Roland Sturm Politik in Großbritannien
Roland Sturm
Politik in Großbritannien
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Roland Sturm Politik in Großbritannien
Roland Sturm
Politik in Großbritannien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14016-2
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
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Einleitung
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Neuere Debatten zum Verständnis des britischen Regierungssystems 1 Regieren im „System“? 2 Informalisierung des Regierens: „Core executive“ und „governance“ 3 Die Präsidentialisierungsthese 4 Der regulatorische Staat 5 Die Europäisierung der britischen Politik
15 17 26 30 33
Grundlagen des Staatsaufbaus 1 Verfassung und Verfassungswandel 1.1 Verfassungsprinzipien 1.2 Westminster-Modell im Wandel 2 Devolution 2.1 Vom Einheitsstaat zum Unionsstaat 2.2 Politik in Schottland 2.3 Politik in Wales 2.4 Politik in Nordirland 2.4.1 Der Nordirlandkonflikt 2.4.2 Nordirland nach dem Karfreitagsabkommen 3 Local Government
37 37 47 54 54 65 81 87 87 92 101
Grundlagen des Regierens 1 Premierminister und Kabinett 2 Parlament 2.1 Unterhaus 2.2 Oberhaus
111 118 122 129
3 4
Civil Service Mittelbares Regieren
Grundlagen der politischen Willensbildung 1 Parteien und Parteiensystem 1.1 Parteiensystem 1.2 Parteiprogramme 1.3 Parteiorganisation 1.4 Parteienfinanzierung 2 Wahlen und Referenden, Wahlsysteme und Wählerverhalten 2.1 Britische Wahlsysteme 2.2 Wahlergebnisse, Wahlbeteiligung und Wählerverhalten bei Unterhauswahlen 2.3 Referenden 3 Organisierte Interessen und Protestbewegungen
133 146
151 151 157 169 173 175 177 182 187 187
Grundlagen der Zivilgesellschaft 1 Identität(en) 2 Multikulturalismus 3 Freiheit und Sicherheit
193 196 200
Großbritannien in Europa 1 Grundlinien der Europapolitik 2 Vom EG-Beitritt bis zur Osterweiterung der EU 3 Europäische Verfassung und Vertrag von Lissabon 4 Perspektiven der britischen Europapolitik
207 211 219 226
Literatur
229
6
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23: Tabelle 24:
Kontexte von Governance-Interpretationen Westminster-Modell, Reformperspektiven und Reformbilanz Beispiele für „Watchdog“-Gremien zur Wahrung von Prinzipien mit Verfassungsrang Die Devolution-Politik bis 1997 im Überblick Abstimmungsergebnisse der Devolution-Referenden Die Ausschüsse des schottischen Parlaments Ausschusssitzungen außerhalb Edinburghs Die schottischen Regierungen Die Wahlen zum schottischen Parlament Territoriale Repräsentation im Unterhaus Vetopunkte bei der Gesetzgebung in Wales Die walisischen Regierungen Die Wahlen zum walisischen Parlament Das Karfreitagsabkommen Die Regierung Nordirlands nach dem Karfreitagsabkommen Wahlen zur nordirischen Versammlung Präferierte Konfliktlösung 2001-2007, in % Regionale „Minister” 2008: Regionale und primäre Zuständigkeit Organisation der Kommunalverwaltung im Vereinigten Königreich Die britischen Premierminister seit 1945 Die britische Regierung Sitzverteilung im Unterhaus nach den Wahlen Backbencher Revolten Parlamentssoziologie I: Weibliche Abgeordnete und ethnische Minderheiten
24 48 54 56 65 66 68 70 72 77 84 85 86 93 94 95 98 104 109 112 115 123 126 128 7
Tabelle 25: Parlamentssoziologie II: Berufe 2001 in % der Abgeordneten der Parteien Tabelle 26: Die Parteien im House of Lords Tabelle 27: Zahl und Ergebnisse der Einsprüche des House of Lords Tabelle 28: Ergebnisse der Einsprüche des House of Lords nach der Bedeutsamkeit des jeweiligen Gesetzgebungsvorhabens Tabelle 29: Beschäftigte im Civil Service Tabelle 30: Der Civil Service im Wandel Tabelle 31: Beispiele für Regulierungsbehörden318 Tabelle 32: Die Entwicklung des Parteiensystems Tabelle 33: Die Erfolge von Kleinparteien (1997-2005) in Großbritannien (1) Tabelle 34: Leitideen im Parteienwettbewerb Tabelle 35: Nachkriegskonsens (1945-79) und „Thatcherismus“ Tabelle 36: Individuelle Mitgliedschaften in den Parteien Tabelle 37: Die Parteivorsitzenden der Labour Party und der Konservativen Partei seit 1945 Tabelle 38: Die britischen Wahlsysteme im Überblick Tabelle 39: Spezifika der Wahlsysteme Tabelle 40: Ergebnisse der Unterhauswahlen in % Tabelle 41: Parteiidentifikation Tabelle 42: Schichtenspezifisches Wahlverhalten Tabelle 43: Protestbewegungen und ihre Folgen Tabelle 44: Nationale Identität in Schottland in % der Befragten. Tabelle 45: Wahlen zum Europäischen Parlament Tabelle 46: Abstimmungsverhalten der Labour-Abgeordneten zum Verbleib des Landes in der EG
8
128 131 132 133 134 137 149 153 154 158 165 169 172 181 181 183 185 186 192 194 210 212
Einleitung
Das britische Regierungssystem gehört zu den „Klassikern“ der vergleichenden Regierungslehre. Es stand und steht für Common Sense und Konvention (keine geschriebene Verfassung), Konkurrenzdemokratie, Parlamentarismus („Mother of Parliaments“), Zweiparteiensystem und konstitutionelle Monarchie. Dieses „Westminster-Modell“ demokratischen Regierens stellt mit seiner Anpassungsfähigkeit mindestens seit den Tagen der Glorreichen Revolution Ende des 17. Jahrhunderts, oder gar schon, wie seine Bewunderer1 meinen, seit den Tagen Wilhelm des Eroberers, also seit fast tausend Jahren, die perfekte Symbiose her von Tradition und den Anforderungen historischer Veränderungsprozesse an den Inselstaat. Diese politisch kulturelle Gebundenheit des Westminster-Modells machte es unwahrscheinlich, dass ein anderes Land das britische politische System erfolgreich eins zu eins kopieren würde. Die entsprechenden, nicht immer freiwilligen Versuche in den ehemaligen britischen Kolonien bewiesen auch in der Praxis die Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens. Dennoch wurden einige Bausteine des britischen politischen Systems immer wieder gerne für die institutionelle Architektur anderer Länder übernommen. Deutsche Politikwissenschaftler stritten beispielsweise in den 1960er Jahren mit großem Enthusiasmus über die Vorzüge und Nachteile des britischen Mehrheitswahlsystems. Die Befürworter dieses Wahlsystems konnten sogar erreichen, dass dessen geplante Einführung (letztendlich aber ohne Folgen) in die Koalitionsvereinbarung der ersten Großen Koalition (1966-69) aufgenommen wurde.2 Auch aktuell, beispielsweise in den heftigen Debatten um Institutionenreformen seit den 1990er Jahren in Italien, wurde immer wieder auf einzelne Elemente des Westminister-Modells Bezug genommen, allerdings, wie Kritiker meinen, häufig wenig fundiert.3
Mathiot 1958: 40. Jesse 1985: 113ff. 3 Pasquino 2002: 553. 1 2
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Großbritannien gelang es zudem regelmäßig, mehr zu sein als das Paradebeispiel eines relativ bruchlosen Wandels politischer Institutionen. Das Land erlebte, so vor allem auch die Außenwahrnehmung, spektakuläre wegweisende Umbrüche und politische Richtungsänderungen. Die Kontinentaleuropäer schauten immer wieder erstaunt, manchmal besorgt, manchmal bewundernd nach Großbritannien, wo sich eine Reihe politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen schon frühzeitig beobachten ließ, die im Guten wie im Schlechten häufig auch für ihre Gesellschaften prägend wurden. Um ein historisches Beispiel zu nennen, sei hier auf die Vorreiterrolle Großbritanniens in der Industriellen Revolution verwiesen, die das Land zur „Werkstatt der Welt“ machte4 und deren soziale Folgen Friedrich Engels zu einer Untersuchung der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) anregte, aus der er (und mit ihm die Arbeiterbewegung weltweit) paradigmatische Lehren zur Funktionsweise des kapitalistischen Wirtschaftssystems zog. Auch in der Nachkriegszeit, auf die sich unsere Untersuchung konzentrieren wird, wurde die Essenz britischer Politik immer wieder in Jahrzehnte überdauernde Begrifflichkeiten gegossen, die geradezu zu politischen Markennamen wurden. Jedes der letzten drei Jahrzehnte britischer Politik, beispielsweise, steht für ein anderes Großbritannienbild. Bemerkenswert ist dabei auch, dass dieses jeweils unmittelbares Ergebnis der intellektuellen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen war. Deren Verarbeitung und Zuordnung avancierte in der innerbritischen Debatte zu einem eigenständigen Faktor der Wirklichkeitswahrnehmung. Der tatsächlich stattfindende Wandel wurde in einer umfassenden Weise akzentuiert, die Epochenbrüche nahelegte, wo tatsächlich allmählicher und inkrementaler Wandel stattfand.5 So gelten die 1970er Jahre als die schlimmsten Jahre der „britischen Krankheit“. Gemeint ist mit dieser Chiffre für ökonomisches Versagen das scheinbar auswegslose Zusammenspiel von einer die wirtschaftliche Modernisierung blockierenden Gewerkschaftsmacht, niedriger Arbeitsproduktivität, hohen Inflationsraten im zweistelligen Bereich und wachsenden staatlichen Defiziten6 in
Buchheim 1994. English/Kenny 2001. 6 Rohe/Schmidt 1987. 4 5
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Verbindung mit der politisch-kulturellen Erstarrung einer überholten Klassengesellschaft.7 Die 1980er und die frühen 1990er Jahre werden mit dem Thatcherismus8 identifiziert, einer Periode britischer Politik, der die konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher (1979-1990) ihren Namen gab. Margaret Thatchers kompromissloses Auftreten nach innen (Brechen der Gewerkschaftsmacht, Umbau des Sozialstaats, Haushaltsausgleich) und nach außen (Antikommunismus, Freundschaft mit den USA, Gegnerschaft zur Vertiefung der politischen Integration Europas) wurde über die Grenzen Großbritanniens hinaus zum Synonym für eine nationalstaatlich denkende, marktradikale Politik. Der Thatcherismus etablierte in der britischen Politik nicht nur dauerhaft ein neues Verständnis der Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft, sondern wertete auch informell und flankiert durch den Umbau des Beamtenapparats in Whitehall das Amt des Premierministers im politischen Institutionengefüge auf. Mit dem Wahlsieg Tony Blairs wurde in Großbritannien ein neues gesellschaftliches Leitbild, der „Dritte Weg“9, als politisches „Label“ in den Vordergrund gestellt, das rasch weltweite Beachtung fand. Aus kontinentaleuropäischer Sicht schien sich der „Dritte Weg“ aufgrund seines Anspruchs, eine moderne Version des Wohlfahrtsstaates zu ermöglichen, besonders für Sozialdemokraten zur Nachahmung zu empfehlen. Der Regierung Blair wurde nachgesagt, sie habe mit dem „Dritten Weg“ eine Möglichkeit gefunden, die sehr unterschiedlichen Anforderungen einer Politik der Vollbeschäftigung, des Erhalts des Sozialstaats und der Haushaltskonsolidierung unter den neuen Rahmenbedingungen der Globalisierung miteinander zu versöhnen. Aus heutiger Sicht scheint die anfänglich dominierende Erfolgsgewissheit der Verfechter des „Dritten Weges“ zwar etwas voreilig. Die mit diesem verbundene programmatische Vorreiterrolle Großbritanniens in Europa ist aber nicht zu bestreiten. Politisch attraktive Alternativen aus kontinentaleuropäischen Ländern zur visionären Rhetorik Tony Blairs waren nicht in Sicht. Dies gilt auch für das von der EU-Kommission zwischenzeitlich befürwortete „nordische Modell“ wirtschaftlicher Entwicklung, das sich auf die Verbindung eines
Wiener 1981, kritisch: English/Kenny 1999. Sturm ²1991; Sturm 2006c. 9 Sturm 2000. 7 8
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hohen Beschäftigungsgrad mit besonderen Investitionsleistungen in Bildung und Forschung in den nordeuropäischen EU-Mitgliedstaaten bezieht. Immer wieder wurden Versuche unternommen, Großbritannien „zu verstehen”.10 Viele dieser Versuche blieben erfolglos, ja mussten (zumindest aus britischer Sicht) erfolglos bleiben. Nirgendwo in Europa findet sich eine Gesellschaft, die so sehr auf historische Kontinuität baut, aber gleichzeitig dem ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel so offen gegenübersteht. Geschichte wird in der britischen Eigenwahrnehmung nicht selten verklärt. Dies geschieht nicht in erster Linie aus Nationalstolz, sondern vor allem, weil Geschichte der schwachen Institutionalisierung der britischen Demokratie Plausibilität verleiht. Sie wird zumindest von der Whig-Tradition (also von den Siegern der Glorious Revolution 1688/89) als kontinuierlicher (weitgehend) unblutiger Marsch zu mehr Demokratie gelesen. Die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts einsetzende sozio-kulturelle Transformation der feudalen Institutionen des Landes ermöglichte einen Prozess der permanenten Neujustierung der Ziele und Aufgaben sowie der Legitimation von Krone, Regierung und Parlament. Die gesellschaftliche Koalition von Adel und Bürgertum11, die seit dem 18. Jahrhundert den Adel „verbürgerlichte” und das Bürgertum lehrte, das Clubleben und die Vorbildfunktion des „gentleman”-Ideals12 zu schätzen, prägte eine politische Kultur, die undogmatisch, flexibel, pragmatisch und individualistisch bis hin zur Exzentrik13 ausgerichtet ist. Die britische Gesellschaft ist sich – ebenso wie die britische Politik – ihrer Sonderstellung bewusst, die nicht nur die Geographie (Insellage), sondern auch die jüngere Geschichte, insbesondere die immer wieder ins kollektive Bewusstsein gehobene Rolle des Vereinigten Königreichs im II. Weltkrieg, zu bestätigen scheint, und der durch den Glücksfall, Mutterland der heute unumstrittenen Weltsprache zu sein, heute neue Bedeutung zukommt. Das heißt aber nicht, dass das Bild des Vereinigten Königreichs von sich selbst spannungsfrei war und ist. Sowohl die Arbeiterbewegung seit dem 18. Jahrhundert14, die Frauenrechtlerinnen im 19. und 20. Jahrhundert15, die „iriKamm/Lenz 2004; Schubert 2004. Fetscher 1968: 99. 12 Wiener 1981. 13 Sitwell 1987 (1933). 14 Thompson 1968; Vester 1970. 15 Bartley 1998. 10 11
12
sche Frage” seit dem Herrschaftsanspruch Heinrichs VIII. über Irland im 16. Jahrhundert16, die Autonomieforderungen der Schotten und Waliser seit dem Ende der 1960er Jahre17 und die Einwanderung nach der Dekolonisation Afrikas und Asiens ab dem Ende der 1940er Jahre18 haben die britische Gesellschaft und Politik grundlegend verändert. Inwieweit die britische Gesellschaft heute noch über einen ausreichenden Grundkonsens verfügt und wie dieser lauten mag, ist schwer zu sagen. Britischen Politikern gelingt es immer weniger, „Britishness” in einer Weise zu definieren, die dieses Selbstbild von dem demokratischen Selbstverständnis anderer Länder unterscheidet. Die Darstellung und kritische Würdigung des politischen Systems Großbritanniens mit den Augen des Außenstehenden ist unverändert eine Herausforderung.19 Selbst die qualitativ vergleichende Politikwissenschaft unterschätzt in der Regel die Chancen einer systematisch-strukturellen Länderanalyse. Sie hat nicht den Zweck, eine „gehobene” Landeskunde zu betreiben, sondern sollte am Beispiel eines Landes möglichst viele wissenschaftliche „Rätsel” (überraschende, meist kontraintuitive Sachverhalte) herausarbeiten, die Raum bieten für die Suche nach sozialwissenschaftlichen Erklärungen und einer Überprüfung verallgemeinerbarer Zusammenhänge, von denen erst der Vergleich zeigen kann, inwieweit hier wissenschaftlich weiterführende Befunde vorliegen. Im britischen Falle gilt es eine Balance zu finden, die die Betrachtung von Erscheinungsformen des Politischen in Einklang bringt mit der politischkulturellen „Tiefenstruktur” des Landes20. Jene erweist sich als erstaunlich überlebensfähig. Die Grundannahmen des soziologischen Institutionalismus, der von einem institutionell angemessenen, weil auf ein Wertesystem bezogenen politischen Wandel als Normalfall gesellschaftlicher Entwicklung ausgeht, werden im britischen Kontext geradezu auf den Kopf gestellt. Hier werden die institutionellen Regeln zu einer abhängigen Variable nichtkodifizierter aber dauerhafter „belief systems”, die wenigen Grundregeln verpflichtet sind, unter denen die praktische Vernunft pragmatischer Kompromisse besonders hervorsticht. Nichts geschieht in erster Linie um seiner selbst willen. Beckett 1969; Pringle 1985; Elvert 1993. Sturm 1981. 18 Solomos 32000. 19 Bauerkämper/Eisenberg 2006. 20 Sturm 1999a. 16 17
13
Politik in Großbritannien ist radikal problembezogen und entsprechend notorisch bruchstückhaft – und damit aus britischer Perspektive adäquat und zufriedenstellend, aus kontinentaleuropäischer Perspektive gelegentlich unfertig und – an abstrakten Prinzipien gemessen – systematisch unvollkommen.
14
Neuere Debatten zum Verständnis des britischen Regierungssystems21
1
Regieren im „System“?
Der Begriff Regierungssystem hat sich in einer Weise in die politikwissenschaftliche Alltagssprache eingebürgert, die den Bezug zur Systemtheorie, die diesen Begriff einmal geboren hat, vergessen ließ. In ähnlicher Weise sinnentleert wird in der Politikwissenschaft übrigens inzwischen auch mit dem Begriff „governance“ (Regieren) umgegangen, dem deshalb die Zukunft eines vergleichbaren Allerweltswortes auch ohne große prophetische Gaben vorausgesagt werden kann. Wir verwenden den Begriff „Regierungssystem“ als beschreibende, nicht aber als analytische Kategorie mit deutendem Anspruch. Als solche taugt er zum Verständnis des Regierens in Großbritannien nicht mehr. Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass die systemtheoretische Betrachtung des politischen Prozesses in Großbritannien heute an Grenzen stößt. Dies ist zum einen der Fall, weil – im Unterschied zur Zeit der Interpretationshoheit der Systemtheorie in der Politikwissenschaft vor 40 Jahren – für das Regieren heute weit weniger selbstverständlich die Grenzlinie gesellschaftlich folgenreicher Entscheidungen durch die Beantwortung der Frage nach im Max Weberschen Sinne legitim ausgeübten physischen Zwangs markiert wird.22 Die Systemtheorie sah genau hierin das Definitionskriterium politischer Systeme. So argumentierten Almond und Powell23: „When we speak of the political system, we include all the interactions that affect the use of legitimate physical coercion.“ Regieren ist mittlerweise auch in Großbritannien in vielfacher Hinsicht „entgrenzt“. Wenn für die Finanzierung essentieller Staatsaufgaben, wie Klinikbauten im staatlichen Gesundheitswesen Im folgenden nach Sturm 2006. Weber 1922, 51980: 29. 23 Almond und Powell ²1978: 5. 21 22
15
(National Health Service) oder den Bau von Gefängnissen, ja sogar beim Unterrichtsangebot an öffentlichen Schulen auf Verhandlungen mit privaten Geldgebern im Rahmen von „Public Private Partnerships“ (PPP) zurückgegriffen werden muss und wenn diese 2003 schon über 10% der öffentlichen Investitionen banden mit steigender Tendenz, wird folgendes deutlich: Politische Entscheidungen kommen heute nicht mehr nur durch die besondere Legitimation staatlichen Handelns, sondern zunehmend durch nichthierarchische Kooperationsbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft zustande. Die Ministerialverwaltung wird zum Zuarbeiter für die Implementation von Verhandlungskompromissen in je nach Politikfeld variierenden Netzwerkstrukturen. Kritiker diskutieren angesichts des Zerbrechens traditioneller Legitimationsketten von Politik deshalb inzwischen nicht nur die wirtschaftliche Tragfähigkeit der neuen Art der Wahrnehmung essentieller Staatsaufgaben, sondern auch die „Demokratiekosten“ der PPPs.24 Mit der Entgrenzung von Staatshandeln lässt sich analytisch eine Abgrenzung staatlicher Machtausübung nur noch im Einzelfall bzw. bei konkreten Entscheidungen vornehmen, was ebenfalls einem zentralen systemtheoretischen Postulat widerspricht, nämlich dass ein politisches System sich dadurch auszeichnet, dass generell „some kind of boundary between it and its environment“25 feststellbar sein muss. Überholt ist auch die systemtheoretische Mechanik, die von einer Interdependenz der Bausteine eines politischen Systems ausgeht. Almond und Powell glaubten folgende Regel definieren zu können: „By interdependence we mean that when the properties of one component in a system change, all other components and the system as a whole are affected.“26 Empirisch war dies schon immer schwer nachzuweisen angesichts der faktischen Folgelosigkeit großer Reformvorhaben, wie beispielsweise im britischen Fall der Einrichtung eines National Enterprise Boards mit dem Industry Act von 1975, die den Zweck verfolgte, eine Staatsholding zur Modernisierung der britischen Industrie zu schaffen, oder – um ein jüngeres Beispiel zu erwähnen – die Reform des House of Lords, die den Erbadel weitgehend entmachtete. Aber auch theoretisch überzeugt das Interdependenzargument in dieser Form nicht mehr, weil es die Geschlossenheit des politischen
Flinders 2005a: 234. Almond/Powell ²1978: 5. 26 Ebda. 24 25
16
Systems voraussetzt und impliziert, dass es eine Art systemstabilisierendes Gleichgewicht gibt, auf das sich ein politisches System je nach (wechselnder) Zusammensetzung seiner Komponenten (neu) einpendelt. Der ahistorischen Gleichgewichtsmechanik der Systemtheorie setzen neoinstitutionalistische Ansätze heute die These von der „Pfadabhängigkeit“ politischer Veränderung entgegen, also die Einbettung des Neuen in historisch-institutionell definierte Parameter. Aus der Sicht der politischen Kulturforschung wurde zwischen tiefenstruktureller Kontinuität der britischen Politik und dem tagespolitischen Wandel von Leitbildern und Konsensbildungsmodellen unterschieden.27 Systemstabilität wird bei solchen Herangehensweisen im Unterschied zur Argumentation der Systemtheorie nicht mehr als implizite Norm akzeptiert, sondern stellt sich in Abhängigkeit von der Dimension des politischen Wandels her. Neujustierungen der Grundlagen des britischen Gemeinwesens sind damit nicht ausgeschlossen. Sie bedürfen aber mehr als nur der Veränderung einer „Komponente“ des politischen Systems. Kontinuität trotz spektakulärer „Neuerfindungen“ politischer Agenden scheint aus dieser Sicht die zentrale Erklärung für die Überlebensfähigkeit des britischen „politischen Systems“ zu sein.
2
Informalisierung des Regierens: „Core executive“ und „governance“
Neben der Entgrenzung von Politik findet auch in Großbritannien ein Prozess ihrer Informalisierung statt, wobei umstritten bleibt, inwieweit formale Entscheidungsstrukturen ersetzt wurden bzw. ersetzt werden können. Die britische politikwissenschaftliche Debatte zur Informalisierung des Regierens in modernen Demokratien und den damit verbundenen Herausforderungen und Problemen von „governance“ fand nicht nur ca. 10 Jahre vor der entsprechenden Debatte in der deutschen Politikwissenschaft statt. Sie war und ist bis heute auch ideenreicher und differenzierter. Ausgangspunkt der Debatte war die Beobachtung, dass Regieren heute mehr ist als das Regierungshandeln von Premierminister und Kabinett. Vielmehr, so wurde argumentiert, müsse man von einem breiter gefassten Feld von Handlungsträgern, 27
Sturm 1999.
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der „core executive“ ausgehen. Diese besteht aus einem Netzwerk von Entscheidern, zu der auch die Regierung im traditionellen Sinne gehört, die durch das Herstellen temporärer Bündnisse, statt durch hierarchische Anweisung, mehr informell als auf dem Wege des hierarchisch strukturierten Verwaltungshandeln das Gemeinwesen steuern. In der deutschen Politikwissenschaft findet sich zur Beschreibung dieses Phänomens der Begriff des „kooperativen Staates“28, der allerdings zunächst das staatliche Interesse an „Steuerbarkeit“ der Gesellschaft in den Vordergrund stellte. In Großbritannien wurde hingegen mit der neuen Sichtweise das Arbeiten der gewählten Entscheider zum wichtigsten Problem gemacht. Für die britische Politikwissenschaft war der „core executive“-Ansatz nicht nur eine „Verfeinerung“ der traditionellen Regierungslehre, sondern auch eine Herausforderung der normativen Grundlagen des traditionellen Staatsverständnisses.29 Er implizierte Defizite des Westminster-Modells und damit Defizite einer aus britischer Sicht im Grunde als überlegen angesehenen Regierungsweise. Bis heute sträubt sich die britische Lehrbuchliteratur beharrlich, solche Defizite einzuräumen oder gar vom Westminster-Modell abzurücken, wie eine Sichtung der einschlägigen Werke ergab.30 Das Westminister-Modell verband in seiner institutionellen Geschlossenheit eine starke, die politische Verantwortung tragende Regierung mit demokratischer Kontrolle durch Rechenschaftslegung und Wahlen. Im Herzen dieser Kontrolle agierte das Parlament, das für die Übermittlung des Willens der durch sie repräsentierten „politischen Nation“ und die Legitimation des herrschenden Personals sorgte. David Judge31 prägte für diese Konstellation den Begriff des „Parliamentary State“. Nun sollte all dies nicht mehr gelten, sollte die Autonomie der Exekutive größer sein als es der Parliamentary State zu erlauben schien, vor allem aber sollte das WestminsterModell, einer völlig anderen Entscheidungslogik folgen und damit den Erfolgskriterien für seine Überlegenheit möglicherweise beraubt werden. Nach 1979, so die These, veränderten sich in Großbritannien die Grenzlinien von Staat und Gesellschaft, v.a. durch den Wandel des Verhältnisses von Staat und Markt als Folge der von den konservativen Premierministern Voigt 1995. Smith 1998: 46. 30 Smith 1999. 31 Judge 1993. 28 29
18
Margaret Thatcher und John Major eingeleiteten Reformen. Geht man in diesem Kontext der „core executive“ auf den Grund, so findet sich an der Spitze des Staates keine machtvolle politische Kraft, sondern man beobachtet die zunehmende Unfähigkeit des Machtzentrums zu regieren. Diese Entwicklung wurde mit der Begrifflichkeit des „hollowing out the state“32, der „Entkernung“ von Staatlichkeit, belegt. Ein umfangreiches Forschungsprogramm des Economic and Social Research Council analysierte ausführlich die entsprechenden Schwachstellen des Regierens in Großbritannien in der Zeit vor dem Regierungswechsel 1997. Die wichtigsten Einsichten und Handlungsanweisungen, die sich aus den Befunden der Einzelforschung ergaben, lauteten: Politische Entscheider sind in Großbritannien konfrontiert mit der Fragmentierung von Entscheidungsprozessen; mit der Ressourcenschwäche der Entscheidungsträger; mit Lernprozessen, die Probleme neu definieren, bevor sie gelöst werden können; mit Marktlösungen, die traditionelle handlungsanleitende Wertsysteme erodieren lassen und das Vertrauensverhältnis bei nichtmarktlichen Kooperationsbeziehungen untergraben; mit der Tatsache, dass Staatshandeln zu Staatsversagen führt (weshalb es besser sei, nur im Falle politischer Krisen einzugreifen), und der Beobachtung, dass Kooperationshandeln in Netzwerken den diplomatischen Moderator erfordert, also größtmögliche staatliche Zurückhaltung nahelegt.33 Bleibt unter diesen Umständen, so wäre zu fragen, der britischen Regierung überhaupt noch eine Möglichkeit kompetenter und verbindlicher Entscheidungen? Die Antwort von Rhodes, die Ian Holliday34 als Übertreibung, ja Provokation charakterisiert, ist: nein. Nicht alle britischen Politikwissenschaftler sind in ihrem Urteil so skeptisch bzw. so radikal wie Rod Rhodes. Colin Hay und David Richards35, beispielsweise, kritisieren den neuen Formalismus der Netzwerktheoretiker, die meinen, dass das Handeln in Netzwerken traditionelles Regierungshandeln einfach ersetzt habe. In einer auf 150 Interviews in vier Ministerien basierenden empirischen Studie weisen sie nach, dass Netzwerke zum einen u.a. mit Wahlterminen verbundenen Lebenszyklen unterliegen und zum anderen gerade von der von Rhodes als Rhodes 1996: 661. Rhodes 2000: 359. 34 Holliday 2001: 315. 35 Hay/Richards 2000. 32 33
19
moribund erklärten „core executive“ strategisch erfunden und eingesetzt werden können. Martin Smith36 stellt in seiner Analyse ebenfalls die Handlungsfähigkeit der Exekutive in den Vordergrund. Er greift die These von der „Entkernung“ der Staatlichkeit nicht auf, verweist aber auf politikfeldspezifische Handlungsrestriktionen der Exekutive und auf die neue Komplexität politischer Entscheidungsprozesse. Damit knüpft er im weitesten Sinne an die im wesentlichen von Jim Bulpitt entwickelte „statecraft“ Interpretation des Regierens in Großbritannien an37, obwohl er, anders als Bulpitt, weit davon entfernt ist die von Rhodes in Frage gestellte Handlungsfähigkeit der Exekutive im Wege traditioneller Hierarchien verteidigen zu wollen. Bulpitt argumentierte, dass im Zentrum des Regierens der „Hofstaat“ (Court) mit dem Regierungschef/der Regierungschefin (chief executive) und seinen/ihren Freunden und Ratgebern steht. Dem „Court“ schreibt Bulpitt38 drei Merkmale zu: Er hat das Ziel des Machterhalts und muss deshalb Kompetenz vermitteln, er hat eine Vorstellung von „gutem Regieren“ (governing code) basierend auf einem kohärenten Zusammenspiel von Prinzipien, Methoden der Entscheidungsfindung und Handlungsrepertoir, und er kann auf einen Zusammenhang politischer Unterstützung (support mechanism) zurückgreifen, der das Politikmanagement erleichtert. „Statecraft“ ist der kunstvolle Umgang mit bzw. das gelungene Zusammenspiel dieser drei Ressourcen von Herrschaft. Die Bulpittsche Sichtweise ist in gewisser Weise der realistische (im Sinne der Machttheorie des Realismus) Gegenpol zu den Rhodeschen Thesen der Enthierarchisierung, Dezentrierung und Entgrenzung von Staatlichkeit. Aber auch Bulpitt erkennt in allgemeiner Form strukturelle Grenzen des Regierens im Zeitalter der Globalisierung an. Wo aber liegen diese? In der britischen Debatte haben die Rhodesschen Vorgaben39 mehr Unterstützung gefunden als die Anregungen des 1999 verstorbenen Jim Bulpitt, was daran liegen mag, dass dessen Nahführung seiner Analyse auf die damalige Regierungschefin Margaret Thatcher ihn in den (unberechtigten) Verdacht der konservativen Komplizenschaft brachte. Rhodes Thesen konnten aber auch deshalb zur „new orthodoxy“ des Wissensbestandes der britischen Politikwissenschaft werden, weil sie durch den von Smith 1998: 68. Buller 1999. 38 Bulpitt 1986. 39 Rhodes 1997. 36 37
20
Autoren wie Michel Foucault und Niklas Luhmann bestimmten postmodernen Modetrend in den Sozialwissenschaften getragen werden.40 Es ist für Politikwissenschaftler dennoch nicht weniger schwer, ein „entkerntes Zentrum“ (Rhodes) der britischen Politik konkret zu untersuchen als den „governing code“ des „Courts“ nach Bulpitt. Dies haben die bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Thesen von Rhodes deutlich gezeigt. Ian Holliday lehnt diese nach ihrer Überprüfung im Detail vehement ab: „At the start of the twenty-first century the British core is more substantial than ever before, and capable of securing many, though of course not all, of the policy outcomes it seeks.“41 Ähnlich argumentiert auch Mike Marinetto42, der die Beobachtungen der Rhodes-Schule nicht bestreitet, aber deren Deutung ablehnt, weil er in dem Umbau der „core executive“ v.a. eine Strategie des Zentrums sieht, effizienter zu regieren und nicht eine Lähmung des Staatshandelns bzw. die Unfähigkeit der Exekutive, politisch zu steuern. Aber selbst Autoren, die Wert darauf legen, den von Rhodes vertretenen Ansatz umzusetzen, sehen sich in der Realität rasch mit zentralen und eher traditionellen Machtfragen konfrontiert. So bemerkte Richard Heffernan43 in seiner Studie zu den „core executive networks“ in Großbritannien: „Even the ‚core executive‘ has a ‚core‘. There may be a number of actors in any network, such networks are not simply pluralistic, but have internal hierarchies.“ Und bei Williams44 ist nachzulesen: „that although, as Rhodes argues, the increasing involvement of outside organisations reduces the ability of ministers to direct policy-making in ways possible within traditional hierarchical structures, they retain considerable ability to influence the process and veto outcomes that they regard as unacceptable.“ Heffernans konkrete Ausführungen zum Amt des Premierministers lesen sich, wie sein Hinweis auf Entscheidungshierarchien schon anklingen lässt, erstaunlicherweise eher wie eine Analyse Bulpitts als wie eine Reflexion zu den Konstitutionsbedingungen der „core executive“ im Rhodesschen Sinne. Eine politikwissenschaftlich überzeugende Reformulierung der Premierminister-Dominanz im britischen Marinetto 2003: 598. Holliday 2000: 175. 42 Marinetto 2003: 606. 43 Heffernan 2003: 369. 44 Williams 2000: 412. 40 41
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politischen System fällt auch nach dem (zumindest verbalen) Abschied vom Westminister-Modell offensichtlich schwer. Einige Autoren machen daraus auch keinen Hehl. So überspielen Christopher Brady und Peter Catterall die Anforderungen des „core executive“-Ansatzes burschikos mit der Bemerkung: „Despite the fact that the Cabinet is not synonymous with the Core Executive it remains the obvious starting point for any analysis.“45 Das Mischungsverhältnis von traditionellem Regieren und Regieren in Netzwerken bei fortdauernder Entscheidungs- und Steuerungsfähigkeit der Exekutive wurde inzwischen auch als Modell asymmetrischer Machtausübung (asymmetric power46) bzw. als „congested state“47 charakterisiert. Mit dem Begriff „congested state“ wird auch deshalb gearbeitet, weil eine Überfülle an Zielvereinbarungen („targets“) von Regierungsseite in einzelnen Politikfeldern nicht nur Abstimmungsprobleme bei der Zielorientierung bereitet. Sie konfrontiert auch Betroffene mit eher mehr als weniger Staatlichkeit48 und führt auch zu praktischen Problemen der Dokumentation der Zielerreichung, der Orientierung der politisch Handelnden und der Prioritätensetzung. Ein ausformuliertes Gegenmodell zu den Rhodesschen Vorschlägen hat sich aber bisher noch nicht durchgesetzt. Vielmehr haben diese nun auch das Lehrbuchstadium erreicht.49 Die von Rhodes zur Debatte gestellten neuen Bedingungen des Regierens lassen sich durchaus unterschiedlich interpretieren. Bisher wurden bis zu neun Spielarten des governance-Begriffes angeboten.50 Umstritten bleibt vor allem, ob „governance“ und „government“ analytische Zugänge sind, die sich im Bezug auf neue Politikinstrumente, wie „benchmarking“, „Koregulierung“, freiwillige Verhaltenskodizes oder verhandelbare Abkommen, in je neuen Bezügen (Mischungsverhältnissen) abbilden lassen und so politikgestaltend wirken.51 Zu diskutieren wäre aber auch ein Verständnis von „governance“ und „government“ als entgegengesetzte Polen eines Kontinuums. Gilt diesbezüglich, so wäre zu fragen, die Faustregel, je weniger beBrady/Catterall 1997: 510. Marsh et al. 2001. 47 Skelcher 2000. 48 Williams 2002: 91. 49 Peele 42004. 50 Kersbergen/Waarden 2004. 51 Jordan et al. 2005: 481. 45 46
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zogen auf den Institutionenhaushalt verfassungskonform sowie formalisiert regiert wird, desto mehr ersetzt „governance“ „government“? Es erweist sich bei solchen Überlegungen rasch, dass vorgelagerte und oft nicht thematisierte Wertentscheidungen der politikwissenschaftlichen Autoren ihr Forschungsdesign und ihr Forschungsinteresse prägen. Als Ausweg wurde eine politisch-kulturelle Zuordnung der Interpretationen neuer Staatlichkeit vorgeschlagen. So lässt sich zwar die Beliebigkeit des „governance“-Begriffes nicht aufheben, aber der Begriff kann erfolgreicher kontextualisiert werden. Die britische politikwissenschaftliche Forschung knüpft hier erfolgreich an konstruktivistische und diskurstheoretische Ansätze an. Letztere wurden insbesondere von der „Essex School“ fortentwickelt.52 Bevir und Rhodes53 stellen Realitätskonstruktionen („governance narratives“) als Schlüssel zum Verständnis des britischen Regierungssystems in den Vordergrund. Dabei räumen sie ein, dass ein solcher Relativismus zwar den Vorteil habe, den herrschenden Positivismus zu hinterfragen, aber auch den Nachteil der Unschärfe bei der Erklärung von Zusammenhängen. Damit sei das Problem verbunden, dass argumentativ fundierte Voraussagen in den Sozialwissenschaften nicht möglich sind. („The language of narratives challenges the language of predictive social science.“54). Bevir und Rhodes schlagen für das Verständnis von „governance“ vier Interpretationskontexte vor: Die konservative Sichtweise, die marktliberale, die Westminster-traditionalistische und die Labour-Perspektive (Tabelle 1). Es zeigt sich, dass in allen Sichtweisen mit Ausnahme der Wahrnehmung der Autoren, die ihre Argumente in der Westminster-Tradition formulieren, die Entwicklung des britischen politischen Systems der letzten 30 Jahre als Veränderung, wenn nicht gar als Abkehr vom Westminster-Modell verstanden wird. Die optimistischere Sichtweise der Westminister-Traditionalisten ist wenig überraschend. Der Westminster-Traditionalismus bzw. die „Whig interpretation of history“ geht auf die These der umfassenden Anpassungsfähigkeit und Kontinuität des britischen politischen Systems zurück. Die Whigs, die Siegerpartei der Glorious Revolution von 1688/89, interpretierten die nach diesem Ereignis einsetzende Parlamentsherrschaft nicht als
Townshend 2003. Bevir/Rhodes 2004; vgl. auch Bevir/Rhodes 2003b und 2006a. 54 Bevir/Rhodes 1999: 233. 52 53
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Bruch mit einer Regierungsform (dem Absolutismus), sondern als Fortführung eines Evolutionsprozesses, der schon mit der Magna Charta von 1215 begann. Zur Zeit der Französischen Revolution wurde die vermeintliche Kontinuität der britischen Verfassung von Autoren wie Edmund Burke (1729-1797) zur Tugend und staatspolitischen Klugheit erhoben.55 Mit diesem Hintergrund können die heutigen „governance“-Probleme unmöglich als Wende der britischen Verfassungspraxis verstanden werden. Würden die Westminster-Traditionalisten einräumen, dass ein Bruch in der Verfassungsentwicklung stattfinden konnte, so würde ihrer Interpretation des Regierens vollständig die Grundlagen entzogen. Tabelle 1:
Kontexte von Governance-Interpretationen konservativ
Befund:
Strategische Schlussfolge rung:
marktliberal
Westminster Tradition
Labour
Zerstörung der intermediären Institutionen (wie Monar chie, Kirche, Ministerial verwaltung oder kommu nale Autono mie)
Setzen auf die Entstehen „organische“ von gesellschaft Verbindung mit lichen Netz der flexiblen werken Verfassung
Enthierarchisie rung erlaubt statt Hierarchie oder Markt die politische Steu erung durch Vertrauen und Partnerschaft (joined up government)
Erhalt traditioneller Institutionen
Weiterführen der Entlastung des Staates und Erweitern der Marktbezie hungen
Ausbau des aktivierenden Staates
Evolutionärer Wandel im Kontext der Verfassung
Quelle: Bevir/Rhodes 2004: 133.
„In 1953, the distinguished American sociologist, Edward Shils, writing in Encounter (April 1955) said that, attending a university dinner, he was surprised to hear, ‘an eminent man of the left’ say, in utter seriousness – that the British constitution was ‘as nearly perfect as any human institution could be’. He was even more surprised to find that: ‘No one even thought it amusing.’” (Bogdanor 2004: 727).
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Für die konservative Sichtweise des Westminster Modells steht vor allem die Bedrohung des institutionellen Gefüges des Landes als Sorge im Vordergrund. Governance-Probleme sind deshalb in erster Linie Ergebnisse gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Marktliberale Positionen, die ihre Heimat politisch durchaus in der gleichen Partei wie die konservativen Positionen finden können, sehen dagegen den erfolgten oder bevorstehenden Umbau des Verhältnisses von Staat bzw. staatlichen Institutionen und Gesellschaft als einen ersten wichtigen Schritt zur Entlastung des Staates und zur Durchsetzung des Marktes als dominierendes gesellschaftliches Regelsystem. Die Position der Anhänger von New Labour ist rhetorisch jenseits von Markt und Staat in den Gefilden des Kommunitarismus und der deliberativen Demokratie platziert und damit angewiesen auf Vertrauen und Partnerschaft als solidarische Steuerungsmechanismen. In der Tagespolitik wird aber die implizierte Freiwilligkeit ergänzt durch den durch das Nutzen von Hierarchie und Marktlogik durchaus auch fordernden Staat. Das Erkennen von Interpretationskontexten („narratives“) löst nach Bevir und Rhodes56 aber nicht das Grundproblem, das da lautet: Es kann eine verbindliche Interpretation des britischen Regierungssystems nicht geben. Die Autoren lehnen deshalb die Neigung des historischen Institutionalismus explizit ab, die Spezifika des Regierens in Großbritannien mit der determinierenden Kraft der in Deutschland als wissenschaftliches Standardargument (u.a. für die Reformunfähigkeit des Landes) ebenfalls gerne bemühten „Pfadabhängigkeit“ zu erklären. Die einzige Abhängigkeit, die sie als logisch strukturierende Kraft für das Verständnis des britischen Regierungssystems akzeptieren, ist der von der Wissenschaftlerin bzw. dem Wissenschaftler selbst gewählte interpretatorische Zugang. Die wahre Darstellung des objektiven Prozesses des Regierens ist damit nicht mehr möglich – es gibt so viele Logiken des Regierens, wie es auf unterschiedlichen Werthaltungen basierende Zugänge gibt. David Marsh57 hat den Ansatz von Bevir und Rhodes als „Differentiated Power Model” bezeichnet, das er wegen seiner implizierten „Herrschaftsfreiheit” kritisiert. Er stellt diesem als Alternative ein „Asymmetric Power Model” gegenüber, das die von der Verteilung von Macht und Einfluss ausge-
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Bevir/Rhodes 2003a: 59; vgl. auch Bevir 2005. Marsh 2008a. Vgl. auch Marsh u.a. 2003.
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henden Prägungen des britischen Regierungssystems stärker betont. Governance wird in dem Marsh-Modell dominiert durch Hierarchien (nicht durch Netzwerke), das Zentrum von Staatlichkeit ist eine starke, wenn auch nicht unumstrittene Regierung (statt des leergeräumten Machtzentrums), die Machtressourcen führen zu asymmetrischen gesellschaftlichen Austauschbeziehungen (statt einem offenen und sich unvoreingenommen entwickelnden Austauschs), die Einbettung in das Westminster Modell dominiert, auch wenn sie herausgefordert wird (statt der Annahme einer „Entthronung” des Westminster Modells) und Machtasymmetrien (statt Pluralismus) verteilen Zugangschancen zum politischen System. Grundsätzlicher argumentiert Stuart McAnulla58, der sich gegen die Annahme des interpretatorischen Ansatzes wendet, dass es keine „objektiven” Realität des britischen Regierungssystems geben könne. Er plädiert stattdessen für einen neoinstitutionalistischen Ansatz (einschließlich der Annahmen der governance-Literatur), den er allerdings hinsichtlich der prägenden Wirkung von Institutionen auf die britische Politik äußerst vorsichtig fasst.
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Die Präsidentialisierungsthese
Neben der Frage, wie in Großbritannien regiert wird, stellt sich als Dauerthema der britischen Politik die Frage „Wer regiert“? Aus dieser Sicht erscheint die „core executive“ in einem weit traditionelleren Licht. Zwar gibt es spätestens seit den 1960er Jahren keine Kontroverse mehr darüber, dass das Modell der Kabinettsregierung durch dasjenige der Premierministerregierung abgelöst wurde. Was dies im Einzelnen bedeutet, bleibt aber umstritten. Der britische Premierminister hat sein traditionelles Patronagepotential keineswegs verloren und durch die noch immer schwachen Gegengewichte für sein Handeln im Amt auch nicht seine zentrale Machtstellung im britischen Regierungssystem. Die Bindewirkung von EU-Gesetzgebung, an deren Zustandekommen die britische Exekutive ja beteiligt bleibt (auch wenn sie in bestimmten Fällen überstimmt werden kann), und die Folgen der Dezentrali-
McAnulla 2007. Zur Debatte im Detail vgl. auch Bevir 2007 und McAnulla 2007a und weitere Diskussionsbeiträge von Smith 2008; Glynos/Howarth 2008; Bevir/Rhodes 2008a; Bevir/Rhodes 2008b; Marsh 2008b.
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sierung des Landes (Devolution), also verkürzt zusammengefasst: der Machtverlust des Premierministers nach „oben“ und „unten“, wird in der Literatur gelegentlich überschätzt. Hervorzuheben ist, dass neuerdings Gegenkräfte zur Macht des Premierministers sogar eher schwinden. Vor allem das Kabinett wurde in der Regierungszeit Tony Blairs zum politischen „Ornament” reduziert, seine kollektive Verantwortung war nur noch eine Farce.59 Am wenigsten berechenbar ist die eigentlich selbstverständliche Kontrolle, die der Premierminister im Hinblick auf seine eigene Partei ausübt, wie u.a. die gewachsene Neigung zur Hinterbänklerrevolte im Parlament belegt. Leichter zu „zähmen“ ist das nun in seiner großen Mehrheit ernannte Oberhaus und politisch „auf Linie gebracht“ wurde der früher traditionell neutrale, hinter den Kulissen aber die common sense-policies diktierende Beamtenapparat („Civil Service“). Die Politisierung des Regierungsunterbaus begann schon mit der Amtsübernahme Margaret Thatchers. Tony Blair hat diese aber umfassend vorangetrieben, vor allem durch die Praxis der Ernennung von „special advisers“. Im Unterschied zu Beamten sind „special advisers“ mit Zeitverträgen im Civil Service beschäftigt und nicht an die politischen Neutralitätsregeln Whitehalls gebunden. Die die Regierung kontrollierende öffentliche Meinung gilt (einschließlich der Medien) aus Sicht von Downing Street 10 zudem als weitgehend manipulierbar, auch wenn einige Regeln dabei zu beachten sind. So stößt der „Verkauf“ von Politik selbst bei größtem Erfindungsreichtum der Politikverkäufer beim Politikkonsumenten, dem Wähler, auf Unwillen, wenn sich nur die Verpackung und nicht auch über Zeit zumindest in bestimmten Politikfeldern merklich die Inhalte und die Ergebnisse von Politik ändern.60 Die britische Politikwissenschaft hat die Dominanz des Premierministers im politischen Entscheidungsprozess seit den 1970er Jahren immer wieder mit neuen Begriffen zu fassen versucht. Karriere machte zunächst der von Lord Hailsham61 polemisch gegen den aus heutiger Sicht „schwachen“ Labour Premierminister James Callaghan (1976-1979) gerichteten Vorwurf der „elected dictatorship“. 1993 sah Michael Foley erstmals den britischen Premierminister auf dem Weg zu einer informellen Präsidentschaft. Mit der
Hennessy 2007. Sturm 2006b: 36f. 61 Lord Hailsham 1978: 9. 59 60
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Regierungspraxis in der Amtszeit Tony Blairs fand Foley62, wie auch einige andere Autoren63, die Präsidentialisierungsthese bestätigt. Insider-Berichte, die Foleys These nicht aufnehmen, machten ebenfalls deutlich, dass Tony Blair ein „persönliches Regime“, eine „command premiership“64 errichtete65. Sein Umgang mit Ministern war für die meisten britischen Politikwissenschaftler Beleg dafür, dass seine Regierungszeit ein weiterer Nagel im Sarg des „cabinet government“66 darstelle. Schon vor dem ersten Wahlsieg Tony Blairs 1997 war politikwissenschaftlichen Beobachtern klar, dass er das „feudale System“ der Fachminister als (Fach-)Provinzfürsten (barons) mit einem „Napoleonic style of premiership“67 zu überwinden gedachte. Solche Beobachtungen schließen andere Wahrnehmungen in der britischen Politikwissenschaft nicht aus. Erstaunlicherweise gibt es weiterhin in der Westminster-Tradition argumentierende Autoren, die zu dem auf Kontinuität bauenden Schluss kommen: „The fact is that changes at the core under Labour mark the latest stage in the evolution of Britain‘s still functioning system of cabinet government.“68 Foleys Präsidentialisierungsthese gründet sich auf folgende Beobachtungen69: (1) Unter Tony Blair hat persönliche „leadership“ neue Dimensionen erreicht. Der Premierminister ist medial omnipräsent70, ist die autoritative Stimme seiner Regierung und dominiert die politische Agenda sowie die Berichterstattung. Andere gesellschaftliche Institutionen, wie auch das Kabinett, wurden an den Rand gedrängt. New Labour ist Tony Blairs persönliches Projekt. Er entwickelt mit seinen Visionen einen quasi-Vertrag mit dem britischen Volk, das ihm persönlich vertrauen soll. (2) Tony Blair stützt seine Position nicht nur auf die konventionellen Instrumente eines Premierministers, sondern hat auch die Regierungsorganisation umgebaut, eine neue Form des Nachrichtenmanagements entwickelt. Er setzt auf Populismus,
Foley 2000. Hargrove 2001; Allen 2001. 64 Hennessy 2000: 387. 65 Hennessy 2005. 66 Brady 1999; Weller 2003. 67 Hennessy 1998: 5. 68 Burch/Holliday 2004: 1. 69 Foley 2004. 70 Zu empirischen Belegen vgl. Langer 2007 (Auswertung der Times). 62 63
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Parteidisziplin und neue Formen politischen Entscheidens (z.B. Wahlsystemreformen). (3) Tony Blair regiert kampagnenartig. Er reißt Themen an sich, frustriert und demoralisiert Minister und Ministerialbeamte dadurch, lässt aber Themen auch rasch fallen. Traditionelle Entscheidungswege werden so zerstört, und „regiert“ wird nur noch, wenn der Premierminister Interesse zeigt. (4) Tony Blair übernimmt, wie seine Amtsvorgänger, die Führungsrolle in der Außenpolitik. Er unterscheidet sich von diesen aber durch die Formulierung moralisch-politischer Visionen und Alleingänge (z.B. Irak-Krieg, wo er sich in der öffentlichen Wahrnehmung als „Präsident“ neben George W. Bush präsentiert). (5) Tony Blair nutzt mit Brachialgewalt die Flexibilität der britischen Verfassung, um die oben skizzierten Positionen zu festigen bzw. durchzusetzen. (6) Tony Blair präsidentialisiert die britische Politik durch einen bewussten Prozess der Anpassung an das amerikanische Vorbild (Bill Clinton), sowohl „herrschaftstechnisch“ als auch im Bezug auf gesellschaftliche Werte. (6) Die Präsidentialisierung zeigt sich auch in der Phase des Popularitätsverlusts Tony Blairs. Der Zuschnitt der Politik auf seine Person führt zum einen zu „lame duck“-Argumenten, insbesondere seit seine Rücktrittsabsichten bekannt wurden, und lässt zum anderen nach einer neuen Führungspersönlichkeit (Gordon Brown) Ausschau halten. Die Präsidentialisierungsthese bleibt auch im Konkreten eher beschreibend als analytisch. Sie lässt Maßstäbe für den Umschlag des Amtsverständnisses in eine neue Qualität vermissen. Bisher versteht sich die Mehrzahl der britischen Politikwissenschaftler noch nicht darauf, den Begriff Prime Ministerial government aufzugeben. Ungeklärt bleibt auch die Frage, ob sich die von Rod Rhodes zugespitzte Frage nach der „Entkernung“ der britischen Exekutive mit den Beobachtungen Foleys dahingehend vereinbaren lassen, dass erstere die präsidentiellen „Ambitionen“ eines britischen Premierministers erst ermöglicht. Richard Heffernans71 Position zur Präsidentialisierungsthese repräsentiert den Mainstream der britischen Politikwissenschaft. Er bemerkt: „The concept may illuminate, but it also confuses.” Er hält es deshalb für nicht hilfreich, zumal auch die institutionellen Voraussetzungen eines präsidentiellen Regierungssystem in Großbritannien fehlen.72
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Heffernan 2003: 349. Heffernan 2005. Zur Sichtweise des interpretativen Ansatzes siehe Bevir/Rhodes 2006b.
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Der regulatorische Staat
Das britische Modell des regulatorischen Staats ist von einem grundlegenden Vertrauen in den Markt als Instanz zur Lösung wirtschaftlicher und, wenngleich in etwas geringerem Umfang, sozio-ökonomischer Herausforderungen (Stichwort: Umbau des Wohlfahrtsstaats) geprägt. Der Staat geht nicht mehr von der Anfangsvermutung aus, bestimmte Wirtschaftsbereiche bzw. soziale Aufgaben seien aufgrund ihrer Bedeutung für die Versorgung der Bürger und für den inneren Frieden des Landes zu sensibel, um sie privaten Anbietern zu überlassen. Die Neubewertung des Hauptarguments gegen privatwirtschaftliche Lösungen, nämlich dass diese zu ungewünschten Ergebnissen wegen diverser Formen des Marktversagens führen, gab einer in Großbritannien spätestens seit dem 19. Jahrhundert bekannten Form staatlicher Einflussnahme auf nichtstaatliche Akteure neue Bedeutung: der Regulierung. Marktversagen, so die Annahme, könne durch eine Reihe bestimmter, auf den Markt gerichteter Eingriffe des Staates verhindert werden, die das Fehlverhalten der Anbieter von Leistungen ausschließen. Das Selbstverständnis des britischen Staates als eines „regulierenden“ Staates geht allerdings über das Verhindern von Marktversagen hinaus. Der Staat springt nicht nur für bestimmte, ohne funktionierenden Wettbewerb fehlende Regelungsmechanismen ein, er gestaltet auch den Einsatz seiner wettbewerblichen Substitutionsinstrumente mit einer klaren Zielvorstellung vor Augen: der Herstellung eines künftig ohne staatliche Hilfe sich selbst regulierenden Wettbewerbs bzw. sich selbst regulierender Allokationsmechanismen des sozialen Ausgleichs. Staatliche Regulierung baut Anreize ein (im sozialpolitischen Bereich, z.B. „fördern und fordern“; bei der Preisbildung Simulation von Konkurrenz), um marktgerechtes Verhalten zu trainieren und durchzusetzen. Ziel ist die Selbstregulierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Staatliche Regulierung hat insofern „Transformationscharakter“. Sie ist zeitlich befristet und nur der Katalysator für den Umbau von Staat und Gesellschaft nach marktwirtschaftlichen Effizienzkriterien zur Schaffung neuer Wahlmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger.73 Die Debatte um die Herausbildung eines regulatorischen Staates in Großbritannien führt über die Fragen „wie wird regiert?“ und „wer regiert?“ 73
Sturm u.a. 2002: 4f.
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hinaus. Sie beschäftigt sich mit dem Problem der erfolgreichen Steuerung von Gesellschaft bei gleichzeitiger Sicherung ihrer Kohäsion. Auf den ersten Blick ist dies auch im britischen Kontext eine neue Debatte, die mit der Liberalisierung der Daseinsvorsorge als Folge der durch die Globalisierung erzwungenen Märkte, aber auch wegen des allgemeineren Problems der Neubestimmung des Verhältnisses von Markt und Staat bei der Erledigung öffentlicher Aufgaben in den 1970er Jahren angestoßen wird. Nicht neu ist die Debatte, die in den 1990er Jahren besonders intensiv und theoriebezogen geführt wurde, in den USA. Hier hatte Regulierung traditionell direkte staatliche Verantwortung für die Gemeinwohlsicherung ersetzt. Das „öffentliche Interesse“ bildet für den regulatorischen Staat den Angelpunkt staatlicher Eingriffe in dem im übrigen freien, zumindest nicht hierarchisch geordneten, sozialen Interaktionsraum. „Es legitimiert Interferenz, definiert dabei gleichzeitig aber auch sowohl ihre Wirkungsrichtung wie auch ihre gesellschaftliche Wirkung.“74 Aus der Sicht der „core executive“-Debatte ist der regulatorische Staat eine neue Rahmenbedingung des Regierens. Dies verkennt aber die eigenständige Qualität, die die Organisation und Legitimation von Staatshandeln für die gesellschaftliche Kohäsion hat bzw. die Tatsache, dass gesellschaftlich anerkannte Modi legalen Handelns sich nur in zweiter Linie auf formale Institutionen für ihre Verbindlichkeit verlassen können. Michael Moran75 hat argumentiert, dass der Bogen des regulatorischen Staates historisch weiter zu spannen sei. Im britischen Kontext war das Westminster-Modell Ausdruck eines Arrangements, das auf gesellschaftlicher Selbstregulierung beruhte. Es funktionierte nicht außerhalb der Gesetze. Diese wurden aber eher als Hinweise verstanden, wie eine relativ kleine und sozial homogene Elite mit geographischer Konzentration in London durch Absprachen und ungeschriebene Vereinbarungen das Land regierte. „Club government“ konnte funktionieren, weil die Mehrheit der britischen Bevölkerung sich in der Akzeptanz des Elitenkartells („deference“) übte, zumindest solange, bis die gesellschaftliche Selbstregulierung nicht eklatant die Grenzen der Effizienz verletzte. Der historische britische regulatorische Staat unterschied sich also wesentlich von dem amerikanischen. Während letzterer, wie auch andere Länder, die mit
74 75
Müller/Sturm 1998: 517. Moran 2003.
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Regulierung gemeinwohlfördernde Eingriffe in ihre Wirtschaft organisierten, abstrakte Regeln, Behörden und nachprüfbare Verfahren produzierte, blieb Großbritannien ein Ausnahmefall. Hier vertraute man auf Informalität, Vertrauen und Tradition, aber auch auf Geheimhaltung gegenüber der Öffentlichkeit. Noch 1974 konnten Hugh Heclo und Aaron Wildavsky ihre klassische Studie zur britischen Treasury mit dem Titel überschreiben: „The Private Government of Public Money.“ Die Traditionen des Regierens in überschaubaren Zirkeln, die das Westminster-Modell nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenhielten, wurden durch die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft in der Regierungszeit Margaret Thatchers (1979-1990), mit der diese auf die fundamentale Effizienzkrise des Westminster-Modells reagierte, in Frage gestellt. Was von außen wie ein Zurückdrängen des Staates aussah, nämlich Privatisierung und Liberalisierung gepaart mit der Einführung neuer Regulierungsbehörden, also der neue regulatorische Staat in Großbritannien, stellte sich in der britischen Tradition ganz anders dar. Dies war eine umfassende Abkehr von der Tradition gesellschaftlicher Selbstregulierung, die auch das politische System trug, hin zu abstrakteren Formen der Kontrolle und größerer Transparenz nach amerikanischem Vorbild. Das Problem, das nun entstand, war, dass die politischen Eliten und mehr noch die Ministerialverwaltung, die am stärksten Regierungspolitik in ihrer Substanz formulierte, aus den politischen Entscheidungsprozessen herausgedrängt wurden. Nicht nur das Politikversagen der 1970er Jahre, auch die neue Art der Gemeinwohlsicherung zerstörte die Grundlagen des gesellschaftlichen Grundvertrauens in staatliches Handeln. Statt „deference“ sollte nun das Interesse der Bürger am Eigennutz (die „property-owning democracy“ bzw. die „share-holder participation“) gesellschaftliche Kohäsion garantieren. Dieser Prozess blieb bis heute nicht spannungsfrei. Der Regierungsstil Tony Blairs, beispielsweise, beruhte weiterhin auf der traditionell dem Premierminister zugestandenen Informalität76. Nun aber musste er diesen vermitteln (meist durch die Nutzung der Medien) und konnte nicht mehr auf das Grundvertrauen der Regierten hoffen, ja seine Vermittlungsbemühungen an sich (einschließlich des „spin doctoring“) waren einer ständigen kritischen Prüfung der Öffentlichkeit unterworfen. Wenn sich Regulierungsziele nicht mehr informell festle-
76
Sturm 2006a.
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gen lassen, bedarf es Zielvereinbarungen zu ihrer Überprüfung und eines Systems der Rechenschaftslegung.77 Das buchhalterische Abhaken der Performanzfortschritte gelenkter Behörden tritt an die Stelle der Lenkung durch einen gemeinsamen Normenhaushalt der Elite. Dieser Normenhaushalt basiert auf einem gemeinsam durchlebten Sozialisationsprozess von der Public School bis zur „Oxbridge“-Ausbildung. Paradoxerweise wird über den Umweg der neuen Art der Regulierung durch staatliche Kontrolle und Vorgaben zum Teil versucht, die informelle Form der Selbstregulierung wiederzubeleben. Im Modell der „enforced self-regulation“ entstammen die Rahmenbedingungen staatlichen Vorgaben, die Kontrolle ihrer Implementation nimmt je nach Grad erfolgreicher Selbstkoordinierung sukzessive ab.78 Der regulatorische britische Staat ist also nicht, wie auch argumentiert wurde, einfach nur eine moderne Form des Regierens mit Hilfe von Marktmechanismen, sondern eine grundsätzliche Herausforderung des Westminster-Modells, die in ihrer Wirkung durch Prozesse der Territorialisierung der britischen Politik und ihrer Europäisierung noch verstärkt wird.
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Die Europäisierung der britischen Politik
Die Europäisierung der britischen Politik ist ein politisch-gesellschaftlicher Prozess, der angetrieben von der Geschwindigkeit und Reichweite der europäischen Integration einen Veränderungsdruck auf Staat und Gesellschaft ausübt und damit diese zu fortwährendem politischem Wandel und zum Teil auch zu institutioneller Anpassung bewegt. Auf Dauer gestellt wird die Europäisierung der britischen Politik durch die europäische Vertragspolitik, die die institutionellen Kanäle und die Verflechtung von nationalen und europäischen Kompetenzordnungen und Entscheidungsprozessen schuf, welche der Europäisierung Aufgaben und Legitimation geben.79 Hieraus erwächst die Frage nach dem erreichten Stand der Veränderung von konkreten Formen des Regierens in Großbritanniens.80 Beobachter mei-
Jayasuriya 2002; Norton 2004. Hood u.a. 2000: 292. 79 Sturm 2005. 80 Bache/Jordan 2006. 77 78
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nen erkennen zu können, dass Anpassungsprozesse im Regierungshandeln vor 1997 dem Muster kleiner selektiver Europäisierungsschritte folgten, denen aber auch neue Europäisierungsblockaden hinzugefügt wurden. Nach 1997 sei die Regierung Blair, zumindest was Entscheidungsverfahren angeht, strategischer mit den Optionen des Europäisierungsprozesses umgegangen, aber über die Substanz und Nachhaltigkeit so erreichter Europäisierungsschritte lasse sich noch wenig sagen.81 Die Reichweite von Europäisierungsprozessen ist unterschiedlich, je nachdem welchen Teilbereich des politischen Systems man betrachtet. Empirische Studien haben gezeigt, dass sich Politikfelder am leichtesten Europäisierungsanforderungen öffnen. Die Europäisierung von Politikfeldern entspricht am besten der bisherigen Vertragslogik, die ein Fortschreiben der Europäisierung auf dem Wege der Ausweitung von EU-Kompetenzen impliziert bis hin zu neofunktionalistisch begründbaren spill over-Effekten. Anpassungsleistungen erbringen auch nationale Institutionen. Hier ist zu beobachten, dass sich nicht nur das Verhältnis der Institutionen zur EU verändert, sondern auch, dass die Anpassungsleistungen der Institutionen im nationalen Kontext deren relatives Gewicht im nationalen politischen System verschieben. Der Befund für die Europäisierung der politischen Willensbildung ist uneinheitlich. Die in der Systematik der Analyse von Regierungssystemen den Institutionen näher stehenden Parteien sind weniger und die den Politikfeldern näher stehenden Interessengruppen sind stärker europäisiert. Institutionell hat das britische politische System auf die Europäisierungsanforderungen mit der Einrichtung eines Europaministers (ohne Kabinettsrang) reagiert, und in beiden Häusern des Parlaments wurden Ausschüsse eingerichtet, die sich mit Europafragen beschäftigen. Das Oberhaus arbeitet im Detail. Im Unterhaus wurde mit dem EG-Beitritt des Landes 1974 ein Ausschuss für europäische Gesetzgebung (Committee on European Secondary Legislation) eingerichtet, der allerdings bei den Abgeordneten äußerst unbeliebt ist, weil er die europäische Gesetzgebung nur formal prüft und faktisch keinerlei Gestaltungsspielraum hat. Der größeren Bedeutung der Europapolitik in der Amtszeit Tony Blairs wurde durch den Transfer der Europakompe-
81
Bulmer/Burch 2005.
