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PARKER taucht den Brunnenvergifter Curd H. Wendt Lady Simpson fühlte sich übergangen und reagierte entspre chend verärgert. Sie gehörte zum Kreis der geladenen Gäste beim Geburtstagsempfang des Lord Mayors und war in ihrer ma jestätischen Fülle nicht zu übersehen. Doch zwei Kellner hatten es schon gewagt, mit Sekttabletts an ihr vorbeizusegeln. »Unter nehmen Sie etwas, Mister Parker!« verlangte die ältere Dame mürrisch von ihrem Butler. »Sie wollen sicher nicht warten, bis ich in dieser trockenen Luft verdurstet bin?« »Keineswegs und mitnichten, Mylady«, versicherte Josuah Par ker mit höflicher Verbeugung und versuchte die Aufmerksamkeit des dritten Kellners auf sich zu lenken, der gerade eilig näher kam. »Kollege kommt gleich«, murmelte der Befrackte und wollte weitergehen. Doch die energische Lady setzte dieser Absicht ein unerwartetes Ende. Die Hauptpersonen: Sir Arthur Marville erhält an seinem Geburtstag einen Erpres serbrief. Dr. Jeremy Thornfield verfügt über brisante Chemikalien und ebenso brisante Kenntnisse. Woodie Woolridge kann sich nur kurze Zeit auf zehn Millionen Pfund freuen. Brian Chillers wird von einer resoluten Dame nachdrücklich zur Ordnung gerufen. Andrew Mayall könnte nach einer Generalamnestie nicht mehr ruhig schlafen. Chief-Superintendent McWarden erregt das Mißfallen einer freiberuflichen Kollegin. Lady Agatha fühlt sich durch einen Papageien beleidigt und schickt ihren Butler zum Orchideenpflücken. Butler Parker beweist Kondition im Treppensteigen und wehrt Angreifer mit pikanten Soßen ab. »Moment, junger Mann!« Agatha Simpson trat mit ihrem rusti 2
kalen Schnürschuh auf die Hühneraugen des Kellners. »Eine Da me meines Standes ist es nicht gewohnt, daß man sie warten läßt.« Gleichzeitig griff sie nach einem vollen Glas – buchstäblich in letzter Sekunde, denn den Frackträger hielt es nach der unver hofften Notbremse nicht länger auf den Beinen. Der Mann absolvierte eine fast elegant zu nennende Bauchlan dung und verschaffte etlichen Gästen den Genuß einer prickelnden Sektdusche. Lady Agatha nahm von dem kleinen Zwischenfall kaum Notiz. Während Parker dem Kellner vom Boden aufhalf, steuerte sie auf einen untersetzten, schätzungsweise fünfundfünfzig-jährigen Mann zu, der ihr im Augenblick den Rücken zuwandte. »Welche Freude, Sie hier zu sehen, mein lieber McWarden«, be grüßte Mylady den leitenden Yard-Beamten, der förmlich zusam menzuckte, als das baritonal gefärbte Organ der passionierten Detektivin unmittelbar hinter ihm ertönte. »Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Mylady«, erwiderte der Chief-Superintendent und verneigte sich, während die ältere Da me ihm die Rechte zum Handkuß bot. Der galante Beamte, der dank seiner vorstehenden Basedowau gen mitunter wie eine gereizte Bulldogge wirkte, war unmittelbar dem Innenminister unterstellt und leitete eine Sondereinheit zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Er verkehrte regelmäßig im Hause Simpson. Dabei galten seine Besuche allerdings weniger der immens vermögenden Witwe, die die Kriminalistik als Hobby betrieb, als Josuah Parker, dessen ausgewogenen Rat McWarden seit langem schätzte, besonders, wenn konventionellen Ermittlungsmethoden kein Erfolg beschie den war. Agatha Simpson hingegen, die sich für die kriminalistische Be gabung des Jahrhunderts hielt, ließ keine Gelegenheit aus, den beamteten Ganovenjäger mit mehr oder minder boshaften Sti cheleien auf die sprichwörtliche Palme zu treiben – was ihr häufig genug gelang. Ihr größter Triumph war es, dem Yard-Mann bei brisanten Ermittlungen zuvorzukommen. Dank der diskreten Hilfe ihres Butlers waren solche Triumphe nicht gerade selten. »Haben Sie nicht schon oft gesagt, daß Sie im Dienst keinen Al kohol zu sich nehmen, Mister McWarden?« erkundigte sich Lady Agatha mit vorwurfsvollem Blick auf sein Sektglas. 3
»Stimmt, Mylady«, nickte der Chief-Superintendent. »Aber heu te bin ich nicht im Dienst.« »Der wahre Detektiv ist immer im Dienst«, mußte er sich beleh ren lassen. »Das ist eben der Unterschied zwischen einem Beam ten und einer Kriminalistin aus Berufung.« McWarden überlegte, ob er sich mit einer Bemerkung über Lady Simpsons Sektglas revanchieren sollte, doch in diesem Augen blick kam der Lord Mayor direkt auf ihn zu. Sir Arthur Marvilles Schritte waren so eilig, wie es die Würde seines Amtes als Gast geber gerade noch erlaubte. »Welch ein Glück, daß Sie hier sind, Mister McWarden«, sprach er den Yard-Beamten an. »Ich muß Sie dringend sprechen.« »Jederzeit, Sir«, gab McWarden zur Antwort. »Es ist doch hof fentlich nichts Schlimmes passiert?« »Wie schlimm es ist, wird sich noch herausstellen«, erwiderte der Lord Mayor. »Gehen wir in mein Büro?« Mit einer angedeuteten Verbeugung wollte sich der ChiefSuperintendent von Lady Agatha verabschieden. Doch diese Ges te erübrigte sich. Die Neugier der älteren Dame war geweckt, und nichts konnte sie davon abhalten, den Männer forschen Schrittes zu folgen. »Leider muß ich Sie bitten, Mylady…«, sagte Sir Arthur Marville mit leicht säuerlichem Lächeln, als man gleich darauf die maha gonigetäfelte Tür seines repräsentativ ausgestatteten Büros er reicht hatte. »Sie werden es bereuen, wenn Sie mich nicht in die Ermittlun gen einschalten«, unterbrach ihn die ebenso resolute wie selbstbewußte Dame. »Es sei denn, es handelt sich um einen Fall außerhalb meines Interesses.« »Lady Simpson ist Privatdetektivin, Sir«, griff McWarden erläu ternd ein. »Nun, wenn Sie keine Bedenken haben, Mister McWarden«, zö gerte der Lord Mayor. McWarden zögerte allerdings nur so lange, bis er Agatha Simp sons unmißverständlichen Blick auffing. »Ich habe nichts dagegen, wenn Mylady an der Unterredung teilnimmt, Sir«, ließ der Chief-Superintendent zähneknirschend verlauten, um einen Eklat zu vermeiden. »Die Sache ist ausgesprochen heikel«, begann Marville, wäh rend Parker als letzter eintrat und geräuschlos die Tür hinter sich 4
schloß. »Man will mich erpressen…« * »Das ist der Brief, um den es geht«, fuhr der Lord Mayor fort und legte ein mit Schreibmaschine beschriebenes Blatt auf den Tisch. »Vielleicht handelt es sich ja nur um einen Verrückten, a ber das werden Sie besser beurteilen können als ich.« »Würden Sie den Text bitte vorlesen?« fragte Agatha Simpson. »An den Lord Mayor von London«, kam McWarden der Bitte nach. »Politiker aller Richtungen führen heute täglich das Wort >Freiheit< im Mund. Auch Sie, verehrter Lord Mayor, bilden da keine Ausnahme. Aber vielen britischen Bürgern wird die elemen tarste Freiheit vorenthalten…« »Wen meint er damit?« unterbrach die Detektivin. »Das steht im nächsten Satz, Mylady«, gab der ChiefSuperintendent zur Antwort, bevor er weiterlas: »Als Vorkämpfer für alle frei geborenen Menschen, als Anwalt der Entrechteten, fordere ich Sie deshalb auf, unverzüglich Gefängnisse und psychi atrische Anstalten zu öffnen.« »Diese Forderung ist doch blanker Wahnsinn«, warf Sir Arthur kopfschüttelnd ein, »abgesehen davon, daß der Mann meine Be fugnisse bei weitem überschätzt. Eine Generalamnestie dieser Größenordnung könnte nicht mal die Premierministerin anord nen.« »Die Vermutung, daß es sich um einen Spinner handelt, liegt in der Tat sehr nahe, Sir«, urteilte McWarden. »Aber vielleicht sollte ich erst noch die restlichen Sätze vorlesen.« »Bitte, Mister McWarden«, gestattete der Lord Mayor. »Ich erwarte von Ihnen«, las der Chief-Superintendent weiter vor, »daß Sie heute abend in der Nachrichtensendung des Fern sehens vor die Kamera treten und meine berechtigten Forderun gen vorbehaltlos unterstützen. Andernfalls hätten Sie die Verant wortung zu tragen, wenn London in ein Irrenhaus verwandelt wird. In meinem Besitz befinden sich zweihundert Gramm reines LSD. Sollten Sie sich uneinsichtig zeigen, sähe ich mich gezwun gen, das Mittel mit Hilfe der Trinkwasserversorgung an alle Haus halte zu verteilen.« »Was verstehe ich unter LFP, Mister Parker?« erkundigte sich 5
Lady Simpson. »Die Buchstaben LSD«, korrigierte der Butler auf seine diskrete Weise, »dürften als Abkürzung für die berauschende Chemikalie Lysergsäurediethylamid stehen, falls man nicht gründlich irrt, Mylady.« »Und wie wirkt dieses Zeug?« wollte Marville wissen. »Die Einnahme von LSD bewirkt Sinnestäuschungen bis hin zu Persönlichkeitsspaltungen, die von den Symptomen einer echten Schizophrenie mitunter kaum zu unterscheiden sind«, gab Parker Auskunft. »Schon unvorstellbar geringe Mengen genügen, um die genannten Wirkungen auszulösen.« »Stimmt«, bestätigte McWarden. »Wenn ich es recht im Kopf habe, reichen 100 Mikrogramm für einen Rausch von zwölf Stun den und mehr.« »100 Mikrogramm?« staunte Sir Arthur. »Das würde bedeuten, daß die Menge von zweihundert Gramm…« »… rund zwei Millionen Menschen in den Zustand absoluter Un zurechnungsfähigkeit stürzen könnte«, vollendete der ChiefSuperintendent den Satz. »Das Chaos, das in einem solchen Fall hereinbrechen würde, wage ich mir kaum vorzustellen.« »Um Himmels willen!« stöhnte der Lord Mayor und raufte sich die silbergrauen Haare. »Keine Sorge, Sir«, beruhigte McWarden das Stadtoberhaupt. »Bei dem Briefschreiber scheint es sich wirklich um einen Ver rückten zu handeln, der sich nur wichtig machen will. Daß der Mann tatsächlich über die genannte Menge LSD verfügt, halte ich für ausgeschlossen.« »Trotzdem werden wir der Sache mit allem Ernst nachgehen, bis sich herausstellt, daß es tatsächlich ein harmloser Irrer ist«, kündigte der Yard-Beamte an. »Auf welchem Weg gelangte der Brief übrigens in Ihre Hände, Sir?« »Er wurde nicht mit der Post geschickt, sondern direkt in den Hausbriefkasten geworfen«, teilte Sir Arthur mit. »Mein persönli cher Referent hat ihn geöffnet und mich dann sofort verständigt.« »Und wie lange könnte der Brief schon im Kasten gelegen ha ben?« fragte McWarden weiter. »Nicht lange«, erwiderte der Lord Mayor. »Tagsüber wird der Briefkasten stündlich geleert.« »Jetzt ist es fünf Uhr zwanzig«, stellte der Yard-Beamte nach einem Blick auf seine Armbanduhr fest. »Der Brief muß also nach 6
vier eingeworfen worden sein.« »Und wie wollen Sie konkret verfahren, Mister McWarden?« fragte Sir Arthur. »Da wir im Moment nichts als diesen Brief haben, werden wir ihn nach allen Regeln der Kriminalistik untersuchen, Sir«, äußerte der Chief-Superintendent. »Das reicht bis zur chemischen Analyse des Papiers, auf dem der Brief getippt wurde.« »Hoffentlich kommen Sie mit diesen Methoden zum Ziel, Mister McWarden«, meinte der Lord Mayor. »Was ich allerdings aus guten Gründen bezweifle«, schaltete Lady Agatha sich unüberhörbar ein. »Ein solcher Fall erfordert in erster Linie Instinkt und Fingerspitzengefühl.« »Wir werden sehen, wem es gelingt, den Erpresser zu entlar ven«, reagierte McWarden pikiert. »Diesen Fall überlasse ich Ihnen gern. Hinter einem harmlosen Irren herzujagen, ist nicht meine Aufgabe«, parierte Mylady. »Um so besser«, schien McWarden gereizt. »Scotland Yard macht das schon allein.« »Unverschämtheiten lasse ich mir nicht bieten«, grollte die De tektivin. »Kommen Sie mit, Mister Parker! Hier habe ich nichts mehr ver loren.« Sir Arthur Marville wirkte irritiert, als er die erzürnte Lady zur Tür geleitete. »Aber ich darf doch mit Ihrer absoluten Diskretion rechnen, My lady?« vergewisserte er sich. »Nicht auszudenken, wenn die Öf fentlichkeit davon erführe. Die Zeitungen würden sich förmlich auf diese Nachricht stürzen.« »Was für die Ermittlungen natürlich ausgesprochen nachteilig wäre«, ergänzte McWarden. »In dieser Hinsicht können Sie sich uneingeschränkt auf mich verlassen«, versprach Agatha Simpson dem Lord Mayor. »Diskre tion ist nämlich meine Spezialität.« * »Darf man höflich fragen, ob Mylady an der Absicht festzuhalten gedenken, in diesem Fall keine Ermittlungen aufzunehmen?« ver gewisserte sich Parker, während man durch den Empfangssaal 7
