langwierigen) stationären psychiatrischen Behandlung muten mit Blick auf das heutige biopsychosoziale Modell ausgesprochen modern an. Hingegen ist die an der Grenze zur vitalistischen Spekulation angesiedelte Weiterentwicklung seines naturalistischen Ansatzes im Spätwerk heute so gut wie unbekannt. Sie wäre auch nur mit Mühe an die aktuelle psychiatrische Diskussion anzuknüpfen. Ein aussagekräftiges Beispiel für die Praxisrelevanz der Argumente, die von den 3 genannten klassischen Autoren vorgebracht worden sind, ist die laufende Kontroverse zu der Frage, ob es sich bei der Schizophrenie um eine Krankheit bzw. Krankheitseinheit handele oder nicht. Den Horizont dieser Debatte stecken die 2 Extrempositionen ab,
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wie sie in einer Publikation von Read et al. (2004) erwähnt werden, nämlich zum einen die von den Autoren selbst vertretene Hypothese »Schizophrenia is not an illness« und zum anderen die von ihnen zitierte Feststellung des National Institute of Mental Health (NIMH) aus dem Jahr 2003 »Schizophrenia is a chronic, severe and disabling brain disease« (www.nimh.hih.gov/publicat/schizoph. pdf). Klarer entgegengesetzt können wissenschaftliche Aussagen kaum sein. Den Hintergrund dieser Kontroverse –jenseits bloßer Polemik – zu verstehen, ohne die ideengeschichtlichen Meilensteine zu kennen, ist nicht möglich. z
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Vergänglichkeit psychiatrischer Krankheitskonzepte
Die Ebene konkreter psychiatriehistorischer Beispiele gewinnt noch an Kontur, wenn sie in eine allgemeine Reflexion über die Vergänglichkeit psychiatrischer Konzepte eingebettet wird. Dabei können 2 ganz unterschiedliche – nämlich positive und negative – Bewertungen dieser Vergänglichkeit zur Geltung kommen (Hoff 2008). Das Verblassen oder Verschwinden von Konzepten kann sich zum einen negativ auf die weitere Entwicklung des Fachs auswirken: Wenn nämlich frühere Modelle gar nicht mehr rezipiert und diskutiert werden, gehen historische Kenntnisse über die Psychiatrie verloren. Hinzu kommt, dass dabei auch das Wissen um bzw. das Bewusstsein für die Historizität und Kulturgebundenheit des Fachs nachhaltig Schaden nimmt. Weiß man nicht, aus welcher Denktradition tragende Begriffe unseres Alltags – wie Psychose, Depression, Persönlichkeitsstörung, Abhängigkeit – stammen und welche Wege sie seither genommen haben, so wird im ungünstigsten Fall eine Tendenz verstärkt, die Psychiatrie für rein faktenorientiert, objektiv, gar »wertfrei« zu halten. Und schließlich steigt noch das Risiko, alte konzeptuelle Sackgassen immer wieder (vermeintlich) neu zu erfinden und zu erkunden. Erinnert sei an die teilweise verblüffende Ähnlichkeit, die hinsichtlich grundlegender psychiatrischer Fragen zwischen dem ausgehenden 19. und dem ausgehenden 20. bzw. beginnenden 21. Jahrhundert besteht: Im Zentrum standen und stehen dabei der Zusammenhang von morphologischen oder funktionellen Hirnveränderungen mit der subjektiven
psycho(patho)logischen Ebene und der Status der personalen Autonomie im Licht neurowissenschaftlicher Befunde (Elger et al. 2004; Hoff 2006). Zum anderen kann sich sehr wohl ein positives, da wissenschaftlich fruchtbares Verständnis von Vergänglichkeit etablieren, das im Grunde Weiterentwicklung meint. So können innovative, aber eben auf früheren Ansätzen aufbauende empirische Ergebnisse, Forschungsmethoden und theoretische Entwürfe neue Antworten auf alte Fragen, im besten Fall auch kluge neue Fragen generieren. Solche Prozesse illustrieren anschaulich, wie nahe an der täglichen Praxis scheinbar so theoretische Fragen wie der Zusammenhang von Gehirn und Subjektivität (»Leib-Seele-Problem«) tatsächlich angesiedelt sind. Und ohne Frage verringert sich durch die aktive Präsenz ideengeschichtlichen Wissens die Wahrscheinlichkeit, ein neues wissenschaftliches Konzept unkritisch zu über-, aber auch zu unterschätzen. z
Resümee
Die skizzierten Zusammenhänge lassen sich zu 3 Thesen verdichten: 1. Wegen der markanten Abhängigkeit der Psychiatrie von theoretischen Prämissen braucht es eine mit der aktuellen klinischen und wissenschaftlichen Praxis verbundene psychiatriehistorische Forschung, die sich mit Begriffen, Personen und Institutionen beschäftigt. Dieser allgemeine Grundsatz hat umso mehr Gewicht in Zeiten, in denen – wie heute – die Frage nach der Identität des Fachs Psychiatrie häufiger und kritischer gestellt wird. 2. Eine informierte, die historische Dimension einbeziehende Distanz zu den jeweils aktuellen theoretischen Modellen vermindert deren explizite oder, weit beunruhigender, implizite Dogmatisierung. Dies wiederum senkt das aus jedem dogmatischen Anspruch zwangsläufig resultierende Risiko der missbräuchlichen Verwendung psychiatrischer Konzepte. 3. Die Psychiatrie hat gerade wegen der außerordentlichen Komplexität ihres »Forschungsgegenstands« – nämlich die psychisch kranke Person – eine besondere Verantwortung gegenüber ihren Patientinnen und Patienten, aber ebenso gegenüber der Gesellschaft, von
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der sie ihren Auftrag bezieht und deren Teil sie ist. Auch diese Verantwortung und der ihr zugrunde liegende Respekt vor dem Individuum verlangen die stetige praxisnahe Reflexion der ideengeschichtlichen Wurzeln unseres Fachs.
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Kunst, Krankheit und Tradition Klaus Podoll
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_41, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Inspiration durch Krankheit (ein Forschungsgegenstand der Pathographie) und Inspiration durch Aneignung der Tradition (ein Forschungsgegenstand der Kunstwissenschaft) werden meistens als gänzlich voneinander getrennte Quellen der künstlerischen Kreativität angesehen. Die vorliegende Studie beschreibt eine bislang wenig beachtete Interaktion dieser beiden Arten der Inspiration, dergestalt dass das Vorliegen der gleichen inspirierenden Krankheit bei zwei Künstlern eine artistische Wahlverwandtschaft begründet, die den einen Künstler das Werk des anderen in einer Perspektive, die von der gemeinsamen Erkrankung bestimmt ist, schöpferisch aneignen lässt. Durch das Augenmerk auf diese Interaktion wird eine konzeptionelle Erweiterung des klassischen pathographischen Zugangs erzielt, der die Doppelnatur der Psychiatrie als Natur- und Kulturwissenschaft widerspiegelt.
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Zwei bisher in der Regel unverbundene methodische Ansätze, die Quellen der künstlerischen Inspiration zu analysieren, lassen sich schlagwortartig mit den Aphorismen »Kunst kommt von Kunst« und »Kunst kommt von Krankheit« kennzeichnen. »Kunst kommt von Kunst«: Das bedeutet, dass der Künstler in allen Fällen in eine kulturelle Tradition eingebunden ist, sodass seine Rezeption des Werks eines anderen zeitgenössischen oder bereits verstorbenen Künstlers eine wichtige Inspirationsquelle seiner eigenen künstlerischen Produktion darstellt. Diese Aneignung der Tradition kann über ein persönliches Schüler-Meister-Verhältnis vermittelt werden, wie es in der Institution der Kunstakademie gepflegt wird. Sie kann sich jedoch bei einem Künstler auch ohne jeden direkten Kontakt (und dann ohne Rücksicht auf zeitliche oder räumliche Grenzen) allein durch die Auseinandersetzung mit dem Werk des anderen Künstlers vollziehen. Dieser Einfluss kann nicht nur aufgrund von Zeugnissen der Künstlerbiografie erfasst, sondern auch als Einfluss eines vorausgehenden Kunstwerks auf ein nachfolgendes mit kunstwissenschaftlichen Methoden durch die Konstruktion von Bildketten demonstriert werden. »Kunst kommt von Krankheit«: Das bedeutet, dass (zumindest in einigen Fällen) der Künstler durch eine bei ihm bestehende Krankheit über besondere Erfahrungen verfügt oder bestimmten Einschränkungen unterliegt, welche als künstlerische Inspirationsquellen fungieren
. Abb. 41.1 Malte Urbschat, Hildegard von Bingen featuring Malte Urbschat, 2005 (Installationsansicht, Kunstverein Braunschweig, Fotografie von Thomas Müller) © Malte Urbschat
können. Der Einfluss einer Krankheit auf das Werk eines Künstlers wird hierbei mit der Methodik der Pathographie untersucht. Psychiatrische (Hilken 1993) und neurologische Erkrankungen (Bradford 2007) spielen hierbei aus ersichtlichen Gründen eine besondere Rolle. Die beiden vorgestellten Arten der künstlerischen Inspiration –Inspiration durch Tradition und Inspiration durch Krankheit– können in manchen Fällen in komplexer Weise miteinander verschränkt und verwoben sein. Das Vorliegen der gleichen inspirierenden Krankheit bei 2 Künstlern kann nämlich den ausschlaggebenden Faktor dafür darstellen, dass – und wie – ein Künstler sich vom Werk eines anderen inspirieren lässt. Dieser bislang in der Literatur weitgehend unbeachtet gebliebene Vorgang soll in der vorliegenden Studie anhand dreier Paare von migräneinspirierten Künstlern (Podoll u. Robinson 2008) dargestellt werden. Beispiel 1
Der deutsche Künstler Malte Urbschat (geb. 1972), bei dem seit dem Alter von ca. 13 Jahren eine Migräne mit Aura bekannt ist, präsentierte 2005 im Kunstverein Braunschweig eine Rauminstallation (. Abb. 41.1) mit dem Titel Hildegard von Bingen featuring Malte Urbschat, in der vor 2 Wänden mit Zeichnungen, Collagen und Objekten eine Vitrine platziert war, die neben dem ersten Band von Peter Sloterdijks Trilogie Sphären (1998) Oliver Sacks‘ Monographie Migräne (1970) enthielt, worin die