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tenz vom Cabinet Office hin in die unmittelbare politische Nähe des Premierministers (in das Prime Minister‘s Office) Rechnung getragen.82 Wenn die organisatorischen Anpassungsleistungen von Institutionen schwach ausgeprägt sind, sollte daraus nicht voreilig der Schluss gezogen werden, die Europäisierung sei weitgehend folgenlos geblieben. Jordan83 hat gezeigt, wie das britische Department of the Environment trotz großer organisatorischer Kontinuität im Europäisierungsprozess seine Identität neu definierte: „the EU has helped to make the DoE a more environmental department than it would otherwise have been. In a sense, the EU helped the DoE to find a culture. This change, which has occurred at the deep level of organizational values and assumptions, owes much to the ‚uncongealing‘ effect of political crises, created by the misfit between European and British politics.“ In Sachfragen hatte Großbritannien immer weniger europäische Harmonisierung als die meisten anderen Mitgliedstaaten der EU innerstaatlich zu akzeptieren bzw. akzeptieren wollen (Dyson 2000). Im regulatorischen Wettbewerb um die effizienteste Variante der Implementation von EU-Gesetzgebungszielen, wie beispielsweise in der Umwelt- oder der Wettbewerbspolitik, konnte sich Großbritannien mit seiner Ausrichtung an Effizienz und ökonomischen Anreizen hingegen hervorragend behaupten.83a Was für das Land akzeptabel ist und was nicht, richtet sich schon seit den 1970er Jahren vor allen Dingen nach dem wirtschaftlichen Nutzen, den eine EU-Initiative für Großbritannien hat. Beispielhaft hierfür sind die zahlreichen Ausnahmeregeln, die sich das Land gerade auf den Feldern der sozialen Rechte für die in Nizza feierlich verkündete Menschenrechtskonvention sicherte. Großbritannien hat aber in der politischen Praxis bisher immer die auf die geltenden Verträge bezogene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei politischen Streitfragen akzeptiert. Damit stellt sich die Frage, ob das WestminsterParlament und damit implizit der britische Premierminister bereit sind, europäisches Richterrecht als vorrangig gegenüber seiner durch die Doktrin der Parlamentssouveränität begründeten Kompetenz der Letztentscheidung aller politischen Angelegenheiten des Landes anzuerkennen.
Bulmer/Burch 2001; Rosamond 2003. Jordan 2003: 280. 83a Héritier et al. 1996. 82 83
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In der britischen Politikwissenschaft ist bisher die Europäisierungsforschung nur am Rande in die Debatte um das britische Regierungssystem integriert. Der in der britischen Öffentlichkeit weitverbreiteten Distanz zur EU korrespondiert eine Vorentscheidung in der wissenschaftlichen Herangehensweise, die den britischen „Sonderweg“ betont. Mit anderen Worten, vor allem die vom historischen Neoinstitutionalismus postulierte Pfadabhängigkeit und nationale Politikvarianz trotz europäischer Einflüsse und das Ausbleiben eines Entwicklungsbruches (critical juncture) leiten das Erkenntnisinteresse bisher vorwiegend an84, selbst bei Autoren, die konstruktivistische Zugänge zu dieser Fragestellung suchen. Generell findet sich die Annahme, dass die Flexibilität des Westminster-Modells in Verbindung mit der Ausrichtung der EU Policies an marktwirtschaftlichen Prinzipien, für die sich Großbritannien ohnehin schon entschieden hatte, die Europäisierung in ihrer materiellen Substanz zu einer leicht beherrschbaren Herausforderung machte. Allerdings wird aus der Sicht mancher Beobachter die traditionelle Parlamentssouveränität und das „Durchregieren“ der Exekutive im WestminsterModell durch Europäisierungseinflüsse beschädigt. Dem konkurrenzdemokratisch orientierten britischen Modell des Regierens fremde konkordanzdemokratische Verhandlungslösungen werden dem Vereinigten Königreich wegen der quasi-föderalen Struktur der EU aufgezwungen. Ob dies nur eine Klage ist, die einem politisch kulturellen Reflex geschuldet ist, oder ob sich hiermit tatsächliche Benachteiligung in der EU verbindet, steht zur Debatte. Empirisch ist bisher nicht belegt, dass föderale Staaten effizienter in der EU agieren oder gar deren Entscheidungslogik bzw. deren „Innenleben“ besser beherrschen können. Als Gegenbeweis könnte gelten, dass das Vereinigte Königreich EU-Richtlinien weit schneller und erfolgreicher umsetzt als beispielsweise Deutschland, gerade wegen der schlanken Entscheidungswege der britischen Politik.85
85 86
Bulmer/Burch 1998. Schmidt 2006.
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Grundlagen des Staatsaufbaus
1
Verfassung und Verfassungswandel
1.1 Verfassungsprinzipien Die britische Verfassung lässt sich nicht in einem einzigen Verfassungsdokument nachlesen. Sie wird deshalb häufig als „ungeschriebene” bezeichnet. Das heißt aber nicht, dass es keine schriftlichen Quellen des Verfassungsrechts gibt. Der entscheidende historische Moment für die Ausgestaltung der heutigen verfassungsrechtlichen Grundlagen des britischen Staatswesens war die Glorious Revolution der Jahre 1688/89. Am 23. Oktober 1689 akzeptieren Wilhelm (William III) und seine Frau Maria die englische Krone. Zuvor hatte sich im Dezember 1688 ein Convention Parliament aus Mitgliedern des Ober- und Unterhauses konstituiert, das sich selbst zu einem regulären Parlament erklärte und die Bedingungen festlegte, unter welchen Wilhelm die Krone angeboten werden sollte. Das Parlament wird in diesem Prozess zum Träger der Souveränität des Landes, ironischerweise symbolisch erleichtert durch den entthronten Monarchen James II, der das die monarchische Herrschaft bekräftigende Große Siegel in die Themse geworfen hatte, um seinem eventuellen Nachfolger die Legitimität zu nehmen.86 Im Zuge des Revolution Settlements, also der Festlegung der „Konditionen” des Umsturzes durch eine Reihe von Parlamentsgesetzen, wurde festgelegt, dass die Krone Parlamentsgesetze beachten müsse, die anglikanische Kirche wurde in ihrer Rolle als Staatskirche bestätigt, die weitere Thronfolge wurde festgelegt, und es wurde ausgeschlossen, dass ein Katholik König werden kann. Alle diese Bestimmungen gelten bis heute fort. Ebenso dauerhaft waren die Privilegien, die das Parlament im Dezember 1689 mit der Bill of Rights87 erhielt, die u.a. dessen Steuerhoheit, die Rede87 87
Kluxen 1983: 78. Judge 1993.
freiheit im Parlament, freie Wahlen und das Erfordernis seiner Zustimmung zum Aufstellen einer Armee in Friedenszeiten absicherten. Damit war beileibe nicht die monarchische Herrschaft beendet. Wichtige Privilegien (Royal Prerogatives) blieben dem Monarchen de jure bis heute erhalten, wie z.B. der Oberbefehl über die Armee und die Zuständigkeit für Kriegserklärungen, die Außen- und Vertragspolitik, das Begnadigungsrecht und zahlreiche Ernennungsrechte. Ein prinzipieller Durchbruch war aber erreicht. Die absolute Monarchie war zu Ende. Sie war in schrankenloser Form selbst von ihren Verteidigern, den „Tories” (eigentlich ein Schimpfwort, das „irische Banditen” bedeutet88), nicht befürwortet worden. Die Monarchie ist seit der Glorious Revolution entscheidend mehr als zuvor an das Recht gebunden, und die Parlamentssouveränität wurde in einer Reihe wichtiger Aspekte gesichert. Die „Parlamentssouveränität” wurde in ihrer Tragweite als Gegenmodell, aber auch als Sonderweg, erst so richtig deutlich, als 1789 die Französische Revolution in Europa der „Volkssouveränität” den Weg ebnete. Aus Untertanen wurden nach und nach überall in Europa Bürger; die Briten blieben bis heute formal und emotional „subjects to the Queen”.89 Für die britischen Anhänger des Umsturzes von 1688/89, der in ihrer Geschichtsschreibung „glorreich” genannt wurde, für die „Whigs” (eigentlich ein Schimpfwort, das „schottische Rebellen” bedeutet) wie Edmund Burke (1729-1797) ergab sich die Gelegenheit, der eigenen Revolution durch historische Verweise zusätzliche Legitimation zu verschaffen. Eine direkte ideengeschichtliche Linie wurde von ihnen90 zur Magna Charta Libertatum (Große Freiheitsurkunde) von 1215 gezogen. Diese ist eng mit ersten Ansätzen des Parlamentarismus und der Einschränkung der königlichen Vorrechte gegenüber seinen Lehensträgern verbunden. Als verfassungsrechtliche „Zwischenstationen” gelten den Whig-Historikern die Petition of Rights des Jahres 1628 und das Habeas Corpus Gesetz von 1678. Die Petition of Rights garantiert ebenso wie
Beck/Schröder 2006: 144. Eine kürzlich durchgeführte Erhebung zeigte, dass die Befragten mit dem Begriff „Bürger” nichts anfangen konnten: „In the focus group discussions we held, the most common association that the word „citizen” brought to mind was the French Revolution. The first reference that we made to the word usually provoked some nervous laughter and then the observations about how the word is „not in the everyday language”. (Searing et al. 2003: 649) 90 Burke 1968 (1790): 119. 88 89
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das Habeas Corpus Gesetz den Schutz des Einzelnen vor willkürlicher Verhaftung und das Recht des Parlaments, Steuern, die Aushebung von Truppen und die Anwendung des Kriegsrechts zu genehmigen. Ohne die Überhöhung der Kontinuität parlamentarischer Traditionen durch die WhigGeschichtsschreibung, die auch in erster Linie eine englische Geschichtsschreibung ist, wäre das britische Parlament wohl kaum zu dem umgangsprachlichen „Ehrentitel” „mother of parliaments”91 gekommen. Dass aber die Besonderheiten der britischen Verfassung es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einem Westminster-Modell (nach dem früheren Palace of Westminster am Standort des Parlaments) zu sprechen, ist offensichtlich. Neben historischen Dokumenten hat für die britische Verfassungsrealität jene Gesetzgebung politische Bedeutung, die Entscheidungsverfahren und die Kompetenz von Institutionen regelt. Von Verfassungsrecht im Hinblick auf die Gesetzgebung zu sprechen, fällt schwer, weil es ohne Verfassungstext auch keine verfassungsändernde Gesetzgebung und selbstverständlich auch kein Verfassungsgericht geben kann. Die Bindung der Regierung (einschließlich der Krone) an das Gesetz ist abstrakt, denn die Gesetzgebung selbst ist quasi „bindungslos”. Parlamentssouveränität bedeutet ja gerade, dass das Parlament in seiner Gesetzgebung durch niemanden gebunden werden kann, de jure nicht einmal durch ein Vorgängerparlament oder internationale Verträge. In der Praxis ist eine solche Radikalität der Gesetzesneufassung allerdings kaum zu erwarten. Ohne verfassungsändernde Gesetzgebung sind übrigens auch keine besonderen parlamentarischen Mehrheiten für verfassungsändernde Gesetze erforderlich. Immer genügt im britischen Parlament bei Abstimmungen eine Mehrheit von einer Stimme, um zu Entscheidungen zu kommen. Eine weitere Quelle für Verfassungsregeln sind Konventionen. Diese sind noch flexibler (was nicht bedeutet, dass sie nicht dauerhaft sein können) als die Gesetzgebung. Die Definition von Konventionen, die bei britischen Juristen nachgelesen werden kann, unterscheidet sich nicht vom umgangssprachlichen Gebrauch des Begriffes. Konventionen sind demnach dann wirksam, wenn sie von allen betroffenen Personen und Institutionen akzeptiert werden und wenn einflussreiche Verfassungskommentatoren bestäti-
Als Urheber der Bezeichnung wird der Abgeordnete und Kabinettsminister John Bright genannt, der 1865 sagte: „England is the Mother of Parliaments.”
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gen, dass dies Regeln sind, an die man sich halten sollte.92 Ein Beispiel für eine Verfassungskonvention ist, dass der Premierminister aus dem Unterhaus kommen sollte. Der letzte Premierminister aus dem Oberhaus war Lord Salisbury (1900-1902). Ein weiteres Beispiel ist die Konvention, dass es dem Premierminister allein zusteht, den Monarchen um eine Auflösung des Parlaments zu bitten. Bis 1918 wurde eine solche Entscheidung vom ganzen Kabinett getroffen. Als 1918 Premierminister Lloyd George zum ersten Mal einen entsprechenden Alleingang machte, fügte sich sein Kabinett nicht nur, sondern argumentierte bemerkenswerterweise, man könne sich nicht äußern, weil es für solch einen Alleingang keinen Präzedenzfall gebe.93 Ein solch flexibler Umgang mit Konventionen (und die umgehende Erfindung neuer) macht es schwer, einen Verfassungsbruch zu definieren. Der Vorwurf des Verfassungsbruchs wird in der tagespolitischen Diskussion in Großbritannien durchaus immer wieder erhoben, aber wie wäre er vom Verfassungswandel abzugrenzen? Ist der von wenig Respekt gegenüber dem Kabinett als Institution geprägte Regierungsstil der Premierminister Margaret Thatcher und Tony Blair eine politische Verfehlung oder eine neue Konvention, die der Premierministerregierung ein einfluss- und meinungsloses Kabinett zur Seite stellt? Der Hinweis auf Konventionen als Quelle der britischen Verfassung macht nicht nur erneut deutlich, wie flexibel diese ist, sondern vor allem auch, dass sie eine lebendige Verfassung ist, die rasch neue Interpretationen erfahren kann und sich so neuen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen anpasst. Diese Art der Kommunikation der Verfassung mit ihrer gesellschaftlichen und politischen Umwelt wurde und wird in Großbritannien von anerkannten Verfassungsinterpreten beobachtet und der Öffentlichkeit vermittelt. Ihre ausgearbeiteten Auslegungen der Verfassungsrealität wurden selbst ein Teil der ungeschriebenen Verfassung und so etwas wie ein Verfassungstext. Was aus kontinentaleuropäischer juristischer Sicht als nicht ausreichend verallgemeinerbar und damit willkürlich erscheinen mag, ist aus britischer Sicht ein großer Vorzug. Die britischen Verfassungsinterpreten sind nahe an der Verfassungspraxis. Den kontinentaleuropäischen Juristen wird aus britischer Perspektive vorgehalten, dass sie durch ihre Bindung an
92 93
De Smith/Brazier 1990: 41. Ebd.
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eine geschriebene Verfassung Texte, aber nicht die Realität interpretieren94 und sich dadurch unzulässig von der wahren Bedeutung der Verfassung für die staatliche Ordnung entfernen. Die klassischen, aber nicht die einzigen anerkannten britischen Verfassungsinterpreten sind Walter Bagehot (The English Constitution, 1867), Albert Venn Dicey (Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 1885) und Ivor Jennings (The Law and the Constitution, 1933). Auf Dicey geht beispielsweise die Definition der drei Merkmale von Parlamentssouveränität zurück, nämlich (a) das Parlament hat ohne Einschränkung das Recht, Gesetze zu beschließen oder Gesetze abzuschaffen, (b) niemand (auch nicht der Monarch) hat das Recht, ein Parlamentsgesetz außer Kraft zu setzen oder zu ignorieren und (c) kein Parlament kann ein nachfolgend gewähltes Parlament durch seine Gesetzgebung binden.95 Weitere konkreter fassbare Verfassungsquellen sind Verfahrensregeln des Parlaments und teilweise auch Richterrecht, v.a. bezogen auf die Weiterentwicklung des Grundrechtsschutzes einzelner Staatsangehöriger. In den letzten Jahrzehnten hat die Rolle der Richter bei der Thematisierung von Verfassungsfragen deutlich zugenommen. Zum einen ist mit der Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU die Anerkennung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) verbunden.96 Mit seinem „Factortame Urteil” von 1990 hob beispielsweise der EuGH ein britisches Fischereigesetz auf, das dem Schutz der britischen Fischfangquoten diente. Selbst Margaret Thatcher, die damalige EU-skeptische Premierministerin, protestierte nicht, sondern äußerte nur Besorgnis. Um diese Entscheidung mit der Doktrin der absoluten Parlamentssouveränität kompatibel zu halten, erfand das Oberhaus einen neuen Rechtsbegriff „disapplied”, der ausdrückt, dass das europäische Gericht nicht etwa in Parlamentsrecht eingreift, sondern dass dieses (aus freien Stücken) nicht angewendet wird.97 So gelingt es, die Verfassungsgrundlagen der Parlamentssouveränität formal zu erhalten, auch wenn aus europäischer Sicht de jure der Vorrang der europäischen Rechtsprechung außer Frage steht. Der Hinweis des Oberhauses in diesem Zusammenhang, dass schon beim Beitritt des Landes zur EG der Vorrang des GemeinschaftsMount 1992: 12. Dicey 101959 (1885): 39f., 67. 96 Rajani 2000. 97 Schieren 2001: 189ff.; Mount 1992: 219. 94 95
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rechts klar gewesen sei, gibt britischen Gerichten die Möglichkeit, bei ihren Entscheidungen diesen Vorrang zu berücksichtigen. Dies stärkt die Rolle der Richter in Verfassungsfragen. Um weiteres Übergreifen europäischen Rechts auf britisches Verfassungsrecht zu vermeiden, hat Großbritannien sich beispielsweise für die Zustimmung zur Aufnahme der europäischen Sozialcharta in den Amsterdamer Vertrag von 1997 zahlreiche Opt outs, also Nichtanwendungsklauseln, erstritten. Ein britischer Opt out wurde auch im Bezug auf eine europäische Grundrechtecharta gefordert. Auch wenn diese, wie von den Staats- und Regierungschefs 2007 in Lissabon vereinbart, Teil des EU-Reformvertrags wird, möchte sich Großbritannien nicht beteiligen. Fraglich ist aber, ob dies tatsächlich genügt, um die verfassungspolitische Sonderrolle Großbritanniens abzusichern. Die Rolle der Richter in Verfassungsfragen ist zum anderen auch durch den Human Rights Act (HRA) von 1998 gestärkt worden98, mit dem die Europäische Menschenrechtskonvention in britisches Recht übernommen wurde.99 Das Vereinigte Königreich war 1950 Erstunterzeichner der Menschenrechtskonvention. Seinen Staatsangehörigen stand deshalb schon seit Jahrzehnten der Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg offen, sofern alle nationalen Möglichkeiten des Menschenrechtsschutzes zuerst ausgeschöpft wurden. Das Einklagen von Menschenrechten war für Briten eine langwierige Prozedur. Dennoch wurde sie immer wieder von Betroffenen gewählt mit dem für das Land unerfreulichen Ergebnis einer Reihe von Verurteilungen des Vereinigten Königreichs wegen Menschenrechtsverletzungen. Diese Verurteilungen führten regelmäßig zu einer Anpassung der britischen Gesetzgebung (z.B. Abschaffung der Prügelstrafe in Schulen, Ende der Internierung ohne Anklage von Personen, die in Nordirland politischer Gewalttaten verdächtigt wurden).100 Die Verkürzung des Rechtswegs durch den Human Rights Act sollte jedermann einleuchten, wurde aber dennoch zum Gegenstand parteipolitischer Kontroversen, auch weil aus der Sicht der Bevölkerung sich der Zusammenhang von internationaler Normbindung und nationaler Gesetzge-
Schirmer 2007. Strotmann 1999. 100 Ewing/Gearty 1990: 14. 98 99
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bung nicht herstellte.101 Einerseits gab es von Beginn an das (angesichts der erwähnten Vorgeschichte unzutreffende) Argument der Europaskeptiker, die Menschenrechtskonvention sei ein weiterer Import aus Europa (wobei zwischen EU und Europarat kein Unterschied gemacht wurde), der dem Vereinigten Königreich fremde Normen beschere und das Parlament unzulässig binde. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts tauchte im Zuge der Terrorismusbekämpfung das weitere Argument auf, dass der HRA durch die Definition beispielsweise von Haftbedingungen oder der Länge von Inhaftierungen ohne Anklageerhebung Terroristen schütze. Die Verfechter dieser These verlangten eine entsprechend den nationalen Bedürfnissen angepasste britische Bill of Rights, die den HRA ersetzen sollte. Dies ist heute die Position der Konservativen Partei, während alle anderen Parteien in einer zusätzlichen Bill of Rights die Möglichkeit sehen, die Staatsbürger mit Identitätsund Freiheitsrechten auszustatten. Hinter dem Unbehagen gegenüber einer Menschenrechtsgesetzgebung steht aber mehr als die Furcht, staatliche Handlungsspielräume könnten unzulässig eingeschränkt werden. Zentral ist auch hier ein britisches Verfassungsverständnis, das sich vom kontinentaleuropäischen unterscheidet. Mit der Glorious Revolution wurde das Parlament der Ort, an dem die gesellschaftlichen Regeln gesetzt und mit Hilfe des lokalen Abgeordneten die Rechte der Staatsangehörigen geschützt wurden. „Menschen- und Bürgerrechte” im kontinentaleuropäischen Sinne sind deshalb nach britischem Verständnis Ansprüche des Einzelnen in dem durch Parlamentsgesetzgebung nicht geregelten Bereich, also eine Art „Restkategorie”. Im Unterschied dazu geht die Logik der Menschen- und Bürgerrechte in Kontinentaleuropa von deren Primat aus. Jede einzelne Person besitzt unveräußerliche Rechte von Natur aus, die staatliche Gesetzgebung nur im demokratischen Prozess und in angemessener Weise einschränken dürfe.102 Der Logik der Parlamentssouveränität entsprechend lässt sich das britische Parlament auch durch den HRA nicht absolut in die Schranken weisen103. Urteile von Gerichten binden
Mit empirischen Belegen: Stiles 2006. Ewing/Gearty 1990: 14. 103 Young 2008. 101 102
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formal das Parlament nicht ( „judicial deference”)104. Die politischen Konsequenzen von Urteilen in Menschenrechtsfragen können aber durchaus nachhaltig sein. Es hat sich, wie Schieren argumentiert, „eine faktische Rechtfertigungs- oder zumindest Erklärungspflicht des Parlaments entwickelt.”105 In der Praxis sieht das so aus, dass jeder Gesetzentwurf eine Erklärung enthalten muss, dass er mit dem HRA vereinbar ist. Seit 2001 gibt es ein Joint Committee on Human Rights der beiden Kammern des Parlaments, das Gesetzesentwürfe einer entsprechenden Prüfung unterzieht. Es bleibt aber auch dabei, dass das Parlament jederzeit de jure in der Lage ist, den HRA zu ändern oder abzuschaffen. Anders als in Deutschland beispielsweise bestehen im Vereinigten Königreich große Bedenken, Richtern politische Letztentscheidungen zu überlassen. Immer wieder wird hier die Frage gestellt, wieso vom Volk nicht gewählten Richtern eine größere Legitimation zukommen solle als einem gewählten Parlament, zumal der Richterstand nach Alter, sozialer Herkunft und Geschlecht alles andere als repräsentativ für die Zusammensetzung der Bevölkerung sei.106 Die Parlamentssouveränität wird nicht nur durch die faktische und politisch verbindliche Bindewirkung der EuGH-Rechtsprechung (und schon im Vorfeld durch europäische und weitere internationale Verträge), sowie durch den Bezug auf Menschen- und Bürgerrechte potentiell beschränkt, sie ist auch mit der „Konkurrenz” regionaler Parlamente mit gesetzgeberischen Befugnissen dem Anschein nach nicht mehr im gesamten Vereinigten Königreich in gleichem Maße verbindlich. Folgt man der Argumentation des Gesetzgebers bei der Devolution-Gesetzgebung, die dieser bei der Ausstattung der Regionen mit gewählten parlamentarischen Versammlungen zugrunde legte, so wird klar, dass die regionale Selbstverwaltung, ebenso wie die kommunale übrigens, Einrichtungen auf Zeit sind, die das Parlament in souveräner Entscheidung jederzeit verändern oder aufheben kann. Dem steht nicht entgegen, dass die regionalen parlamentarischen Versammlungen vom „‘Judicial deference’ does not mean that the courts are subordinate partners in the tripartite relationship but that they recognise that, in certain areas, government or Parliament are better placed to make judgements because of the knowledge and experience available to them.” (Irvine 2004: 749). Lord Irvine brachte als Lord Chancellor den HRA am 3.11.1997 ins Oberhaus ein. 105 Schieren 2001:282. 106 Johnson 1998. 104
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Volk gewählt wurden. Aus diesem Umstand erwächst in Großbritannien de jure keine Legitimation. Wäre dies so, würde die Parlamentssouveränität (teilweise) durch die Volkssouveränität ersetzt. Es ist auch in der Praxis nicht der Fall, dass entsprechende Regierungsbeschlüsse, beispielweise die zahlreichen Fälle der Schließung nordirischer parlamentarischer Versammlungen oder von sechs Metropolitan Councils und der Londoner Stadtregierung 1986 durch Margaret Thatcher, als Verfassungsfrage diskutiert werden. Dennoch ist klar: Der Versuch, heute das schottische Parlament oder die walisische Nationalversammlung abzuschaffen, hätte für jede britische Regierung weitreichende politische Konsequenzen und könnte die Beziehungen dieser Regionen, die sich selbst als Nationen begreifen, zur Zentralregierung nachhaltig stören. Aus regionaler Sicht war die Devolution-Politik nicht nur eine Maßnahme der Verwaltungsdezentralisierung, sondern die Anerkennung des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung. In einem ersten Schritt gewährte die britische Zentralregierung regionale Autonomie („home rule”). Aus Sicht des schottischen und walisischen Nationalismus ist der zweite Schritt die nationale Unabhängigkeit. Gerade wegen dieser in grundsätzlicher Hinsicht unterschiedlichen Interpretationen der Devolution-Politik bedarf es Schlichtungsinstanzen in Streitfällen. Diese sind aber nicht wie bei Organstreitigkeiten in anderen Ländern in der Hand von Richtern, sondern diese organisiert die Politik selbst. So können interministerielle Ausschüsse mit Vertretern der regionalen und der nationalen Regierung gegründet werden. Bei Grundsatzfragen steht der Privy Council zur Verfügung. Der Privy Council ist historisch betrachtet das Beratergremium des Monarchen, das dessen Regierungstätigkeit unterstützte. Aus ihm ging das Kabinett hervor, das auch heute noch de jure ein Ausschuss des Privy Council ist. Es gibt etwa 500 Mitglieder des Privy Council, die die Bezeichnung „Right Honourable” vor ihrem Namen führen dürfen. Im Privy Council sind alle Kabinettsmitglieder vertreten, weitere verdiente Politiker, oberste Richter und einige Vertreter von Commonwealth-Staaten. Das Privy Council arbeitet mit Ausschüssen. Das Judicial Committee des Privy Council ist zuständig in Verfassungsfragen, früher v.a. das Commonwealth und die unmittelbar der Krone unterstehenden Territorien, also Isle of Man und Kanalinseln, betreffend. Heute erstrecken sich die Kompetenzen des Judicial Committee auch auf die gerichtliche Streitbeilegung in Devolution-Fragen. Diese institutionelle Vorkehrung ist aus der Sicht der Regionen mit gesetzgebenden Körper-
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schaften in Großbritannien nicht befriedigend, denn sie sind in diesem möglicherweise entscheidenden Gremium nicht vertreten. Es wird sich erst noch zeigen müssen, welche Rolle dieses Gremium (bzw. ab 2009 die Nachfolgeinstitution Supreme Court) bei politischen Grundsatzkonflikten zwischen Zentrum und politischer Peripherie, beispielsweise über die Frage der Grenzen nationaler Selbstbestimmung und Volkssouveränität, spielen kann. Festzuhalten bleibt also: Bis heute beharrt das britische Gemeinwesen auf der Doktrin der Parlamentssouveränität und der komplementären Gesetzesbindung für alle im Lande lebenden Menschen („Rule of Law”). Das Vereinigte Königreich hat nicht nur keine geschriebene Verfassung, es braucht eine solche auch nicht. Dies schließt aber nicht aus, dass das Land aus den externen und internen Veränderungen, die das Parlament in seiner Entscheidungsmacht politisch, nicht aber juristisch, immer mehr binden, die Schlussfolgerung zieht, dass es Zeit sei, den britischen Sonderweg insoweit zu beenden, dass die vorhandenen Regelwerke in einem einzigen Verfassungsdokument vereint werden. Schon die intellektuellen Vorbereiter des Wahlsiegs von Tony Blair 1997 vermuteten, dass Großbritannien auf längere Sicht dem neuseeländischen Beispiel folgen werde, wo 1986 eine geschriebene Verfassung eingeführt wurde. Premierminister Gordon Brown wies gleich nach seiner Amtsübernahme 2007 in einem dem Parlament vorgelegten Grünbuch darauf hin, dass es zunehmend wichtiger geworden sei, klarzustellen, was der Wesenskern des Vereinigten Königreichs eigentlich ist. Dies könne auf längere Sicht ein neuer Pakt (concordat) zwischen der Regierung und dem Parlament oder eine geschriebene Verfassung verdeutlichen.107 Die Offenheit und Flexibilität108 der britischen Verfassung ist durchaus zweischneidig. Sie kalkuliert den Zustand der freiwilligen Selbstbegrenzung der Macht politischer Amtsträger als Normalfall ein. Und bis heute findet die Auffassung Beifall, dass eine Diktatur im Lande wegen der politischen Kultur britischer Demokratie unmöglich sei.109 Andererseits fehlen aber institutionelle Sicherungen, was schon William Gladstone zu der viel zitierten Bemerkung zur Secretary of State for Justice and Lord Chancellor 2007: 62. Der Nachkriegspremierminister Attlee (Labour) machte sich über „paper constitutions” lustig und sagte 1950 stolz, dass die Briten „have the distinction above all other nations of being able to put new wine into old bottles without bursting them.” Zitiert nach Theakston 2005: 18. 109 Dahrendorf 1986: 746. 107 108
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Verfassungsordnung veranlasste: „It presumes the good faith of those who work in it.”
1.2 Westminster-Modell im Wandel Das Westminster-Regierungsmodell basiert also auf den Grundsätzen der Parlamentssouveränität und der Rule of Law. Darüber hinaus haben sich Charakteristika des Regierens in den letzten drei Jahrhunderten herausgebildet, die eng mit diesen Grundsätzen verbunden werden und selbst die Qualität von Konventionen angenommen haben. So wird beispielsweise häufig auf das britische Demokratieverständnis verwiesen, das effizientes Regieren höher wertet als eine möglichst spiegelbildliche Repräsentation aller politischen Strömungen in Regierungsämtern. Dieser Logik folgend ist ein mehrheitsbildendes Wahlsystem Verhältniswahlsystemen überlegen. In Wahlkämpfen geht es darum, die ungeteilte Regierungsmacht zu erringen. Die größte Oppositionspartei begreift sich deshalb in erster Linie als Regierung im Wartestand, nicht aber als mitverantwortliche und mitregierende Gestalterin aktueller Politik. Weitere Konventionen (siehe Tabelle 2) können genannt werden und werden im Laufe dieser Gesamtdarstellung des britischen politischen Systems ausführlicher betrachtet. Die entscheidende und grundlegende Veränderung des WestminsterModells seit seiner „Erfindung” durch die Glorious Revolution brachte die Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Parteiendemokratie mit sich. Sie erlaubt es heute der Regierung, mit Hilfe ihrer parteipolitischen Mehrheit, das Parlament zu dominieren. Die de jure verteidigte Parlamentssouveränität wird so de facto, pointiert formuliert, zu einem Euphemismus für die Macht der politischen Exekutive und insbesondere für die Macht des Premierministers.110 Verstärkt wird dessen Machtposition durch die Tatsache, dass der Premierminister de facto die der Monarchin verbliebenen Vorrechte ausübt. In Tabelle 2 werden die wichtigsten Konventionen mit quasi-Verfassungsrang zusammengefasst dargestellt. An ihre Seite gestellt wurden die umfassenden Reformperspektiven, die die mögliche Reichweite von Veränderungen dieser Normen abstecken. In der letzten Spalte der Tabelle 2 findet
110
Judge 1993; Flinders 2005: 63.
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sich eine Bestandsaufnahme der bereits erfolgten Reformen. Schon dieser Überblick macht deutlich, dass das Westminster-Modell heute einem spektakulären Reformprozess unterliegt. Warum dies so ist und ob dies zu einem neuen britischen Regierungssystem führen kann ist umstritten.111 Anhänger der Konvergenzthese argumentieren, dass die Kräfte der Globalisierung, die überall gleichwirkende Macht der Medien und die in allen westlichen Ländern zu beobachtenden Individualisierungsprozesse, vielleicht auch die gemeinsame EU-Mitgliedschaft, aus Effizienzgesichtspunkten tendenziell die Unterschiede zwischen den politischen Systemen der OECD-Staaten einebnen. Die Verfechter des „Varieties of Capitalism”-Ansatzes, die darauf beharren, dass die Antwort auf die wirtschaftliche, kulturelle, soziale und politische Internationalisierung von Gesellschaften sich an den sozialen und institutionellen Identitäten jedes Landes bricht und zu je nach Landestradition deutlich unterschiedlichen Antworten auf die gleichen Herausforderungen führt, widersprechen der Konvergenzthese.112 Tabelle 2:
Westminster-Modell, Reformperspektiven und Reformbilanz
Gegenstand Menschenrechte
Konvention keine Kodifizierung
Reformperspektive Import der Normen in nationale Gesetzge bung Verhältnis wahlsystem
Wahlsystem
mehrheitsbildend
Regierung
Einparteienregierung („responsible govern ment”)
Koalitionen
Parteien finanzierung Staatsorganisation
gesellschaftlich
staatlich
Einheitsstaat
Devolution
Reformbilanz Human Rights Act 1998, in Kraft seit 200113 Verhältniswahlsysteme bei Nebenwahlen (Europaparlament, substaatliche Ebenen) Koalitionen und powersharing (Macht teilung) auf substaatli cher Ebene Anfänge staatlicher Parteienfinanzierung Devolution in Schott land, Wales und Nord irland, aber gescheitert in England
Sturm 2006. U.a. Hall/Soskice 2001. 113 In England, früher in den Devolution-Nationen aufgrund der Devolution-Gesetzgebung. 111 112
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Gegenstand Identität
Konvention britisch, multikulturell
Reformperspektive Mehrfachidentitäten mit gemeinsamem Nenner: britisch
Zweite Kammer
Adelsvertretung (Legitimation durch Geburt, Amt und Ernennung)
Demokratisierung (Legitimation durch Wahlen)
Civil Service
Dominanz der Karriere beamten. Soziale Homo genität. Politische Neu tralität
Reduktion der Rolle des Civil Service durch Auslagerung seiner Aufgaben. Soziale Öffnung, auch für Seitensteiger und stärkere Politisierung
Parteiensystem
Zweiparteiensystem bezogen auf Wechsel in der Regierungsverant wortung keine. Official Secrets Act von 1911
Aufbrechen des Duo pols von Labour Party und Konservativer Partei open government
Konkurrenzdemokratie, konfrontativ („adversary politics”) konsultativ
mehr Konsens und Kooperation
Transparenz des Regierungs handelns Politikstil
Referenden
bindend
Reformbilanz Trend zur Stärkung regionaler Identitäten, Herausforderung des Multikulturalismus durch islamistischen Terrorismus Teilreform zuunguns ten der Adelsvertre tung durch Geburt; Ernennung dominiert; Verhältnis gewählte/ ernannte Mitglieder bleibt umstritten Seit Anfang der 1990er Jahre Aufgabenverla gerung, auch im Gefol ge der Privatisierung von Staatsaufgaben in den 1980er Jahren. Soziale Homogenität des Civil Service erhal ten, aber nachhaltige Politisierung bisher nur auf subnationaler Ebene
Freedom of Informa tion Act 2000, in Kraft seit 2005 keine wesentlichen Veränderungen de facto: bindend, de jure: konsultativ
Quelle: überarbeitete Zusammenstellung nach Sturm 1999: 216.
Was trieb den Reformprozess? Reformen des Westminster-Modells folgten bisher keinem Master-Plan. In der politischen Praxis, aber auch in der Politikwissenschaft, entwickelten sich Überlegungen zur Reform des britischen politischen Systems in starker Abhängigkeit von konkreten gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen des Landes. Vor allem die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen der Nachkriegszeit, die in den 1970er Jahren kul-
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minierten und dem Vereinigten Königreich den wenig schmeichelhaften Titel des „kranken Mannes Europas”, infiziert von der „englischen Krankheit” („British disease”), einbrachten, provozierten die Suche nach eventuellen politisch-institutionellen Ursachen der Krise.114 Samuel Finer115 und Nevil Johnson116 übten in den 1970er Jahren vehemente Kritik am „adversary state”, dessen Konfrontationslogik eine stetige und verlässliche (Wirtschafts-) Politik verhindere und die Polarisierung des Landes und seine Klassengesellschaft mit allen negativen Folgen, wie geringe soziale Mobilität und häufige Streiks, zementiere. Sie plädierten für eine institutionelle Anpassung des Landes an stärker konsensdemokratische kontinentale Vorbilder, weil diese ökonomisch weit erfolgreicher waren. Entsprechende Reformforderungen lassen sich bis in die Zeit vor dem Amtsantritt Tony Blairs als Premierminister verfolgen.117 Neben ökonomischen Herausforderungen haben politisch-taktische Überlegungen zu Reformen des Westminster-Modells geführt. In erster Linie ist hier der Wunsch der Labour Party zu nennen, nach 18 Jahren in der Opposition endlich wieder zur Regierungspartei zu werden. Schon 1992 schien der Wahlsieg greifbar nahe, zumindest nach den (grandios falschen) Prognosen der Demoskopen („The Waterloo of the Polls”118). Umso traumatisierter war die Labour Party als die Konservative Partei unter John Major doch noch die Wahlen gewann. Nun war die Labour Party bereit, mit allen anti-Tory Kräften, in erster Linie mit den Liberal Democrats, ein Bündnis zur Ablösung der Konservativen einzugehen. Konkret hieß dies, beim Nichterreichen einer absoluten Mehrheit der Parlamentssitze für die Labour Party, auch eine Art der offenen oder stillen Form der Koalition mit den Liberal Democrats einzugehen. Als Ausdruck dieser Zusammenarbeit gab es Verabredungen der Parteiführer über die Zusammenarbeit in der Regierung, und die Labour Party machte sich einige Forderungen der Bürgerrechtsbewegung Charter 88, wie größere Offenheit der Regierung (Freedom of Information Act) oder Grundrechtsgarantien (Human Rights Act) zu eigen. Sie stellte sogar eine Reform des die Liberal Democrats benachteiligenden Unterhauswahlsystems Sturm 1987. Finer 1974. 116 Johnson 1977. 117 Hutton 1996. 118 Butler/Kavanagh 1992: 135ff. 114 115
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in Aussicht und griff die schon vom 2002 gescheiterten Kandidaten der Labour Party, Neil Kinnock, in Aussicht gestellte Devolution-Politik wieder auf. Nach dem Erdrutschsieg der Labour Party 1997 entfiel zwar zu einem gewissen Grade der taktische Zwang zur Reform. Dennoch setzte die neue Regierung zumindest jene Reformmaßnahmen um, die ihre zentralstaatliche Machtposition nicht einzuschränken schienen. Gerade hatte sie im Wahlkampf argumentiert, sie halte unbedingt ein, was sie versprochen habe. Ein Zurück hinter das Bild einer Partei, die ehrlich und verlässlich gegenüber dem Wähler auftritt, war in kurzer Zeit nicht möglich. Der Vorsitzende der Liberal Democrats, Paddy Ashdown, wurde deshalb auch in einen Kabinettsausschuss zur Verfassungsreform aufgenommen. 1997 gelang es Ashdown, Tony Blair dazu zu bewegen, einer Einführung des Verhältniswahlsystems für Wahlen zum Europäischen Parlament zuzustimmen. Sogar die Arbeit an einer Reform des Unterhauswahlsystems blieb ein Nachwahlthema. Mit der Erarbeitung eines Vorschlags wurde eine Kommission unter Vorsitz von Lord Jenkins betraut (ein Liberal Democrat, der aus der Labour Party kam).119 Er stellte 1998 einen Vorschlag zur Wahlsystemreform vor, der allerdings danach, angesichts der guten Dienste, die das bestehende Wahlsystem der Labour Party bei der Verbesserung ihrer Wahlergebnisse mittels Umrechnung in Parlamentssitze leistete, rasch in Vergessenheit geriet. Eine Reformbilanz wird sicherlich nicht so weit gehen können, zu sagen, dass sich das Westminster-Modell in seiner grundlegenden Logik verändert hat. Dazu ist es zu sehr in der politisch-kulturellen „Tiefenstruktur” der britischen Politik verankert.120 Die traditionelle Logik der Konkurrenzdemokratie überwiegt weiterhin gegenüber konsensdemokratischen Elementen. Deutlich werden dennoch im Hinblick auf eine Reihe von institutionellen Regeln geschriebener und ungeschriebener Art Zeichen von Konvergenz zu einem kontinentaleuropäischen Verständnis des Parlamentarismus121. Im Hinblick auf die politische Kohäsion des Landes, die seit der Glorious Revolution das Westminster Parlament garantierte, ist vor allem durch die DevolutionPolitik eine wachsende Unruhe entstanden. Heftig werden Identitätsfragen diskutiert122, was darauf hindeutet, dass die Gewissheit über politisch-kulButler/Kavanagh 2002: 65. Sturm 1999a. 121 Bröchler 2007. 122 Sturm 2002; Alibhai-Brown 2000; Crick 1991. 119 120
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turelle Gemeinsamkeiten schwindet. Hinzu kommt, dass durch die bewusste Einführung konsensdemokratischer Mechanismen in den Regierungssystemen der keltischen Randnationen ein Spannungsverhältnis zur konkurrenzdemokratischen politischen Kultur des Landes entsteht.123 Wie dieses gelöst werden kann, ist offen. Es ist keineswegs sicher, dass die konsensdemokratischen Weichenstellungen an der politischen Peripherie auf das Zentrum des britischen Staates ausstrahlen. Erste Anzeichen deuten eher darauf hin, dass sich – trotz aller Reformen – die politische Kultur konkurrenzdemokratischen Wettbewerbs der politischen Kräfte auch in den nichtenglischen Nationen behauptet. Die mangelnde Konsistenz der Reformen des Westminster-Modells als Defizit zu sehen, wurde häufig als der pragmatischen, problemlösungsbezogenen britischen Vorgehensweise fremder kontinentaleuropäischer Einwand betrachtet. Diese Sichtweise ist aber zu einseitig. Auch in Großbritannien mehren sich die Stimmen, die nach dem Sinn des „constitutional unsettlement”124 fragen und sich Sorgen machen, dass die neue postmoderne Patchwork-Verfassung verbunden mit einer Rhetorik des Designer-Populismus nichts anderes ist als die Fassade für eine zunehmend weniger demokratisch kontrollierte Ausübung politischer Macht.125 Das Westminster-Modell startete im 17. Jahrhundert als System von checks und balances. Politik entstand im Machtdreieck von Monarch, Oberhaus und Unterhaus. Diese Form der Gewaltentrennung, die monarchische, aristokratische und demokratische Einflüsse in eine Art „Mischverfassung” brachte126, wurde auch in Kontinentaleuropa zeitweise als vorbildlich betrachtet.127 Mit dem Machtverlust der Monarchie und der Reduktion der politischen Rolle des Oberhauses im 19. und 20. Jahrhundert wurde das System der checks and balances durch eine Form der Gewaltenverschränkung ersetzt, die Exekutive, Legislative und Judikative in einer einmaligen Symbiose verschmolz. Erst als Folge der Kabinettsumbildung 2003 wurde diese für das Flinders 2005: 89. King 2001: 91. Vgl. auch Jenkins 2004: 812. 125 Norton 2003. 126 Kluxen 1983: 108. So war beispielsweise Ministern die Mitgliedschaft im House of Commons verboten (Act of Settlement von 1701). Bis 1926 gab es die Konvention, dass Minister, die zwischen Parlamentswahlen ernannt wurden, sich einer Nachwahl stellen mussten. 127 Zur deutschen Sicht im 19. Jahrhundert vgl. Wende 2006: 36. 123 124
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Westminster-Modell typische Gewaltenverschränkung gelockert.128 Der Lord Chancellor war bis dahin unumstritten Mitglied der Exekutive als Justizminister, der Legislative als Vorsitzender des Oberhauses und Chef der Judikative als Zuständiger für die Ernennung von Richtern. Heute ist er als Funktionsträger nur noch Regierungsmitglied. Mit dem Constitutional Reform Act von 2005 wurde die fachliche Vertretung der Justiz („head of the judiciary”) auf einen unabhängigen Lord Chief Justice übertragen und damit von der politischen Funktion getrennt. Für die Ernennung von Richtern ist nicht mehr in erster Linie der Lord Chancellor (heute in Zusammenarbeit mit dem Lord Chief Justice), sondern eine Judicial Appointments Commission verantwortlich. Der Lord Chancellor kann aber noch ungeeignete Kandidaten ablehnen. Er ist nunmehr auch nicht mehr automatisch Vorsitzender des Oberhauses. Es erhielt einen eigenen „Speaker of the House of Lords”. Das Ersetzen der Gewaltenverschränkung als einer Art Steuerungsmodus einer Politik von oben durch Zugänge zur Verrechtlichung von Politik, die, weil sie den Bürger als „Kläger” einführt, quasi „von unten” politisch interveniert, wurde von Mark Bevir129 als Versuch der Labour Party interpretiert, die Effizienz des politischen Systems zu verbessern und das Vertrauen der Bürger in dieses zu stärken. Eine neue Variante von checks im Westminster-System entwickelte sich fast unbemerkt, ad hoc und unsystematisch im Gesetzgebungsprozess. Zur Überwachung der Einhaltung von Prinzipien, mit denen Konventionen mit Verfassungsrang aufrecht erhalten werden sollen, ist eine ganze Reihe von Gremien entstanden, viele von ihnen neueren Datums. Deren Wirkung entfaltet sich aber im Gesetzesvollzug, nicht wie dies im klassischen Falle der Gewaltenteilung üblich ist, in der Festlegung von Regeln für ein Gemeinwesen.
128 129
Oliver 2004. Bevir 2008: 570.
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Tabelle 3:
Beispiele für „Watchdog“-Gremien zur Wahrung von Prinzipien mit Verfassungsrang
Prinzip Transparenz des Regierens
Faire und freie Wahlen
Politische Neutralität bei der Ernennung der Lords Politische Neutralität bei der Ernennung von Richtern Verhindern von Korruption
2
Gesetzesbezug Freedom of Information Act (2000); Data Protection Act (1998) Political Parties, Elections and Referendums Act (2001)
Watchdog Information Commissioner
Electoral Commission
Appointments Commission Constitutional Reform Act (2005)
Judicial Appointments Commission
Reaktion auf Nolan Re port (1995) zum Thema „ethical standards in public life”
Committee on Standards in Public Life (Commissioner for Public Appointments und Parliamentary Stan dards Commissioner)
Devolution
2.1 Vom Einheitsstaat zum Unionsstaat130 Darstellungen des britischen Regierungssystems bis in die 1970er Jahre konnten sich Großbritannien nur als Einheitsstaat vorstellen.131 Der Parlamentssouveränität korrespondierte in der politikwissenschaftlichen Wahrnehmung eine Art „britischer Nationalstaat”. Das Vereinigte Königreich galt als unitarisches Staatswesen, ungeachtet der Tatsache, dass es durch immer neue Union Acts, angefangen mit der Inkorporierung von Wales in englisches Herrschaftsgebiet 1536 über die Parlamentsunion des englischen und des schottischen Parlaments 1707 bis hin zur quasi-kolonialen Einbindung Irlands 1800 historisch als Union von vier Nationen entstanden war. Die Union wurde einheitsstaatlich verengt verstanden, barg aber als politisch nutzbar 130 131
Zum Teil nach Sturm 2007. Blondel 1974; Mathiot 1958.
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zu machende Alternative (und wie sich zeigen sollte, den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs bisher absichernde Reserve) immer auch die Perspektive einer loseren Union im Sinne des Viervölkerstaates (Unionsstaates) in sich. Der Weg vom Einheitsstaat zum Unionsstaat vollzog sich in einem ca. 50 Jahre dauernden Prozess im Wechselspiel von nationaler Interessenwahrung der nichtenglischen Nationen und institutioneller Anpassungen des Westminster-Modells. Aus der Dezentralisierung der Staatsverwaltung entwickelte sich zunehmend autonomer agierende Regierungstätigkeit in den keltischen Nationen des Vereinigten Königreichs. Für diese Dezentralisierung wird der Begriff „Devolution” benutzt, der inzwischen im englischen Original auch für die Dezentralisierung in Italien übernommen wurde. Weshalb ist dieser Begriff, anders als beispielsweise Föderalismus implizierende Begriffe, für Einheitsstaaten attraktiv? Die Antwort lautet: Er verweist darauf, dass die Letztentscheidung über die Kompetenzordnung eines Staates, die sogenannte Kompetenzkompetenz, beim Zentralstaat bleibt. Während in föderalen Staaten gilt, dass alle nicht geregelten Kompetenzen bei den Gliedstaaten liegen (Allzuständigkeitsvermutung) und der Zentralstaat nur einen klar umrissenen Aufgabenkatalog wahrnimmt, ist dies in Devolutionsfällen umgekehrt. Hier nehmen die dezentralen Einheiten nur die zugewiesenen Aufgaben war. Wer die dezentralen Einheiten sind, welche Aufgaben sie haben und ob die dezentralen Einheiten auf Dauer beibehalten werden, sind Fragen, die alleine der Zentralstaat entscheidet. Der Status der durch Devolution entstandenen dezentralen Einheiten hat sich im Vereinigten Königreich seit dem 19. Jahrhundert bis heute immer wieder verändert. Aus den drei keltischen Nationen kam von Anfang an (mit größter Intensität aus Irland) der Wunsch nach regionaler bzw. nationaler Selbstbestimmung (Home Rule) und einem eigenen Parlament (legislative Devolution). Die legislative Devolution wurde im Vereinigten Königreich nach 1921 zuerst mit dem Stormont Parlament in Nordirland verwirklicht. Dennoch gab es immer weiterhin einen Nordirlandminister in der Zentralregierung. Lange Zeit herrschte in den Londoner Parteizentralen die Meinung vor, dass es in den Fällen Schottland und Wales ausreiche, eine im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaute und in die regionalen Hauptsstädte verlagerte Verwaltungsdezentralisierung (administrative Devolution) zu garantieren, um die nationalen Ambitionen in diesen Landesteilen wirksam einzudäm-
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men. Als Schottland nach 1998 die legislative Devolution gewährt wurde, schien es zur Stabilisierung der Union zu genügen, den weniger an der Union mit England zweifelnden Walisern lediglich eine Spielart der Selbstverwaltung anzubieten, bei der sie zwar die Londoner Gesetze in Eigenregie und mit entsprechenden Interpretationsspielräumen ausführen können, aber selbst keine Gesetzgebungsbefugnis haben (exekutive Devolution). Tabelle 4:
Die Devolution-Politik bis 1997 im Überblick
Zeitraum 2.Hälfte des 19. Jahrhun derts bis ca. 1921
Triebkräfte Home RuleBewegungen
Zwischenkriegszeit und Nachkriegszeit (bis Anfang der 1970er Jahre)
Gründung nationalistischer Parteien in Schottland und Wales, erste Wahlerfolge. Sprachenbewegung in Wales Bürgerkrieg in Nordirland, Wahlerfolge nationalisti scher Parteien in Schottland und Wales
1970er Jahre
Ergebnis legislative Devolution in Nordirland (192172): Stormont Parlament, administrative Devolution in Schottland (seit 1885): Schottlandminister und Scottish Office Ausbau der administrativen Devolution in Schottland, administrative Devolution in Wales (seit 1964) De facto Ende der legislati ven Devolution in Nordir land, DevolutionGesetzgebung für Schottland und Wales 1976 und 1977 zur Einfüh rung der exekutiven Devo lution in Wales und der legislativen Devolution in Schottland. Scheitern der DevolutionReferenden für Schottland und Wales 1979.
Quelle: Sturm 2004: 185.
Betrachtet man den Devolution-Prozess im größeren historischen Kontext, erweist es sich, dass die Instabilitätsthese nicht ganz unbegründet ist, die bereits in den Devolution-Kontroversen der 1970er Jahre eine zentrale Rolle spielte. Diese besagt, der Devolution-Prozess begünstige die Forderung nach
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immer weitergehenden Rechten der keltischen Nationen und sei eine Art „glitschiger Abhang” (slippery slope132), auf dem sich diese möglicherweise letztendlich auf eine Unabhängigkeitsforderung zu bewegen. Mindestens aber lässt sich ein Wunsch der nichtenglischen Nationen nach Gleichbehandlung beobachten. Wales ist mit diesem Argument auf dem Weg, seine exekutive Devolution in Richtung auf eine legislative Devolution nach schottischem Vorbild fortzuentwickeln.133 Die Veränderung des Devolution-Status geschieht überall selbstverständlich nicht mechanisch, sondern ist die direkte Folge der nationalen Mobilisierung in den keltischen Nationen. So entwickelt sich die Union zu einem immer loseren Verbundsystem dadurch fort, dass das Verhältnis Randnation-Zentralstaat bei krisenhafter Zuspitzung ad hoc neu justiert wurde. In der Nachkriegszeit schien die nationale Frage in den nichtenglischen Territorien zunächst keine wichtige Rolle mehr zu spielen. Im zum Vereinigten Königreich gehörenden Norden Irlands herrschten die unionistischen Protestanten134 über eine katholisch-nationalistische Minderheit, die ihre Zukunft in einem wiedervereinten Irland sah („governing without consensus135). Deren Oppositionshaltung war ungebrochen, was sich auch in der Wahlunterstützung für ihre eigene Partei, die Nationalists, zeigen lässt. Verwaltung und Polizei blieben für die Nationalisten Instrumente einer fremden Macht. Nordirland hatte 1921 ein eigenes Parlament erhalten. Manipulationen bei der Grenzziehung von Wahlkreisen, die Besitzqualifikation für das Wahlrecht, das Mehrfachstimmrecht für Unternehmer sowie das Mehrheitswahlsystem sorgten dafür, dass die nationalistisch denkende katholische Minderheit dauerhaft unterrepräsentiert blieb. Selbst bei Kommunalwahlen in Gebieten, in denen die Nationalisten den Unionisten zahlenmäßig überlegen waren, produzierte das Wahlrecht oft unionistische Mehrheiten. Die Londoner Zentralregierung überließ de facto den Unionisten die Verwaltung Nordirlands. Den Nationalisten fehlte jeglicher politischer Einfluss, aber bis zum Ende der 1960er Jahre begehrten sie nicht auf.136 Dalyell 1977. Vgl. zur „slippery slope”- These auch die Erfahrungen Belgiens, Spaniens und Kanadas. 133 Baldini 2004. 134 Helle 1999. 135 Rose 1971. 136 Sturm 1998; Helle 1994. 132
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In Wales137 bestritt die Partei der walisischen Nationalisten, Plaid Cymru, noch bis in die 1950er Jahre ihre Wahlkämpfe erfolglos mit der Forderung nach einem ausschließlich walisischsprachigen Wales. In den 1960er Jahren gewann Wales als Bezugsrahmen nationalistischer Politik durch Entscheidungen der Regierung in London deutlichere Konturen. 1956 wurde Cardiff offiziell Landeshauptstadt, und 1964 wurde ein Wales-Ministerium eingerichtet. Der seit 1945 amtierende Parteivorsitzende von Plaid Cymrus, Gwynfor Evans, setzte etwa zeitgleich eine Parteireform durch, die seine Partei zu einer stärker allgemeinpolitischen Bewegung machte. Ihr walisischer Sprachpurismus wurde durch eine Politik der Zweisprachigkeit abgelöst. An die Stelle des Separatismus trat im Parteiprogramm die Bereitschaft zur Interessenvertretung im britischen Regierungssystem und im britischen Parlament. Der parlamentarische Weg wurde zur ausschließlichen politischen Strategie, direkte Aktionen und Gewaltanwendung lehnte die Partei ab. Diese Wende von der Kulturwahrerpartei zur politischen Interessenvertretung wurde Plaid Cymru dadurch erleichtert, dass ihr radikaler, kulturnationalistischer Flügel ein zusätzliches Betätigungsfeld in der 1962 gegründeten walisischen Sprachenbewegung (Cymdeithas yr laith Gymraeg) fand.138 In Schottland139 war die anfängliche Unterstützung für eine nationalistische Bewegung ähnlich gering wie in Wales. Die Partei der Nationalisten, die Scottish National Party (SNP), hatte bei den Wahlen 1945 einen Parlamentssitz gewonnen und einige Erfolge bei Nachwahlen erzielt. Diese relativ positiven Wahlergebnisse waren aber eher das Ergebnis der jeweiligen lokalen Sondersituation. Die Partei beteiligte sich in den 1950er Jahren kaum an Wahlen, und ihre Existenz war von weit radikaleren nationalistischen Splittergruppen bedroht.140 In den 1960er Jahren wandelte sich das politische Klima in Schottland ebenso wie in Wales und in Nordirland. Die Periode konservativer Herrschaft in der Nachkriegszeit ging zu Ende. Forderungen nach politischer Partizipation standen weltweit auf der Tagesordnung. Diese gesellschaftliche Aufbruchstimmung bildete ein Gegengewicht zu den verlorenen Werten des Sturm 1981; Diekmann 1995; Butt Philip 1975. Diekmann 1998: 466ff. 139 Sturm 1981; Harvie 42004. 140 „The great achievement of the S.N.P. from 1942 to 1964 was simply to have survived.” Hanham 1969: 179. Brand 1978. 137 138
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Vereinigten Königreiches: seiner Weltgeltung als Empire und seiner Rolle als führendes Land der industriellen Revolution. Immer mehr schien das Vereinigte Königreich zur vom englischen Süden dominierten Mittelmacht zu werden, und immer weniger plausibel wurde der englische Herrschaftsanspruch über die Nachbarnationen in Schottland und Wales. Das Auseinanderbrechen Großbritanniens, wenn auch zunächst nur von marxistisch inspirierten Außenseitern empfohlen,141 schien auch im Kontext des „Aufstands der Provinz” (Dirk Gerdes)142 in anderen europäischen Ländern eine ernstzunehmende politische Perspektive. In Nordirland aktivierte das Vorbild des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King eine überkonfessionelle Bürgerrechtsbewegung, die NICRA (Northern Ireland Civil Rights Association), die ein Ende der Diskriminierung der Katholiken durch Polizei und Verwaltung, bei der Wohnungsvergabe und im Wahlrecht forderte. Die harte Haltung eines Teils der Unionisten, deren Symbolfigur der Prediger und Kirchengründer (Free Presbyterian Church) Ian Paisley143 wurde, verhinderte letztendlich eine innerirische Reformstrategie. Der Bürgerrechtsstreit polarisierte sich und nahm immer mehr den Charakter eines Bürgerkrieges zwischen Protestanten und Katholiken an. Immer weniger schien die häufig parteiische Polizei fähig, die katholische Bevölkerung vor Übergriffen zu schützen. Als im August 1969 britische Armeeeinheiten nach Nordirland gebracht wurden, wurde dies von den Katholiken zunächst als eine in ihrem Interesse liegende Schutzmaßnahme begrüßt. Diese positive Haltung erwies sich nach den wenig rücksichtsvollen Hausdurchsuchungen der Armee in katholischen Wohnvierteln allerdings nur als von kurzer Dauer. Ein Flügel der zuerst im irischen Freiheitskampf gegen Großbritannien Anfang des 20. Jahrhunderts aktiven Irish Republican Army (IRA), die Provisional IRA144, erklärte sich erneut zur gewaltsamen Verteidigung der Rechte der Nationalisten bereit. Auf unionistischer Seite entstanden ebenfalls neue paramilitärische Organisationen. Der Konflikt eskalierte nicht nur wegen des nun um sich greifenden Einsatzes von Gewalt, sondern auch, weil sich die Forderung der Unionisten nach eiNairn 1977. Gerdes 1980; Elkar 1981. 143 Bruce 1986; Moloney 2008. 144 Zur IRA gibt es eine mehr als reichhaltige Literatur. Hier nur einige der wichtigeren Titel: English 2003; Coogan 1980; Bell 1970. 141 142
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nem Verbleib im Vereinigten Königreich und die nationalistische Zielvorstellung eines Abzugs der britischen Truppen und eines anschließenden Aufgehens des Nordens in der Republik Irland gegenseitig ausschlossen. Anders als für die nationalistische Minderheit in Nordirland ergab sich für die Nationalisten in Schottland und Wales eine Perspektive aus der Beteiligung an Wahlen. 1966 gewann Plaid Cymru bei der Nachwahl von Carmarthen (in Nordwales) ihren ersten Parlamentssitz. Dieser Wahlsieg war psychologisch von großer Bedeutung, denn er belegte erstmals, dass Stimmen für Plaid Cymru, trotz des britischen Mehrheitswahlsystems, nicht automatisch verlorene Stimmen waren. Plaid Cymrus Anhängerschaft stabilisierte sich nach dem Durchbruch 1966, dem 1970 das bis Anfang der 1990er Jahre beste Wahlergebnis bei britischen Parlamentswahlen von 11,5 Prozent der walisischen Wählerstimmen folgte, mit Mühe auf dem 1970 erreichten Niveau (Wahlergebnis 1992: 9,0 Prozent). Plaid Cymru verfügte zwar über einen »Sockel« von Stammwählern. Diese Stammwählerschaft konzentrierte sich aber in ihren ausgesprochenen Hochburgen, wo es der Partei gelang, Mehrheitspartei zu werden. Diese Hochburgen, die sich auf wenige Wahlkreise beschränkten, lagen in den bevölkerungsärmeren und wenig industrialisierten ländlichen Gebieten im Nordwesten des Landes. Hier war der Anteil des protestantischen Nonkonformismus und der walisisch sprechenden Bevölkerung vergleichsweise am höchsten. Es ist bezeichnend für die Parteigeschichte der 1970er Jahre, dass sich die größte Chance zum politischen Durchbruch für die Partei durch ein Gesetzgebungsvorhaben der in London regierenden Labour Party ergab. Die Devolution-Gesetzgebung, die eine walisische Versammlung mit dem Recht der Selbstverwaltung (exekutive Devolution) vorsah, scheiterte jedoch in einem in Wales abgehaltenen Referendum, in dem sich nur 20,3 Prozent der Abstimmenden, das waren 11,9 Prozent aller Wahlberechtigten, für ein Regionalparlament aussprachen.145 In der unmittelbaren Folgezeit wurde Plaid Cymru der politische Niedergang prophezeit. Die Partei überlebte die Niederlage von 1979 jedoch zum einen, weil ihr Anliegen des Schutzes der walisischen Sprache und Kultur mit dem negativen Ausgang des Referendums keineswegs erledigt war, zum anderen aber auch, weil es ihr gelang, in ihrem ureigensten Bereich neue Erfolge vorzuweisen. Die Konservative Partei hatte im Falle
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Foulkes/Jones/Wilford 1983.
eines Wahlsieges 1979 Wales einen eigenen walisischsprachigen Fernsehkanal versprochen. Als Margaret Thatcher zögerte, diesem Wahlversprechen nachzukommen, trat der Plaid Cymru-Vorsitzende Gwynfor Evans in einen Hungerstreik, den er – so seine durchaus ernstgemeinte Drohung – bis zum Tode durchhalten wollte. Die konservative Regierung gab nach, und es entstand 1982 in Cardiff der walisischsprachige Kanal S4C (der sich übrigens mit niveauvollen Zeichentrickfilmen weltweit einen Namen gemacht hat). Unter dem Nachfolger des 1980 vom Parteivorsitz zurückgetretenen Gwynfor Evans, Dafydd Wigley, versuchte die Partei, sich durch programmatischen Wandel für die Hauptströmungen der von der Labour Party dominierten walisischen politischen Kultur zu öffnen. Ausdruck dieser Öffnungspolitik war eine sozialdemokratische Wende, die sich in der Umformulierung der zentralen Parteiziele ablesen lässt. Diese Umformulierung griff auch das Bemühen um die wachsende grüne Wählerbasis in Wales auf. Gegenüber dem Zentralismus und der Privatisierungspolitik der Konservativen Partei in den 1980er Jahren hielt Plaid Cymru an der für ökonomisch zurückgebliebene Regionen so wichtigen Rolle institutioneller Sicherungen für einen sozialen und ökonomischen Ausgleich fest. Entsprechend ambivalent war die Forderung der Partei nach »independence in Europe«, das sie sich eher als ein Europa der Regionen als ein Europa der Nationalstaaten vorstellte. Nachhaltiger noch als in Wales wurde der Nationalismus in Schottland seit den 1960er Jahren zu einer politischen Kraft.146 Die SNP nutzte die Zeit ihrer Erfolglosigkeit zur Reorganisation der Partei und gewann seit Mitte der 1960er Jahre kontinuierlich neue Wähler hinzu. Da sich ihre Wählerschaft nicht auf wenige Hochburgen konzentriert, hatte sie trotz größerer Zustimmung mehr Mühe als die walisischen Nationalisten, ihre Stimmenanteile in Mandatsgewinne umzusetzen. In den Städten focht sie zudem lange Zeit mit relativ geringem Erfolg gegen die vorherrschende linke Tradition. Bei den Parlamentswahlen 1966 wählten bereits 5 Prozent der schottischen Wähler SNP, 1970 waren es 11,4 Prozent und bei den beiden Wahlen des Jahres 1974 sogar 21,9 Prozent bzw. 30,4 Prozent. Mitte der 1970er Jahre war die Partei mit elf Sitzen (von 71 schottischen) im Unterhaus vertreten. Der Stimmenzuwachs für die schottischen Nationalisten verdankte sich auch dem Umstand,
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Levy 1990; Marr 1992.