dem Ausgang zustrebte. »Soll McWarden mit diesem Verrückten doch selig werden«, mokierte sich die passionierte Detektivin. »Ich habe Wichtigeres zu tun. Zum Beispiel könnte ich ein Stündchen meditieren und dann an meinem Kriminalroman weiterarbeiten.« »Wie Mylady zu wünschen belieben«, erwiderte Parker höflich und bahnte seiner Herrin eine Gasse durch die immer noch dicht gedrängt stehenden Gäste. Daß der Gastgeber schon seit einiger Zeit fehlte, schien niemand zur Kenntnis zu nehmen. Kein Wun der angesichts der Tatsache, daß vor wenigen Minuten der Run aufs kalte Büffet begonnen hatte. Was die Aufmerksamkeit aller erregte, blieb auch Lady Agatha nicht verborgen. »Eine kleine Stärkung vor der Heimfahrt könnte nicht schaden, Mister Parker«, entschied sie und bedachte die kulinarischen Köstlichkeiten mit begehrlichem Blick. »Meditieren werde ich spä ter.« »Myladys Wünsche sind meiner Wenigkeit Befehl«, versicherte der Butler mit einer höflichen Verneigung. Steif, als hätte er einen Ladestock verschluckt, schritt er zum Büffet, um Mylady mit erle senen Häppchen zu versorgen. »Wie Sie wissen, Mister Parker, halte ich strenge Diät«, tat die Lady kund, als der Butler kurz darauf mit einem gefüllten Teller zurückkehrte. »Aber davon wird ja nicht mal ein Spatz satt.« »Meine Wenigkeit eilt, Myladys Wünschen in vollem Umfang ge recht zu werden«, erwiderte der Butler und schritt erneut von dannen. Er war ein Mann von schwer bestimmbarem Alter und eher durchschnittlicher Statur. In seinem konservativ geschnittenen Zweireiher mit weißem Eckkragen, der schwarzen Melone und dem altväterlich gebundenen Regenschirm am angewinkelten Unterarm stellte er geradezu das Urbild eines hochherrschaftli chen britischen Butlers aus vergangenen Zeiten dar. Makellose Umgangsformen entsprachen dem stets korrekten Äußeren. Vor anderen Menschen seine Gefühle zu zeigen, kam ihm nicht in den Sinn. Parkers glattes Pokergesicht wirkte stets gelassen und nahezu teilnahmslos. Während der Butler am Büffet lustwandelte, kam Lady Simpson mit Gästen ins Gespräch. Daß sie versprochen hatte, ihr Wissen 8
über den Erpressungsversuch für sich zu behalten, schien die äl tere Dame indes nicht mehr so genau zu wissen. Josuah Parker konnte aus Fetzen der Unterhaltung zweifelsfrei entnehmen, daß die Detektivin nicht nur mit dem prunkte, was sie erfahren hatte – durch zusätzliche Ausschmückungen sorgte sie auch noch dafür, daß die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer nicht erlahmte. Als das kalte Büffet geplündert war und Agatha Simpson sich zur Heimfahrt entschloß, gab es kaum noch eine Ecke in dem weitläufigen Empfangssaal, in der nicht über den verrückten Er presser diskutiert wurde. Am Ausgang begegneten Parker und Agatha Simpson ChiefSuperintendent McWarden, der von drei jüngeren Kollegen beglei tet wurde. »Ich hoffe, Sie sind mit Ihren Ermittlungen inzwischen vorange kommen, mein lieber McWarden«, stichelte die passionierte De tektivin und lächelte etwas spöttisch. McWarden stieß unverständliche Laute aus und wollte mit starr geradaus gerichtetem Blick an Lady Agatha vorbei. Dann überleg te er es sich aber doch anders, hielt unvermittelt inne und trat näher. »Sie werden hoffentlich Stillschweigen über den Fall bewahren, Mylady?« vergewisserte er sich in fast flehendem Ton. »Wenn die Öffentlichkeit Wind davon bekommt, sehe ich schwarz für die Fahndung.« »Das brauchen Sie einer Kriminalistin nicht zu erklären, McWar den«, räsonierte Mylady. »Abgesehen davon ist meine Verschwie genheit geradezu sprichwörtlich, wie Mister Parker Ihnen bestäti gen kann.« »Nichts liegt meiner bescheidenen Wenigkeit ferner, als Myladys Feststellung zu widersprechen«, versicherte der Butler mit knap per Verbeugung. McWarden verzichtete darauf, das Thema zu vertiefen. Mit ei nem Kopfnicken verabschiedete er sich von dem skurrilen Paar und entfernte sich. Auf einem Tisch am Ausgang fiel dem Butler die Liste der gela denen Gäste ins Auge. Im Vorbeigehen griff er mit der schwarz behandschuhten Rechten danach und ließ das Papier in einer In nentasche seines schwarzen Covercoats verschwinden. Es konnte nicht schaden, die Namen aller Gäste griffbereit zu 9
haben. * »Darf man die Hoffnung äußern, daß Mylady eine erholsame Nacht hatten?« erkundigte sich Parker, als die ältere Dame am nächsten Morgen über die geschwungene Freitreppe in die weit läufige Wohnhalle schritt. »Erholsam?« wiederholte die Hausherrin entrüstet. »Ich habe noch stundenlang an meinem Roman gearbeitet. Erst gegen Mor gen muß ich wohl für kurze Zeit eingeschlafen sein.« »Möglicherweise sollten Mylady sich etwas mehr Schonung gön nen, falls die Anmerkung erlaubt ist«, sagte der Butler und gelei tete Agatha Simpson in den Salon, wo bereits der Frühstückstisch gedeckt war. »Ein Mensch mit gewissen Begabungen kann und darf sich nicht schonen, Mister Parker«, entgegnete die Hausher rin mit pathetischer Gebärde. »Wer geistig arbeitet, sollte auch die Bedürfnisse seines Körpers nicht außer acht lassen.« »Eine Feststellung, die keinesfalls anzuzweifeln ist, Mylady.« »Deshalb werde ich meine Diät ein wenig lockern, Mister Parker. Sie haben doch hoffentlich etwas mehr anzubieten?« Mylady ließ ihre Blicke über das Büffet schweifen. Vom geräu cherten Norwegerlachs mit Sahnemeerrettich über diverse Wildund Geflügelspezialitäten reichte das Angebot bis zu einer lukulli schen Käseplatte, die Parker mit exotischen Früchten garniert hatte. Dazu gab es knusprigen Toast, frisch gepreßte Fruchtsäfte sowie Tee und Kaffee. »Man wird sich eingehend bemühen, Myladys Wünsche in vol lem Umfang zu entsprechen«, versicherte Parker. Anschließend servierte er als Auftakt morgendlicher Stärkung den Lachs, schenkte Kaffee ein und trat dann in seiner unvergleichlichen Art einen halben Schritt zurück. Wenig später schlug die Haustürglocke. »Wer wagt es, mich bei meinem bescheidenen Mahl zu stören?« »Meine Wenigkeit wird sich zur Tür begeben und nachsehen, falls Mylady keine Einwände erheben«, bot der Butler an und be gab sich gemessen in Richtung verglastem Vorflur. »Man erlaubt sich, einen möglichst angenehmen Tag zu wün schen«, sagte er gleich darauf und ließ die Besucher eintreten. 10
»Wir stören doch hoffentlich nicht, Parker«, erkundigte sich An walt Mike Rander und ließ seiner Begleiterin, der attraktiven Ka thy Porter, den Vortritt. »Mylady dürfte hocherfreut über Ihren Besuch sein, falls man sich nicht gründlich täuscht, Sir«, erwiderte der Butler und schritt auf dem Weg in den Salon voran. Rander, vierzigjährig, sportliche Erscheinung, an einen beliebten James-Bond-Darsteller erinnernd, betrieb an der nahe gelegenen Curzon Street eine renommierte Kanzlei. Seine wichtigste Aufga be bestand jedoch darin, das schwer zu beziffernde Vermögen der Agatha Simpson zu verwalten. Früher hatte der Anwalt zusammen mit Josuah Parker turbulen te Jahre in den Staaten verlebt. Gemeinsam hatten die Männer eine Reihe aufsehenerregender Kriminalfälle gelöst, bis der Butler an die Themse zurückkehrte und in Lady Simpsons Dienste trat. Wenig später war dann auch Rander gefolgt. In dem repräsentativen Fachwerkhaus im beschaulichen Londo ner Stadtteil Shepherd’s Market, das der älteren Dame als Stadt wohnung diente, hatte der Anwalt wenig später Myladys Gesell schafterin Kathy Porter kennengelernt. Die zierliche junge Dame, die in Randers Kanzlei half, war eine Erscheinung von exotischem Reiz. Langes, dunkles Haar mit ei nem leichten Kastanienschimmer umrahmte ein bezauberndes Gesicht mit leicht mandelförmigen Augen und betonten Wangen knochen. So zart und anschmiegsam sie wirkte – wenn ein aufdringlicher Ganove der hübschen Kathy zu nahe kam, konnte sie sich in Se kundenschnelle in eine reißende Pantherkatze verwandeln. Nicht umsonst hatte die junge Dame jahrelang intensiv die hohe Kunst fernöstlicher Selbstverteidigung studiert. Die Gemeinsamkeiten von Mike Rander und Kathy Porter be schränkten sich allerdings nicht nur auf berufliche Kontakte und die Teilnahme an Lady Agathas unkonventionellen Verbrecherjag den. Myladys wiederholte Versuche, die »Kinder«, wie sie die bei den nannte, vor den Traualtar zu bringen, war bisher jedoch der Erfolg versagt geblieben. »Welche Freude am frühen Morgen!« strahlte die Hausherrin, als sie die Besucher erblickte. »Leider habe ich nicht damit ge rechnet, mein Junge, sonst hätte ich Mister Parker gebeten, zwei zusätzliche Gedecke aufzulegen.« 11
»Vielen Dank, Mylady«, erwiderte Kathy Porter lächelnd. »Mike und ich haben schon gefrühstückt.« »Das beruhigt mich, Kindchen«, tat Agatha Simpson kund und wandte sich mit deutlicher Erleichterung dem glasierten Rehrü cken mit Preiselbeerrahm zu, den Parker aufgetragen hatte. »Außerdem ist uns die ganze Aufregung ein bißchen auf den Magen geschlagen, Mylady«, verriet Rander und nahm gegenüber der tafelnden Detektivin Platz. »Was für eine Aufregung, mein Junge?« erkundigte sich die äl tere Dame besorgt. »Gab es Ärger mit der Kanzlei?« »Nicht die Spur, Mylady«, entgegnete der Anwalt. »Jedenfalls war ich seit vorgestern nicht mehr dort. Aber was wir vor einer Stunde in Haggerston erlebt haben, war ein einziger Alptraum.« »Es war schlimmer, Mike«, ergänzte die attraktive Kathy. »Im merhin war es kein Traum, sondern Wirklichkeit.« »Ihr macht mich neugierig, Kinder«, bekannte Mylady und un terbrach für einen Moment die Kalorienzufuhr. »War es ein Ver kehrsunfall? Oder eine Gasexplosion?« »Nichts dergleichen, Mylady«, schüttelte Rander den Kopf. »Der ganze Stadtteil befand sich in hellem Aufruhr. Überall liefen Men schen kreuz und quer, die die verrücktesten Dinge taten. Es war wie… wie in einem gigantischen Irrenhaus.« »Eine Mitteilung, die man mit dem allergrößten Interesse ver nimmt, Sir«, schaltete Parker sich in die Unterhaltung ein. »Darf man möglicherweise auf eine nähere Schilderung der Geschehnis se hoffen?« »Wir gerieten zufällig in den Trubel und blieben prompt im Ver kehrschaos stecken«, berichtete der Anwalt. »Zuerst mußten wir lachen, als wir einen Obsthändler sahen, der mit Melonen und Kürbissen auf der Fahrbahn so was ähnliches wie Boule spielte. Und die ganze Nachbarschaft machte begeistert mit.« »Einige Leute saßen auch in den Bäumen, versuchten zu zwit schern und führten sich auf wie Vögel«, setzte Kathy Porter hin zu. »Ein Stück weiter tanzte eine Gruppe splitternackter junger Leute um ein Lagerfeuer, das mitten auf einer Kreuzung brann te.« »Wie geschmacklos!« entrüstete sich die Lady. »Die Polizei wird doch hoffentlich eingegriffen und dem ruchlosen Treiben ein Ende bereitet haben?« »Die Polizei hatte in der Tat alle Hände voll zu tun, die wie geis 12