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erstmals 1917 von Charles Singer vertretene Hypothese der migränösen Grundlage von Hildegard von Bingens Visionen (Podoll u. Robinson 2002) popularisiert worden war. »Anlass für die Arbeit in Braunschweig war eine mir auffallende Ähnlichkeit meiner frühen Zeichnungen zu den Illustrationen der Visionen Hildegard von Bingens«, berichtete Urbschat in einer persönlichen Mitteilung (2008) an den Verfasser. Wie Janneke de Vries (2006) schrieb, »wäre es wohl niemals zu [dieser] Serie von Zeichnungen, Collagen und Objekten über die Visionen der Hildegard von Bingen gekommen, wenn diese Mystikerin, Äbtissin und Klostergründerin des 12. Jahrhunderts ihre Schriften und Gesundheitslehren tatsächlich auf der Grundlage göttlicher Eingebungen entwickelt hätte. Urbschat hakt vielmehr an dem Punkt nach, an dem die Schulmedizin die heiligen Visionen als typische Wahrnehmungsstörungen einer Migränepatientin einstuft und somit entmystifiziert.« (Genauer gesagt, wurden von der Schulmedizin die Phänomene der Migräneaura nur als Basis der mystischen Visionen Hildegard von Bingens geltend gemacht, nicht aber diese mit jenen gleichgesetzt.) »Jedoch geht es ihm nicht darum, den Visionen, deren Niederschriften und modellhaften mittelalterlichen Weltordnungen die Grundlage zu nehmen, indem er ihre ›weltliche‹ Ursache offenlegt. Ganz im Gegenteil interessiert ihn das Potenzial, das eben gerade in Erfahrungen liegt, die auf allzu erklärbaren Vorgängen fußen.« In Urbschats Rauminstallation verschmelzen Motive aus Hildegard von Bingens Scivias mit seinen eigenen Erfahrungen von Krankheitssymptomen der Migräne mit Aura (Phosphene, Skotome, Lähmungen, Sprachstörungen und Kopfschmerz). Nach Janneke de Fries (2006) »vernetzte sich in Braunschweig über die Rückführung von ‚außerweltlichen‘ Erfahrungen in die Bereiche einer geradezu populären, jedenfalls konkret weltlichen Krankheit hinaus die Erfahrungswelt einer Mystikerin des Mittelalters mit der des Künstlers selbst, der ebenfalls unter Migräne leidet.« Beispiel 2
Die amerikanische Malerin Ann McGriffith (geb. 1951), die seit dem Alter von 5 Jahren mit einer Migräne mit Aura vertraut war, die als künstlerische Inspirationsquelle in ihr reifes Werk einfloss, wur-
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. Abb. 41.2 Ann McGriffith, Visual Disturbance, 2002; © Ann McGriffith
de im Alter von 6 Jahren von ihren Eltern ins Kino ausgeführt, wo Walt Disneys Zeichentrickfilm Alice im Wunderland gespielt wurde. »Ich war fasziniert!«, erinnert die Künstlerin sich in einer persönlichen Mitteilung (2010) an den Verfasser. »Ich hatte eine Außenwelt gefunden, die sich mit den Visionen in meinem Kopf deckte. Es wurde mein absoluter Lieblingskinderfilm und ich fragte auch nach dem Buch und erhielt es.« Fünfundvierzig Jahre später wurde sie von einer Episode aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland (1865) zu einem Acrylgemälde mit dem Titel Visuelle Störung (2002) inspiriert (. Abb. 41.2). Nach eigener Angabe war ihr beim Wiederbetrachten von John Tenniels Illustration zur Stelle »Ich habe schon oft eine Katze ohne Grinsen gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze!« schlagartig die Ähnlichkeit zu ihren damals besonders häufigen visuellen Migräneauren zu Bewusstsein gekommen, was sie zu ihrem Gemälde inspirierte. »Es war, als wäre eine Glühbirne in meinem Kopf angegangen. Ich brachte [die Stelle] so-
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fort damit in Verbindung, eine Migräne zu haben.« Auf Befragen gab McGriffith an, dass ihr seinerzeit nicht bekannt war, dass Lewis Carroll (1832-1898) einer Reihe von medizinischen Autoren zufolge an einer Migräne mit Aura gelitten hatte (Podoll u. Robinson 1999), die in der medizinischen Literatur auch explizit als künstlerische Inspirationsquelle der Episode mit der Cheshire Cat diskutiert wurde (z. B. Livesley 1973; Klee 1991). Beispiel 3
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Die amerikanische Künstlerin Stacy Alexander (geb. 1953) kannte seit ihrer Kindheit stereotyp wiederkehrende Attacken einer Migräne mit Aura mit minutenlangem Sehen von Punktmustern, scheinbaren Vorwölbungen von Strukturen und hellen Farben im gesamten Gesichtsfeld jedes Mal vor und bei Beginn der Kopfschmerzen. »Als ich 12 Jahre alt war«, schrieb Alexander in einer persönlichen Mitteilung (2009) an den Verfasser, »besuchte ich zusammen mit meinem Vetter die Kunstabteilung einer lokalen Universitätsbibliothek und betrachtete einen Werbeflyer für eine Galerie [die Castellane Gallery] in New York, die ein Werk von Yayoi Kusama [Baby Carriage, 1964] ausstellte, in dem sie dreidimensionale Objekte überall an einem gewöhnlichen Kinderwagen angebracht hatte. Das Stück nahm meine Aufmerksamkeit gefangen, weil es vertraut für mich aussah, als ob jemand anderer eine Sprache sprechen würde, von der ich glaubte, dass nur ich sie kennen würde. Als Kind hatte ich die Neigung, entweder Punkte oder kleine dreidimensionale Objekte zu normalen Haushaltsgegenständen hinzuzufügen, um die Bilder zu reproduzieren, die ich sehen konnte, wenn ich meine Augen vor dem Beginn des Kopfschmerzes oder beim Abklingen des Kopfschmerzes schloss. Nachdem der Kopfschmerz aufgehört hatte, konnte ich mir immer noch die Punktmuster und die Muster dessen, was wie die Vorwölbungen von Multiples aussah, bildlich vorstellen, sodass ich versuchte, sie nachzubilden.« (Unter einem Multiple – deutsch: Auflagenobjekt – versteht man eine künstlerische Arbeit, die aus einer bestimmten Anzahl von seriell hergestellten Objekten besteht und vom Künstler als Multiple autorisiert ist.) »Zum Beispiel bedeckte ich den Griff der Säge meines Vaters mit rosafarbenen, gelben und weißen Punktmustern und
. Abb. 41.3 Stacy Alexander, Reading About Yayoi Kusama, 2008; © Stacy Alexander
brachte kleine Plastiksoldaten an den Außenflächen der Krücken meines Onkels an.« Diesen Inspirationsquellen und Techniken ist Alexander auch in ihrem Werk als reife Künstlerin treu geblieben, ebenso wie ihrer Bewunderung für die japanische Künstlerin Yayoi Kusama (geb. 1929), die sich autobiografischen Zeugnissen zufolge ebenfalls seit der Kindheit von visuellen Halluzinationen und Illusionen inspirieren ließ, als deren Ursache von Podoll et al. (2004) eine persistierende Aura ohne Hirninfarkt, eine seltene Komplikation der Migräne mit Aura, postuliert wurde (Podoll 2009). Ein Acrylgemälde aus dem Jahr 2008 mit dem Titel Lesen über Yayoi Kusama (. Abb. 41.3) zeigt Stacy Alexander auf einem Wangensessel kauernd und in die Lektüre eines Buches über die wahlverwandte Künstlerin vertieft. Das Buchcover, die Kleidung, der Sessel, die Außenwelt, ja selbst der durch eine Denkblase demarkierte Bereich der bildlichen Vorstellung sind von verschiedenfarbigen Punktmustern übersät. Die Gedankenblase informiert den Betrachter auch darüber, welche Frage die Künstlerin bei der Lektüre zuvorderst beschäftigt: »Yayoi Kusama ist bekannt als die ‚Diva der Punkte‘. Ich frage mich, warum ich mich immer so zu ihrer Kunst hingezogen gefühlt habe??« Die Antwort, die nach den vorausgehenden Ausführungen hierauf gegeben werden kann, lautet: Weil sowohl Alexander als auch
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Kusama mit Migräneaurasymptomen vertraut sind, die von beiden als künstlerische Inspirationsquelle verwertet wurden. Durch die pathographische Analyse von Paaren von Künstlern konnte anhand von 3 Beispielen gezeigt werden, dass das Vorliegen ein und derselben inspirierenden Krankheit bei 2 Künstlern den Ausschlag dafür geben kann, dass ein Künstler sich von dem Werk eines anderen künstlerisch inspirieren lässt. Und nicht nur dass, sondern auch wie die schöpferische Aneignung dieses Werks aus dem Fundus der Kunstgeschichte erfolgt, ist von der Erfahrung der Krankheit beeinflusst, die hier wie ein Filter bei der Rezeption der kulturellen Tradition wirkt. Die 3 Beispiele zeigen das variable Ausmaß dieses Effekts, der bloß in Einzelwerken (Beispiele 1 und 2) oder in großen Teilen des Oeuvres (Beispiel 3) eines Künstlers sichtbar werden kann. Die 3 Beispiele illustrieren eine Verschränkung und Verflechtung von Inspiration durch Tradition und Inspiration durch Krankheit, wie sie auch bei dem historischen Beispiel der Entstehung der metaphysischen Malerei von Giorgio de Chirico (1888– 1978) als wirksam angenommen wurde. Nicola und Podoll (2002, 2003) postulierten, dass die Nietzsche-Rezeption durch de Chirico (Schmied 1982) entscheidend durch die bei beiden diagnostizierte Migräne mit Aura beeinflusst wurde, und verbanden damit die nur scheinbar nicht zusammengehörigen Befunde, dass die Schriften Friedrich Nietzsches (1844–1900) und die eigenen Erfahrungen einer Migräne mit Aura (Fuller u. Gale 1988) als zentrale künstlerische Inspirationsquellen des italienischen Malers auszumachen sind. In der Kunstwissenschaft und in der Pathographie sollte die hier vorgestellte Interaktion zwischen Inspiration durch Tradition und Inspiration durch Krankheit zukünftig vermehrt beachtet und als Möglichkeit in Rechnung gestellt werden.