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dass die Ölfunde in der Nordsee147 die schottische Unabhängigkeit auch aus ökonomischer Perspektive148 plausibel erscheinen ließen („It’s Scotland’s Oil”, lautete der Parteislogan). Die bessere ökonomische Perspektive, die im 18. und 19. Jahrhundert weite Teile der schottischen Bevölkerung zu Befürwortern der schottisch-englischen Union gemacht hatte, wies nun in eine andere Richtung. England galt wirtschaftlich als „der kranke Mann Europas”, geplagt von der „englischen Krankheit”, von Streiks, Inflation und Werteverfall der Währung. Für Schottland schien es höchste Zeit, sich von diesem Prozess des Niedergangs abzukoppeln. Die Labour-Regierung in London, geführt von James Callaghan, reagierte auf die nationalistische Herausforderung mit einer Politik der Zugeständnisse: Statt ihrer Unabhängigkeit sollte den Schotten eine eigene Versammlung mit begrenzten gesetzgeberischen Kompetenzen gewährt werden (legislative Devolution). Die schottischen Nationalisten beharrten demgegenüber auf ihrer Maximalforderung nach Unabhängigkeit. Dennoch stürzte sie das Scheitern des Devolution-Referendums 1979 in Schottland in eine innerparteiliche Krise und in ein Popularitätstief. Bei den Parlamentswahlen von 1979 erreichte die SNP nur noch einen Stimmenanteil von 17,3 Prozent und verlor neun ihrer elf Mandate im Unterhaus. Bei den Wahlen 1983 reduzierte sich ihr Stimmenanteil weiter auf 11,8 Prozent. Mitte der 1980er Jahre aber begann sich die Lage der Partei allmählich wieder zu verbessern. Zwar spielten die ökonomischen Möglichkeiten eines schottischen Ölreichtums in der öffentlichen Diskussion nun keine überragende Rolle mehr, ein anderes ökonomisches Argument rückte dagegen in den Vordergrund: die Konsequenzen der Wirtschaftspolitik Margaret Thatchers. Sie wurde in breiten Teilen der schottischen Bevölkerung als sozial rücksichtslose Katastrophenpolitik verstanden, die den gesellschaftlichen Konsens und die traditionelle schottische Industriesubstanz zweifelhaften marktwirtschaftlichen Experimenten zu opfern bereit war. Da in der Amtszeit Margaret Thatchers die Konservative Partei in Schottland bei Wahlen weit von einer mehrheitlichen Unterstützung entfernt blieb, wurde ihr zudem die Legitimation abgesprochen, Schottland in dieser Weise zu regieren. Harvie 1994. Brown 1975. Es handelt sich um den späteren Premierminister Gordon Brown, der in seinem einleitenden Kapitel betonte, dass Sozialisten in Schottland nicht bedingungslos den Erhalt der Integrität des Vereinigten Königreiches unterstützen können.
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Diese Grundstimmung griff die 1989 gegründete Scottish Constitutional Convention (SCC) auf, der mit Ausnahme der SNP und der Konservativen Partei alle zivilgesellschaftlich relevanten Gruppen angehörten.149 Sie legte 1995 ein Abschlußdokument vor, das sich hinter die Forderung nach legislativer Devolution für Schottland stellte. Die SCC war eine bemerkenswerte und bemerkenswert erfolgreiche Übung in deliberativer Demokratie. Mit ihr wurde die Devolution-Politik von der Ebene der Konzessionen an den schottischen Nationalismus auf die Ebene der gesellschaftlichen Selbstfindung gehoben. Nach dem Wahlsieg der Labour Party gab es für diese quasi keine andere Möglichkeit, als die in ihrer schottischen Hochburg (die Konservativen errangen bei der Wahl 1997 keinen einzigen schottischen Sitz) von ihr selbst mit erarbeiteten programmatischen Ziele auch umzusetzen. Der Wahlsieg Tony Blairs veränderte die Rahmenbedingungen der Politik für Schottland, Wales und Nordirland und als nichtintendierte Folge auch für das Vereinigte Königreich.150 Als Bestandteil des Projekts der Modernisierung der britischen Verfassung griff die neue Regierung die DevolutionPolitik der 1970er Jahre wieder auf. Schon im Wahlkampf Ende 1991 hatte Neil Kinnock, der 1992 erfolglose Labour-Spitzenkandidat, versprochen, sofort nach seiner Wahl zu Beginn der Legislaturperiode ein schottisches Parlament mit dem Recht, eigene Steuern zu erheben, einzurichten (legislative Devolution). Tony Blair knüpfte mit seinen Wahlkampfversprechen direkt an Neil Kinnocks Vorgaben an151, war aber insofern vorsichtiger, als er den Gesetzgebungsprozess zur Umsetzung der Devolution-Reformen von einem erfolgreichen Referendum abhängig machen wollte. Wales sollte in der bereits üblich gewordenen Weise mit dem minderen Status der exekutiven Devolution in das Verfassungsreformprojekt einbezogen werden. In Nordirland hatten die seit 1993 geführten Gespräche auf der Seite der irischen Nationalisten zwischen Gerry Adams von der Sinn Féin-Partei, dem politischen Arm der IRA, und John Hume, dem Vorsitzenden der gemäßigtnationalistischen Social Democratic and Labour Party (SDLP), dazu geführt, Münter 2005: 202ff. Fn 631 mit ausführlicher Literaturliste zur SCC. „Britain must first be saved from the British”, so die radikale Kritik (Nairn 2000: 72). 151 Blair war kein enthusiastischer Anhänger des Devolutionprojekts, aber er konnte hinter sein Wahlversprechen nicht zurück („I had to do it”, war sein privater Kommentar, und er bezeichnete das schottische Parlament schon mal als „parish council”, als Dorfgemeinderat, vgl. Theakston 2005: 33). 149 150
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dass die IRA 1994 erstmals einen Waffenstillstand verkündete, der allerdings erst 1997 endgültig eingehalten wurde. Parallel dazu entwickelte der britische Premierminister John Major mit seinem irischen Amtskollegen Albert Reynolds in britisch-irischen Verhandlungen die Prinzipien für eine neue institutionelle Struktur der nordirischen Selbstregierung (Downing Street Declaration vom 15.12.1993). Konkretisiert wurden diese Vorschläge in Verhandlungen des Nachfolgers von Reynolds, John Bruton, mit dem britischen Premierminister. Das Ergebnis dieser Verhandlungen war die Vereinbarung „Frameworks for the Future“ vom 22. Februar 1995. Mit letzterem Dokument war eine institutionelle Lösung des Nordirlandkonflikts in Sicht. Sie scheiterte aber daran, dass John Major nicht bereit war, Verhandlungen mit Sinn Féin über eine Friedenslösung aufzunehmen, da er im britischen Parlament für wichtige Abstimmungen auf die Stimmen der unionistischen Abgeordneten aus Nordirland, die eine Anerkennung Sinn Féins als Gesprächspartner ablehnten, angewiesen war. Mit dem überragenden Wahlsieg der Labour Party 1997 änderte sich diese Situation grundlegend. Nun konnten Allparteiengespräche beginnen, die am 10. April 1998 (Karfreitag) erfolgreich zum Abschluss gebracht wurden. Das neue Nordirland-Abkommen sah eine Devolution-Regelung vor, die auf der Machtteilung der (katholischen) Nationalisten und der (protestantischen) Unionisten beruht. Über die Zukunft Nordirlands sollte nur noch mit friedlichen und demokratischen Mitteln entschieden werden. Die Republik Irland trug zur Bekräftigung dieser Neuorientierung dadurch bei, dass sie das „Wiedervereinigungsgebot“ ihrer Verfassung, die als Territorium der Republik Irland die gesamte Insel definierte, modifizierte und diese Verfassungsänderung zeitgleich mit dem Referendum in Nordirland über das Karfreitagsabkommen (Belfast Agreement) den Bürgerinnen und Bürgern der Republik zur Volksabstimmung vorlegte. In der Republik Irland stimmten 94,39% der Abstimmenden bei einer Wahlbeteiligung von 55,63% für diese Verfassungsänderung. Die Regierung Blair war nicht nur bei ihrem das Karfreitagsabkommen bestätigenden Devolution-Referendum in Nordirland, sondern auch bei den Devolution-Referenden in Schottland und Wales erfolgreich. „Home Rule All Around“, die alte Parole aus dem 19. Jahrhundert, wurde im Vereinigten Königreich Realität.
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Tabelle 5:
Abstimmungsergebnisse der Devolution-Referenden
Termin September 1997
Ort Schottland
September 1997 Mai 1998
Wales Nordirland
JAStimmen in % 74,3% (63,5% Steuerhoheit) 50,3% 71,1%
Devolution gab Schottland, Wales und Nordirland die Chance, Politik teilweise in Eigenregie und anders als in England zu gestalten. Diese Chance wurde wahrgenommen und so hat sich ein dynamischer Politikprozess entwickelt, z.T. in bewusster Abgrenzung zum Zentralstaat, z.T. als Lernprozess, bei dem Ideen aus den Devolution-Nationen, wie die walisische „Erfindung” eines Kinderbeauftragten (Child Commissioner), auch ins Zentrum zurückwandern können. Nicht zuletzt veränderte sich Politik in Schottland und Wales wegen der Überschaubarkeit der dortigen Gesellschaften und der Nähe der Entscheidungsträger zu gesellschaftlichen Interessen.152 Inwieweit sich in Schottland und Wales ein neuer „inklusiver” Politikstil durchsetzen konnte, der beispielsweise auch die Gender-Frage anders thematisiert, wofür einiges spricht153, lässt sich nicht abschließend sagen.
2.2 Politik in Schottland Von Anfang an verstand sich das von der Königin am 1. Juli 1999 offiziell eröffnete schottische Parlament als „Gegenmodell” zur Konfrontationskultur und zur Konkurrenzdemokratie Westministers. Dies macht auch das von einem katalanischen Architekten entworfene neue transparente Parlamentsgebäude deutlich, das 2004 bezogen wurde.154 Hier sind die Sitzreihen der Abgeordneten im Halbrund angeordnet und nicht im konfrontativen Gegenüber wie in Westminster. Das Parlament verpflichtete sich, die vier Prinzi-
Ausführlicher mit Beispielen Trench/Jarman 2007. Chaney 2008. 154 Weniger „innovativ” war die Tatsache, dass das Gebäude statt der geplanten 40 Millionen Pfund 431 Millionen Pfund kostete und sich danach auch noch als teilweise wenig standfest erwies. 152 153
65
pien der Machtteilung, der Rechenschaftslegung, der Transparenz und der Chancengleichheit zu beachten. Tabelle 6:
Die Ausschüsse des schottischen Parlaments (2007)
Ausschüsse nach der Geschäftsordnung (Vorsitz/Stellvertretung) Rechnungsprüfung (Lab/Kon) Gleichstellung (Kon/Lab) Europa und Außenpolitik (Lab/SNP) Finanzen (SNP/Lab) Geschäftsordnung (SNP/Lab) Petitionen (Lab/LibDem) Ethik und Besetzung öffentli cher Ämter (SNP/Lab) Sekundäre Gesetzgebung (LibDem/SNP) Fachausschüsse (Vorsitz/Stellvertretung) Wirtschaft, Energie und Tourismus (LibDem/SNP) Bildung, lebenslanges Lernen und Kultur (Lab/SNP) Gesundheit und Sport (SNP/LibDem) Justiz (Kon/Lab) Kommunen (Lab/SNP) Landwirtschaft und Umwelt (SNP/Kon) Verkehr, Infrastruktur und Klimawandel (Grüne/Lab) Insgesamt
SNP
Labour
Konser vative
Liberal Democrats
Grüne
3 3
3 2
1 1
1 1
0 0
3
3
1
1
0
3 3 3
3 2 3
1 1 1
1 1 1
0 0 1
3
2
1
1
0
2
3
1
1
0
3
3
1
1
0
2
3
1
1
0
3
3
1
1
0
3 3
3 3
1 1
1 1
0 0
3
3
1
1
0
2
3
1
1
1
42
42
15
15
2
Quelle: Cairney 2007: 23.
Insbesondere der Gedanke der Machtteilung ist dem Westminster-Modell fremd. Er kam in Schottland nicht nur dadurch zum Ausdruck, dass bis 2007 eine Koalitionsregierung aus Labour Party und Liberal Democrats regierte,
66
sondern auch in der Erwartung an das Parlament, überparteilich zu arbeiten. Daher erhielten auch die Parlamentsausschüsse, neben der Regierung und den einzelnen Abgeordneten, das Gesetzesinitiativrecht. In Ausschüssen gemeinsam Erarbeitetes sollte nach einem öffentlichen Diskussionsprozess eine Chance erhalten, Gesetz zu werden, und diese Ausschüsse sollten auch in überparteilicher Gemeinsamkeit die Regierung kontrollieren. Die Ausschüsse des schottischen Parlaments sind zugleich Fachausschüsse und Gesetzgebungsausschüsse. Im britischen Parlament sind diese Aufgaben auf zwei Ausschusstypen, „Select Committees” (Fachausschüsse) und Public Bill Committees (Gesetzgebungsausschüsse), aufgeteilt. Eine empirische Überprüfung der Arbeit des schottischen Parlaments hat ergeben, dass das Ziel einer „neuen Politik” (new politics), also die Reduktion der parteipolitischen Konfrontation in der Ausschussarbeit zugunsten eines pragmatischsachbezogenen Vorgehens, zum großen Teil erreicht wird. Dafür ist weniger das Gesetzesinitiativrecht der Ausschüsse verantwortlich als die Arbeit an Veränderungen von Gesetzesinitiativen der Regierung in der Ausschussphase.155 Nicht nur der Geist der deliberativen, auch derjenige der partizipatorischen Demokratie sollte vom Parlament ausgehen. Anknüpfend an die zivilgesellschaftliche Mobilisierung im Rahmen der SCC sollten Gesetze in einem ausführlichen Konsulationsprozess mit den Betroffenen entstehen. Der Zugang der Zivilgesellschaft zu den Entscheidungsträgern sollte durch das Nutzen elektronischer Wege und neuester Entwicklungen der Informationsund Kommunikationstechnologie garantiert bleiben. Eine empirische Überprüfung des Erreichten156 zeigt, dass das schottische Parlament durchaus „Transparenzvorsprünge” und leichtere Zugänglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger des Landes, insbesondere im Vergleich mit der Arbeit des Westminster Parlaments, erreichen konnte. Die Verbindung des Parlaments mit der Zivilgesellschaft bedeutete in der Praxis, wie in der Regel andern Orts auch, in erster Linie Zugang für organisierte Interessen, wobei den frühen Protagonisten der zivilgesellschaftlichen Vision auf diese Weise sogar der Sprung in Staatsämter gelang. Darüber hinaus aber wurde das parlamentarische Geschehen weiter geöffnet, hin zur „nichtorganisierten” Zivilgesell-
155 Cairney 156
2006. Bonney 2003.
67
schaft. Von besonderer Bedeutung hierfür waren die Sitzungen von Parlamentsausschüssen außerhalb Edinburghs.157 Tabelle 7:
Ausschusssitzungen außerhalb Edinburghs (1999- Juni 2005)
Region Highlands and Islands NorthEast Scotland Central Belt Borders INSGESAMT
Zahl 16 8 39 8 71
% 22 11 54 11 100
Quelle: Arter 2006.
Was nicht gelang, war die Basis der Rekrutierung der Mitglieder des schottischen Parlaments zu verbreitern. Die soziale Geschlossenheit der professionalisierten Mittelschichten, die auch das Unterhaus auszeichnet, verstärkte sich, wie empirische Untersuchungen zeigen,158 in Schottland eher noch. Eine Ausnahme bildet die Verbesserung des Anteils von Frauen im Parlament, die sich in erster Linie der Politik der Parität von Männern und Frauen bei der Kandidatenfindung der Labour Party verdankt. Der Preis des Erfolgs in der Geschlechterfrage ist aber eine Verstärkung der sozialen Geschlossenheit des Parlaments, weil die weiblichen Kandidaten aus den gehobenen Mittelschichten kommen. Die schottischen Parteien legen auch keinen Wert auf die Durchlässigkeit politischer Karrieren im UK. Schottische Parlamentarier streben keine Ämter oder Mandate in London an. Die schottischen Bürgerinnen und Bürger nehmen das Parlament weniger wahr als es dieses erwartet. Nur 36% der Befragten (Westminster Parlament 40%) gaben bei einer Umfrage 2006 an, viel oder einiges über das schottische Parlament zu wissen. Seit den ersten Devolution-Jahren hat sich die Bekanntheit des schottischen Parlaments zwar etwas verbessert, aber nur ein Drittel der Befragten meinte, das Parlament arbeitet gut. Ungefähr die Hälfte der Befragten erhebt die Forderung, das Parlament müsse mehr Rechte bekommen, v.a. in der Steuer- und Wirtschaftspolitik. Von ca. der Hälfte der Bevölkerung wurde die Unabhängigkeit Schottlands befürwortet.159 Arter 2006. Keating/Cairney 2006. 159 Curtice 2006: 34ff. 157 158
68
Die politische Kultur des Westminster-Modells, das die Sozialisation der schottischen Spitzenpolitiker prägte, blieb, trotz des versuchten schottischen eigenen Weges, stets präsent. So bleibt es beispielsweise in Schottland bei der Geheimhaltung der Kabinettsprotokolle und -papiere und der üblichen Sperrfrist von 30 Jahren. In Wales hingegen, hat die walisische Regierung entschieden, diese nach sechs Wochen freizugeben.160 Evidenz für einen neuen Umgang der Regierung mit dem Parlament kann selbst für die erste Legislaturperiode nur bruchstückhaft gefunden werden. Der persönliche Stil des Regierungschefs überlagerte alle strukturellen und idealistischen Vorprägungen und Erwartungen hinsichtlich eines offenen Politikstils der Exekutive gegenüber Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Parlaments.161 Paradoxerweise war gerade die in der Logik des Westminster Modells liegende Entscheidung von 2007 für eine Minderheitsregierung in Schottland (geführt von der SNP) dazu geeignet, parlamentarische Prozesse und parlamentarische Konsensfindung zu stärken, denn die Minderheitsregierung ist auf im Diskussionsprozess entstehende wechselnde Mehrheiten angewiesen. Ihren ersten Haushalt setzte die SNP-Minderheitsregierung mit den Stimmen der Konservativen, einer unabhängigen Abgeordneten bei Stimmenthaltung der Grünen durch, ohne allzu große Konzessionen machen zu müssen. Ihr zweiter Haushalt dagegen wurde Gegenstand des erwarteten breiten parlamentarischen Aushandelungsprozesses. Die SNP-Regierung hat mit ihrem Konsultationspapier zur Zukunft Schottlands im Vereinigten Königreich (Choosing Scotland’s Future: A National Conversation) die deliberative Tradition aufgegriffen und hat, trotz ihrer eindeutigen Präferenz für die schottische Unabhängigkeit (aber in realistischer Einschätzung der Machtverhältnisse), einen ergebnisoffenen nationalen Dialog gestartet.162 2008 stellten die Oppositionsparteien (nach anfänglichem Zögern unterstützt von der Londoner Regierung) der SNP-Initiative eine Scottish Constitutional Commission unter dem Vorsitz von Sir Kenneth Calman (Chancellor der Universität Glasgow) entgegen, die sich Gedanken über eine alternative Zukunft des schottischen Gemeinwesens im Vereinigten Königreich machen soll. Die Calman Commission veröffentlichte im Dezem-
160 Parry
2003: 450. Shephard/Cairney 2004. 162 Scottish Executive 2007. 161
69
ber 2008 einen Zwischenbericht ihrer Arbeit, der u.a. für mehr Kompetenzen für das schottische Parlament (Gesundheit, Schutz der Bürgerinnen und Bürger) plädierte. Tabelle 8:
Die schottischen Regierungen
Regierungschef (First Minister)
1999 Donald Dewar (Lab) Juli 1999Oktober 2000 (verstorben)
2003 20032007 Jack McConnell (Lab)
2007 2007 Alex Salmond (SNP)
Koalitions regierung Labour Party/ Liberal Demo crats
Minderheitsregie rung einer Partei SNP, Unterstüt zungsabkommen mit der Green Party
2000November 2001 Henry McLeish (Lab) (Rücktritt wegen Fi nanzaffäre)
Regierungstypus
20012003 Jack Mc Connell (Lab) Koalitionsregierung
Regierungs parteien
Labour Party/ Liberal Democrats
Aus der Sicht der Londoner Regierung ist die schottische Selbstregierung eher dem Eigenleben einer Kommunalverwaltung (wenn auch mit mehr Rechten) vergleichbar. Nicht zufällig hat das schottische Parlament im Unterschied zum britischen eine fixe Legislaturperiode von vier Jahren, wie das bei Kommunen üblich ist. Und nicht zufällig werden die Wahlen zu den Parlamenten in den keltischen Randnationen zeitgleich mit Kommunalwahlen durchgeführt. Bewusst heißt im Scotland Act 1998 der schottische Regierungschef nicht Prime Minister, sondern First Minister. Die schottische Regierung wurde bis zur nun offiziellen Umbenennung durch die SNP in „Scottish Government” als schottische Exekutive bezeichnet, und der Parlamentspräsident (im Westminster Parlament der „Speaker”), heißt in Schottland „Presiding Officer”. In Schottland (wie auch in Wales) wurde ein neues Wahlsystem eingeführt (AMS=additional member system), das sich an der Tradition des Mehrheitswahlsystems in Einerwahlkreisen orientiert. Die damaligen Wahlkreise für das Westminster Parlament wurden 1998 beibehalten und nur durch die
70
Trennung der Orkney und der Shetland Inseln in zwei Wahlkreise um einen Wahlkreis erweitert. Weitere Abgeordnete (additional members) werden durch ein System regionaler Listen gewählt (Zweistimmensystem). Die Regionen entsprechen den früheren Europawahlkreisen in Schottland (und Wales). Ziel des Wahlsystems ist eine Abbildung der politischen Kräfteverhältnisse und nicht, wie es das Westminster-Modell erwartet, die Regierungsbildung durch eine Partei alleine. Das neue Wahlsystem war für die Londoner Labour Party von großem strategischen Interesse, weil es angesichts der politischen Kräfteverhältnisse in Schottland sehr wahrscheinlich schien, dass eine Regierungskoalition unter Ausschluss der Labour Party nie zustandekommen würde.163 Die Parteien erhalten im AMS ihre Sitze gemäß der erreichten Stimmanteile, wobei die Listenkandidaten die noch nicht durch die erfolgreichen Wahlkreiskandidaten besetzten Sitze auffüllen. Das schottische Parlament hat 129 Sitze, 73 Wahlkreismandate und 56 Listenmandate. In den Wahlkreisen dominiert die Labour Party, die selbst bei ihrer Wahlniederlage 2007 37 Wahlkreise gewann gegenüber 21 Wahlkreiseroberungen durch die SNP. In Schottland sind die Konservativen und die Liberal Democrats Parteien der zweiten Reihe. Vor allem die Konservative Partei verdankt ihre parlamentarische Existenz in erster Linie der Listenwahl. Die Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum schottischen Parlament ist ca. 10% höher als bei Kommunalwahlen und um etwa genausoviel niedriger als bei Parlamentswahlen. Die Tatsache, dass AMS in einem Wahlkreis direkt gewählte und über Listen gewählte Abgeordnete produziert, hat in Schottland und Wales zu der Diskussion geführt, ob die Listenkandidaten Kandidaten „zweiter Klasse” seien. In der Praxis hat sich eine Arbeitsteilung zwischen den unterschiedlich legitimierten Kandidaten auch unterschiedlicher Parteien herausgebildet, wobei der direkt gewählte Abgeordnete stärker in die Rolle des Wahlkreisvertreters schlüpft. Ziel der Abgeordneten ist es vor allen Dingen, weiterhin Wahlkreisinteressen zu vertreten, ob nun im Zusammenspiel mit einem Abgeordneten der eigenen Partei oder im Wettbewerb mit demjenigen einer Konkurrenzpartei. Im Vergleich zu Schottland, wo das AMS quasi ein „Repräsentationskompromiss” der dortigen pro-Devolution Parteien war, ist in
163
Bradbury 2006: 577.
71
Wales, dem von London das AMS vorgeschrieben wurde, die Akzeptanz des Nebeneinanders zweier „Kategorien” von Abgeordneten geringer.164 Tabelle 9:
Die Wahlen zum schottischen Parlament
Wahlbeteiligung in % 1999 58,1
2003 49,4
2007 51,8
Wahlergebnisse Mandate Partei Labour Party SNP Konservative Liberal Democrats Green Party Scottish Socialist Party Andere
1999 53 35 18 17 1 1 1
2003 50 27 18 17 7 6 2
2007 46 47 17 16 2 1
Quellen: Münter 2005: 258 und Paun 2007.
Man mag über das Mandat streiten, das eine Regierung mit knapper oder keiner Mandatsmehrheit bei einer niedrigen Wahlbeteiligung hat. Zumal 2007 durch widrige Umstände, wie die Neugestaltung des Wahlzettels, 4,07% der Stimmen ungültig abgegeben wurden (Zum Vergleich 2003: 0,64%; 1999: 0,33%)164a. Die niedrige Wahlbeteiligung hielt aber bisher kein schottisches Kabinett davon ab, eine deutlich eigenständige Politik im Kontext des Vereinigten Königreichs zu verfolgen. Grundlage dieser eigenständigen Politik waren und sind die Kompetenzen, die der Scotland Act in einer umfassenden Weise zuweist. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass die administrative Devolution, also die vorherige dezentrale Verwaltung mit Sitz in Edinburgh, schon über ein breites Spektrum von Kompetenzen hinsichtlich nahezu aller innenpolitischer Belange mit Ausnahme der Wirtschafts- und Währungspolitik verfügte. Anders als es die Logik eines Devolution-Gesetzes nahelegt, das 164
Bradbury/Mitchell 2007. Hepburn 2008: 99
164a
72
ja von der Allzuständigkeit der Zentralregierung ausgeht, nennt der Scotland Act die Kompetenzen, die der Zentralregierung verbleiben, ausdrücklich. Das schottische Parlament hat zunächst sehr aktiv und in zum Teil spektakulärer Weise von seiner Eigenständigkeit Gebrauch gemacht. 2007 wurde bei Kommunalwahlen das Mehrheitswahlsystem durch das Single Transferable Vote-System, STV (stärker proportionale Ergebnisse), ersetzt.165 Dies hatte bei den Wahlen für die 32 Kommunalräte Schottlands weitreichende Folgen. 1.222 Kommunalvertreter wurden nicht mehr in der gleich großen Zahl von Einerwahlkreisen gewählt, sondern in 353 neuen Wahlkreisen. 163 dieser Wahlkreise waren Vier-Personen-Wahlkreise, 190 Drei-Personen-Wahlkreise. Die Einführung von STV war eine Konzession der Labour Party an ihren liberalen Koalitionspartner. Profitiert hat vom Wahlsystemwechsel vor allem die SNP. Sie wurde stärkste kommunalpolitische Kraft und stellt 363 Ratsvertreter (Labour: 348, Unabhängige 194, Liberal Democrats 166, Konservative 143, Grüne 8). Bis auf zwei Kommunalräte (jeweils von Labour dominiert) gibt es nirgendwo mehr in Schottland eine absolute Mehrheit für eine Partei in Stadt- und Gemeinderäten.166 In der Vergangenheit waren solche Mehrheiten der Labour Party häufig. STV führte aber zum Abbau der Überrepräsentation der Labour Party, die das Mehrheitswahlsystem erzeugte. Bereits zuvor hat es in einigen Politikfeldern, vor allem auf Initiative der Liberal Democrats167, deutlich neue (wohlfahrtstaatliche168) Weichenstellungen gegeben. Studiengebühren für schottische Studenten in Schottland wurden abgeschafft, die Bezüge der schottischen Lehrer wurden deutlich erhöht. Im Gesundheitswesen, dem schottischen National Health Service, der wie die Gesundheitsdienste in England, Wales und Nordirland auch, einer eigenständigen Ausrichtung folgt169, wurde die kostenfreie häusliche Betreuung für Menschen über 65 Jahre eingeführt. Die SNP-Regierung erreichte u.a. ein „Einfrieren” der kommunalen Steuern, die Abschaffung von Straßennutzungsgebühren (Brücken”maut”) und niedrigere Zuzahlungen für ArzneiClark/Bennie 2008. Scott 2007: 55ff. 167 Laffin 2007. 168 Keating 2003. Die neuen Weichenstellungen der schottischen Politik hatten zum größten Teil ihre Ursprünge schon in Initiativen bzw. Gutachten des Scottish Office der Londoner Zentralregierung in den Jahren 1997-1999. Vgl. Parry 2003: 450. 169 Greer 2004. 165 166
73
mittel. Eine offene Frage ist die Zukunft des öffentlichen Dienstes in Schottland. Formal ist dieser Teil des UK Civil Service, aber bereits heute ist die Mobilität zwischen der Beamtenschaft in Edinburgh und London gering, ebenso wie die Zusammenarbeit bei einer ausgeprägten Loyalität der schottischen Beamtenschaft zur schottischen Regierung. Ein eigenständiger schottischer öffentlicher Dienst ist deshalb eher eine Frage der Zeit.170 Die Finanzierung der schottischen Politik erfolgt ebenso wie die der walisischen und nordirischen weiterhin nach der so genannten Barnett171Formel, einem zentralstaatlich festgelegten Zuweisungsschlüssel. Sie wird bezogen auf einen Anteil bestimmter Ausgaben für einzelne Politikfelder in England berechnet, wobei die Bevölkerungsanteile im UK (bzw. deren Veränderung) berücksichtigt werden172. Die Barnett-Formel wurde 1978 festgelegt, zu einer Zeit also als die erste heftige Diskussion um eine DevolutionRegelung die Tagespolitik bestimmte. Um die keltischen Randnationen zu besänftigen, wurden diese damals bevorzugt behandelt und erhielten zum heutigen Ärger englischer Politiker höhere pro-Kopf-Zahlungen als England unabhängig von einer Bedarfserhebung. Die Formel ist so aufgebaut, dass sich auf mittlere Sicht die pro-Kopf-Zahlungen für alle Territorien des Vereinigten Königreichs angleichen.173 Dann wird die bedarfsunabhängige Berechnung für die keltischen Randnationen eher zum Nachteil, und ein Streit um die Finanzierung von Devolution ist absehbar. In Wales war dies früher ein Thema als in Schottland. In Schottland wird viel stärker die prinzipielle Frage der Abkehr von einem System der Finanzhilfen gestellt und die Alternative der Verbindung von Devolution und Steuerautonomie diskutiert, die von allen schottischen Parteien mit unterschiedlicher Radikalität in der Ausgestaltung gefordert wird.174 Der Unmut über „Barnett”, der auf der englischen Seite sich darauf bezieht, dass sich die Konvergenz der Finanzzuweisungen für die vier nationa-
Cairney 2007a: 16f. Benannt nach Joel Barnett, 1974-1979 Minister für Finanzen im Schatzamt in den Labour Regierungen von Harold Wilson und James Callaghan. Für Barnett war die Barnett-Formel nur ein zweitrangiger Verwaltungsakt, den er in seinen Erinnerungen (Barnett 1982) nicht einmal erwähnt. Heute distanziert sich Barnett von der Barnett-Formel. 172 2002 z.B. Schottland: 10,23% des englischen Anteils, Wales: 5,89% und Nordirland 3,40%. 173 Ausführlicher Bell/Christie 2007. 174 Ausführlicher Jeffery 2008. 170 171
74
len Einheiten des UK in der Praxis nicht einstellt, und der in den DevolutionGebieten mit der Furcht vor einer nicht ausreichenden Finanzausstattung verbunden ist, verdankt sich einer selektiven Betrachtung der Finanzierung von Devolution. Die Barnett-Formel bezieht sich nicht auf alle Zuweisungen, die die Devolution-Gebiete erhalten, sondern nur auf solche, die sich auf mit der Aufgabenwahrnehmung in England vergleichbare Staatstätigkeit beziehen. Zur Finanzausstattung der Devolution-Gebiete sind auch spezifische Aufgabenfinanzierungen und ad hoc-Zuweisungen aus dem UK-Haushalt hinzuzurechnen. Damit ist die Konvergenz des englischen und der nichtenglischen Ausgabenniveaus nicht ohne einen zusätzlichen politischen Willensakt zu erzielen, der aber bisher von der Londoner Regierung nicht ins Auge gefasst wird. Gegenwärtig konvergieren die Ausgabenniveaus Nordirlands und Englands, das Verhältnis der schottischen und englischen Ausgabengrößenordnungen bleibt stabil und im walisischen Falle entwickeln sich diese weiter auseinander.175 Schottland hat von seinem mit dem Scotland Act gewährten Recht der Variation des Eingangsteuersatzes bei der Einkommensteuer um drei Prozent nach oben oder unten nie Gebrauch gemacht. Solange es die zentralstaatliche Zuweisung aus London gibt, ist der Einsatz dieses Instruments auch nicht attraktiv. Höhere Steuern als anderswo im Vereinigten Königreich könnten Investoren abschrecken, niedrigere Steuern würden als Aufforderung an die Zentralregierung verstanden, die Zuweisung für Schottland zu kürzen. Die zentralstaatliche Finanzierung der Devolution-Regierungen schränkt deren Handlungsrahmen ein. Ein Recht, sich zu verschulden, haben die DevolutionRegierungen nicht. Für über den Barnett-Automatismus hinausreichende finanzielle Anliegen sind Verhandlungen mit der Treasury (dem Finanzministerium in London) erforderlich. Gegenüber zweckgebundenen Zuweisungen hat aber das gegenwärtige System für die Devolution-Regierungen den großen Vorteil, dass sie im gewährten Rahmen vollständige Ausgabenautonomie haben.176 Die Calman Commission, die von den drei unionistischen Parteien in Schottland (Labour, Liberale, Konservative) nach dem Wahlerfolg der SNP im April 2008 eingerichtet wurde, kümmert sich auch um die Frage neuer Steuerbefugnisse für Schottland und um Alternativen zur Barnett-Formel. In
175 176
Midwinter 2004. Trench 2007a.
75
Wales arbeitet zu diesem Thema die Independent Commission on Funding and Finance (seit Oktober 2008) und im House of Lords ein ad hoc-Select Committee, das sich am 17. Dezember 2008 konstituierte. Noch mehr Unruhe als die gelegentlich von englischer Seite ins Felde geführte finanzielle Bevorzugung Schottlands stiftet die sogenannte West Lothian question. Der Abgeordnete für den schottischen Wahlkreis West Lothian, Tam Dalyell, hatte im Kontext der ersten Devolution-Debatte (19741979)177 im britischen Parlament immer wieder die Frage aufgeworfen, ob es denn fair sei, dass nach der Devolution zwar die schottischen Abgeordneten über alle Belange, auch die englischen, gesetzgeberisch mitbestimmen dürften, während die englischen Abgeordneten von jenen schottischen Angelegenheiten, die nun in der Kompetenz des schottischen Parlaments liegen, ausgeschlossen seien. Besonders brisant wird dies dann, wenn die schottischen Stimmen in englischen Angelegenheiten Mehrheiten herstellen, die bei einer Abstimmung alleine der englischen Abgeordneten nicht vorhanden wären. Die Idee, diesem Problem durch die Einrichtung eines englischen Parlaments, neben dem britischen, zu begegnen wurde zwar verschiedentlich vorgebracht178, auch vom Oppositionsführer William Hague (1997-2001) auf dem Parteitag der Konservativen Partei 1998 (von ihm selbst aber bereits im Dezember 1998 verworfen). Sie fand aber innerparteilich keine dauerhafte Resonanz. Die Konservative Partei hat sich in der Zwischenzeit aber – zumindest in der Opposition – auf eine Politik der „English votes on English laws” (EVEL) festgelegt, die nach einem Vorschlag von Malcolm Rifkind, früherer Schottlandminister in der Regierung Margaret Thatcher, durch eine Abstimmung in einem Parlamentsausschuss für englische Angelegenheiten (English Grand Committee) gewährleistet werden könnte.179 Damit wird vermieden, dass die einzelnen Abgeordneten im Westminster Parlament unterschiedliche Abstimmungsrechte (entsprechend der Wahlkreisgeographie) erhalten. Die West Lothian question kann auch durch eine Verringerung der Zahl der Abgeordneten, die die keltischen Nationen vertreten, entschärft werden. 2005 wurde mit der Begründung, dass Schottland nun eine Mehrzahl seiner
Sturm 1981: 241f. Marr 1999: 234; Hazell 2006; Nairn 2000: 71 und 2002: 108. 179 Die „East Lothian answer”. Rifkind stammt aus Edinburgh. 177 178
76
Angelegenheiten im eigenen Parlament entscheide, bereits die Zahl der schottischen Sitze im Unterhaus von 72 auf 59 reduziert. Dennoch bleiben die schottischen Wahlberechtigten, wie auch die walisischen und nordirischen im Unterhaus überrepräsentiert. Hier besteht Raum für eine weitere Anpassung durch die Verringerung der Zahl der Sitze. Tabelle 10: Territoriale Repräsentation im Unterhaus Wahlberechtigte Schottland Wales Nordirland England
3.872.901 2.243.244 1.070.265 3.758.875
Sitze 59 40 18 529
Zahl der Wahlberechtigten, die ein Abgeordneter vertritt 65.642 56.081 59.459 71.056
Quelle: Paun 2007a: 18.
Schottland entwickelte seit 1998 eine Paradiplomatie sowohl innerhalb als auch außerhalb des Vereinigten Königreichs. Für viele vielleicht überraschend hat sich weniger die Zusammenarbeit mit Wales als diejenige mit Nordirland als besonders fruchtbar erwiesen. Als wichtiges Forum auch bilateraler Kontakte wurde der mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 eingerichtete Britisch-Irische Rat180 genutzt. Schottische Interessen werden aber nicht nur im nationalen Rahmen, sondern auch in der EU wahrgenommen. Dies überrascht nicht, da 60 bis 80% der Gesetzgebung in den Devolution-Parlamenten durch Entscheidungen in Brüssel beeinflusst werden. Der schottischen Interessenwahrnehmung trägt das Vereinigte Königreich dadurch Rechnung, dass schottische Vertreter in die Brüsseler Delegation beim Ausschuss der Ständigen Vertreter aufgenommen wurden. Der schottischen Forderung nach einer garantierten Vertretung des Vereinigten Königreichs im Ministerrat, wenn schottische Interessen vorwiegend betroffen sind, z.B.
British Irish Council (BIC). Übereinstimmung zwischen den Regierungen von Nordirland und Schottland gab es u.a. bei der Betonung der historischen Verbindungen beider „Länder”, bei der Tourismusförderung, bei der Anpassung der Körperschaftsteuer nach unten und beim möglichen Erlass von Studiengebühren für nordirische Studenten, die in Schottland studieren. Alex Salmond, der schottische First Minister, und Ian Paisley, der nordirische, unterzeichneten ein entsprechendes Abkommen im Juni 2007. (Lynch 2007: 52f.)
180
77
in der Fischereipolitik, wurde bisher allerdings noch nicht entsprochen. Für die Routineabstimmung der schottischen Regierungsposition mit der britischen sind entweder EU-Experten auf Beamtenebene in den einzelnen schottischen Ministerien zuständig oder die Europaabteilung (European Division), die in der Hauptverwaltung (Finance and Central Services Division) untergebracht ist. Obwohl die schottische Regierung nicht Teil des Systems der Londoner Kabinettsausschüsse ist, werden die Beamten der Edinburgher European Division regelmäßig zu den wöchentlichen Sitzungen des Europasekretariats des Cabinet Committees mit dem britischen Ständigen Vertreter eingeladen. Schottland hatte schon vor der Devolution-Gesetzgebung sein eigenes Vertretungsbüro in Brüssel (Scotland Europa). Das Büro wurde in der Regierungszeit der Premierministerin Margaret Thatcher, einer vehementen Gegnerin der Devolution-Politik, eingerichtet. Dies gelang zum einen, weil es als Privatinitiative vorangetrieben wurde und zum anderen als Einrichtung verstanden wurde, die Investoren nach Schottland locken sollte. Nach der Durchsetzung der legislativen Devolution eröffnete die schottische Regierung ihr eigenes Brüsseler Büro, The Scottish Executive’s EU Office (SEEUO), das organisatorisch strikt von Scotland Europa getrennt blieb, um die Rolle Schottlands in der Brüsseler Delegation des Vereinigten Königreichs nicht zu gefährden. Beide Büros sind seit 1999 neben anderen schottischen Organisationen im Scotland House untergebracht.181 Konflikte zwischen der Zentralregierung und der schottischen Regierung wurden in den ersten Jahren der Devolution-Politik zum Teil dadurch aufgefangen und moderiert, dass sowohl in London als auch in Edinburgh die gleiche Partei, die Labour Party, Regierungspartei war. Hinzu kommt eine Unschärfe der Devolution-Gesetzgebung, die es erlaubte, durch Interpretation und Anpassungen im Einzelfall und aufgrund juristischen Rats, informell Konflikte zu beseitigen, bevor diese öffentlich wurden oder gar eine grundsätzliche Natur annahmen. Auf diesem Wege war es sogar möglich, neue Kompetenzen auf die schottische Exekutive zu übertragen. Treibende und dominierende Kraft war dabei die Zentralregierung, die weiterhin über die Kompetenzkompetenz verfügt.182 Hier erweist sich die Durch-
181 182
Moore 2007. Hazell 2007.
78
schlagskraft der britischen Verfassungstradition. Selbst im Falle ihrer Aushöhlung operiert die britische Verfassungspolitik noch mit Konventionen und Einzelfallentscheidungen. Meinungsverschiedenheiten zwischen Zentralregierung und schottischer Regierung wurden auch durch die Autonomie letzterer bei der Umsetzung wichtiger EU-Politiken vermieden, beispielsweise bei der Organisation der Verwendung von Mitteln aus den Strukturfonds. Bei der Festlegung des Nationalen Strategischen Referenzrahmens für die reformierten Strukturfonds 2007-2013 (also die sogenannte „Lissabon”-Strategie) finden sich zwar separate Kapitel mit Beiträgen der Devolution-Regierungen; die Betroffenen hielten ihre Einflussmöglichkeiten aber für relativ gering. Noch geringer sind diese bei EU-Politikfeldern in Bereichen der Offenen Methode der Koordinierung. Deren Bedeutung scheint, wie empirische Untersuchungen zeigen, in der schottischen Exekutive noch nicht angekommen. Sie wird relativ spät informiert, und der Prozess der Prioritätenabstimmung geschieht durch Routineentscheidungen auf Beamtenebene, wobei es für die schottische Seite vor allem um Anpassung und nicht um Gestaltung geht.183 Inzwischen haben Meinungsverschiedenheiten zwischen London und Edinburgh substantiellere Dimensionen angenommen. Sie betreffen aber weniger die juristische Interpretation der Devolution-Regelung als tagespolitische Streitfragen.184 Die 2007 ins Amt gekommene SNP-Minderheitsregierung hat in der Europapolitik ein Konfliktfeld mit der Zentralregierung erschlossen. 2008 verhinderte die SNP-Regierung erfolgreich die Planung der UK-Regierung für neue Kernkraftwerke in Schottland, sie protestierte gegen ihre Nichteinbeziehung in die Beschlussfassung zur Terroristenbekämpfung auf europäischer Ebene, sprach sich gegen die Einführung von Personalausweisen aus und forderte die Ausweitung der schottischen Territorialgewässer von 12 auf 200 Meilen. Weitere konfliktträchtige Forderungen der SNPRegierung, die in erster Linie das Ziel verfolgten, die Londoner Zentralregierung in Zugzwang zu bringen, waren der Einsatz von Einnahmen aus dem Nordseeöl zum Zwecke der Senkung der Treibstoffkosten schottischer Fischer, Farmer und Transportunternehmer, ein Ende der Schließungen von Postämtern in Schottland und die Einhaltung der Zusage der Zentralregie-
183 184
Macphail 2008. Ebda. S. 591.
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rung, auf den schottischen Inseln die Produktion erneuerbarer Energien zu subventionieren. Das letzte Instrument, die juristisch organisierte Konfliktschlichtung durch das Judicial Committee des Privy Council (JCPC), wurde bisher noch nicht in Anspruch genommen. 2009 übernimmt ein neueingerichteter185 Supreme Court des Vereinigten Königreichs die diesbezüglichen Aufgaben des Privy Council. Kooperationsfragen konnten den allerdings nicht sehr häufig tagenden interministeriellen Ausschüssen der britischen und schottischen Ministerien (JMC, Joint Ministerial Committees) überlassen werden186. Eigentlich war vorgesehen, dass sich der First Minister Schottlands und sein Stellvertreter mit dem Premierminister und dessen Stellvertreter einmal im Jahr zu einer Art JMC Plenarversammlung treffen. Von 2002 bis 2007 gab es keine Treffen. Und zur Konfliktlösung wurde eine solche Plenarversammlung noch nie abgehalten. Erst Gordon Brown hat im Juni 2008 die Plenarversammlungen wiederbelebt. Weiterhin blieb es – trotz der Devolution-Gesetzgebung – möglich, dass das britische Parlament auch für Politikfelder, in denen die Kompetenz beim schottischen Parlament liegt, Gesetze verabschiedet. Hierzu bedarf es aber nach einer neu geschaffenen Konvention der vorherigen Zustimmung des schottischen Parlaments (Sewel187 Convention). Dies ist nicht nur ein bequemer Weg, um gewünschte Einheitlichkeit von Regelungen zu erhalten und Kompetenzabgrenzungsstreitigkeiten zwischen London und Edinburgh zu vermeiden. Es ist auch ein politisch hilfreicher Mechanismus, um ungeliebte Gesetze (z.B. Senkung des Alters für straffreie homosexuelle Beziehungen, Sexual Offences Amendment Act) nicht selbst in Schottland verabschieden zu müssen. Zwischen 1999 und 2003 gab es 41 Fälle der Zustimmung zur Londoner Gesetzgebung im Bereich schottischer Kompetenzen (im Vergleich dazu nur 38 Fälle inhaltlich eigenständiger schottischer Gesetzgebung).188
Part 3, Constitutional Reform Act 2005. JMCs kamen in erster Linie in der ersten Wahlperiode 1999-2003 in den Einsatz (insgesamt 21), danach deutlich seltener. Eine Ausnahme bildet das JMC Europe, das sich 2006 fünfmal, 2005 neunmal und 2004 elfmal traf. Vgl. Trench 2007: 44 und Horgan 2007. 187 Benannt nach dem Minister Lord Sewel, der diese Konvention am 21. Juli 1998 im House of Lords entwickelte. 188 Keating et al. 2003. 185 186
80
2003 bis 2006 wurden 32 weitere Sewel motions189 verabschiedet, vom Januar 2007 bis Mai 2008, im ersten Jahr der SNP-Minderheitsregierung, sieben.190 Das schottische Parlament hat zunächst viele der Sewel-Fälle ohne Debatte passieren lassen. Die Opposition v.a. der SNP gegen diese Praxis hatte in den letzten Jahren häufiger zu Abstimmungen im schottischen Parlament geführt. Als Regierungspartei hat die SNP ihre skeptische Haltung zu den Sewel motions aber in der politischen Praxis revidiert. Die Zentralregierung konnte sich bisher nicht dazu verstehen, der geänderten Aufgabenverteilung in der Nachdevolutionzeit dadurch Rechnung zu tragen, dass sie ein gemeinsames Ministerium für alle Nationen und Regionen des Landes schuf. Dem reduzierten Arbeitsaufwand für die Minister für Schottland, Wales und Nordirland wurde dadurch Rechnung getragen, dass sie weitere und wechselnde Aufgaben von größerem Gewicht mit übernahmen. Damit setzten sie sich der Kritik aus, ihre Lobbyfunktion in der Zentralregierung für „ihre Territorien” ebenso wie ihre Kontrollfunktion und ihren Koordinierungsauftrag gegenüber den keltischen Nationen nicht ernst zu nehmen. Das Scotland Office und das Wales Office, der frühere Verwaltungsunterbau der Schottland- und Walesministerien, bestehen mit politisch unbedeutenden Aufgaben191 weiter. Sie wurden aber dem Verfassungsministerium (Department of Constitutional Affairs, DCA) zugeordnet (inzwischen Justizministerium).
2.3 Politik in Wales Die Idee der Devolution war in Wales immer weit weniger populär als in Schottland. Allerdings hat sich im Wechselspiel von politischer Institutionalisierung und Vergewisserung nationaler Interessen und nationaler Identität die folkloristische Sichtweise walisischer Besonderheit, die in den Nachkriegsjahrzehnten auch in Wales vorherrschte, im Laufe der letzten Jahrzehnte in eine politisch tragfähige Grundlage einer Politik nationaler SelbstbeOffizielle Bezeichnung: „legislative consent motions”. Hazell 2007: 582. Cairney 2008: 22. 191 So stellte das Scotland Office zum 300. Jahrestag des Anglo-schottischen Unionsvertrag von 1707 eine 2 Pfund-Gedenkmünze der Öffentlichkeit vor. Das Scotland Office steht aber als Mittler zwischen Whitehall und schottischen Ministern im Konfliktfall zur Verfügung. 189 190
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stimmung entwickelt. Bestes Beispiel hierfür ist die Entwicklung des Walisischen von einer dem Aussterben geweihten Umgangssprache abgelegener ländlicher Regionen zu einer anerkannten „Nationalsprache”. Devolution-Politik für Wales wurde in der Londoner Zentralregierung in erster Linie als Parallelpolitik zu Konzessionen an Schottland diskutiert. London bot den Walisern eine der walisischen „Unbotmäßigkeit” angepasste Devolution-Lösung, die sogenannte exekutive Devolution. Wales sollte wie eine überdimensionale Kommunalverwaltung regiert werden, mit Kompetenzen der Gesetzesumsetzung (sekundäre Gesetzgebung), nicht aber der Gesetzgebung. Dennoch versprachen die Befürworter von Devolution wie in Schottland eine neue effektivere, transparentere und gesellschaftliche Interessen stärker einbindende Politik („inclusiveness”).192 Die 1998 neu gewählte walisische Versammlung (National Assembly for Wales, NAW) setzte Ausschüsse ein, deren Vorsitzende Mitglieder der walisischen Exekutive wurden. Der Vorsitzende der walisischen Exekutive war der Vorsitzende des „Hauptausschusses” und erhielt deshalb auch nicht den Titel „First Minister” (wie im schottischen Fall), sondern „First Secretary”. Exekutive und (parlamentarische) Versammlung waren durch die Verbindung von Ausschüssen und Regierungsverantwortung also institutionell nicht getrennt. Dies änderte sich nach 2000 tendenziell durch die Trennung des Welsh Assembly Government mit eigenem Verwaltungsunterbau von der NAW, auch wenn die Minister weiterhin Ausschussmitglieder blieben. Aus dem „First Secretary” wurde ein „First Minister”. Diese inkrementalen Anpassungen in Richtung einer Demokratie nach dem Westminster-Modell geschahen ohne Änderung des Government of Wales Act von 1998. Die neue politische Identität von Wales hat das erreichte Maß an Selbstregierung zur Selbstverständlichkeit werden und diejenigen walisischen Stimmen verstummen lassen, die eine Devolution-Regelung für überflüssig hielten. In heutigen Umfragen zeigt sich, dass eine überwiegende Mehrheit der Waliser innenpolitische Themen, wie Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung oder Bildung, in Wales geregelt sehen möchte.193 Früh machte sich auch (ähnlich wie bei anderen Fällen asymmetrischer Dezentralisierung in Spanien oder Kanada) die Sogwirkung des fortgeschritteneren Devolution-Modells bemerkbar. Im Falle
192 193
Chaney/Fevre 2001. Kritisch: Royles 2006. Scully/Wyn Jones 2008b: 61.
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von Wales ging diese Sogwirkung von Schottland aus. Sprachen sich vor Einführung der NAW noch fast 40% der Befragten gegen eine gewählte politische Vertretung in Wales aus, so favorisierten bis 2000 die größte Gruppe (35,3%) die Assembly. Seit 2001 ist die am meisten genannte Option für Wales ein Parlament (2007: 43,8%). Ungefähr gleich (klein) blieb die Gruppe derjenigen, die sich für die walisische Unabhängigkeit aussprach (ca. 12-13%).194 Weiteres Indiz für die Sogwirkung des schottischen Vorbildes war die Einsetzung der Richard Commission195 im Juli 2002, die ihren Bericht im März 2004 vorlegte. Sie schlug vor, auch legislative Befugnisse auf die NAW zu übertragen, Exekutive und Legislative in ihren Aufgaben deutlicher abzugrenzen, die NAW auf 80 Mitglieder zu erweitern und als Wahlsystem STV (Single Transferable Vote) einzuführen. Die Regierung Blair nahm einen Teil dieser Vorschläge 2005 in ihrem Weißbuch „Better Governance for Wales” auf. Das Weißbuch bereitete den Weg für eine neue gesetzliche Regelung der walisischen Selbstregierung, den Government of Wales Act (GOWA, 2006), der als Einstieg in die legislative Devolution und damit die Transformation der walisischen Selbstverwaltung in eine begrenzte Selbstregierung interpretiert werden kann. Die neue Regierungskoalition von Labour Party und Plaid Cymru 2007 operiert erstmals im Kontext des GOWA. Der GOWA sieht u.a. vor: (1) Die juristische Trennung der Regierung (Welsh Assembly Government) von der parlamentarischen Versammlung (NAW) (2) Die Assembly erhält das Recht, über ihre Ausschussstruktur zu entscheiden (3) Die Assembly entscheidet über den Haushalt der Minister (4) Die Gesetzesimplementation wird zur alleinigen Aufgabe der Minister (5) Die Assembly kann dem Londoner Walesminister „Orders in Council” (Legislative Competence Orders) vorschlagen. Wenn diesen das Londoner Parlament zustimmt, kann die Assembly in dem durch die Orders gesteckten Rahmen selbständig entscheiden („make Measures”). (6) Der Assembly kann auch die primäre Gesetzgebung in den übertragenen Aufgabengebieten zukommen, wenn zwei Drittel der Mitglieder der Assembly sich für ein Referendum zum Übergang von der exekutiven zur legislativen Devolution aussprechen und das dann abgehaltene Referendum erfolgreich ist.
Scully/Wyn Jones 2008a: 68. Commission on the Powers and Electoral Arrangements of the National Assembly for Wales: Report of the Richard Commission, o.O. 2004. Ausführlicher McAllister 2005.
194 195
83
Tabelle 11: Vetopunkte bei der Gesetzgebung in Wales
Westminster Gesetzgebung zur Übertragung von Kompetenzen an die NAW Sekundäre Gesetzgebung der NAW Government of Wales Bill Legislative Competence Orders, LCOs Assembly Measures innerhalb der LCOs
Wales minister
UK NAW Parlament
walisischer Wähler
ja
ja
nein
nein
nein
nein
ja
nein
ja
ja
nein
nein
ja
ja
ja
nein
ja
nein
ja
nein
Begrenzt, z.B. bei Fol gen für non nein devolved matters
Übergang zur legislativen Devolu ja tion (durch Referendum)
ja
ja. Ein Drittel der NAW, d.h. Labour hat ein sicheres Veto
Gesetzgebung des walisischen Parlaments (nach Referendum)
nein
ja
Begrenzt
Quelle: Paun 2006: 13.
Die neue Regierungskoalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag196 darauf geeinigt, die Autonomiepotentiale des GOWA voll auszuschöpfen. Hierzu gehört auch, die Möglichkeit, ein Referendum abzuhalten, um den Übergang zur legislativen Devolution zu erreichen. Eine „All Wales Convention” koordiniert eine nationale Debatte zu diesem Thema und den Aussichten für ein späteres Referendum zur Einrichtung eines walisischen Parlaments. Die Beteiligung der walisischen Nationalisten an der Regierung, den bisherigen Gegenspielern der Labour Party, verstärkt die „Parlamentarisierung” der walisischen Selbstverwaltung auch durch die Einrichtung eines eigenen Unterbaus für die Arbeit des Deputy First Minister (Plaid Cymru), sowie die Fortführung von Mechanismen gemeinsamer Regierungsführung, wozu ein Koalitionsausschusses unter Beteiligung der Parteichefs und der Parteigeschäftsführer, insbesondere zur Lösung von Koalitionskonflikten, gehört. Die One Wales. A progressive agenda for the government of Wales. An agreement between the Labour and Plaid Cymru Groups in the National Assembly, Cardiff 2007.
196
84
Labour/Plaid Cymru-Koalition hat auch eine Assembly-Kommission beschlossen197, die sich mit der Frage der Finanzierung von Devolution beschäftigen wird. Tabelle 12: Die walisischen Regierungen 1999 Regierungschef Alun Michael (Lab) (First Secretary bis (Rücktritt wegen 2000, First Minister) fehlenden Rückhalts in der eigenen Partei) 2000; 20002003 Rhodri Morgan (Lab) Regierungstypus Minderheitsregierung einer Partei, bis 2000; dann Koalitionsregie rung Regierungsparteien Labour Party bis 2000; dann Labour Party/Liberal Democrats
2003 20032007 Rhodri Morgan (Lab)
2007 2007 Rhodri Morgan (Lab)
Koalitionsregierung Koalitionsregierung
Labour Party/ Liberal Democrats
Labour Party/ Plaid Cymru
Die walisische Versammlung hat zwar kein Recht zur primären Gesetzgebung. Sie war aber in dem ihr zur Verfügung stehenden Rahmen äußerst aktiv. In der ersten Wahlperiode vom Mai 1999 bis April 2003 wurden 697 Rechtsakte (Measures) im Rahmen der sekundären Gesetzgebung (Assembly Orders) beschlossen.198 Seit 2008 werden vom Westminster Parlament mit Legislative Competence Orders der NAW im Entscheidungsprozess über einzelne Gesetze immer neue Kompetenzen der Gesetzesausgestaltung übertragen. Das Select Committee on Welsh Affairs im Unterhaus steht der Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen an die NAW weit skeptischer gegenüber als diese, was zu Spannungen mit der walisischen Exekutive und zwischen dem Londoner und dem Cardiff-Flügel der Labour Party führte. Ähnlich wie in Schottland spielt die Offenheit der Regierung und ihre Diskursfähigkeit eine große Rolle für das Selbstverständnis der walisischen Selbstverwaltung. Seit dem 13. März 2000 werden die Kabinettsprotokolle 197 198
Ab September 2008, geleitet von dem Ökonomen Gerald Holtham. Münter 2005: 264.
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regelmäßig auf der website der NAW veröffentlicht.199 Im Vergleich zu Schottland ist das walisische Interesse an der erreichten Form von Devolution weniger stark ausgeprägt, was sich auch an der Wahlbeteiligung bei Wahlen zur NAW ablesen lässt. Ein Grund für die schwache Wahlbeteiligung mag auch die bisherige Begrenzung der Tätigkeit der NAW auf die weniger bedeutende sekundäre Gesetzgebung sein. Parteipolitisch dominiert wird Wales von der Labour Party. Das Wahlergebnis von 2007 gibt allerdings Anlass zu der Vermutung, dass die bisherige parteipolitische Dominanz der Labour Party in Frage steht.200 Die Labour Party war bisher an allen Regierungen beteiligt, was aber keine bedingungslose Unterstützung der Londoner Zentralregierung bedeutete. Bestes Indiz hierfür ist das Scheitern Alun Michaels, den der Premierminister Tony Blair gegen den Willen der Parteibasis in Wales als ersten Regierungschef installierte. Tabelle 13: Die Wahlen zum walisischen Parlament Wahlbeteiligung in % 1999 46,2
2003 38,2
2007 43,5
Wahlergebnisse Mandate Partei Labour Party Plaid Cymru Konservative Liberal Democrats Andere
1999 28 17 9 6
2003 30 12 11 6 1
2007 26 15 12 6 1
Quellen: Münter 2005: 262 und Scully/Wyn Jones 2007: 56.
Das walisische Parlament besteht aus 60 nach dem AMS-Wahlsystem gewählten „Abgeordneten” (MWA201s). 40 Sitze werden auf Wahlkreisebene besetzt und 20 durch Regionallisten, entsprechend der Regionaleinteilung Lynch 2006: 420. Scully/Elias 2008. 201 Member of the Welsh Assembly 199 200
86
der Europawahlen, als für diese noch in Wahlkreisen gewählt wurde und nicht, wie heute, mit Hilfe von Parteilisten. In der europäischen Politik ist Wales in einer ähnlichen institutionellen Form wie Schottland präsent. Anders als die schottische Regierung hat sich die walisische aber entschlossen, auch direkt (ohne den Umweg über den britischen Ständigen Vertreter) bei der Kommission vorstellig zu werden.202 Die Walisische National Assembly schloss sich im Jahr 2000 dem Wales European Centre (WEC) in Brüssel an, um damit von der Kompetenz der walisischen Vertretung zu profitieren und auch zu demonstrieren, dass Wales mit einer Stimme in Europa spricht. Es erwies sich allerdings rasch, dass es unmöglich war, eine Linie mit der Vielzahl walisischer Interessengruppen zu finden. Gemeinsame Äußerungen auf kleinstem gemeinsamem Nenner kamen in die Schusslinie der Assembly, die gefragt werden wollte, wenn Stellungnahmen in ihrem Namen abgegeben wurden. Dieses Problem stellte sich immer mehr, je mehr sich die Assembly als eine Art Parlament verstand. 2002 richtete die Assembly eine eigenständige Repräsentation des Welsh Assembly Government ein. Sie residiert zwar mit dem WEC im Wales House bzw. T Cymru, aber nach schottischem Vorbild strikt von diesem getrennt. Sowohl in Schottland als auch in Wales wurde die Exekutivlastigkeit der Brüsseler Vertretung als Problem wahrgenommen. Durch parlamentarische Bemühungen um eine effiziente Kontrolle der Exekutive in europäischen Angelegenheiten203 kann diese nicht ausgeglichen werden kann. 2005 eröffneten deshalb die National Assembly und das schottische Parlament eigene Informationsbüros in Brüssel204.
2.4 Politik in Nordirland 2.4.1 Der Nordirlandkonflikt Die vorherrschende Wahrnehmung des Nordirlandkonflikts stellt zumindest in der Bezeichnung der Kombattanten die religiöse Dimension in den Vor-
Macphail 2008: 21. Zur Arbeit des Europaausschusses im schottischen Parlament vgl. Raunio/Wright 2006. 204 Moore 2007. 202 203
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dergrund. Katholiken kämpfen gegen Protestanten. Dies ist aber nicht nur eine verkürzte, sondern auch eine irreführende Charakterisierung der entscheidenden Konfrontationsursache. Religion ist nur eine wichtige Markierung im Konflikt befindlicher Gruppenidentitäten, sicherlich aber nicht die Ursache oder der Auslöser des Nordirlandkonflikts. Sucht man nach religiös motiviertem Sektierertum wird man nicht bei den großen christlichen Kirchen fündig. Am ehesten noch erfüllt die von Ian Paisley, dem ehemaligen Parteichef der Democratic Unionist Party (DUP), gegründete Free Presbyterian Church die „Anforderungen”, die an Religionskrieger gestellt werden, wie religiöse Intoleranz, Aufruf zum Hass von Andersdenkenden und das Pflegen des katholischen Feindbildes (der Papst als Antichrist).205 Bemerkenswert ist allerdings, dass die Evangelikalen sich heute stärker nicht politisch begründeten moralischen Glaubensfragen zuwenden, was zu einer Aufweichung der harten Haltung der DUP im Nordirlandkonflikt beitrug.206 Religiöse Markierungen des nordirischen Gruppenkonflikts haben historische Ursachen.207 Diese reichen zurück bis zu den Plantations im 16. und 17. Jahrhundert, die der Krone freundliche protestantische (anglikanische, aber auch presbyterianische) Siedler aus Schottland und England ins Land brachten. Sie reflektieren auch den sozialen und politischen Konflikt zwischen protestantischen Grundherrn und katholischen Pächtern, sowie zwischen der protestantischen Administration der Krone in Irland und ihren mehrheitlich katholischen Untertanen. Auf irischem Boden wurde zudem die Niederlage der katholischen Dynastie der Stuarts und damit einhergehend einer der zahlreichen Aufstandsbewegungen gegen die Londoner Fremdherrschaft besiegelt. Gerade diese Aufstandsbewegungen waren aber nicht unbedingt immer klar nach religiösen Bekenntnissen zuordenbar. Bei den Aufständen der United Irishmen von 1798 und 1803 beispielsweise spielten Protestanten, wie der irische Nationalheld Theobald Wolf Tone, eine prominente Rolle. Dennoch setzte sich im 19. Jahrhundert der Mythos einer kolonialisierten „irischen Nation” durch. Irland wurde politisch neu „erfunden” als ein in Rückständigkeit gehaltenes Agrarland mit unterdrückter Landessprache (gaelisch) und unterdrückter Religion (Katholizismus).
Vgl. Bruce 1986; Abele Mac Iver 1987. Ganiel 2006; Southern 2005. 207 Zum historischen Hintergrund ausführlicher: Elvert 1993. 205 206
88
Geschichte wurde so zum Material der Identitätsbildung. Von politischer Bedeutung wurde dies nicht nur im 19. Jahrhundert als Begründung für Forderungen nach irischer Selbstverwaltung („home rule”), sondern erst recht nach der Teilung der Insel in den irischen Freistaat im Süden und Nordirland als Teil des Vereinigten Königreichs im Norden im Jahre 1921 als Ergebnis des von der IRA (Irish Republican Armee) geführten Unabhängigkeitskrieges bzw. des „Government of Ireland Act” (1920), der die Teilung im britischen Parlament besiegelte. Nun wurde es sowohl für die protestantische als auch für die katholische Gemeinschaft wichtiger als zuvor, in der neuen Konstellation politischer Konfrontation und angesichts der Ansprüche des Freistaats auf das gesamte Territorium der Insel, Begründungen für ihre Gruppenidentitäten zu finden. Der Rückgriff auf historische Ereignisse konstituierte Kontexte, die zwar immer auch im Zusammenhang mit religiösen Traditionen interpretiert werden konnten, aber doch in erster Linie unterschiedliche Loyalitäten begründen sollten. Auf der katholischen Seite war dies die Loyalität zum Freistaat, also zur irischen Unabhängigkeit. Für die Katholiken in Nordirland bedeutete dies den Wunsch nach einer Wiedervereinigung Irlands und damit des Anschlusses Nordirlands an (seit 1949) die Republik Irland. Die historische Untermauerung solcher Ziele fanden sich in der Glorifizierung eines „golden age of Irish civilization” im ersten nachchristlichen Jahrtausend sowie im historischen Material der irischen Aufstände, zuletzt des Osteraufstandes 1916 mitten im I. Weltkrieg, der von der britischen Regierung besonders blutig beendet wurde. Die Verfassung der irischen Republik enthielt bis 1998 den Anspruch auf die gesamte Insel. Die Möglichkeit einer Wiedervereinigung beim Einverständnis aller Gesellschaftsgruppen wurde im Karfreitagsabkommen von 1998, das den gegenwärtigen Status Nordirlands bestimmt, ausdrücklich eingeräumt. Noch heute existieren zahlreiche gesamtirische Organisationen, z.B. Gewerkschaften. Nordiren haben die Staatsbürgerschaft der irischen Republik. Die gegenwärtige Staatspräsidentin der irischen Republik, Mary McAleese, kommt aus Nordirland. Der Kern der Gruppenidentität für die Katholiken ist also nicht die Religionsfrage, sondern die Loyalitätsfrage, das Bekenntnis zur irischen Republik und der irischen Einheit. Es ist deshalb sinnvoller von Nationalisten als von Katholiken zu sprechen, wenn von der einen Seite im Nordirlandkonflikt die Rede ist.