tesabwesend wirkenden Leute einzusammeln und in psychiatri sche Anstalten zu verfrachten«, teilte Rander mit. »An mehreren Stellen war auch die Feuerwehr mit Sprungtüchern im Einsatz. Immer wieder sprangen Menschen aus Fenstern in den oberen Stockwerken. Offenbar glaubten die Ärmsten, sie könnten flie gen.« »Gräßlich war das«, seufzte Kathy Porter. »Aber die Leute, die mit verzückten Gesichtern vor ihren Hauswänden standen und wortlos den schmuddeligen Putz streichelten, als bestünde er aus lauter Diamanten, wirkten fast noch unheimlicher.« »In der Tat ein höchst merkwürdiges Verhalten«, kommentierte Agatha Simpson, die inzwischen bei der Käseplatte angekommen war. »Was halte ich davon, Mister Parker?« »Fraglos dürften Mylady die erwähnten Ereignisse mit dem Er presserbrief in Zusammenhang bringen, der den Lord Mayor von London gestern nachmittag erreichte«, ließ der Butler sich mit unbewegter Miene vernehmen. »Was für ein Erpresserbrief?« fragten Mike Rander und Kathy Porter wie aus einem Mund. Mit bedeutungsvollem Klirren setzte Lady Agatha ihre Kaffeetas se ab und wollte zu einer weitschweifigen Erläuterung ausholen, doch das Läuten der Haustürglocke unterbrach sie schon nach den ersten Worten. »Schließen Sie den Sherry ein, bevor Sie öffnen, Mister Parker«, wies sie den Butler an. »Ich habe so eine dunkle Ahnung, als ob Mister McWarden im Anmarsch ist.« * Es war wirklich der Chief-Superintendent. Sein Zustand verdien te eindeutig das Prädikat »besorgniserregend«. Schweißperlen standen auf seiner hektisch geröteten Stirn. Das linke Augenlid zuckte nervös. »Kann man Ihnen möglicherweise mit einem Glas Wasser be hilflich sein, Sir?« erkundigte sich Parker teilnahmsvoll, während er den Yard-Beamten einließ. »Da hilft nur noch ein Cognac, Mister Parker«, stöhnte der De zernatsleiter und wischte sich mit einem großen, karierten Ta schentuch über die Stirn. 13
Sein Anblick stimmte sogar die couragierte Hausherrin sanft, die sonst keine Gelegenheit ausließ, einen Zwist vom Zaun zu bre chen. »Aber mein Bester! Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?« wollte sie lächelnd wissen, wobei sich Mitleid und Schadenfreude die Waage hielten. »Sie sind mir doch nicht etwa böse wegen gestern abend?« »Nein, nein, Mylady«, versicherte McWarden und sah sich nach dem Butler um. »Könnte ich… äh… könnte ich vielleicht zuerst einen Cognac haben? Am besten einen doppelten.« »Man eilt, Sir«, ließ Parker sich vernehmen und steuerte würde voll die Barockvitrine an, in der die kostbar geschliffene Kristall karaffe mit Myladys Lieblingsmedizin stand. »Nicht, daß ich Ihnen den Schluck mißgönne, mein Geschätz ter«, bemerkte Agatha Simpson in etwas frostigem Ton. »Aber Sie sollten wirklich an Ihre Leber denken. Gesund sehen Sie nicht gerade aus.« »Kann ich mir denken, Mylady«, gab McWarden zur Antwort und trocknete schon wieder seine Stirn. »Aber meine Leber ist völlig in Ordnung. Ich habe mich nur gerade schwarzgeärgert.« »Das tut mir aber leid«, bemerkte die altere Dame in offenkun digem Bedauern. »Darf man möglicherweise erfahren, was sich derart nachteilig auf Ihr Wohlbefinden auswirkte, Sir?« fragte Parker, während er dem Chief-Superintendenten unter Myladys erregtem Blick einen dreistöckigen Cognac kredenzte. »Dieser wahnsinnige Erpresser!« tobte McWarden. »Ich nehme an, daß Sie von dem Chaos gehört haben, das sich heute morgen in Haggerston abgespielt hat.« »Selbstverständlich bin ich über alle Einzelheiten unterrichtet, mein lieber McWarden«, verkündete Agatha Simpson großspurig. »Man hat ja schließlich seine Verbindungen.« »Dann wissen Sie auch, daß wir den Kerl praktisch schon hat ten?« vergewisserte sich der Besucher überrascht. »Was dachten Sie denn?« prahlte Mylady, wobei sie eine kurze Verlegenheit geschickt überspielte. »Möglicherweise darf man erfahren, auf welche Art der Täter entkommen konnte, Sir?« hakte Parker nach. »Unsere Leute waren einfach zu sehr damit beschäftigt, die be dauernswerten Opfer dieses Anschlages in ärztliche Obhut zu 14
bringen«, erwiderte der Chief-Superintendent. »Dabei hat nie mand den Zwischenfall bemerkt.« »Welchen Zwischenfall?« fragte die Detektivin. »Ich dachte, Sie wüßten schon alles«, reagierte McWarden. Daß Mylady sich verplappert hatte, freute ihn sichtlich. »Mister Parker, mein Kreislauf verlangt nach einem Cognac«, wandte sich Agatha Simpson im selben Augenblick an den Butler. Sie schien McWardens Bemerkung überhört zu haben. »Wir wissen noch nicht alles.« Kathy Porter lächelte den ChiefSuperintendent aufmunternd an. »Und wir sind schrecklich neu gierig.« »Während alle verfügbaren Polizeikräfte noch damit beschäftigt waren, die schlimmsten Unfälle zu verhüten, wurde ein Fernseh team der BBC, das in dem Chaos filmte, von einem schätzungs weise fünfunddreißigjährigen Mann angesprochen«, berichtete der Yard-Beamte. »Er stellte sich als Dr. Jeremy Thornfield vor und behauptete, interessante Hintergrundinformationen zu dem Ge schehen liefern zu können.« »Und Sie sind sicher, daß das der Erpresser war?« wollte Myla dys attraktive Gesellschafterin wissen. »Wir haben allen Grund zu der Annahme, Miß Porter«, nickte der Besucher. »Inzwischen wissen wir, daß es einen Dr. Jeremy Thornfield wirklich gibt. Er ist Chemiker und wurde vor drei Jah ren wegen dienstlicher Unzuverlässigkeit entlassen, nachdem er längere Zeit bei den Londoner Wasserwerken gearbeitet hatte.« »Demnach dürfte der Genannte nicht nur über die erforderli chen Kenntnisse zur Herstellung von Lysergsäurediethylamid ver fügen, sondern auch hinreichend mit technischen Details der Wasserversorgung vertraut sein«, warf der Butler ein. »Und daß er über größere Mengen LSD verfügt, wissen wir nun auch«, ergänzte McWarden deprimiert. »Nur haben wir den Kerl nicht. Weiß der Teufel, wo er steckt.« »Darf man gegebenenfalls erfahren, ob das erwähnte Fernseh team tatsächlich die angebotenen Informationen erhielt?« erkun digte sich Parker. »Interessant ist nur, daß der Mann sich vor der Kamera offen zu dem Anschlag bekannt hat, Mister Parker«, antwortete der ChiefSuperintendent. »Ansonsten gab er im wesentlichen den Inhalt des Briefes von sich, den Sie kennen.« »Und danach ist der Bursche unbehelligt in der Menge unterge 15
taucht«, tippte die passionierte Detektivin. Doch ihr Tip lag daneben. * »Da passierte dann das Verrückte.« McWarden holte tief Luft, um Lady Agatha auf die Folter zu spannen. »Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge um das Fernsehteam und den Erpres ser gebildet.« »Nur die Polizei bekam mal wieder nichts mit«, fiel die passio nierte Detektivin ihm ins Wort. »Ich habe doch erklärt, warum unsere Beamten bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit beansprucht waren, Mylady«, re agierte der Chief-Superintendent eingeschnappt. »Jedenfalls hielt plötzlich ein Auto. Zwei Bewaffnete bahnten sich eine Gasse durch die vielen Menschen, schnappten sich den Erpresser und zerrten ihn in den Wagen, der gleich darauf losraste. Alles ging so schnell, daß wir nicht mal das Kennzeichen notieren konnten.« »Das ohnehin gefälscht sein dürfte, falls der Hinweis erlaubt ist, Sir«, warf Parker ein. »Stimmt, Mister Parker«, nickte McWarden. »Aber können Sie sich einen Reim auf diese Entführung machen? War das eine ab gekartete Sache, oder war das echt?« »Eine Frage, auf die nur die Zukunft mit Sicherheit eine Antwort geben dürfte, Sir«, erwiderte der Butler ausweichend. »Die Zukunft, die Zukunft!« stöhnte McWarden. »Ich brauche jetzt Ergebnisse. Der Minister hat sich schon ausgebeten, daß ich ihn stündlich über die Fahndungsfortschritte informiere.« »Sie sind nicht zu beneiden, mein lieber McWarden«, bemerkte Lady Simpson und zierte sich als Trösterin vom Dienst. »Auch das noch!« rief der gestreßte Yard-Beamte in diesem Au genblick aus. »Dürfte ich mal Ihr Telefon benutzen, Mylady?« Alle hatten das penetrante Piepen vernommen, das aus McWar dens Westentasche drang und von einem elektronischen Rufgerät produziert wurde. »Aber bitte keine Ferngespräche auf meine Kosten«, mahnte die sparsame Lady, während der Chief-Superintendent zum Telefon eilte. Als McWarden zwei Minuten später den Anruf bei seiner Dienst 16
stelle beendet hatte und in den Salon zurückkehrte, war sein Ge sicht nicht mehr gerötet, sondern bleich wie eine frisch gekalkte Wand. »Der Überfall war echt«, teilte er mit tonloser Stimme mit. »Die Unterwelt hat den verrückten Chemiker samt dem LSD ge schnappt und will jetzt das große Geschäft machen.« »Darf man möglicherweise erfahren, wie hoch die geforderte Summe ist, Sir?« fragte Josuah Parker. »Zehn Millionen«, antwortete McWarden sichtlich entnervt. »Zehn Millionen Pfund, Mister Parker.« »Kann und muß man davon ausgehen, daß der entführte Mister Thornfield noch über ausreichend LSD-Vorräte verfügt, die seine Entführer als Druckmittel einsetzen können, Sir?« hakte der But ler nach. »Diese Annahme liegt zumindest nahe, Mister Parker«, erwider te der Chief-Superintendent. »Heute morgen fand sich nämlich eine zweite Mitteilung im Briefkasten des Lord Mayors. Darin kün digt der Erpresser den Anschlag von Haggerston an und nennt die Aktion eine >kleine Kostprobe<, für die er lediglich zehn Gramm LSD investiert habe.« »Damit will der Bursche ein derartiges Chaos ausgelöst haben?« wunderte sich Mike Rander. »Thornfield hat das Zeug an einer kleinen Verteilerstation an der Whiston Road in Umlauf gebracht, die nur ein paar Straßen züge versorgt«, erläuterte McWarden. »Dadurch haben die zehn Gramm ausgereicht. Der Junge kennt sich aus in seinem ehemali gen Arbeitsgebiet.« Anschließend hievte sich der untersetzte Mann mit einem tiefen Seufzer aus dem Sessel. »Jetzt muß ich dringend ins Büro«, sagte er und verabschiedete sich. »Fast hätte ich vergessen, weshalb ich gekommen bin«, wandte er sich schon unter der Tür – an den Butler. »Könnten Sie nicht den bewährten Mister Pickett bitten, in der Szene Augen und Oh ren offenzuhalten?« »Man wird es keinesfalls versäumen, Sir«, versprach Parker und schloß die Tür. *