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Zwei ethische Grundvoraussetzungen psychiatrischer Forschung Hanfried Helmchen
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_42, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 42 · Zwei ethische Grundvoraussetzungen psychiatrischer Forschung
Sorgfältige Risiko-Nutzen-Bewertung und gültige Einwilligung nach Aufklärung dienen dem Wohl des Patienten, dem Schutz bzw. der Schadensvermeidung und der Achtung der Selbstbestimmung des Patienten. Dies wird mit Studien zur Früherfassung und -intervention von Vor- und Frühstadien psychischer Krankheit und placebokontrollierten Prüfungen, mit der therapeutischen Fehlwahrnehmung bei Prüfungen und dem Umgang mit Zufallsbefunden bei Reihenuntersuchungen exemplifiziert. Empfohlen werden eine 3-stufige Validierung der Risiko-Nutzen-Bewertung und ein Verständnis der Aufklärung des Patienten nicht nur als dessen Entscheidungsgrundlage, sondern auch als vertrauensfördernde Maßnahme.
Anerkannte ethische Prinzipien ärztlichen Umganges mit Patienten sind: 4 Achtung der Selbstbestimmung des Patienten 4 Handeln zum Wohle des Patienten (salus aegroti) 4 Vermeiden von Schaden des Patienten (nil nocere) 4 Vertraulichkeit Zwei wesentliche Verfahren zu ihrer Realisierung sind: 4 Risiko-Nutzen-Bewertung 4 Einwilligung nach Aufklärung (informed consent) Dies ist besonders bedeutsam in der Forschung mit psychisch Kranken, die mit wissenschaftlichen Methoden über individuelles Wissen zu gewinnen sucht und damit über den individuellen Nutzen des an einer Forschungsintervention teilnehmenden Patienten hinausgeht. Denn eine Forschungsintervention ist ethisch nur akzeptabel, wenn 4 ihr Risiko-Nutzen-Verhältnis vernünftig und gerechtfertigt ist und 4 die Einwilligung nach Aufklärung gültig ist. Damit verbundene Probleme sollen anhand einiger aktuell kontrovers diskutierter Beispiele verdeutlicht werden.
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Schadensvermeidung durch Nutzen-RisikoBewertung: Beispiele z z Früherfassung von Vor- und Frühstadien psychischer Krankheit
Mit der Entwicklung wirksamer Therapien schwerwiegender psychischer Erkrankungen ist auch ihre Prävention zum Thema geworden (Häfner u. Maurer 2006). Dem dient die Erkennung von Vor- und Frühstadien dieser Krankheiten. Deshalb werden prospektive Studien durchgeführt, die prämorbide Zeichen psychischer Krankheit bei Kindern oder Jugendlichen aus Hochrisikofamilien (Yung et al. 2008) validieren und Konversionsraten bestimmen sollen. Dem möglichen Nutzen durch präventive Maßnahmen bei so erkannten Risikoprobanden stehen die Risiken ihrer Stigmatisierung (Wong et al. 2009) gegenüber. Auch die Bitte um Einwilligung der Eltern in solche Studien mag psychologische Folgen, zumindest auf der Verhaltensebene der Eltern haben, indem der unbefangene Umgang mit ihren Kindern beeinflusst wird, z. B. durch deren ängstliche Beobachtung oder durch Befürchtungen einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Obwohl solche Studien vornehmlich bezüglich des Risikos schizophrener Erkrankungen durchgeführt wurden, sind die Überlegungen dazu auch für andere Erkrankungen wie affektive Psychosen (Conus et al. 2010) oder Demenzen von Bedeutung. z z Frühbehandlung von Vor- und Frühstadien psychischer Krankheit
Es gibt Hinweise, dass präventive Frühbehandlung die Entwicklung schizophrener und affektiver Krankheiten verhindern oder zumindest abschwächen kann (Corcoran et al. 2005). Solchem möglichen Nutzen steht das Risiko gegenüber, falsch-positive Probanden zu behandeln und damit unnötig den Belastungen von Medikation und Stigmatisierung auszusetzen. Als spezifische Risiken werden genannt: die »Wirkungen der Information auf Patienten, Familien, Institutionen sowie die zukünftige Versicherbarkeit und die Begrenzungen der Vertraulichkeit, die auf der Verschwiegenheit von Patienten und Familien beruht, und schließlich die Selbstbestimmbarkeit von Heranwachsenden mit psychopathologischen Symptomen«. Ein weiteres Problem dieser Prodromforschung ist der noch unbefriedigte Bedarf an einer begründeten Exitstra-
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tegie für medizierte Individuen, die keine Schizophrenie entwickeln (Cornblatt et al. 2001). Risiko-Nutzen-Schätzungen von Früherkennung und -intervention sind mit Unsicherheit verbunden, da sie nur auf Wahrscheinlichkeiten gestützt werden können. Ihre ethischen Implikationen haben Klosterkoetter und Schultze-Lutter (2010) systematisch dargestellt. z z Placebokontrollen
Mit der Revision des Artikels 29 der Deklaration von Helsinki im Jahre 2000 wurde die bis dahin gültige Norm aufgegeben, dass placebokontrollierte klinische Prüfungen nur bei Fehlen wirksamer Standardtherapien ethisch vertretbar sind. Nun wurden Placebokontrollen bei klinischen Prüfungen auch bei vorhandener Standardtherapie in besonders zu begründenden Fällen als ethisch vertretbar angesehen. Die kontroverse ethische Debatte darüber wurde durch die 2002 folgende WMA-Mitteilung »note of clarification« noch weiter erhitzt, indem Vertreter einer »aktiven Kontroll-Orthodoxie« Vertretern einer »Placebo-Orthodoxie« gegenüberstanden (Emanuel u. Miller 2003; Helmchen 2005). Die Ersteren argumentieren, dass die Vorenthaltung einer geprüften Standardtherapie unethisch ist und das ethische Prinzip des Nichtschadens verletze, wohingegen die Letzteren Placebokontrollen für notwendig halten, um die Wirksamkeit einer neuen Intervention in jenen Fällen zu beweisen, in denen die Wirksamkeit einer Standardtherapie nur durch historische und klinische Erfahrung gestützt wird. Diese Diskussion wurde vor einem Jahrzehnt durch placebokontrollierte Studien mit akut schizophren Kranken intensiviert und führte zur Operationalisierung von Kriterien für einen ethisch vertretbaren Einsatz von Placebos in kontrollierten klinischen Prüfungen mit Patienten, für die eine Standardtherapie existiert (Carpenter et al. 2003). Weitere Pro-Argumente sind hohe Placebo-Response-Raten im Indikationsbereich, hohes Risiko von Nebenwirkungen der Standardtherapie oder deren Wirksamkeit nur gegen einzelne Symptome (Benkert u. Maier 1990). Besonders kontrovers verläuft die Debatte über Placebokontrollen bei Depressionen: Während einige für ihre Unverzichtbarkeit argumentieren, um unklare Belege infolge einer Äquivalenz mit einer
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möglicherweise unwirksamen Standardtherapie zu vermeiden (Baldwin et al. 2003; EMEA 2002), sind andere von der Wirksamkeit antidepressiver Medikation überzeugt (Fournier et al. 2010). Ihre Wirksamkeit ist allerdings bei leichten Depressionen weniger gut belegt. Deshalb könnten placebokontrollierte Prüfungen mit depressiven Patienten nur erwogen werden, wenn 1) das Untersuchungsziel durch kein anderes Prüfdesign, z. B. durch Prüfung auf Überlegenheit gegenüber dem Standardmedikament (Garattini u. Bertelé 2007) erreicht werden kann, 2) nur Patienten mit leichten Depressionen einbezogen werden, d. h. mit Stichproben, von denen alle Patienten mit schweren Depressionen und hohen Risiken, z. B. Suizidalität, starker Leidensdruck, ausgeschlossen werden, 3) die Placebokontrolle als Add-on der Standardbehandlung hinzugefügt wird, 4) der Patient vollständig aufgeklärt und einwilligungsfähig ist (Helmchen 2005). Ethische Konsequenz ist, dass der verantwortliche Forscher ebenso wie die zuständige Ethikkommission (Garattini et al. 2003) verpflichtet sind, das Risiko-Nutzen-Verhältnis umfassend einzuschätzen, um möglichst zutreffend festzustellen, ob die Vorteile der Placeboanwendung ihre Risiken übertreffen und ein Schaden für Patienten vermieden wird. Sie müssen deshalb genau das Pro und Contra des Studiendesigns (z. B. »me-too-trials«, »non-inferiority-« oder »superiority-trials«) prüfen, ebenso wie die klinischen Einschlusskriterien der Stichprobe (z. B. Schweregrad der Depression, Therapieresistenz) und auch das Verfahren, mittels dessen der Forschungspatient klar und umfassend aufgeklärt und seine Einwilligungsfähigkeit festgestellt wird. z z Empfehlung zur 3-stufigen Validierung der Risiko-Nutzen-Schätzung
Wegen der auf Wahrscheinlichkeitsüberlegungen basierenden Unsicherheit von Einschätzungen des Risiko-Nutzen-Verhältnisses unterliegt eine Validierung der Einwilligung des potenziellen Forschungspatienten einem 3-schrittigen Verfahren: 1. Zunächst hat der Forscher in seinem Antrag an die Ethikkommission zu begründen, warum er das Verhältnis von möglichen Risiken und Belastungen zum erwarteten Nutzen sei-
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ner Studie für akzeptabel, d. h. für vernünftig und ethisch gerechtfertigt hält. 2. Dann hat die Ethikkommission die Einschätzung dieses Verhältnisses anhand bestehender rechtlicher und ethischer Normen sowie professioneller Expertise zu prüfen und ihr Votum zu begründen. 3. Schließlich soll der potenzielle Forschungspatient oder sein autorisierter Vertreter dieses institutionell als vertretbar akzeptierte Verhältnis von möglichen Risiken, Belastungen und Unannehmlichkeiten zum erwarteten Nutzen für sich selbst im Hinblick auf seine eigenen Idiosynkrasien, Interessen und Wertvorstellungen bewerten und gegebenenfalls in die Teilnahme einwilligen. z