89
Auf der anderen, der protestantischen Seite ist entsprechend der Begriff „Unionisten” vorzuziehen. Die Loyalität der Unionisten gehörte und gehört der Krone und dem Vereinigten Königreich. Auch hier ist Geschichte lebendig. Der Oranierorden erinnert an die protestantische Unterstützung in Nordirland von Wilhelm von Oranien und seiner Frau Maria, die nach der Glorious Revolution von 1689 den britischen Thron bestiegen. In der „Marching Season”, also der Zeit der Aufmärsche vom Frühjahr bis zum Sommer, gedenken die Unionisten jedes Jahr der Heldentaten und des zähen Überlebenswillens ihrer Vorfahren im 17. Jahrhundert, wie den „Apprentice Boys”, mit deren Hilfe 1689 angeblich Londonderry 105 Tage der Belagerung durch Truppen des katholischen Stuart-Königs Jakob II. widerstand.208 Oder der Schlacht am Boyne-Fluss 1690, die die endgültige Niederlage der Stuarts in Irland besiegelte. Nach der Teilung der Insel verlagerte sich der Loyalitätskonflikt zwischen Unionisten und Nationalisten in den Norden und mischte sich mit Formen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Diskriminierung. Angefangen beim Mehrfachstimmrecht für Landbesitzer (meist Unionisten) bei Kommunalwahlen über die Manipulation von Wahlkreisgrenzen (zugunsten der Unionisten), über die bevorzugte Vergabe von Kommunalwohnungen und Arbeitsplätzen an Unionisten bis hin zu einer fast vollständig unionistisch dominierten Polizei.209 Politisiert wurde dieser Loyalitätskonflikt zunächst im Rahmen der weltweiten Bürgerrechtsbewegungen nach dem Vorbild der USA Ende der 1960er Jahre. In Nordirland mobilisierte die NICRA (Northern Ireland Civil Rights Association). Aus dieser Zeit stammen jene (marxistisch inspirierten) Interpretationen des Nordirlandkonfliktes, die in der Mischung von gesellschaftlicher Diskriminierung und Bürgerrechtsprotest eine Form des Klassenkampfs sahen.210 Sowohl die Interpretation des Nordirlandkonflikts als Religionskrieg als auch diejenige eines Klassenkampfs verwechselt Manifestationen und Ursachen des Konflikts. Religiöse wie sozio-ökonomische Gruppenmerkmale sind Dies ist allerdings nicht ganz richtig. Die 13 Lehrjungen (apprentice boys) die am 7.12. 1689 die Stadttore verschlossen hielten, versuchten lediglich den Entsatz einer hauptsächlich protestantischen Garnison durch ein katholisches Regiment zu verhindern. Vgl. Elvert 1993: 252. 209 Sturm 1998. 210 Zwei Beispiele: Devlin 1972; Krämer 1972. 208
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Material des Loyalitätskonflikts zwischen Unionisten und Nationalisten. Beide Gruppen sind exklusiv auf sich bezogen. Es ist in Nordirland durch die soziale Segregation (einschließlich der Segregation des Schulwesens und von Wohngebieten) möglich, ein Leben ohne echten Kontakt zu den Angehörigen der anderen Gruppe zu führen. Der Loyalitätskonflikt ist der einzige gesellschaftliche Cleavage. Es gibt keine „cross-cutting cleavages”, die überlappende Mitgliedschaften in gesellschaftlichen Zusammenhängen begründen würden und helfen könnten, den Loyalitätskonflikt abzumildern. Die Exklusivität der Gruppenzugehörigkeit erleichtert ein Freund-Feind-Denken und ein Denken in Nullsummenspielen. Jede Konzession an das andere Lager kann als Verlust der eigenen Position interpretiert werden. Verschärft wird ein solches Denken dadurch, dass beide Lager, die Unionisten und die Nationalisten, sich in einer latenten Bedrohung durch Furcht vor einer Minderheitenposition befinden, in der Nullsummenspiele ja erst recht gefährlich bis existenzbedrohend werden. Die Nationalisten sehen sich in Nordirland als Minderheit. Dieses Problem könnte durch ein vereintes Irland beseitigt werden, aber dann würden die Unionisten zu einer Minderheit im Lande, was sie nur darin bestärken kann, bereits heute ihre Loyalität zum Vereinigten Königreich zu betonen. Im Extremfall ist aus unionistischer Sicht selbst ein unabhängiges Nordirland (Ulster) jeder Form der staatsrechtlichen Integration in ein vereinigtes Irland vorzuziehen.211 Die skizzierte „doppelte Minderheitenposition” kreierte ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien, zumal die „Schutzmacht” oder der „Schiedsrichter” britische Zentralregierung ausfiel.212 Aus nationalistischer Sicht war der britischen Regierung vorzuwerfen, dass sie nicht bereit war, sich neutral zu verhalten, als sie 1969 Truppen in Nordirland stationierte, um die Straßenschlachten zwischen Unionisten und Nationalisten zu beenden. Spätestens mit dem Bloody Sunday des Jahres 1972, also mit dem Tod von 14 unbewaffneten Demonstranten im Kugelhagel britischer Fallschirmjäger, war jegliche Vertrauensbasis im nationalistischen Lager in die britische Nordirlandpolitik zerstört. Aber auch den Unionisten war eine britische Intervention alles andere als geheuer, da die britische Regierung sie zu einer
Und dies nicht erst seit des Beginns des Nordirlandkonflikts. Vgl. Helle 1999; Crighton/ Abele Mac Iver 1991. 212 Bew/Patterson 1985. 211
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Machtteilung mit den Nationalisten und zur Anerkennung einer Rolle der irischen Republik in der Innenpolitik Nordirlands zwingen wollte.
2.4.2 Nordirland nach dem Karfreitagsabkommen Das Karfreitagsabkommen (Belfast Agreement)213 vom 10. April 1998 setzte dem bewaffneten Kampf in Nordirland ein Ende, auch wenn das Abkommen nicht unmittelbar das Ende von blutigen Übergriffen aus beiden Lagern bedeutete. Die beschlossenen Vereinbarungen binden die beiden Konfliktparteien fast vollständig ein. Es zeigte sich im Vorfeld, dass andere Strategien, wie das Bemühen von Premierminister John Major, nur mit den gemäßigten Kräften beider Lager, also den Ulster Unionists und der nationalistischen SDLP (Social Democratic and Labour Party), zu verhandeln, zum Scheitern verurteilt waren.214 So risikoreich und moralisch problematisch dies auch war, nur die Einbeziehung von Sinn Féin, dem politischen Arm der IRA, und der DUP Ian Paisleys machte einen Waffenstillstand und letztendlich die Entwaffnung der Paramilitärs möglich. Ohne Waffenruhe hätte es keine Verhandlungen gegeben. Ohne Einbeziehung der radikalen Parteien hätten die Kompromisse unter Verweis auf die „wahren” Vertreter der nationalistischen und unionistischen Interessen keine stabilen Mehrheiten bei Wahlen gefunden.
213 214
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The Agreement reached in the multi-party negotiations 1998, London. Ausführlicher: O’Leary 1997.
Tabelle 14: Das Karfreitagsabkommen Verhandlungspaket 1 (Strand One) Institutionen (Devo lution, Northern Ireland Assembly mit 108 Mitgliedern, PowerSharing, Allparteienregie rung, Kompetenzen des Westminster Parlaments, Civic Forum als zivil gesellschaftliches Beratungsorgan)
Verhandlungspaket 2 (Strand Two) NordSüd Minister rat (Nordirland Republik Irland)
Verhandlungspaket 3 (Strand Three) Britischirischer Rat (Regierungen UK, Irland, Nordirland, Schottland, Wales, Isle of Man, Kanalin seln und weitere eventuelle Gebiete mit Devolution) Britischirische Regierungs konferenz (Regierungen UK Irland)
Weitere Bestimmungen Rechte, Schutzrech te, Chancengleich heit, Entwaffnung, Sicherheit, Polizei und Justiz, politische Gefangene
Ganz war und ist damit das Risiko der Abspaltung militanter Gruppen auf beiden Seiten nicht gebannt, wie Anschläge in jüngster Zeit belegen. Ebenso blieb das Problem ungelöst, was aus der terroristisch-kriminellen Grauzone werden soll, in der sich viele bewaffnete Extremisten bewegen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Führung der radikalen Parteien versuchte durch taktische Züge im Umfeld der Kompromissfindung, die eigene Basis von ihrer fortdauernden Treue zur gemeinsamen Sache zu überzeugen. So ließ die IRA (wie auch die unionistischen Paramilitärs) die im Karfreitagsabkommen gesetzte Frist von zwei Jahren zur Abgabe ihrer Waffen verstreichen. Und die DUP bestand auf einer glaubhaften Erklärung der IRA zur Abkehr vom bewaffneten Kampf und der nachprüfbaren Zerstörung ihrer Waffen.215 Diese wiederum wurde von einer substantiellen Polizeireform in Nordirland abhängig gemacht, die die unionistische Dominanz in den Polizeikräften beendet. Letztendlich wurde durch die Manöver der radikalen Parteien zur „Gesichtswahrung”216 das Karfreitagsabkommen von 1998 nach
215 216
Zwischen Juli und September 2005 wurden die Arsenale der IRA zerstört. Vgl. Ganiel 2007.
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einer Phase der fortwährenden „Nachverhandlungen”217 erst 2007, also fast 10 Jahre später, wirksam, nachdem die britische und die irische Regierung auch glaubhaft klar gemacht hatten, dass dies die letzte Chance für nordirische Selbstregierung im Rahmen der Devolution-Politik sei. Die Alternative der dauerhaften Direktregierung Nordirlands durch das Londoner Nordirlandministerium war ohnehin fast zur Regel geworden und stand deshalb umstandslos bereit. Tabelle 15: Die Regierung Nordirlands nach dem Karfreitagsabkommen Zeitraum Dezember 1999Februar 2000 Februar 2000Mai 2000 Mai 2000November 2001 November 2001Oktober 2002 Oktober 2002 Mai 2007 seit Mai 2007
Status Nordirlands Devolution Direktregierung durch Nordirlandministerium Devolution „ausgesetzt” (Direktregierung) Devolution Devolution „ausgesetzt” (Direktregierung) Devolution
Dass die nordirische Bevölkerung beider Lager sich heute von den radikalen Vertretern des Unionismus, der DUP, und des Nationalismus, Sinn Féin218, besser vertreten sehen als von den gemäßigten, zeigen die Wahlergebnisse. Seit der ersten Wahl zur nordirischen Versammlung hat sich der Sitz- und Stimmenanteil der radikalen Nationalisten (SF) und der radikalen Unionisten (DUP) stetig vergrößert. Die gemäßigten Parteien waren die Verlierer des Nachverhandlungsprozesses. Besonders innerhalb der Ulster Unionist Party219 blockierte der Flügel der Einigungsgegner (Young Unionists und Oranierorden)220 die Parteispitze um David Trimble, der trotz Friedensnobelpreises letztendlich sein Amt in der Partei und als First Minister verlor.
Darunter zwei Regierungsabkommen zwischen der Republik Irland und dem Vereinigten Königreich zur Präzisierung des Karfreitagsabkommens: „Proposals by the British and Irish Governments for a Comprehensive Agreement” (2004) und „Agreement at St Andrews” (2006). 218 Bean 2007. 219 Walker 2004. 220 Vgl. Kaufman/Patterson 2006. 217
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Tabelle 16: Wahlen zur nordirischen Versammlung (Sitzverteilung und Stimmenanteil, 1. Präferenz* in %) Partei DUP SF UUP SDLP Alliance Green Party PUP UKUP NIWC Andere Wahlbeteiligung
1998 20 (18,0 %) 18 (17,7 %) 28 (21,3 %) 24 (22,0 %) 6 (6,5 %) 2 (2,6 %) 5 (4,5 %) 2 (1,6 %) 3 (5,8 %) 70,0 %
2003 30 (25,7 %) 24 (23,5 %) 27 (22,7 %) 18 (17,0 %) 6 (3,7 %) 1 (1,2 %) 1 (0,8 %) 1 (0,8 %) 1 (4,5 %) 64,0 %
2007 36 (30,1 %) 28 (26,2 %) 18 (14,9%) 16 (15,2 %) 7 (5,2 %) 1 (1,7 %) 1 (0,6 %) 0 (1,5 %) 1 (4,5 %) 63,5 %
* Gewählt wurde mit dem Single Transferable Vote-System (STV). DUP = Democratic Unionist Party; SF= Sinn Féin; UUP = Ulster Unionist Party; SDLP = Social Democratic and Labour Party; Alliance = überkonfessionelle Partei; PUP = Progressive Unionist Party; UKUP = United Kingdom Unionist Party: Northern Ireland Women’s Coalition. Quellen: Wilford/MacGinty 2004: 38; Wilford/Morrow 2007: 68.
Das Karfreitagsabkommen setzt nicht zuletzt auf konkordanzdemokratische Elemente, um Regieren in Nordirland überhaupt zu ermöglichen. Nordirland muss von einer Allparteienkoalition regiert werden, in der die Parteien in der nordirischen Versammlung nach der Stärke ihrer Parlamentsfraktionen vertreten sind. Die Berechnung der Zuteilung von Ministersitzen nach d’Hondt vermeidet die Transaktionskosten von Koalitionsverhandlungen221 und mögliche Gruppenkonflikte. Da sowohl der „First Minister” als auch sein Stellvertreter gemeinsam über Gruppengrenzen hinweg gewählt werden, sind Nationalisten und Unionisten jeweils in diesen Ämtern vertreten. Die nordirische Regierung hat also eine unionistisch-nationalistische Doppelspitze. Unionisten und Nationalisten haben Vetopositionen. Von jedem Parlamentarier wird verlangt, dass er seine Gruppenzugehörigkeit (oder das Fehlen einer solchen deklariert). Für die Konfliktparteien wichtige Beschlüsse in der nordirischen Versammlung werden in zwei Verfahren mit jeweils doppelten Mehrheiten gefasst. Welches Verfahren angewandt wird, hängt von 221
McGarry/O’Leary 2006: 264.
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der Materie ab, die zur Entscheidung ansteht. Schon 30 der 108 Abgeordnete können eine Abstimmung mit doppelter Mehrheit fordern, wenn sie nicht ohnehin vorgesehen ist. Das erste Verfahren ist das der parallelen Zustimmung der Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Abgeordneten und der Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Abgeordneten sowohl der unionistischen als auch der nationalistischen Gruppe. Eine alternative Methode der doppelten Mehrheit ist die Gewichtung. Das heißt 60% der anwesenden und abstimmenden Mitglieder der Versammlung müssen zustimmen, wobei sowohl unter den Unionisten als auch unter den Nationalisten 40% dafür sein müssen. Nicht immer geregelt ist die proportionale Besetzung von Ämtern, sowie die Proportionalität bei der Zuweisung von Finanzen und bei Aufgaben in der Verwaltung. Für die nordirische Verwaltung gelten die nicht nach Unionisten und Nationalisten differenzierenden Regeln des britischen Civil Service. Anders ist dies im nordirischen Polizeidienst, der Gruppenparität bei seinem Personal anstrebt. Die Finanzzuweisung für Nordirland durch die Zentralregierung erfolgt nicht nach unionistischer oder nationalistischer Gruppenzugehörigkeit, sondern nach der Barnett-Formel. Ebensowenig wie eine Finanzautonomie sieht das Karfreitagsabkommen eine Selbstverwaltungsautonomie der Konfliktparteien vor. Vielmehr wird die gesellschaftliche Versäulung als Problem gesehen und nicht als Lösung für eine friedliche Zusammenarbeit. Das Karfreitagsabkommen kombiniert ein konkordanzdemokratisches Entscheidungsverfahren mit einem integrationistischen Gesellschaftsideal. Konkret wird dieser die Nationalisten und die Unionisten „versöhnende Impetus” durch den Bezug auf die Menschenrechte (Einrichtung einer gruppenübergreifenden Northern Ireland Human Rights Commission), der Einbeziehung Nordirlands in die gesamtbritische Equality Commission und der Einrichtung einer Northern Ireland Victims Commission. Die Gesetzlosigkeit der eigenen Ausübung quasi polizeiähnlicher Befugnisse von bewaffneten Extremisten in beiden Lagern soll durch einen lagerübergreifenden Northern Ireland Police Service überwunden werden. Die nordirische Zivilgesellschaft soll sich im Northern Ireland Civic Forum zusammenfinden und die Assembly in sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten beraten. Die nordirische gesellschaftliche Realität sieht noch weit weniger rosig aus. Entgegen aller Vorwürfe in der Wissenschaft an die Adresse konkor-
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danzdemokratischer Ansätze, erweisen sich diese als realistisch. Die nicht zu leugnende Feststellung, dass politische Akkommodation und gesellschaftliche Segregation weiterhin nebeneinander bestehen, heißt ja nicht, dass gesellschaftliche Segregation aus konkordanzdemokratischer Sicht erwünscht ist. Die Schulen der Unionisten (Staatsschulen) und der Nationalisten (gleichermaßen subventionierte katholische Privatschulen) trennen die junge Generation. Nur drei bis vier Prozent der Schüler erhalten integrierten, also diese Trennung nicht beachtenden Unterricht. 2007 wurde nach offizieller Zählung die 47. Friedensmauer (peace wall) errichtet (Kosten: 250.000 Pfund), noch dazu auf dem Gelände einer „integrierten” Schule.222 Nach inoffizieller Zählung trennen 83 Peace Walls unionistische und nationalistische Wohngebiete, weit mehr als zu Hochzeiten des bewaffneten Konflikts.223 Die Zivilgesellschaft Nordirlands bleibt gespalten. Deren populärste Organisationen sind der Orange Order (Mitgliedschaft: Unionisten) und die Gaelic Athletic Association (Mitgliedschaft: Nationalisten). Zur Jahrtausendwende hatten nur 57% der Protestanten keine Einwände gegen religiöse Mischehen (Katholiken: 85%). 62% der Protestanten (67% der Katholiken) würden lieber in einer religiös gemischten Region wohnen als in einer mit Gleichgesinnten.224 Trotz der Realität von Devolution ist diese Lösung für die Nationalisten nur die zweitbeste nach der irischen Wiedervereinigung. Vom Civic Forum wird berichtet, dass es schon als Gewinn betrachtet wird, dass die Beteiligten überhaupt zusammenfanden und zusammenblieben.225 Damit sind wir weit entfernt von einer zivilgesellschaftlichen Auflösung des Loyalitätskonfliktes. Dieser ist eben nicht nur sozial konstruiert, wie einige Kritiker des konkordanzdemokratischen Ansatzes behaupten226, sondern hat eine materielle Basis in der nordirischen politischen Kultur.
Wilford/Wilson 2008. Vgl. Wilson 2008: 5. 224 Vgl. Evans/O’Leary 2000: 82. 225 Vgl. Bell 2004; McCall/Williamson 2001; Singstad Pålshaugen 2005. 226 Vgl. die Beiträge der „social transformation”-Schule. Taylor 1994. 222 223
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Tabelle 17:
Präferierte Konfliktlösung 2001-2007, in %
Unionisten Nordirische Unabhängigkeit Devolution (Selbstverwaltung) Direct rule durch Londoner Nordirland ministerium Vereinigung mit der Republik Irland Nationalisten Nordirische Unabhängigkeit Devolution (Selbstverwaltung) Direct rule durch Londoner Nordirland ministerium Vereinigung mit der Republik Irland
2001 8 65 17
2003 6 68 17
2005 10 66 15
2006 5 81 6
2007 4 72 17
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2
1
2
3
13 18 7
12 27 7
12 35 3
7 29 3
6 35 4
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Quelle: Dowds/Wilson 2008: 29.
Deutlich wird die fortdauernde Lagerbildung auch bei den Wahlergebnissen in Nordirland, bei allen Wahlen, den kommunalen, denen zur Assembly, zum Westminster und zum Europaparlament. Das nationalistische Lager erhielt bei den Wahlen zur nordirischen Versammlung 1998: 39,7% der Stimmen, 2003: 40,5 % und 2007: 41,4 %; das unionistische 1998: 46,4%, 2003: 49,4% und 2007: 47,1%. Die erste Assembly-Wahl war noch die am wenigsten vom Loyalitätskonflikt geprägte. Seither hat dessen Einfluss zumindest nicht abgenommen, auch wenn man die sinkende Wahlbeteiligung in diese Überlegungen miteinbezieht. Weiterhin fällt es schwer, in der Zivilgesellschaft Schuld und Hass aufzuarbeiten, um „Versöhnung” zu erreichen. Paramilitärische Gewalt ist ebensowenig verschwunden wie die unversöhnliche politische Konfrontation von Unionisten und Nationalisten, beispielsweise im Streit um den im St. Andrews Abkommen versprochenen „Irish Language Act” oder um die Ernennung eines „victims’ commissioners”227, der den Opfern des Konflikts zur Seite gestellt werden soll.
2008 einigten sich DUP und SF auf die Ernennung von vier (2 Protestanten, 2 Katholiken) victims’ commissioners. Das löste aber nicht das Problem, wer nun die entscheidende Stimme hat. Außerdem führte diese „Lösung” in eine Sackgasse, weil die britische Gesetzgebung einen Commissioner festgeschrieben hat, was neue Gesetzgebung in Westminster erforderlich machen würde. Es ist schon umstritten, wer Opfer ist. Was für den das Opfer ist für den anderen ein Terrorist (Wilford/Wilson 2008a).
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Ist die gefundene Konkordanzlösung des Nordirlandkonfliktes dennoch stabil? Nach der Modellogik der Konkordanztheorie ist eine tragfähige Kooperation politischer Eliten beider Lager in der Tagespolitik unabdingbar. Dass diese heute eher möglich ist als in der Vergangenheit228, dafür gibt es empirische Evidenz. Eine Untersuchung229 der politischen Positionen der Kandidaten für die Wahl zur nordirischen Versammlung im Jahre 2003 hat gezeigt, dass bei ökonomischen und sozialen Themen deutliche Übereinstimmungen zwischen den Präferenzen der Politiker von DUP und SDLP erkennbar sind, bei Europafragen zwischen Unionisten und SF und bei Umweltthemen und Fragen der öffentlichen Moral zwischen SDLP und UUP. Wichtig für die Stabilität einer Konkordanzlösung sind auch eine Reihe von Faktoren, die die konkordanzdemokratischen Verfahren „von außen” stabilisieren. Hierzu gehört die Alternativlosigkeit des gefundenen Abkommens. Das Fehlen radikaler Akteure, die sich an die Spitze einer Gegenbewegung setzen wollen.230 Die britisch-irische Verständigung auf eine Machtteilung in Nordirland mit der Rückfallposition einer gemeinsamen Regelung auch ohne die Nordiren. Die Entmilitarisierung Nordirlands durch die (weitgehende) Entwaffnung der Paramilitärs und den Abzug der britischen Truppen. Mit anderen Worten, sowohl die innenpolitischen als auch die außenpolitischen Unterstützungsmuster des nordirischen Loyalitätskonflikts haben sich grundlegend gewandelt.231 Dies ist keine Garantie für ein gesellschaftliches Miteinander, gibt aber Hoffnung für ein friedliches Nebeneinander, nicht zuletzt auch mit Hilfe eines konkordanzdemokratischen Verfahrens in einem sich im Rahmen der Devolution selbst regierenden Gemeinwesens.232 Es ist dennoch nicht auszuschließen, dass der gemeinsame Nenner zwischen Unionisten und Nationalisten letztendlich klein bleiben wird und über Formelkompromisse nicht hinauskommt. Nach der Ablösung Ian Paisleys durch Peter Robinson hatte sich 2008 die Lage verhärtet. Nationalisten und Unionisten blockierten sich in Mitchell 1991. Gilland Lutz/Farington 2006. 230 Allerdings verließen als Reaktion auf die Einsetzung der Allparteienregierung, einige Gemeinderäte und ihr Europaabgeordneter Jim Allister die DUP. Allister gründete die Organisation „Traditional Unionist Voice”. 231 Im Kontext des historischen Institutionalismus argumentieren so auch Ruane/Todd 2007. 232 Skeptischer: Bloomfield 2007. 228 229
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der Regierung, ja sprachen nicht einmal mehr miteinander. Als Belfast im August von heftigen Regengüssen heimgesucht wurde, gelang es wegen dieser „Sprachlosigkeit” nicht einmal, eine Notrufnummer für volllaufende Keller einzurichten. Die wichtigsten politischen Vorhaben, Übernahme der Verantwortung für Polizei und Justiz in Nordirland, gesetzliche Anerkennung der irischen Sprache, die Abschaffung der Selektion von Schülern nach ihren Fähigkeiten mit dem 11. Lebensjahr oder die zukünftige Verwendung des Maze-Gefängnisses, blieben liegen. Im November 2008 endete die fünfmonatige Regierungsblockade mit einem Kompromiss zum Thema der Übertragung der Kompetenzen für Polizei und Justiz in die Verantwortung Nordirlands dadurch, dass dies von der DUP akzeptiert wurde, aber Sinn Féin darauf verzichtete ein konkretes Datum für die Kompetenzübertragung zu erhalten. Nordirland wird nicht nur aus London finanziert, sondern erhält auch zusätzliche Mittel aus der EU-Regionalförderung, die über die langjährige Förderung als arme Region in Europa (Pro-Kopf-Einkommen geringer als 75% des durchschnittlichen EU-BIP) hinausgehen. Zum einen qualifiziert sich Nordirland durch seine Grenze zu Irland (das neue Interrreg-Programm 2007-2013 erkennt auch Westschottland als Grenzregion an) für Programme der Interreg-Förderung zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, zum anderen hat die EU auch stets Ausnahmen, wie das auch heute noch laufende PEACE Programm von 1994, genehmigt, um durch Wirtschaftsförderung den Friedensprozess in Nordirland zu unterstützen. Dies gelang jedoch nie. Der Einfluss der EU war von dem Stand des Loyalitätskonfliktes in Nordirland abhängig und nicht umgekehrt.233 In diesem Sinne konnte das PEACE Programm den gefundenen politischen Konsens zivilgesellschaftlich „unterfüttern”.234 Die EU ist aber noch immer eher „cash cow” als „peace-maker”.235 Es gehört zu den zahlreichen Paradoxien des Nordirland-Konflikts, dass die von Kommissionspräsident José Manuel Barroso zur Unterstützung des Devolution-Prozesses gegründete Task Force der EU, die von der Kommissarin für Regionalpolitik, Danuta Hubner, koordiniert wird, auch unter den heutiMurphy 2007; Teague 1994. Buchanan 2008. 235 Hayward 2007: 691: „The fact that even those who work full-time in EU-funded crossborder and cross-community programmes view the EU as more of a ‘cash cow’ than a ‘peace-maker’ indicates the futility of waiting for peace through ‘Europeanization’”. 233 234
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gen Bedingungen weiter arbeitet. Zu diesen Bedingungen gehört die Zusammenarbeit mit einer nordirischen Regierung, in der zwei extrem euroskeptische Parteien (DUP und SF) dominieren, von denen die eine (SF) erfolgreich mit half, das irische Nein zum Lissabonner Vertrag zu organisieren. Oder auch alltägliche, aber bezeichnende Merkwürdigkeiten, wie die Tatsache, dass Ian Paisley als First Minister sich beim gemeinsamen BrüsselBesuch im Januar 2008 weigerte, seinem Deputy First Minister Martin McGuinness236 die Hand zu reichen.237
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Local Government
Organisation und Aufgaben Der asymmetrische Staatsaufbau des Vereinigten Königreichs auf regionaler Ebene mit unterschiedlich weit reichenden Möglichkeiten der Selbstregierung in England, Wales, Schottland und Nordirland setzt sich auch auf der kommunalen Ebene (local government) fort. Es existiert zwar eine Londoner Stadtregierung, aber keine gewählte Regierung anderer Metropolregionen. Von 1986 bis 1999 war London die einzige Großstadt der Welt ohne eine Stadtregierung. 1985 hatte die damalige Premierministerin Margaret Thatcher den Greater London Council mit ihrer parlamentarischen Mehrheit abgeschafft, um der oppositionellen Labour Party eine politische Plattform zu nehmen. Nach ihrem Wahlsieg von 1997 präsentierte die Labour Party Pläne für eine neue Londoner Stadtregierung, die Greater London Authority (GLA). Sie sollte einen direkt gewählten Bürgermeister238 haben und eine 25köpfige gewählte Versammlung. 1998 stimmten in einem Referendum 72% der Abstimmenden (Wahlbeteiligung 35%) für diesen Plan. Die ersten Wahlen fanden im Jahr 2000 statt. Gewählt wird alle 4 Jahre, wie auch sonst bei Kommunalwahlen üblich. Unterhalb der GLA wird London in 32 boroughs (Bezirken) und der City of London regiert.
Zu dessen Person ausführlich Clarke/Johnston 2001. Meehan 2008. 238 Dies betrifft nicht das Amt des Lord Mayor of London, das seit 1191 besteht. Dieser steht der City of London, dem Finanzdistrikt im Herzen der Hauptstadt, vor. 236 237
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England selbst hat, anders als Schottland, Wales und Nordirland, keine gewählte regionale Vertretungskörperschaft unterhalb der gesamtstaatlichen Ebene. Die Idee, die indirekt legitimierten Regional Assemblies, in denen Abgesandte der Gemeinderäte und Interessenvertreter von lokalen Verbänden und der lokalen Wirtschaft sitzen, zu regionalen Repräsentationsorganen auszubauen, scheiterte. Die Pläne239, in einigen englischen Regionen, wo der Wunsch nach einer regionalen Versammlung gesellschaftlich spürbar zu sein schien (North-East, North-West, Yorkshire), Repräsentationsorgane nach einem erfolgreichen Referendum einzuführen, wurden 2004 wieder zu den Akten gelegt. Der Grund hierfür war das gescheiterte Referendum am 4. November 2004 in der Region North-East. 78% der Abstimmenden (Wahlbeteiligung: 47,7%) sprachen sich hier gegen die Einrichtung einer regionalen Volksvertretung aus, unter anderem weil sie diese nach ihren bisherigen Erfahrungen mit der Kommunalverwaltung für zusätzliche, unnötige und teuere Bürokratie hielten und sich wenig von ihren Kommunalpolitikern versprachen. Die Regional Assemblies haben sich inzwischen ein neues Profil als Kontrollorgan gegenüber den Regional Development Agencies (siehe unten), als Raumplanungsinstrument und als Anwalt regionaler Entwicklungsstrategien gegeben. Zwar gibt es in England keine regionalen Parlamente, aber es gibt Regio240 nen. Die acht (mit London neun) englischen Regionen sind Planungsregionen, die von der Zentralregierung abgegrenzt wurden, um staatliche Regionalpolitik (einschließlich der europäischen) umzusetzen und die regionale (einschließlich der lokalen) Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Den Regionen (mit Ausnahme Londons) sind seit 1997 durch Kommunalvertreter und Vertreter der regionalen Wirtschaft und Gesellschaft beschickte regionale Wirtschaftsagenturen (Regional Development Agencies, RDA) zugeordnet. Auf der Regierungsseite sind für die Aufgaben der Planungsregionen seit 1994 „Government Offices for the Regions“241 verantwortlich, seit Juni 2007 mit regionalen „Ministern” an der Spitze. Dass Regierungsmitglieder sozusagen „nebenbei” für die Regierung britischer Territorien verantwortlich sind, ist keine englische Besonderheit. Auch das Amt des Schottland- und des Weißbuch der Regierung „Your Region, Your Choice: Revitalising the English Regions, 2001 (Cm. 5511). 240 Sandford 2005. 241 Pearce u.a. 2008. 239
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Walesministers wird mittlerweile (wenn auch aus anderen Gründen: Arbeitsentlastung wegen Devolution) von Ministern (allerdings in diesen Fällen im Unterschied zu England mit Kabinettsrang242) „nebenamtlich” wahrgenommen. Problematischer scheint die unklare Aufgaben- und Verantwortungszuschreibung für die regionalen Minister, von der nur die Zusammenarbeit mit den RDAs unstrittig scheint. Regionale Minister bleiben ihren „Heimatministerien” verantwortlich, aber bei Sachthemen müssen sie sich mit anderen Fachministerien auseinander setzen. In den Government Offices arbeiten 350 bis 450 Beamte. Im Zeichen der Finanzkrise gründete Premierminister Gordon Brown einen National Economic Council (NEC), dem ein Rat der Regionalminister (Council of Regional Ministers) und ein Regional Economic Council (Vertreter der regionalen Wirtschaft) zuarbeiten. Ziel des NEC ist es, auch regional adäquate Strategien der Krisenbewältigung zu erarbeiten. Im Januar 2009 entstanden neun Regional Select Committees im Westminster Parlament (zur Überprüfung regionaler Politikeffizienz), sowie nach dem Vorbild der Devolution-Nationen acht (nicht für London) Grand Committees im Unterhaus, die regionale Angelegenheiten beraten. Hauptstoßrichtung der Regionalisierung in England ist die Verbesserung der ökonomischen Effizienz.243 In integrierten regionalen Entwicklungsstrategien sollen die RDAs die Raumplanung übertragen bekommen, Kommunen sollen sich stärker in der lokalen Wirtschaftsentwicklung engagieren, nicht zuletzt durch die Einbindung in einen permanenten Evaluationsprozess ihrer Potentiale. Mit, wie 2007 angekündigt, 13 Multi-Area Agreements244, soll die interkommunale Zusammenarbeit („City regions”) gestärkt werden. Die RDAs sind in Zusammenarbeit mit den 2008 neu geschaffenen Local Authority Leaders Boards zuständig für eine lokal angepasste wirtschaftliche Entwicklungsstrategie.
Der Schottlandminister Des Browne war 2008 beispielsweise gleichzeitig Verteidigungsminister, der Walesminister Peter Hain war Arbeits-und Sozialminister. Browne wurde im Oktober 2008 in seinem Amt als Schottlandminister von Jim Murphy abgelöst. 243 Burch u.a. 2008. 244 Bis zum Sommer 2008 waren sieben bestätigt. Zwei von ihnen sollen 2009 city regions auf gesetzlicher Basis werden (sogenannte „Economic Prosperity Boards”). 242
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Tabelle 18:
Regionale „Minister” 2008: Regionale und primäre Zuständigkeit
„Minister” Jonathan Shaw
Region South East
Liam Byrne Ben Bradshaw Rosie Winterton Barbara Follett
West Midlands South West Yorkshire and Humberside East of England
Phil Hope
East Midlands
Beverly Hughes
North West
Nick Brown Tessa Jowell
North East London
Primäre Zuständigkeit Parliamentary Under Secretary – Ministerium für Umwelt, Ernährung und Landwirtschaft Minister of State – Innenministerium Minister of State – Gesundheitsministerium Minister of State – Verkehrsministerium Parliamentary Under Secretary – Arbeits und Sozialministerium Parliamentary Under Secretary – Cabinet Office Minister of State – Ministerium für Kinder, Schulen und Familien Deputy Chief Whip Olympics Minister, Cabinet Office
Quelle: Burch u.a. 2008: 14.
Die britische Regierung sieht in den Kommunen wichtige Partner für öffentliche Dienstleistungen vor Ort. Die Labour Regierung startete 1997 in ihre erste Amtsperiode mit großen Zielen zur Modernisierung der Kommunen und der neuen Idee gewählter Bürgermeister. Das Weißbuch „Modernising Local Government: In Touch with the People” von 1998 setzte drei Themen auf die Agenda: (1) Leistungsverbesserungen durch die Orientierung an best practices und Vorbildern (beacon councils), (2) Mobilisierung kommunalen Sozialkapitals (community leadership, lokale strategische Partnerschaften) und (3) demokratische Erneuerung von unten. Diese Themen sind nun schon über 10 Jahre auf der Tagesordnung, mit mäßigem Erfolg. In der zweiten Amtszeit der Regierung Blair folgte das viel gescholtene Weißbuch „Strong Local Leadership: Quality Public Services” (2001), das als einzige neue Initiative den Gedanken enthielt, auf Seiten der Regierung spezifischer bei der Bestrafung oder Belohnung erfolgloser oder erfolgreicher Kommunen zu reagieren. 2004 wurde erneut ein großer Aufbruch verkündet. Der nun für die Kommunen zuständige stellvertretende Premierminister John Prescott legte ein Weißbuch mit dem Titel „The Future of Local Government: Developing a 10-Year Vision” vor. Wiederum ging es um die großen Themen community leadership, Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung, Effizienz
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kommunaler Dienstleistungen und verbesserte und besser finanzierte Zusammenarbeit aller Regierungsebenen.245 In ihrem Local Government White Paper von 2006246 betonte die Labour Regierung erneut die Bemühungen um ökonomische Effizienz der Kommunen und zeichnete als Weg vor, mit Hilfe von im zentralstaatlichen Haushalt verankerten Zielvereinbarungen, die durch eine Vertragsbeziehung (concordat) zwischen der Zentralregierung und den Kommunen bekräftigt wurden, einen „best practice”-Verhaltenscode durchzusetzen. Das Empowerment White Paper von 2008 ergänzt den ökonomischen Blick auf die Kommunen um denjenigen der Partizipation. Es setzt auf die Wiederbelebung demokratischer Mitwirkung in den Kommunen und auf gewachsenes Interesse an kommunaler Aufgabenwahrnehmung. Die konservative Opposition hat für sich in diesem Sinne ebenfalls die Kommunen entdeckt. David Cameron sieht in ihnen den Ort, wo Gemeinsinn, Heimat, ja sogar nationale Identität entstehen.247 In der EU finden sich die englischen Regionen in einer schlechteren Position als die Devolution-Nationen, die in die Ständige Vertretung des Landes in Brüssel integriert sind. Die englischen Regionen haben in Brüssel als Reaktion auf ihre Marginalisierung ein gemeinsames Büro, das English Regions Brussels Office (ERBO), gegründet. Die kommunale Ebene ist für die von ihr durch die Zentralregierung zugewiesenen Aufgaben zuständig, so das Schulwesen, die Sozialwohnungen und andere soziale Dienste, Polizei, Verkehr, Feuerwehr oder Müllentsorgung. Nur ca. 25% ihres Finanzbedarfs decken die Kommunen durch eine Gemeindesteuer („council tax“). Der größte Teil ihres Budgets wird durch Zuschüsse des Londoner Schatzkanzlers bestritten und damit kontrolliert. Der Schatzkanzler hat auch die Möglichkeit, die Gemeindesteuererhebung zu begrenzen. In England existieren sogenannte „unitary authorities“ (EinEbenen-Verwaltungen) und die Zwei-Ebenen-Verwaltungen von counties (Grafschaften) und Distrikten als Untergliederung der counties im ländlichen Raum nebeneinander. Unitary Authorities erledigen alle kommunalen AufLeach/Pratchett 2005. Strong and Prosperous Communities – The Local Government White Paper. 247 Evans 2008: 310. Cameron beruft sich auf die Bedeutung Joseph Chamberlains (im Zeitalter des Imperialismus einflussreicher Kolonialminister 1895-1903), der 1873-1876 Bürgermeister Birminghams war. 245 246
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gaben. Bei der kommunalen Zwei-Ebenen-Verwaltung fallen die geographisch weiterreichenden Aufgaben in die Zuständigkeit der Counties. 2006 gab es in England 46 Unitary Authorities. Für weitaus die meisten Bürger war es noch bei der kommunalen Zwei-Ebenen-Verwaltung geblieben, für die es auf lokaler Ebene eine deutliche Präferenz gab. Seit 2007 ist ein Prozess der Kommunalreformen in Gang gesetzt worden, der immer mehr Kommunen auf deren Wunsch in die Struktur der Unitary Authorities überführt. 2009 entstehen fünf weitere Unitary Authorities in Cornwall, Durham, Northumberland, Shropshire und Wiltshire. Die städtischen Agglomerationen Englands (Tyne and Wear, West Midlands, Merseyside, Greater Manchester, West Yorkshire und South Yorkshire) werden seit der Abschaffung der Grafschaftsebene durch Margaret Thatcher 1985 nur auf der unteren Ebene der früheren Zwei-Ebenen-Verwaltung in 36 Distrikten regiert. Die walisische Versammlung kontrolliert die Aufgabenwahrnehmung und Finanzierung der 22 walisischen Unitary Authorities. Damit wird die walisische Versammlung zum wichtigsten Ansprechpartner der walisischen Kommunen, was häufig zu Konflikten führt, weil die Kommunen fürchten bei der Prioritätensetzung im Devolution-Haushalt zu kurz zu kommen. Die WLGA (Welsh Local Government Association) wirft der NAW vor, nach anfänglicher Bereitschaft zum Dialog nun ein „zentralistisches Regime” zu errichten, das auf die lokalen Bedürfnisse nicht ausreichend Rücksicht nimmt. Als Gegenmodell wird die quasi-Vertragssituation der schottischen Kommunen empfohlen, die innerhalb einer Vereinbarung (concordat) von schottischen Kommunen und schottischem Parlament agieren. Die Kommunen im Vereinigten Königreich sind sowohl unter einem Spar- als auch einem Effizienzregime, das sich an den Grundsätzen des New Public Management orientiert und mit Zielvereinbarungen (Kontraktmanagement) und Anreizsystemen arbeitet. Erstaunlicherweise erhebt sich gegen die wachsende zentralstaatliche Kontrolle aber kein Protest, auch nicht von den Vertretern der Kommunen. 2001 wurde von der Audit Commission, einer Art kommunaler Rechnungshof, ein Leistungsmesssystem (Comprehensive Performance Assessment, CPA) entwickelt, das schon im Dezember 2002 interkommunale Vergleichsdaten produzierte und der Zentralregierung als Orientierung für Interventionen diente. Gut arbeitenden Kommunen wurden drei Jahre von der Leistungsüberprüfung freigestellt, bekamen mehr
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Handlungsfreiheit oder auch eine Entsperrung von Finanzmitteln in Aussicht gestellt. In der Praxis stellte sich aber meist nicht eine bedeutend größere Finanzautonomie ein, weil der Zentralstaat neue Leistungen abforderte. Problemkommunen wurden stärker bei ihren Entscheidungen zentralstaatlich kontrolliert, mussten von außen (aus dem Privatsektor) Leistungsträger einbeziehen, oder es wurde ihnen auf Zeit ein Management Team zur Überwachung der Kommunalverwaltung zugeordnet.248 Die walisische Versammlung versucht, im ganzen Land Minimalstandards der Leistungsfähigkeit von Kommunen durchzusetzen. Ein Instrument hierfür sind die Local Service Boards, die zum Ziel haben, öffentliche Dienstleistungen integriert anzubieten und die Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen kommunaler Leistungserbringung zu verbessern. Im Haushaltsjahr 2008/09 lösen neue Steuerungsinstrumente die bisherigen Policy Agreements (jetzt Improvement Agreements) und Performence Incentive Grants (jetzt: Improvement Agreement Grants) ab.249 Schottland regelt seine inneren Angelegenheiten nach den Grundsätzen der Devolution-Gesetzgebung ebenfalls weitestgehend selbst. Auf der lokalen Ebene sind 32 Unitary Authorities für die Kommunalverwaltung zuständig, deren Aufgabenerfüllung und Finanzierung in die Gesetzgebungskompetenz des schottischen Parlaments fällt. Wenn es allerdings darum geht, die Art und Weise der kommunalen Steuererhebung zu regeln, sind Konflikte mit der Zentralregierung vorprogrammiert, die das Recht, Steuerarten zu definieren für sich reklamiert, wie folgendes Beispiel exemplarisch zeigt: SNP und Liberal Democrats favorisieren die Abschaffung der Council Tax, die sich am Immobilienbesitz orientiert. Stattdessen schlagen sie eine lokale Einkommensteuer vor, die auch in der Bevölkerung populär ist. Auf den SNPVorschlag einer 3%-Abgabe reagierte die Zentralregierung mit Hinweisen auf die Grenzen der schottischen Finanzautonomie (die schottische Regierung wollte die britischen Finanzbehörden mit dem Eintreiben der Steuer beauftragen) und auf den drohenden Wegfall des zweckgebundenen Zuschusses zur Gemeindesteuer (council tax benefit, 2008: 400 Mio. Pfund) und Pratchett/Leach 2003: 264ff. Jedes „Leistungsüberprüfungsmodell” produziert Umgehungsstrategien: „Such skills can be shared, and given the arbritrariness of the whole process could well result in a higher grading than would otherwise have been achieved.” Pratchett/Leach 2004: 369. 249 Stegmann Mc Callion/Royles 2008: 51ff. 248
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das bei zu erwartenden Mindereinnahmen durch die neue Steuerart. Ja es wurde sogar argumentiert, wenn die schottische Regierung die Steuer zentral erheben würde und sie dann erst wieder den Kommunen zur Verfügung stellen würde, sei es gar keine kommunale Steuer mehr. Wie erwähnt, nutzt die schottische Politik vertragliche Vereinbarungen mit dem Dachverband der Kommunen, COSLA (Convention of Scottish Local Authorities), sogenannte „Concordats”, um die Kommunalpolitik zu steuern. Neben der Höhe der Council Tax werden so auch Zielvereinbarungen (Single Outcome Agreements) für die Leistungen der Kommunen festgelegt, die sich an 45 von der schottischen Regierung vorgegebenen „nationalen Indikatoren orientieren”.250 Auch in Nordirland liegt die Verantwortung für die kommunale Ebene bei der gewählten Vertretungskörperschaft. In den langen Jahren der Londoner Direktregierung Nordirlands waren die 26 Distrikten, ebenfalls Unitary Authorities, die eigentliche Selbstverwaltungsebene Nordirlands.251 Mit der dauerhaften Einrichtung einer nordirischen Versammlung, die selbst nur begrenzte Entscheidungsautonomie hat, schien das Land aber deutlich „überregiert”. 2008 einigte sich die nordirische Allparteienkoalition auf eine Reduktion der Zahl der Distrikte auf elf. Deren Aufgaben wurden allerdings nur unwesentlich erweitert. Sie umfassen: Stadtentwicklung, lokale Umweltprogramme, lokale Straßennutzung und -instandhaltung, Stadterneuerung und Sozialwohnungen, lokale Wirtschaftsförderung, Tourismus, Kunst, Sport und Freizeit.252
Scott 2008. Vgl. z.B. Carmichael/Knox 1999. 252 Wilford/Wilson 2008b: 46. 250 251
108
Tabelle 19:
Organisation der Kommunalverwaltung im Vereinigten Königreich
England London: 32 boroughs und City of London
Wales in der Kompetenz der Assembly:
Metropolregionen: 36 boroughs Ländliche Gebiete: 46 unitary authorities 34 counties mit 238 Distrikten
22 unitary authorities
Schottland in der Kompetenz des schottischen Parlaments: 32 unitary authorities
Nordirland in der Kompetenz der Assembly: 11 Distrikte (uni tary authorities)
Kommunalwahlen Kommunalwahlen im Vereinigten Königreich sind „second order elections” (Nebenwahlen), was sich in einer gewissen Themenarmut und nicht zuletzt in der durchweg geringeren Wahlbeteiligung von ca. 40% (in letzter Zeit nur noch knapp über 30%) ablesen lässt. Hinter diesem Durchschnittswert verbirgt sich allerdings eine Varianz, die zwischen 15% und 60% liegt. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass vor allem diejenigen, die über 65 Jahre alt sind, die zehn oder mehr Jahre in einer Kommune gewohnt haben und die sich für den Kommunalwahlkampf interessierten, zur Wahl gehen. Wer eine bestimmte Partei vor Ort präferiert und vor allem, wer die Wahl als Bürgerpflicht empfindet, beteiligt sich auch an Kommunalwahlen. Ein Unterschied zwischen den Geschlechtern ist nicht zu finden. Für die Beteiligung bei den Wahlen in London lassen sich ähnliche Befunde feststellen. Wenig gebildete, nicht-weiße, in gemieteten Wohnungen lebende Londoner sind am ehesten Nichtwähler.253 Die Kommunen werden von den meisten Bürgern, und traditionell im politischen Diskurs der Eliten254, nicht als Hort lokaler Demokratie verstanden. Das Angebot der Zentralregierung, Bürgermeister direkt zu wählen – eine Option, die sich in Deutschland als besonders populär erwies – wurde
253 254
Rallings/Thrasher 2003. Chandler 2008.
109
nur von ganz wenigen Kommunen wahrgenommen.255 Auch bei der Direktwahl des Londoner Bürgermeisters im Mai 2008, die hohe öffentliche Aufmerksamkeit erweckte und wegen der schillernden Persönlichkeiten der beiden Spitzenkandidaten Boris Johnson, Konservative Partei (und Wahlgewinner), und Ken Livingstone (zweimalig gewählt: 2000 und 2004) hohen Unterhaltungswert besass, beteiligten sich nur ca. 45% der Wahlberechtigten. Kommunalwahlen haben als Testwahlen für die nationale Stimmungslage begrenzte Aussagekraft. Dies gilt schon immer in besonderem Maße für Kommunalwahlen in Nordirland, die ganz von dem unionistisch-nationalistischen Konflikt geprägt waren und sind. In Schottland und Wales hat die Devolution-Gesetzgebung bewirkt, dass der Bezugsrahmen des kommunalen Parteienwettbewerbs in großem Maße auch die jeweilige nationale Politik geworden ist, auch wenn der Schatten einer unpopulären Politik in London immer noch auf die kommunale Wahlentscheidung in Schottland und Wales fallen kann. Bei den Wahlen 2008 verlor Labour in Wales mehr als ein Viertel der Gemeinderatssitze. Dies könnte andeuten, dass die Partei ihre traditionelle Vormachtstellung in Wales in Zukunft nicht mehr halten kann. In Schottland, einer anderen Hochburg der Labour Party, waren Verluste bei Kommunalwahlen als Protest gegen die Regierungspolitik Labours in London und Edinburgh im letzten Jahrzehnt Normalität. Erstaunlich ist aber, dass die heute in Edinburgh regierende SNP 2008 ihre Stellung in den Kommunen behaupten konnte. In England lässt sich bei den Kommunalwahlen 2008 noch am leichtesten Protestwählerverhalten nachweisen. Die regierende Labour Party wurde nur zur drittstärksten Partei, hinter den Konservativen und den Liberal Democrats. Die Liberal Democrats kümmern sich traditionell in besonderer Weise um kommunalpolitische Themen.256 Da sie als Londoner Regierungspartei bisher keine Chance hatten, hat erfolgreiche „Graswurzelpolitik” für sie den doppelten Vorteil, politische Kompetenz zu demonstrieren und sich als politische Alternative im Gespräch zu halten. Seit 1997 stellen die Liberal Democrats ziemlich konstant ein Fünftel aller Mitglieder kommunaler Räte in England.257
2003 gab es 12 direkt gewählte Bürgermeister. Copus 2007. 257 Harrison 2007: 140. 255 256
110
Grundlagen des Regierens
1
Premierminister und Kabinett
Die britische Regierung hat sich zu einer Premierministerregierung entwickelt. Der Premierminister dominiert sein Kabinett. Die politikwissenschaftliche Literatur spricht von einer „Präsidentialisierung“ des Amtes des Premierministers und zitiert regelmäßig Lord Hailshams258 pointiertes Diktum aus dem Jahre 1978, die Premierministerregierung sei eine „Wahldiktatur“ („elected dictatorship“). Verglichen mit anderen Regierungssystemen gibt es in der britischen Politik in der Tat wenige institutionelle Schranken für die Machtausübung eines Premierministers, wenn dieser über eine ausreichende parlamentarische Mehrheit verfügt. Auch innerhalb seiner Regierung ist er nicht seinem Kabinett verantwortlich, sondern seine Entscheidungen werden von den Kabinettsministern meist ohne Debatten akzeptiert. Der Premierminister wählt eigenverantwortlich seine Minister aus. Seit 1945 gibt der Premierminister in dem bis 1992 nicht veröffentlichen Regelwerk „Questions of Procedure for Ministers” (heute: „Ministerial Code”) seinen Ministern politische Verhaltensregeln. Der dominante Premierminister versucht seine Machtfülle durch die direkte Ansprache an „das Volk”, heute auch verbunden mit einer entsprechenden Demutsrhetorik, zu legitimieren. Hierzu dient im Vereinigten Königreich nicht nur die in allen Demokratien übliche mediale Präsenz, sondern auch die Fähigkeit erfolgreicher Premierminister zur Kontextualisierung von Politik. Margaret Thatcher oder Tony Blair trafen nicht nur politische Einzelentscheidungen, sie konnten immer erklären, wie diese in das größere Bild ihres politischen Projektes passten. Tony Blair entwickelte die direkte Kontaktaufnahme mit dem Volk weiter durch offizielles „Zuhören” der Regierung, das in der Praxis allerdings symbolisch und folgenlos blieb. Ein BeiLord Hailsham 1978: S. 9. Hailsham machte so bemerkenswerterweise den vergleichsweise „schwachen” Labour Premier Callaghan zur Zielscheibe.
258
111
spiel hierfür ist das 1998 eingerichtete „People’s Panel” von 5.000 repräsentativ ausgewählten Teilnehmern mit dem Ziel „to listen to, and learn from, people’s views in order to be better able to provide the services that people want”. Im Januar 2002 wurde dieses eingestellt und im November 2003 ersetzt durch die Initiative „Big Conversation”, in deren Rahmen die wichtigsten Fragen gesellschaftlicher Reform mit der Bevölkerung besprochen werden sollten.259 Aus der (antiparlamentarischen) Idee einer direkten Verbindung von Herrschendem und Volk erklärt sich teilweise auch die britische Begeisterung für Formen von e-democracy. Häufige Kabinettsumbildungen innerhalb der Amtszeit einer Regierung sind die Regel und gelten nicht als Ausdruck von Regierungskrisen. Sie dienen aus der Sicht des Premierministers der Effizienzerhöhung und der Justierung der Machtbalance in der Regierung. Aus der britischen Kabinettsregierung (cabinet government) mit dem Kabinett als Diskussionsforum und Entscheidungszentrum ist spätestens seit der Amtszeit Margaret Thatchers eine Fußnote des politischen Entscheidungsprozesses geworden. Die Minister bleiben für ihre Ressorts verantwortlich, und sie sind in die Kabinettsdisziplin eingebunden, das heißt, sie sind verpflichtet, nach außen die Kabinettsentscheidungen zu vertreten. Tabelle 20:
Die britischen Premierminister seit 1945
Premierminister
Amtszeit
Partei
Clement Attlee Clement Attlee Winston Churchill Anthony Eden
19451950 19501951 19511955 1955 (vor der Wahl) 1957 19571959 19591963 19631964 19641966 19661970 19701974
Labour Labour Konservative Konservative
Harold Macmillan Harold Macmillan Alec DouglasHome Harold Wilson Harold Wilson Edward Heath
259
Judge 2004: 698f.
112
Konservative Konservative Konservative Labour Labour Konservative
parlamentarische Mehrheit (Mandate) 146 5 17 60
Wahljahr 1945 1950 1951 1955
100
1959
4 96 30
1964 1966 1970
Premierminister
Amtszeit
Partei
Harold Wilson
1974
Labour
Harold Wilson
19741976
Labour
James Callaghan Margaret Thatcher Margaret Thatcher Margaret Thatcher John Major John Major Tony Blair Tony Blair Tony Blair Gordon Brown
19761979 19791983 19831987 19871990 19901992 19921997 19972001 20012005 20052007 2007
Labour Konservative Konservative Konservative Konservative Konservative Labour Labour Labour Labour
parlamentarische Mehrheit (Mandate) 33 3
Wahljahr Februar 1974 Oktober 1974
43 144 102
1979 1983 1987
21 179 167 65
1992 1997 2001 2005
Heutige Kabinettssitzungen sind, falls der Premierminister nicht selbst das Gespräch sucht, extrem kurz, gemessen an historischen Vorbildern und auch am politischen Problemhaushalt. Sie dauern in der Regel zwischen 30 Minuten und einer Stunde. Bei Tony Blair gab es nicht einmal eine das Gespräch anleitende Tagesordnung. Der Premierminister spricht zu den Punkten, die er gerade für wichtig erachtet, und in der Reihenfolge, die er präferiert. Unterlagen für die Kabinettsmitglieder zu den einzelnen Tagesordnungspunkten, die seit 1916 das Cabinet Office vorbereitet, werden nicht automatisch zur Verfügung gestellt.260 Die politischen Vorgaben des Premierministers setzt dieser in Gesprächen mit einzelnen Ministern um. Handelt es sich um politische Probleme mit längerem Vorlauf, so kann auch auf das System der Kabinettsausschüsse zurückgegriffen werden. Von den Kabinettsmitgliedern kommt kein Widerstand mehr gegen die faktische Abschaffung der Konvention des Kabinettsprinzips, also des gemeinsamen Entscheidens des Kabinetts, dem das Prinzip der kollektiven Verantwortung des Kabinetts, das weiter gilt, entspricht261. Ein typisches Beispiel schilderte Robin Butler im Bezug auf seine acht Monate als Kabinettssekretär, also damit beauftragt, Kabinettssitzungen Hennessy 1998: 11. Hennessy 2007: 345: „Not only did they (das Kabinett, R.S.) accept their chains; they were happy to kiss them.”
260 261
113
vorzubereiten. In diesen acht Monaten traf das Kabinett eine einzige Entscheidung. Diese betraf das Projekt Millenium Dome (eine Ausstellungshalle zur Jahrtausendwende in London): „...the only way they could get that decision was Tony Blair left the room to go to a memorial service and John Prescott was left chairing the meeting. There were in fact more people against than for it and the one thing John Prescott could get cabinet agreement to was that they should leave it to Tony. That was the one decision.”262 Kabinettsausschüsse sind in der heutigen Form eine Erfindung der Nachkriegszeit (Regierung Clement Attlee, 1945-50). Wegen der Tradition der Geheimhaltung britischer Regierungstätigkeit wurde deren Existenz erst in den 1990er Jahren – als der Bruch der Geheimhaltung ihrer Existenz durch Presseberichte zur Regel geworden war – offiziell bestätigt (Regierung John Major, 1990-1997). Kabinettsausschüsse sind so erfolgreich, weil sie ein Instrument sind, um die Macht des Premierministers gegenüber dem Kabinett zu stärken. Der Premierminister kann beliebig viele, mit beliebiger Struktur (neuerdings auch „Unterausschüsse“) und in beliebiger Zusammensetzung (auch mit der Beteiligung von Spitzenbeamten) einsetzen. Damit prägt er nicht nur die Perspektive vor, unter der ein politisches Problem behandelt wird. Die Tatsache, dass Entscheidungen in Kabinettsausschüssen das gesamte Kabinett in der Regel binden, erlaubt dem Premierminister auch, durch geschickte Zusammensetzung des Kabinettsausschusses eine von ihm präferierte Minderheitenmeinung im Kabinett durchzusetzen. Ein Beispiel hierfür ist die erste Amtszeit Margaret Thatchers (1979-83), in der die Premierministerium ihre radikale ökonomische Wende gegen die Mehrheitsmeinung im Kabinett vor allem mit Hilfe ihr wohlgesonnener Kabinettsausschüsse unter ihrem Vorsitz durchsetzte. Tony Blair hat das System der Kabinettsausschüsse ausgeweitet auf ad hoc-Gruppen, Task Forces und beratende Ausschüsse ohne Beschlussfassungskompetenz, in die nun auch Experten von außerhalb der Regierung eingebunden wurden. Damit hat er de facto die traditionellen Kabinettsstrukturen weiter entwertet und das Kabinett noch deutlicher zu einem Instrument der Premierministerregierung gemacht. Auf der Ebene der beratenden Kabinettsausschüsse können flexibel auch Koordinationsprobleme mit wichtigen politischen Partnern außerhalb der Regierung integriert werden, wie die Mit-
262
Zitiert nach Ebda.
114
arbeit der Liberal Democrats bei der Verfassungsreform in der ersten Amtszeit Tony Blairs oder die Koordination mit der schottischen Regierung (joint ministerial committee, JMC). Tony Blair hat die Amtsbefugnisse des Premierministers bisher am weitesten ausgeschöpft und dies mit einer Missachtung des Parlaments verbunden, die beispiellos ist.263 Nur in ganz seltenen Fällen war er bei Parlamentssitzungen anwesend. Die parlamentarische Frageperiode (Prime Ministerial Question Time) konzentrierte er auf eine halbstündige Veranstaltung zu einer mediengerechten Zeit (Mittwoch 12.00 Uhr), statt zweier 15-minütiger „Fragestunden”. Ob das Beispiel Blairs für künftige Premierminister Vorbild ist, muss sich noch zeigen. Die Premierministerregierung lässt genügend Spielräume für Neuinterpretationen des Amtes. Tabelle 21:
Die britische Regierung
Position Kabinettsminister Minister ohne Kabinettsrang Unterhausabgeordnete in bezahlten Regierungsämtern (in % aller Abgeordneten) Mitglieder des House of Lords in bezahlten Regierungsämtern (in % aller Lords) parliamentary private secretaries Insgesamt
1950 18 63 68
1960 19 63 65
1970 21 81 85
1980 22 85 86
1990 22 81 80
2002 23 89 88
11 13
10 17
13 17
14 21
12 22
13 24
2 27 108
2 36 118
2 30 132
2 37 144
2 47 149
3 42 154
Quelle: Peele 42004:137.
Regierung im britischen Sinne bedeutet weit mehr als das Kabinett. Kabinettsrang haben ca. 20 Minister. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Ministern außerhalb des Kabinetts und Parlamentsabgeordnete, die auf der Gehaltsliste der Regierung stehen. Hinzu kommt eine wachsende Zahl von Unterhausabgeordneten, die für einen Schritt auf der politischen Karriereleiter als unbezahlte Helfer von Ministern arbeiten („Parliamentary private secretaries“). Machtpolitisch bedeutet dies, dass der Premierminister weit über 100 der Parlamentarier seiner Fraktion nicht nur politisch, sondern auch durch Ämtervergabe samt der damit verbundenen Einkommen an sich bin263
Norton 2003.
115
den kann. Es stellt sich die Frage, wie sich diese Patronagemacht des Premierministers mit dem „freien Mandat“ eines britischen Abgeordneten verträgt. Die britische Regierungszentrale ist kein Bundeskanzleramt. Der britische Regierungschef arbeitet mit zwei lose gekoppelten Institutionen, dem Prime Minister‘s Office (PMO) und dem Cabinet Office (CO). Es ist umstritten, ob deren Zusammenspiel heute das funktionale Äquivalent eines Kanzleramtes ist.264 Das PMO organisiert das persönliche politische Umfeld des Regierungschefs und seine Verbindungen zur Regierungspartei innerhalb und außerhalb des Parlaments. Im Hinblick auf politische Gestaltung und Kommunikation ist von besonderer Bedeutung, dass sich ein Teil des PMO mit der Entwicklung neuer Ideen zur Lösung politischer Probleme beschäftigt (Policy Directorate), während ein anderer die Darstellung der Regierungsarbeit in den Medien zu kontrollieren versucht. Aktives News Management gilt in der britischen Politik heute als Teil eines jeden politischen Projekts265 und ist mehr als Informationsvermittlung. Policies werden in der Regierungszentrale sowohl hinsichtlich ihrer Inhalte als auch hinsichtlich ihrer Form (Vermittelbarkeit; nach demoskopischen Erhebungen und Tests in Fokus-Gruppen zu erwartende Akzeptanz) geprüft. Unvermeidbare schlechte Nachrichten werden strategisch plaziert, um ihnen ihre negative Wirkung in der Wählerschaft weitgehend zu nehmen. Das CO hat neben seiner ursprünglichen Aufgabe, nämlich die Infrastruktur für die Arbeit des Kabinetts bereitzustellen, unter anderem auch die Aufgabe, die Geheimdienste zu koordinieren, die Arbeit des Kabinetts in ihrer Medienwirkung zu betreuen und ethische Standards des Regierens, falls erforderlich, in Erinnerung zu rufen. Der politisch innovative organisatorische Kern des CO ist aber seine Funktion als Zentrum von Regierungskompetenz. Dies ist nicht zu verwechseln mit der „Richtlinienkompetenz“, oder anders gesagt, den verbindlichen politischen Vorgaben des Premierministers, die im UK noch weniger als in Deutschland vor dem Ressortprinzip, also der Verantwortung eines jeden Ministers für sein Ressort, halt machen. Regierungskompetenz soll entstehen durch das stetige Bemühen des CO um politischen Weitblick auf der einen Seite (hieran arbeitet die Strategy
264 265
Burch/Holliday 1989. Heffernan 2006.