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Als Kathy Porter und Mike Rander eine halbe Stunde später e benfalls das Haus verließen, kam der schätzungsweise sechzig jährige Pickett schon über den Vorplatz auf den Eingang zu. Par ker hatte ihn telefonisch um einen kurzen Besuch in Shepherd’s Market gebeten. In seinem Trenchcoat, mit Travellerhütchen und akkurat ge stutztem Schnurrbärtchen hätte »der ehrenwerte Mister Pickett«, wie Parker ihn meist nannte, ohne weiteres als pensionierter Offi zier gelten können. Niemand sah ihm an, daß er früher als »König der Londoner Taschendiebe« eine prominente Unterweltfigur ge wesen war. Allerdings hatte Pickett seine flinken Finger nur dort spielen las sen, wo der Verlust eines Bündels Pfundnoten nicht allzusehr ins Gewicht fiel. Das war der Grund, weshalb er seine frühere Tätig keit manchmal mit »Eigentumsumverteiler« umschrieb. Eines Tages war Horace Pickett jedoch an ein hochkarätiges Mitglied der Mafia geraten, und sein Leben wäre keinen Pfifferling mehr wert gewesen, hätte der Butler nicht zu seinen Gunsten eingegriffen. Seitdem war Pickett auf die Seite des Gesetzes ü bergewechselt und rechnete es sich zur Ehre an, gelegentlich für Agatha Simpson und Josuah Parker tätig werden zu dürfen. Seine intimen Kenntnisse der Londoner Szene hatten sich schon oft als ausgesprochen nützlich erwiesen. Darüber hinaus galt der einstige Eigentumsumverteiler als Meister der Maske und der dis kreten Observation. »Geht es um den Zwischenfall in Haggerston?« erkundigte er sich, während der Butler ihn in die weitläufige Wohnhalle führte. »Ich habe davon im Rundfunk gehört.« »Sie sagen es, Mister Pickett«, bestätigte Parker. »Mylady wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie in diesem Zusammenhang die Gästeliste eines Empfangs beim Lord Mayor auf Namen überprü fen würden, die in der Unterwelt einen gewissen Klang besitzen«, redete er weiter, nachdem Pickett die Hausherrin mit ausgesuch ter Höflichkeit begrüßt hatte. »Die Gästeliste?« wiederholte Mylady irritiert. »Was hat denn die mit dem verrückten Biologen und seinen Entführern zu tun, Mister Parker?« »Mister Jeremy Thornfield ist Chemiker, falls die Anmerkung gestattet ist, Mylady«, korrigierte Parker höflich und gemessen. »Wie auch immer«, überging die Detektivin den Einwurf. »Ob 18
Biologe oder Chemiker – ich werde das gewissenlose Subjekt auf spüren und hinter Schloß und Riegel bringen. Und die dreisten Gangster, die ihn entführt haben, gleich mit.« »Was man keine Sekunde bezweifelt, Mylady«, ließ der Butler sich vernehmen. »Aber was soll der Unsinn mit der Gästeliste?« kehrte Lady A gatha zum Thema zurück. »Mylady schließen die Möglichkeit, daß sich der Auftraggeber der Entführer unter den Gästen befand, zumindest nicht aus«, wurde Parker deutlicher. »So?« Myladys Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Als spontane Aktion dürfte die Entführung Mister Thornfields wohl kaum anzusehen sein, falls man sich nicht gründlich täuscht«, erläuterte der Butler weiter. »Eher dürften Mylady der Annahme zuneigen, daß die Entführer den Erpresser gezielt gesucht und gefunden haben.« »Darauf wollte ich Sie allerdings auch gerade hinweisen, Mister Parker«, behauptete die ältere Dame umgehend. »Da der Erpressungsversuch bis zu dem Zwischenfall in Hag gerston nur den Gästen des Empfangs bekannt war, dürften My lady den Auftraggeber der Entführer mit hoher Wahrscheinlichkeit in dem genannten Kreis vermuten«, trug Parker seine Überlegun gen weiter vor. »Genau, Mister Parker«, nickte Agatha Simpson und bedachte den Butler mit wohlwollenden Blicken. »Sie haben meine Gedan kengänge verstanden und korrekt wiedergegeben.« »Meine Wenigkeit fühlt sich zu tiefem Dank verpflichtet, Myla dy«, erwiderte Parker und verneigte sich. »Aber«, wandte die Detektivin mit zweifelnder Miene ein, »wes halb haben die Gangster diesen Mister Cornfield…?« »Verzeihung, Mylady«, unterbrach der Butler. »Darf man ver muten, daß Mylady Dr. Jeremy Thornfield zu meinen belieben?« »Ich weiß, daß der Schurke Hornfield heißt, Mister Parker. Nichts anderes habe ich gesagt.« »Meiner Wenigkeit widerstrebt es, Mylady zu widersprechen«, versicherte Parker durchaus wahrheitsgemäß. Seine Höflichkeit war durch nichts zu erschüttern. »Nun gut«, zeigte sich Lady Agatha rasch versöhnt. »Warum haben die Gangster diesen Mister Cornfield ausgerechnet in Hag gerston gesucht? London ist groß.« 19
»Die Entführer dürften relativ früh von dem Zwischenfall in Haggerston gehört haben, möglicherweise durch Abhören des Polizeifunks«, antwortete Parker. »Die Vermutung, daß der Täter sich am Tatort aufhalten würde, wie beispielsweise ein Brandstif ter, lag nahe und erwies sich auch als richtig, wie inzwischen feststeht, Mylady.« »Jetzt werden Sie hoffentlich verstehen, weshalb ich darum ge beten habe, die Gästeliste des Empfangs zu sichten, Mister Pi ckett«, wandte Agatha Simpson sich an den Besucher, der bereits begonnen hatte, das Papier durchzusehen. »An diesem Fall sieht man wieder mal, wie wichtig Diskretion ist. Wäre beim Empfang nicht lang und breit über die Erpressung geredet worden, hätte es auch keine Entführung gegeben.« »Eine Feststellung, der man sich vorbehaltlos anschließen kann, Mylady«, sagte der Butler. Seine Herrin darauf hinzuweisen, daß sie es gewesen war, die den Saal mit Informationen versorgt hat te, verbot ihm die Höflichkeit. In diesem Moment stieß der ehrenwerte Mister Pickett einen Pfiff aus. Schon auf der ersten Seite, unter dem Buchstaben »C«, war er fündig geworden… * Insgesamt drei Männer hatte Pickett schließlich in der Gästeliste entdeckt, die nach seinen zuverlässigen Informationen wichtige Positionen in der Londoner Unterwelt innehatten. Alle drei waren ebenso einflußreiche wie angesehene Geschäftsleute, die beim Geburtstagsempfang des Lord Mayors nicht fehlen durften. Die betreffenden Männer waren aber auch auf undurchsichtige Weise zu ihrem Vermögen gekommen. Daß sie brutale Gewalt einsetzten, wenn es um ihre Profite ging, und selbst vor einem Mord nicht zurückscheuten, war in der Szene ein offenes Geheim nis. Gleich anschließend hatte Lady Agatha zum Aufbruch gedrängt. Nachdem sie sich entschlossen hatte, doch in die Ermittlungen einzusteigen, stand ihr der Sinn nach handfester Aktion. Mylady genoß es, in »hübsche, kleine Zwischenfälle« verwickelt zu wer den und sich »ein wenig Bewegung zu verschaffen«, wie sie es nannte. 20
Inzwischen war man zu Brian Chillers unterwegs, der ein ganzes Imperium von Bauunternehmen beherrschte und nebenbei in dem Ruf stand, legale und illegale Spielsalons mit eisenharten Metho den zu kontrollieren. Er beschaffte die Aufträge für seine Firmen grundsätzlich durch Korruption, wie Pickett glaubwürdig versi cherte. Mit einem »hübschen kleinen Zwischenfall« war also durchaus zu rechnen. »Hier soll das sein, Mister Parker?« wunderte sich Lady Simp son, als der Butler sein hochbeiniges Monstrum vor einem sechs geschossigen Prachthaus aus Glas und Marmor zum Stehen brachte. »Ich denke, der Schurke hat eine Baufirma?« »Material und Maschinen dürften anderweitig untergebracht sein, falls der Hinweis erlaubt ist«, erläuterte Parker. »Schade«, meinte die ältere Dame enttäuscht. »Kräftig gebaute Maurer wären mir zum Aufwärmen gerade recht gekommen.« Liebevoll streichelte sie den perlenbestickten Pompadour, den sie stets am rechten Handgelenk trug. Dabei handelte es sich um einen Beutel aus Leder mit ebensolchen Tragriemen, der den zier lichen Handtäschchen glich, wie sie die Damen der Jahrhundert wende trugen. Der Pompadour enthielt allerdings keinerlei Toilettenartikel, sondern Lady Agathas sogenannten Glücksbringer, ein Hufeisen, das von einem Brauereigaul stammte. Diesen Glücksbringer, der aus humanitären Gründen in eine dünne Lage Schaumstoff gewi ckelt war, wußte die streitbare Lady treffsicher im Nahkampf ein zusetzen. Glück hatte er den Empfängern allerdings noch nie ge bracht. »Aus freien Stücken dürfte Mister Chillers wohl kaum ein Ges tändnis ablegen, Mylady«, versuchte Parker seine deprimiert wir kende Herrin aufzumuntern. »Außerdem sollte man bei einem Gangster seines Formats fest mit bewaffneten Leibwächtern rech nen.« »Um so besser, Mister Parker«, frohlockte Agatha Simpson, de ren Lebensgeister auf dieses Stichwort hin sofort erwachten. Äch zend ließ sie sich von ihrem Butler aus dem luxuriös gepolsterten Fond des schwarzen Vehikels helfen, das mal als Taxi gedient hatte – bis Parker es erwarb und mit Phantasie und Geschick nach seinen ganz speziellen Vorstellungen umbauen ließ. »Fraglos sind Mylady sich bewußt, daß gegen Mister Brian Chil lers bisher keine konkreten Verdachtsmomente vorliegen«, gab 21
der Butler vorsichtshalber zu bedenken, während man über den mit Waschbetonplatten belegten Vorplatz zur gläsernen Eingangs tür schritt. »Insofern dürfte noch keineswegs sicher sein, daß der Genannte an der Entführung Mister Thornfields beteiligt war.« »Das spielt doch überhaupt keine Rolle, Mister Parker«, fegte die Detektivin den Einwand souverän beiseite. »Wenn ich ihn erst mal einem verschärften Verhör unterzogen habe, wird sich schon herausstellen, ob er schuldig oder unschuldig ist.« »Was man keineswegs bezweifeln möchte, Mylady«, sagte Par ker. Insgeheim hegte er allerdings doch gewisse Zweifel. Schließlich kannte er aus langjähriger Erfahrung die Vernehmungsmethoden der resoluten Dame. Zu Geständnissen führten sie fast immer. Der erste kleine Zwischenfall, den Agatha Simpson allerdings kaum zur Kenntnis nahm, ereignete sich bereits vor dem Lift in der mit grauem Marmor und Palisander-Mobiliar ausgesprochen elegant wirkenden Vorhalle. »Hallo!« rief die bebrillte Mittvierzigerin hinter dem Tisch mit dem Schild »Anmeldung«. »Hallo, Sie da! Sie können doch nicht einfach…« Lady Agatha schien taub zu sein. Ohne die Bedienstete eines Blickes zu würdigen, stapfte sie zielbewußt zur Aufzugtür. Parker tat es ihr in gewohnt würdevoller Haltung gleich. Vor dem Lift wimmelte es von Angestellten beiderlei Ge schlechts, die gerade Mittagspause hatten und in die Kantine im sechsten Stock fahren wollten. Die passionierte Detektivin ließ sich durch das Gedränge jedoch nicht im geringsten beeindru cken. »Gräßlich, daß immer alle Leute gleichzeitig mit dem Aufzug fahren wollen«, räsonierte sie und bahnte sich beherzt eine Gasse durch die Wartenden. »Dabei ist Treppensteigen viel gesünder.« »Eine Feststellung, die man nur mit allem Nachdruck unterstrei chen kann, Mylady«, pflichtete der Butler ihr bei. In diesem Moment kam der Aufzug an. Er war leer. Aber nur so lange, bis ein älterer Angestellter die Tür geöffnet hatte. Sekunden später stand die gewichtige Detektivin drinnen und füllte mit ihrer imposanten Gestalt den schmalen Fahrkorb fast vollständig aus. Um die wütenden Proteste der enttäuschten Chillers-Belegschaft kümmerte sie sich keineswegs. 22