Achtung der Selbstbestimmung des Patienten durch Einwilligung nach Aufklärung: Beispiele z z »Therapeutische Fehlwahrnehmung«
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Damit wird das Missverständnis bezeichnet, dass ein Forschungspatient die klinische Prüfung nicht als Forschungsprojekt versteht, sondern für medizinische Versorgung hält (Miller u. Joffe 2006; Appelbaum u. Lidz 2008). Kürzlich wurde dieses fast 30 Jahre alte Konzept (Appelbaum et al. 1982) kontrovers diskutiert: Es wurde unterstellt, dass dieser Terminus die Annahme stütze, die »Teilnahme an klinischen Prüfungen benachteilige die Forschungspatienten gegenüber Patienten, die die klinische Standardtherapie erhalten« (Miller u. Joffe 2006) und dass seine neueren Interpretationen »die Unterscheidung von Forschung und Behandlung noch verstärke« (Kimmelman 2007). Solche Behauptungen wurden von den Schöpfern dieses Begriffs zurückgewiesen, indem sie kürzlich feststellten: »Unsere Bedenken zum Einfluss der therapeutischen Fehlwahrnehmung auf die Einwilligung nach Aufklärung leiten sich nicht aus der Überzeugung her, dass Forschungspatienten schlechtere Ergebnisse erreichen als Patienten, die die übliche klinische Versorgung erhalten. Vielmehr sind wir davon überzeugt, dass Personen mit einer therapeutischen Fehlwahrnehmung keine gültige Einwilligung in eine Forschungsteilnahme geben können, da sie ihre Interessen und Fähigkeit beeinträchtig, sinnvolle Entscheidungen zu treffen«
(Appelbaum u. Lidz 2008). Eine Untersuchung der letztzitierten Autoren führte zu dem Schluss, dass »Forschungspatienten in die Teilnahme an klinischen Versuchen oft nach nur äußerst bescheidener Würdigung der Risiken und Nachteile der Teilnahme einwilligen« (Lidz et al. 2004). z z Reihenuntersuchungen und das Problem zufälliger Befunde
Reihenuntersuchungen führen fast immer zu unerwarteten Zufallsbefunden. Gegenwärtig werden Zufallsbefunde magnetresonanztomographischer (MRT-) Reihenuntersuchungen heftig diskutiert: Die zunehmende Breite der Anwendung von HirnMRT bei gesunden, d. h. symptomfreien Menschen aus den verschiedensten Gründen, wie z. B. für Zwecke der Forschung, des Berufes oder der Klinik, ebenso wie auch kommerzielle Anwendungen beim Gesundheitscheck (Illes et al. 2009) ergaben klinisch signifikante Zufallsbefunde primär neoplastischer oder vaskulärer Natur in 2–3 % (Morris 2009). Diese evidenzbasierten Daten provozieren Fragen: Wie soll man mit retrospektiven Zufallsbefunden aus gespeicherten Daten umgehen? Wie müssen individuelle Befunde interpretiert werden, die außerhalb der durch Gruppenmittel definierten Normbereiche funktioneller Bildgebung liegen? Vor allem aber stellt sich die Frage, wie mit solchen Befunden gegenüber »Studienteilnehmern, Patienten und Verbrauchern umzugehen ist, um sie in den Stand zu versetzen, durch das Labyrinth von Informationen über Zufallsbefunde in der Forschung, in der klinischen Versorgung und auch in der sich sehr schnell entwickelnden Industrie der personalisierten Medizin sicher hindurchzusteuern.« Denn »die online verfügbare Information für den selbst ratsuchenden Nutzer ist verwirrend und unzuverlässig.« Deshalb »hat die Profession die Pflicht, sicher zu stellen, dass rationale Entscheidungen gefunden werden«, speziell deshalb, weil »solche Befunde Teil des Lebens der betreffenden Menschen werden können. Sie müssen zu Fragen der Vorwegnahme und der Bewältigung solcher Befunde explizit und systematisch ermutigt werden« (Illes u. Borgelt 2009). Bisher bieten weder das Gesetz noch Verwaltungsvorschriften, noch Ethikkommissionen klare Leitlinien dazu an, wie Forscher mit unerwarteten Zufallsbefunden um-
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gehen sollen – ebenso wie auch keinen Rahmen, in dem Teilnehmer ihre Erwartungen kontextualisieren können (Shaw et al. 2008). Es scheint aber Übereinstimmung darin zu bestehen, dass der potenzielle Forschungsteilnehmer vor Forschungsuntersuchungen über die Möglichkeit von Zufallsbefunden und über den Umgang damit aufgeklärt werden soll. Wir selbst haben potenzielle Teilnehmer einer populationsbezogenen Erhebung um Einwilligung gebeten, über unerwartete und möglicherweise klinisch relevante Zufallsbefunde ihren Hausarzt zu informieren, der den Patienten und seinen Kontext kennt und deshalb besser in der Lage ist, die klinische Bedeutung des Befundes zu beurteilen und seinem Patienten zu vermitteln. Dies ist besonders wichtig, wenn der Forscher kein Kliniker ist oder keine spezifische Kompetenz, z. B. zur Beurteilung funktioneller Hirnbilder, besitzt. Wenn der Studienteilnehmer die Weitergabe dieser Informationen an seinen Hausarzt nicht zulässt oder auch gar keinen Hausarzt hat, muss er über die Möglichkeit unerwarteter Zufallsbefunde und ihre vielleicht schwerwiegenden Konsequenzen für sein Leben detailliert und explizit aufgeklärt werden (Kerr 1995, zit. nach Illes et al. 2008), um ihn für eine rationale Entscheidung zur Teilnahme zu befähigen. Wird in solchen Fällen ein Zufallsbefund mit klinischer Relevanz erhoben, wird dem Studienteilnehmer empfohlen, einen Arzt sobald wie möglich aufzusuchen. Eine umfassende Analyse des Umgangs mit Zufallsbefunden bei Hirnbildgebung führte zu einem Set von Optionen, Beispielen zu Schlüsselfragen und praktischen Leitlinien (Illes et al. 2010). Ein frühes Beispiel für ein detailliertes Aufklärungsverfahren vor einem Test und psychologische Beratung sowohl vor als auch nach Durchführung desselben wurde für das genetische Screening in Huntington-Familien (Went 1990) und danach auch für alle genetischen Testuntersuchungen ausgearbeitet (Propping 2010).
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asset in the process of care and not an impediment to it« (Donaldson, zit. nach Maclean 2009). Dies benötigt Zeit und soll bei der Versuchsplanung berücksichtigt werden. 2. Feststellung der Einwilligungsfähigkeit in Bezug auf die in Frage stehenden Sachverhalte ist erforderlich, um die Gültigkeit der Einwilligung sicherzustellen. Jedoch noch fehlt es an wissenschaftlich geprüften und praktikablen Verfahren dazu; dieser Mangel sollte durch entsprechende weitere Forschung überwunden werden. 3. Psychisch Kranke mit – z. B. zu Beginn neurodegenerativer Erkrankungen – noch erhaltener oder nach einer Krankheitsepisode wiedergewonnener Einwilligungsfähigkeit sollten ermutigt werden, eine Vorausverfügung für medizinische Interventionen zu verfassen, die auch Bedingungen für eine mögliche Teilnahme an einer Forschungsuntersuchung enthalten könnte. z
Schlussbemerkung
Um den zugewiesenen Umfang nicht zu überschreiten, muss es bei diesen kurzen Andeutungen belassen werden. Gleichwohl ist zu hoffen, für noch stärkeres Problembewusstsein sensibilisiert zu haben. Denn die European Science Foundation hat kürzlich dazu aufgerufen, Forscher zu den ethischen Implikationen klinischer Forschung systematisch auszubilden, weil nur durch strenge Beachtung der Regeln das Vertrauen von Forschungsprobanden wie Öffentlichkeit erhalten werden kann (Lancet Editorial 2009). Vertrauen aber ist eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche Gewinnung von Probanden für notwendige psychiatrische Forschung. Diese Zielsetzung hat Henning Saß als Präsident der European Psychiatric Association (EPA) mit dem Präsidenten-Symposium 2006 zu ethischen Fragen der Psychiatrie verdeutlicht.
Empfehlungen zur Aufklärung
Literatur
1. Aufklärung der Probanden oder Patienten ist nicht nur eine rechtliche Verpflichtung, sondern sollte vielmehr als eine Chance verstanden werden, Vertrauen zu entwickeln: »The patient who is armed with information, who wants to ask questions, should be seen as an
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Kapitel 42 · Zwei ethische Grundvoraussetzungen psychiatrischer Forschung
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Positionen der Psychiatrie Kapitel 43
Persönlichkeit, Struktur verformung und Wahn am Beispiel der Querulanz – 279 Henning Saß
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Persönlichkeit, Strukturverformung und Wahn am Beispiel der Querulanz Henning Saß
F. Schneider, Positionen der Psychiatrie, DOI 10.1007/978-3-642-25476-5_43, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Kapitel 43 · Persönlichkeit, Struktur verformung und Wahn am Beispiel der Querulanz
Die Übergänge von einer als wohl komponiert und gesund angesehenen Persönlichkeitsartung zu Verfassungen mit stärker akzentuierten Merkmalen bis hin zu ausgeprägten Persönlichkeitsstörungen im Sinne der gegenwärtig in der Psychiatrie gebräuchlichen Klassifikationssysteme sind ausgesprochen fließend. Gleiches gilt für Übergänge von den besonderen Persönlichkeitsformen zu den psychiatrischen Erkrankungen im engeren Sinne, etwa solchen mit Wahnphänomenen. Diesem Themenkreis soll hier unter Fokussierung auf das Querulanzproblem (vgl. Saß, 2010b, 2011) kasuistisch unterlegt nachgegangen werden.