116
Unit) und um die effiziente Umsetzung politischer Programme (hierfür gab und gibt es eine Reihe von Arbeitseinheiten, die flexibel eingesetzt werden und wurden, wie die „Delivery Unit“, die „Social Exclusion Unit“ (Thema Sozialintegration der Verlierer auf dem Arbeitsmarkt), die Women‘s Unit oder die Drugs Control Unit. Regierungskompetenz der Regierungszentrale ist also mehr als mit den Ministerien rivalisierende Fachkompetenz. Sie ist die Fähigkeit, zum einen ressortübergreifend und koordinierend politische Perspektiven zu eröffnen und zu bearbeiten, und zum anderen die Fähigkeit zur flexiblen kurz-und mittelfristigen Konzentration der Kräfte auf das Lösen neuer oder besonders schwieriger politischer Probleme. Im Unterschied zum deutschen Kanzleramt arbeitet die britische Regierungszentrale also auch an der „Tiefenstruktur“ der Umsetzung ihrer Politik. Wie ist dies möglich, wenn der Premierminister selbst formal keinen ministerialen Unterbau hat? Die eine Möglichkeit, die es auch in Deutschland gibt, ist die der Appelle des Premierministers an seine Minister. Viel entscheidender aber ist der in Großbritannien seit Margaret Thatcher vorangetriebene Zugriff der Regierungsebene auf die Ministerien auf der Beamtenebene. Traditionell war das Schatzamt das „Beamtenministerium“, also das Ministerium, das die Rekrutierung der Spitzenbeamten kontrolliert. Heute ist der Cabinet Secretary, also der Amtsleiter (nicht zu verwechseln mit dem für das Kabinettsamt zuständige Minister266), gleichzeitig „Head of the Home Civil Service“. Er gibt die Arbeitsweise aller Ministerialbeamten vor. Eine weitere zur Regierungszeit Tony Blairs extensiv genutzte Möglichkeit des Hineinregierens der Regierungszentrale in die Ministerien ist das Regieren am Beamtenapparat „vorbei“ durch das flexible Rekrutieren partei- bzw. den eigenen politischen Überzeugungen naher Experten auf Zeit. Möglichst zentral, also durch die Regierungszentrale organisiert, werden diese Sonderberater (special advisers) nicht nur in der Regierungszentrale, sondern auch in den Ministerien als „treue Abgesandte“ der Zentrale und Kontrolleure der Ministerriege eingesetzt. Aus der auch organisatorisch flexiblen Handhabung der Regierungszentrale ergeben sich die Möglichkeiten der kampagnenartigen Politik, der absoluten Premierministerdominanz, der Herstellung eines einheitlichen Erscheinungsbildes der Regierung, der Innovationskraft, nicht zuletzt durch die
266
Zum Beispiel: Chancellor of the Duchy of Lancaster.
117
osmotische Beziehung der Regierungszentrale mit der Experten-Community und einer lebendigen Thinktank-Kultur, sowie der Kontrolle der Politikimplementation. Als Instrument zur begleitenden Verbesserung der Politikimplementation setzt das CO die Verwaltungsreform ein. „Public Sector Reform“ wurde als eigenständiges Arbeitsfeld, durch eine eigenständige Stelle im CO permanent etabliert. Verwaltungsreform ist aus der Sicht der Regierungszentrale dann effizient, wenn es gelingt, durch diese gegenwärtige politische Ziele besser durchzusetzen. Politische Stellschrauben können so in der Regierungszentrale auch durch gleichzeitige oder sukzessive Anpassung von politischen Vorgaben und Optimierungsstrategien bei ihrer Umsetzung, sowie zum Zwecke der Präsentation politischer Initiativen und Ergebnisse justiert werden. Der „potentielle“ Gleichklang von Ausrichtung, Umsetzung und Darstellung von Politik und dies unter extrem flexiblen „Umweltbedingungen“ und bei einer hohen Reaktionsfähigkeit auf Herausforderungen für politische Steuerung aller Art war der Kern „modernen Regierens“ in Tony Blairs Downing Street 10.
2
Parlament267
Das souveräne Parlament ist der theoretische Ort der Legitimierung von Politik im Vereinigten Königreich. Selbst die sozialistischen Systemkritiker im 19. Jahrhundert setzten nicht auf Revolution, sondern auf „Parliamentary Socialism”.268 Die Fraktion im Unterhaus galt lange Zeit als einziger Ort legitimer Entscheidung sowohl über die Führung als auch die Programminhalte von Parteien. Wo es zu Spannungen zwischen dem Radikalismus von Parteitagen und der Ausrichtung der Mehrheit der Parlamentsfraktion kam, wie beispielsweise in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in der Labour Party, setzte sich die Fraktion (parliamentary party) regelmäßig durch. Ganz selbstverständlich muss der Parteichef dem Parlament angehören und die Partei Zum Teil nach Sturm 2007a. „... there were not many people in the Labour movement to contest the view that the parliamentary method was ideally suited, not only to the achievement of immediate gains by the working-classes, but also to the socialist reconstruction of society.” Miliband ²1973: 13.
267 268
118
aus dem Parlament heraus führen. Auch für jeden Minister gilt die Konvention, dass er Parlamentarier (im Ober- oder Unterhaus) sein muss.269 Eine Niederlage im Wahlkreis bedeutet das Aus für eine politische Karriere. Das spektakulärste Ergebnis in dieser Beziehung war die Wahlniederlage der Konservativen Partei 1997 als sieben Kabinettsminister nicht mehr ins Parlament gewählt wurden, darunter vier (Ian Lang, Malcolm Rifkind, Michael Forsyth und Michael Portillo), die vorher als Nachfolger von John Major im Amt des Vorsitzenden der Konservativen Partei gehandelt worden waren. Das Parlament als Institution strukturiert auch den politischen Willensbildungsprozess durch Parteien, v.a. durch die Zuweisung der Regierungs- und der Oppositionsrolle. Bis 1937 (Ministers of the Crown Act) wurden Parteien, die diese Rollen nicht wahrnahmen, offiziell nicht als Parteien anerkannt. Das Parlament ist auch traditionell der Ort, wo Klagen gegenüber dem Staatshandeln vorgebracht werden können und der einzelne Abgeordnete sich auch um spezielle Gesetzgebung bemühen kann, die seinem Wahlkreis nützt. Abgeordnete verstehen sich über Parteigrenzen hinweg als Botschafter ihres gesamten Wahlkreises und als Repräsentant der Wahlkreisinteressen. Bis 1969 (Representation of the People Act) durfte bei Unterhauswahlen die Parteizugehörigkeit der Kandidaten für einen Wahlkreissitz auf den Wahlzetteln nicht genannt werden270. Der Arbeitsaufwand für die Aufgaben im Wahlkreis ist in jüngster Zeit deutlich gewachsen. Anfang der 1990er Jahre widmeten die Abgeordneten durchschnittlich 20% ihrer Arbeitskraft dem Wahlkreis. 2003 wuchs dieser Arbeitsanteil auf mehr als ein Drittel, einige Abgeordnete benötigten über die Hälfte ihrer Arbeitszeit für die Wahlkreisarbeit.271 Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass moderne Politikkommunikation, wie beispielsweise Blogs, die persönliche Ansprache im Wahlkreis nicht ersetzen können. Der Nur Alec Douglas-Home war während seiner Amtszeit als Premierminister 14 Tage lang nicht Mitglied des Parlaments. Das war der Zeitraum zwischen dem Verzicht auf seinen Adelstitel (Verlust der Mitgliedschaft im House of Lords) und seinem Nachwahlsieg im November 1963 (Mitgliedschaft im Unterhaus). Vgl. Theakston 2005: 23. 270 Da wegen der Tradition der Staatsferne der Parteien auf eine Regelung dieser Selbstbezeichnung verzichtet wurde, kam es in der Folgezeit auch zu falschen und bewusst missverständlichen Zuordnungen, mit denen auch der Versuch unternommen wurde, „parasitäre” Wahlerfolge zu erzielen. So versuchten 1997 z.B. „Trittbrettfahrerparteien“ unter den Parteinamen „Literal Democrat” bzw. „New Labour” ins Rennen zu gehen. 271 Foster 2005: 136. 269
119
erste Weblog eines Unterhausabgeordneten entstand 2003 (Tom Watson, Labour Party), 2005 gab es sechs, 2008 waren es 39.272 Das Hauptproblem der Blogs scheint zu sein, dass sie eine e-constituency (also einen blogenden Interessentenkreis) ansprechen, die zum einen nicht mit dem Wahlkreis eines einzelnen Abgeordneten geographisch identisch ist und zum anderen sozial selektiert. Nur ca. 3% der Anfragen kommen erkennbar aus dem Wahlkreis. Als „goldene Zeit“ der Parlamentsherrschaft gilt der Zeitraum von 1832 bis 1867.273 Das Unterhaus war zwar in dieser Zeit nur schwach legitimiert. Wahlberechtigt waren erst sieben Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Im Oberhaus war der Erbadel unter sich. Die so entstandenen sozial relativ homogenen Versammlungen in beiden Häusern des Parlaments produzierten jene Club-Atmosphäre, in der die Gentlemen in freier Debatte über Sachthemen streiten konnten, wo es keinen Gruppen-, Partei- oder Fraktionszwang gab (allerdings durchaus Korruption) und wo alleine das beste Argument und die geschliffenste Rede entscheiden sollten. Regierungen blieben naturgemäß instabil, das Parlament, nicht die Regierung war der eigentliche Ort der Entscheidung. Von 1841 bis 1869 gab es neun Kabinette mit einer durchschnittlichen Amtszeit von drei Jahren bei siebenjährigen Legislaturperioden. Auch Minderheitenkabinette, bei denen Königin Viktoria das entscheidende Wort hatte, waren nicht selten. Noch heute wirkt diese historische Episode des Parlamentarismus in der Beurteilung der Arbeit von Parlamenten nach. Die im Bezug auf den klassischen britischen Parlamentarismus entstandenen Topoi sind (1) der frei nur nach seinem Gewissen entscheidende Abgeordnete, (2) die Effizienz politischer Argumente im parlamentarischen Diskurs und dessen Orientierung an der für das Land besten Politik, (3) die Gegenüberstellung des Parlaments als Ganzem auf der einen Seite und der Regierung auf der anderen, auch mit dem Ziel, die Regierung unter Kontrolle zu halten und gegebenenfalls zu
Inzwischen ist ihre Zahl weiter gewachsen. Das Beispiel der Liberalen Judy Dunn, die sich ungeschickt in ihrem Blog geäußert hatte und dann 2005 nicht wiedergewählt wurde, wirkte zunächst abschreckend. Zum Thema: Jackson 2008. Eine andere Quelle (Ferguson 2008: 224) spricht den ersten MP Blog 2003 Richard Allan zu (Ferguson/Griffith 2006: 366 nennen wiederum Watson). Die erste Website einer Abgeordneten soll 1996 Anne Campbell eingerichtet haben. 273 Kluxen 1983. 272
120
stürzen und (4) die nachgeordnete Rolle der Regierung, die nur im Rahmen der Gesetze handeln kann, die das Parlament beschlossen hat. Sein Ende fand der klassische Parlamentarismus mit der Ausweitung der Parteiendemokratie. Nach der Erweiterung des Wahlrechts von einer auf zweieinhalb Millionen Wähler 1867 bemühten sich die britischen Parteien um effiziente Organisationen außerhalb des Parlaments. Die parteipolitische Zuordnung des einzelnen Abgeordneten gewann an Verbindlichkeit und wurde mit der Ausweitung der Massenbasis der Parteien zur bestimmenden Kategorie. 1928 fand die Demokratisierung des Parlamentarismus in Großbritannien mit der Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts ihren vorläufigen Abschluss. Die gewachsene Bedeutung der Parteizugehörigkeit im Parlament bildete die Grundlage für stabile Kabinettsregierungen und hatte eine zunehmende Dominanz der Regierung gegenüber dem Parlament zur Folge bis hin zur heutigen Premierministerdominanz. Die Symbolik des britischen Parlamentarismus reicht ins 17. Jahrhundert zurück und legt jedes Jahr bei der feierlichen Eröffnung des Parlaments dem Publikum nahe, die Königin eröffne ihr Parlament in der „mächtigeren” Kammer, im Oberhaus. Die Mitglieder des Unterhauses, allen voran die Regierung, dürfen dieser Zeremonie nur hinter einer Linie stehend, quasi als Zaungäste beiwohnen. Als unsichtbarer Gast sitzt auf dem königlichen Thron aber der Premierminister, denn von ihm wurde geschrieben und genehmigt, was die Königin als Thronrede (vulgo: Regierungserklärung) verliest. Die „mächtigen” Lords verdanken ihren Parlamentssitz zum größten Teil der Ernennung durch den Premierminister, der eigentlich das politische Zepter schwingt. Auch für britische Beobachter ist nicht immer verständlich, wieso der Hinweis auf den touristischen Wert der Veranstaltung ausreicht, um diesen Anachronismus am Leben zu erhalten: „The fumbling parade that is the state opening of Parliament has nothing to do with modern democracy and appears to demonstrate an institutional contempt for democratically elected representatives that is discourteous and arrogant. It may be amusing and please the tourists, but government is not, nor should it be, a visitor attraction. The actors look moth-eaten. Even at their most glittering the absurdity is palpable. Speaker and monarch in antique dress, peers dressed up in hired robes, people standing at what should be a serious meeting.”274
274
Jenkins 2004: 802.
121
2.1 Unterhaus Das Unterhaus ist der zentrale Ort der Gesetzgebung, der Regierungskontrolle und der Artikulation des Volkswillens. Auch wenn de jure die Regierung nicht vom Parlament gewählt wird, bleibt sie dennoch von ihrer Mehrheit im Unterhaus abhängig. Wenn die Mehrheit im Unterhaus einen Misstrauensantrag gegen die Regierung unterstützt, wird nach einer ungeschriebenen Verfassungskonvention deren Rücktritt erwartet. Insofern kann das britische politische System als parlamentarisches Regierungssystem bezeichnet werden. Das Parlament ist bei seiner Aufgabenwahrnehmung, insbesondere bei der Gesetzesinitiative, kein „Fraktionenparlament” und ermöglicht beispielsweise jedem Abgeordneten die Gesetzesinitiative. Allerdings gelingt es der Regierung, die Verfahren des Unterhauses weitgehend zu dominieren. Dies heißt aber nicht, dass das Unterhaus, auch im Zusammenspiel mit dem Oberhaus, das gerne im Unterhaus vorgebrachte Vorschläge und Einwände aufgreift, Gesetzesvorhaben der Regierung im einzelnen nicht deutlich verändern kann.275 Die Regierungsfraktion ist hierbei in der Regel erfolgreicher als die Opposition. Die offiziell als parlamentarische Aufgabe anerkannte Oppositionsrolle, verbunden auch mit einer staatlichen Finanzierung des Oppositionsführers, ist mit relativ geringen eigenständigen Ressourcen und einem geringen parlamentarischen Zeitfenster für politische Initiativen ausgestattet. Jedes Jahr stehen der Opposition nur 20 Tage zur Verfügung, an denen sie die im Parlament zu behandelnden Themen vorgeben kann. Von der Opposition in Großbritannien wird nicht erwartet, dass sie eigene Gesetzesvorhaben präsentiert, sondern dass sie öffentlichkeitswirksam – vor allem mit Hilfe der parlamentarischen Gegenrede – die Regierungsvorhaben kritisch begleitet. Deshalb sind auch die „Fragestunden“ im Parlament, bei der Regierungsvertreter wöchentlich Auskunft geben müssen, von besonderem öffentlichen Interesse. Allerdings ist das Unterhaus längst nicht mehr das klassische „Redeparlament“, das im Austausch der Argumente von Regierung und Opposition politische Richtungsentscheidungen offenlegt und beeinflusst. Premierminister Tony Blair blieb selbst bei den Debatten zu dem in der britischen Öffentlichkeit hochkontroversen Thema der Beteiligung des Landes am Irak-Krieg nicht anwesend, um die Reden im Parlament zu verfolgen.
275
Kalitowski 2008.
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Tabelle 22: Wahljahr 1945 (e) 1950 1951 1955 1959 1964 1966 1970 1974 Febr. 1974 Okt. 1979 1983 1987 1992 1997 2001 2005
Sitzverteilung im Unterhaus nach den Wahlen (1945-2005) Konser Labour vative (a) Party 213 393 299 315 321 295 345 277 365 258 304 317 253 363 330 288 297 301 277 319 339 269 397 209 376 229 336 271 165 418 166 412 198 356
Liberal De mocrats (b) 12 9 6 6 6 9 12 6 14 13 11 23 22 20 46 52 62
National Andere Sitze parteien (c) Parteien (d) insgesamt 0 22 640 0 2 625 0 3 625 0 2 630 0 1 630 0 0 630 0 2 630 1 5 630 9 14 635 14 12 635 4 12 635 4 17 650 6 17 650 7 17 651 10 20 659 9 20 659 9 22 646
(a) einschließlich der Ulster Unionists 1945-1970. (b) 1945-1979: Liberal Party; 1983-1987: Liberal-SDP Alliance; seit 1992 Liberal Democrats. (c) Plaid Cymru (Wales) und Scottish National Party (SNP) (Schottland). Beide Parteien kandidieren nur in ihren nationalen Territorien. (d) 1945: 2 Mandate der Kommunistischen Partei, ansonsten Unabhängige, v.a. aber ab 1974 nordirische Parteien. (e) 1945 ohne Sitze für Universitäten und angeglichen im Hinblick auf die Stimmabgabe in 15 Zwei-Personen-Wahlkreisen. Quelle: Butler/Kavanagh 2005: 203f.
Die Regierung kontrolliert den Gesetzgebungsprozess276
dadurch, dass sie ca. 90% der Gesetze initiiert (public bills). Gesetzgebung ist auch möglich durch einzelne Abgeordnete (private members‘ bills)277, die aber in der Regel nur eine Chance hat, wenn die Regierung
Saalfeld 2008. Hierfür stehen in jedem parlamentarischen Jahr 13 Freitage zur Verfügung. 20 Abgeordnete können mit ihren Anliegen in einem Losverfahren erfolgreich sein. Jeder einzelne Abgeordnete kann darüber hinaus einmal im Jahr an einem Dienstag oder Mittwoch einen Gesetzentwurf einbringen und ihn in zehn Minuten (ten-minute rule) erläutern.
276 277
123
124
bereit ist, sie durch Zugeständnisse im parlamentarischen Zeitplan zu unterstützen. Eine dritte Art der Gesetzgebung sind private bills, mit denen beispielsweise Sonderrechte für Individuen oder Kommunen zugewiesen werden, die von den allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen abweichen. durch ihre weitgehende Kontrolle der Tagesordnung im Parlament. durch ihre Mehrheit in den Ausschüssen bei der Gesetzesberatung (den public bills committees). Diese Ausschüsse werden ad hoc für die Beratung im anstehenden Gesetzgebungsprozess konstituiert. Sie können 15 bis 50 Abgeordnete umfassen (in der Regel ca. 18), deren Auswahl die Mehrheitsverhältnisse im Parlament berücksichtigt. Gesetzesvorlagen mit weitreichender verfassungspolitischer Bedeutung oder Gesetze, die rasch verabschiedet werden sollen, können auch vom Unterhaus insgesamt beraten werden. Der Parlamentspräsident (Speaker) verlässt bei einer solchen Gelegenheit seinen Platz. Dadurch wird das Unterhaus zu einem Ausschuss, dem „Committee of the whole House“. falls erforderlich durch eine „guillotine order“ (d.h. die Möglichkeit, im Gesetzgebungsprozess für Teile oder die gesamte in drei Lesungen und einer Ausschussphase nach der zweiten Lesung voranschreitende Gesetzgebung eine befristete Debatte zu beschließen). Damit kann vermieden werden, dass die Opposition durch Verzögerungstaktik Gesetze verhindern kann. Die Labour-Regierungen seit 1997 setzen verstärkt auf sogenannte Programming Motions, mit denen parallel zur Debatte von Gesetzentwürfen ein Zeitplan für deren Verabschiedung festgelegt wird. Durch einen kangaroo-Beschluss (nur ausgewählte Teile einer Vorlage werden im Parlament diskutiert) oder eine „closure motion“ (Beschluss über ein Ende der Debatte) kann der Gesetzgebungsprozess im Detail gesteuert werden. In Verfahrensfragen handelt das Unterhaus aber nur in Ausnahmefällen konfrontativ. durch den Erlass von Verordnungen (statutory instruments), die keiner neuen Gesetzgebung bedürfen, weil sie sich aus bestehenden gesetzlichen Kompetenzen der Regierung ergeben (delegated legislation). Sie bedürfen dennoch der Zustimmung des Parlaments. Dies kann dadurch geschehen, dass die ursprüngliche Gesetzgebung vorsieht, dass auf diese bezogene Verordnungen automatisch in Kraft treten, wenn das Parlament nicht in einer bestimmten Frist (in der Regel 40 Tage) eine ableh-
nende Resolution verabschiedet. Oder aber die Zustimmung per Resolution in beiden Häusern des Parlaments ist erforderlich. In keinem der Fälle kann das Parlament die Verordnung verändern, es kann nur zustimmen oder ablehnen. Regierungen haben den Verordnungsweg auch schon genutzt, um die ursprüngliche Gesetzgebung umzuschreiben. Die Kontrolle der Verordnungsflut ist ein ungelöstes Problem des britischen Parlaments, das durch die Zunahme europäischer Rechtssetzung noch verschärft wurde. Regierungskritische Stimmen im Unterhaus sind gelegentlich vom 1861 eingerichteten Rechnungsprüfungsausschuss (Public Accounts Committee) und aus den 1979 für die gesamte Breite der Regierungstätigkeit eingerichteten, die Ministerien spiegelnden Ausschüssen (select committees) zu hören.278 2007 gab es 16 departmental select committees und 17 non-departmental ones select committees. Seit 2001 haben die departmental select committees das Recht, Unterausschüsse einzurichten, womit sie flexibler auf die Umorganisation von Ministerien reagieren können. Auch in diesen Ausschüssen hat die Regierung die Mehrheit, aber nicht immer den Vorsitz. Diese Ausschüsse sind bei den Parlamentariern, die kein Regierungsamt haben, als Ort der Profilierung und politischen Mitsprache sehr beliebt, was den Fraktionsführungen, die über die Mitgliedschaft in den Ausschüssen entscheiden, ein Patronagepotential an die Hand gibt. Es wäre verfehlt, davon auszugehen, dass die Regierung immer ihrer Mehrheit im Parlament sicher sein kann. Immer wieder stellten Revolten von abweichenden Hinterbänklern (backbenchers) auch die Politik dominierender Premierminister wie Margaret Thatcher oder Tony Blair in Frage. Mit dem bisher größten Aufstand war Tony Blair 2003 konfrontiert. 139 Labour Abgeordnete (39% der Fraktion) stimmten gegen seine Irak-Politik, nur die Stimmen der Konservativen Partei sicherten ihm noch eine parlamentarische Mehrheit.
278
Englefield 1984.
125
Tabelle 23:
Backbencher Revolten
Legislaturperiode (ab Jahr) (in Klammer Regierungspartei) 1945 (Lab) 1951 (Kons) 1955 (Kons) 1959 (Kons) 1966 (Lab) 1970 (Kons)
Zahl der Abstimmungen, bei denen Abgeordnete gegen ihre Regierung stimmten 79 11 12 120 109 204
Legislaturperiode (ab Jahr) (in Klammer Regierungspartei) 1974 (Lab) 1979 (Kons) 1983 (Kons) 1987 (Kons) 1992 (Kons) 1997 (Lab)
Zahl der Abstimmungen, bei denen Abgeordnete gegen ihre Regierung stimmten 309 159 203 198 174 198
Quelle: Cowley/Stuart 2003: 317.
Mit dem Governance of Britain Grünbuch des Jahres 2007 startete die Regierung Brown einen Prozess der Parlamentsreform, der zum Ziel hat, durch ein Bündel von Maßnahmen die Stellung des Parlaments gegenüber der Regierung zu stärken. Hierzu gehört die Einführung der Möglichkeit von parlamentarischen Anhörungen bei der Besetzung von 60 Positionen mit herausragendem Gewicht im öffentlichen Dienst bzw. in gesellschaftlichen Institutionen279. Zwar bleibt das Entscheidungsrecht beim Premierminister, aber das Parlament kann eventuelle Bedenken in einem Ausschussbericht niederlegen. Weiterhin soll das Parlament bei Kriegserklärungen mitentscheiden dürfen, sowie bei der Parlamentsauflösung und -einberufung. Die parlamentarische Kontrolle über Ausgabenentscheidungen soll verbessert werden, über Zielvorstellungen der Ministerien und ihre Jahresberichte soll das Parlament debattieren, ebenso über das jährliche Gesetzgebungsprogramm der Regierung. Gestärkt werden soll auch die parlamentarische Geheimdienstkontrolle durch das Intelligence and Security Committee. Das britische Parlament ist genauso wenig wie die Parlamente anderer Demokratien ein exaktes Spiegelbild der Gesellschaft. Ca. zwei Drittel der Abgeordneten ist zwischen 40 und 60 Jahre alt; die Parlamentarier sind überwiegend weiß und männlich. Dies ist nicht neu. Seit 1918 wurden 4.659 2008 fanden u.a. Anhörungen statt im Zusammenhang mit der Ernennung zum Chef der Statistikbehörde, zum Leiter der Kommission zur Überwachung der Qualität im Gesundheitspflegedienst, zum High Commissioner für Malawi und zum Vorsitzenden der Kommission zur Ernennung von Mitgliedern des House of Lords.
279
126
Parlamentarier gewählt. Nur 291 (6%) waren Frauen. Allerdings ist in den letzten Jahrzehnten die Zahl der weiblichen Abgeordneten durch die Frauenförderung der Labour Party sowie die Zahl der Vertreter ethnischer Minderheiten (auch diese sind vor allem Abgeordnete der Labour Party) deutlich gewachsen. Die Konservative Partei tut sich bei der Frauenförderung und bei der Förderung ethnischer Minderheiten schwerer. Der Versuch der Parteizentrale 2006, eine Auswahlliste (A-list) den Wahlkreisorganisationen vorzugeben, scheiterte. Nun gibt es den Versuch, mit einer Liste, die eine größere Zahl von Kandidatinnen und Kandidaten enthält.280 Die Wahlkreise sind gehalten, genausovielen Frauen wie Männern eine Chance zu geben. Die Konservativen eröffnen vorwiegend den Mittelschichtberufen der Wirtschaft den Weg ins Parlament, während die parlamentarische Basis der Labour Party insbesondere die im öffentlichen Dienst beschäftigten Mittelschichten bilden. Im November 2008 stimmte das Unterhaus zu, eine Speaker’s Conference einzuberufen, um die Gründe für die Unterrepräsentation von Frauen, ethnischen Minderheiten und Behinderten im Unterhaus zu untersuchen. Speakers’s Conferences sind selten. Dies ist erst die sechste, die jemals einberufen wurde.281 Der Sinn einer solchen Konferenz ist, dass eventuell kontroverse Veränderungen des Wahlrechts einvernehmlich von den Betroffenen (also den Parteien im Parlament) herbeigeführt werden sollen. An der Speaker’s Conference nehmen neben dem Parlamentspräsidenten (Speaker Michael Martin) 16 Abgeordnete, je vier aus vier Parteilagern282, teil. Allerdings besteht in der Politikwissenschaft Konsens, dass das Parlament weniger gegen die Unterrepräsentation der erwähnten Gruppen tun kann als die Parteien bei ihrer Kandidatenaufstellung.283
Evans 2008: 300. Die erste Speaker’s Conference 1916-17 machte den Weg frei für das Wahlrecht der Frauen über 30. (The Constitution Unit: Monitor 41, 2009, S. 1.) 282 Konservative, Labour, Liberal Democrats, kleine Parteien. 283 May 2004. 280 281
127
Tabelle 24: Wahljahr
1983 1987 1992 1997 2001 2005
Parlamentssoziologie I: Weibliche Abgeordnete und ethnische Minderheiten Zahl der weibl. Abgeordneten
% aller Abgeordneten
23 41 60 120 118 127
3,5 6,3 9,2 182 17,9 19,6
Zahl der Abgeordne % aller ten, die aus ethni Abgeordneten schen Minderheiten stammen 0 0 4 0,6 6 0,9 9 1,4 12 1,8 15 2,3
Quelle: Peele 42004: 204f. und eigene Ergänzungen.
Tabelle 25:
Parlamentssoziologie II: Berufe 2001 in % der Abgeordneten der Parteien
Berufsgruppe Juristen Bildungswesen Verlage und Journalismus Verwaltung Militär Andere akademische Berufe Unternehmer und leitende Angestellte Andere Wirtschaftsberufe Andere Angestelltenberufe Politiker und ihre Mitarbeiter Arbeiter Andere
Konservative 19 4 8 1 7 8 29 7 1 11 1 4
Labour 7 24 8 7 <1 5 4 4 18 11 12 0
Liberal Democrats 11 23 7 6 0 11 25 2 2 7 2 2
Quelle: Kingdom ³2003: 375.
Die britischen Parlamentarier sind nicht mehr „ehrenwerte Gentleman“, die quasi ehrenamtlich und nebenbei sich der Politik widmen. Aus dieser Zeit stammt noch die Gewohnheit, Parlamentssitzungen an den meisten Tagen erst relativ spät am Vormittag oder erst nachmittags beginnen zu lassen. Auch in Großbritannien hat sich seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts allmählich der Typus des Berufspolitikers durchgesetzt. Der Anteil 128
der Abgeordneten, die einen Beruf außerhalb der Politik ausübten, bevor sie in das Unterhaus gewählt wurden, fiel von 80% (1951) auf 40% (1992).284 2008 erhielten die Unterhausabgeordneten ein Jahressalär von £75.000. Es wächst analog der Einkommensverbesserungen der Beamten des höheren Dienstes. Das Unterhausgehalt des Premierministers ist etwas mehr als dreimal so hoch, das eines Kabinettsministers oder des seit 1937 besoldeten Oppositionsführers mehr als doppelt so hoch. Hinzu kommen eine Reihe von Vergünstigungen, wie die Erstattung der Bürokosten (einschließlich der Mitarbeiter), Reisen von und zum Wahlkreis und Wohnungskosten in London für diejenigen Abgeordneten, die weiter entfernte Wahlkreise vertreten. Seit dem Inkrafttreten des Freedom of Information Acts sind die Abrechnungen der Abgeordneten der Öffentlichkeit zugänglich. Durchschnittlich erhält ein Abgeordneter im Unterhaus für seine Aufwendungen £118.000. Die Mitglieder des House of Lords erhalten kein der Entlohnung der Mitglieder des Unterhauses vergleichbares Einkommen. Seit 2005 beträgt ihr Sitzungsgeld (nur für Anwesende) £75, die Erstattung für Bürokosten £65 und die Übernachtungspauschale für Mitglieder des Oberhauses von außerhalb Londons £150.
2.2 Oberhaus Das Oberhaus war traditionell die Vertretungskörperschaft des Erbadels, ergänzt durch politische Ernennungen (seit 1958 konnten solche Erhebungen in den Adelsstand auf die Lebenszeit des Amtsinhabers begrenzt werden), sowie Mitglieder des Königshauses, oberste Richter (Law Lords) und Bischöfe und Erzbischöfe der anglikanischen Kirche. Die über Tausend Mitglieder des Oberhauses waren nie alle zusammen anwesend, das Oberhaus hätte auch nur Sitzplätze für weniger als die Hälfte von ihnen gehabt. Politisch aktiv waren vor allen Dingen die früheren Politiker. Zwölf auf Lebenszeit ernannte Law Lords nahmen die Funktion eines obersten Appellationsgerichts des Vereinigten Königreiches wahr. Das Oberhaus hatte durch seine Zusammensetzung immer eine eher konservative parteipolitische Präferenz und kümmerte sich in besonderem Maße um die Interessen des ländlichen
284
Foster 2005: 139.
129
Großgrundbesitzes. Allerdings wurde dies in der täglichen Arbeit des Oberhauses weniger deutlich. Einerseits weil unter den aktiven Peers es viele gab und noch immer gibt, die keiner parteipolitischen Richtung zuzuordnen sind (sogenannte cross-bencher, die sich also weder auf den Regierungs- noch den Oppositionsbänken sehen). Andererseits aber auch, weil das House of Lords sich darauf konzentriert, die oft in Eile entstandene Gesetzgebung im Unterhaus zu korrigieren und sich auch Themen (wie „europäische Integration“) annimmt, die im Unterhaus über weite Strecken marginal bleiben. Das Oberhaus war also trotz seiner undemokratischen Bestellung (durch Geburt oder durch Ernennung) keineswegs funktionslos und selbst konservative Politiker, wie Margaret Thatcher, konnten nicht auf eine bedingungslose Zustimmung der Oberhausmehrheit zu ihren Entscheidungen vertrauen285. Seit 1999 versuchte Premierminister Tony Blair, das Oberhaus zu reformieren, wobei ein Ziel lautete, die Mitgliedschaft durch Geburt zu beenden und ein neues, demokratischeres Berufungsverfahren zu finden. In einem ersten Schritt wurde die Mitgliedschaft im Oberhaus zahlenmäßig auf die Hälfte reduziert, weil die Zahl der Vertreter des Erbadels von 636 auf 92 verringert wurde. Die 92 Übergangsvertreter des Erbadels wurden von den 636 Erblords gewählt. Seit dem Jahre 2000 gab es regelmäßige „Nachwahlen“ für diesen Adelsanteil des Oberhauses, wenn einer der Erblords starb, wobei die Wähler nun aus dem Kreis der verbliebenen 92 Erblords kommen mussten. Diese Anomalie sollte eigentlich rasch verschwinden, hielt sich aber bisher, weil eine Gesamtreform des House of Lords umstritten bleibt. Tony Blair wehrte sich gegen eine Volkswahl des House of Lords, und das Unterhaus sprach sich im März 2007 mit seiner Mehrheit für ein gewähltes Oberhaus aus. Das Oberhaus hielt mehrheitlich nichts von dieser Entscheidung, weil es als Folge eine Verdoppelung der parteipolitischen Konfrontation im Unterhaus erwartet und einen Verlust der deliberativen und investigativen Funktionen des Oberhauses. Mit dem Constitutional Reform Act des Jahres 2005 wurde festgelegt, dass ab 2009 die Law Lords ersetzt werden durch einen Supreme Court, dem 12 auf Lebenszeit ernannte oberste Richter angehören sollen. Ausgesucht werden diese, ebenso wie der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des Gerichts, in einem Konsultationsprozess des Lord Chancellors mit
285
Beavan 1984; Shell 1985.
130
dem Judicial Appointments Committee. Der Premierminister empfiehlt die entsprechenden Kandidaten der Königin zur Ernennung. Supreme CourtRichter können durch eine Entscheidung beider Häuser des Parlaments ihres Amtes enthoben werden. Der Lord Chancellor spricht bei Geschäftsordnungsfragen des Gerichts mit und ist für seine räumliche Unterbringung und seine Finanzausstattung zuständig. Der Sitz des Supreme Court ist die Middlesex Guildhall in London. Im Juli 2008 veröffentlichte das für Verfassungsfragen zuständige Justizministerium das fünfte Weißbuch zur Reform des House of Lords und legte dabei die erwähnte Unterhausabstimmung (337 zu 224 Stimmen für eine gewählte Kammer) zugrunde. Eine parteiübergreifende Arbeitsgruppe, geleitet vom Lord Chancellor, die seit 2006 zusammenarbeitet, hatte sich darauf geeinigt, dass ein gewähltes Oberhaus nach einem anderen Wahlsystem als das Unterhaus zu wählen sei (ganz oder größten Teils). Es sollte eine längere Amtszeit als das Unterhaus haben (12-15 Jahre), mit Drittelerneuerung, aber ohne die Möglichkeit der Wiederwahl. Weitere wichtige Details, wie Wahlsystem, Größe des Oberhauses oder Wahltermin, blieben offen. Tabelle 26:
Die Parteien im House of Lords (Stand: 30.6. 2008)
Gruppierung Konservative Labour Liberal Democrats Crossbencher Bischöfe Andere Insgesamt
Ernannte Lords (Life Peers) 154 211 71 170 0 11 617
Erblords (Hereditary Peers) 48 4 5 33 0 2 92
Bischöfe
Insgesamt
0 0 0 0 26 0 26
202 215 76 203 26 13 735
Quelle: http://www.parliament.uk/directories/house_of_lords_information_office/
Die Mehrheit der heutigen Lords wird ernannt, wobei die Vorschläge von der von der Regierung eingesetzten House of Lords Appointments Commission gemacht werden. Faktisch bedeutet dies aber ein Zugriffsrecht der Regierung bei Ernennungen, auch wenn die Vorschläge der Opposition mit bedacht werden. Seit 2005 behielt sich Tony Blair zudem vor, jährlich 10 Ernennungen alleine zu entscheiden. Für den Premierminister erweitert die Bestellung des House of Lords durch Ernennung nicht nur seine Macht der 131
parteipolitischen Patronage, er kann mit diesem Verfahren auch die Konvention umgehen, dass Minister nur aus dem Parlament hervorgehen dürfen. Möchte er eine Persönlichkeit in seine Regierung berufen, die keinen Sitz im Unterhaus errungen hat, muss er sie lediglich auf Lebenszeit in den Adelsstand erheben. Als Mitglied des House of Lords ist diese dann Parlamentsmitglied. Der Premierminister kann kein großes Interesse daran haben, das House of Lords etwa durch eine Direktwahl legitimatorisch aufzuwerten und sich dadurch eventuell einen politischen Gegenspieler zu schaffen. Seit 1949 (Parliament Act) hat das House of Lords nur noch das Recht, Gesetze (mit Ausnahme von Finanzgesetzen) durch sein Veto 13 Monate aufzuhalten. Dies kann allerdings mit Geschick durchaus zur Gesetzesblockade eingesetzt werden. Das Oberhaus beachtet dabei die Salisbury Convention, nach der Gesetzesvorhaben, die im Detail auf Wahlversprechen beruhen, nicht blockiert werden. Seit der Oberhausreform von 1999 verfügt keine der politischen Parteien mehr über eine Oberhausmehrheit. Dies hat das House of Lords ermutigt, eine aktivere politische Rolle zu übernehmen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass das Unterhaus häufiger als früher die Einsprüche des Oberhauses akzeptiert und die entsprechende Gesetzgebung nicht weiterverfolgt, auch wenn es sich um wichtige politische Themen handelt. Zwischen 1999 und 2006 setzte sich bei Einsprüchen des Oberhauses die Regierung nur in 42,3% der Fälle mit ihrer ursprünglichen Intention durch, auch bei wichtigen Gesetzgebungsvorhaben der Regierung unterlag diese in 40,8% der Streitfälle. Tabelle 27:
Zahl und Ergebnisse der Einsprüche des House of Lords
Ergebnisse Die Regierung setzt sich durch. Die Regierung macht geringe Zugeständnisse. Regierung und Oberhaus treffen sich in der Mitte. Das Oberhaus setzt sich mit geringen Zugeständnissen durch. Das Oberhaus setzt sich durch. Insgesamt Quelle: Russell/Sciara 2008: 575.
132
Zahl der Einsprüche 118 46 21 42 47 274
in % 42,3 16,8 7,7 15,3 17,9 100
Tabelle 28:
Ergebnisse der Einsprüche des House of Lords nach der Bedeutsamkeit des jeweiligen Gesetzgebungsvorhabens
Bedeutsamkeit der Gesetzgebung gering mittel hoch Insgesamt
Regierung gewinnt 27 60 77 164
House of Lords gewinnt 12 45 53 110
Insgesamt 39 105 130 274
Erfolge der Lords in % 30,8 42,9 40,8 40,1
Quelle: Russell/Sciara 2008: 577.
Der Premierminister hat aber, trotz der Einsprüche des Oberhauses, nicht grundsätzlich die Blockade seiner Gesetzgebungsvorhaben zu fürchten. Durch die gegenwärtige Konstruktion der Zweiten Kammer wachsen ihm sogar weitere Möglichkeiten der politischen Einflussnahme durch Ämterpatronage zu. Das Unterhaus ist dem Oberhaus in der Gesetzgebung de jure eindeutig „übergeordnet”. Eine Grenze findet sich für die Dominanz des Unterhauses gegenüber dem Oberhaus im Gesetzgebungsprozess, wenn es um die Reform des Oberhauses geht, der dieses zustimmen muss. De facto ist die Rolle des Oberhauses im Gesetzgebungsprozess aber nicht unbedeutend und wird von der politikwissenschaftlichen Literatur häufig unterschätzt.
3
Civil Service
Westminster und Whitehall werden auf der Suche nach einer Kurzformel für traditionelles Regieren in Großbritannien oft in einem Atemzug genannt. Whitehall ist das Synonym für die Londoner Ministerialbürokratie, deren Büroräume sich mittlerweile auch längst außerhalb dieses historischen Londoner Bezirks befinden. Der Name „Whitehall“ wurde von Heinrich VIII im 16. Jahrhundert erfunden. Er beschlagnahmte York House, das Stadthaus des in Ungnade gefallenen Kardinals Thomas Wolsey, benannte es in Whitehall um und erweiterte es, bis es auf der einen Seite an die Themse und St. James Park, sowie an Great Scotland Yard und Downing Street auf der anderen stieß. Erst im 19. Jahrhundert, als Großbritannien ein Weltreich verwaltete,
133
bürgerte sich der in der Verwaltungspraxis Indiens entstandene, heute gängige englische Begriff „Civil Service“ für die Ministerialverwaltung ein286. Aus der indischen Erfahrung kam auch der entscheidende Anstoß zu einer Professionalisierung des Civil Service im 19. Jahrhundert. Charles Trevelyan and Sir Stafford Northcote kritisierten auf dem Hintergrund ihrer Kenntnis der effizienteren Verwaltung Indiens durch die East India Company die Rekrutierungspolitik für den Civil Service, der aus ihrer Sicht den Unfähigen und Arbeitsunwilligen (Adligen) dank entsprechender Patronage Unterschlupf bot. Sie schlugen deshalb einen offenen Wettbewerb als Rekrutierungsinstrument vor. Im Wettbewerb sollten sich die Fähigsten beweisen. Die beiläufige Staatsverwaltung durch „gentlemen“ von Rang, so die Implikation, sollte ersetzt werden durch eine neue Kategorie von Spitzenbeamten, die ihre Position in erster Linie einer hervorragenden Ausbildung, in der Praxis also einer Ausbildung vorwiegend in Oxford und Cambridge, verdankten. Es dauerte aber noch bis 1870, bis sich dieses meritokratische Prinzip gegen das Ernennungsprinzip weitgehend durchgesetzt hatte.287 Tabelle 29:
Beschäftigte im Civil Service
Jahr 1797 1815 1851 1871 1891 1901 1922 1943 1979 1986 2001
Zahl der Civil Servants 16 267 24 598 39 147 53 874 79 241 116 413 317 721 710 600 732 300 594 400 506 000
Quelle: Drewry/Butcher 1988: 48. Peele 42004: 182.
Mit der Ausweitung der Staatstätigkeit im 19. und 20. Jahrhundert wuchs die Zahl der Beschäftigten im Civil Service. Erst in der Regierungszeit Margaret 286 287
Hennessy 1989: 17f. Drewry/Butcher 1988: 47.
134
Thatchers (1979-90) begann ein Umbau des Regierungsapparats, der für den Civil Service ein Drittel weniger Personal erforderte. Mit dem Amtsantritt Margaret Thatchers wird eine neue Ära für den Civil Service eingeläutet, die im folgenden noch genauer zu betrachten sein wird. Sie beendet die „Herrschaft“ des traditionellen Civil Service. Der moderne Civil Service, der sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts herausbildete, war trotz wiederholter Reformversuche und den Notwendigkeiten sich an die Herausforderungen zweier Weltkriege anzupassen, geprägt von Kontinuität in wesentlichen Charakteristika. Zu diesen gehören: (a) Soziale Exklusivität und Homogenität (b) Parteipolitische Neutralität (c) Die Vormachtstellung des Generalisten (d) Die Geheimhaltung (e) Das Regieren nach den Regeln der Civil Service Community. (a) Soziale Exklusivität und Homogenität bedeuten in der Praxis die Dominanz der Absolventen der Universitäten Oxford und Cambridge. Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre stellten diese regelmäßig 75 bis 85% des Nachwuchses der Spitzenbeamten. Politische Bemühungen um eine Öffnung des Civil Service ließen deren Anteil in den 1970er Jahren kurzfristig auf 50% sinken. Anfang der 1980er Jahre hatte ihr Anteil bereits wieder 75% erreicht. Oxbridge-Absolventen, meist mit einem entsprechend homogenen Hintergrund der Schulbildung in Privatschulen bzw. privaten Internaten, wie Charterhouse, Eton, Harrow, Merchant Taylor‘s, Rugby, Shrewsbury, St. Paul‘s, Westminster oder Winchester, zeigten die größte Neigung, sich für Jobs in der Ministerialbürokratie zu bewerben und hatten auch bessere Erfolgsquoten als die Absolventen anderer Universitäten.288 (b) Parteipolitische Neutralität. Im Unterschied zu deutschen Beamten ist den britischen die parteipolitische Tätigkeit untersagt. Kein britischer Beamter in einer Spitzenposition kann Mitglied des Unterhauses oder des Europaparlaments werden. Beamten mit einer gewissen Distanz ihrer Aufgaben zu den
288
Vgl. Sturm ²1997: 250ff. und zum Folgenden.
135
Regierungsaufgaben ist kommunalpolitisches Engagement möglich. Vom Beamten wird politische Neutralität erwartet. Das heißt nicht, dass er keinen politischen Standpunkt haben soll. Es bedeutet aber, dass er diesen Standpunkt jeder Regierungskonstellation anzupassen vermag und die Position der gegenwärtigen Regierung ebenso vehement vertritt wie die der Vorgängerregierung. Intern soll der Civil Service die Freiheit nutzen, möglichst umfassend und ohne parteipolitische Rücksichten Rat zu geben. Die politischen Schlussfolgerungen sind aber den dem Parlament und der Öffentlichkeit verantwortlichen Politikern vorbehalten. (c) Die Vormachtstellung der Generalisten. Das gentleman-Ideal lebt in veränderter Form im allgemein gebildeten Beamten fort. Allgemeinbildung bedeutet nicht juristische Vorbildung, sondern die Fähigkeit, den „gesunden Menschenverstand” zu gebrauchen. Diese Befähigung wird häufig durch ein geisteswissenschaftliches Studium, beispielsweise der Archäologie oder der Geschichte, erworben. Der britische Beamte ist „Generalist”und im positiven Sinne „Amateur”. Eine Professionalisierung des öffentlichen Dienstes, wie im deutschen Fall mit der Durchsetzung des Juristenmonopols, fand nicht statt. Tauchen juristische Fragen auf, werden entsprechend ausgebildete Berater herangezogen; eine Bewertung ihrer Ratschläge nach allgemeinpolitischen Kriterien bleibt von der juristischen Fachmeinung unabhängig. (d) Aus angeblicher Furcht vor deutschen Spionen entstand 1911 in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die Tradition der absoluten Geheimhaltung des Regierungshandelns, weitgehend selbst gegenüber dem Parlament. Der Official Secrets Act erlaubte bis 1989, als er etwas formalisiert, aber nicht unwesentlich gelockert wurde, jegliche Regierungsinformation als geheim zu klassifizieren, deren Veröffentlichung nicht ausdrücklich von der Regierung genehmigt worden war. Auch wenn diese strengen Geheimhaltungsregeln durch von der Regierung strategisch gewollte oder ungewollte Fälle der Weitergabe von Informationen an die Öffentlichkeit (sogenannte „leaks”) gelegentlich durchbrochen wurden, erlaubte der Official Secrets Act ein Abschirmen der Regierungstätigkeit und stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl des Civil Service.
136
(e) Der Civil Service Community wurde nachgesagt, dass sie wie eine verschworene „Dorfgemeinschaft” funktioniere, mit der Fähigkeit, durch Vernetzung und die Kontrolle wesentlicher Informationen, die politischen Entscheidungsträger zu manipulieren. Die britische Öffentlichkeit hat die humorvolle Aufarbeitung dieses Tatbestandes im Fernsehserienklassiker der 1980er Jahre, „Yes Minister”, in allen Details nachvollziehen können.289 Allerdings hat dieser Selbstbezug auch dazu geführt, dass der Civil Service, vor die Wahl gestellt, die eigenen Werte, seinen Einfluss und seine Geschlossenheit zu sichern oder dem widersprechende, aber angebrachte Entscheidungen auf bestimmten Politikfeldern zu befürworten, stets dazu neigte, ersteren Priorität zu geben.290 In zwei Reformschritten, in den Regierungszeiten Margaret Thatchers, John Majors und Tony Blairs hat sich die Rolle des Civil Service wesentlich verändert. Tabelle 30:
Der Civil Service im Wandel Traditioneller Civil Service
Soziale Exklusivität und Homogenität
Oxbridge
Parteipolitische Neutralität Vormachtstellung der Generalisten Geheimhaltung
unbedingt
Regieren nach den Regeln der Civil Service Community
289 290
durch Rekrutierung Official Secrets Act erfolgreich
Reformen der Regierungen Thatcher und Major Financial Management Initiatives Auslagerung und Next Steps special advisers bleibt erhalten Reform des Official Secrets Act 1989 Misstrauen gegenüber dem Civil Service
Reformen der Regierung Blair Service First Civil Service Reform JoinedUp Govern ment „Politisierung” des Civil Service bleibt erhalten Freedom of Infor mation Act 2000 Umschreiben der Regeln. Civil Service eher Implementie rer als Gestalter
Lynn/Jay 1984. Heclo/Wildavsky ²1981: l.
137
Die soziale Exklusivität des Civil Service und vor allem sein Wertesystem wurden in der Regierungszeit Margaret Thatchers in Frage gestellt, als parallel zu den Strukturen des Civil Service ein Efficiency Office eingerichtet wurde, das betriebswirtschaftliche Kriterien für den Erfolg des Civil Service definierte. Mit den Financial Management Initatives wurde versucht, KostenNutzen-Erwägungen bei begrenzten Budgets zum zentralen Merkmal der Mittelverwendung in den Ministerien zu machen, also politische Programme im wesentlichen zu „monetarisieren”. Die zweite Phase der konservativen Verwaltungsreform reichte noch weiter. Sie stellte die Homogenität des Civil Service dauerhaft in Frage, weil sie ihn teilweise durch Auslagerung und Privatisierung zerschlug und teilweise mit der Wahrnehmung des Managements politischer Vorgaben fesselte. 1995 bis 1997 wurde die Zahl der Spitzenbeamten um 20% reduziert.291 Kernpunkt der Reform war das Next Steps Konzept, ebenfalls entwickelt vom Efficiency Office, das Marktbeziehungen in den Civil Service einführte. Funktionsbereiche des Öffentlichen Dienstes wurden bei der Umsetzung dieses Konzeptes aus der Verantwortung von Ministerien herausgenommen und teilautonomen Einheiten überlassen, denen gewisse Ziele und ein begrenztes Budget vorgegeben wurden. Staatliche Verwaltung wurde so zu ca. 80% „government by contract”. Das Verwaltungshandeln wurde vom traditionellen Civil Service-Ethos entkoppelt und ausgerichtet auf die Maximierung einzelner, vom jeweiligen Minister vorgegebener politischer Ziele. Von der Zielerreichung hängt auch die Gehaltsstruktur der Behörde und die Zahl ihrer Mitarbeiter ab. Civil Servants sind keine Politikberater und -vorbereiter mehr, sie sind Budgetmaximierer auf eigene Verantwortung und mit der Möglichkeit, durch effiziente Implementation ihren eigenen Nutzen (Karriere) zu mehren. Die Fortsetzung der Reformen der öffentlichen Verwaltung, die mit den Next Step-Initiativen der Regierung Major begonnen hatten, wurde durch New Labour durch Dritte Weg-Rhetorik bereichert (z.B. „Service First“ statt „Next Steps“). Den Civil Servants wurde mit dem Civil Service Reform Programme von 1999 noch einmal der Effizienzgedanke ins Stammbuch ge-
„The end of generalists as a class was a necessary step on the path to better policymaking.” (Wilson 2006: 160f.).
291
138
schrieben.292 Die Grundidee des „government by contract“, also der Zielvereinbarungen von politischen Entscheidern und der ausführenden Verwaltung, blieb erhalten. Ebenso die Strategie der Verlagerung der Politikumsetzung in nachgelagerte Agencies und den Markt unter Beibehaltung der zentralstaatlichen Kontrolle. An die Stelle ökonomischer (bzw. marktlicher) Lenkungskriterien sollte nun das kommunitaristische Ideal der gemeinsamen Verpflichtung zur Zielerreichung, das Joined-up-Government293, treten. Dies öffnete auch den Weg zur Einbeziehung des „Dritten Sektors” in die staatliche Aufgabenerfüllung im Rahmen eines sogenannten Compact (eines nationalen Übereinkommens, das 1998 zwischen der Regierung und den Vertretern des Dritten Sektors gefunden wurde).294 Vertrauen sollte Marktzwänge ersetzen. Legitimatorisch schien diese Strategie der Argumentation der Konservativen Regierungen überlegen, da sie das Element der gesellschaftlichen Selbstverantwortung zur bereits mit der Anerkennung einer neutral scheinenden „Sachzwanglogik” erreichten „Entpolitisierung”295 politischen Entscheidens hinzufügte. Kooperation sollte neben eher technische Verbesserungen wie Widerspruchsfreiheit politischer Initiativen, bessere Ressourcennutzung, Synergieeffekte und one-stop-shop-Prinzip treten.296 Die Umsetzung der neuen Steuerungsphilosophie sollte idealtypisch in zwei Schritten organisierbar sein. Einer radikalen Aufgabenkritik hätte eine klare Definition neuer Ziele und die Verpflichtung der Verwaltung, diese Ziele zu erreichen, folgen sollen. Zieldefinition und Zielerreichung hat man sich responsiv vorzustellen, das heißt gekennzeichnet durch Kundenorientierung (Kunde ist der Bürger), das Einbeziehen gesellschaftlicher Netzwerke, systematisches Politiklernen und klare Rechenschaftslegung. Das Steuerungsdilemma, das sich bald ergab, ist systembedingt. Die Inputs der gesellschaftlich Beteiligten bleiben unterkomplex angesichts sich 1. stronger leadership with a clear sense of purpose; 2. better business planning; 3. sharper performance management; 4. dramatic improvement in diversity; 5. more open service to bring in and bring on talent; 6. a better deal for staff. Vgl. Bovaird/Russell 2007: 310. 293 Bogdanor 2005. 294 In der Literatur wird das Ergebnis dieses Experiments allerdings skeptisch beurteilt: „The government’s efforts to expand its relationship with the TS (Third Sector, R.S.) have been problematic, with considerable gaps between policy aspirations and implementation.” (Kelly 2007: 1014). 295 Burnham 2001. 296 Pollitt 2003: 35. 292
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rasch wandelnder politischer Herausforderungen und komplizierter Sachfragen. Damit wird die Zieldefinition asymmetrisch zugunsten der Regierung und nicht selten im einzelnen unrealistisch. Die strategische Antwort darauf hätte von Seiten der Regierung Blair sein müssen, wenige aber glaubhafte und richtungsweisende Ziele zu definieren, auch wenn deren Erreichen nicht immer exakt nachprüfbar gewesen wäre. Was so an Rechenschaftslegung verlorengegangen wäre, hätte aber die Flexibilität politischen Handelns und die gesellschaftliche Autonomie im kommunitaristischen Sinne und damit auch das politische Vertrauen gestärkt. Die Regierung Blair ging aber den umgekehrten Weg. Sie machte das Erreichen gut kontrollierbarer Ziele zum Hauptzweck ihrer politischen Steuerung. Je mehr Ziele erreicht werden können, desto erfolgreicher ist die Politik. Hieraus ergibt sich logisch eine Steuerungsstrategie, die, statt auf Vertrauen zu setzen, ein Übermaß an kleinräumigen Kontrollzielen definiert und die der Illusion anhängt, die Politik insgesamt ließe sich quasi wertneutral in Zielvorgaben auflösen, die auch noch über die Zeit verhältnismäßig stabil bleiben müssen, um einigermaßen geordnetes Verwaltungshandeln, das dem Bürger ein gewisses Grundvertrauen in die Berechtigung staatlicher Eingriffe lässt, zu ermöglichen. Vertrauen und Kontrolle geraten in einen Widerspruch. Die Rhetorik des Vertrauens bei gleichzeitiger Praxis ausufernder und effizienzmindernder Detailkontrolle kennzeichnet das Steuerungsdilemma der Regierungspraxis Tony Blairs. Plausibel war angesichts der planerischen Ambitionen der Verwaltungsführung der Rückgriff auf das zero-base budgeting, also das Infragestellen bisheriger Ausgabenverpflichtungen, zum Beginn der jeweiligen Amtsperioden Tony Blairs. Die Comprehensive Spending Reviews dienten der Überprüfung dieser Finanzierungsentscheidungen und damit sowohl der Vergewisserung über die zur Verfügung stehenden Ressourcen als auch der Kontrolle ihrer effizienten Verwendung. Als weitaus komplexerer und komplizierterer Prozess erwies sich aber die danach im Laufe der Legislaturperiode zu organisierende Umsetzung neuer und alter Politikziele. Aus der Aufgabenkritik folgend sollten Politikziele definiert werden, mit der Intention, die Arbeit der einzelnen Ministerien zu steuern und durch zentrale Politikkontrolle die Effizienz des Regierens zu erhöhen. Die einzelnen Ministerien schlossen zu diesem Zweck mit der Treasury Public Service Agreements, also vertragliche Verpflichtungen zur politischen
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Leistungserbringung. Diese wurden veröffentlicht. Sie nennen einzelne konkrete Zielvorgaben (targets), die im Zeitverlauf zu erfüllen sind. Im Juli 2000 waren dies 600. Bei der Formulierung von targets wird der Zielkonflikt zwischen Kontrolle und Effizienz ebenso deutlich, wie die Tatsache, dass die Vertrauensrhetorik des joined-up-government in erster Linie Fassade blieb. Eine Überfülle an targets bereitet nicht nur Abstimmungsprobleme bei der Zielorientierung, sondern auch praktische Probleme der Dokumentation der Zielerreichung, der Orientierung der politisch Handelnden und der Prioritätensetzung, sowie bei der Übernahme von Verantwortung für Fehlleistungen.297 Als relativ willkürliche Hilfskonstruktion bei der Prioritätensetzung dienten sogenannte „flagship targets”, die aber eher mit Blick auf ihre Öffentlichkeitswirksamkeit als in Bezug auf Aufgabenerfüllung ausgewählt wurden. Im Hinblick auf die Zielerreichung wirkten die targets nicht selten kontraproduktiv. Deutliche Fortschritte, zum Beispiel bei den Schulleistungen298, erschienen als Defizite, wenn die targets zu optimistisch gesetzt wurden. Fortschritte bei der Überwindung von Defiziten eines Politikfelds (z.B. kürzere Warteschlangen im Gesundheitswesen) wurden erkauft durch neue Probleme (eine Welle von Infektionen).299 Hinzu kommt das Problem, dass das „targeting” die Moral und die Verwaltungskultur der öffentlichen Dienstleister radikal herausfordert. Das Selbstverständnis des Civil Service ist noch immer viel stärker am politischen Gestalten als an den Notwendigkeiten und der Technik der Politikimplementation orientiert. Aus der Insider-Perspektive wurde berichtet: „Most civil servants are not interested in delivery. They like to be involved in policy making, but delivery and measuring the success of the policies are seen to be lower grade activities. It is therefore a sign of failure to be sent, say, to the Croydon immigration centre.”300 Die Herausforderung solcher Denkweisen mag ja ein gewünschter Effekt sein. Nicht zu leugnen ist aber die Ressourcenverschwendung durch den Aufbau einer neuen Überwachungsbürokratie. Kritiker sprechen von einer „Schnüfflerherrschaft” (snoopocracy) in der Regierungszeit Blair und wenden ein, dass das perfekte Feststellen von Mängeln nutzlos sei, wenn diese nicht behoben werden. Ausführlicher James 2004. Garner 2004: 16. 299 The Economist, 23.4. 2005: 16. 300 Richards 2004: 31. 297 298
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Problematisch ist das „targeting” auch deshalb, weil es politische Inhalte, die sich nicht in quantifizierbaren Vorgaben ausdrücken lassen, tendenziell benachteiligt. Umständlich wird diese Art der Politiksteuerung, wenn – wie im Vereinigten Königreich geschehen – das Postulat der Einbeziehung der Betroffenen ernst genommen wird. Je zahlreicher die Zielvorgaben, desto mehr Ansatzpunkte bieten sich für Einsprüche und Widerstand. Angesichts des Aufwands der Prozeduren zur Berücksichtigung der Einsprüche war es nicht selten, dass das Vermeiden solcher Einsprüche zum unausgesprochenen Politikziel wurde.301 Die Debatte um den Sinn und die Effizienz von Zielvorgaben als politisches Steuerungsinstrument wurde nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Öffentlichkeit und mit kritischem Unterton sogar in der Regierung Blair geführt. Ein Minister wurde mit der Bemerkung zitiert: „The targets were a good idea at first but have become a menace. They were not drawn up in conjunction with frontline staff. Priorities were distorted in order to meet them.”302 Und im Economist303 war zu lesen: „An over emphasis on incomprehensible or irrelevant targets hasn`t helped, while the inadequacy of the techniques used to measure public service outputs has made the picture seem bleaker than it is.” Christopher Hood hat nachgewiesen, dass es bei den Betroffenen des „target and terror”-Regimes, durchaus Verhaltensweisen gab, die der Umgehung von Planvorgaben in der Sowjetunion ähnelten.304 Die Regierung Blair trug den Schwierigkeiten des „targeting” zumindest teilweise Rechnung durch die Reduktion der Ziele zunächst auf 160 und dann 2003/04 auf 130. Allerdings zögerte sie auch nicht, Maßstäbe des Erreichens bestimmter Ziele neu zu definieren, um ihre politische „Erfolgsquote” zu verbessern. In der Presse wurde in diesem Zusammenhang auf eine „Grauzone” verwiesen, die sich mit der Letztverantwortung des Schatzkanzlers für offizielle Statistiken verbindet: „The worry is that the official figures start to reflect a parallel world created by adminstrators striving to hit the target.”305
Mather 2003; Ling 2002. Russell/Grice 2004. 303 The Economist, 26.3.2005: 35. 304 Hood 2006. 305 The Economist, 26.3.2005: 35. 301 302
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Die Politisierung des Regierungsunterbaus begann nicht mit der Amtsübernahme Tony Blairs. Schon Margaret Thatcher hielt „unpolitische“ Entscheidungsträger an der Regierungsspitze für eine Fiktion. Sie war die erste, die die misstrauische Frage auch an Karrierebeamte stellte, ob sie denn „one of us“ seien. Dies bezog sich weniger auf parteipolitische Zugehörigkeit als auf vorhandenen Reformwillen im Geiste der Premierministerin und ihre Erwartungen an effizientes Regieren. In ihren Memoiren skizziert Margaret Thatcher306 ihre Haltung zum Civil Service so: „I took a close interest in senior appointments in the civil service from the first, because they could affect the morale and efficiency of whole departments. I was determined to change the mentality exemplified in the early 1970s by a remark attributed to the then head of the civil service, that the best that the British could hope for was the ‚orderly management of decline‘“. Noch Premierminister Harold Wilson war stolz darauf, dass er mit dem Apparat seines Vorgängers weiterarbeitete.307 Er hielt dies für eine gute britische Tradition. Hiervon ist seit nunmehr 25 Jahren keine Rede mehr. Tony Blairs Regierungshandeln geriet in ein Organisationsdilemma deshalb, weil er auf der einen Seite das aus der Sicht der „Dritte Weg“-Gewissheit und der Erfolgsbedingungen seiner Kommunikationsstrategie einzig Richtige tat, nämlich die Spitze des Civil Service weiter zu „politisieren“. Er unterschätzte aber andererseits sowohl die Beharrungskraft der Traditionen des Civil Service, zu deren Hüter sich Öffentlichkeit und Parlament machten, als auch die Widerstände des „bürokratischen Apparats“ gegen eine noch weitergehende Aushöhlung seiner einstmals zentralen Rolle bei der Politikvorbereitung und bei der Politikimplementation. Zum Stein des Anstoßes wurde die Praxis der Ernennung von „special advisers“. Im Unterschied zu Beamten sind „special advisers“ mit Zeitverträgen im Civil Service beschäftigt und nicht an die politischen Neutralitätsregeln Whitehalls gebunden. In der Regierungszeit Tony Blairs hat sich deren Rolle auch in den Führungsspitzen der traditionellen Verwaltung rasch und deutlich erweitert. Als John Major, der Vorgänger Blairs, sein Amt abgab, hatte er 32 special advisers eingestellt. Acht dieser Mitarbeiter waren in Downing Street 10 beschäftigt. New Labour begann seine Regierungszeit mit 60 special advisers,
306 307
Thatcher 1993: 46. Wilson 1985: 15.