»Sie sollten sich etwas Bewegung verschaffen«, empfahl Agatha Simpson der gestikulierenden Menge, bevor die Tür zufiel und der Lift sich in Bewegung setzte. »Dann schmeckt das Essen um so besser.« Josuah Parker zog es vor, das Treppenhaus zu benutzen. Aller dings beschleunigte er seine Schritte, soweit es mit der Würde eines Butlers zu vereinbaren war. Schließlich rechnete seine Her rin fest damit, daß er sie im fünften Stock erwartete und ihr die Tür öffnete. Dort lagen die Direktionsräume, wo vermutlich auch Brian Chil lers zu finden war. * Was die pompöse Ausstattung anging, brachte das fünfte Ober geschoß noch eine deutliche Steigerung gegenüber der Eingangs halle. Wände und Decken waren mit erlesenen Edelhölzern getä felt, die Böden mit verschwenderischen Teppichen belegt, die je des Trittgeräusch restlos schluckten. Üppige Grünpflanzenarran gements rundeten das gepflegte Bild ab. Auch hier gab es eine Empfangsdame. Nur war sie im Gegen satz zu der im Erdgeschoß jung und langbeinig. Eine Brille trug die attraktive Blondine auch nicht. Lässig legte sie ihr Modemagazin beiseite, während Parker sei ner Herrin aus dem engen Lift half. Die junge Schöne schien ei nem Ausbruch ungestümer Heiterkeit nahe, als sie das skurrile Paar aus Shepherd’s Market gewahrte. Mit einiger Mühe gelang es ihr jedoch, professionell zu lächeln. »Sie wünschen?« erkundigte sie sich. »Mylady beabsichtigt, ein Gespräch mit Mister Brian Chillers zu führen«, setzte der Butler sie über den Grund des Besuches ins Bild. »Sind Sie angemeldet?« wollte die Blondine wissen. »Keineswegs und mitnichten, Miß«, erwiderte Parker mit ange deuteter Verbeugung. »Die Notwendigkeit des Gespräches mit Mister Chillers ergab sich sehr kurzfristig, falls der Hinweis gestat tet ist.« »Tut mir leid«, beschied ihn die blonde Schönheit ebenso höflich wie bestimmt. »Direktor Chillers befindet sich in einer dringenden 23
Besprechung, die noch einige Zeit dauern wird. Einen Termin hät te ich erst morgen vormittag wieder frei.« »Eine Lady Simpson läßt sich nicht mit Terminen abspeisen, mein Kind«, fuhr die Detektivin mit ihrem baritonal gefärbten Organ dazwischen. »Ich bin es nicht gewöhnt, daß man mich war ten läßt.« »Trotzdem kann ich Herrn Direktor Chillers jetzt unmöglich stö ren«, beharrte die Empfangsdame. »Sie werden mich unverzüglich bei Ihrem Chef melden«, ver langte Agatha Simpson in einem Ton, der jeden Widerspruch als gefährlichen Leichtsinn erscheinen ließ. »Andernfalls zwingen Sie mich, ausgesprochen ungehalten zu werden.« »Auf diese Weise erreichen Sie hier überhaupt nichts, Mylady«, entgegnete die Langbeinige kühl. »Wetten, daß?« konterte die resolute Dame. Ihre Züge strahl ten eine Art kindlicher Vorfreude aus. Der hübsche kleine Zwi schenfall, den sie sich gewünscht hatte, war schon programmiert. Und der perlenbestickte Beutel an Lady Agathas Handgelenk wippte unternehmungslustig. »Wollen Sie nun einen Termin oder nicht?« versuchte ihr Ge genüber, das Gespräch zu beenden. Es endete tatsächlich auch an diesem Punkt – mit einem Schrei, den die attraktive Blondine ausstieß, als Mylady ihren Pompadour einsetzte. Wie ein zustoßender Raubvogel jagte der lederne Beutel durch die Luft. Ein dumpfer Knall markierte das Ende des kurzen Fluges. Der elfenbeinfarbige Telefonapparat und ein bemalter Keramik aschenbecher waren in Mitleidenschaft gezogen. »Nein!« kreischte die Empfangsdame empört. Bevor sie in wohltuende Ohnmacht sank, fand sie noch Zeit, einen Klingelknopf zu drücken, der verdeckt unter der Schreibtischplatte angebracht war. Die Alarmglocke, die im selben Moment losschrillte, hätte einen Scheintoten im Sarg hochfahren lassen, falls er Myladys ge räuschvolle Aktion überhört hatte. Breitschultrige Bodyguards, denen das Signal gegolten hatte, reagierten sofort. Die Männer blickten zwar verdutzt und konnten sich keinen Reim auf das Geschehen machen, als sie das skurrile Paar und die im Drehsessel schlummernde Kollegin wahrnahmen, aber als die Detektivin zielstrebig zur Tür mit der Aufschrift »Di 24
rektor B. Chillers« stapfte, griffen beide wie auf Kommando in ihre ausgebeulten Jacken. Parker, der mit Unfreundlichkeiten dieser Art bereits gerechnet hatte, gab den Männern jedoch keine Gelegenheit, ihre schallge dämpften Revolver einzusetzen. Blitzschnell ließ er seinen Universalschirm nach vorn schnellen und tippte nachdrücklich mit der bleigefüllten Spitze auf das noch im Jackenausschnitt steckende Handgelenk des rechten Gangs ters. Gleichzeitig griff der Butler mit der schwarz behandschuhten Linken nach seinem Bowler und ließ ihn wie eine Frisbeescheibe zu dem etwas entfernter stehenden Komplizen schwirren. Surrend glitt die mit Stahlblech gefütterte Krempe über die Fin gerknöchel des Mannes, der seine Waffe gerade aus der Schulter halfter gerissen hatte. Beide Leibwächter jaulten im Duett. Ihre Revolver landeten ge räuschlos auf dem Teppichboden. Anschließend torkelten die Männer durch den Raum und hatten nur noch Augen für ihre schmerzhaften Blessuren. »Den überlassen Sie mir, Mister Parker«, sagte Lady Simpson, als einer der Bodyguards, ein gut vierzigjähriger Hüne mit platter Boxernase, direkt auf sie zutaumelte. Der sogenannte Glücksbringer traf den mit seiner rasch schwel lenden Hand beschäftigten Ganoven wie der Blitz aus heiterem Himmel. Klatschend legte sieh der perlenbestickte Beutel auf den Nacken des Breitschultrigen, der postwendend in dumpfes Stöh nen verfiel. Aus hervorquellenden Augen starrte der Mann seine Peinigerin an. Schweißperlen standen auf der plötzlich aschfahlen Stirn. Zentimeter für Zentimeter knickte er in den Knien ein. Sein Mund formte unablässig Flüche. Heraus kamen aber nur unverständli che Blubberlaute. »Ich habe den Eindruck, der Lümmel will mich beleidigen, Mis ter Parker«, reagierte die ältere Dame und schickte eine ihrer berüchtigten Ohrfeigen hinterher. Der ohnehin schon entnervte Ganove heulte wie ein liebestoller Wolf bei Vollmond, als Agatha Simpsons gespreizte Finger sich mit dem Zartgefühl einer Dampframme an seine Wange schmieg ten. Anschließend zeigte er eine fast makellose Pirouette, die je doch ein vorschnelles Ende fand, weil der ungeübte Tänzer in blindem Eifer einen voluminösen Plastiktrog übersah, der mit 25
Gummibäumen, Philodendren und anderen tropischen Blattge wächsen bepflanzt war. Seufzend bettete sich der Mann nach der anstrengenden Dar bietung ins Grüne und ließ gleich darauf friedliche Schnarchge räusche hören. Daß das dekorative Erzeugnis gärtnerischer Kunst nun einem Komposthaufen glich, störte ihn nicht im geringsten. Sein jüngerer Kollege hatte die unterhaltsame Einlage mit ge bannten Blicken verfolgt und sogar vergessen, seine schmerzende Hand weiter zu massieren. Er riß sich von dem Anblick los und zeigte sich fest entschlossen, das Programm in seinem Sinn zu gestalten. Wütend wollte der Gangster sich auf die resolute Lady stürzen. Doch Parker, der ungalantes Verhalten zutiefst mißbilligte, erin nerte den Mann ebenso wirksam wie nachhaltig an seine Kava lierspflichten. Mit ruckartiger Bewegung ließ er sein altväterlich gebundenes Regendach vom angewinkelten Unterarm senkrecht in die Höhe steigen und hatte im nächsten Augenblick die metallisch glänzen de Spitze in der Hand. Anschließend beschrieb der gebogene Bambusgriff dicht über dem Boden einen Halbkreis. Der ungestüme Angreifer stieß einen verdutzten Schrei aus, als die bleigefüllte Krücke sich unwiderstehlich um seine Fußknöchel ringelte und ihm mitten im Lauf die Beine unter dem Leib wegriß. Für Sekundenbruchteile schwebte der Mann waagerecht in der Luft und ruderte hektisch mit den Armen. Doch zu einer Bauch landung mochte sich der offensichtlich durchtrainierte Leibwäch ter nicht entschließen. Statt dessen absolvierte er auf dem weichen Teppichboden spontan eine Rolle vorwärts, kam wieder auf die Beine und fiel dann einem etwa fünfzigjährigen Mann mit goldgeränderter Brille und in elegantem Nadelstreifenanzug in die Arme, der in diesem Augenblick die Tür mit der Aufschrift »Direktor B. Chillers« geöff net hatte. * »Leider sah meine Wenigkeit sich gezwungen, Sie dieser kleinen Unannehmlichkeit auszusetzen«, sagte Parker und verneigte sich andeutungsweise. »Darf man im übrigen die Vermutung äußern, 26
Mister Brian Chillers gegenüberzustehen?« Geschickt hatte der nadelgestreifte Fünfziger den recht apa thisch wirkenden Bodyguard von sich abgleiten lassen. Der Griff in die elegante Anzugjacke kam blitzschnell. Aber noch schneller war der Butler, der erneut seinen schwarzen Universalschirm ein setzte und eingehend das Handgelenk seines Gegenübers behan delte. »Der bin ich allerdings«, antwortete der Firmenchef, wobei er vorsichtig die Schwellung an seinem Unterarm abtastete. Er traf jedoch keinerlei Anstalten, die Auseinandersetzung mit anderen Waffen fortzuführen. Brian Chillers hatte offenbar reflexartig die Waffe gezogen, als er seine Belegschaftsmitglieder in desolatem Zustand vorfand. Jetzt rang er seinem schmerzverzerrten Gesicht ein gequältes Lächeln ab und verneigte sich in Richtung Lady Agatha. »Haben wir uns nicht gestern abend beim Empfang des Lord Mayors gesehen, Mylady?« fragte er. »In der Tat, junger Mann«, bestätigte die Detektivin. »Sie ge ben also zu, daß Sie dort waren?« »Warum sollte ich es bestreiten?« wunderte sich Chillers. »Es spricht auf jeden Fall gegen Sie«, ließ die ältere Dame ihn wissen. »Das müssen Sie mir näher erklären«, erwiderte der Nadelstrei fenträger und bat die Besucher in sein prunkvoll ausgestattetes Büro. »Warum sollte es gegen mich sprechen, daß ich als gelade ner Gast zu einem Empfang des Lord Mayors gehe? Sie sind doch nicht etwa eine Linke?« »Das ist eine Beleidigung«, ereiferte sich die Detektivin. »Der Spaß geht nun aber wirklich zu weit, Mylady«, erwiderte Chillers. »Sie sollten mich erst mal erleben, wenn ich Ernst mache, jun ger Mann«, gab die resolute Dame mit maliziösem Lächeln zu rück. »Wenn Sie mich weiter provozieren, ist es bald so weit.« »Moment mal«, protestierte Chillers. »Was wird hier überhaupt gespielt?« »Sie wagen es, dieses Verhör als Spiel zu betrachten?« räso nierte Lady Simpson. »Davor kann ich Sie nur dringend warnen, junger Mann.« »Verhör?« wiederholte der Hausherr gedehnt. »Was soll der Un sinn?« 27
»Der Lümmel ist verstockt, Mister Parker«, wandte sich Mylady an den Butler. »Ich denke, ich werde ihm eine Lektion erteilen müssen.« »Um Himmels willen, Mylady!« Chillers hob abwehrend die Hän de. »Am besten sagen Sie mir erst mal, worum es überhaupt geht.« »Um die Entführung natürlich«, setzte ihn die passionierte De tektivin ins Bild. »Je früher Sie ein umfassendes Geständnis able gen, desto besser für Sie.« »Was für eine Entführung?« Der nadelgestreifte Firmenchef be kam große Augen. »Heute morgen in Paddington, junger Mann«, raunzte Agatha Simpson ihn an. »Stellen Sie sich nicht ahnungslos! Bei einer Kriminalistin verfängt das nicht.« »Verzeihung, Mylady«, unterbrach Parker. »Kann und muß man vermuten, daß Mylady den Vorfall im Stadtteil Haggerston zu meinen belieben?« »Haggerston?« griff Chillers das Stichwort auf. »Hat da nicht dieser wahnwitzige Erpresser zugeschlagen, von dem gestern beim Empfang die Rede war?« »Sie sind verdächtig gut informiert, Mister Killers«, stellte Lady Agatha mit strenger Miene fest. »Chillers, Mylady«, korrigierte der Gesprächspartner. »Mit >Ch<, nicht mit >K<.« »Sollten Sie etwas anderes verstanden haben, haben Sie sich verhört, Mister Killers«, erwiderte die ältere Dame unbeeindruckt. »Mein Namensgedächtnis ist unbestechlich.« »Jedenfalls habe ich meine Informationen aus dem Rundfunk«, teilte der Firmenchef mit. »Da jagte ja eine Sondersendung die andere. Von einer Entführung habe ich aber nichts gehört.« »Womöglich werden Sie behaupten, daß Ihnen der Name Corn field nichts sagt, Mister Hillers«, fuhr Mylady in gereiztem Ton fort. »Man bittet um Nachsicht, Mylady«, schaltete Parker sich ein. »Der Name des Entführten lautet Jeremy Thornfield, falls man sich nicht gründlich täuscht.« »Thornfield? Wer soll das sein?« erkundigte sich Chillers. »Bei Dr. Jeremy Thornfield handelt es sich um einen ehemaligen Chemiker der Londoner Wasserwerke, der in dringendem Ver dacht steht, den Erpresserbrief an den Lord Mayor verfaßt und 28