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Querulanz als Persönlichkeitszug
In einer wichtigen Arbeit zur Frage der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit von Psychopathen hat Walter von Baeyer (1967), langjähriger Herausgeber von Der Nervenarzt, in einem Vortrag auf der Gütersloher Fortbildungswoche den Fall eines Querulanten geschildert, der außer von ihm auch von seinem Heidelberger Kollegen Prof. Rauch, dem Kölner Psychiater Wolfgang de Boor sowie in einem vorangegangenen Verfahren vom Berliner Psychiater Anton Selbach untersucht worden war. Dieser Vorgang hatte in den 1960er Jahren erhebliches Aufsehen in der Bundesrepublik erregt. Wegen ihrer vertieften psychodynamischen und willensphänomenologischen Analyse ist diese Arbeit weiterhin beispielgebend für die Bearbeitung des Querulantenproblems. In den grundsätzlichen Ausführungen zur Zurechnungsfähigkeit, wie damals der Ausdruck für die heutige Schuldfähigkeit lautete, beruft sich von Baeyer unter Hinweis auf Müller-Suur in Auseinandersetzung mit der Determinismusdebatte auf die phänomenologische Methode. Den im letzten Grunde philosophischen oder theologischen Charakter der Freiheitsfrage könne niemand ernstlich bestreiten. Dennoch lasse sich sehr wohl erfahrungswissenschaftlich über die stets nur relativen »Freiheitsgrade« des menschlichen Handelns, über die praktische Selbstverfügung des Menschen reden. Dazu sei es allerdings erforderlich, die Erfahrung in diesem Bereich nicht auf behavioristische Verhaltungsbeobachtung einzuengen, sondern die innere Erlebnisseite des willentlich-unwillentlichen Handelns mit Hilfe der phänomenologischen Methode zu untersuchen.
Der Fall betraf den damals 41-jährigen Dr. rer. pol. Günter Weigand, gegen den 29 verschiedene Verfahren liefen, u. a. wegen Beleidigung, falscher Anschuldigung, Verleumdung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Nötigung, Urkundenbeseitigung, Besorgung von Rechtsangelegenheiten ohne erforderliche Erlaubnis. Die Idee des Dr. W., als »Sozialanwalt« den Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen, war theologisch im Sinne des Laienpriestertums motiviert. Im Laufe langjähriger Auseinandersetzungen hatte er die Überzeugung entwickelt, es herrsche in der konservativ-katholischen Atmosphäre seines Wohnorts, es handelte sich um Münster, Heuchelei, Korruption, Vetterleswirtschaft und eine verhängnisvolle Neigung der führenden Kreise zur »Solidarität im Unrecht«, wie dies überhaupt bei den Mächtigen und Einflussreichen in der ganzen Bundesrepublik der Fall sei. Er selbst fühlte sich dazu berufen, das träge Ross des Staatswesens als Stechfliege aus seiner Lethargie zu erwecken – ein Vergleich, der aus der Apologie des Sokrates stammt. Von Baeyer sah bei Dr. W. ein katholisches Christentum von radikaler, kompromissloser Prägung, verbunden mit einem moralischen Rigorismus, der zur Annahme führte, es fehle ihm, bei allem selbstlosen Einsatz für andere, doch irgendwie an Liebe. Wie andere fanatisch-querulatorische Persönlichkeiten bewies Dr. W. eine hohe Empfindlichkeit für Eingriffe in die eigene Rechtssphäre bei gleichzeitiger Unempfindlichkeit, ja Härte und Verständnislosigkeit im Hinblick auf Recht und Ehre seiner behördlichen und sonstigen »Gegner«. Alle Gutachter stimmten darin überein, dass das Sozialverhalten und die innere Einstellung des Dr. W. als querulatorisch-abnorm zu bezeichnen war und auf nichtpsychotischem psychopathischem Boden erwuchs. Geschildert wurden fanatisch-verstiegene, rechtbehaltenwollende, hochfahrende, auch etwas geltungsbedürftige Komponenten in der Charakterstruktur. Die 3 aktuellen Gutachter hielten Dr. W. generell für voll verantwortlich und räumten lediglich ein, dass angesichts gewisser seltener Momente heftiger Erregung temporär vielleicht die Voraussetzung des § 51, Abs. 2 gegeben waren. Eine Anstaltsbewahrung wurde von Prof. v. B. und seinen Kollegen nicht als gerechtfertigt angesehen. Dies stand im Widerspruch zum Vorgutachter, der
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wegen einer erheblichen psychopathischen Abartigkeit und ausgesprochenen querulatorischen Entwicklung zunächst völlige Zurechnungsunfähigkeit, sodann eine generelle, d. h. für das ganze Querulieren geltende Minderung der Zurechnungsfähigkeit nach § 51, Abs. 2 angenommen und auch, wegen der Belastung der Gesellschaft, die Unterbringung für erforderlich gehalten hatte. Von Baeyer schildert die Entwicklung von einem vielleicht etwas besserwisserischen und perfektionistisch eingestellten jungen Menschen zu einem fanatisch-querulatorischen Psychopathen. Ein biografischer Schlüssel lag in einem Scheidungskampf zwischen den Eltern, bei dem Dr. W. auf Seiten der Mutter stand und im Verlauf ein Misstrauen, dann eine Kampfstellung gegen die Justiz entwickelte. Dies steigerte sich zu einer immer krasser werdenden Rechthaberei, einer kompromisslosen Prinzipienreiterei, die zwar immer wieder durch reale Fehler und Unzulänglichkeiten in den Dienststellen gerechtfertigt schien, doch habe er niemals fünfe gerade sein lassen und den verbindlichen Ausgleich suchen können. Eingeschränkt war übrigens auch seine soziale Sphäre. Er hatte sich aus moralisch-religiösen Gründen trotz, wie er selber sagte, normaler sexueller Veranlagung nie zur Aufnahme körperlicher Beziehungen bereitgefunden. Eine Verlobung machte er rückgängig, als sich herausstellte, dass die Braut im Hinblick auf die von ihm strikt abgelehnte Wiederbewaffnung der Bundesrepublik einen anderen Standpunkt einnahm als er. Schwierig ist die Abgrenzung gegen das wahngelenkte Wollen des Paranoikers, bei dem nach von Baeyer die strafrechtliche Verantwortlichkeit selbstverständlich stets zu verneinen sei. Dies sei zu begründen mit der Unfreiheit der Weltorientierung und Urteilsbildung, die jenen wahnhaften Denkgebilden, etwa einem Eifersuchtswahn, zugrunde liege. Die nichtpsychotische, nichtwahnhafte Weltorientierung und Urteilsbildung setze voraus, dass der Mensch das ihm umweltlich und mitweltlich Begegnende prinzipiell in seinem eigenen Sein belassen könne, ohne es von ungewollten, unbewussten Antrieben her »subjektiv« verändern und verzerren zu müssen. Er könne sich in den Grenzen menschlichen Irrens im Rahmen der gemeinsamen Weltwirklichkeit richtig orientieren. Dem Paranoi-
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ker sei durch das übermächtige »Involontaire« der Wahndynamik diese relativ freie Orientierungsmöglichkeit in der bekannten sektorenhaften Weiseversagt. Dr. W. sei aber weder ein schizophrener noch ein Entwicklungsparanoiker. Er sei spezifischen, charakterbedingten Irrtumswirklichkeiten stärker unterworfen als durchschnittliche Persönlichkeiten. Die Orientierungsmöglichkeit in der gemeinsamen Welt, insbesondere in der Sozialwelt, sei ihm aber prinzipiell gegeben. z
Eine querulatorische Strukturverformung der Persönlichkeit
Im Folgenden soll anhand eines eigenen Falles der Übergang in die stärker pathologischen Formen von Querulanten resümiert werden. Es handelt sich um einen zum Zeitpunkt der Begutachtung etwa 50-jährigen Mann aus einer deutschen Großstadt, der im Laufe einer etwa 20-jährigen, unheilvoll progredienten Entwicklung in ein schwerstes Querulanzsyndrom verstrickt war. Am Ende hatte er nicht nur eine große Zahl von Amtspersonen, Richtern, Staatsanwälten, Gutachtern und Rechtsanwälten in schärfster Form durch schriftliche Äußerungen beleidigt, sondern auch alle Rechtszüge von Zivil- und Strafgerichten erfolglos durchexerziert, also Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht, Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht, zusätzlich noch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Brisanz über die allgemeine Lästigkeit hinaus hat sein Fall dadurch erlangt, dass er, mehr und mehr an die Grenze seiner rechtlichen Möglichkeiten gekommen, seine unmäßige verbale Kritik steigerte zu Nötigungs- und Bedrohungshandlungen, etwa in der Art: Es werde, wenn bis dann und dann dies und jenes rechtlich nicht geschehe, ein Blutbad geben, diese oder jene Richter bzw. Staatsanwälte oder auch der Generalstaatsanwalt würden ermordet werden, die Richter des Bundesgerichtshofes müssten mit ihrer Tötung rechnen, es würde ein Blutbad geben, wie es von den Terroristen her bekannt sei etc. Schließlich war es zu einer Unterbringung zunächst nach dem Psych-KG bzw. später nach § 126a StPO gekommen, die sich inzwischen über mehrere Jahre erstreckte, da es nicht zu einem rechtskräftigen Abschluss der wegen Nötigung und Bedrohung eingeleiteten Strafverfahren kam. Zwei Landgerichtsur-