143
2003 waren es schon 81. 26 arbeiteten im Amtssitz des Premierministers, die anderen in den Ministerien.308 Zum Ende der zweiten Amtszeit Tony Blairs schien immer deutlicher zu werden, dass die Regierungspraxis die traditionelle Trennlinie zwischen Civil Service, also Gemeinwohlorientierung der Staatsverwaltung, und parteipolitischer Programmatik und Politikpräsentation zu verwischen drohte.309 Kritiker sehen in den special advisers „the final nail in the coffin of the civil servant’s responsibility to provide professional and independent advice.”310 Tony‘s „Günstlingswirtschaft“, die den Wettbewerb um die Sympathie des Premierministers förderte, anstatt die staatliche Aufgabenerfüllung zu optimieren, im Zusammenhang mit der „sinistren“ Rolle von Blairs Pressechef Alastair Campbells galten in der britischen Öffentlichkeit geradezu als Antithese von „open government“ und staatlicher Leistungsoptimierung. Der Wicks Report (= Bericht des Committee on Standards in Public Life) sollte eine Stellungnahme zu der entscheidenden Trennlinie der Aufgaben des Civil Service und der „special advisiers“ formulieren. Der Wicks Report empfahl „special advisers“ aus dem allgemeinen Civil Service herauszunehmen und sie zu einer eigenständigen Gruppe der politischen Entscheider zu machen. So sollte das öffentliche Vertrauen in die traditionelle Neutralität des Civil Service wiederhergestellt werden, und so sollten auch die Möglichkeiten politischer Manipulation verringert werden. Die Regierung Blair reagierte auf den Wicks Report mit der Ernennung eines unabhängigen Ethik-Beraters, der korruptem Verhalten vorbeugen soll und dessen Aufgabe es ist, die Minister auf eventuelle Befangenheiten und Interessenkonflikte hinzuweisen. Überlegt wurde auch, die Tätigkeit der „special adviser“ auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen. Aber Tony Blair weigerte sich, die Kompetenzen seines Personalchefs Jonathan Powell, selbst ein „special adviser“, einzuschränken, die diesem auch erlaubten, in die Personalpolitik der Ministerien hineinzuregieren. Die Mauer der Geheimhaltung schützte auch noch lange die Regierungspolitik Tony Blairs. Die Reform des Official Secrets Act von 1989 hatte nicht zur Folge, diesen zu „entschärfen” – im Gegenteil. Durch die Nennung
Committee on Standards in Public Life 2003: 50. Mulgan 2007. 310 Jenkins 2004: 812. 308 309
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bestimmter Kategorien von Informationen und die Umstände, unter denen diese dem Parlament und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden dürfen, reglementierte die Regierung Thatcher die Geheimhaltung zu ihren Gunsten. Erst der Freedom of Information Act des Jahres 2000 brachte eine (vorsichtige) Trendwende. Er trat allerdings erst 2005 in Kraft, weil die Regierung Blair so lange brauchte, um die abgestufte Dokumentenöffnung zu organisieren. Der Freedom of Information Act gibt den Briten das gesetzliche Recht in Informationen, die staatliche Stellen gesammelt haben, Einblick zu nehmen (insgesamt ca. 100.000 öffentliche Einrichtungen). Der Einblick wird unter Bedingungen und mit Ausnahmen gewährt. Die Durchsetzung der Informationsrechte wird durch einen unabhängigen Information Commissioner bzw. ein Information Tribunal gewährleistet. Abhängig von der Zeit, die Civil Servants brauchen, um die Antworten auf Anfragen vorzubereiten, können Gebühren erhoben werden – eine Hürde, die immer wieder zu Diskussionen führt. Der Freedom of Information Act hat nicht auf einen Schlag die Kultur der Geheimhaltung beseitigt. Die zwanzig Tage-Antwortfrist wird von den Ministerien häufig nicht eingehalten, Dokumente werden zu unverbindlichen Notizen herab gestuft oder es wird nach Wegen gesucht, die neue Gesetzgebung den politischen Erfordernissen „anzupassen”. Es handelt sich hier um ein typisches Henne-Ei-Problem. Der Freedom of Information Act soll einen Kulturwandel im Cicil Service bewirken, aber damit der Freedom of Information Act wirkungsvoll ist, wäre ein Kulturwandel Voraussetzung.311 Die erreichten Anfänge in Richtung einer größeren Transparenz des Staatshandelns können nur dann über die Zeit Wirkung entfalten, wenn eine interessierte Öffentlichkeit (Journalisten, aber auch die NGO „Campaign for Freedom of Information”) Aufmerksamkeit für dieses Thema mobilisieren kann. 2008 wurde der Freedom of Information Act nachgebessert und schließt nun Informationen über die Privatadressen von Abgeordneten, deren Sicherheitsvorkehrungen und deren Reisepläne aus. Eine Auswertung der Anfragen auf der Grundlage des Freedom of Information Acts in den ersten drei Jahren zeigt, dass diese weniger werden (2005: 38.108; 2007:
311
Worthy 2008.
145
32.978). Von 2005 auf 2006 waren es 12% weniger, von 2006 auf 2007 2%. Dies könnte Stabilität nach einer Anfangseuphorie bedeuten.312 Trotz Devolution-Politik blieb die organisatorische Einheit des Civil Service bisher erhalten. Die korrespondierenden Ministerien für den Civil Service in den Devolution-Nationen bestehen ja auch in London weiter. Da Devolution von der Zentralregierung politisch gewollt wurde, besteht kein Problem darin, von den Beamten in den Devolution-Nationen auch eine Loyalität gegenüber den Devolution-Regierungen zu erwarten. Das bedeutet durchaus einen gewissen Kulturwandel, denn zu Zeiten der administrativen Devolution war klar, dass die Beamten im Welsh Office in Cardiff und im Scottish Office in Edinburgh ihre Loyalität einzig und alleine dem Londoner Minister schuldeten, dass sie aber gleichzeitig versuchen sollten, für „ihre” Territorien die jeweils beste politische Lösung durchzusetzen. Die heutige Tätigkeit in den Devolution-Regionen konzentriert die Aufmerksamkeit der Beamten doch sehr auf die Loyalität vor Ort, und es bleibt abzuwarten, wie und ob sich die Maßstäbe ihres Handelns verschieben werden. Schon heute ist zu beobachten, dass die Beamten vor Ort stärker als früher an der Gestaltung von Politik beteiligt sind.313 Für Wales und Nordirland kommen noch zwei Spezifika hinzu. In Wales muss heute dafür Sorge getragen werden, den Anteil der walisischsprachigen Beamten, insbesondere in Führungspositionen zu erhöhen; in Nordirland gilt das Gleiche für den Katholikenanteil.
4
Mittelbares Regieren
Die governance-Literatur hat den alten Tatbestand der „mittelbaren Regierung” in das neue Licht der Netzwerkanalysen gerückt. Schon in den 1970er Jahren hatte die damalige Konservative Oppositionspartei mit ihrer Vorsitzenden Margaret Thatcher die undemokratische, weil parlamentarisch nicht beschlossene und mit einer Rechenschaftspflicht nur gegenüber der Regierung versehene Auslagerung von Staatsaufgaben heftig kritisiert. Die Resourcen, Rechtsformen und Aufgaben der sogenannten Quangos (quasi-autonomous non-governmental organisations) oder NDPBs (non-departmental
312 313
Daten nach Monitor 2008: 6. Loughlin, John/Sykes, Sophie o.J.; Prosser et al. 2006.
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public bodies) waren und sind vielfältig. Das Cabinet Office veröffentlicht Richtlinien für die Gesetzgebung, mit der NDPBs ins Leben gerufen werden. Man unterscheidet zwischen jenen (zahlreicheren) NDPBs mit exekutiven Aufgaben, wie dem Arts Council of England, der Environment Agency oder der Health and Safety Executive, sowie jenen mit beratenden Aufgaben, wie dem Committee on Standards in Public Life oder der Low Pay Commission. NDPBs können als „Tribunals” auch Rechtsangelegenheiten in begrenztem Rahmen regeln. Das Cabinet Office führt eine Liste der über 1.000 Organisationen. Das ist eine etwas geringere Zahl als 1979, dem Jahr in dem die Regierung Thatcher begann, ihr Wahlversprechen einzulösen und die Quango-Landschaft zu überprüfen. Betrachtet man nur die NDPBs mit exekutiven Aufgaben, so waren dies zwischen 2002 und 2005 261 laut der Public Bodies Berichte des Cabinet Offfice. Für Regierungen hat sich das ad hoc-Instrument der mittelbaren Regierung wegen seiner Flexibilität und den Patronagemöglichkeiten, die sich mit der Bestellung der Führungsämter der Quangos verbindet, als attraktiv erwiesen. Dies ist der erste Grund, weshalb sich die Zahl der NDPBs bisher nicht wesentlich verringern ließ. Trotz anti-Quango Polemik in Oppositionszeiten314 setzte beispielsweise auch die neue Labour Regierung 1997 wieder auf dieses Instrument.315 In der Forschung koexistieren zwei unterschiedliche Kosten-Nutzen-Kalküle der Regierungen als zusätzliche Erklärungsangebote. Zum einen wird argumentiert, Quangos würden die Kritik an bestimmten politischen Entscheidungen in der Implementationsphase von der Regierung ablenken (blame avoidance), und zum anderen wird hervorgehoben, wie stark die Delegation auf neutrale Fachleute Regierungshandeln legitimiert. Die in beiden Fällen unterstellte unabhängige Implementation relativiert sich in der Praxis, weil betroffene Wahlkreisabgeordneten parlamentarisch intervenieren, wenn Fehlentwicklungen bei den NDPBs ihre Wiederwahlchancen bedrohen. Sie zwingen die Regierung zu korrigierenden Interventionen, die die Handlungsfreiheit der Quangos einschränken.316 Ein zweiter Grund für die anhaltend große Zahl der Quangos ist der erwähnte Umbau des Civil Service im Zuge der Next Steps-Initiativen, der auf
Flinders 2004a: 776. Flinders 2004b. 316 Bertelli 2008. 314 315
147
das Kontraktmanagement mit zahlreichen ausgelagerten Agenturen vertraut. Für Margaret Thatcher war dieser Umbau auch eine Möglichkeit, die von der Labour Party dominierte Kommunalverwaltung teilweise zu entmachten. Von den neuen Management-Philosophien waren nicht nur die Arbeit der Ministerialbürokratie und der Kommunen, sondern beispielsweise auch der größte Arbeitgeber des Landes, der nationale Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS), sowie das Bildungswesen betroffen. Ein dritter Grund für die Ausweitung der Zahl der Quangos ist die Entscheidung der britischen Regierungen seit 1979, Leistungen der Daseinsvorsorge, die weitgehend in staatlichen Monopolen erbracht worden waren (Wasser-, Strom-, Gas- und andere Infrastrukturversorgung, wie Telekom oder Bahn), zu privatisieren. Diese Privatisierung erforderte Regulierungsbehörden, die dafür sorgen sollten, Märkte zu simulieren, wo diese (noch) nicht vorhanden waren und so den Preismechanismus im Sinne des Konsumentenschutzes zu ersetzen. Zunächst wurden sektorspezifische Regulierungsbehörden eingerichtet, die inzwischen teilweise durch sektorübergreifende ersetzt wurden, was die stärkere Durchsetzung des Wettbewerbsprinzips in diesen Wirtschaftssektoren widerspiegelt. Interessanterweise wurde die zunächst vorherrschende, im britischen Kontext naheliegende auf „Absprachen von gentlemen” beruhende Regulierung im Elitenkonsens inzwischen ersetzt durch stärker verrechtlichte Verfahren.317 Ursächlich war zum Teil der Einfluss der EU auf die Regulierung liberalisierter Märkte. Bedeutsam waren aber auch die Folgen von Krisen, die auch für die Londoner City internationale Vereinbarungen, wie das Baseler Abkommen, verbindlich machten, bzw. die Banken-und Finanzkrise des Jahres 2008ff. (subprime Krise). Im Rahmen von Krisenbewältigungsstrategien entstanden neue Formen des mittelbaren Regierens.
317
Müller 2007: 449.
148
Tabelle 31:
Beispiele für Regulierungsbehörden318
Tätigkeitsfeld Gas und Strom TV, Radio, Telekom, Funk Bahn Wasser Finanzmärkte Schulstandards Wettbewerbskontrolle
Behörde OFGEM (Office for Gas and Electricity Markets) OFCOM (Office of Communications) ORR (Office of the Rail Regulator); SRA (Strategic Rail Authority) OFWAT (Office of the Water Regulator) FSA (Financial Services Authority) OFSTED (Office for Standards in Education) OFT (Office of Fair Trading)
Mit der Devolution-Gesetzgebung ging die Zuständigkeit für weite Bereiche der mittelbaren Regierung (in Schottland, beispielsweise, für 198 Quangos und damit 3.500 durch Ernennung bestellte Positionen) in die Verantwortung der neuen Parlamente in den keltischen Nationen über.319 Dies bot v.a. in Schottland ein weites Feld für Ämterpatronage, das traditionell der Labour Party offen stand, weshalb die SNP in der Opposition sich für eine Reduktion der Zahl der Quangos aussprach. Mit dem Public Appointments and Public Bodies (Scotland) Act von 2003 wurde für Schottland das Amt eines unabhängigen Scottish Commissioner for Public Appointments geschaffen, der jedes Jahr dem schottischen Parlament berichtet, ob die Verfahren bei der Ernennung von Amtspersonen dem entsprechenden Regelwerk (Code of Practice) entsprechen. In Schottland gab es in Zeiten der Labour First Ministers keine Abkehr vom mittelbaren Regieren. Zwar verschwanden einige Quangos, es wurden aber auch wieder neue eingerichtet, z.B. 2005 die Behörde für Risikomanagement. Anders als auf der gesamtstaatlichen Ebene, gelang es in Schottland aber mit der Einbeziehung des Parlaments in die Rechenschaftslegung zur Einrichtung und zur Arbeit der Quangos, etwas gegen das vielbeklagte Defizit bei der Kontrolle der Quangos durch gewählte Volksvertreter zu tun. In Wales haben die ersten Devolution-Regierungen einen Großteil der Quangos, wie z.B. die Welsh Development Agency (Wirtschaftsförderung) oder Education and Learning Wales (Ausbildung und lebenslanges Lernen), durch Integration in die Regierungsorganisation aufgelöst. 318 319
Ausführlicher Norton 2004: 786. Denton/Flinders 2006: 69.
149
Grundlagen der politischen Willensbildung
1
Parteien und Parteiensystem
1.1
Parteiensystem
Der Mythos vom Zweiparteiensystem gehört zu den Standardmissverständnissen der britischen Politik.320 Die magische Zahl zwei erlaubt es bei einem weniger genauen Hinsehen, einen weiten historischen Bogen von den ersten Anfängen parteiähnlicher Gruppierungen im 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert, den Auseinandersetzungen zwischen Whigs und Tories im britischen Parlament, über den Dualismus von Konservativen und Liberalen insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Konkurrenzsituation von Labour Party und Konservativer Partei nach dem Zweiten Weltkrieg zu schlagen. So entsteht der von der englischen Geschichtsschreibung in der Tradition der Glorious Revolution so geschätzte Eindruck von Kontinuität und Stabilität der britischen Demokratie. Die Umbruchphase des Niedergangs der Liberalen Partei und die Übernahme ihrer Rolle durch die Labour Party in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder die Perioden von Koalitionsregierungen in Kriegs- und Krisenzeiten erscheinen in diesem Licht als Episode. Alternative Phaseneinteilungen der Entwicklung des britischen Parteiensystems, wie die Unterscheidung zwischen einem Mehrparteiensystem für die Jahre 1884 bis 1922, einem Dreiparteiensystem für die Jahre 1922 bis 1931 und einem von einer Partei dominierten Parteiensystem 1931 bis 1945321, haben es – trotz erdrückender empirischer Evidenz zu ihren Gunsten – schwer, sich gegenüber dem Mythos des Zweiparteiensystems zu behaupten. Bogdanor322 erklärt dies damit, dass die Professionalisierungsphase der britischen Politikwissenschaft sich zeitlich mit der Ära des ZweiparteiensysZum folgenden auch Sturm 1983. Vgl. Crewe/Särlvik/Alt 1977: 129. 322 Bogdanor 2004: 718. 320 321
151
tems überlappte, was dazu führte, dass diese das Zweiparteiensystem zum „Normalfall” erklärte und andere Entwicklungen als „Abweichungen” untersuchte. Eine andere Abweichung vom „Normalfall”, die Tatsache, dass sich im UK inzwischen vier unterschiedliche Parteiensysteme herausgebildet haben, so dass nicht nur die Konzentration, sondern auch die Homogenität des politischen Wettbewerbs zu Ende scheint, setzt sich ebenfalls als „Lehrbuchweisheit” nur langsam durch.323 Es gibt in Schottland, Wales und Nordirland nicht nur mehr relevante Parteien. Wichtiger ist noch, dass die Wählerinnen und Wähler bei unterschiedlichen Wahlen im UK (Europa, UK, DevolutionInstitutionen, Kommunalwahlen) unterschiedliche Parteien bevorzugen, was auch damit zu tun hat, dass diese Parteien sich z.B. auf der Rechts-Links-Skala bei unterschiedlichen Wahlen unterschiedlich positionieren. Hinzu kommt, dass die unterschiedlichen Wahlsysteme auf den unterschiedlichen politischen Ebenen selbst einen Einfluss auf das Wählerverhalten ausüben. Eine Betrachtungsweise, die das Zweiparteiensystem zum unantastbaren Inventar britischer Demokratie erhebt, läuft Gefahr, Wandlungstendenzen des Parteiensystems zu unterschätzen und den Blick zu sehr auf die Regierungsebene des UK zu fixieren. Es ist zutreffend, dass in der Nachkriegszeit die Premierminister nur von zwei Parteien, der Konservativen und der Labour Party gestellt wurden. Anders sieht es aber auf der Ebene des Parlaments und aus der Sicht der Wählerinnen und Wähler aus, die immer mehr als zwei Alternativen bei ihrer Wahlentscheidung zur Auswahl hatten. Das Zweiparteiensystem auf der Regierungsebene ist Ergebnis eines doppelten Filtermechanismus, zum einen des Wahlsystems auf der Wählerebene und zum anderen der Ablehnung von Koalitionen im Parlament. Dieser doppelte Filter funktionierte aber nur wegen der vergleichsweise großen Homogenität der britischen Gesellschaft, in der lange Zeit nur die Trennlinie zwischen Arbeit und Kapital politisch wirksam wurde. Seit den 1970er Jahren kamen zwei neue politische Phänomene hinzu, die das Zweiparteiensystem immer mehr erodieren: Die Regionalisierung des Parteiensystems bis hin zum Aufkommen von Nationalparteien in den keltischen Nationen, sowie die abnehmende Bindekraft der Großparteien und des politischen Engagements insgesamt, was sich auch an der rückläufigen Wahlbeteiligung festmachen lässt. Das Dealignement, also der Rückgang der traditionellen, sozialstrukturell
323
Dunleavy 2005.
152
begründeten Parteibindungen324 vergrößerte nicht nur die Zahl der Wechselwähler, sondern bot auch temporäre Gelegenheitsfenster für Protest- und anti-Establishment-Parteien. Ein umfassenderes Bild der Entwicklung des Parteiensystems des Vereinigten Königreichs in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bietet die Zusammenschau mehrere Faktoren: (a) Aggregationsfähigkeit der beiden Großparteien bei Wahlen (Indikator: kumulierte Stimmenzahl), (b) Intensität des Parteienwettbewerbs in den Wahlkreisen (Indikator: durchschnittliche Zahl der Bewerber um einen Parlamentssitz), (c) Entwicklung der Wahlbeteiligung, (d) Wahlergebnisse neuer Parteien seit 1979, dem Jahr in dem die durchschnittliche Zahl der Kandidaten für einen Wahlkreissitz erstmals die Zahl fünf überschritt. Tabelle 32: Die Entwicklung des Parteiensystems Jahr 1945 1950 1951 1955 1959 1964 1966 1970 1974 Febr. 1974 Okt. 1979 1983 1987 1992 1997 2001 2005
kumulierte Stimmenzahl durchschnittliche Zahl der Lab./Kons. in % Wahlkreisbewerber 88,1 2,6 89,6 3 96,8 2,2 96,1 2,2 93,2 2,4 87,5 2,8 89,8 2,7 89,4 2,9 74,9 3,4 75 3,5 80,9 4,1 70 4 73,1 3,6 76,3 4,5 73,9 5,6 72,4 5 67,6 5,5
Wahlbeteiligung in % (1) 73,3 84 82,5 76,8 78,7 77,1 75,8 72 78,1 72,8 76 72,7 75,3 77,7 71,5 59,4 61,2
(1) Die Zahlen für die Wahlbeteiligung sind nicht ohne weiteres zu vergleichen, weil das Fehlen von Einwohnermeldeämtern im UK das Erstellen von Wählerverzeichnissen, in denen alle Wahlberechtigten erfasst werden, erschwert, so dass bei unterschiedlichen Wahlen mit unterschiedlicher Präzision die Zahl der Wahlberechtigten angegeben wird. Daten nach den Wahlanalysen des Nuffield College (u.a. Butler/Kavanagh). 324
Vgl. ausführlich: Butler/Stokes 1971:149ff.
153
Tabelle 33: Die Erfolge von Kleinparteien (1997-2005) in Großbritannien (1) 1997 Stimmenanteil: 1,2% Kandidaten: 194 lost deposits: 193 Stimmenanteil: 0,1% Kandidaten: 57 lost deposits: 54 Stimmenanteil: 0,2% Kandidaten: 95 lost deposits: 95 keine Kandidatur
2001 Stimmenanteil: 1,5% Kandidaten: 428 lost deposits: 422 Stimmenanteil: 0,2% Kandidaten: 33 lost deposits: 28 Stimmenanteil: 0,6% Kandidaten: 145 lost deposits: 135 keine Kandidatur
Scottish Socialist Party (SSP) (2)
keine Kandidatur
Socialist Labour
Veritas
Stimmenanteil: 0,2 Kandidaten: 64 Lost deposits: 61 keine Kandidatur
Stimmenanteil: 0,3 Kandidaten: 72 lost deposits: 62 Stimmenanteil: 0,2 Kandidaten: 114 lost deposits: 113 keine Kandidatur
Socialist Alliance
keine Kandidatur
United Kingdom Independence Party (UKIP) British National Party (BNP) Greens
Respect
Liberal
Stimmenanteil: 0,2% Kandidaten: 98 lost deposits: 95 Stimmenanteil: 0,0% Kandidaten: 9 lost deposits: 8 Stimmenanteil: 0,0 Kandidaten: 37 lost deposits: 37 keine Kandidatur
2005 Stimmenanteil: 3,2% Kandidaten: 496 lost deposits: 458 Stimmenanteil: 0,7% Kandidaten: 119 lost deposits: 85 Stimmenanteil: 1,0% Kandidaten: 202 lost deposits: 178 Stimmenanteil: 0,3% Kandidaten: 26 lost deposits: 9 Parlamentssitze: 1 Stimmenanteil: 0,2% Kandidaten: 62 lost deposits: 56 Stimmenanteil: 0,1 Kandidaten: 50 lost deposits: 49 Stimmenanteil: 0,1 Kandidaten: 33 lost deposits 32 keine Kandidatur
Stimmenanteil: 0,1% keine Kandidatur Kandidaten: 54 lost deposits: 52 ProLife Alliance Stimmenanteil: 0,1% keine Kandidatur Kandidaten: 53 lost deposits: 53 Referendum Party Stimmenanteil: 2,6% keine Kandidatur Kandidaten: 547 lost deposits: 505 Natural Law Party Stimmenanteil: 0,1% keine Kandidatur keine Kandidatur Kandidaten: 196 lost deposits: 196 (1) Nordirland wird wegen der dortigen Sondersituation nicht berücksichtigt. (2) Kandidatur nur in Schottland. UKIP: anti-EU Partei. BNP: rechtsradikale Partei. Respect: linke anti-Irakkrieg-Bewegung. Veritas: rechte Abspaltung von UKIP. Socialist Alliance: Trotzkisten. ProLife Alliance: AntiAbtreibungsbewegung. Referendum: Für EU-Austritt. Natural Law: Yogy-Flieger-Partei. Daten nach den Wahlanalysen des Nuffield College (Butler/Kavanagh).
154
Die Daten zeigen deutlich: (a) seit Mitte der 1970er Jahre reduziert sich die Dominanz der beiden großen Parteien. Dies geschieht trotz eines Wahlsystems, bei dem, wie noch auszuführen sein wird, es nahe liegt, Stimmen für Drittparteien häufig als verschwendete ansehen zu müssen. Es geschieht auch bei sinkender Wahlbeteiligung, was bedeutet, dass die gewählten Regierungen – gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten – zunehmend schwächer legitimiert waren. Selbst Premierminister wie Margaret Thatcher oder Tony Blair, die in ihren besten Zeiten mit Erdrutschsiegen Wahlen gewannen, hatten nie mehr als 33,3% (Thatcher 1979) bzw. 30,8% (Blair 1987) der Wahlberechtigten hinter sich. (b) Der Parteienwettbewerb in den Wahlkreisen hat sich intensiviert.325 Dass drei Parteien antreten ist angesichts, der gewichtigen Rolle, die die Liberale Partei bzw. die Liberal Democrats in der britischen Politik spätestens seit ihrer Renaissance in den 1970er Jahren einnehmen, nicht erstaunlich. Sie binden regelmäßig ca. ein Fünftel der Wählerschaft. Wahlkreise mit mehr als vier oder fünf Kandidaten weisen aber darauf hin, dass die Wählerschaft mehr als bisher dazu neigt, Proteststimmen abzugeben bzw. als Alternative zur Wahlenthaltung sich neuen Parteien zuzuwenden. Bei der Nachwahl in Hartlepool 2004 geschah es zum ersten Mal seit dem II. Weltkrieg, dass der Kandidat der stärksten Oppositionspartei nicht unter den drei Bestplatzierten war. Der Konservative Bewerber wurde vierter. 85 Organisationen kandidierten 2005 in England und Wales neben den drei etablierten Parteien. 54 stellten nur einen Kandidaten auf. In Schottland waren es 18. Insgesamt waren 264 Organisationen als politische Parteien registriert. Noch sind erfolgreiche Kleinparteien eine relativ marginale Erscheinung und nur UKIP, die auch Vertreter im House of Lords hat, die rechtsradikale BNP mit ihren Hochburgen in Nordengland und eventuell die Grünen haben bei den Wählern Perspektiven. Die „Parteienwelt” außerhalb des Parlaments ist instabil und beruht oft auf Initiativen einzelner, wie des Multi-Millionärs James Goldsmith (der 1995 die Referendum Party gründete, die nach seinem Tod die Arbeit einstellte) oder des Labour-Rebellen gegen den Irak-Krieg George Galloway (Gründer von Respect 2004), der 2005 den Wahlkreis Bethnal Green and Bow eroberte, bzw. des Egomanen Robert Kilroy-Silk (Gründer von Veritas 2005). Kleinparteien kämpfen nicht nur mit der Hürde
325
Webb 2005.
155
des Wahlsystems, sondern auch mit den Folgen ihrer Misserfolge. Um die Ernsthaftigkeit von Kandidaturen bei Parlamentswahlen zu sichern, die auch mit Privilegien, wie dem freien Versand von Parteiwerbung und Medienpräsenz verbunden sind, müssen alle Kandidaten eine Summe von 500 Pfund hinterlegen (deposit), die sie nur wiedererhalten, wenn sie in ihrem Wahlkreis mindestens 5% der Stimmen gewinnen. Gemessen an der Zahl der „lost deposits” sind die Kleinparteien weit von durchgreifenden Erfolgen entfernt. Die Schwelle für eine Partei, die keine Hochburgen besitzt, liegt in Großbritannien bei einem landesweiten Wahlergebnis von ca. 33%. Auch in ihren Hochburgen kommen die Kleinparteien schon kaum über die 5%-Marke. Dennoch bleibt festzuhalten, dass für UKIP, BNP und Grüne gilt, dass sich bei den letzten drei Wahlen die Zahl ihrer verlorenen deposits verringert hat und ihr Stimmenanteil wuchs. Das Argument der „verschwendeten” Stimme hat auch für Kleinparteien teilweise seine abschreckende Wirkung verloren. (c) Wird die parteipolitische Vielfalt in Großbritannien auf der Wählerebene oft unterschätzt, weil sie sich parlamentarisch nur abgeschwächt und in der Regierungsverantwortung überhaupt nicht mehr findet, so sollte diese aber auch nicht überschätzt werden. Wie in Tabelle 2 dargestellt, ist das faktische, wenn auch eingeschränkte Duopol von Labour und Konservativen nur in den parlamentarischen Versammlungen von Schottland, Wales und Nordirland überwunden. In Nordirland ist die Verbindung des dortigen Parteiensystems mit dem nationalen seit 1974 endgültig beendet als die Ulster Unionisten aus der Fraktionsgemeinschaft mit der Konservativen Partei austraten.326 In Westminster ist das Zweiparteiensystem in einer zunehmend unkomfortablen Situation noch mehr wegen des Rückgangs der Wahlbeteiligung als wegen der Konkurrenz von Drittparteien. Es gilt aber weiterhin, dass das „Zweiparteiensystem” als Konvention des Westminster Modells starke institutionelle (Wahlsystem), sozialstrukturelle und politisch-kulturelle Unterstützung erfährt.327 Alternative Bezeichnungen, wie Zweieinhalbparteiensystem (+Liberal Democrats) oder „dominant”/”predominant” party system (wegen der Vorherrschaft der Konservativen Partei in den 1980er Jahren oder der Labour Party nach 1997) konnten sich nicht durchsetzen.328 2009 haben die Konservativen eine Wiederbelebung der Kooperation beider Parteien angeboten. 327 So Kaiser 2007: 190. 328 Lynch/Garner 2005. 326
156
1.2 Parteiprogramme Die britischen Parteien haben es stets verstanden, ihren Wettbewerb mit Bezug auf politische Leitideen auszutragen. Auch wenn in der Tagespolitik Pragmatismus überwog und die Zahl der Wahlversprechen in den Wahlprogrammen seit 1987 stetig zunahm329, bot der Parteienwettbewerb dem Wähler einen Kontext für seine Wahlentscheidung. Im Unterschied zu Deutschland, wo nach Ludwig Erhards „sozialer Marktwirtschaft” und Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen” die visionäre Kraft der Politik erlahmte oder sich im Nachahmen ausländischer (auch britischer) Vorbilder erschöpfte, konnte die Wählerschaft im Vereinigten Königreich regelmäßig auch über Fragen diskutieren, die über den tagespolitischen „Tellerrand” hinausragten. Dass die beiden großen Parteien dabei nicht immer einer Meinung waren, erstaunt nicht. Bemerkenswert ist aber, dass die im politischen Ideenwettbewerb erfolgreiche Partei jeweils zum Vorbild der unterlegenen Partei wurde, die dann entsprechend programmatisch nachbesserte, auch wenn dies gelegentlich über den Umweg einer kurzzeitigen Radikalisierung geschah. Die Machtferne, die mit einer solchen radikalen Abweichung von den Präferenzen des britischen Wählers verbunden war, wirkte enorm ernüchternd in einem politischen System, in dem bis Ende der 1990er Jahre nur in London Regierungsposten zu vergeben waren und beschleunigte die parteipolitische Reorientierung am neuen politischen Konsens. Heute werden solche Leitideen im politischen Wettbewerb in der Regel nur noch sehr dosiert von oben vorgegeben. Britische Politiker pflegen gegenüber dem Volk eine weit demütigere Rhetorik als die staatsorientierten deutschen Politiker. Die britische Politikkommunikation orientiert sich offensiv an Grundregeln der deliberativen Demokratie und sucht das Gespräch mit den Regierten. So startete beispielsweise New Labour 2003 die „Big Conversation”-Initiative, um Reaktionen vom einfachen Mitglied und potentiellen Wählern auf die Themen der Partei wahrnehmen und verarbeiten zu können. Gordon Browns Regierung veröffentlichte 2008 ein Strategiepapier mit dem Titel „A national framework for citizen engagement”, das auch als Antwort auf ein Phänomen verstanden werden kann, was in Deutschland als „Politikverdrossenheit” bezeichnet wird. Ziel der Regierung ist es, die politi-
329
Bara 2005: 588.
157
sche Partizipation durch Referenden, citizens’ juries, citizens’ summits und e-Petitionen an das Parlament zu erhöhen. Auch die schottische SNP gibt, wie erwähnt, ihr Unabhängigkeitsziel nicht einfach vor, sondern setzt auf eine „National Conversation”. Tabelle 34: Periode 19451951
19511979
19791994
158
Leitideen im Parteienwettbewerb Leitidee gesellschaftlicher Entwicklung Labour Party: Parlamentarischer Sozialismus (Verstaatlichungen, Sozialpolitik, u.a. Einrichtung des National Health Service, keynesianische Wirtschaftspolitik) Konservative Partei: New Conservatism (freier Markt, aber Rolle des Staates in der Wirtschaft, Sozialpolitik, u.a. Gesundheitsversorgung für alle) Postwar Consensus: Labour Party/Konservative Partei: mit Ausnahme des Staatseigentums an British Steel, Anerkennung der „mixed econo my”, Keynesianismus, Wohlfahrtsstaat Konservative Partei: Thatcherismus (freier Markt, Privatisierungen, Rückführung des Wohl fahrtsstaates, Selbstverantwortung für Lebenssi tuation, Reduktion der Macht der Gewerkschaf ten, ausgeglichener Haushalt, Law and Order) Labour Party: Sozialismus durch weitere Natio nalisierungen (Ölindustrie), Revision des That cherismus, Stärkung der Macht der Gewerk schaften durch einen Pakt mit der Regierung, Staatsverschuldung zur Finanzierung politischer Vorhaben, Kampf gegen repressiven Staat
Parteienwettbewerb Polarisierung
Konsens
Polarisierung
Periode 19942005
2005
Leitidee gesellschaftlicher Entwicklung Parteienwettbewerb Konsens Dritter WegKonsens: Konservative/Labour Party: Privatisierungen, Entstaatlichung, Ver antwortung des Einzelnen für sein Schicksal, Chancengleichheit nicht Ergebnisgleichheit (welfare to work). Law and order, keine beson dere Rolle für Gewerkschaften, ausgeglichener Haushalt, Akzeptieren der Globalisierung Neuer Akzent von New Labour: Soziale Korrektu ren des Thatcherismus (Steuerpolitik, Mobilisie rung in den Arbeitsmarkt, Mindestlöhne), De zentralisierung durch Devolution Konsens330 Compassionate ConservatismKonsens: Die Konservative Partei akzeptiert die sozialen Kor rekturen des Thatcherismus, die Labour Party rückt von ihrem Anspruch ab, einen Dritten Weg gefunden zu haben. Konservative und Labour betonen Law and OrderThemen. Seit 2008 bestimmt die Finanzkrise den wirtschafts und sozialpolitischen Konsens.
Bevor näher auf die bisher drei Perioden der Übereinstimmung in der innenpolitischen Grundausrichtung der großen Parteien eingegangen wird, soll noch die Frage beantwortet werden, was die sich wandelnde inhaltliche Ausrichtung dieser beiden Parteien für deren Verortung auf der Links-RechtsSkala des Parteiensystems bedeutet. Der sozialstrukturelle Ansatz der Parteienforschung konnte zunächst nur einen Cleavage im britischen Parteiensystem identifizieren, den class cleavage. Erst in den 1970er Jahren wurde der territoriale oder regionale Cleavage mit dem Entstehen von Regionalparteien in der Forschung erkannt, der dem Wählerverhalten schon immer zugrunde lag und sich historisch in den Unterschieden der regionalen Unterstützung von Liberalen und Labour Party (Hochburgen in Schottland und Wales) und der Konservativen Partei äußerte.331
Kritisch dazu Kerr 2007. Zustimmend Stephens 2009. Dazu ausführlich Sturm 1981: 270ff. mit weiteren Literaturverweisen. Vgl. auch Hechter 1975: 271ff., der diese Unterschiede als Ausdruck des „internen Kolonialismus” im UK interpretiert.
330 331
159
Der Bezug auf „class” sortierte die britischen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Links-Rechts-Skala wie folgt: Links bzw. linke Mitte die Partei der Gewerkschaften, die Labour Party/rechtsaußen bzw. rechte Mitte, die Partei der Wirtschaft bzw. auch die Partei der autoritär geprägten Wähler auch aus der Arbeiterschaft (working class Tories), und als (kleine) Alternative der Mitte zu beiden Parteien die Reste der Liberalen Partei. Dieses Muster des Parteienwettbewerbs wurde in den 1970er Jahren aufgebrochen, zuerst mit der Unterstützung der Labour Regierung durch die Liberale Partei (Lib/Lab Pact) 1977/78.332, sodann Anfang der 1980er Jahre als Folge des Linksrucks der Labour Party nach dem Wahlsieg Margaret Thatchers. Dieser Linksruck führte zu einer Abspaltung eines Teils des sozialdemokratischen Flügels der Labour Party und zur Gründung der Social Democratic Party (SDP) 1981. Vier Ex-Minister der Labour Party333 (Roy Jenkins, David Owen, William Rodgers, Shirley Williams) versuchten mit der SDP, die sich in ihrer Programmatik an der kontinentalen Sozialdemokratie (SPD unter Helmut Schmidt) ausrichtete, die Labour Party als linke Volkspartei abzulösen. Die SDP arbeitete von Beginn an eng mit der Liberalen Partei zusammen bis hin zu Absprachen für Kandidaturen bei Nachwahlen. Bei den Parlamentswahlen 1983 und 1987 traten die beiden Parteien als sozialdemokratisch-liberale Allianz an und wurden zu einer ernsthaften politischen Alternative (Wahlergebnisse: 25,4% bzw. 22,6%. Zum Vergleich die Wahlergebnisse der Labour Party: 27,6% bzw. 30,8%. Allerdings erhielt die Labour Party dank der Effekte des Wahlsystems 1983 209 Sitze, Allianz: 23 und 1987: 229 Sitze, Allianz 27). Beide Parteien der Allianz befürworteten die EG-Mitgliedschaft Großbritanniens, den Wohlfahrtsstaat, die mixed economy (eine Wirtschaft mit Staats- und Privateigentum) und eine globalsteuernde, keynesianische Wirtschaftspolitik. Zu ihren wesentlichen Programmpunkten gehörten auch die Dezentralisierung Großbritanniens (Devolution) sowie die Einführung eines Verhältniswahlsystems. Trotz ihrer beachtlichen Wahlergebnisse gelang der
Michie/Hoggart 1978. Drei von ihnen publizierten Bücher zur Begründung ihrer Entscheidung (Owen 1981; Rodgers 1982; Williams 1981) und auch sonst war die publizistische Präsenz der Partei (z.B. Kennet 1982) und das wissenschaftliche (z.B. Josephs 1983; Stephenson 1982; Bradley 1981; Zentner 1982) und publizistische Echo, das ihr Auftreten fand, beeindruckend.
332 333
160
Allianz nicht der erhoffte politische Durchbruch334, für den als erster Schritt die Rolle des Mehrheitsbeschaffers im Parlament geplant war. Um die aus der Enttäuschung erwachsenden Konflikte innerhalb der Allianz zu beenden, entschloss sich die Mehrheit in beiden Parteien, in der Liberalen Partei und der SDP, trotz innerparteilicher Widerstände 1988 zur Parteifusion. Bei den Wahlen 1992 stellte sich die neue Partei der Liberal Democrats335 zur Wahl (17,8%; 1997: 16,8%; 2001: 18,3%; 2005: 22,0%)336. Als sich die Labour Party Mitte der 1980er Jahre allmählich politisch wieder in die Mitte bewegte, reduzierte sich der programmatische Raum für die Liberal Democrats. Um die Konservativen abzulösen, gaben sie ihre Äquidistanz zu den großen politischen Parteien auf und stellten sich an die Seite der von Tony Blair geführten reformierten Labour Party („New Labour”). Unter dem Einfluss der Reformer der Labour Party bewegte sich die Labour Party in Fragen der Wirtschaft, der Unternehmernähe, der inneren Sicherheit, des Sozialstaats, der Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge deutlich nach rechts, so dass die Liberal Democrats in der Regierungszeit Tony Blairs in England zur linken Alternative des britischen Parteienspektrums wurden. Im Unterschied zur Labour Party werden sie allerdings überwiegend vom Bildungsbürgertum und nicht von der „working class” gewählt.337 In Schottland und Wales bieten sich die dortigen Nationalparteien ebenfalls als linke (sozialdemokratische) Alternative an. Für die Liberal Democrats ist die Äquidistanz zu den großen Parteien mit dem Rechtsruck der Labour Party wieder eine vielversprechende Alternative geworden. In der Parteienforschung besteht inzwischen Einigkeit über den begrenzten Erklärungswert der Links-Rechts-Skala insbesondere für vergleichende Analysen. Aber auch wenn man diese durch die Gegensatzpaare Markt-Staat (wirtschaftspolitische Dimension) und liberal-autoritär (Freiheitsrechte) ersetzt, ändert sich der Befund für Großbritannien nicht. Labour Party und Konservative Partei bleiben im Quadranten Markt/autoritär eng Kräh 1993. Am 3. Mai 1988 als Social and Liberal Democrats (SLD) gegründet. Als sich die respektlose Bezeichnung „Salads” durchzusetzen begann, reagierte die SLD und benannte sich 1989 in Liberal Democrats um. Einer der Parteigründer, David Owen, führte die nicht fusionswilligen Reste der SDP bis 1990. Dann beschloss die SDP ihre Selbstauflösung. 336 Meadowcroft 2000. 337 Curtice 2007: 124. 334 335
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beieinander, die Liberal Democrats sind eher dem Begriffspaar Staat/liberal zuzuordnen. Der heutigen Politikkonvergenz der beiden großen Parteien gingen zwei weitere Phasen voraus. (1) Butskellismus. In der unmittelbaren Nachkriegszeit bestimmte die Rolle des Staates zu Kriegszeiten, die Empfehlungen des Beveridge Reports 1942 zur Absicherung sozialer Risiken durch den Aufbau des Wohlfahrtsstaates und das Vollbeschäftigungsziel die politische Agenda beider Parteien. Auch wenn sie sich in Nuancen v.a. hinsichtlich der Instrumente unterschieden, mit denen dieses Ziel erreicht werden sollte338, führte die Konservative Partei, die 1951 die Nachkriegs-Labour-Regierung ablöste, deren Politik im wesentlichen fort. Die Konservativen hatten dafür mit der Verabschiedung der Industrial Charter 1947, die federführend vom späteren Schatzkanzler R. A. Butler erarbeitet worden war, die inhaltlichen Grundlagen gelegt.339 Der Economist prägte 1954 aus seinem Namen und dem Namen seines Labour Amtsvorgängers Hugh Gaitskell, den Begriff „Butskellism”, um den Konsens der beiden Parteien in Wirtschaftsfragen hervorzuheben, ein Begriff, der sich dann auch in Wissenschaft und Öffentlichkeit einbürgerte. Die von Clement Attlee geführte Labour Regierung nationalisierte nach ihrem Wahlsieg Schlüsselindustrien und andere Kernbereiche der Wirtschaft. Verstaatlicht wurden die Bank of England (1946), bis 1949: die Kohlenbergwerke, die Fluglinien BOAC und BEA, der Gütertransport auf der Straße, die Elektrizitäts- und Gasversorgung, die Eisenbahnen (nun British Rail), Docks und Kanäle und 1949 die Eisen- und Stahlindustrie. Der neue Wohlfahrtsstaat gründete sich auf die neugeordnete Sozialversicherung: Renten, Krankengeld, Arbeitslosengeld und andere Sozialleistungen (National Insurance Act, 1946) und ein staatliches Gesundheitswesen (National Health Service Act 1946). Das Vollbeschäftigungsziel sollte durch eine keynesianische Konjunkturpolitik (managed economy) erreicht werden, die in Krisenzeiten Staatsverschuldung zur Finanzierung staatlicher Investitionen ermöglichte. Bis zum Regierungsantritt Margaret Thatchers, mindestens aber bis zur Kritik an der keynesianischen Ausgabenpolitik durch den Labour Premierminister James Callaghan 1976, war die Grundausrichtung der Regierungs-
338 339
Vgl. dazu ausführlicher Jones/Kandiah 1996. Zum Wortlaut der Industrial Charter vgl. O’Gorman 1986: 199ff.
162
politik der beiden großen Parteien vergleichbar. Der Wohlfahrtsstaat konnte gestaltet, aber nicht in Frage gestellt werden. Dem National Health Service wuchs die Sonderstellung einer nicht mehr antastbaren Institution zu. Die Rolle ungehindert arbeitender Gewerkschaften blieb unbestritten, zumindest bis sie im Kampf gegen die konservative Regierung Edward Heath, den sie 1974 aus dem Amt streikten, auch ein politisches Mandat beanspruchten. Die Verstaatlichungen waren kein prinzipielles Thema. Nur die Eisen- und Stahlindustrie wurde von den Konservativen reprivatisiert und darauffolgend von der Labour Regierung Wilson wieder verstaatlicht. Auch bei den wirtschaftspolitischen Instrumenten Ausgabenpolitik in der Krise, Sparpolitik bei Inflationsgefahr gab es keine wesentlichen Differenzen zwischen den großen Parteien, die beide die Erfolglosigkeit dieser Stop-go-Zyklen im Hinblick auf die Konkurrenzfähigkeit der britischen Wirtschaft und die wachsende Staatsverschuldung beklagten. (2) Thatcherismus340. Der Thatcherismus startete als vom Nachkriegskonsensus abweichendes Programm, kreierte aber neue Gemeinsamkeit in der britischen Politik durch die Akzeptanz, die er in der von Tony Blair reformierten Labour Party de facto fand.341 Der Thatcherismus verschob die Balance von Staat und Markt in der britischen Politik hin zu mehr Markt. Der Staat wurde eher als Teil ökonomischer Probleme, denn als Instrument zu ihrer Lösung angesehen. Der wirtschaftspolitische Neuanfang Margaret Thatchers war eine konkrete Reaktion auf die ökonomischen Probleme des Landes in den 1970er Jahren. Die Inflationsbekämpfung und die Macht der Gewerkschaften waren die zentralen Herausforderungen. Darüber herrschte in allen Parteien Konsens. Was aber Inflation verursachte und wie sie zu bekämpfen sei, blieb umstritten. Die konservative Rechte, angeleitet vom früheren Gesundheitsund Sozialminister der Regierung Heath, Sir Keith Joseph, sah die Hauptursache der Inflationsgefahr in der von den Anhängern des Wohlfahrtsstaates propagierten Ausgabenpolitik sowohl für die Steuerung der Konjunktur als auch für Sozialleistungen. Die Gewerkschaften spielten dabei aus der Sicht der konservativen Rechten nicht nur deshalb eine unheilvolle Rolle, weil sie
Ausführlicher Sturm ²1991; Geppert 2002. Bemerkenswert sind die Einladungen, die Margaret Thatcher in Downing Street 10 sowohl von Tony Blair als auch von Gordon Brown erhielt.
340 341
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durch ihren Traditionalismus in den Betrieben Produktivitätsfortschritte verhinderten. Sie kämpften gar um Teepausen, den Heizer auf der Diesellok oder gegen andere Gewerkschaften um Mitglieder. Die Lohnforderungen der Gewerkschaften wurden auch als Treibsatz einer Lohn-Preis-Spirale identifiziert, also für höhere Preise verantwortlich gemacht, die als Reaktion auf Lohnforderungen zustande kamen, die durch Produktivitätsfortschritte nicht gerechtfertigt waren. Für die Analyse der Inflationsgefahr stand mit dem Nobelpreisträger von 1976, Milton Friedman, eine Quelle intellektueller Inspiration für Margaret Thatcher zur Verfügung. Die von Friedman vertretene Sichtweise, dass der Staat sich aus dem Wirtschaftsgeschehen herauszuhalten habe und dass es für die Inflationsbekämpfung einer wirksamen Geldmengensteuerung durch die Zentralbank bedürfe, machte sich Margaret Thatcher rasch zu eigen. Margaret Thatcher vertrat Werthaltungen, die in der Presse in Anspielung auf das 19. Jahrhundert auch „viktorianische Werte“ genannt wurden, nämlich „harte Arbeit“, „Verantwortungsbereitschaft“, „der Wille, sich einzusetzen und Entbehrungen in Kauf zu nehmen“, „Pflichtgefühl“, Patriotismus“ und eine „Abneigung gegen die Gewerkschaften“. Die wirtschaftspolitische Wende in Großbritannien, die mit dem Regierungsantritt Margaret Thatchers begann, war deshalb auch mehr als ein Wechsel der wirtschaftspolitischen Instrumente. Sie war eher ein Kulturwandel, der – in der Sprache Margaret Thatchers – den Sozialismus durch eine „Eigentümerdemokratie“ bzw. eine „Unternehmerkultur“ ersetzen sollte. Der Thatcherismus war aus heutiger Sicht (auch der linken Kritik) unbestritten erfolgreich, insbesondere, wenn man die ökonomischen Leitprinzipien Margaret Thatchers und Tony Blairs vergleicht. Der Thatcherismus bedeutete in der politischen Praxis eine zwar schrittweise, letzten Endes aber grundsätzliche Abkehr von den Spezifika des britischen Wohlfahrtsstaates, wie sie sich im überparteilichen Konsens in der Nachkriegszeit herausgebildet hatten. Die wesentlichen neuen Weichenstellungen des Thatcherismus blieben bis heute erhalten.
164
Tabelle 35:
Nachkriegskonsens (1945-79) und „Thatcherismus“ (1979 bis New Labour)
1. Rahmenbedingungen a) Eigentumsstruktur b) Produktion und Beschäfti gung 2. Wirtschaftliche Gesamtsteuerung 3. Staatseinnahmen
4. Staatsausgaben a) Konjunkturpolitik
Nachkriegskonsens
Thatcherismus
zum Teil Nationalisierungen Staatliche Auflagen und Programme Staatliche Globalsteuerung (einschl. Preisund Lohn, sowie Industriepolitik) Steuerpolitik als Mittel zur Herstellung sozialer Gerechtig keit/Umverteilung
Privatisierungen Entregulierung und Flexibilisierung Markt/Geldmengensteuerung durch Zentralbank
Ausgaben zum Ausgleich von Konjunkturkrisen
Steuerpolitik zur Entlastung der Unternehmen
b) Strukturpolitik
Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse
Keine. Annahme eines länger fristigen wirtschaftlichen Gleichgewichts Keine. Gefordert wird Mobilität des Faktors Arbeit
c) Haushaltsdefizite
zur Bekämpfung von Konjunk turkrisen
Keine. Ziel ausgeglichener Haushalt
d) Staatsverschuldung
möglich aus ökonomischen und schädlich, auch für Privatsek sozialen Gründen tor, der durch die Staatsnach frage nach Krediten höhere Zinsen zahlen muss Partner der Regierung, politi überflüssig, weil sie ein Lohn sche und ökonomische Rolle kartell bilden. Sie haben kein (Korporatismus) durch Wahlen legitimiertes politisches Mandat. In Betrie ben helfende Rolle bei der Produktivitätssteigerung
5. Gewerkschaften
(3) Dritter Weg.342 Die Dritte Weg-Rhetorik, die bei David Cameron, dem Parteivorsitzenden der Konservativen Partei, als Rhetorik des mitfühlenden Kapitalismus heute ihr Echo findet, ist kein Alternativprogramm zum Thatcherismus, zumindest nicht in jener Grundsätzlichkeit, mit der der Thatcherismus den Butskellismus beerdigte. Die Priorität des Marktes als Bezugspunkt und zum Teil auch als Instrument gesellschaftlicher Allokation bleibt unumstritten. Dies wird an der strategischen Ausrichtung von New Labour 342
Ausführlich zu diesem Thema Sturm 2000.
165
deutlich. Für den Wahlerfolg von Tony Blair war entscheidend (a) die Übernahme des konservativen wirtschaftspolitischen Gedankengutes der Vorgängerregierungen, v.a. der Regierung Thatcher. New Labour versprach sogar, im Falle eines Wahlsieges für eine begrenzte Zeit die steuer- und ausgabenpolitischen Pläne der Vorgängerregierung auszuführen, (b) die deutliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik an den Interessen der City und der britischen Industrie, nicht zuletzt zur Stärkung ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit und (c) der Rekurs auf konservative Werte in der Sozialpolitik („Verantwortung“, Familie) und in der Bildungs- und Rechtspolitik (Stärkung des Erziehungswesens, Verbesserung der Lage der sozial Benachteiligten durch ihre Integration in den Arbeitsmarkt oder „zero-tolerance“ Strategien bei der Kriminalitätsbekämpfung selbst gegenüber Straftätern im Kindes- und Jugendalter). Auch im Hinblick auf den strategischen Umgang mit einer Modernisierungsrhetorik und mit politischen Symbolen konvergiert die Politik von Labour und Konservativen. Der Abschaffung sozialistischer Traditionsbestände bei der Labour Party (Verstaatlichungs-Clause IV im Parteistatut, rote Rose statt rote Fahne z.B.) entsprach auf Seiten der Tories eine Distanzierung vom Thatcherismus und das neue Symbol eines Eichenbaums343 statt der blauen Freiheitsfackel, die 1987 Margaret Thatcher eingeführt hatte. Wie Tony Blair beim Thema Klimaschutz „ergrünte” der ostentativ radfahrende David Cameron, und beide sahen in dem Ausbau der Kernergie eine Lösung des Problems der Erderwärmung.344 Kommunitaristisches Denken wurde herangezogen zur Begründung der kritischen Distanz vom Zentralstaat in seiner Form des allgegenwärtigen Interventionsstaates. Ziel von New Labour sei es, die Menschen in die Lage zu versetzen, zusammenzuarbeiten, damit sie für sich und ihre Mitbürger die selbstgesteckten Ziele erreichen können.345 Um „community“ kreist auch der Inhalt des 1995 neu gefassten Clause 4 (dem früheren Verstaatlichungspostulat) des Labour Parteistatuts. „Partnerschaft“ der Bürger untereinander und des Staates mit den Bürgern ist einer der zentralen Begriffe der „kommunitaristischen“ Praxis von New Labour, der auch in Gesetzeswerken auftaucht, Thatcheristen, wie Lord Tebbit, fühlten sich durch das neue Logo eher an Broccoli als an politischen Aufbruch erinnert. 344 Evans 2008. 345 Mandelson/Liddle 1996: 19. 343
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wenn es darum geht, Strategien des Interessenausgleiches zu entwickeln. Partnerschaft bedeutet im britischen Kontext das Überwinden der Klassengesellschaft und der sterilen Politik des „entweder-oder“, also der ideologischen Polarisierung um der Polarisierung willen. Blair wurde als persönliche Leistung zugeschrieben, dass nach seiner Übernahme des Parteivorsitzes „Labour became ever more populist on crime and morality, dramatically more pro-business, even keener on flexible labour markets and more resigned than ever before to the powerlessness of the state in the face of market forces.“346. Tony Blair hat das Modell des angelsächsischen Kapitalismus in der Praxis nie in Frage gestellt – im Gegenteil. Er bekannte sich dazu, so Martin Wolf 347 ohne polemischen Unterton, „to be an evangelist for the Anglo-Saxon style of economics“. Der Unterschied zwischen der Wirtschaftspolitik Tony Blairs und Margaret Thatchers besteht aber darin, dass er, wenn auch nicht an erster Stelle seiner Prioritätenliste, auch die Idee verfolgte, dass die Konkurrenzfähigkeit des angelsächsischen Wirtschaftsmodells durch den Einschluss der momentan in Not geratenen, aber ökonomisch Teilnahmebereiten gewinnen kann. Sozialpolitik darf bei deren Förderung aber der wirtschaftlichen Effizienz nicht schaden, sie muss wirtschaftspolitisch zu legitimieren sein. Die Sicherung des „sozialen Friedens“ ist nach der Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung als politischer und teilweise auch als wirtschaftlicher Kraft unter Margaret Thatcher auch für Tony Blair nicht mehr das zentrale Problem. Vielmehr ist die „Inklusions“politik des „dritten Weges“ geleitet von (a) ethischen Grundsätzen, (b) parteitaktischen Überlegungen und (c) betriebs- und volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten. Die wichtigsten ethischen Grundsätze sind in diesem Zusammenhang „equal worth“, „opportunity for all“ und „responsibility“348. Jeder Brite soll unabhängig von seiner Herkunft und anderen Persönlichkeitsmerkmalen in seinem Leben gleiche Startchancen haben und diese auch aus eigener Verantwortung erkennen und wahrnehmen. Startchancen werden als wirtschaftliche Startchancen interpretiert, als Teilnahmemöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Aufgabe des Staates ist es, zur Verbesserung der Startchancen der Benachteiligten durch eine effiziente und innovative Bil-
Anderson/Mann 1997: 385. Wolf 1999: 10. 348 Blair 1998: 3f. David Cameron prägte 2006 den Begriff „responsibility revolution.” 346 347
167
dungspolitik beizutragen und in „Humankapital“ zu investieren. Die Frage, ob die Finanzierung bildungspolitischer und anderer Investitionen in Humankapital nicht auch die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums erfordert, wird von den britischen Verfechtern des „dritten Weges“ weitgehend ignoriert. Aus dem Wohlfahrtsstaat traditioneller Prägung wird der „social investment state“349. „Education, education and education“ lauteten deshalb auch die drei wichtigsten Wahlkampfziele von New Labour 1997. So wird aus dem Bürger ein Teilhaber im Wirtschaftsprozess, der nicht nur seinen eigenen Nutzen, sondern auch den Nutzen der britischen Wirtschaft mehrt. Diesen strebsamen und hart arbeitenden Bürgern ist aber nicht mehr zuzumuten, dass sie Mitbürger durch Sozialtransfers finanzieren, die ihre Verantwortung für den Wirtschaftsprozess nicht wahrnehmen wollen. Das Flagschiff-Programm von New Labour, der „New Deal“ für arbeitslose Jugendliche, finanziert aus „windfall profits“ der privatisierten Versorgungsunternehmen, wurde in diesem Sinne genutzt, um beschäftigungslose Jugendliche in einer von vier unterschiedlichen Formen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die fünfte Option, eine Finanzierung des passiven Sozialhilfeempfängers, wurde ausdrücklich ausgeschlossen und finanziell sanktioniert. „Wer von der Gesellschaft profitiert, muss auch eine Gegenleistung erbringen.“350 Welfare-to-work-Programme spiegeln „den Glauben an die Bedeutung des Arbeitsmarkts als Mittelpunkt der Sozialpolitik“351 wider. New Labour setzt sich ein für das Ziel, wie es ihr Schatzkanzler Gordon Brown formulierte, des „welfare state built around the work ethic“352. Die Finanzkrise hat auf ihre Weise beide Parteien einander näher gebracht, auch wenn um Details wie die Finanzierung von Hilfsprogrammen für Banken, Wirtschaft und den Häusermarkt gestritten wurde. Die überragende Bedeutung des Finanzsektors für die britische Wirtschaft und die wahlentscheidende Überwindung des Zusammenbruchs des Immobilienmarktes ließen wenige politische Alternativen und wenig Raum im Grundsätzlichen.
Giddens 1998: 117. Anthony Giddens im Spiegel-Interview vom 1.11.99: 172. 351 Ebda.: 170. 352 King/Wickham-Jones 1999: 72. 349 350
168
1.3 Parteiorganisation Die Mitgliederzahlen politischer Parteien sind in Großbritannien weit geringer als in Deutschland. Sie gehen aber hier wie da zurück, und die Gründe scheinen ähnlich zu sein. Parteien sind nicht mehr attraktiv und glaubwürdig für engagierte Bürger ohne Ambitionen einer politischen Karriere.353 Da die Konservative Partei bis 1998 keine nationalen Mitgliederlisten führte, waren alle früheren Zahlenangaben (eher optimistische) Schätzungen. Bei der Labour Party ist zwischen kollektiven und individuellen Mitgliedern zu unterscheiden. Mit der kollektiven Mitgliedschaft eines großen Teils der Gewerkschaften steigt die Gesamtzahl der Mitglieder der Labour Party auf knapp 5 Millionen (2005). Bei allen Parteien ist die Überalterung ihrer Mitgliedschaft ein Problem, insbesondere gilt dies für die Konservative Partei (Durchschnittsalter der Mitgliedschaft um die 60 Jahre). Die Jugendorganisationen der großen Parteien sind relativ unbedeutend, auch für die Parteiarbeit. Die 1998 aus allen Jugendorganisationen der Konservativen Partei gegründete „Conservative Future” hat ca. 15.000 Mitglieder. „Young Labour”, anfangs der 1990er Jahre als Ersatz für die 1987 wegen trotzkistischer Abweichungen aus der Partei ausgeschlossenen „Young Socialists” gegründet, entwickelte sich zu einem Karrierepfad für die Anhänger Tony Blairs. Deutlich mehr innerparteiliches Gewicht hat die Jugendorganisation der Liberal Democrats, die „Liberal Democrat Youth and Students”, auch personell in den Parteigremien.354 Tabelle 36:
Individuelle Mitgliedschaften in den Parteien
1983 1987 1992 1997 2001 2005
Labour Party 295 000 289 000 280 000 405 000 311 000 215 000
Konservative 1 200 000 1 000 000 500 000 400 000 350 000 320 000
Liberal Democrats 145 000 138 000 100 000 100 000 90 000 73 000
Quelle: Allen 2006: 66.
353 354
Byrne 2005: 616. Russell 2005: 564ff.
169
Britische Parteien unterscheiden sich in ihrer internen Organisation viel deutlicher voneinander als deutsche Parteien, für deren Strukturen das deutsche Parteiengesetz einen relativ eng umrissenen Rahmen schafft. Traditionell galten und gelten Parteien im Vereinigten Königreich als Organisationen in der Gesellschaft, die mit dem Staat nichts zu tun haben. Deshalb konnte es auch nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, über das Handeln oder das Innenleben von Parteien zu befinden.355 Traditionell zeichnete darüber hinaus auch die Doktrin der Parlamentssouveränität den Ort vor, wo das eigentliche Entscheidungszentrum der Partei zu liegen habe, nämlich in der Parlaments(v.a. der Unterhaus-)fraktion und eben nicht auf Parteitagen. Sowohl was die Staatsferne der Parteien betrifft als auch im Bezug auf die Rolle der Unterhausfraktion hat sich in den letzten Jahrzehnten ein entscheidender Wandel vollzogen. Aus technischen Gründen wurde wegen der Wahlsystemreformen (siehe dazu weiter unten), die zur Erstellung von Parteilisten für Wahlen führten, 1998 die freiwillige(!) Registrierung politischer Parteien eingeführt (Registration of Political Parties Act). 2001 hatten sich 148 Parteien registrieren lassen. Für die Labour Party war die organisatorische Neuorientierung ein besonderes Problem, weil sie sich nicht nur auf mehr Staat einlassen musste, sondern auch versuchte, ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften neu zu bestimmen. Die Gewerkschaften gründeten 1900 das Labour Representation Committee, das 1906 in Labour Party umbenannt wurde. Von Beginn an war diese Partei, wie ihr erster Name auch verdeutlicht, als politischer Arm der Gewerkschaften konzipiert. Die enge Verbindung von Gewerkschaften und Partei hat nicht nur lange das Programm der Labour Party, sondern auch ihre innere Organisation geprägt. Bei Parteitagen spielten die Gewerkschaften mit ihren „block votes”, die sich an der Zahl derjenigen Mitglieder orientierten, für die sie Beiträge an die Labour Party entrichteten, eine entscheidende Rolle. Es war, nebenbei bemerkt, durchaus möglich, dass Gewerkschaften ihr Stimmengewicht dadurch vergrößerten, dass sie mehr Geld an die Labour Party überwiesen als es ihrer Mitgliederzahl entsprach. Vor 1981 stand der Parteiorganisation als stärkeres Gegengewicht die Parlamentsfraktion gegenüber, die den Parteichef wählte. 1981 setzte die Parteilinke eine Parteireform durch, die ihren Einfluss vergrößern sollte. Ein
355
Bogdanor 2004: 717f.
170
Wahlgremium zur Wahl des Parteivorsitzenden wurde geschaffen, in dem die Gewerkschaften 40% und die Vertreter der Wahlkreise und die Vertreter der Parlamentsfraktion jeweils 30% der Gesamtstimmen hielten. Die Parteimodernisierer an der Spitze der Labour Party (Neil Kinnock, John Smith, Tony Blair) versuchten seit Ende der 1980er Jahre, den Einfluss der Gewerkschaften und des linken Flügels der Partei zu verringern. Auf Drängen von John Smith wurde das Wahlverfahren für die Wahl des Parteivorsitzenden auf dem Parteitag im Jahre 1993 demokratisiert. An die Stelle von Blockvoten trat das Prinzip „one member, one vote”. Jeder von den Gewerkschaften entsandte Delegierte hatte nun ein individuelles Stimmrecht. Wahlkreisabgeordnete werden seit 1993 durch Urwahl bestimmt und nicht mehr von den örtlichen Parteifunktionären ausgewählt. Außerdem wurde das Stimmenverhältnis des Wahlgremiums für die Wahl des Parteivorsitzenden neu geordnet. Gewerkschaften, Wahlkreise und Abgeordnete tragen nun zu je einem Drittel zur Entscheidung über den Parteivorsitzenden bei.356 Die Konservative Partei wählte bis Mitte der 1960er Jahre durch informelle Meinungsbildung in der Parlamentsfraktion ihre(n) Parteivorsitzende(n) („the leader emerged“ bzw. wurde im „magic circle” gefunden). Seit der Wahl Edward Heaths zum Parteivorsitzenden 1965 wurden Wahlgänge in der Parlamentsfraktion üblich. Die Konservative Partei blieb aber diejenige Partei, die am stärksten organisatorisch und programmatisch von dem gewählten Parteichef dominiert wurde. Parteitage der Konservativen waren reine Akklamationsveranstaltungen für die Parteiführungen und zum Teil auch Indikatoren innerparteilicher Richtungskämpfe, sie trafen aber keine die Parteiführung bindenden Entscheidungen. Nach der Wahlniederlage von 1997 setzte sich der neue Parteichef William Hague für eine Demokratisierung der Wahl des Vorsitzenden der Konservativen ein. Sein Nachfolger Ian Duncan Smith wurde als erster nicht mehr von der Parlamentsfraktion, sondern von allen Parteimitgliedern per Briefwahl gewählt. Die Aufgabe der Parlamentsfraktion ist es lediglich noch, durch eine Reihe von Wahlgängen die Zahl der Kandidaten für den Parteivorsitz auf zwei zu reduzieren, die sich dann dem Votum der Parteimitglieder stellen.357 Das Dilemma des Verfahrens ist allerdings, dass die befragten Parteimitglieder dazu neigen, ihre
356 357
Ausführlich Becker 1999. Quinn 2005.