das Trinkwasser im Raum Haggerston mit der berauschenden Chemikalie LSD angereichert zu haben«, setzte der Butler ihn ins Bild. »Und der ist entführt worden?« vergewisserte sich der Mann mit der goldenen Brille. Der ungläubige Ausdruck auf seinem Gesicht wirkte echt. Die Nachricht schien ihn in der Tat zu überraschen. »Sie sagen es, Mister Chillers«, bestätigte Parker. »Nachdem die Polizei ihn schon hatte?« staunte sein Gegen über. »Wo denken Sie hin, junger Mann!« ließ die Detektivin sich wie der vernehmen. »Die schafft es ja kaum, den Verkehr zu regeln.« »Da haben Sie recht, Mylady«, pflichtete Chillers ihr bei und ließ ein Geräusch hören, das entfernt an Lachen erinnerte. »Aber Spaß beiseite! Wie kommen Sie bloß darauf, daß ich etwas mit der Entführung zu tun habe?« »Mylady hat Grund zu der Annahme, daß die Entführer über In formationen verfügten, die bis dahin nur den Gästen des Lord Mayors zugänglich waren«, setzte der Butler ihn ins Bild, als er merkte, wie Lady Agatha erfolglos in ihrem Gedächtnis kramte. »Verstehe«, nickte der Mann im Nadelstreifenanzug. »Aber au ßer mir waren mindestens dreihundert andere Leute da.« »Eine Feststellung, der man durchaus nicht widersprechen möchte, Mister Chillers«, sagte Parker mit unbeteiligt wirkender Miene. »Darf man im übrigen höflich um Auskunft bitten, ob Ih nen die Herren Woodie Woolridge und Andrew Mayall persönlich bekannt sind?« Der Firmenchef schluckte und streifte den Butler mit prüfendem Blick, ehe er antwortete. »Ich kenne beide seit Jahren«, sagte er schließlich. »Es sind ausgesprochen seriöse Geschäftsleute, für die ich jederzeit meine Hand ins Feuer lege.« »Möglicherweise darf man Ihnen empfehlen, mit Ankündigungen dieser Art zurückhaltend umzugehen, Mister Chillers«, erwiderte Parker unbeeindruckt. »Allzu leicht könnten sich schmerzhafte Verbrennungen einstellen.« »Gut gesagt, Mister Parker«, meinte der Firmenchef und ließ wieder sein blechernes Lachen hören. »Aber bei Woolridge und Mayall bin ich mir absolut sicher.« »Eine Mitteilung, die man mit der ihr gebührenden Aufmerk samkeit zur Kenntnis nimmt, Mister Chillers«, sagte der Butler 29
und half seiner fülligen Herrin aus dem Sessel. »Ansonsten er laubt man sich, in aller Form für das außerordentlich hilfreiche Gespräch zu danken.« »Gern geschehen«, murmelte der Hausherr geistesabwesend und erhob sich ebenfalls. Hinter seiner Stirn arbeitete es fieber haft. »Haben die Erpresser denn schon eine Forderung präsentiert?« wollte er wissen. Der beiläufige Tonfall konnte nicht darüber hin wegtäuschen, daß das Thema ihn zu interessieren begann. »Man hofft, die beträchtliche Summe von zehn Millionen Pfund erpressen zu können«, teilte Parker mit. »Zehn Millionen.« Chillers ließ jede Silbe einzeln auf der Zunge zergehen. »Dann haben die Gangster nicht nur diesen Thornfield kassiert, sondern auch sein LSD?« »Eine Möglichkeit, die man vorsichtshalber nicht ausschließen sollte, Mister Chillers«, antwortete der Butler, lüftete höflich die schwarze Melone und geleitete Lady Agatha hinaus. * »Ich hätte den Lümmel härter in die Zange nehmen sollen, Mis ter Parker«, machte die Detektivin sich Vorwürfe, sobald man wieder im hochbeinigen Monstrum Platz genommen hatte. »Ges tändnisse bekommt man nicht geschenkt.« »Andererseits dürften Mylady den Eindruck gewonnen haben, daß die Nachricht von der Entführung für Mister Chillers eine Ü berraschung darstellte, falls die Anmerkung erlaubt ist«, wandte Parker ein und ließ sein schwarzes Gefährt anrollen. »Wie auch immer«, schob die ältere Dame den Hinweis beiseite. »Dieser Killers ist ein durchtriebener Bursche, der mit Sicherheit Dreck am Stecken hat. Aber einer Kriminalistin kann er nichts vormachen.« »Eine Feststellung, der man keinesfalls widersprechen möchte, Mylady«, erwiderte der Butler, während er sich routiniert in den fließenden Verkehr einfädelte. »Wie sieht mein Einsatzplan für heute nachmittag aus, Mister Parker?« wollte Agatha Simpson wenig später wissen. »Falls man sich recht erinnert, planen Mylady als nächstes einen Besuch bei Mister Woodie Woolridge«, gab Parker Auskunft. 30
»Poolwitch? Wo habe ich diesen Namen schon mal gehört, Mis ter Parker?« »Mister Woodie Woolridge ist Inhaber einer Kette von Schnellre staurants«, teilte der Butler mit. »Zusätzlich wußte der ehrenwer te Mister Pickett zu berichten, daß Mister Woolridge auf verschie denen kriminellen Feldern tätig ist, zu denen unter anderem die illegale Prostitution zählt.« »Schon gut, Mister Parker«, sagte die passionierte Detektivin. »Natürlich habe ich diese Informationen parat. Die Verdachtsmo mente gegen Poolwitch verdichten sich in geradezu auffälliger Weise, Mister Parker.« »Darf man höflich fragen, welche Verdachtsmomente Mylady meinen?« »Erstens ist er ein Gangster«, legte die Detektivin ihre Gedan kengänge dar. »Zweitens war er beim Empfang des Lord Mayors, und drittens…« Auf Myladys Stirn bildete sich eine nachdenkliche Falte. »Drit tens verstärkt sich der Verdacht gegen ihn automatisch, weil Kil lers aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschieden ist«, brachte sie den Satz zu Ende. »Sie können doch hoffentlich folgen, Mister Parker?« »Myladys Überlegungen sind von einer geradezu bestechenden Klarheit«, versicherte der Butler. »Gegebenenfalls ist jedoch der Hinweis gestattet, daß auch Mister Andrew Mayall als Auftragge ber der Entführung in Betracht kommen könnte.« »Den knöpfe ich mir natürlich auch noch vor, Mister Parker«, kündigte Lady Agatha an. »Aber zwei Verdächtige sind immerhin schon besser als drei.« »Eine Feststellung, der man sich vorbehaltlos anschließen möchte, Mylady.« »Wenn Killers in der Sache drinstecken würde, hätte er be stimmt nicht seine Leibwächter wie Hofhunde zurückgepfiffen, als sie auf mich losgehen wollten«, kam Agatha Simpson noch mal auf den Besuch in dem prunkvollen Büro des Baulöwen zurück. In der Tat waren die ausgeschalteten Bodyguards gerade aus ihrem Nickerchen erwacht, als das Paar aus Shepherd’s Market Chillers’ Büro verließ. Der Firmenchef hatte die Männer, die sich postwendend auf Parker und Mylady stürzen wollten, jedoch mit einer energischen Handbewegung weggescheucht. »Außerdem hätte er mit Sicherheit Verfolger auf mich ange 31
setzt, wenn er ein schlechtes Gewissen gehabt hätte«, plauderte die ältere Dame munter weiter. »Man bittet um Nachsicht«, ließ Parker sich in diesem Moment über die Sprechanlage vernehmen, die den Fahrerplatz mit dem schußsicher verglasten Fond verband. »Bedauerlicherweise sieht meine Wenigkeit sich genötigt, Mylady auf ein kleines, aber nicht ganz unbedeutendes Versehen hinzuweisen.« »Ich werde also doch verfolgt, Mister Parker?« tippte Mylady so fort richtig. »Mylady sagen es mit untrügerischem Gespür«, bestätigte der Butler nach einem erneuten Kontrollblick in den Rückspiegel. »Ich habe doch gleich gewußt, daß dieser Killers ein durchtrie bener Schurke ist«, warf Lady Agatha sich in die ohnehin ausla dende Brust. »Wer sonst sollte die dreisten Lümmel auf mich ge hetzt haben?« »Die Vermutung, daß es sich bei den Verfolgern um Leute han delt, die auf Mister Chillers’ Lohnlisten stehen, dürfte in der Tat einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen, Mylady«, pflichtete Parker seiner Herrin bei. »Andererseits könn ten Mylady auch weitere Möglichkeiten in Betracht ziehen, falls man nicht sehr irrt.« »Selbstverständlich, Mister Parker«, nickte die Detektivin. »Welche?« »Mylady dürften zumindest erwägen, daß Mister Chillers mit Mister Woolridge, möglicherweise auch mit Mister Mayall in tele fonischem Kontakt steht.« »Ich gehe also davon aus, daß er die Schurken vor mir gewarnt hat?« »Nichts anderes gedachte meine Wenigkeit anzudeuten, Myla dy.« »Wie auch immer, Mister Parker. Ich werde den Rüpeln eine Lektion erteilen, die sie ihr Lebtag nicht vergessen.« »Ein Entschluß, der Myladys Mut und Tatkraft in eindrucksvoller Weise dokumentiert.« »Jedenfalls steht fest, daß Killers doch an der Entführung betei ligt war. Vermutlich steckt er mit den anderen kriminellen Sub jekten unter einer Decke.« »Eine Möglichkeit, die man keineswegs von vornherein aus schließen sollte, Mylady. Allerdings wäre noch eine weitere Vari ante denkbar, falls die Anmerkung erlaubt ist.« 32
»Darauf wollte ich Sie auch gerade hinweisen, Mister Parker«, behauptete die Detektivin umgehend. »Werden Sie bitte etwas konkreter, damit ich sehe, ob Sie meine Gedankengänge verstan den haben.« »Mister Brian Chillers könnte sich nach der Unterredung mit My lady spontan entschlossen haben, in das große Geschäft der Er pressung als Teilhaber einzusteigen, oder es ganz an sich zu rei ßen.« »Er spekuliert also darauf, daß ich den verrückten Chemiker ausfindig mache und seine Entführer überwältige«, führte Lady Simpson den Gedankengang weiter aus. »Anschließend will er mir dann diesen Dr. Cornfield abjagen und selbst die zwanzig Millio nen kassieren.« »Falls man sich nicht sehr irrt, war bisher von zehn Millionen Pfund die Rede, Mylady.« »Wie auch immer«, überging Agatha Simpson gelassen den kleinen Unterschied. »Der Schurke wird sein blaues Wunder erle ben. Der Gangster, der mir gewachsen wäre, muß erst noch ge boren werden, Mister Parker.« »Was meine Wenigkeit immer wieder bestätigen kann und muß, Mylady«, erwiderte der Butler. »Darf man in diesem Zusammen hang die Frage anschneiden, wie Mylady konkret mit den Herren Verfolgern zu verfahren gedenken?« »Die Details überlasse ich Ihnen, Mister Parker«, gestattete die ältere Dame großzügig. »Sie werden sich schon etwas Hübsches einfallen lassen.« »Man dankt für den ehrenvollen Auftrag und wird alles daran setzen, Mylady keinesfalls zu enttäuschen«, versprach Parker. Natürlich handelte er auch danach. * Der dunkelgrüne Morris war dem Butler schon kurz nach der Abfahrt von Brian Chillers’ Firmensitz zum erstenmal aufgefallen. Der Fahrer hielt zwar respektvollen Abstand, aber nach jedem Abbiegemanöver tauchte der Wagen wieder im Rückspiegel auf. Offenbar hatten die beiden Insassen lediglich den Auftrag, das skurrile Paar in seinem schwerfällig wirkenden Vehikel diskret zu beobachten. 33