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teile waren aufgrund juristischer Eigenleistung des Probanden, der sich erhebliche Rechtskenntnisse angeeignet hatte und auch keinen Verteidiger vollgültig neben sich duldete, vom Bundesgerichtshof aufgehoben worden (vgl. BGH 2009). Beide Male war er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden, gleichzeitig wurde die Unterbringung angeordnet. Das dritte Landgerichtsurteil ist inzwischen mit ähnlichem Tenor ergangen und hat nach einer erneuten Revision durch den Bundesgerichtshof in Karlsruhe Rechtskraft erlangt. Am Beginn der nervenärztlichen Anamnese steht ein Motorradunfall des jungen Mannes, der zugleich zum Ausgangspunkt für die bis heute andauernden Auseinandersetzungen um Schadenersatz von der Versicherung wurde. Der Unfall soll erhebliche körperliche Verletzungen, jedoch kein Schädel-Hirn-Trauma verursacht haben. Der Unfall, seine medizinischen und sozialen Folgen, eine vom Probanden als fehlerhaft bezeichnete Medikation sowie Fragen der Kausalität und Entschädigungsansprüche haben seither einen der Komplexe bei den intensiv geführten Rechtsstreitigkeiten ausgemacht. Dabei hat der Proband zunehmend das Gefühl einer ungerechten Behandlung und eines gegen ihn gerichteten Zusammenwirkens der verschiedenen mit der Angelegenheit befassten Institutionen entwickelt. Von daher bedeutet dieser Unfall, auch wenn eine überdauernde Gesundheitsschädigung nicht festgestellt wurde, zumindest in psychologischer Hinsicht einen wichtigen Faktor im Bedingungsgefüge der später eingetretenen Entwicklungen und Fehlentwicklungen. Hinzu traten in der sensiblen Entwicklungsperiode des Heranwachsenden familiäre Auseinandersetzungen in der Ehe der Eltern. Der Vater soll die Familie schon früh verlassen haben, weil er nicht zum Zusammenleben mit der behinderten jüngeren Schwester des Probanden bereit gewesen sei. Im Laufe der späteren Streitigkeiten hat der Proband dann offenbar Partei für die Mutter ergriffen, weil er etwa Ungerechtigkeiten in der Frage der Unterhaltshöhe gesehen habe. Später sei es um den Umgang mit Vermögenswerten und Erbauseinandersetzungen gegangen. Keineswegs waren die Probleme mit der Scheidung der Eltern beendet, vielmehr blieb es bei einer Vielzahl von erbittert ausgetragenen Rechtsstreitigkeiten in zahlreichen
Instanzen, wobei offenbar der Vater und der 9 Jahre ältere Bruder auf der einen Seite, der Proband, seine Mutter und seine 7 Jahre jüngere Schwester auf der anderen Seite in dem familiären Konflikt standen. Ähnlich wie im Fall des Sozialanwalts Dr. Weigand scheint der Proband eine besondere Verantwortung als Hüter der Ehre und der Interessen der beiden Frauen übernommen zu haben, wobei er in scharfe Frontstellung zu den beiden anderen Männern der engeren Familie geriet. Eine wichtige Rolle spielten von dem Probanden vermutete langjährige Verstrickungen von weiter im Amt befindlichen Personen der Justiz in die damals in Gang gekommenen und bis heute andauernden prozessualen Auseinandersetzungen um diese 2 lebensgeschichtlich bedeutsamen Themen. In der weiteren Biografie des Probanden haben die beiden Komplexe mit immer weiter ausufe rnden, an Schärfe zunehmenden rechtlichen Kämpfen eine immer größere Bedeutung bekommen. Aus psychodynamischer Sicht erscheint als Grundmuster die oppositionelle Selbstbehauptung aus einer schwächeren, eher isolierten Einzelkämpferposition heraus gegen überlegene Autoritäten oder Instanzen, angefangen vom Unfallgegner über Versicherungen, Vater, Bruder, Gerichte, Obergerichte und Staatsanwaltschaften, aber auch Ärzte und Gutachter, Rechtsanwälte bis hinschließlich zum verabsolutierend als Gesamtheit empfundenen Rechtssystem, das er mit immer größerer Entschiedenheit als korrupt, feindlich gegen ihn gerichtet und übermächtig empfand. Ausdrücklich sei an dieser Stelle betont, dass es sich bei diesen Aussagen um psychologischpsychopathologische Gesichtspunkte handelt und nicht um eine Darstellung aus rechtlicher Sicht. Dieser Hinweis erfolgt, weil der Proband in den letzten Jahren bei seinen schriftlichen und mündlichen Äußerungen wie auch in der Hauptverhandlung immer wieder auf den in seinen Augen entscheidenden Mangel hingewiesen hat, dass die mit seinen Angelegenheiten befassten Justizpersonen wie auch Ärzte und Gutachter sich nicht um die Klärung der basalen Rechtsfragen gekümmert hätten. Auch aus anderen Gutachtenszusammenhängen mit Querulanten ist bekannt, dass die inzwischen weitgehend rechtskundig gewordenen Probanden Vorbehalte gegen den psychiatrischen
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Untersucher haben, weil er die juristischen Probleme nicht sachverständig beurteilen könne. Dem Probanden fällt es also schwer, die Aufgabenteilung der juristischen und der medizinischen Disziplin zu akzeptieren. Aus forensisch-psychiatrischer Perspektive ist dazu festzustellen, dass psychologische Entwicklungen und psychopathologische Auffälligkeiten des Erlebens und Verhaltens untersucht werden können, ohne eine Bewertung der Rechtssache vorzunehmen. Die rechtlichen und sozialen Auseinandersetzungen haben den beruflichen Werdegang, aber auch die gesamte Biografie und die Persönlichkeitsentwicklung des Probanden massiv beeinträchtigt. Zunächst wurde die Lehre als Bankkaufmann noch erfolgreich absolviert und anschließend nach Besuch der Fachoberschule das Fachabitur erworben, worauf einige Semester des Betriebswirtschaftsstudiums folgten. Über den beruflichen Erfolg danach in den etwa 10 Jahren, die er in einer anderen Stadt gelebt hat, gibt es wenig verlässliche Informationen. Nach dem Tod des Vaters habe er dessen Firmen in der Heimatstadt übernommen, doch habe er sie offenbar wirtschaftlich nicht halten können und sei in den Konkurs geraten. Danach habe sich eine Tätigkeit für ein Marktforschungsunternehmen angeschlossen. Hier ist er laut Zeugenangaben im Kreis der Mitarbeiter offenbar ohne größere Auffälligkeiten zurechtgekommen. Vor einigen Jahren ist dann die Mutter verstorben, wobei der Proband sich wiederholt gegen die früher in Gutachten geäußerte Annahme verwahrt hat, dass es ein besonderes Verhältnis zur Mutter und im Gefolge ihres Todes dann auch eine beträchtliche Erschütterung gegeben habe. Daneben hat es offenbar ab dieser Zeit eine Zunahme der rechtlichen und sozialen Konflikte gegeben, sodass im Rahmen von Mietstreitigkeiten erstmals eine schriftliche Drohung mit Ermordung, damals gegen den Vermieter der Wohnung des Probanden gerichtet, formuliert wurde. Es ist anzunehmen, wenn auch angesichts seiner Weigerung zu detaillierteren biografischen Auskünften nicht sicher zu belegen, dass es damals auf der einen Seite eine Einengung seiner juristischen Position gegeben hat, auf der anderen Seite eine Isolierung im sozialen Feld. Es fällt auf, dass in dieser Zeit die Wohn- und Einkommenssituation unsi-