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stark ausgeprägten politischen Präferenzen eher zu beachten als die Wählbarkeit des Kandidaten auch für Nicht-Tory Anhänger. Inzwischen neigt die Konservative Partei dazu, die Mitgliederbefragung dadurch zu vermeiden, dass die Fraktion nur einen Kandidaten vorschlägt, was den Mitgliederentscheid überflüssig macht. Tabelle 37:
Die Parteivorsitzenden der Labour Party und der Konservativen Partei seit 1945
Labour Party Clement Attlee Hugh Gaitskell Harold Wilson James Callaghan Michael Foot Neil Kinnock John Smith Tony Blair Gordon Brown
Amtszeiten 19351955 19551963 19631976 19761980 19801983 19831992 19921994 19942007 2007
Konservative Partei Winston Churchill Sir Anthony Eden Harold Macmillan Alec DouglasHome Edward Heath Margaret Thatcher John Major William Hague Ian DuncanSmith Michael Howard David Cameron
Amtszeiten 19401955 19551957 19571963 19631965 19651975 19751990 19901997 19972001 20012003 20032005 2005
Die Liberal Democrats haben das Element der innerparteilichen Demokratie am weitesten fortentwickelt. Die Mitglieder wählen den Parteivorsitzenden durch Urwahl. Schon 1976 wurde die Wahl des Parteivorsitzenden durch die Unterhausfraktion bei der Vorgängerpartei, den Liberalen, durch dieses Wahlverfahren abgelöst. Auch die SDP-Mitglieder wählten ihren Vorsitzenden durch Urwahl. Parteitage spielen eine wichtige Rolle für die politische Richtungsbestimmung der Partei. Die Liberal Democrats sind auch die einzige föderale Partei Großbritanniens, mit eigenständigen Parteiorganisationen in Schottland und Wales, aber nicht in England.358 Letzteres ist nicht ganz unproblematisch, weil der Interessenausgleich zwischen den britischen Nationen auch innerparteilich organisiert werden muss und es für die schottischen und walisischen Liberalen nicht akzeptabel ist, wenn die englischen Liberalen ihre Interessenvertretung mit der gesamtbritischen gleichsetzen.359 358 359
Deacon 2007. Holmes 2007: 539.
172
1.4 Parteienfinanzierung Aus der Staatsferne der britischen Parteien ergibt sich logisch, dass es nicht Aufgabe des Staates bzw. des Steuerzahlers sein kann, diese oder gar Parteistiftungen, wie in Deutschland üblich, zu alimentieren. Parteien werden in erster Linie finanziert von ihnen nahestehenden Personen und Interessengruppen. Erst 1998 führte die Konservative Partei Mitgliedsbeiträge ein. Zur Unterstützung ihrer parlamentarischen Arbeit erhielten die Parteien im Parlament erstmals 1975 Finanzmittel. Das sogenannte „Short money”, benannt nach dem damaligen Labour Fraktionschef, Edward Short, wurde an Parteien bezahlt, die mindestens zwei Abgeordnete oder einen Abgeordneten und mindestens 150.000 Wählerstimmen bei der letzten Wahl vorweisen konnten. Basierend auf dem Illegal and Corrupt Practices Act von 1883 (auf den neuesten Stand gebracht durch den Representation of the People Act von 1983) waren Ausgabengrenzen für Parteien bei Wahlen bis zur Jahrtausendwende nur auf Wahlkreisebene festgeschrieben. 2001 trat der Political Parties, Elections and Referendums Act (PPERA, 2000) in Kraft360, der erstmals vorschreibt, bei Summen von über 5.000 Pfund im nationalen Rahmen und von über 200 Pfund auf lokaler Ebene die Namen der Parteispender zu veröffentlichen, der eine Höchstsumme für die Wahlkampfausgaben der Parteien nennt und Parteispenden aus dem Ausland verbietet. Das Gesetz führte auch einen Fonds aus Steuermitteln für die Programmarbeit der Parteien ein, der von der neu gegründeten Electoral Commission administriert wird. Zusätzlich erhalten die Parteien Mittel, damit sie ihren neuen Berichtspflichten gerecht werden können, sowie eine stärkere finanzielle Unterstützung ihrer Fraktionsarbeit im Parlament. Die gegenwärtige staatliche Parteienfinanzierung hat aus der Sicht der Parteien drei Nachteile: (1) sie finanziert v.a. Wahlkämpfe und nicht die Parteiarbeit zwischen den Wahlkämpfen; (2) ihr Umfang ist relativ bescheiden; (3) die Parteienfinanzierung ist unabhängig von dem Erfolg der Parteien. Sowohl die Labour Party (Unterstützung durch Gewerkschaften) als auch die Konservative Partei (Unterstützung durch Wirtschaftsinteressen361) haben heute Mühe, ihre traditionellen Geldgeber Grant 2005. Die Unterstützung von Gewerkschaften und Unternehmen ist jeweils nicht nur interessengeleitet, das wird in jüngster Zeit gerade zu einem Problem, sondern auch stark sozialstrukturell („Klassentrennung”) verankert. Vgl. ausführlicher Bond 2007.
360 361
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zur Finanzierung der Parteiarbeit zu bewegen bzw. legen größeren Wert als bisher auf die politische Unabhängigkeit von ihren Unterstützern. Vor allem deshalb wird die Einführung einer staatlichen Parteienfinanzierung, etwa im Umfange dessen, was in Deutschland üblich ist, im Vereinigten Königreich diskutiert. Eine staatliche Parteienfinanzierung könnte auch helfen, die zahlreichen Parteienfinanzierungsskandale der letzten Jahrzehnte einzudämmen (u.a. Fragen an die Regierung aus dem Parlament im Auftrag Dritter, Gesetzesinitiativen oder die Mitgliedschaft im House of Lords jeweils als Gegenleistung für Zahlungen in die Parteikasse, sowie nicht zurückzuzahlende „Darlehen” an Parteien, unzulässige Spesenzahlungen an Parlamentarier362 und die Beschäftigung von Verwandten in Abgeordnetenbüros).363 Die Electoral Commission ist nicht nur für die Parteienfinanzierung verantwortlich, sondern übernahm 2002 auch die Aufgaben der Parliamentary Boundary Commissions (Wahlkreisneueinteilung), die zu Boundary Committees der Electoral Commission wurden, und der Local Government Commission (Kommunalwahlen). 2009 wurde der Political Parties and Elections Act verabschiedet. Er gibt u.a. der Electoral Commission weitere Sanktionsmöglichkeiten bei Fehlverhalten im Zusammenhang mit dem Wahl- und Parteiengesetz und verlangt größere Transparenz bei Parteispenden. Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit erhielten die Parteien kostenlosen Zugang zu den elektronischen Medien in Wahlkampfzeiten. Ein inoffizielles, der Öffentlichkeit nicht bekanntes Committee on Political Broadcasting, bestehend aus dem Premierminister als Vorsitzendem und Vertretern der BBC und der Independent Broadcasting Authority, entschied, welche Partei wieviel Sendezeit erhielt. Als Zugangsschwelle wurden mindestens 50 Kandidaturen bei Unterhauswahlen festgelegt. Seit 1983 liegt die Entscheidung alleine bei den Medien, die sich der „üblichen” informellen Kanäle bedienen, um politischen Rückhalt zu haben. Seit 1997 folgten die Medien juristischem Rat und entschlossen sich als Ansprechpartner nicht mehr das Committee, sondern die Parteien direkt einzubinden. Seit 1999 musste die Zugangsschwelle den neuen Wahlsystemen angepasst werden.
Bis zum Sommer 2009 sollen auf Grundlage des Freedom of Information Acts sämtliche 1,3 Millionen Rechnungsbelege veröffentlicht werden, die die Abgeordneten in den letzten drei Jahren eingereicht haben. 363 Fisher 2001; Fisher 2002; Grant 2005. 362
174
Als Faustregel gilt nun, dass eine Partei mindestens in einem Sechstel der Wahlkreise antreten muss, um Sendezeit erhalten zu können.364
2
Wahlen und Referenden, Wahlsysteme und Wählerverhalten
Wahlen in Großbritannien orientieren sich traditionell an der Auseinandersetzung um das Erreichen politischer Ämter, in erster Linie das Amt des Premierministers. Wahlprogramme mögen zwar weltanschauliche Elemente (heute weit weniger als noch in den 1970er Jahren) enthalten. Diese dienen aber eher dazu, die eigene Basis zu mobilisieren, denn als Leitlinie für Regierungshandeln. Die britische Sichtweise der Bedeutung von Wahlen lässt sich sehr gut mit dem Diktum Joseph Schumpeters zusammenfassen: „In a democracy ... the primary function of the election is to produce government.”365 Parteien, so Schumpeter weiter, haben zwar Prinzipien und Standpunkte, wie beispielsweise auch ein Supermarkt Angebote hat. Das Propagieren dieser Prinzipien und Standpunkte geschieht wie der Verkauf im Supermarkt aber nicht aus Altruismus, sondern um gewählt zu werden (bzw. Geld zu verdienen). Das erste Ziel von Wahlen ist nicht die Repräsentation aller politischen Kräfte im Parlament. Eine solche Prioritätensetzung hat aus britischer Sicht die unangenehme Folge, dass den Wählern die Wahl der Regierung vorenthalten wird und die Regierungsbildung in Kungelrunden von Parteien verlegt wird, die im Extremfall sogar den Wählerwillen ignorieren und die stärkste Partei in die Opposition schicken und/oder kleinen Parteien einen unverhältnismäßig großen Anteil an der Regierungsmacht (z.B. bei der Ämterverteilung) einräumen. Wahlkämpfe sind unter diesen Vorzeichen schlicht sinnlos, denn was immer hier gesagt wird, nach der Wahl gelten neue Spielregeln, die ohne die Wählerschaft bestimmt werden.366 Diese Sichtweise des Funktionierens von Demokratie und Parteienwettbewerb erklärt die Präferenz für das sogenannte First-Past-The-Post (FPTP) Wahlsystem, eine Bezeichnung, die an das entsprechende Bild im Pferderennen erinnert. Wahlkämpfe sind viele kleine „horse races”, bei denen es im-
Bogdanor 2004: 725f. Schumpeter 1942: 273. 366 Am Beispiel der neuen Wahlsysteme im UK: Kelly 2008. 364 365
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mer nur einen Gewinner geben kann. Das FPTP-Wahlsystem oder relative Mehrheitswahlsystem in Einerwahlkreisen dient in eleganter Weise dem Zweck, den Wählerwillen in Regierungsmehrheiten umzusetzen. Die Verbindung Wähler-Gewählte wird über den im Wahlkreis gewählten Abgeordneten hergestellt, der nach seiner Wahl als Ansprechpartner für alle Wahlkreisbürger, auch diejenigen, die nicht seiner Partei nahe stehen, zu dienen hat. Auch in Großbritannien hat es seit dem 19. Jahrhundert immer wieder Kritiker gegeben und gibt sie in der Electoral Reform Society noch heute, die nicht nur aus parteipolitischen Gründen, wie die permanent aus ihrer Sicht benachteiligte Drittpartei, die Liberal Democrats, eine Reform des Unterhauswahlsystems fordern. Sie machen sich, wie schon John Stuart Mill, aus demokratietheoretischen Gründen für eine Form der Verhältniswahl stark. Im Zentrum ihrer Argumentation steht das „lost vote”-Argument (Stimmen, die nicht zur relativen Mehrheit im Wahlkreis beitragen, haben zwar einen Zählwert, aber keinen Erfolgswert) und der damit verbundene quasi-Entzug des Wahlrechts für diejenigen Wähler, die in einem Wahlkreis leben, der von einer Partei dominiert wird. Selbst wenn man eine breitere Wirkung des FPTP-Wahlsystems zugrunde legt und danach fragt, ob (1) die Wahlentscheidung des einzelnen Wählers dem Ergebnis der Regierungsbildung oder (2) dem Ergebnis im Wahlkreis entspricht oder (3) mit der regionalen Stärke einer Partei korrespondiert, bleiben 37% der abgegebenen Stimmen bei der Unterhauswahl 2005 ohne Folgen.367 Zuerst in Nordirland, nun aber auch in Schottland und Wales und bei den Europa- und zum Teil auch bei den Kommunalwahlen wurde das Monopol des FPTP-Wahlsystems durchbrochen. Die Konvention, dass im Vereinigten Königreich nach dem relativen Mehrheitswahlsystem gewählt wird, gehört teilweise der Vergangenheit an. Einige britische Politikwissenschaftler sehen schon den allmählichen Übergang des FPTP-Wahlsystems zum Verhältniswahlsystem voraus.368 Allerdings ist bemerkenswert, dass die wichtigste Wahl, die Unterhauswahl, trotz einiger Reformanläufe (so setzte Tony Blair nach seinem ersten Wahlsieg die Jenkins-Kommission ein, deren Bericht aber folgenlos blieb) bis heute weiterhin vor allem unter dem Aspekt der Regierungsbildung in der britischen Öffentlichkeit betrachtet wird.
367 368
Dunleavy/Margetts 2005: 867. Dunleavy/Margetts 2001.
176
2.1 Britische Wahlsysteme Für die Wahl der seit 2005 646369 Abgeordneten des Unterhauses wird das ganze Land in 646 Wahlkreise (constituencies) aufgeteilt, deren Grenzlinien entsprechend der Bevölkerungsentwicklung seit 1944370 von vier Wahlkreisausschüssen (boundary committees) – je einer für England, Schottland, Wales und Nordirland – frühestens alle acht Jahre und nicht später als alle zwölf Jahre korrigiert werden.371 Dies ist bislang fünf Mal geschehen. Das Ziel der Ausschüsse ist es, die Wählerschaft so auf Wahlkreise zu verteilen, dass deren Einwohnerzahl möglichst nahe einer Quote kommt, die sich aus der Division der Zahl der Wahlberechtigten durch die Zahl der gerade existierenden Wahlkreise ergibt. Als unverletzliche Einheiten gelten dabei die Wahlkreise bei Kommunalwahlen, die durch eine Wahlkreisneueinteilung nicht zerschnitten werden dürfen. Bei der Revision von 2005 wurde erreicht, dass 87% der Wahlkreise nicht mehr als maximal 10% von der Quote abwichen, nach der alten Wahlkreiseinteilung wären es nur 75% gewesen. Schon seit Jahrzehnten bevorteilt die Wahlkreiseinteilung die Labour Party, weil sich deren Stimmen in Wahlkreisen konzentrieren, die weniger Wahlberechtigte als der Durchschnitt der Wahlkreise aufweisen und eine unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung verzeichnen.372 Um gewählt zu werden, muss der/die Kandidat(in) einer Partei in seinem/ihrem Wahlkreis mehr Stimmen bekommen als einer der Kandidat (inn)en der anderen Parteien (relative Mehrheit); der Stimmenanteil für den Sieg muss aber nicht über 50% der abgegebenen Stimmen (absolute Mehrheit) liegen. Alle Stimmen für Kandidat(inn)en, die in den Wahlkreisen nicht siegen, werden bei der Sitzvergabe im Parlament nicht berücksichtigt. Es findet also keine nationale Verrechnung der Stimmergebnisse statt. Scheidet ein Abgeordneter aus dem Parlament aus, gibt es keinen „Nachrücker“, es muss im Wahlkreis neu gewählt werden. Diese Nachwahlen (by-elections) während der laufenden Legislaturperioden haben häufig den Charakter von Bei der nächsten Wahl wird die Zahl der Sitze auf 650 erhöht, weil England vier zusätzliche Wahlkreise erhält. 370 House of Commons (Redistribution of Seats) Acts 1944: 3 bis 7 Jahre; 1958: 10 bis 15 Jahre; 1992: 8 bis 12 Jahre. 371 Rallings/Thrasher 1994; Johnston et al. 2008. 372 Rallings u.a. 2008. 369
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Popularitätstests der amtierenden Regierung. Allerdings sollten ihre Ergebnisse nicht überbewertet werden. Selten werden Nachwahltrends, die lokale Umstände widerspiegeln können oder möglicherweise nur einen taktischen oder zeitlich begrenzten Protest ausdrücken, bei Parlamentswahlen im vollen Umfange bestätigt. Kandidat(inn)en können auch Bürger eines Commonwealth-Staates oder der irischen Republik sein. Alle Kandidat(inn)en müssen das Kriterium der Wählbarkeit erfüllen, also 21 Jahre alt sein, dürfen nicht geisteskrank sein, nicht dem Oberhaus angehören, nicht Gemeinschuldner sein, nicht zu einer Gefängnisstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt sein, nicht bestimmte öffentliche Ämter innehaben (Berufsrichter, Beamter, Soldat, Polizist, bezahltes Kronamt) (House of Commons Disqualification Act 1975). Bis 2001, bis zum Removal of Clergy Disqualification Act, waren auch Geistliche von Kandidaturen ausgeschlossen. Wahlberechtigt sind alle geistig gesunden Briten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und nicht Mitglieder im Oberhaus sind. Die Namen der Wahlberechtigten werden in einem Wahlregister festgehalten, das periodisch auf den neuesten Stand gebracht werden muss (Einwohnermeldeämter gibt es nicht). Für das Melden der Wähler sind die Haushalte gesetzlich verantwortlich. Das Erheben der Informationen wird mit staatlichen Finanzmitteln unterstützt und von der Electoral Commission organisiert. Seit 2001 gibt es ein „rolling register”, das einzelnen Personen ermöglicht, von sich aus sich für Wahlen registrieren zu lassen oder sie betreffende Informationen jederzeit zu ändern. Das Wahlregister wird monatlich auf den neuen Stand gebracht. So soll vermieden werden, dass – wie früher häufig üblich – Verstorbene weiterhin als Wahlberechtigte galten (was Einfluss auf die Daten zur Wahlbeteiligung hat) und dass Wähler durch Umzug ihr Wahlrecht verlieren. Dennoch meiden acht bis neun Prozent der Wähler das Anmeldeverfahren. Über die Hälfte dieser Wähler (52% im Jahre 2000) kommen aus drei Gruppen: Personen, die bei ihren Eltern leben, Personen, die in den letzten sechs Monaten vor der Wahl umgezogen sind, und Personen, die in Miete leben. Seit 2001 ist Briefwahl möglich. 12,1% der Wähler wählten 2005 per Briefwahl. 46% gaben an, sie hielten die Briefwahl für unsicher; sogar ein Fünftel der Briefwähler waren dieser Meinung. Die Electoral Commission verabredet mit den wichtigsten Parteien des Landes regelmäßig einen Verhaltenskodex zur Abwicklung der Briefwahl, um deren Integrität zu stärken. Wahltag ist in Großbritannien traditionell der Donners-
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tag373. Die Regierung Brown ließ 2008 prüfen, ob Wahlen am Wochenende die Wahlbeteiligung erhöhen könnten, bisher ohne Konsequenzen. Die Höchstsumme, die Kandidaten im Parlamentswahlkampf ausgeben dürfen, ist festgesetzt. Jeder Kandidat kann kostenlos per Post an jeden Wähler eine Informationssendung richten. Für weniger seriöse Bewerber stellt sich mithin die Frage, ob der Gegenwert der kostenlosen Nutzung des Postweges ausreicht, um den Verlust des deposits auszugleichen.374 Das relative Mehrheitswahlsystem scheint auf den ersten Blick Duvergers Faustregel, dass Mehrheitswahlsysteme zu Zweiparteiensysteme führen, zu bestätigen. Wie oberflächlich diese Sichtweise allerdings ist, wurde bereits dargestellt. Greifbarer sind die Konsequenzen des relativen Mehrheitswahlsystems für den Parteienwettbewerb. Parteien mit einer breiten Unterstützung, aber wenigen Hochburgen, werden deutlich benachteiligt, da in fast allen Wahlkreisen die für sie abgegebenen Stimmen unberücksichtigt bleiben. Dies lässt sich an der permanenten Unterrepräsentation der Liberalen Demokraten ablesen (Ein Beispiel: bei den Wahlen 1997 erhielten sie mit 17% der Stimmen nur 7% der Sitze im Unterhaus, während sich die siegreiche Labour Party mit 45% der Stimmen 63% der Sitze sicherte). Parteien, die sich, wie die walisische Nationalpartei, auf wenige Hochburgen konzentrieren, können dagegen solche nachteiligen Effekte weitgehend vermeiden. Die Regierung Blair hat Verhältniswahlsysteme für die Europawahlen und für die Wahlen zu den schottischen und walisischen Regionalversammlungen eingeführt. Zur Europawahl entscheiden die Parteizentralen über Kandidaturen auf regionalen Listen. Die Regionen entsprechen den nicht mehr genutzten alten Wahlkreisen für Europawahlen aus der Zeit als die Europaabgeordneten in Großbritannien noch mit relativer Mehrheit in Einerwahlkreisen gewählt wurden. Die Kontrolle der Kandidaturen durch die Parteizentrale ist eine gesetzliche Regelung, die Tony Blair gegen den heftigen Widerstand der Konservativen Partei durchsetzte, die sich für eine dezentrale Kandidatenauswahl stark gemacht hatte. Für die Wahl der Regionalversammlungen wird das Additional Member System (AMS) benutzt, das die Stimmabgabe für Wahlkreiskandidaten mit
Er wurde gewählt, um die Stimmabgabe vor den Erhalt des Wochenlohnes zu legen, der mit das Urteilsvermögen trübendem Alkoholgenuss verbunden sein konnte. 374 Peele 42004. 373
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einer Stimmabgabe für eine Parteiliste verbindet. Der ergänzende Charakter der Parteiliste führt dazu, dass anders als in Deutschland, diese nicht prominent zur Absicherung eventuell im Wahlkreis scheiternder Kandidaten dient. In Wales wurde sogar ein Verbot der Doppelkandidatur diskutiert. Die Einführung des AMS hatte sowohl historische als auch taktische Gründe. Das AMS knüpfte mit der Anlehnung der Zahl der Wahlkreise an diejenigen bei Unterhauswahlen an Wählergewohnheiten an. In Schottland wurde lediglich der Unterhauswahlkreis Orkney und Shetlands aufgeteilt, so dass 73 anstatt 72 Wahlkreismandate bei Wahlen zum schottischen Parlament entstanden. Wie im Devolution-Gesetz (Scotland Act 1998) wegen der nun stärkeren Selbstregierung in Schottland im Prinzip vorgesehen, wurde bei den Unterhauswahlen 2005 die Zahl der schottischen Wahlkreise jedoch von 73 auf 59 reduziert, und mit Ausnahme von drei Wahlkreisen wurden völlig neue Wahlkreisgrenzen gezogen. Damit entfallen die historischen Bezüge des AMS. Ebenso wenig dauerhaft erwiesen sich die taktischen Gründe, die aus Sicht der Regierung Blair für das AMS sprachen. Die Erwartung der Regierung war, dass in ihrer schottischen Hochburg die Labour Party alleine oder (mit Hilfe der durch die Listenkandidaten gestärkten Liberal Democrats) in einer Koalition als stärkste Partei auf Dauer wird regieren können. Eine entsprechende Mehrheit kam aber bei der letzten Wahl nicht mehr zustande. Die nordirische Versammlung wird mit Hilfe des Single Transferable Vote-Systems (STV) gewählt. Hier haben die Wähler zwar nur eine Stimme können aber Präferenzen für Kandidaten in Mehrpersonenwahlkreisen auf ihrem Stimmzettel angeben. So wird die Stimme übertragbar. Der Effekt des Wahlsystems ist größere Proportionalität als bei der relativen Mehrheitswahl. Damit ist in Nordirland gewährleistet, dass auch die katholisch-nationalistische Minderheit adäquat repräsentiert bleibt. Das STV wurde vom schottischen Parlament 2007 erstmals für schottische Kommunalwahlen genutzt. Ein anderes Wahlsystem (supplementary vote system, SV), das ebenfalls auf der Angabe von Präferenzen für Kandidaten beruht, wird für die Direktwahl des Londoner Oberbürgermeisters eingesetzt, ebenso wie für die Wahl zwölf weiterer direkt gewählter Bürgermeister in den Kommunen. Es wird also nur bei der Entscheidung über kommunale Spitzenrepräsentanten genutzt mit dem Ziel, diesen eine ausreichende Legitimationsbasis (absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen) zu geben (zu Details der Wahlsysteme vgl. Tabelle 39).
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Tabelle 38:
England
Die britischen Wahlsysteme im Überblick Unterhaus Europäisches Parlament FPTP Verhältniswahl
Schottland FPTP Verhältniswahl Wales FPTP Verhältniswahl Nordirland FPTP STV Quelle: Nach Kelly u.a. 2005: 222.
Tabelle 39: Wahlsystem FPTP
Verhältnis wahl
Regionale Parlamente AMS/SV (Londoner Oberbürgermeister) AMS AMS STV
Kommunen FPTP/SV (nur bei einer Di rektwahl des Bürgermeisters) STV FPTP STV
Spezifika der Wahlsysteme seit traditio nelles Wahl system 1999
AMS
1999
STV
1921/ 1973*, 2007
SV
2000
Wahleinheiten Einerwahlkreise
Verrechnungsmethode relative Mehrheit
regionale Parteilisten, über die Parteizentra len entscheiden Kombination Einerwahlkreise und regionale Listen
starre Listen, Mandate nach Stimmenanteilen
Mehrpersonen wahlkreise, Präferen zen für Kandidaten angeben nur ein Wahlkreis, Präferenzen für Kandidaten angeben
Entscheidend sind Stimmenanteile. Sie legen fest, in welchem Umfang gewonnene Sitze in Wahlkreisen durch additional members von starren Listen aufgefüllt werden. Für die Liste in London (Stadtratswahl) gilt eine 5%Hürde. Erreichen einer Wahlzahl (Droop quota). Wenn die erste Präferenz nicht ausreicht, werden die nächsten vom Wähler angege benen Präferenzen ausgezählt. absolute Mehrheit. Wird diese nicht er reicht, werden alle Wettbewerber – bis auf die zwei stimmstärksten – gestrichen. Die zweiten Präferenzen zugunsten dieser Bewerber werden zu den Erststimmen addiert. Relative Mehrheit entscheidet.
* Das STV kam mit dem Kampf um die irische Unabhängigkeit vom United Kingdom nach Irland. Arthur Griffith, ein führendes Mitglied der Wahlreformbewegung, gründete 1905 Sinn Féin mit, einen Zusammenschluss republikanischer Bewegungen in Irland. Mit der Gründung des Freistaats 1921 wurde STV in Irland eingeführt und galt auch für Nordirland. 1923 wurde es in Nordirland für Kommunalwahlen allerdings durch FPTP ersetzt, und 1929 ersetzte FPTP STV auch bei Wahlen zum nordirischen Parlament. 1973 wurde STV für alle Wahlen in Nordirland wieder eingeführt. Vgl. Sturm 1986. Ab 2007 wurde STV für die Kommunalwahlen in Schottland eingesetzt.
181
Mindestens eine noch zu meisternde Schwierigkeit verbindet sich mit den Wahlsystemreformen. Nur das FPTP-System ist allen Wählern geläufig. Die anderen Wahlsysteme sind weitgehend unbekannt.375 Bei den schottischen Parlamentswahlen 2007 wurden die Wahlkreis- und die Listenkandidaten auf einen Wahlzettel gedruckt. Eine erhebliche Zahl der Wähler interpretierte dies als einen einheitlichen Wahlvorgang. Hinzu kam, dass einige Parteien nur ihre Vorsitzenden nannten, ohne die Partei selbst zu erwähnen. Dies alles hatte zur Konsequenz, dass zehn mal so viele Stimmzettel (exakt: 146 097) als gewöhnlich ungültig waren, weil sie falsch ausgefüllt wurden – insgesamt 4% der abgegebenen Stimmen. Dies beeinflusste massiv das Wahlergebnis. So war in 16 Wahlkreisen der Vorsprung der siegreichen Partei vor der zweitplatzierten geringer als die Zahl der ungültigen Stimmen376. Das Vereinigte Königreich ist auch relativ experimentierfreudig, was neue Wege des Wählens und der politischen Beteiligung angeht. So wurden beispielsweise bei den englischen und schottischen Kommunalwahlen und den schottischen Parlamentswahlen 2003 erstmals elektronische Wahlmaschinen eingesetzt, um den Vorgang der Stimmenauszählung zu beschleunigen. Diese Pilotprojekte wurden 2007 im größeren geographischen Rahmen weitergeführt. Die Wahl erfolgt zwar weiterhin „manuell”, die Stimmzettel werden aber eingescannt. Dies produzierte eine Reihe technischer Probleme, die zeigten, dass dieses Verfahren bei weitem noch nicht ausgereift ist und bisher nicht das Vertrauen der Wahlberechtigten in das neue Wahlverfahren verbessern kann.377
2.2 Wahlergebnisse, Wahlbeteiligung und Wählerverhalten bei Unterhauswahlen Die parteipolitischen Gruppierungen, die Wählerstimmen auf sich vereinigen können, sind im Vereinigten Königreich bemerkenswert stabil. Wähler wanderten lange Zeit nur zwischen den bestehenden Parteien. Parteipolitische „Durchbrüche” von neuen Parteien im Sinne einer tragenden Rolle dieser Parteien in der Politik des Vereinigten Königreichs blieben bisher aus. Die in
Kelly 2008: 261. Hepburn 2008. 377 Kitcat/Brown 2008. 375 376
182
den 1950er Jahren schon totgesagten Liberalen haben sich zuerst Mitte der 1960er Jahre, spätestens aber seit Mitte der 1970er Jahre bei Wahlen bemerkenswert konsolidiert. Seit 2001 ist die sinkende Wahlbeteiligung zu einem ernsthaften Thema geworden. Bisher wird dieses Phänomen in erster Linie dadurch erklärt, dass vor allem die Labour-Anhänger in sicheren LabourWahlkreisen keine Veranlassung sahen, zu einer aus ihrer Sicht bereits entschiedenen Wahl zu gehen. Es wurden allerdings auch bereits warnende Stimmen laut, die eine Erosion der Verbindlichkeit des Wählens befürchten.378 Tabelle 40: Jahr
Ergebnisse der Unterhauswahlen in % Wahl beteiligung
Konser vative
Labour
73,3 84 82,5 76,8 78 77 75 72 78 72 76 72 75 77 71 59 61
39,8 43,5 48 49 49 43 41 46 37 35 43 42 42 41 30 31 32
48,3 46,1 48,8 46 43 44 47 43 37 39 37 27 30 34 43 40 35
1945 1950 1951 1955 1959 1964 1966 1970 Febr.1974 Okt. 1974 1979 1983 1987 1992 1997 2001 2005
LibDems Schottische und walisische Nationalisten 9,1 0,2 9,1 0,1 2,5 0,1 2 0 5 0 11 0 8 0 7 1 19 2 18 3 13 2 25 1 22 1 17 2 16 2 18 2 22 2
Andere
2,5 1,2 0,6 0 0 0 0 1 3 3 3 3 2 3 6 6 8
Quelle: Kavanagh/Butler 2005: 203f.
Noch immer ist die wichtigste sozialstrukturelle Variable, die Wahlverhalten in Großbritannien und insbesondere in England erklärt, „class” – ein Begriff der besser mit sozialer Schichtzugehörigkeit als mit dem Wort Klasse übersetzt werden sollte. Objektive und subjektive Schichtzugehörigkeit überla378
Curtice 2005.
183
gern und verstärken sich gegenseitig. Die britische Nachkriegsgesellschaft wurde, wie die anderer europäischer Länder, immer komplexer, so dass „objektiv” betrachtet „class” als persönliches Merkmal viel von seiner Stabilität verloren hat. Soziale Mobilität, häufiger Arbeitsplatz- und Wohnortwechsel und die Nivellierung des Soziolekts (Queen’s English versus umgangssprachlichem Englisch) erschweren die Unterscheidung zwischen upper, middle und working class. Dennoch kann bei Meinungsumfragen im britischen Kontext die subjektive Zuordnung der Befragten nach „class” noch immer mühelos ermittelt werden. Diese subjektive Zuordnung ist stabiler als der gesellschaftliche Wandel und teilweise entkoppelt von der tatsächlichen Lebenslage des Wählers. Der soziale Wandel hat die Bindung des Wählers an seine „Klasse” und damit stabile Stammwählerschaften für die Konservative Partei einerseits und die Labour Party andererseits in Frage gestellt. Die klassische Wahlstudie von Butler und Stokes379 sprach schon Ende der 1960er Jahre davon, dass die Klassenbindung der Wähler (class alignment) in die Jahre gekommen sei. Als Gründe nannten die Autoren (1) die Verbesserung der Lebensbedingungen nach dem II.Weltkrieg, (2) die Annäherung des Konsum- und Sozialverhaltens der working class und der middle class, sowie (3) den egalitären Einfluss des Bildungssystems und der Medien, insbesondere des Fernsehens. Eine weitere einflussreiche Wahlstudie von 1985380 von Heath/Jowell und Curtice wies aber darauf hin, dass der Blick auf die immer geringere Bindung der working class an die Labour Party vielleicht gar nicht den Niedergang des schichtenspezifischen Wahlverhaltens misst, sondern die sich verkleinernde working class. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Bedeutung des „class voting” von Wahl zu Wahl mal größer und mal geringer sein kann. Es gäbe aber keinen Beleg für den Bedeutungsverlust des schichtspezifischen Wählens.381 Großbritannien bleibe eine „Klassengesellschaft”. 1991 setzte sich die Gruppe um Heath auch mit der These auseinander, das Wahlverhalten „säkularisiere” sich und werde volatiler – es sei leichter geworden, eine Partei zu wählen, die nicht der sozialstrukturellen Einordnung (subjekButler/Stokes 1971: 149ff. Heath/Jowell/Curtice 1985: 28ff. 381 „Our conclusion therefore is that class differences, whether with respect to objective inequalities, subjective values or support for the political parties, remained at much the same level throughout the postwar period.” (Heath/Jowell/Curtice 1985: 39). 379 380
184
tiv oder objektiv) entspreche. Die Autoren argumentierten, dass die Parteiidentifikation in der Tat schwächer geworden ist, die Bindung an Parteien lockere sich. Parteiidentifikation messe aber nur die Zufriedenheit des Wählers mit „seiner” Partei. Volatilität entsteht aber erst, wenn der Wähler nicht nur mit seiner Partei unzufrieden ist, sondern auch eine andere Partei für wählbar(er) hält. Tut er das nicht, bleibt er bei „seiner” Partei oder wird zum Nichtwähler. Politische Themen (und man könnte hinzufügen, die Attraktivität parteipolitischen Personals) können kurzfristig das Wahlverhalten beeinflussen, dies bedeute aber nicht dass die sozialstrukturelle Basis des Wählens erodiere.382 Zu solchen politischen Themen gehören heute Themen der „identity politics”, wie Einwanderung oder europäische Integration. Kritiker der Analysen der Gruppe um Heath weisen darauf hin, dass die Erfolge der Labour Party in den Mittelschichten bei Beibehaltung der These vom schichtspezifischen Wählen nicht zu erklären sind. Sie lehnen auch das aus den Analysen der 1950er Jahre in den USA (Columbia School) hervorgegangene Konzept der Parteiidentifikation als zu eindimensional ab (es wird nur nach einer Parteipräferenz gefragt) und halten die Ergebnisse für ein durch die Fragestellung erzeugtes Artefakt, das bei anderer Fragestellung verschwinden würde.384 Nach ihrer Überzeugung greifen sozialstrukturelle Erklärungen des Wahlverhaltens im Vereinigten Königreich immer weniger. Der Trend zur „Verflüssigung” und „Fragmentierung” der sozialstrukturellen Basis des Parteiensystems ist nicht zu stoppen. Tabelle 41:
Parteiidentifikation 1964
sehr stark ziemlich stark nicht sehr stark keine
44 40 11 5
1974 Febr 30 43 18 10
1983
1987
1992
1997
2001
2005
22 41 24 14
19 42 25 14
18 45 27 10
16 41 31 12
13 40 31 16
8 37 36 18
Quelle: Allen 2006: 58.
Heath et al. 1991: 72. „...replacing ‘party identification’ with a different (and better) measure produced half the level of regular partisan alignments suggested by the old, bogus ID question about which party respondents ‘felt closer’ to.” (Dunleavy 2005: 511).
382 384
185
Die beiden großen Parteien unterscheiden sich im Bezug auf die Berufsgruppen, die sie unterstützen. Bei den britischen Parlamentswahlen des 21. Jahrhunderts lässt sich beobachten, dass der Schwerpunkt der Unterstützung der Konservativen Partei bei den freien Berufen und den leitenden Positionen in Unternehmen liegt. Bei den Angestellten haben Labour Party und Konservative ähnliche Chancen und Facharbeiter und Ungelernte wählen deutlich häufiger die Labour Party. Tabelle 42:
Schichtenspezifisches Wahlverhalten
Soziale Herkunft des Wählers freie Berufe und leitende Angestellte Angestellte Facharbeiter Ungelernte
2001 Labour/Konservative 30/39 38/36 49/29 55/24
2005 Labour/Konservative 28/37 32/37 40/33 48/25
Quelle: King 2006: 176.
Neben der sozialen Herkunft spielen andere sozialstrukturelle Hintergründe für Wahlentscheidungen bei UK-Wahlen kaum eine Rolle, mit Ausnahme des Alters. Die Labour Party wurde 2001 und 2005 stärker von jungen Wählern gewählt (bis 44 Jahre), die Konservative Partei stärker von älteren (ab 55). Die in der Literatur immer wieder betonte abnehmende Bedeutung sozialstruktureller Verursachung von Wahlentscheidungen und der Bedeutungsverlust der traditionellen Unterscheidung „linker” und „rechter” Politik lenkten das Augenmerk der Wahlforschung auf Themen, die nicht kontrovers in der Gesellschaft diskutiert werden.385 Solche Valenz-issues im Unterschied zu den polarisierenden Positionen-issues funktionieren im Parteienwettbewerb über die Zuschreibung von Glaubwürdigkeit und der Fähigkeit, Wahlversprechen einzulösen, sowie einem positiven Bild einer Partei. Tony Blair gelang es beispielsweise, von allen Bürgern gewünschte Verbesserungen im Bildungs- und Gesundheitswesen zunächst glaubhafter mit seiner Partei zu verbinden, als dies den Tories glückte. Deren Setzen auf den Positionen-issue EU (im Tory-Falle EU-Skepsis) war erfolglos, weil die Valenzissues für die Wahlentscheidungen 1997ff. weit größere Bedeutung hatten.
385
Am schottischen Beispiel: Johns et al. 2009.
186
2.3 Referenden Referenden sind im Vereinigten Königreich verfassungssystematisch wenig sinnvoll. Zum einen gilt: Wenn das Volk nicht souverän ist, sondern das Parlament, kann eine Volksbefragung das Parlament auch de jure nicht binden. Referenden haben also bestenfalls einen empfehlenden Charakter. Zum anderen ist offensichtlich, dass diese Art der Interpretation von Referenden in der britischen Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung entfachen würde. Die Abstimmenden sind dezidiert der Meinung, dass ihre Entscheidung das letzte Wort in der zur Debatte stehenden Angelegenheit sein soll. Damit werden Referenden zu einem Instrument der Regierung, das sich einzusetzen nicht lohnt, wenn die eigene Politik nicht bestätigt wird oder es eine politische Gefahr für die Regierungsstabilität bedeutet, wenn ein Referendum verloren geht (z.B. Referendum zur Einführung des Euro oder zum Lissabonner Vertrag). Das heißt die politischen Funktionen des Referendums im britischen Regierungssystem sind stark begrenzt. Was bleibt, ist das Abhalten von Referenden, um die Regierung bei knappen und heiklen Entscheidungen, deren negativer Ausgang ihr aber politisch nicht schadet, von politischer Verantwortung zu befreien: so geschehen im Zusammenhang mit der Entscheidung zum EG-Beitritt des Landes (siehe weiter unten). Großer Beliebtheit erfreut sich das Instrument des Referendums auch in der Devolution-Politik, nicht nur zur Legitimierung der Einführung politischer Vertretungen in den keltischen Randnationen, sondern auch zur Vertiefung des Devolution-Prozesses (Übertragung gesetzgeberischer Befugnisse auf die walisische Versammlung/schottische Unabhängigkeit, siehe oben).
3
Organisierte Interessen und Protestbewegungen
Gesellschaftliche Beteiligung an der Politik durch Lobbyismus organisierter Interessen hat noch immer seinen Platz in der britischen Politik. Neben den traditionellen Organisationen wirtschaftlicher Interessen existieren zahlreiche philanthropische Vereinigungen, aber auch Organisationen spontanen Protestes unterschiedlicher Art. Die britischen Unternehmerverbände sind weniger schlagkräftig und vermögen in weit geringerem Maße als die deutschen, die Willensbildung im 187
Unternehmerlager zu bündeln und nach außen zu repräsentieren. Dies hat vor allem drei Gründe: erstens die unterschiedlichen Interessen der Großbetriebe und der kleinen und mittleren Unternehmen; zweitens die unterschiedlichen Interessen der in der Industrie und im Dienstleistungssektor (vor allem im Finanzdienstleistungssektor) tätigen Unternehmen, zum Beispiel im Hinblick auf staatliche Subventionszahlungen, und drittens die geringe Rolle der Spitzenverbände der Unternehmen in der Tarifpolitik. Lohnverhandlungen finden auf betrieblicher Ebene statt. Damit entfällt auch die Notwendigkeit, eine gemeinsame Position des Unternehmerlagers zu formulieren, die beispielsweise in Deutschland noch dazu beiträgt, Kleinund Großunternehmer zur Zusammenarbeit zu bewegen. Der größte Unternehmerverband ist die 1965 aus dem Zusammenschluss von Unternehmergruppen hervorgegangene CBI (Confederation of British Industry). Innerhalb der CBI hat sich als eigenständige Interessenvertretung der verarbeitenden Industrie der National Manufacturing Council gegründet. Als Lobbyorganisation wirkt das 1903 als eine Art Managerclub entstandene Institute of Directors. Die Handelskammern des Landes sind in der 1860 gegründeten ABCC, der Association of British Chambers of Commerce, heute British Chambers of Commerce (BCC), zusammengeschlossen. Alle Unternehmerorganisationen zusammen haben ca. 270.000 Mitglieder. 1999 wurden Verhandlungen über einen Zusammenschluss der BCC und des CBI geführt, die aber an der Furcht der BCC scheiterten, ihre mittelständischen Mitglieder würden letztendlich von den Großunternehmen des CBI dominiert. Die logische Entsprechung zur historischen Staatsferne der britischen Wirtschaft war die Zurückhaltung des Staates bei der Regelung betrieblicher Angelegenheiten und bei Tarifauseinandersetzungen. Der Betrieb ist die entscheidende organisatorische Ebene für Gewerkschaftstätigkeit. Die wichtigste Rolle bei Verhandlungen über Lohn- und Arbeitsbedingungen spielen auf der Seite der Arbeitnehmer die in den Betrieben gewählten Vertrauensleute der Belegschaft, die shop stewards. Shop stewards müssen keine Gewerkschaftsmitglieder sein, sind es aber häufig. General Unions werden diejenigen Gewerkschaften genannt, die über Berufsgruppengrenzen hinweg Mitglieder organisieren. Diese historisch gesehen jüngste Organisationsstrategie der britischen Gewerkschaften ist heute die dominierende. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist in der Arbeitnehmerschaft die Bereitschaft, sich gewerkschaftlich zu organisieren, stetig gesunken. Der gewerkschaftliche
188
Organisationsgrad ging von 54 Prozent 1979 auf ca. 29 Prozent 2007 zurück. Im öffentlichen Sektor beträgt er noch 60 Prozent, in der Privatwirtschaft nur 20 Prozent. Viele Kleingewerkschaften haben sich angesichts massiven Mitgliederschwundes anderen, zum Teil auch größeren Gewerkschaften angeschlossen, um schlagkräftig zu bleiben. Zum anderen haben General Unions den Vorteil, die vor allem in den 1970er Jahren für zahlreiche Streiks verantwortlichen Machtkämpfe der Kleingewerkschaften um Mitglieder und um die Abgrenzung von Berufsgruppen, die in die Organisationshoheit der jeweiligen Gewerkschaft fielen, überflüssig zu machen. Die Anpassung der Gewerkschaftsorganisationen an wirtschaftliche Erfordernisse hat den Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften nicht aufhalten können. In ihren besten Zeiten hatten die Gewerkschaften 13,2 Millionen Mitglieder (1979). 2005 waren es noch ca. 7,6 Millionen. Die meisten Gewerkschaften gehören dem 1868 gegründeten Gewerkschaftsdachverband Trades Union Congress (TUC) an. Der TUC ist wenig kampfstark und hat seit den 1980er Jahren den Zugang zur Regierung verloren. In Fragen der Wirtschaftspolitik suchen auch Labour Regierungen heute den Rat der Unternehmer. Die Regierung Blair hat zwar einige Forderungen des TUC aufgenommen, wie zum Beispiel die Einführung eines staatlichen Mindestlohns oder die Erleichterung der Zulassung der Gewerkschaftstätigkeit in Betrieben. Die Anerkennung einer Gewerkschaft als betriebliche Interessenvertretung ist allerdings weiterhin an Voraussetzungen geknüpft, die nicht leicht zu erfüllen sind. Mehr als 50 Prozent der Beschäftigten müssen Gewerkschaftsmitglieder sein, und die Betriebsangehörigen müssen sich in ihrer Mehrheit bei einer Urabstimmung für diese Art der Interessenvertretung einsetzen. Nur noch in 31,7 Prozent der britischen Privatunternehmen gab es 2007 Gewerkschaftsmitglieder. Die abnehmende Relevanz organisierter Interessen, aber auch von Parteien und Parlamenten für die politische Aktivierung und Mobilisierung britischer Bürgerinnen und Bürger wird im Lande durchaus als „demokratisches Defizit” wahrgenommen. Im Vereinigten Königreich wird schon seit geraumer Zeit die Frage diskutiert386, ob die Öffentlichkeit noch für politische Fragen empfänglich und zu begeistern ist. 2000 und 2001 wurde im Auftrag
386
Vgl. z.B. Pattie/Johnston 2007.
189
des Economic and Social Research Council (ESRC387) eine breit angelegte Umfrage durchgeführt. Sie zeigte, dass nur 35% der Briten mit der Demokratie in ihrem Lande zufrieden sind.388 Selbst die britische Regierung macht sich inzwischen Gedanken über neue Beteiligungsformen wie Referenden, Citizens’ Summits (500-1.000 repräsentativ ausgewählte Bürgerinnen und Bürger besprechen ein Thema mit dem verantwortlichen Minister), Citizens’ Juries (50-100 Teilnehmer, 1-2 Tage als Diskussionsforum bei einer anstehenden wichtigen politischen Entscheidung), Petitionen und e-Petitionen (vom Wahlkreisabgeordneten für das Parlament „vorsortiert”).389 Seit 2006 forcieren Regierung und Parlament den Aufbau und das Nutzen von online-Foren als Orte der Deliberation, die zu besserer Gesetzgebung und zur besseren Kontrolle der Regierung dienen sollen.390 Nichtbeteiligung an den Angeboten der repräsentativen Demokratie ist in Großbritannien nicht mit politischer Apathie gleichzusetzen. Es zeichnet sich ab, dass obwohl Politiker unbeliebt sind und politische Fragen nicht zur Zufriedenheit gelöst werden, in Umfragen noch immer eine deutliche Mehrheit die Meinung vertritt, sie möchte politisch mitreden. Wir beobachten eine lebensweltliche Trennung des Alltags und der Politik in Großbritannien („culture of detachment”391). Politikferne ist über Jahre entstanden und hat stetig zugenommen. Umfragen zeigen, dass die Briten eine vertrauenswürdige und handlungsfähige Regierung wollen, aber glauben, zu oft wurde ihr Vertrauen missbraucht. Bei Jugendlichen tritt das Problem noch deutlicher auf, dass ihr politisches Interesse vom politischen Prozess „entkoppelt” ist. Sie verstehen in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht einmal mehr bzw. wollen nicht mehr verstehen, wie politisch entschieden und gehandelt wird.392 Zwei Drittel der Briten halten in Umfragen dennoch politisches Engagement nicht für Zeitverschwendung. Dieses Engagement wird aber außerhalb der traditionellen Wege bzw. Institutionen gesucht, auch wenn es sich nicht selten auf das Finanzieren des Protestes, den quasi-stellvertretend an-
Der ESCR entspricht als Einrichtung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Pattie et al. 2003: 619. 389 Ministry of Justice 2008. 390 Ferguson 2008. 391 Kellner 2004. 392 Sloam 2007: 565; Henn et al. 2005. 387 388
190
dere organisieren, beschränkt bleibt.393 Meist sind Protestbewegungen kurzlebig394 und stark abhängig von Themenkonjunkturen, aber deshalb dennoch nicht zu unterschätzen. „Direct action” wird immer populärer. Heute kann man von einer „Direct action”-Bewegung sprechen.395 Sie hat ihren Vorläufer in den frühen 1990er Jahren mit „Earth First!”, einem Netzwerk zunächst gegen den Straßenbau.396 Im September 2000 kam es u.a. zu Protestaktionen der Landwirte und LKW-Fahrer gegen Benzinpreiserhöhungen mit Blockaden von Tankstellen und Lager für Kraftstoffe397. Mit spektakulären Aktionen vor dem Parlament machten die fathers4 justice (Vaterrechtsbewegung) auf sich aufmerksam, und 2003 marschierten 2 Millionen Briten in London gegen den Irak-Krieg. Proteste provozierte auch der Anbau von genetisch veränderten Pflanzen. Die Stop Huntingdon Animal Cruelty (SHAC)-Gruppe organisierte eine schlagkräftige Kampagne gegen eine Firma (Huntingdon Life Sciences), die im Auftrag der Pharmaindustrie neue Arzneien in Tierversuchen testete. 2002 machten die Motorists Against Detection (MAD) mit Aktionen gegen Verkehrsüberwachungsgeräte von sich reden. Die Countryside Alliance (CA), die gegen ein Verbot der Treibjagd mit Hunden in England und Wales (in Schottland war dies bereits verboten) Stellung bezog, vermochte 1998 unter dem breiteren Motto der Verteidigung ländlicher Interessen 300.000 Menschen und 2002 400.000 Menschen in London auf die Straße zu bringen. Ein radikalerer Ableger der CA, die Real CA, ging zu Graffiti und Mahnwachen als Protestmitteln über. Gerade der Kampf um die Interessen der Landbevölkerung macht deutlich, zu welcher Gratwanderung inzwischen traditionelle Interessengruppen wie die National Farmers’ Union (NFU) gezwungen sind, um ihren Einfluss zu behalten. Sie beteiligen sich einerseits an direkten Aktionen, versuchen aber gleichzeitig auch, mäßigend auf diese einzuwirken.398 Gelingt dies nicht, entstehen, wie im Falle der NFU mit den Farmers for Action (FFA), alternative Interessengruppen.399 2005
Parvin/McHugh 2005: 636. Heath 2008. 395 Doherty et al. 2003b. 396 Doherty 1999. 397 Doherty et al. 2003a. 398 Grant 2003. 399 Grant 2004. 393 394
191
beschloss das Parlament das Verbot der Treibjagd in England und Wales zur Freude einer anderen Interessengruppe, der League Against Cruel Sports. Tabelle 43: Bewegung
Protestbewegungen und ihre Folgen wichtiges Thema?
Benzinpreise ja CA ja gegen gen ja veränderte Pflanzen gegen Irak besonders Krieg wichtig Quelle: Beetham 2003: 607.
192
von nationa lem Interesse?
große Zahl der Protes tierer?
nein nein ja
nein ja nein
ja
ja
Mehrheits öffentliche meinung der Debatte zum Briten unter Thema? stützend? ja nein nein ja ja unklar
ja
ja
Grundlagen der Zivilgesellschaft
1
Identität(en)
Identitätsfragen sind heute, wie noch nie zuvor in der britischen Geschichte, zentrale politische Themen geworden.400 Dies mag man als Zeichen für die Existenz einer postmaterialistischen Gesellschaft interpretieren und in der Tat sind insbesondere Fragen individueller Identität (sexuelle Orientierung, Konsumpräferenzen, Medienidentität) hier thematisch einzuordnen. Für die Zentralität von Fragen der Gruppenidentitäten (nationale Identitäten, ethnische Identitäten) gibt es aber eher traditionelle Gründe. Die Zeiten sind vorbei als die Orientierung am britischen Empire alles überstrahlte und jeder Einwohner des Empires automatisch Brite war. Die Bezeichnungen „Engländer” und „Brite” wurden (und werden) bis heute auch im Ausland (einschließlich der USA) zwar umgangssprachlich synonym verwendet, im innerbritischen politischen Diskurs verletzt dies die neuen Konventionen des Respekts vor nationalen Identitäten, der auch eine gewisse Zurückhaltung bei der Bewertung nichtenglischer politischer Positionen entspricht. Fehlleistungen von Politikern erzeugen entsprechend großen Unmut. Als beispielsweise Gordon Brown 2008 in einem Zeitungsinterview mit dem Daily Telegraph (25.3.) bemerkte, dass die Engländer, Schotten und Waliser stolz darauf sein könnten, Briten zu sein, führte die Nichterwähnung der (unionistischen) Nordiren zu sarkastischen Kommentaren der unionistischen Parteien. Typisch für die frühere politikwissenschaftliche Sichtweise ist Richard Rose Bemerkung in seinem Buch Politics in England (sic!), das seit 1964 in mehreren Auflagen in der Comparative Politics-Reihe des Bostoner Little, Brown Verlags erschien: „When an Englishman calls something British the chances are he thinks English. Scots, Welshmen, and Ulstermen have a pluralistic frame of reference. What is central to England will never be over-
400
Bechhofer/McCrone 2007.
193
looked by any British government. Politicians who wish to advance in Parliament must accept English norms if they wish to prosper.”401 Das „Britische” hat, bis auf wenige Ausnahmen, wie die Rule BritanniaDarbietungen bei der Last Night der Promenadenkonzerte in der Royal Albert Hall, seinen Zauber und vor allem seine reale Grundlage verloren. Seit dem British Nationality Act von 1981 wird die britische Staatsbürgerschaft weit restriktiver gehandhabt als noch im British Nationality Act von 1948, der diese allen Einwohnern des Commonwealth gewährte. Nun wurde es plötzlich wichtig, wie substantiell die Verbindung zum Vereinigten Königreich wirklich war, und die Kombination aus früherem Heimatland und Großbritannien wurde zu einem Mechanismus der Selbstzuordnung, der doppelte Loyalitäten politisierte. Doppelte Loyalitäten bestärkte auch die Devolution-Politik, die den regionalem Wohnort zu einer Frage der politischen Zugehörigkeit erhob. Die Schwächung der britischen Identität gegenüber anderen Gruppenidentitäten hat Mehrfachidentitäten bestärkt. Das wirft mindestens drei bisher in der britischen Identitätsdebatte ungeklärte Fragen auf: 1) Was bedeutet eine dominante nationale Identität in den Devolution-Regionen für die Kohäsion des britischen Staates? 2) Wie sollen sich die Einwandereridentitäten in England, Wales, Schottland und Nordirland verorten, wenn hier nicht mehr der Ausweg bleibt, sich beispielsweise britisch und pakistanisch bzw. britisch und afro-karibisch zu verstehen? 3) Wie ist das Verhältnis von ethnischen Gruppen und nationalen Minderheiten im Vereinigten Königreich? Tabelle 44:
Nationale Identität in Schottland in % der Befragten (Eine der Alternativen musste gewählt werden: S=schottisch; B=britisch).
1974 1979 1992 1997 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 S 65 56 72 72 77 80 77 75 72 75 77 78 72 B 31 38 25 20 17 13 16 18 20 19 14 14 19 Quelle: Curtice 2008: 44.
In den Devolution-Nationen sind Mehrfachidentitäten die Regel. Die schottische Identität dominiert in Schottland nach allen Umfragen. Nur ca. 10% der Bevölkerung sieht sich als britisch. Die schottische Identität ist eher eine bür-
401
Rose 21974: 24.
194
gerschaftliche als eine ethnische. Die Hautfarbe des Schotten spielt keine Rolle, wohl aber sein „schottischer Akzent”, mit dem eine Geburt in Schottland verbunden wird. Sozialisation in der schottischen Gesellschaft macht nach allgemeiner Auffassung einen Schotten aus, ganz gleich woher seine Eltern eingewandert sind.402 In Wales sind die Umfrageergebnisse zur walisischen Identität in der Tendenz ähnlich. Der Anteil derjenigen, die sich zur britischen Identität bekennen, ist etwas höher. Wenn sie sich nicht entscheiden müssen, halten 33,8% (2007) die britische und die walisische Identität für gleich wichtig. Eher walisisch als britisch fühlten sich 2007 46,5% der Befragten.403 Eine nordirische Identität gibt es nicht. Wie oben erläutert beherrscht der „Identitätenkonflikt” von Unionisten und Nationalisten das politische Leben.404 Auch in England ist von Mehrfachidentitäten auszugehen. Hier wird in Umfragen deutlich, dass über die Zeit der englischen Identität zunehmende Bedeutung zuwächst (nach unterschiedlichen Umfragen zwischen 20 und 40% der Befragten heute. Der Unterschied zwischen den Zahlen erklärt sich durch die hohe Zahl der Befragten, ca. 40%, die noch ganz traditionell englisch und britisch gleichsetzen).405 Innerhalb Englands gilt der Südosten, die „Home Counties” als der Ort des Englischseins. Der englische Norden muss sich gegenüber diesem Anspruch behaupten und ist deshalb auch eher geneigt, eine innerenglische Regionalisierung zu befürworten.406 Einwanderergruppen aus dem Commonwealth sehen in der „Britishness” einen Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Loyalität, der multikulturelle Vielfalt erlaubt. Jeder sollte nach seiner Interpretation „britisch” sein dürfen oder wie Parekh argumentiert: „One can therefore question parts of the current view of British political identity without inviting the charge of disloyalty or being un-British.”407 Ethnische Deutungen des Britischen sollten durch politische ersetzt werden. Die britische Regierung hat mit ihrem Grünbuch „The Governance of Britain” (2007) den Versuch unternommen, eine nationale Debatte zur britiJones 2006: 31f. Scully/Wyn Jones 2008a: 70. 404 Nic Graith 2003. 405 Paun 2007a: 14. 406 Bond/McCrone 2004: 5f. 407 Parekh 2002: 309. 402 403
195
schen Identität anzustoßen. Das Grünbuch macht die Bedeutung deutlich, die die Regierung heute Identitätsfragen zumisst: „It is important to be clearer about what it means to be British, what it means to be part of British society and, crucially, to be resolute in making the points that what comes with that is a set of values which have not just to be shared but also accepted. There is room to celebrate multiple and different identities, but none of these identities should take precedence over the core democratic values that define what it means to be British. (S. 57) [...] At the heart of British citizenship is the idea of a society based on laws which are made in a way that reflects the rights of citizens regardless of ethnicity, gender, class or religion. Alongside this sits the right to participate, in some way, in their making; the idea that all citizens are equal before the law and are entitled to justice and the protection of the law; the right of all citizens to associate freely; the right to free expression of opinion; the right to live without fear of oppression and discrimination; the idea that there is an appropriate balance to be drawn between the individual’s right to freedom and the collective good of all and that, in the final analysis, the Government is accountable for its actions to the will of the people expressed in Parliament and through elections.” (S.60) Das Problem dieser Definition ist sicherlich, dass sie sich eher wie eine Bürgerrechtsliste liest, die auch in anderen westlichen Demokratien Unterstützung finden würde, aber eben nicht spezifisch britisch ist. Ebensowenig weckt sie Emotionen und historische Loyalitäten. Ob es da hilft, wenn die Regierung erwägt, das Flaggenhissen, das bisher für die Union flag an öffentlichen Gebäuden auf 18 Tage im Jahr begrenzt war, häufiger zu gestatten, bleibt dahin gestellt.
2
Multikulturalismus
Das Vereinigte Königreich ist eine multikulturelle Gesellschaft. London ist eine Art Mikrokosmos der Welt. Nach dem Zensus von 2001 haben 12% der in schulischer Ausbildung befindlichen 16-25 Jährigen einen asiatischen oder afro-britischen Hintergrund. Für 10% der Schüler ist Englisch nicht die Muttersprache. Im Vereinigten Königreich leben knapp eine Million Moslems, eine halbe Million Hindus und eine Viertel Million Juden.
196
Der Selbstverständlichkeit mit der Multikulturalität als neues Gesicht des Vereinigten Königreichs präsentiert wird, korrespondiert keineswegs immer Toleranz, Integration und gesellschaftlicher Dialog. In den letzten 10 Jahren hat sich die Ablehnung weiterer Zuwanderung in der Bevölkerung verstärkt. Ca. 75% geben in Befragungen an, dass sie weniger Einwanderung wünschen, wobei die primären Motive die Furcht vor Arbeitsplatzkonkurrenz und der Bedrohung der „britischen Lebensweise”, insbesondere durch Muslime, sind.408 Entsprechende Argumente werden inzwischen auch im Schlagabtausch der politischen Eliten und in Wahlkämpfen genutzt. Empirisch lässt sich jedoch zeigen, dass trotz z.T. segregierten Wohnens und trotz des Gewichts religiöser und ethnischer Identifikation, Muslime und ursprünglich aus Südasien kommende Briten weit positiver dem britischen Selbstverständnis gegenüber stehen als es die Kritiker der multikulturellen Gesellschaft vermuten. Positiven Einfluss haben in diesem Sinne die Teilhabe an politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten sowie ein tiefverwurzelter Legitimitätsglaube bezogen auf das Westminster Regierungsmodell und die Institutionen des Landes.409 Das Thema Asyl und das schnelle Abschieben von Asylbewerbern ohne Anspruch auf Asyl wurde insbesondere in der Regierungszeit Tony Blairs ein wichtiges Thema der Innenpolitik. Die Labour Regierung wollte sich hier von der Opposition und vor allem von der Massenpresse nicht der mangelnden Härte zeihen lassen. Sie veränderte deshalb das Asylverfahren, um mehr Asylbewerber schneller abschieben zu können, v.a. diejenigen, deren Asylantrag zwar abgelehnt wurde, die sich aber dennoch weiterhin im Lande aufhielten. 1998 veröffentlichte das Innenministerium das Weißbuch „Fairer, Faster and Firmer: A Modern Approach to Immigration and Asylum”, dem 2002 der „Nationality, Immigration and Asylum Act” folgte. Tony Blair machte das Asylthema 2002 zur Chefsache. Die neuen gesetzlichen Regelungen erlauben nun, ca. 80% der Asylverfahren innerhalb von zwei Monaten abzuwickeln. Die Zeiten für Asylbewerber, entsprechende Unterlagen beizubringen, wurden verkürzt; Asylbewerber aus „sicheren Ländern” wurden sofort abgeschoben – Einsprüche waren nur noch aus ihren Heimatländern möglich; Asylbewerber wurden in Abschiebezentren verbracht, wo über ihre
408 409
McLaren/Johnson 2007. Maxwell 2006.
197
Anträge schon in durchschnittlich 12 Tagen eine erste Entscheidung vorliegt (2006 war diese nur bei einem Prozent positiv). Neu eingeführt wurden auch finanzielle Anreize, um abgelehnte Asylbewerber zur Rückkehr zu bewegen.410 2006 wanderten 510.000 Menschen nach Großbritannien ein. Über ein Drittel (139.000) kamen aus dem so genannten New Commonwealth, also aus Afrika, v.a. aber vom indischen Subkontinent (102.000); 80.000 kamen aus den alten Commonwealth-Staaten, zu denen neben Australien, Kanada und Neuseeland auch Südafrika gezählt wird; 205.000 kamen aus den damals 25 EU-Staaten. 2008 verschärfte Großbritannien seine Einwanderungsbestimmungen, um Zwangsheiraten zu erschweren. Das Einreise-Mindestalter wurde auf 21 Jahre erhöht und Bräute sind verpflichtet, vor dem Zuzug Englisch zu lernen. Einwanderung und das Gewähren von Asyl wurden in der Diskussion um die Bewältigung der Folgen des Terroranschlags vom 11. September 2001 in den USA in der britischen Öffentlichkeit und im Parlament in Zusammenhang mit terroristischer Bedrohung gebracht und damit Sicherheitsfragen nachgeordnet („securitisation”411). Der 2001 verabschiedete Anti-Terrorism, Crime and Security Act widmet Einwanderung und Asyl ein eigenes Kapitel 4. Hier wird auch geregelt, dass terrorismusverdächtige Ausländer, die wegen der Gefahr für ihr Leben oder ihre Menschenrechte nicht nach Hause geschickt werden können, auf unbestimmte Zeit interniert werden dürfen. Sie können dagegen bei der Special Immigration Appeals Commission (SIAC) Einspruch einlegen, erhalten aber keine volle Akteneinsicht. Die britische Regierung musste für diese Regelung (auch mit der Begründung einer Notsituation) am 12.11.2001 Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) außer Kraft setzen, der Verhafteten ein ordentliches Gerichtsverfahren garantiert. Der Innenminister bat 2002 den Privy Council um eine Stellungnahme. Der im Dezember 2003 veröffentlichte Newton Report stellte zum einen fest, dass die in Kapitel 4 der Exekutive übertragenen Rechte nicht ausreichen, um den Terrorismus zu bekämpfen. Er forderte aber gleichzeitig, eine Regelung zu finden, die der EMRK nicht widerspricht. Letzterem wurde mit einer neuen Gesetzesinitiative der britischen Regierung Rechnung getragen. Der Pre-
410 411
Gibney 2008. Huysmans/Buonfino 2008.
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vention of Terrorism Act (2005) sieht nun eine richterliche Mitwirkung bei dem Verhängen von Auflagen gegen Terrorismusverdächtige vor, sowohl wenn es um den Entzug von Freiheitsrechten geht (derogating Control Order) als auch bei deren Einschränkung (non-derogating Control Order). Derogating Control Orders werden für sechs Monate verhängt, non-derogating Control Orders für 12. Beide können verlängert werden. Der Immigration, Asylum and Nationality Act 2006 erschwerte Einsprüche gegen Abschiebung, führte Strafen für das Beschäftigen von Personen ohne Aufenthaltserlaubnis ein und machte es leichter, Terrorverdächtigen die britische Staatsbürgerschaft zu nehmen und diese abzuschieben. Gesetzgebung zur Bekämpfung gesellschaftlicher Diskriminierung hat im Vereinigten Königreich eine bis in die 1970er Jahre zurückreichende Tradition und hat in der zunehmend sich ausdifferenzierenden britischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts an zusätzlicher Bedeutung gewonnen. Der Equal Pay Act von 1970 garantierte bereits gleiche Bezahlung für Frauen und Männer, wenn diese vergleichbaren Beschäftigungen nachgehen. Der Sex Discrimination Act von 1975 verbot die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei der Arbeit, im Bildungswesen und in der Wirtschaft. Der Race Relations Act von 1976 bzw. 2000 stellte die Diskriminierung von Menschen anderer Rasse, Hautfarbe oder nationaler Herkunft unter Strafe. Explizit verboten wurde auch der sogenannte „institutionelle Rassismus”, also das rassistische Verhalten von Amtsträgern (einschließlich der Polizei) und von Behörden. Der Disability Discrimination Act von 1995 gab behinderten Menschen besondere Rechte am Arbeitsplatz, was den Zugang zu Waren, Einrichtungen und Dienstleistungen der Wirtschaft angeht, und beim Kauf oder der Miete von Land und Immobilien. Mit der Gesetzgebung einher ging das Einrichten von „Überwachungsinstitutionen”, die den Gesetzen praktische Geltung verschaffen sollten. Häufig im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand die Commission for Racial Equality412. Sie wurde beispielsweise 2005 1.028 mal um Hilfe angerufen. 477 mal kamen die Beschwerden von dunkelhäutigen Briten, 214 mit afrikanischem und 213 mit karibischem Hintergrund. Die Zahl der Anfragen von Briten mit asiatischem Hintergrund, v.a. Inder (88) und Pakistanis (85), wuchs auf 196 (das waren 19% aller Beschwerden). Etwas mehr als die Hälfte der Beschwerden bezog sich auf den
412
Honeyford 1988.