»Ihr Fahrstil spottet wirklich jeder Beschreibung, Mister Par ker«, beschwerte sich Mylady in diesem Augenblick lautstark. Ihre wogende Körperfülle war bedrohlich aus dem Gleichgewicht geraten, als der Butler unvermittelt in eine schmale Seitenstraße einbog. »Man bittet um Nachsicht und wird künftig nicht mehr Myladys Mißfallen erregen«, gelobte Parker und nahm die nächste Abzwei gung sanfter. Die Verfolger lagen ohnehin weit zurück und sollten die Spur des hochbeinigen Monstrums nicht verlieren. Gleich hinter der Ecke brachte der Butler den schwarzen Kasten zum Stehen und nutzte den Rückspiegel, um die Kreuzung im Auge zu behalten. »Haben Sie die Lümmel einfach abgehängt, Mister Parker?« er kundigte sich Agatha Simpson besorgt. Sie fürchtete eindeutig, um einen »hübschen kleinen Zwischenfall« betrogen zu werden. »Keineswegs und mitnichten, Mylady«, versicherte Parker. »Mit dem Eintreffen der fraglichen Herren dürfte in den nächsten Se kunden zu rechnen sein.« Der Butler hatte sich nicht verrechnet. Wenige Augenblicke spä ter schoß die dunkelgrüne Limousine mit Vollgas über die Kreu zung. Daß Parker nach links abgebogen war, bekam der Fahrer zwar noch mit. Für einen Richtungswechsel war es aber schon zu spät. Zwar war der Morris gleich darauf aus dem Blickfeld des Butlers verschwunden, aber Bremsenquietschen und gequältes Aufheulen der Maschine signalisierte zweifelsfrei ein ausgesprochen hastiges Wendemanöver. Gelassen ließ Parker seinen Privatwagen wieder anrollen, bog aber an der nächsten Ecke erneut ab, diesmal nach rechts. Die Verfolger waren fast geneigt, an das Wirken übersinnlicher Mächte zu glauben, als sie Sekunden später die Straße befuhren, in der das hochbeinige Monstrum eben noch gestanden hatte. Wütend gab der Fahrer Gas und jagte weiter. Als er den schwarzen Kasten in einer Seitenstraße gewahrte, war er aber schon wieder halb über die Kreuzung hinweg und benötigte einen beträchtlichen Bremsweg, um die schnelle Limousine auf dem rutschigen Kopfsteinpflaster zum Stehen zu bringen. Der Butler wartete allerdings, bis seine Gegenspieler gewendet hatten und wieder auf der Kreuzung auftauchten. Erst dann kup pelte er und gab Vollgas. 34
Postwendend machte das altertümliche Vehikel einen regelrech ten Satz nach vorn. Das Zusatztriebwerk unter der eckigen Haube ließ seine Kräfte spielen. Ein Beben lief durch die stahlgepanzerte Karosserie, während die Tachonadel immer höher kletterte. Dem Morrislenker blieb vor Staunen der Mund offen, als er das schwerfällig wirkende Monstrum mit dem Temperament eines Vollbluthengstes davonbrausen sah. Instinktiv trat er das Gaspe dal bis zum Anschlag durch. Schlagartig vergaß der Mann die Zurückhaltung, die sein Auf trag verlangte. Der Ehrgeiz des Fahrers war geweckt. Plötzlich ließ ihn das Jagdfieber die gebotene Vorsicht vergessen. Damit war er genau dort, wo Parker ihn haben wollte. Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen. Das Pflaster war noch glitschiger geworden. Der Butler nahm das Gas weg und ließ die weit abgeschlagenen Verfolger aufschließen. Rechts und links glitten verlassene Fabrikhöfe und verfallene Wohngebäude vorbei. Die Straße war menschenleer. Kaum war der Morris auf ein paar Wagenlängen heran, gab Par ker jedoch wieder Gas und fachte damit den Ehrgeiz des Fahrers weiter an. Näher kam die rechtwinklige Einmündung in die Quer straße. Immer deutlicher war auf der anderen Straßenseite die kolossale Plakatwand zu erkennen, auf der für rücksichtsvolles Verhalten im Straßenverkehr geworben wurde. Der Morrislenker bemerkte davon allerdings nichts, weil er so dicht aufgeschlossen hatte, daß der schwarze Kasten ihm die Sicht versperrte. Der Mann stutzte nur leicht, als zwei Düsen am Heck des vorausfahrenden Fahrzeuges eine glasklare Flüssigkeit auf das Pflaster sprühten. Er stutzte jedoch vehement, als unvermittelt die Bremslichter des hochbeinigen Monstrums aufflammten und der Butler gleich danach rechts abbog. Wie eine gigantische Kinoleinwand stand die Plakatwand plötzlich vor den Augen des Mannes. Reflexartig trat er auf die Bremse. Umgehend lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Auf dem Straßenbelag, den der Butler mit flüssiger Seife präpariert hatte, fanden die Pneus nicht mehr und nicht weniger Halt als auf einer spiegelblanken Eisbahn. Mit unvermitteltem Tempo schoß der dunkelgrüne Morris auf die nur noch wenige Meter entfernte Plakatwand zu. Als es vernehm lich knallte, hatte Parker sein Fahrzeug gerade am Straßenrand zum Stehen gebracht. 35
Die hölzerne Konstruktion setzte der außer Kontrolle geratenen Limousine keinen Widerstand entgegen. Ausgesprochenes Pech bedeutete es für die Männer, daß sie ausgerechnet einen tragen den Balken der Konstruktion benutzten, um ihr Fahrzeug zu bremsen. Knirschend und splitternd legte die Plakatwand sich in voller Breite auf die Seite und begrub den Morris unter sich. * »Darf man sich möglicherweise erlauben, den Herren eine hel fende Hand anzubieten?« fragte Parker wenig später. Er hatte seiner gewichtigen Herrin diskret beim Aussteigen geholfen und sie anschließend zum Ort des Geschehens geleitet. Die Morris-Insassen hatten den Unfall glimpflich überstanden. Der Butler registrierte lediglich ein paar Schrammen und Beulen, als die gestrandeten Verfolger unter der Plakatwand hervorkro chen. Etwas benommen wirkten sie aber doch. »Kratz die Kurve, Opa, ehe ich handgreiflich werde«, knurrte der Fahrer, ein untersetzter Endvierziger mit Glatze und Schnauzbart. »Ich glaube, diesem Flegel muß man erst Manieren beibringen«, ereiferte sich die Detektivin. Ehe der Mann es sich’s versah, hatte er eine Ohrfeige kassiert, die seinen Unterkiefer in eine recht un gewohnte Position rückte. Entnervt nahm der Glatzköpfige auf dem Pflaster Platz und war nur noch mit sich selbst beschäftigt. »Wer ist der Schurke, der Sie auf meine Fährte gesetzt hat?« herrschte Mylady gleich darauf den Beifahrer an, ein schmächti ges Kerlchen, das ebensogut zwanzig wie vierzig Jahre alt sein konnte. »Nie… niemand«, stotterte der zierliche Ganove und hob ab wehrend die Hände. »Der Flegel wagt es, mir ins Gesicht zu lügen, Mister Parker«, grollte die ältere Dame. »Ich werde zu härteren Vernehmungsme thoden greifen müssen.« »Um Himmels willen!« jammerte ihr Gegenüber und schielte angstvoll zu seinem stöhnenden Kollegen hinüber. »Ich werde Ihnen alles erklären.« 36
»Warum nicht gleich so?« Mylady ließ demonstrativ ihren Pom padour wippen. »Wir sind Oldtimerfans, Madam, richtige Autonarren, kann ich Ihnen sagen«, behauptete der Schmächtige und setzte ein breites Grinsen auf. »Deshalb wollten wir Sie anhalten und fragen, ob wir Ihr Prachtstück mal näher begutachten dürfen. Das ist der einzige Grund, weshalb wir hinter Ihnen hergefahren sind.« Agatha Simpson sah den Mann durchdringend an. Aber er hielt ihrem Blick stand und grinste nur noch breiter. »Vielleicht sollte ich mich für Hank entschuldigen«, setzte er hinzu. »Er hat überhaupt keinen Grund, sich aufzuregen. Schließ lich können Sie ja nichts für den Unfall. Das war eben seine eige ne Dummheit.« Hank, dem inzwischen ein Zusammenhang zwischen der glas klaren Flüssigkeit und der Glätte der Fahrbahn dämmerte, ging bei diesen Worten hoch wie ein überhitzter Dampfkocher. Mit wü tendem Schrei sprang der untersetzte Morrislenker auf die Füße. Für Parker war klar, daß der Mann seinem Komplicen ans Leder wollte, aber Lady Agatha bezog den Angriff sofort auf sich. Sie setzte ihren Glücksbringer in Bewegung und überredete Hank geradezu schlagartig, wieder Kontakt zu Mutter Erde zu suchen. »Möglicherweise darf man Myladys Aufmerksamkeit auf das na hende Fahrzeug lenken«, sagte Parker in diesem Moment. »Noch ein paar Burschen von der Sorte kämen mir gerade recht, Mister Parker«, erwiderte die resolute Lady. »Das hält jung und in Schwung.« »Eine Feststellung, die uneingeschränkte Zustimmung verdient, Mylady«, antwortete der Butler. »Dennoch ist möglicherweise der Hinweis genehm, daß es sich bei den nahenden Personen keines falls um Gesetzesbrecher handeln dürfte.« Erst jetzt hielt es die ältere Dame für nötig, einen Blick über die Schulter zu werfen. Was sie sah, ließ ihre Stimmung schlagartig unter den Nullpunkt sinken. Mit quietschenden Reifen kam die schwarze Polizeilimousine kurz vor der Unfallstelle zum Stehen. Der leichte Regen hatte den hauchdünnen Film flüssiger Seife längst von der Straße gespült. »Wie ist das hier passiert?« erkundigte sich der ältere der bei den Beamten mit strenger Miene. »Die Burschen sind gefahren wie die Verrückten«, setzte Mylady den Uniformierten ins Bild. »Dabei sind sie von der Straße abge 37
kommen und gegen die Plakatwand gerast. Als mein Butler Erste Hilfe leisten wollte, wurden die Rüpel sogar noch ausfallend.« »Sie kamen zufällig hier vorbei und wurden Augenzeuge?« frag te der Ordnungshüter und machte mit amtlicher Miene Notizen in seinen Block. »Mit Verlaub, Sie sagen es, Sir«, sprang Parker ein, als die älte re Dame zögerte. »Man mußte einige Mühe aufwenden, um nicht in den Unfall verwickelt zu werden, falls der Hinweis erlaubt ist.« Die Morris-Insassen knurrten verhalten, wagten aber keinen Widerspruch. »Hinterlassen Sie bitte Ihre Personalien, damit wir Sie als Zeu gen laden können«, sagte der Polizist. »Und die beiden Verkehrs rowdys nehmen wir gleich mit zur Wache.« »Ich hab’ die Unfallursache, Ted«, rief in diesem Augenblick der jüngere Polizist. Er war unter die gefällte Plakatwand gekrochen und hatte den eindrucksvoll verformten Morris inspiziert. Triumphierend hielt er eine leere Whiskyflasche in der Hand. »Ich habe gleich auf Alkohol getippt«, behauptete sein älterer Kollege. »Bin gespannt auf die Blutprobe.« »Aber…«, protestierten Fahrer und Beifahrer im Duett. »Kein Aber!« fuhr der Ordnungshüter ihnen über den Mund. »Aber die Pulle ist doch von gestern«, widersprach Hank wü tend. »Heute haben wir noch keinen Tropfen getrunken, Serge ant.« »Das behaupten alle«, zeigte der Uniformierte sich unbeein druckt. »Jetzt kommt ihr erst mal mit!« Das schien allerdings das letzte zu sein, was die beiden wollten. Wie auf Kommando nahmen sie die Beine in die Hand und spurte ten los. Fluchend setzten die Polizisten ihnen nach. »Kommen Sie, Mister Parker«, sagte Lady Agatha. »Ich habe nicht vor, diesem Wettlauf bis zum Finale beizuwohnen. Es gibt Wichtigeres zu tun.« »Eine Feststellung, der man sich vorbehaltlos anschließen möchte, Mylady«, erwiderte der Butler und hielt seiner Herrin mit einer höflichen Verbeugung den Wagenschlag auf. *
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»Wo liegt noch mal das Restaurant, das diesem Mister… Wie war der Name, Mister Parker?« fragte Agatha Simpson, nachdem sie es sich im Fond des hochbeinigen Monstrums bequem ge macht hatte. »Fraglos dürften Mylady Mister Woodie Woolridge meinen«, antwortete der Butler. »Wie Mylady sich darüber hinaus erinnern werden, ist Mister Woolridge Besitzer einer ganzen Kette von Schnellrestaurants.« »Ich dachte, da gäbe es etwas Anständiges zu essen«, meinte die ältere Dame enttäuscht. »Und woher weiß ich, in welchem seiner Restaurants der Schurke sich gerade aufhält?« »Hinter der Lokalität, die Mylady in wenigen Minuten erreichen dürften, befindet sich Mister Woolridges Wohnsitz, sofern die In formationen zutreffen, die der ehrenwerte Mister Pickett übermit telte«, gab Parker Auskunft. »Der Gauner wird Augen machen, wenn ich ihm auf den Kopf zusage, daß er Mister Cornfield entführt hat«, freute sich die älte re Dame. »Mylady verfügen über sichere Anhaltspunkte, die auf Mister Woolridges Täterschaft hindeuten?« »Der Lümmel ist so gut wie überführt, Mister Parker. Doch da von später.« Woodie Woolridges Schnellrestaurant an der Cable Street in Patcliff wirkte nicht einladender und nicht abstoßender als die meisten seiner Kategorie. Das zweistöckige Gebäude lag inner halb einer geschlossenen Häuserzeile, so daß es unmöglich war, von der Straße in den Hof zu blicken. Besonders gut schienen die Geschäfte um diese Nachmittags stunde nicht zu gehen. Als Parker seine Herrin in den mit oran gem Plastikmobiliar ausgestatteten Raum eintreten ließ, saßen lediglich zwei Männer an einem Tisch und mummelten lustlos an Hamburgern. »Mit oder ohne Ketchup?« fragte der vierschrötige Frittensieder die vermeintlichen Gäste. »Weder noch«, antwortete der Butler knapp. »Gibt’s nicht«, entgegnete der Mann mürrisch. »Entweder mit oder ohne.« »Sie mißverstehen«, gab Parker mit unbewegter Miene zurück. »Mylady wünscht, Mister Woodie Woolridge zu sprechen.« Der Mann im ehemals weißen Kittel hörte unvermittelt auf, an 39