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cher wurde. Aus dem Bericht über die Auswertung des Computers lassen sich Kontakte zu Singlebörsen und anderen Adressen, die zu Anknüpfungen von Beziehungen dienen können, entnehmen. Vermutlich gab es damals eine gewisse Isolierung, was zwischenmenschliche Kontakte oder gar eine länger dauernde Partnerschaft angeht. Zwar soll der Proband im Rahmen der Begutachtung durch einen Psychiater geäußert haben, dass er über einen großen Freundes- und Bekanntenkreis verfüge. Allerdings hieß es auch, eine engere Beziehung zu einer Partnerin bestehe nicht und er sei noch nie verheiratet gewesen. Für eine zunehmende soziale Verarmung spricht auch, dass er auf Fragen nach Hobbys angeben habe, dass er gern tanze, jedoch meist allein zu Hause. Einen Sonderaspekt bei der Darstellung der psychosozialen Situation des Probanden zur damaligen Zeit stellt der Komplex einer Domina dar, der im Rahmen der Auswertung des Computers des Probanden näher bekannt geworden ist. Die in dem Bericht aufgeführten Schriftstücke, Briefentwürfe oder Anlagen zu diesem Themenkreis deuten auf ein hohes Interesse und eine diesbezüglich zeitweise sehr intensive Internetaktivität des Probanden. Inhaltlich ging es um sog. bizarre Leidenschaften, die in ausgiebigen schriftlichen Darstellungen vor allem um abnorme Praktiken sadomasochistischer Prägung kreisen. Die eingehend und intensiv geschilderten Phantasien deuten jedoch auf eine abnorme, mit erheblicher psychischer Energie und Dynamik versehene psychosexuelle Struktur des Schreibers. Sehr ausgiebig waren die Internetaktivitäten in dieser Sache offenbar in den Jahren während der Drohungen. In Hinblick auf das Verfahren wegen der Bedrohungen erscheinen dabei einige Elemente bedenklich, etwa zwanghafte Tendenzen und vor allem ein ausgeprägtes Interesse an sadistischen wie masochistischen Praktiken, insgesamt also Besonderheiten, die aus psychiatrischer Erfahrung auf Probleme im Umgang mit Aggressivität, Destruktivität, Dominanz und Autorität hindeuten. Von daher bestehen aus psychodynamischer Sicht durchaus Gemeinsamkeiten mit Themen, die im Rechtskampf zumindest hintergründig von Bedeutung sein dürften. Die schriftlichen Äußerungen des Probanden in den Rechtssachen sind dann im Laufe der Zeit
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nicht nur immer entschiedener und zum Schluss auch ausfällig bis beleidigend geworden, sondern es trat dann auch in der Zeit nach dem Tod der Mutter eine entscheidende Neuerung in Form der von der Umgebung sehr ernst genommenen Drohinhalte gegenüber den genannten Gerichten auf. Darin wurden böswillige, nachstellende Verhaltensweisen der gesamten Justiz behauptet und eben schwere Gewalttaten angedroht bis hin zu Tötung bestimmter Richter und Staatsanwälte und Sprengstoffattentaten. Als dies zum Einschalten psychiatrischer bzw. sozialpsychiatrischer Instanzen führte, hat der Proband selbst sehr empfindlich auf die »Psychiatrisierung« reagiert und bis in die Gegenwart in aller Schärfe die Vermutung von psychischen Problemen von sich gewiesen. Vielmehr bezeichnet er derartige Überlegungen und damit verbundene Untersuchungs- oder gar Unterbringungsmaßnahmen als Teil einer perfiden Kampfstrategie der Obrigkeit. Die beschriebene Strukturverformung der Persönlichkeit lässt sich auch mit den heute üblichen operationalisierten Klassifikationssystemen beschreiben, etwa dem weiter als das ICD-10 elaborierten DSM-IV-TR (Saß et al. 2003). Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung erfordert zunächst das Vorliegen allgemeiner Merkmale, etwa ein überdauerndes Muster von überdauerndem Erleben und Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umwelt abweicht und sich in den Bereichen der Kognition, der Affektivität, der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Impulskontrolle äußert. Dieses Muster liegt bei dem Probanden vor und ist auch, wie ebenfalls in den Diagnosesystemen gefordert, ausgesprochen unflexibel und tiefgreifend, darüber hinaus führt es zu erheblicher Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen und anderen Funktionen. Diskussionsbedürftig ist in Hinblick auf die allgemeinen Kriterien der Persönlichkeitsstörungen lediglich das Zeitkriterium. Zwar erscheint das auffällige Verhalten des Probanden bei Betrachtung der – allerdings nicht sehr detailliert dokumentierten – Vorgeschichte durchaus stabil und lang dauernd, wobei die Wurzeln bis in das frühe Erwachsenenalter zurückreichen dürften, etwa was die Auseinandersetzungen im Gefolge des Unfalls angeht. Allerdings ist die Informationsdichte über diese
früheren Jahre relativ gering. Von daher könnte man, obwohl in den vergangenen 2 Jahrzehnten die Persönlichkeitsauffälligkeiten belegt erscheinen, das zeitliche Kriterium des Beginns im frühen Erwachsenenalter in Frage stellen. Dann würde man nicht von einer Persönlichkeitsstörung, sondern von massiv akzentuierten Persönlichkeitszügen mit den oben beschriebenen Merkmalen sprechen. An der Tatsache, dass über viele Jahre massiv gestörte Persönlichkeitszüge vorgelegen haben und auch heute – bis auf das diskutierte Zeitkriterium – das Bild einer Persönlichkeitsstörung erfüllt ist, wird durch die geringere Informationsdichte über die Zeit von vor etwa 30 Jahren nichts geändert. Deshalb erscheint, obwohl alternativ auch die Diagnose einer akzentuierten Persönlichkeit mit den genannten Zügen gestellt werden könnte, angesichts der Gesamtumstände des Falls die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung gerechtfertigt. Hinsichtlich des genaueren Typus der Persönlichkeitsstörung haben die bisherigen Beurteiler weitgehend übereinstimmend paranoide, querulatorische, narzisstische und fanatische Züge genannt. Tatsächlich liegen beim Probanden Merkmale aus allen 4 Störungsbereichen, die phänomenologisch und charakterologisch eng verwandt sind, in deutlich ausgeprägter Form vor. Insbesondere imponieren dabei seine querulatorischen Züge, die auch bestimmend für die soziale Situation sind. z
Persönlichkeitsverformung und Wahn
Im psychiatrischen Verständnis (Peters 2007) gibt es fließende Übergänge zwischen der querulatorischen Persönlichkeit und dem Querulantenwahn. Der voll ausgeprägte Querulantenwahn stellt eine Steigerung der querulatorischen Persönlichkeit dar und ist definiert als die wahnartige, unkorrigierbare Überzeugung, in böswilliger Weise fortwährend Rechtskränkungen zu erleiden. Es handelt sich dabei nicht um eine Psychose im engeren Sinne, sondern um eine paranoide Entwicklung. Das Krankheitsbild der expansiven paranoischen Entwicklung ist den nichtschizophrenen paranoiden Entwicklungen zuzuordnen. In der Terminologie der skandinavischen Psychiatrie wird die expansivparanoische Entwicklung unter die Krankheitsgruppe der reaktiven Psychosen subsumiert.
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In DSM-IV-TR (Saß et al. 2003) wird die wahnhafte Störung, zu der der Querulantenwahn gerechnet werden kann, bei den anderen psychotischen Störungen aufgeführt. Sie ist gekennzeichnet durch nichtbizzare Wahnphänomene, während ansonsten die intellektuelle Leistungsfähigkeit und das generelle Verhalten in den nicht vom Wahn betroffenen Bereichen unauffällig sind. Gerade dies trifft bei unserem Probanden in frappierender Weise zu. Von den verschiedenen Formen wahnhafter Störung käme hier der paranoide Typus im Sinne des Verfolgungswahns in Frage, also die Überzeugung, ungerecht und schlecht behandelt zu werden. Das Bild wird deshalb auch als querulatorische Paranoia bezeichnet, wobei im DSM-IV-TR darauf hingewiesen wird, diese Personen seien oft nachtragend und wütend, auch könnten sie Gewalt gegen diejenigen anwenden, von denen sie sich geschädigt fühlen. Die Diagnose der wahnhaften Störung bzw. des Querulantenwahns steht und fällt mit der Frage, ob und in welchem Ausmaß bei dem Probanden vom Vorliegen der psychopathologischen Kriterien eines Wahns gesprochen werden kann. Nach klassischer psychiatrischer Lehre wird der voll ausgeprägte Wahn durch 4 phänomenologische Kriterien bestimmt (Jaspers 1913): 1) Die wahnhafte Überzeugung wird mit absoluter subjektiver Gewissheit erlebt. 2) Sie ist unbeeinflussbar durch Erfahrung und durch zwingende Schlüsse. 3) Die Überzeugung ist absolut unkorrigierbar. 4) Der Wahn entsteht aus krankhafter Ursache bei der betreffenden Person und wird von der soziokulturellen Umgebung nicht geteilt. Betrachtet man nun bei dem Probanden die über mehrere Jahrzehnte andauernde, progrediente psychopathologische Entwicklung, so kann man für den heute eingetretenen Zustand die oben genannten Wahnkriterien als weitgehend erfüllt ansehen. Die Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Position in den rechtlichen Auseinandersetzungen und der systematischen Verschwörung einer korrupten Justiz hat in seinen zahlreichen schriftlichen und gelegentlich auch mündlichen Äußerungen offenbar einen Grad subjektiver Gewissheit und Unkorrigierbarkeit erreicht, der als wahnhaft bezeichnet werden kann.