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Arbeitsplatz (52%). Die meisten Beschwerden kamen aus dem öffentlichen Dienst (53%) und hier vor allem (158) aus den Bereichen Gerichte, Polizei, Gefängnisse und Bewährungshilfe.413 2007 wurden die „Überwachungsinstitutionen” organisatorisch zusammengeführt in der Equality and Human Rights Commission (EHRC), (2006 Equality Act). Der Equality Act von 2006 löste die Equal Opportunities Commission (EOC), die Commission for Racial Equality (CRE) and the Disability Rights Commission (DRC) auf. Die neue EHRC hat eine Aufgabenstellung, die über diejenige der drei Vorgängerkommissionen hinaus weist. Sie kümmert sich um Antidiskriminierungsgesetzgebung in den Bereichen Alter, Behinderung und Gesundheit, Geschlecht, Rasse, Religion oder Glaube, sexuelle Orientierung und Transgender und unterstützt die Ziele des Human Rights Act. In der Praxis dürfte sich dies als keineswegs einfache Aufgabe erweisen. Im Vereinigten Königreich wird, wie überall, diskutiert, ob Antidiskriminierungsgesetzgebung den einzelnen Menschen oder eine (wie auch immer definierte Gruppe) schützen soll. Hinzu kommt der mögliche Konflikt von Schutzzielen. Die Berücksichtigung religiöser oder kultureller Besonderheit könnte beispielsweise die Diskriminierung von Frauen oder Homosexuellen zementieren. Nicht unproblematisch ist auch die Sichtweise, die Regierungsvertreter zur Begründung der Einrichtung der EHRC vertraten. Für sie steht im Vordergrund, dass Antidiskriminierung Schranken für die Integration in den Arbeitsmarkt beseitigt.414
3
Freiheit und Sicherheit
Die britische Öffentlichkeit und Politik gehen traditionell davon aus, dass die britische politische Kultur den politischen Entscheidungsträger in einer Weise Schranken auferlegt, die Freiheitsbedrohungen durch Regierungshandeln oder Akte der Justiz unmöglich macht.415 Der britische Exzeptionalismus beruhe auf einer „unidentified morality”, einer unausgesprochenen normati-
Daten nach CRE. Squires 2008; Mabbett 2008; Niven 2008; Spencer 2008. 415 „...that commitment to liberty which appeared to seep unconsciously and effortlessly through the British system of government.” (Ewing/Gearty 1990:1). 413 414
200
ven Bindung der Regierenden, die von anderen Europäern zwar bewundert werde, aber die sie gleichzeitig für eine Art Wunder halten, so Letwin.416 Die individuelle Freiheit sei als Idee und als politische Praxis fest in Großbritannien etabliert, bemerkte auch ein französischer Bewunderer des Westminster Modells.417 Ein Adolf Hitler wäre aus diesem Grund im Vereinigten Königreich völlig unmöglich gewesen, so die populäre Vorstellung. Politischer Extremismus und politische Gewalt (die nordirische Erfahrung ist eine andere) sind und waren in Großbritannien tatsächlich kein wichtiges Thema der Nachkriegspolitik. Auch der islamische Terrorismus mit den Bombenanschlägen auf die Londoner U-Bahn (7/7) 2005 wurde zunächst als Bedrohung „von außen” interpretiert. Dies bedeutete aber nicht, dass in Großbritannien Konsens über die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit besteht. Zu Fragen Anlass gibt nicht nur die gelegentliche Erfahrung, dass die vermeintlich „wasserfesten” Konventionen des Westminister Modells auch perforiert werden können, wie die Fälle Damian Green und Khan 2008 bewiesen. Green, der konservative Fraktionsexperte für Einwanderung wurde aufgrund der fadenscheinigen Begründung, er habe vertrauliche Regierungsinformationen weitergegeben, verhaftet und seine Abgeordnetendiensträume wurden von der Polizei ohne Durchsuchungsbefehl, aber mit Zustimmung des Unterhausvorsitzenden mit großem Polizeiaufgebot durchstöbert. De jure genießen Abgeordnete im Vereinigten Königreich zwar keine Immunität, aber seit der Glorious Revolution von 1688 konnte man davon ausgehen, dass diese vor dem willkürlichen Zugriff der Staatsmacht geschützt seien, eine Konvention über die sich Polizei und Justiz hinweg setzten.418 Der muslimische Abgeordnete für den SüdLondoner Wahlkreis Tooting, Khan, besuchte seinen Schulfreund im Gefängnis und wurde abgehört. Dies widerspricht der „Wilson-Doktrin”, also der unter Premierminister Harold Wilson etablierten Konvention, dass Abgeordnete niemals akustischen Überwachungsmethoden ausgesetzt werden dürfen. Als problematisch wird in der britischen Öffentlichkeit vor allem diskutiert, dass die Gesetzgebung häufig vage Formulierungen enthält, die aus Sicht der Regierung dieser die nötige Flexibilität für effizientes Handeln
Letwin 1992: 336f. Mathiot 1958: 330. 418 The Economist, 6.12. 2008, S. 16, 41f. und 45. 416 417
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geben, die aber aus Sicht der Kritiker zu wenig Schutz vor staatlichen Übergriffen bieten. Das Problem der Freiheit des Einzelnen und des Schutzes individueller Rechte tauchte verstärkt in der Regierungszeit Margaret Thatchers auf419 und wurde verschärft in den Labour Regierungsjahren seit 1997. Schon für die Thatcherjahre wurde von Kritikern der polemische Begriff „Zwangsstaat” (Hillyard/Percy-Smith) geprägt. Insbesondere der Police and Criminal Evidence Act von 1984 provozierte Ablehnung. Er gab der Polizei zusätzliche Rechte der Kontrolle, der Durchsuchung, des Betretens von Häusern, der Verhaftung und des Bestimmens der Haftdauer. Die Ausübung dieser Rechte wurde an relativ vage Sachverhalte gebunden, wie „reasonable grounds” (Verdachtsgründe), „serious harm”, „security of the state” oder „public order” (Gefährdungen)420. So konnten Demonstrationen, Mahnwachen, Streikposten oder Versammlungen sehr leicht verboten oder mit einschränkenden Auflagen belegt werden. Das neue Gesetz führte eine Reihe neuer Straftatbestände ein, u.a. auch ungebührliches Benehmen („disorderly conduct”). Zu letzterem zählen der Gebrauch von bedrohender, herabsetzender oder beleidigender Sprache in der Öffentlichkeit oder das Zeigen von Plakaten oder anderen sichtbaren Meinungsbekundungen, die in der selben Weise negativ sind. Auch diese Bestimmungen öffnen der Polizei einen weiten Ermessensspielraum zuungunsten der Freiheit des Bürgers und zugunsten einer wie auch immer definierten öffentlichen Sicherheit.421 Schon in der Oppositionszeit erkannte New Labour die Möglichkeiten, der Konservativen Partei auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung den Rang abzulaufen. In ihrem Diskussionspapier von 1995 („A Quiet Life”) schlug sie Maßnahmen gegen anti-soziales Verhalten vor, dem mit der Verhängung von Auflagen zu begegnen sei, wobei das Ignorieren solcher Auflagen (Orders) als kriminelle Handlung zu gelten habe und entsprechend geahndet werden müsse. Die Regierung Major nahm auf Druck der Labour Opposition erstmals 1997 „Auflagen” für Verdächtige in die Gesetzgebung gegen Stalking auf („Protection from Harassment Act”). Nach der RegieSturm 1994. Peter Riddell meint allerdings: „the liberties and freedoms of the ordinary citizen have not been altered dramatically (Riddell 1989: 180) und gibt damit sicherlich eine weit verbreitete Position wieder. 420 Hillyard/Percy-Smith 1988: 260ff. 421 Ewing/Gearty 1990: 123. 419
202
rungsübernahme initiierte die Regierung Blair Gesetzgebung, um Auflagen durch Polizei (später auch gemeinnützige Vermieter, die Bahnpolizei, gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften und in England Kommunalverwaltungen) zu ermöglichen (Crime and Disorder Act 1998) mit dem Ziel „anti-soziales” Verhalten einzudämmen. 422 „Anti-sozial” verhält sich, wer in einer Weise auftritt, die „caused or was likely to cause harrassment, alarm or distress to one or more persons not of the same household as himself”, also wer andere belästigt. Hier geht es um alltägliche Beeinträchtigungen der Bürger durch Lärm, Graffiti, Betteln, Angebote der Prostitution oder andere Übergriffe – aber die Formulierung ist bewusst vage gehalten.423 Jeder einzelne sollte an seine Verantwortung für das gesellschaftliche Zusammenleben erinnert werden. Die verhängte Auflage (Anti-social behaviour order [ASBO]) spricht Verbote für mindestens zwei Jahre aus. Diese können aber auch unbegrenzt gelten. Wer eine ASBO ignoriert wird mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft. Unter 18jährige können bis zu 24 Monate zwangsuntergebracht und belehrt werden. Mit dem Police Reform Act von 2002 wurde die Möglichkeit von ASBOs auch für bereits Verurteilte geschaffen. Von 1999 bis 2005 wurden ca. 10.000 ASBOs verhängt – Tendenz steigend. 40% aller in England und Wales verhängten ASBOs betreffen Jugendliche und Kinder, d.h. 10-17 Jährige. Der Terrorism Act des Jahres 2000 und der Regulation of Investigatory Powers Act aus dem gleichen Jahr ordnen die individuellen Rechte eindeutig dem Ziel der Kriminalitätsbekämpfung unter. Besonders umstritten war das Eintreten der Regierung Blair für die Möglichkeit, Terrorismusverdächtige 90 Tage ohne Anklage einzusperren. Hier wollte ihm selbst seine eigene Parlamentsfraktion nicht geschlossen folgen. Das Parlament setzte eine Frist von 28 Tagen durch. Gordon Brown startete eine neue Initiative zur Haftverlängerung und unterlag 2008 im parlamentarischen Verfahren beim Versuch, ein neues Haftlimit von 42 Tagen durchzusetzen. Die Regierung Blair hat – doppelt so schnell als die Regierung Thatcher und entgegen der Tradition einer staatsfernen Gesellschaft – immer mehr Zum folgenden Macdonald 2007. Es gibt immer wieder merkwürdige Grenzfälle, wie ein ASBO für einen Landwirt, der diesem verbietet, nachdem diese einmal ausgerissen waren, seine Schweine und Gänse entfliehen zu lassen oder die Auflage für einen 63-Jahre alten Mann, die diesem verbietet, Tauben in seinem Garten zu füttern.
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203
Verhaltensweisen von Bürgern zu Straftaten gemacht. Zwischen 1997 und 2006 wurden 3.023 neue Straftatbestände gezählt (1980 gab es insgesamt nur 7.000).424 Dazu gehören auch die „Verherrlichung” des Terrorismus und die Anstiftung zum religiös begründeten Hass, was von Kritikern als Einschränkung der „freien Rede” interpretiert wird. 2005 wurde bei schwerer Kriminalität auch die Bestimmung aufgegeben, dass eine Person nicht zweimal wegen des gleichen Vergehens angeklagt werden kann. In Großbritannien ist die Überwachung des öffentlichen Raumes weit entwickelt. Millionen öffentlicher und privater Überwachungskameras beobachten öffentliche Räume (wieviele genau weiß niemand). Selbst Drohnen, die mit ihren Kameraaugen problematische Gegenden absuchen, sind im Einsatz. Großbritannien hat eine der größten Polizeiarchive mit DNA-Mustern. Vier Million der 60 Million Einwohner sind erfasst, dabei auch ein Drittel aller männlichen Schwarzen. Daten werden gespeichert über jede Person, die festgenommen wurde, auch wenn sie unschuldig war. Weitere Datensammlungen sind geplant, z.B. das Zusammenführen aller Patientendaten des National Health Service oder sozialer Dienste, so dass die Lebensumstände jedes Kindes zentral erfasst werden können, wozu gehört, wie die Eltern ihr Geld ausgeben oder wieviele Portionen Obst und Gemüse sie täglich ihren Kindern geben.425 Paradoxerweise stemmen sich die so überwachten Bürgerinnen und Bürger nur gegen die Einführung von Personalausweisen, die von der Regierung als Mittel zur Terrorismusbekämpfung durchgesetzt wurde.426 Immerhin war die Protestwelle gegen Personalausweise so stark, dass letztendlich nur eine verwässerte Ausweispflicht verwirklicht wurde. Vorgesehen ist ein Stufenplan. 2008 begann die Ausweispflicht für Ausländer, die im Vereinigten Königreich leben oder reisen. 2009 müssen in sicherheitssensiblen Orten oder Beschäftigungen tätige Personen einen Personalausweis haben. Ab 2010 gibt es einen Personalausweis für junge Leute, die einen solchen haben wollen. Ab 2012 steht er allen UK-Staatsangehörigen zur Verfügung, sie können sich aber auch wahlweise mit einem Reisepass ausweisen. Der Gesetzgeber hegt die Hoffnung, dass sich bis 2015 der Personalausweis durchsetzt.
Macdonald 2007: 618. The Economist, 21.7. 2008: 49. 426 Perri 6 2005. 424 425
204
Immer noch herrscht die Verfassungsfiktion vor, dass die/der Wahlkreisabgeordnete die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger aufnimmt und auch bei Grund- und Menschenrechtsverletzungen sozusagen im Parlament Alarm schlägt. Ganz so erfolgreich ist dies in der Praxis allerdings nicht, wie die Entscheidung für den Human Rights Act belegt. Auch bei Verwaltungsversagen ist als Instanz zur Unterstützung der Abgeordneten in ihrer Rolle als Bürgeranwälte gegenüber dem Fehlverhalten der Exekutive schon 1967 (Parliamentary Commissioner Act) ein parlamentarischer Ombudsman eingerichtet worden427. Heute wird dieses Modell von einigen Beobachtern als ausbaufähig erachtet, um nicht nur formal korrektes, sondern auch ethisch einwandfreies Regieren zu kontrollieren428. Ombudsmänner wurden auch in Schottland, Wales und in Nordirland für übertragene Kompetenzen sowie für die kommunale Ebene eingerichtet.
427 428
Abraham 2008a; 2008c. Abraham 2008b: 682.
205
Großbritannien in Europa
1
Grundlinien der Europapolitik429
In der akademischen Öffentlichkeit und selbst in der britischen Presse (außerhalb des Lagers anti-europäischer Militanz) hat sich der Eindruck verfestigt, dass Großbritanniens Europapolitik einem Pfad „pathologischen Lernens“ folge.430 Die instinktive Reaktion britischer Politiker auf jene politische Vorgaben, die der Vertiefung der europäischen Integration dienen, sei, so wurde argumentiert, vorhersehbar zunächst die Ablehnung. Bald aber müssten die politischen Verantwortlichen feststellen, dass an Europa kein Weg vorbei führe. Dies hat eine Annäherung an die abgelehnten europapolitischen Standpunkte zur Folge – nun aber zu für das Vereinigte Königreich verschlechterten Bedingungen, weil die Chance, bei der Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit mitzugestalten, verpasst wurde. Hinzu kommt, dass häufig der ursprünglich für alle günstige Integrationssprung nun selbst in der Krise scheint. Letzteres bestärkt die britischen Euroskeptiker in ihrer Auffassung, dass ihre grundsätzliche Ablehnung der europäischen Integration von Anfang an berechtigt war, und hilft dazu, eine Stimmung zu erhalten, die es angebracht erscheinen lässt, den nächsten europäischen Integrationsschritt vorsichtshalber erst einmal abzulehnen. Dies ist auch wahlpolitisch opportun, denn die britischen Medien, v.a. die aggressive Massenpresse, bestärken durch ihre Desinformationskampagnen Vorbehalte gegenüber Europa.431 Zudem haben sich über Jahrzehnte hinweg die Europakritiker immer besser organisiert, und ihr Wirken beeinflusst nachhaltig die für die tagespolitische Positionierung von Regierungen
George ³1998; ²Young 1999; Young ²2000; Geddes 2004. Ausführlicher zu lerntheoretischen Ansätzen für die Erklärung britischer Europapolitik vgl. Weinmann 1999. 431 Baker/Seawright 1998. 429 430
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so wichtigen periodischen Meinungsumfragen.432 Philip Stephens fasste in einem Beitrag in der Financial Times die europapolitische Stimmungslage der britischen Bürger so zusammen: „They have been told again and again that this is a battlefield on which Britain occasionally wins but more often loses. Brussels, in tabloid parlance, is the place where malicious foreigners conspire against nobel Anglo-Saxons. The slightest possibility that their might be advantage for Britain in marching in step has been inadmissible. Europe is something to be suffered, at very best endured.“433 So beginnt immer wieder aufs Neue ein deprimierender Zyklus enttäuschter Erwartungen. Vom verspäteten EG-Beitritt, über die Episode des Landes im Europäischen Währungssystem bis zur zögerlichen Haltung gegenüber der gemeinsamen Währung434 oder zum Vertrag von Lissabon. Die Konfliktlinie in der britischen Europapolitik verläuft zwischen europapolitischen Pragmatikern und Euroskeptikern, nicht zwischen Integrationsanhängern und Integrationskritikern. Die Euroskeptiker wollen keine politische Integration auf europäischer Ebene. Die Pragmatiker im Amt des Premierministers sehen einen strategischen Vorteil darin, wenn Großbritannien mit am europäischen Verhandlungstisch sitzt, auch wenn das das Akzeptieren der gegenwärtigen Vertragslage impliziert. Die europapolitischen Ansichten der Pragmatiker, sei es der konservative Premierminister John Major oder sei es der Labour Premierminister Tony Blair, sind weitestgehend austauschbar. Großbritannien im Herzen Europas zu verankern und damit den Anspruch auf europapolitische Mitgestaltung zu untermauern, war beiden ein Anliegen. Der Gedanke einer Union der Nationalstaaten, der Wunsch nach Freihandel, die Reduktion europäischer Aufgaben auf das aus praktischen Überlegungen Wesentliche und die Priorität britischer Interessen eint die Positionen John Majors und Tony Blairs. Ein europäischer „föderaler Superstaat” wird vehement abgelehnt. Das Vereinig-
Foster 2002. Financial Times, 26.2. 1999: 18. 434 Der frühere britische Außenminister Robin Cook erinnerte auch in diesem Zusammenhang an den erwähnten Grundzug britischer Europapolitik: „I am confident that one day Britain will join the single currency. My anxiety is that we will only do so when such costs of staying out have become too painfully visisible and Britain will again be cast in the role of running to catch up on European initiatives taken by others.“ The Independent, 28.5. 2004: 31. 432 433
208
te Königreich und der europäische Kontinent haben unterschiedliche Lehren aus der Geschichte gezogen, wie Vernon Bogdanor ausführte: „die Deutschen, aber auch die Franzosen und andere Nationen hätten aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs den Schluss gezogen, nur durch die Überwindung der Nationalismen, durch ein gemeinsames Europa, würden Frieden und Wohlstand garantiert. Die Briten glauben hingegen bis heute, dass sie ihrem Nationalismus, ihrer patriotischen Tapferkeit, das Überleben im Zweiten Weltkrieg geradezu verdankten – und dass überdies der einzige Partner, der ihnen dabei zu Hilfe kam, Amerika und nicht Europa hieß.”435 Britische Europapolitik ist deutlich dominiert vom innenpolitischen Kalkül.436 Dies betrifft sowohl Grundsatzpositionen als auch strategisch-taktische Entscheidungen. Anders als etwa in Deutschland hat sich kein pro-europäisches Elitekartell herausgebildet, dessen Abschottung vom politischen Alltagsdiskurs in der Bevölkerung das Problem kreierte, den erreichten Stand der europäischen Integration den eigenen Bürgern wieder näher bringen zu müssen. Im Vereinigten Königreich ist Europa im politischen Alltagsdiskurs in der Bevölkerung durchaus präsent437, wenn auch häufig unpräzise und verzerrt, aber immer bezogen auf das Grundsatzproblem der Logik und der Sachzwänge der europäischen Integration. Zwar war mit Euroskepsis bisher noch kein Wahlkampf zu gewinnen, aber als Thema sind nationale europapolitische Kontroversen jederzeit politisch mobilisierungsfähig. Bei Europawahlen stehen wie in allen EU-Mitgliedsländern nationale politische Themen im Vordergrund. Europawahlen mobilisieren britische Wählerinnen und Wähler wenig. Die Wahlbeteiligung bei Europawahlen liegt noch unter derjenigen bei Kommunalwahlen. In Nordirland ist sie etwas höher, aber nicht etwa wegen größerer Europabegeisterung, sondern wegen des „intensiveren” innenpolitischen Konflikts, der Machtpositionen jeglicher Art für die Konfliktgegner interessant macht. Zunächst wurden die britischen Europaabgeordneten mit Hilfe des traditionellen First-Past-The-PostSystems gewählt. Die dafür erforderlichen Einerwahlkreise waren sehr groß und ließen den Gedanken der Wahlkreisbindung zur Farce werden. In Europa insgesamt gab es den „Angleichungsdruck” (auch wenn die Entscheidung
Zitiert nach Leithäuser 2008: 10. Oppermann 2008. 437 Weinmann 2003. 435 436
209
über das Wahlsystem nationale Angelegenheit bleibt), dem Beispiel der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten zu folgen und die Europaabgeordneten durch ein Verhältniswahlsystem zu wählen. Dem folgte die Labour Party 1979 mit der Einführung starrer von den Parteizentralen kontrollierter Listen. Die Einführung der Verhältniswahl hat den Grünen und den Euroskeptikern der UKIP den Weg in das Europaparlament geebnet, die beide auch von den Effekten der geringen Wahlbeteiligung profitierten. Vor allem aber hat sie die Unterrepräsentation der Liberal Democrats beseitigt und so war dies auch von der Regierung Blair gemeint. Die Verabredung der Labour Party mit den Liberal Democrats nach einem Wahlsieg der Labour Party oder bei einer Labour Regierung mit Unterstützung der LibDems, das FPTPWahlsystem abzuschaffen, wurde auf diese Weise wenigstens teilweise eingelöst. In Nordirland war wegen der dortigen blutigen Konfrontation von Nationalisten und Unionisten ein Wählen nach relativer Mehrheitswahl nicht möglich. Die britische Regierung hatte dieses Wahlsystem für Wahlen in Nordirland (mit Ausnahme der Unterhauswahl) nach Ausbruch des Nordirlandkonflikts abgeschafft, um zu vermeiden, dass den Nationalisten weiterhin mit Hilfe des Wahlsystems die politische Repräsentation beschnitten wird. Für die Europawahlen gilt in Nordirland seit der ersten Direktwahl 1979 das Single Transferable Vote-Wahlsystem. Tabelle 45:
Wahlen zum Europäischen Parlament
Wahlbeteiligung GB Konservative: Sitze Stimmenanteil Labour: Sitze Stimmenanteil Liberal Democrats: Sitze Stimmenanteil SNP: Sitze Plaid Cymru: Sitze Grüne: Sitze Stimmenanteil UKIP: Sitze Stimmenanteil
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1979 32,1 % 60 50,6% 17 33,1% 0 13,1% 1 0
1984 31,8% 45 40,8% 32 36,5% 0 19,5% 1 0
1989 35,9% 32 34,7% 45 40,1% 0 6,4% 1 0 0 14,5%
1994 36,2% 18 27,9% 62 44,2% 2 16,7% 2 0 0 3,1%
1999* 23,1% 36 35,8% 29 28,0% 10 12,7% 2 2 2 6,2% 3 7,0%
2004 38,2% 27 25,9% 19 21,9% 12 14,4% 2 1 2 6,0% 12 15,6%
Sitze GB insgesamt Wahlbeteiligung Nordirland DUP: Sitze UUP (OUP): Sitze SDLP: Sitze Sinn Féin: Sitze Sitze NI insgesamt Sitze UK insgesamt
1979 78 55,7% 1 1 1 0 3 81
1984 78 63,5% 1 1 1 0 3 81
1989 78 48,4% 1 1 1 0 3 81
1994 84 48,7% 1 1 1 0 3 87
1999* 84 57,0% 1 1 1 0 3 87
2004 75 51,2% 1 1 0 1 3 78
SNP = Scottish National Party, UKIP = United Kingdom Independence Party; DUP = Democratic Unionist Party; UUP = Ulster Unionist Party; OUP (Official Unionist Party); SDLP = Social Democratic and Labour Party. *Neues Wahlsystem ab 1999. Quellen: Butler/Butler 71994: 220f; Europäisches Parlament 1994: 170; Cowling 1999: 224f.; Wilder 2005: 144ff.
2
Vom EG-Beitritt bis zur Osterweiterung der EU
Die britische Hinwendung zu Europa vollzog sich in der Nachkriegszeit spät und mit geringerem Enthusiasmus als in den sechs Gründungsländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die neue Rolle als Mittelmacht in Europa statt der Beherrscherin eines weltweiten Empire und ökonomische Notwendigkeiten veranlassten die Premierminister Harold Macmillan 1961 und Harold Wilson 1967 sich um einen EWG-Beitritt zu bemühen, der allerdings zweimal am Veto des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle scheiterte. Nach dem Tode de Gaulles 1969 änderte sich die französische Position. Die Regierung Edward Heath führte 1973 das Land in die Europäische Gemeinschaft (EG). Die Bereitschaft des Vereinigten Königreichs zur Mitarbeit an der Europäischen Union kam zu einem Zeitpunkt als die von der ersten Phase der europäischen Einigung ausgehenden wirtschaftlichen Wachstumskräfte ihre Wirkung berreits verloren hatten und die EG-Länder sich mit den Auswirkungen des weltweiten Ölschocks konfrontiert sahen. Diese Tatsache schien die EG-Kritiker im Lande zu bestätigen, die keinerlei Vorteil von einem EG-Beitritt für Großbritannien zu erkennen vermochten. Hauptargument der EU-Gegner war und ist ihre Befürchtung, dass die Souveränität des britischen Parlaments zur Entscheidung über alle Angele211
genheiten des Landes durch die Übertragung auf supranationale Institutionen der EU ausgehöhlt wird. Die konservativen Kritiker sehen darin einen Verfassungsbruch, die politische Linke438 erwartete in den 1970er Jahren EURepressionen, falls sich die britischen Wähler für den Sozialismus entscheiden sollten. Ausdauernd wurde in den 1970er Jahren in der Labour Party um die richtige Haltung zur EG gerungen. Die Regierung Wilson, die 1974 nach einem Anti-EWG Wahlkampf die Macht von den Konservativen unter Edward Heath übernahm, rettete sich aus dem Dilemma die von ihrer Vorgängerregierung unterzeichneten Verträge erfüllen zu wollen, trotz fehlender Mehrheit für diesen Kurs in der eigenen Parlamentsfraktion, durch die Freigabe des Stimmverhaltens ihrer Abgeordneten bei der entscheidenden Abstimmung im Unterhaus am 9. April 1975 und durch ein Referendum am 15. Juni 1975. Die Labour Fraktion im Parlament blieb tief gestalten. Nur mit Hilfe der Stimmen aus dem Lager der Konservativen Partei kam eine parlamentarische Mehrheit für einen Verbleib Großbritanniens in der EG zustande. Bei einer Wahlbeteiligung von 64,5% stimmte mit 67,2% die Mehrheit der Abstimmenden im nachfolgenden Referendum für die EG-Mitgliedschaft. Dies stabilisierte den pro-europäischen Regierungsflügel der Labour Party. Tabelle 46:
Abstimmungsverhalten der Labour-Abgeordneten zum Verbleib des Landes in der EG
Kabinettsminister Junior Minister Hinterbänkler Alle
Dafür 14 31 92 137
Dagegen 7 31 107 145
Nicht beteiligt 0 9 24 33
Quelle: Butler/Kitzinger 1976: 52.
Ein Austritt Großbritanniens aus der EU ist seither nur Thema der Ränder des politischen Spektrums, die allerdings bis in die beiden großen Parteien hineinreichen. Die Labour-Linke setzte für die Unterhauswahl 1983 ein radikales Wahlprogramm durch, das u.a. den Austritt des UK aus der NATO und der EG vorsah. Es ging als längste „Selbstmorderklärung” einer Partei in die Wahlgeschichte ein und bescherte der Labour Party eine verheerende
438
Repräsentativ für diese Position: Benn 1980: 164ff.
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Niederlage. Am rechten Rand des politischen Spektrums verfechten einige Vertreter der Konservativen Partei, v.a. aber die sich in der UK Independence Party (UKIP) versammelnden EU-Gegner den Austritt aus der EU in ihrer jetzigen Form. Aber auch die Spitze der Konservativen Partei setzt in der Tradition Margaret Thatchers noch auf euroskeptische Gesten. David Cameron versprach, als er Parteivorsitzender wurde, seine Partei aus der Fraktionsgemeinschaft mit der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament herauszuführen. Am 13. Juli 2006 gründete er zusammen mit dem tschechischen ODS-Vorsitzenden die Europäische Reformbewegung, der sich die von Petar Stoyanov geführte bulgarische VDK anschloss. Als Ziele nannten die EU-Kritiker: offene Märkte, ein Europa der Nationen und eine starke Partnerschaft mit den USA, sowie die Rückführung von EU-Kompetenzen in die Verantwortung der Mitgliedstaaten.439 Die Vertiefung der europäischen Integration wird nur von den Liberal Democrats uneingeschränkt begrüßt. Sie sind europäische Föderalisten, während die Labour Party und die Konservative Partei weitergehenden Integrationsbemühungen von Anfang an mit gehöriger Skepsis begegneten. Trotz ihrer Initiative für einen EG-Beitritt, blockierte die Regierung Heath eine gemeinsame Energiepolitik, um der Ölkrise von 1973/74 zu begegnen. Die Labour-Regierungen der 1970er Jahre lehnten eine Direktwahl des Europäischen Parlaments ab und waren nicht bereit, sich an der Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS) zu beteiligen. Wirtschaftspolitik sollte in allen ihren Aspekten in Großbritannien weiterhin nach nationalen Kriterien gestaltet werden. Der EU-Finanzbeitrag des Landes wurde schon von der Regierung Callaghan Ende der 1970er Jahre als unangemessen hoch kritisiert. Dies setzte einen langwierigen Verhandlungsprozess in Gang, im Verlaufe dessen die britische Premierministerin Margaret Thatcher mit der Forderung „I want my money back.” die EG-Regierungschefs unter Druck setzte. Erst 1984, beim Gipfeltreffen in Fontainebleau wurde eine endgültige Einigung erzielt. Das Vereinigte Königreich erhielt ab 1985 einen jährlichen Rabatt von 66% des eigenen Nettosaldos zum Haushalt der Gemeinschaft. Dieser bis heute bestehende und erst durch die Beschlüsse zur Finanzierung
Ausführlicher zur Trennung der Konservativen Partei von der EPP-ED Fraktion im Europaparlament nach den Wahlen 2009 und den strategischen Möglichkeiten der Konservativen Lynch/Whitaker 2008.
439
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der Osterweiterung der EU modifizierte „Britenrabatt” wird v.a. mit der geringeren Aussicht des Vereinigten Königreiches auf Rückflüsse aus dem Agrarhaushalt gerechtfertigt, weil der Anteil der Landwirtschaft an der Wirtschaftsleistung des Landes deutlich geringer ist als in vergleichbaren EUStaaten. Das Finanzargument mündete in der innerparteilichen Debatte der Konservativen Partei in die weiterreichende Frage nach der künftigen Gestalt Europas. Großbritannien unterzeichnete 1986 die Einheitliche Europäische Akte, die aus Margaret Thatchers Sicht endlich die EG in Einklang mit ihren Vorstellungen bringen sollte. Der ab 1.1. 1993 vertiefte, weil durchgehend liberalisierte Binnenmarkt, entsprach dem Wunsch der Premierministerin nach einer EG als großer, möglichst staatsfreier Freihandelszone. Marktintegration ohne politische Integration ist eines der Leitmotive der britischen Europapolitik. Weitergehende Wirtschaftszusammenarbeit, wie die Harmonisierung von Steuern oder eine gemeinsame Währung, lehnt die britische Politik bisher als nicht im nationalen Interesse liegend ab. In ihrer berühmt gewordenen Rede vor dem Europa-Kolleg 1988 in Brügge hob Margaret Thatcher hervor, dass für sie Europa nur als Ort der Zusammenarbeit unabhängiger und souveräner Nationalstaaten denkbar sei. Erst die Überzeugungsarbeit ihres damaligen Schatzkanzlers und ihres späteren Nachfolgers im Amt des Premierministers, John Major, veranlasste Margaret Thatcher 1990 dem Beitritt Großbritanniens in das Europäische Währungssystem zuzustimmen, eine Entscheidung, die sie später bitter bereute und heftig kritisierte.440 Major hatte auf die Stabilität des EWS und seine Erfolge bei der Inflationsbekämpfung verweisen können. Das nationale Prestigedenkens Großbritanniens führte allerdings dazu, dass das britische Pfund sehr hoch bewertet in den EWS-Mechanismus integriert wurde, was dieses besonders anfällig in Krisensituationen machte. Margaret Thatcher dachte in den Kategorien der Machtbalance der Nationalstaaten in Europa. Die europäische Integration konnte von ihr deshalb nicht als überstaatliche Friedensordnung, sondern nur als Instrument interpretiert werden, das die Nationalstaaten (allen voran Deutschland) nutzen, um ihren Einfluss in der internationalen Politik zu erhöhen. Kurzfristig ver-
440 „Die Jagd nach Wechselkursstabilität hat im Laufe meiner politischen Karriere großen Schaden angerichtet.” (Thatcher 1995: 690).
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suchte Margaret Thatcher Anfang 1990 mit dem Argument, die demokratische Erneuerung in Osteuropa habe Vorrang, dem Prozess der deutschen Einheit entgegenzuwirken.441 Das vereinte Deutschland schien ihr zu groß und damit aus sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen als störend für die europäische Machtbalance. Noch 1995 führte Margaret Thatcher aus: „Im Unterschied zu George Bush war ich von Anfang an gegen die deutsche Wiedervereinigung, aus den offensichtlichen Gründen. Deutschland zu vereinigen hieß, es zur beherrschenden Nation in der Europäischen Gemeinschaft zu machen. Sie sind mächtig, und sie sind tüchtig. Es würde ein deutsches Europa werden.”442 Nach dem Erreichen der deutschen Einheit wurde von der britischen Außenpolitik verstärkt der Gedanke einer intensiveren britisch-französischen Zusammenarbeit ins Spiel gebracht, um den deutschen Einfluss in der EG zu begrenzen. Diese Strategie Margaret Thatchers und ähnliche Bemühungen der Regierung Blair scheiterten mittelfristig an der deutsch-französischen Zusammenarbeit und der Bereitschaft Deutschlands und Frankreichs die europäische Integration fortzuführen. Erst der französische Präsident Nicolas Sarkozy kam dem britischen Denken in Kategorien des Nationalstaats entgegen und begann, die deutsch-französische Zusammenarbeit in der EU in diesem Sinne zu „normalisieren”. Die zu dieser Zeit oppositionelle Labour Party vollzog in den 1980er Jahren einen weitgehenden europapolitischen Richtungswechsel weg von ihrem euroskeptischen Wahlprogramm 1983. Die EG wurde nun für die Partei und die sie tragenden Gewerkschaften zum Hoffnungsträger im Kampf gegen den Thatcherismus und für den Erhalt sozialer Rechte. Jacques Delors, der Kommissionspräsident, wurde auf dem TUC-Kongress in Bournemouth am 8. September 1988 enthusiastisch gefeiert, obwohl, wegen des hohen Lärmpegels im Raum, nicht alle Delegierten der Rede lückenlos folgen konnten.443 Die Labour Party unterstützte früh die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs im EWS und die Europäische Sozialcharta. Die pro-europäische Wende der Labour Party verdankt sich in erster Linie einem innenpolitischen Kalkül und ist nicht als Integrationsfreundlichkeit misszuverstehen.
Himmler 2001: 82ff. Himmler 2001: 160. 443 Weinmann 1999: 116. 441 442
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Auch nach dem Regierungswechsel von Margaret Thatcher zu John Major änderte sich weniger die Europapolitik des Landes als die europapolitische Rhetorik. „Britain at the very heart of Europe”, lautete die Formel für die europapolitische Strategie Großbritanniens, die John Major am 11. März 1991 in Bonn im Konrad-Adenauer-Haus der CDU bei seiner ersten Rede im Ausland als Premierminister prägte. Diese Formel, die später auch Tony Blair gerne gebrauchte, meinte vor allen Dingen, nicht mehr, wie bisher Margaret Thatcher, abseits zu stehen in Verhandlungsprozessen und sein Veto einlegen, sondern die machtpolitischen Möglichkeiten des Landes in der EG/EU konstruktiv zu nutzen, um britische Interessen durchzusetzen.444 Bei den Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag wurde dies überdeutlich. Das Vereinigte Königreich verhinderte die Beschlüsse zur Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung zwar nicht, hielt sich selbst aber aus diesem Schritt ebenso heraus wie aus der Europäischen Sozialcharta. Der Wunsch der von der Regierung Kohl angeführten Föderalisten, der EUVertrag solle der Vertiefung der wirtschaftlichen Integration der EU eine Vertiefung der politischen Integration als logische demokratische Konsequenz und Notwendigkeit beiseite stellen, wurde vom Vereinigten Königreich erfolgreich abgewehrt. Stattdessen erwärmte sich John Major für das Subsidiaritätsprinzip, das er eigenwillig als Abwehrrecht der Mitgliedstaaten gegen EU-Eingriffe interpretierte. Der bisher ziemlich unbekannte Begriff „subsidiarity” machte in der Folge eine überraschende Karriere in der englischen Sprache, aber nicht als Prinzip einer föderalen, sondern als Prinzip einer intergouvernementalen Zusammenarbeit. „Spiel, Satz und Sieg für Großbritannien”, so kommentierte die britische Massenpresse John Majors Auftritt in Maastricht. Das dänische Nein zum Maastrichter Vertrag entfachte im Juni 1982 die britische Maastricht-Debatte neu. Anti-EU Positionen gewannen weiter an Gewicht als Großbritannien am „Black Wednesday” im September 1992 Opfer der internationalen Währungsspekulation wurde und das EWS verlassen musste. Nur mit der hauchdünnen Mehrheit von 319 gegen 316 Stimmen votierte im November 1992 das Unterhaus für die Weiterbehandlung des
Bulmer 2007. „The message of the ‘Heart of Europe’ speech has been misrepresented ever since. It was never code for a federalist agenda. It was a signal that Britain was going to play an active part in the Maastricht negotiations.” (Hogg/Hill 1995:79)
444
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Maastrichter Vertrags im Ratifizierungsprozess des Parlaments. Die Konservative Partei war tief gespalten und wurde immer mehr von Euroskeptikern beherrscht. Der Preis für die Regierungsmehrheit und für folgende Parlamentsmehrheiten in Europafragen waren weitgehende Zugeständnisse John Majors an die Unionisten in Ulster, deren Parteien in Westminster zum Mehrheitsbeschaffer wurden. Mit dem politischen Stillstand in Nordirland wurde ein Minimum an Bewegungsspielraum in der Europapolitik erkauft. Die Auseinandersetzung mit den Europaskeptikern wurde nach 1992 zu einem beherrschenden Thema der britischen Innenpolitik. Am 23. Juli 1993 stimmten Abgeordnete der Regierungspartei in der Frage der britischen Haltung zur Europäischen Sozialcharta mit der Opposition. Die Regierung Major verlor die Abstimmung mit 316 zu 324 Stimmen, konnte aber dank einer gewonnenen Vertrauensabstimmung am nächsten Tag (339 zu 299 Stimmen) weiterregieren. Die BSE-Krise 1996 und die darauffolgenden Exportverbote für britisches Rindfleisch in EU-Länder rissen neue Gräben gegenüber Europa auf. Allerdings schien die Konservative Partei die wahlpolitische Bedeutung des Themas europäische Integration deutlich zu überinterpretieren. Der Wahlsieg der Labour Party zeigte, dass die Wähler 1997 weit mehr solche Themen wie Gesundheitsversorgung, Qualität der Schulen oder Verkehrsinfrastruktur interessierten als die Haltung der Parteien zur europäischen Integration. Die einseitige anti-europäische Kampagne der Konservativen Partei half der Partei nicht, eine ihrer schlimmsten Wahlniederlagen zu verhindern. Die Wahlforschung konnte beispielweise zeigen, dass diejenigen Kandidaten, die sich gegen die Europäische Währungsunion aussprachen genausoviele Anteile an Wählerstimmen verloren, wie diejenigen, die der offiziellen Parteilinie folgten, die da lautete, man müsse abwarten und sehen, was aus dem Euro werde.445 Der Wahlsieg der Labour Party wurde „von außen” „als Politikwende” in der Europapolitik interpretiert.446 Und einige Ereignisse, beispielsweise die Anerkennung der Notwendigkeit einer glaubhaften europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wie sie beim St. Malo-Gipfel im Dezember 1998 von Großbritannien mit initiiert wurde, schienen diese Sichtweise
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Curtice/Steed 1997: 308. Wanninger 2007.
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zu bestätigen. Allerdings tat sich eine deutliche Kluft zwischen europapolitischem Pragmatismus im Umgang mit den anderen Mitgliedstaaten der EU und der innenpolitischen Vermittlung bzw. Beachtung europäischer Themen auf. Diese Themen für den innenpolitischen Gebrauch der Nichtbeachtung anheim zu geben, wurde von den Regierungen Blair und Brown schon als politischer Erfolg gewertet. Die Separierung europapolitischer Diskurse auf EU-Ebene und „für den Hausgebrauch” kann man, Simon Bulmer folgend, wohlwollend als „utilitaristischen Supranationalismus”447 bezeichnen. Im Kern aber geht es um Regierungstaktik, die selbst die wenigen integrationistische Zugeständnisse entweder verschweigen oder als erfolgreiche nationale Interessenpolitik innenpolitisch vermarkten will. So liest sich Tony Blairs Zustimmung zur Aufnahme der Sozialcharta in die Europäischen Verträge auch im Hinblick auf eine neue britische Europapolitik weniger dramatisch, wenn man sich die vagen Festlegungen der Sozialcharta vor Augen führt. Und erst recht gilt der Befund geringer Zugeständnisse für die britische Haltung zur Wirtschaftsintegration. Die Hoffnung, die sich mit dem Schachzug des neuen Schatzkanzlers Gordon Brown verband, die Bank of England in der Zinspolitik unabhängig zu machen, nämlich, dass dies der erste Schritt zur Teilnahme Großbritanniens an der Europäischen Währungsunion sei, trog. Gordon Brown ging während seiner gesamten Amtszeit davon aus, dass der britische Konjunkturzyklus nicht mit dem kontinentaleuropäischen in Einklang zu bringen sei und dass es deshalb nicht im nationalen Interesse läge, den Euro einzuführen.448 Er formulierte folgende fünf Tests, die sich auf ökonomische Tatbestände bezogen, aber hinreichend vage blieben, um eine politische Interpretation weiterhin zu ermöglichen: Ein Beitritt des UK zum Euro müsse sich für Großbritannien positiv auf das Verhalten ausländischer Investoren, die Finanzdienstleistungen und auf den Arbeitsmarkt auswirken. Es müsse weiterhin möglich sein, flexibel auf den ökonomischen Wandel zu reagieren und die ökonomischen Daten der Euro-Zone und des UK müssten sich nachhaltig aufeinander zu entwickeln. Tony Blair mag hinsichtlich der Mitgliedschaft seines Landes in der Europäischen Währungsunion, wie mancherorts berichtet wurde, anderer Meinung gewesen sein. Er scheute allerdings den Konflikt mit seinem
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Bulmer 2008. Zum Hintergrund vgl. auch Baker/Sherrington 2004.
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Finanzminister, mit der Massenpresse und einer Umfragesituation, die dokumentierte, dass zwei Drittel aller Briten ihre eigene Währung behalten wollten. Schon vor seinem Wahlsieg 1997 hatte Blair auch aus wahltaktischen Gründen versprochen, die Einführung des Euro von einem erfolgreichen Referendum abhängig zu machen. Ein wichtigeres Ziel für die britische Europapolitik war die Osterweiterung der EU449. Hiervon versprach sich die britische Regierung nicht nur ökonomische Vorteile im größeren Binnenmarkt. Mit der Osterweiterung sollte auch eine neue EU entstehen mit weniger integrationsgesinnten Regierungen und einem zahlenmäßigen Gegengewicht in den Reihen der Mitgliedstaaten zur deutsch-französischen Achse. Die gleiche Logik, ergänzt teilweise auch um militärstrategische Überlegungen, liegt der positiven Haltung der britischen Politik gegenüber weiteren Erweiterungsrunden, einschließlich des EU-Beitritts der Türkei, zugrunde. Wenn die erwarteten ökonomischen Vorteile sich nicht einstellen, wie beispielsweise bei der Freizügigkeit gegenüber Arbeitnehmern aus den osteuropäischen Beitrittsländern, zeigte sich die britische Regierung aber auch zu einem raschen Kurswechsel bereit. Die Osterweiterung der EU ist der einzige Bereich der Europapolitik, bei dem die Labour Regierung auch die Unterstützung der Konservativen Opposition fand. Alle anderen Integrationsschritte, insbesondere die Vertragswerke von Amsterdam über Nizza bis zum Verfassungsvertrag und dem Lissabonner Vertrag wurden von der Konservativen Partei als unnötige Eingriffe in die nationale Souveränität abgelehnt.
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Europäische Verfassung und Vertrag von Lissabon450
Die einhellige Ablehnung451 europäischer Staatlichkeit in Großbritannien lässt die Forderung nach einer Verfassung für Europa, auch in der abgeschwächteren Form des Lisabonner Vertrages, nicht unmittelbar einleuchtend erscheinen. Tony Blair gab in seiner Rede vor der polnischen Börse am 6. Oktober 2000 mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Stärkung der nationalen
Heindrichs 2005. Z.T. nach Sturm ²2005. 451 Eine gewisse Ausnahme bilden Teile der Anhängerschaft der Liberal Democrats. 449 450
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Parlamente in der EU die Grundlinie seiner Argumentation vor. Mit dem von einem Europäischen Konvent 2003 ausgearbeiteten Verfassungsvertrag sollte sich kein qualitativer politischer Veränderungsprozess verbinden, sondern eine weitere pragmatische Anpassung der EU an die neue Situation vorgenommen werden, die sich nach der Osterweiterung aus der Vergrößerung der Zahl europäisch kooperierender Nationalstaaten ergebe. Das im Subsidiaritätsprotokoll zum Verfassungsvertrag verankerte Frühwarnsystem zur Wahrung der Rechte nationaler Parlamente ist aus britischer Sicht unzureichend. Für die britische Regierung bleiben die nationalen Parlamente die eigentlichen Träger nationaler Souveränität und sollten deshalb aus eigenem Recht ein Machtfaktor in der EU sein. Zur Korrektur des Konventsentwurf schlug die britische Regierung deshalb im April 2004 vor, das vom Verfassungsvertrag eingeräumte suspensive Veto eines Drittels der nationalen Parlamente gegen Beschlüsse der Kommission durch ein absolutes Veto zu ersetzen. Damit verband sich auch die Hoffnung, dies würde es den nationalen Parlamenten leichter machen, dem Verfassungsvertrag zuzustimmen.452 Die Grundlage der Arbeit des Verfassungskonvents war es aus britischer Sicht, bei allen Vertragsanpassungen die bestehenden Grenzlinien nationaler Souveränität zu respektieren, ja nach Möglichkeit, Kompetenzen an die Nationalstaaten in einem klaren System der Aufgabentrennung von EU und Mitgliedstaaten an letztere zurück zu verlagern. Wo dies nicht möglich ist, sollte die Aufgabe sein, die europäischen Verträge in erster Linie redaktionell zu überarbeiten. Der Europäische Konvent schien Tony Blair nicht trotz des um die Beitrittsländer erweiterten Kreises der Mitgliedstaaten ein noch akzeptabler Weg politischer Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene, sondern gerade wegen der Vielzahl neuer Interessen. Vertiefung und Erweiterung werden von der britischen Regierung, anders als in vielen kontinentaleuropäischen Ländern durchaus als Gegensatz interpretiert. Daraus folgt die strategische Überlegung, dass ein solcher Gegensatz sich politisch nutzen lässt, um den Integrationsimpetus der europäischen „Föderalisten“ zu bremsen. Als Tony Blair über seine erfolgreichen Verhandlungen zum Verfassungsvertrag im Unterhaus berichtete, wies er darauf hin, dass es die Allianz mit den neuen Mitgliedstaaten war, die einen integrationistischen Kommissionspräsidenten, noch dazu ausgewählt auf-
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Financial Times, 12.4. 2004: 3.
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grund einer deutsch-französischen Übereinkunft, verhindert hat. Man befinde sich nun eben in einem neuen Europa, das weit eher im britischen Sinne arbeite als das alte. Für Großbritanniens Europapolitik ist die Integrationsskepsis weiterhin ein Leitmotiv und legitimiert eine Strategie des „defensive engagement”453. Sie geht so weit, auch alle Alleingänge integrationswilliger Länder stoppen zu wollen. Tony Blair hat sich deshalb immer gegen Avantgarde-Gruppen Modelle zur Beschleunigung der europäischen Integration gewandt und versuchte – nun auch im Verein mit den neuen EU-Staaten –, die Praxis der unterschiedlichen Integrationsgeschwindigkeiten in der EU (z.B. Euro; Schengen) als abweichenden Fall darzustellen. Die machtpolitische Überlegung hinter solcher Blockadepolitik wird unmittelbar deutlich, wenn man mit dieser Haltung die britische Bereitschaft vergleicht, in Fragen der intergouvernementalen europäischen Kooperation, z.B. in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, durchaus im Alleingang den Schulterschluss mit wenigen großen Mitgliedstaaten zu suchen. Die Widersprüche einer politischen Taktik, die Kooperation an der erreichbaren Machtbalance und nicht an sachlichen Notwendigkeiten misst, wurden besonders deutlich als Großbritannien sogar versuchte, im Verfassungsvertrag eine Institutionalisierung der Währungszusammenarbeit derjenigen Länder, die den Euro eingeführt haben, zu verhindern. Die Forderung, Großbritannien müsse hier gleichberechtigt mitwirken, bei weiterhin ablehnender Haltung zum Euro, war weder im Konvent noch im Europäischen Rat zu vermitteln. Die europäische Integration kollidiert auch immer wieder mit dem britischen Staatsverständnis. Das Thema Grundrechte und Verfassung und die Aufnahme des in Nizza deklarierten Grundrechtekatalogs in den neuen Verfassungsvertrag, beispielsweise, war aus britischer Sicht wegen mindestens zweier Gründe eine sinnlose Fingerübung. Erstens hielt die Regierung Blair schon die Nizza-Deklaration für weitgehend belanglos. Zwar bezieht sich diese auf die europäischen Institutionen und nur dann auf die nationalen Institutionen, wenn sie europäisches Recht umsetzen, aber in der öffentlichen britischen Diskussion galt die Grundrechtefrage im Jahr 2000 als weitestgehend politisch erledigt. 1998, kurz nach dem Amtsantritt der Regierung Blair, wurde mit dem Human Rights Act die Europäische Menschenrechtskonven-
453
Baker 2005.
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tion, die auch integraler Bestandteil der europäischen Grundrechtecharta ist, in britisches Recht übernommen. Auch wenn die technischen Details der Charta komplexer sein mögen und auch wenn die Europäische Menschenrechtskonvention nichts mit der EU zu tun hat, wurde dies in Großbritannien als Europäisierung britischen Rechts verstanden. Die nochmalige Befassung mit diesen Fragen wegen der Verfassung schien deshalb redundant. Zweitens hält die britische Politik hartnäckig an dem Vorrang der Parlamentssouveränität, also dem formalen Letztentscheidungsrechts des Westminster Parlaments fest. Dies gilt auch in Grundrechtsfragen, sowohl was den Human Rights Act als auch was europäische Zumutungen betrifft. Zwar hielten sich britische Regierungen bisher immer an geschlossene Verträge. Daraus folgt aber nur, dass diese so zu formulieren sind, dass eine mögliche britische Abwehrhaltung zumindest in essentiellen Angelegenheiten, nicht eigens neu begründet werden muss. Schon die Grundrechtecharta strotzte vor allem in den Feldern der sozialen Grundrechte vor Vorbehalten, die auf nationale Gesetzgebung verwiesen. Tony Blairs Regierung war genauso wenig wie ihre konservativen Vorgänger bereit, sozialstaatliche Weichenstellungen aus Europa zu importieren, denn diese wurden als Wettbewerbsnachteil für die britische Wirtschaft interpretiert. Bis zum Ende der Verhandlungen über den Verfassungsvertrag machte Großbritannien immer wieder klar – und eine entsprechende Formulierung wurde auf britisches Drängen noch in die Grundrechtecharta eingefügt – dass die Grundrechtecharta auch als Vertragsbestandteil im Verfassungsvertrag den nationalen Status Quo im Hinblick auf die Garantie von Grundrechten nicht verändere. Die Verteidigung nationaler essentials geschah in den Verhandlungen zum Verfassungsvertrag immer wieder durch mehr oder minder kaschierte Opt outs. Die Regierung Blair definierte frühzeitig „red lines“, also in der Sprache des Krimkrieges454 politische Positionen, die die Regierung unbedingt halten möchte. Zu diesen gehörten die Beibehaltung einstimmiger Entscheidungen in Budgetangelegenheiten, im Bereich der Steuerpolitik, der Sozialpolitik und der Außen- und Verteidigungspolitik, sowie der Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Dass hier nationale InteresDer Begriff „red lines“ wurde erstmals im Krimkrieg verwendet, um den Widerstand der 93. Highlanders am 25. Oktober 1854 bei Balaclava gegen die russische Kavallerie zu beschreiben. Ironischerweise wurden die Briten hier aufgrund fehlerhafter Taktik (!) von den Russen geschlagen.
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senpolitik betrieben wird, ist nicht überraschend, denn wirtschafts- und außenpolitische Handlungsfähigkeit sind der Kern des pragmatischen britischen Verständnisses von gelebter Souveränität. In Verhandlungsstrategien eingebunden wurden diese Forderungen von der britischen Regierung mit dem Hinweis, dass die neuen Mitgliedstaaten ebenfalls ihre gerade gewonnene Souveränität im Kernbestand nicht aufgeben wollen und deshalb die „natürlichen“ Verbündeten der britischen Regierung seien. Nationale Souveränität zu wahren, sei allemal wichtiger, als die Effizienzziele der Verfassung zu erreichen, weshalb die britische Regierung sowohl die für das Schmieden von Bündnissen markante Forderung „ein Land ein Kommissar“ unproblematisch fand und sogar bereit war bei ihrer Suche nach Bündnispartnern die ursprüngliche polnisch-spanische Ablehnung des Erfordernis der doppelten Mehrheit bei Ratsentscheidungen zugunsten der Bestimmungen des Vertrages von Nizza mitzutragen. Das Bemühen der britischen Regierung, weitergehende Forderungen in den Vertragsverhandlungen Anfang des Jahres 2004 nachzuschieben, brachte ihr Vorwürfe der Salami-Taktik von deutscher Seite ein, während der britische Außenminister in einer Gegenpolemik seinen Eindruck vermittelte, der Verhandlungsraum sei voller Moskitos, die die britische Regierung attackieren wollten. Ohne die Vermittlung der irischen Präsidentschaft drohte ganz unmittelbar das Aufschnüren schon geschlossener Verhandlungspakete.455 Letztendlich setzte sich die britische „red lines“-Verhandlungsstrategie weitgehend durch. Einstimmigkeitserfordernisse dominieren weiterhin die Steuer- und mit Abstrichen u.a. bei der Annahme von Entscheidungen des neuen Außenminister (Artikel III-201) auch die Außenpolitik. In den anderen red line-Bereichen, also bei der Harmonisierung des Strafrechts durch Mehrheitsentscheidung und bei der sozialen Sicherung, erhielt Großbritannien die Möglichkeit des Opt outs. Der Verfassungsvertrag sollte aus britischer Sicht keine qualitative Weiterentwicklung der europäischen Integration zur Folge haben.456 Die britische Regierung kommunizierte ihre Grundhaltung der marginalen Innovationskraft der Verfassung in der für sie entscheidenden Arena der Innenpolitik nicht nur, weil dies ihren eigenen Zielvorstellungen entsprach. Diese Art des
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The Economist, 22.5. 2004: 31. Fella 2006.
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Diskurses erlaubte ihr auch, ein Referendum über die Verfassung auszuschließen. Am 17. Oktober 2003 stellte Tony Blair noch unzweideutig fest: „There will not be a referendum. The reason is that the constitution does not fundamentally change the relationship between the EU and the UK.“457 Diese Festlegung ist an sich keine Besonderheit des britischen Umgangs mit europäischen Verträgen. Auch John Major, beispielsweise, unterzog den Vertrag von Maastricht, der selbst in Frankreich zur Abstimmung stand, nicht dem Test des Referendums. Was überraschte war eher die plötzliche Bereitschaft der britischen Regierung im April 2004, doch ein Referendum durchzuführen. Die 180 Grad-Wende Tony Blairs in dieser Frage lässt sich nur mit einer momentanen durch die Folgen des Irak-Krieges und dem Ausbleiben von Erfolgen in der Gesundheits-, Verkehrs- und Bildungspolitik verursachten innenpolitischen Schwäche erklären, die in Verbindung zu sehen ist mit wahltaktischen Überlegungen. Es war vorhersehbar, dass die Konservative Partei die Forderung nach einem Referendum über den Verfassungsvertrag zu einem zentralen Thema des Europawahlkampfes von 2004 machen würde (betroffen waren damit auch gleichzeitig stattfindende Kommunalwahlen). Paradoxerweise wurde gerade in dem Land, das die Verhandlungen über einen Verfassungsvertrag weitgehend als Effektivierung des Status Quo interpretierte, nicht aber als neue Qualität der europäischen Integration, der Begriff „Verfassung“ ernster genommen als in den integrationsgeneigteren Mitgliedstaaten. Für eine Debatte über eine grundsätzliche Ablehnung der EU bis hin zum Austritt des Vereinigten Königreiches hat der Begriff hohe Symbolkraft und lässt sich hervorragend instrumentalisieren. Euroskeptiker können sich in der Öffentlichkeit empört gegen den Gedanken verwahren, dass dem Vereinigten Königreich, dem Land ohne geschriebene Verfassung, nun eine solche „von Europa“ aufgezwungen werden soll. Das Versprechen eines Referendums über den Verfassungsvertrag war für Tony Blair die zweitbeste Option aus der für ihn machtpolitisch entscheidenden innenpolitischen Sicht. So hielten sich die Verluste der Labour Party bei den Europawahlen in Grenzen. Ja die anti-europäischen Geister, die die Konservative Partei versucht hatte zu wecken, schadeten ihr selbst mehr als der Labour Party. Die UK Independence Party, die Partei des EU-Austritts, wurde als authentischere euroskeptische Stimme perzipiert und war entspre-
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Zitiert nach The Independent, 19.4. 2004: 6.
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chend wahlpolitisch auf Kosten der Tories erfolgreich. Hinzu kommt, dass die Ankündigung eines Referendums eine wahrscheinliche Konfrontation mit dem House of Lords vermied, in dem die Befürworter eines Referendums eine Mehrheit zu haben schienen, denn neben den Tories setzten sich aus anderen Gründen die Liberal Democrats für ein Referendum ein. Vor allem aber rettete sich Tony Blair vor wüsten Attacken der Murdoch-Presse. Es ist schon erstaunlich, dass das Massenblatt „The Sun“ schon vierzehn Tage vor dem Kabinett informiert schien und den Regierungsplan eines Referendums meldete.458 Danach begründete Tony Blair die Entscheidung für ein Verfassungsreferendum nicht mehr mit dem Gegenstand, der zur Abstimmung steht. Er hatte sich auf den euroskeptischen Diskurs eingelassen, nicht zuletzt auch um Skeptiker in der Sache von einem Negativvotum abzuhalten. In seinen Worten erklärte Tony Blair seine Entscheidung für ein Referendum so: „I have not changed my mind on Europe, or the benefits of this new treaty, those positions are completely unchanged. What I have changed my mind on is that there is no point in continuing to have an argument about whether we are giving people a say [...] let‘s clear it all out of the way and have a debate on the substance. If you believe in what you are doing, and I do believe in it, and you believe in Britain‘s central place in Europe, it is time to make that argument.“459 Bei dem britischen Referendum sollte es also um die Frage gehen, ob das Land weiter in der EU eine zentrale Rolle spielen soll, oder in eine europäische Randlage innerhalb oder gar außerhalb der EU gedrängt wird. Blair verband inhaltlich das Referendum mit der weiteren EU-Mitgliedschaft seines Landes und schloss deshalb auch explizit eine Wiederholung des Referendums bei einer Ablehnung des Verfassungsvertrages aus. Diese rigide Haltung war auch seine einzige strategische Option. Für die Inhalte des Verfassungsvertrags alleine würde er kaum erfolgreich eine „Koalition der Willigen“ mobilisieren können. Vielleicht, so war seine Hoffnung, findet die Mehrheit der Briten und der veröffentlichten Meinung jedoch ein mögliches Ende der britischen EU-Mitgliedschaft bedrohlich genug, so dass die Euroskepsis zeitweise in den Hintergrund gedrängt werden kann.
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The Independent, 20.4. 2004: 6. The Independent, 23.4. 2004: 10.
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Das Scheitern des Verfassungsvertrag an den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden von 2005 enthob Tony Blair der Notwendigkeit, ein britisches Referendum auszurufen. Der Neuauflage der Verfassungsdiskussion durch den Lissabonner Vertrag versuchte Tony Blairs Nachfolger im Amt des Premierministers, Gordon Brown, dadurch zu entgehen, dass er einen Unterschied zwischen dem Vertrag für eine „Europäische Verfassung” und dem „Lissabonner Vertrag” konstruierte. Damit sollte auch begründet werden, dass das Referendum-Versprechen Tony Blairs keine Gültigkeit mehr habe. Diese Argumentation war zumindest hinreichend, um eine parlamentarische Mehrheit für den Vertrag von Lissabon zu erhalten. Nachdem das Unterhaus im März 2008 mit 346 zu 206 Stimmen dem Vertrag von Lissabon zugestimmt hatte, ratifizierte das House of Lords den Vertrag im Juni. Ein hoher Anteil der Bevölkerung wäre jedoch lieber dem Vorbild Irlands gefolgt und hätte einem Referendum den Vorzug gegeben. Nach den Umfragedaten der EU hielten 2008 nur 30 Prozent der Briten die EUMitgliedschaft ihres Landes für eine gute Sache. Gordon Brown unterstrich die geringe Wertigkeit des Lissabonner Vertrages symbolisch, aber wenig überzeugend, durch seine verspätete Anreise zur feierlichen Unterzeichnung des Lissabonner Vertrages am 13. Dezember 2007. Das „Nein” im irischen Referendum zum Lissabonner Vertrag am 12. Juni 2008 hat die Karten insofern neu gemischt als es denjenigen im UK Argumente lieferte, die weiterhin eine Volksabstimmung anstreben. Die Konservative Partei hat versprochen bei einem Wahlsieg, sollte es bis dahin keine irische Zustimmung zu dem Lissabonner Vertrag geben, die Angelegenheit neu aufzurollen und der britischen Bevölkerung eine Volksabstimmung über den Lissabonner Vertrag zu ermöglichen.
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Perspektiven der britischen Europapolitik
Trotz aller Euroskepsis der Massenpresse460 und den zum Teil nationalistischen Reden britischer Politiker gibt es für die britische Politik keine Alternative zur europäischen Integration. Die wirtschaftlichen Verbindungen zu Europa mögen hier am attraktivsten sein. Darüber hinaus ist den Entschei460
Carey/Burton 2004.
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dungsträgern im Vereinigten Königreich klar, dass grenzüberschreitende Probleme wie die weltweite Finanzkrise 2008/2009, der Klimawandel oder der internationale Terrorismus der europäischen Zusammenarbeit bedürfen. Empirische Untersuchungen461 der Präferenzen politischer Entscheider im Parlament und den Ministerien belegen, dass diese ganz überwiegend der Meinung sind, dass die Vorteile der EU-Mitgliedschaft ihres Landes, die Nachteile überwiegen. Wenn es bei der EU um Projekte und Programme, um Ämter und Einfluss geht, sind britische Bewerber überdurchschnittlich erfolgreich. Sie haben der EU nicht nur durch den Gebrauch der englischen Sprache, die von weniger Menschen in der EU als Muttersprache gesprochen wird als deutsch, ihren Stempel aufgedrückt und die ursprüngliche Dominanz der französischen politischen Kultur erfolgreich herausgefordert. Die EU mag für das Vereinigte Königreich kein emotionales Projekt sein und nicht mit Visionen europäischer Staatlichkeit in Verbindung gebracht werden, sie hat sich aber für das Land als enorm praktisch erwiesen. Großbritannien ist dann, aber auch nur dann, ein verlässlicher Partner in der Europapolitik, wenn dem britischen Publikum zuhause erklärt werden kann, dass Integrationsschritte dem nationalen Interesse dienen.462
Smith/Hay 2007: 374f. „British pragmatism is alive and well, and [...] some would like to think that our island status gives us a unique freedom of action [...]. Lord Palmerston famously remarked that Britain did not have allies, only interests. The fact of the modern world are such that interests can only be pursued through alliances.” (Stephens 2005: 21)
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