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Diskussionsbedürftig erscheint dagegen auch das Jaspers‘sche Kriterium der Entstehung aus krankhafter Ursache. Beim Probanden ist nicht erkennbar, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine klar umschriebene Erkrankung eingesetzt hat, die zur Ursache des Wahns geworden ist und diesen unterhält. Es dürfte vielmehr nach anfänglichem misstrauischem Verdacht im Laufe der Jahre zu einer immer weiter verfestigten Überzeugung gekommen sein, die in Verschränkung mit situativen Gegebenheiten und sozialen Beziehungen steht. Das Krankheitskriterium könnte also deshalb fraglich erscheinen, weil es sich hier um eine in den Anfangsstadien noch normalpsychologisch einfühlbare Entwicklung auf dem Boden einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur und im Gefolge von kränkenden Auslösereizen handelt. Zu bejahen ist das Krankheitskriterium allerdings, wenn man das Ausmaß, die Fixierung und die Irreversibilität der inzwischen eingetretenen Überzeugungsbildung betrachtet. Hier ist der psychische Zustand des Probanden durchaus vergleichbar mit krankhaften Wahnbildungen. Derartige subjektiv bestimmte, verabsolutierende Wertsetzungen kennen wir auch bei religiös oder politisch fanatischen Personen (Saß 2010a). Auch hier kann die Überzeugung, für eine höhere Gerechtigkeit zu kämpfen, wahnähnlich verfestigt sein. Auf dem Boden seiner egozentrischen und narzisstischen Einstellung scheint der Proband bei der Abwägung zwischen der eigenen Rechtsposition und den Rechten anderer Personen das Gewicht ganz auf die eigenen Interessen zu verlagern. Hier handelt es sich – bei einem nicht psychotisch kranken Menschen – um eine persönliche Entscheidung. Diese wird zwar durch seine Persönlichkeitseigenschaften und die wahnhaft verfestigte Überzeugung von der Höherwertigkeit der eigenen Position begünstigt, doch ist ihm aus psychopathologischer Sicht die Einsicht in die rechtliche Bedeutung seines Tuns prinzipiell nicht verwehrt. Allerdings bestehen zwischen den Einsichts- und Steuerungsleistungen komplexe psychopathologische Zusammenhänge, die im Folgenden noch etwas weiter diskutiert werden sollen. Janzarik (1991) hat die »Grundlagen der Einsicht und das Verhältnis von Einsicht und Steuerung« in einem Artikel für Der Nervenarzt im Licht
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der strukturdynamischen Konzeption dargestellt. Eine wichtige Voraussetzung von Einsichtsfähigkeit ist danach die Verfügbarkeit einsichtsrelevanter Informationen. Das Versagen der intellektuellen Abbildung führt zu einer basalen Störung des Einsichtsvermögens etwa bei höhergradigen Schwachsinnsformen oder den als »krankhafte seelische Störung« zu klassifizierenden Abbauprozessen im Rahmen von Demenzen. Basale Störungen des Einsichtsvermögens bestehen auch bei akut psychotischen Verfassungen mit Fragmentation des psychischen Feldes, ebenso bei einer höhergradigen Trübung des Bewusstseins etwa durch toxische Einflüsse. Wesentlich ist der Hinweis von Janzarik auf die Eigendynamik der Materialien der Einsicht. Je nach ihrem Gewicht setzen sie sich im psychischen Feld durch und werden dadurch »bewusst«. Es gibt auf der einen Seite subjektive Wertigkeiten, auf der anderen Seite überindividuell vorauszusetzende Gewichtungen. Die in der mitmenschlichen Kommunikation ausgebildeten und das Verhalten bestimmenden sozialen Regeln und Erwartungen, auf denen der Grundbestand strafrechtlicher Normen fußt, sind in der strukturdynamischen Sicht in der biografischen Entwicklung schon sehr früh geprägt und in das Grundgerüst der seelischen Struktur aufgenommen. Mit dem Auftauchen im psychischen Feld sind nach Janzarik ein Innehalten und eine reflexive Stellungnahme nach der Formel »Darf ich das?« verbunden. Es geht auf die für Janzarik sehr wichtige Autopraxis seelischer Bestände zurück, dass Einsicht als »Unrechtsbewusstsein« in aller Regel selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. In der Strafrechtswissenschaft wird dieser Sachverhalt in Begriffe gefasst wie »Mitbewusstsein«, »dauerndes Begleitwissen«, »sachgedankliches Unrechtsbewusstsein« oder »Orientiertsein«. Für die überwertigen Ideen und wahnartigen Überzeugungen von der Richtigkeit der eigenen Position in der Auseinandersetzung mit der feindlichen und rechtsbrechenden Umgebung im Rahmen querulatorischer Entwicklungen müssen gesonderte Überlegungen zur Einsichtsfrage angestellt werden. Hier ist der von Janzarik geprägte Begriff der »Einsichtssteuerung« bedeutsam. Er wurde zwar vom Autor im Hinblick auf die Erkundigungspflicht zur Vermeidung des Verbotsirrtums entwi-
ckelt, doch lässt er sich m. E. auch für die Analyse des Einsichtsvermögens im Rahmen wahnhafter querulatorischer Entwicklungen nutzbar machen. Allerdings geht der Begriff der »Einsichtsfähigkeit« dann über den rein kognitiven Aspekt hinaus, also etwa, dass im Regelfall bei Begehung der Tat »Unrechtsbewusstsein« vorhanden ist. Wichtig ist, wie und mit welchen Ergebnissen die für die Gewinnung von Einsicht und für die Vergegenwärtigung der gebotenen Verhaltensnormen zur Verfügung stehenden kognitiven Werkzeuge eingesetzt werden. Dies geschieht in der strukturdynamischen Diktion in einem Wechselspiel von Aktualisierung und Disaktualisierung im psychischen Feld, das im Vorfeld und bei der Begehung der Tat abläuft. Aus psychiatrischer Sicht macht es einen Unterschied, in welchem psychopathologischen Kontext ein Wahn auftritt. Beim psychotischen Wahn im Rahmen etwa einer floriden Schizophrenie oder einer ausgeprägten manisch-depressiven Erkrankung liegt in der Regel eine umfassende Veränderung in mehreren Bereichen vor, etwa was Stimmung, Antrieb, formales Denken, Impulsivität und vor allem die sog. Realitätskontrolle angeht. Eine solche psychotische, basale Bereiche der psychischen Funktionen deformierende Wahnerkrankung liegt aber bei dem Probanden nicht vor und hat nach allem, was bekannt ist, auch damals nicht vorgelegen. Bei ihm handelt es sich vielmehr um eine isolierte Störung, zentriert um die Überzeugung zugefügten Unrechts im Rechtsverkehr. Die übrigen psychischen Funktionen sind nicht primär betroffen, höchstens sekundär etwa als reaktive Verstimmung. Eben deshalb und wegen der oben skizzierten fließenden Übergänge dieser abnormen Entwicklungen zum normalpsychologischen Seelenleben wird eine Störung wie die vorliegende in den diagnostischen Klassifikationen als wahnhaft oder auch wahnartig bezeichnet, dies im Unterschied zum eindeutig pathologischen Wahn, bei dem absolute Unkorrigierbarkeit oder die Entstehung aus krankhafter Ursache gegeben ist. Ferner ist zu berücksichtigen, dass den Kern der isolierten wahnhaften Störung des Probanden die Überzeugung des Rechthabens ausmacht. Diese mag inzwischen nahezu unkorrigierbar sein und war es möglicherweise auch schon zu den Tatzeiten. Das bedeutet aber nur, dass hieraus eine starke
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Motivation für das gewählte Vorgehen entstanden sein dürfte, nicht aber, dass alle unmittelbar oder mittelbar mit der wahnhaften Überzeugung in Zusammenhang stehenden Handlungen der Steuerungsfähigkeit entzogen sind. Dass der Proband sich im Umgang mit den Themen des Rechtskampfes unterschiedlich verhalten kann, hat sich vielfach gezeigt, etwa in taktischen Varianten, im Abwarten, im Anbieten verschiedener Optionen. z
Resümee
Zusammenfassend liegen bei dem Probanden eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit querulatorisch-fanatischen, narzisstischen und paranoiden Zügen sowie eine isolierte wahnhafte Störung im Sinne eines Querulantenwahns vor. Außerdem besteht der Verdacht auf eine Störung der Sexualpräferenz. Insgesamt handelt es sich um eine in Jahrzehnten entstandene Fehlhaltung, die vom Ausprägungsgrad her nicht mehr nur als Persönlichkeitsstörung qualifiziert werden kann. Das Störungsbild ist in biografisch einfühlbarer Weise als erlebnisreaktive Entwicklung auf dem Boden einer spezifischen seelischen Struktur erwachsen, ein Entstehungsmuster ähnlich dem, das Kretschmer (1918) in klassischer Weise für den sensitiven Beziehungswahn beschrieben hat. Hinweise auf eine über die umschriebene wahnhafte Störung hinausgehende Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis haben sich nicht ergeben. Angesichts der bislang gescheiterten Interaktionen zwischen dem Probanden, der Justiz und der Psychiatrie stellt sich die Frage, ob es auch einen anderen Weg als den in eine verfestigte wahnhafte Störung hätte geben können. Von Baeyer hat in der zitierten Arbeit über den Sozialanwalt Dr. W. auf die gegenseitigen Verhärtungen und auf kulturspezifische Zusammenhänge hingewiesen. Die Hartnäckigkeit des Querulanten habe ihr Pendant, ihr Widerlager in der Hartnäckigkeit der Behörden, mit der sie jeder einzelnen Querele nachgehen und den Schreiber – ganz überwiegend sind es ja bei Querulanz die schriftlichen Aggressionen – dafür zur Rechenschaft ziehen. Offenbar geht man in angelsächsischen und skandinavischen Ländern, wo andere rechtliche Voraussetzungen gelten, gelassener damit um, weshalb dort auch die großen Que-
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rulanten, die jahrelang die Gerichte beschäftigen, seltener sein sollen. Im vorliegenden Fall hat der Proband in der letzten Hauptverhandlung angeboten, dass in einer Gegenüberstellung mit den Hauptprotagonisten der Rechtsstreitigkeiten der vergangenen Jahre eine Klärung versucht wird. Hier hatte er allerdings nicht seine Querulanz und die aktuell verfahrensgegenständlichen Nötigungs- und Bedrohungsvorwürfe im Auge, sondern ihm ging es um eine Wiederaufnahme der rechtskräftig abgeschlossenen, von ihm als unrecht empfundenen Vorgänge früherer Verfahren. Dennoch könnte man daran denken, ob nicht die in den letzten Jahren vermehrt in das Rechtssystem integrierten Methoden der Mediation in manchen Fällen querulatorischer Entwicklungen hilfreich sein können. Allerdings müssten solche Versuche sicherlich schon in relativ benignen Frühstadien erfolgen. Später führen die vielfältigen Verletzungen und vor allem die Verformungen der seelischen Struktur in einen malignen Prozess, dem – wie im klassischen Fall des Michael Kohlhaas – kaum noch Einhalt geboten werden kann.
Literatur Baeyer W von (1967) Zur Frage der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit von Psychopathen. Nervenarzt 38:185192 Bundesgerichtshof (2009) Unterbringung eines Querulanten. Beschluss vom 20.02.2009. NStZ 2009(7): 383-384 Janzarik W (1991) Grundlagen der Einsicht und das Verhältnis von Einsicht und Steuerung. Nervenarzt 62:423-427 Jaspers K (1913) Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin Kretschmer E (1918) Der sensitive Beziehungswahn. Ein Beitrag zur Paranoiafrage und zur psychiatrischen Charakterlehre. Springer, Berlin Peters UH (2007) Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie, 6. Aufl. Urban & Fischer, München Saß H (2010a) Forensisch-psychiatrische Aspekte der politisch motivierten Delinquenz. In: Kröber H-L, Leygraf N, Dölling D, Saß H (2010) Handbuch forensische Psychiatrie, Bd 4: Psychopathologische Grundlagen und Praxis der Forensischen Psychiatrie im Strafrecht. Springer, Heidelberg, S 635-644 Saß H (2010b) Der Exzess einer Tugend. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4:223-232
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Saß H (2011) Michael Kohlhaas oder der Exzess einer Tugend. In: Marneros A (Hrsg) Festschrift für U. H. Peters (im Druck) Saß H, Wittchen H-U, Zaudig M, Houben I (2003) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-IV-TR – Textrevision Deutsche Bearbeitung. Hogrefe, Göttingen