seinem Mikrowellenherd herumzuputzen, und warf den beiden Hamburger-Essern einen schnellen Blick zu. »Der Chef ist nicht im Haus«, beschied der Vierschrötige dem Butler. »Lassen Sie Ihre Telefonnummer hier. Dann ruft er später zurück.« »Das ist doch von A bis Z gelogen, Mister Parker«, schaltete Agatha Simpson sich ein. »Lassen Sie sich von dem Lümmel nichts vormachen!« »Jetzt schlägt’s aber dreizehn«, brauste der Mann hinter der Theke auf. »Raus mit euch, ihr Witzblattfiguren!« Wie leichtfertig diese spontane Äußerung war, wurde dem Kit telträger Sekundenbruchteile später bewußt, als er Agatha Simp sons ledernen Handbeutel auf sich zurauschen sah. Ehe er Schmerz empfinden konnte, war er schon in entspannende Ohn macht hinübergeglitten. Wie eine Marionette, der man die Fäden durchschnitten hat, knickte der Mann in allen Gelenken gleichzeitig ein und tauchte wortlos hinter der Theke unter. Dafür meldeten sich seine Gäste zu Wort. Genauer gesagt stie ßen sie unartikulierte Laute aus, sprangen von ihren Plastikstüh len und nahmen im Laufschritt Kurs auf das Paar aus Shepherd’s Market. Finstere Entschlossenheit stand in ihren kantigen Gesichtern. Die stählernen Schlagringe an den eindrucksvoll geballten Fäus ten sprachen eine deutliche Sprache. Die Kampfmittel, die Parker ihnen entgegensetzte, waren weich und nachgiebig. Daß sie deshalb weniger wirksam gewesen wä ren, konnte man jedoch nicht behaupten. Kurz entschlossen griff der Butler nach den Plastikflaschen mit Senf und Ketchup, die auf der verglasten Theke standen. Ein gel ber und ein roter Strahl schossen aus den Spritztüllen, während Parker die flexiblen Behälter mit den Händen zusammenpreßte. Daß die Angreifer unverhofft Probleme mit der Orientierung be kamen, als ihnen die pikanten Soßen ins Gesicht klatschten, war verständlich. Lady Agatha schickte noch zwei Salatköpfe hinter her, wobei sie eine beeindruckende Zielsicherheit an den Tag leg te. Ein Stuhl, den der Butler den völlig Irritierten mit leichtem Fuß tritt entgegenschickte, besorgte den Rest. Einer der Männer zeig te eine gekonnte Bauchlandung und hinterließ dabei eine gelb 40
rote Soßenspur auf dem grauen Plastikfußboden. Sein Mitstreiter kippte rasch noch ein paar Tische um und machte durch eine atemberaubende Pirouette auf sich aufmerk sam, bevor auch er zu Boden ging. »Nächstes Mal halten Sie sich etwas zurück, Mister Parker«, grollte die passionierte Detektivin. »Sie gönnen mir ja nicht die kleinste Freude.« »Man wird sich bemühen, immer nach Myladys Wünschen zu verfahren«, versprach Parker. Doch zwei Sekunden später mußte er sein Versprechen abermals brechen. Da Agatha Simpson den zu Boden gegangenen Angreifern den Rücken zukehrte, entging es ihr, daß einer der Männer mittlerwei le seine Augen freigewischt hatte und im Liegen nach dem kurz läufigen Revolver angelte, der in seiner Schulterhalfter steckte. Reaktionsschnell griff der Butler mit der schwarz behandschuh ten Rechten nach seiner Melone und schickte sie mit einer ruckar tigen Bewegung dem Bewaffneten entgegen. Der Mann schrie geradezu hysterisch, als die Stahlkrempe sei nen Handrücken rasierte. Anschließend hüpfte die schwarze Halb kugel hoch und verpaßte der Nase des verhinderten Schützen ein völlig neues Design. »Unverschämtheit!« räsonierte die resolute Dame. Der plötzli che Schrei hatte sie auf dem Absatz herumfahren lassen. Grimmig langte sie nach dem Filzgebilde auf ihrem Kopf und zog eine der martialischen Hutnadeln heraus, die das Format mittlerer Grillspieße hatten. Empört rammte sie dem Gangster die nadel scharfe Spitze ins Sitzfleisch. Ein noch schriller Schrei ertönte, aber Sekunden später hatte sich der Mann schon wieder beruhigt. Das hochkonzentrierte Be täubungsmittel pflanzlicher Provenienz, mit dem Parker die Spitze präpariert hatte, wirkte ebenso schnell wie zuverlässig. Wohlig seufzend streckte Myladys Widersacher sich auf dem Boden aus. Ein seliges Lächeln umspielte seine Züge, während er ins Reich der sanften Träume hinüberglitt. »Offenbar haben Sie doch etwas bei mir gelernt, Mister Parker«, stellte die Detektivin anerkennend fest. »Aber natürlich wäre ich mit dem Lümmel auch allein fertig geworden.« »Was meine Wenigkeit nicht bezweifelt, Mylady«, versicherte Parker mit einer angedeuteten Verbeugung. »Und wo steckt der Lümmel, den ich verhören will?« Mylady sah 41
sich suchend um. »Näheren Aufschluß dürfte eine Inspektion der übrigen Gebäu deteile ergeben, falls man einen solchen Vorschlag unterbreiten darf, Mylady«, erwiderte der Butler. Bevor er der älteren Dame auf diesem Inspektionsgang voran schritt, zog er eine kleine weiße Sprühflasche aus der rechten Außentasche seines schwarzen Covercoats. Eingehend ließ er die beiden Männer, die noch nicht ausreichend versorgt waren, an dem betäubenden Nebel schnuppern, der auf Knopfdruck der Dü se entströmte. Danach schloß Parker die Tür zur Straße und riegelte ab. So war man vor Überraschungen – wenigstens aus dieser Richtung – ei nigermaßen sicher. * »Im Obergeschoß des Hauses hält sich zur Zeit niemand auf, Mylady«, meldete der Butler drei Minuten später. Agatha Simpson hatte im Flur gewartet, denn Treppensteigen gehörte nicht zu ihrem größten Vergnügen. »Dafür warten zwei kriminelle Subjekte im Hof, die sich be stimmt mit mir anlegen wollen, Mister Parker«, teilte die Detekti vin freudestrahlend mit. Beim Blick durch das kleine Fenster in der Hoftür hatte sie die Männer entdeckt. Im Gegensatz zur grauen Vorderfront entpuppte sich der Hin terhof des Schnellrestaurants als grünes Paradies. Blumen blüh ten. Bäume und Sträucher verdeckten die häßlichen Ziegelmau ern, die das Gelände zu den Nachbargrundstücken hin abgrenz ten. Eine Gartenbank mit Tisch war dekorativ unter herabhän genden Zweigen plaziert. Die »kriminellen Subjekte«, von denen Lady Agatha gesprochen hatte, saßen auf der weißlackierten Bank und genossen die Son ne, die nach dem Regenschauer sich wieder durchgesetzt hatte. Genüßlich saugten die Kerle an ihren Zigaretten und hatten die Beine weit von sich gestreckt. Die Szenerie bot ein Bild des Friedens, wären nicht die langläu figen Waffen gewesen, die vor den Männern auf dem Tisch lagen. »Ich werde die Burschen frontal angreifen und im Handstreich überwältigen, Mister Parker«, kündigte die resolute Dame an und 42
ließ kokett ihren Pompadour wippen. »Möglicherweise darf man Mylady darauf aufmerksam machen, daß sich Schußwaffen in Reichweite der Herren befinden«, sagte Parker, der die Entfernung auf zwanzig Schritte schätzte. »Ein offen vorgetragener Angriff dürfte mit unkalkulierbaren Risiken verbunden sein.« »Schußwaffen?« fragte Lady Simpson irritiert. »Die habe ich na türlich auch sofort bemerkt, Mister Parker«, setzte sie hastig hin zu. »Aber Sie wissen ja, daß mir keine Kugel was anhaben kann.« Aus Erfahrung kannte der Butler die geradezu kindliche Unbe fangenheit, die die ältere Dame im Angesicht von Revolvermün dungen an den Tag legen konnte. Oft genug hatte Parker in letz ter Sekunde eingegriffen, um Agatha Simpson vor einer tödlichen Bleiinjektion zu bewahren. »Mylady dürften kaum daran gelegen sein, Mister Woolridge durch vermeidbare Geräusche zu warnen«, gab er deshalb zu bedenken. »Ich denke, der Schurke hält sich gar nicht hier auf, Mister Par ker?« zeigte sie sich überrascht. »Falls man nicht sehr irrt, dürfte das Gebäude dort hinten Mis ter Woolridges gewöhnlicher Aufenthaltsort sein, Mylady«, erwi derte der Butler und deutete durch das kleine Fenster nach drau ßen. Erst jetzt entdeckte die passionierte Detektivin, was Parker so fort aufgefallen war. Halbversteckt hinter den Bäumen lag in der Tiefe des Grundstücks ein zweigeschossiger Neubau von eigenwil ligem Zuschnitt. Dem Haus vorgelagert war ein verglaster Win tergarten, dessen Maße den üblichen Rahmen bei weitem spreng ten. »Nun gut, Mister Parker«, lenkte Agatha Simpson ein. »Ich muß mich ohnehin auf den Kopf der Bande konzentrieren. Da kann ich Ihnen diese Randfiguren getrost überlassen.« »Man dankt für den ehrenvollen Auftrag, Mylady«, sagte der Butler, verneigte sich knapp und öffnete geräuschlos das kleine Türfenster. Mit routinierten Handgriffen löste er seinen Sicherungshebel am Griff seines schwarzen Universal-Regenschirmes und klappte an schließend die Spitze rechtwinklig zur Seite. Dadurch entpuppte sich der hohle Schaft als Lauf, aus dem Parker kleine gefiederte Pfeile verschießen konnte. Für die nötige Schubkraft sorgte eine 43
Patrone mit komprimierter Kohlensäure. Der Butler legte den Schirm an der Fensterbank auf und visierte das Ziel an. Sekunden später glitt der erste Pfeil aus dem Lauf. Bunte Federn stabilisierten den Flug des kaum stricknadelgroßen Geschosses und sorgten dafür, daß es unfehlbar seinen Bestim mungsort erreichte. Der rechts sitzende Gangster zuckte nur leicht zusammen, als die Spitze das Tuch seiner Jacke durchdrang und in der Schulter steckenblieb. In der Annahme, ein Insekt hätte ihn gestochen, wollte er nach der schmerzenden Stelle schlagen, doch mitten in der Bewegung hielt der Mann inne. Die Zigarette fiel ihm aus dem Mund. Mit vor Schreck geweite ten Augen fixierte er sekundenlang den zierlichen Pfeil. Erst dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus, sprang von der Bank hoch und wollte das Geschoß herausziehen. Es blieb jedoch beim Versuch. Das Betäubungsmittel, mit dem Parkers bunt gefiederter Gruß präpariert war, kreiste in der Blut bahn des Mannes und erreichte sein Gehirn. Mit einer Darbietung, die an orientalischen Bauchtanz erinnerte, verabschiedete sich der Ganove aus dem Geschehen. Glücklich lächelnd suchte er zwischen Malven und Dahlien innigen Kontakt zu Mutter Erde. Auf den Zweiten im Bund wirkte der kleine Zwischenfall ausge sprochen stimulierend. Mit blitzschnellem Griff holte er seine Waf fe vom Tisch und brachte sich mit einem Hechtsprung in De ckung. Dem Baumstamm, den er sich zu diesem Zweck ausgesucht hatte, fehlte es allerdings am erforderlichen Durchmesser. So konnte der Butler gelassen auf das Gesäß des argwöhnisch in die Runde starrenden Gangsters zielen. Ehe der Mann herausgefunden hatte, woher der erste Pfeil ge kommen war, befand sich der zweite schon im Anflug. Sekundenbruchteile darauf ließ Parkers Zielobjekt einen spitzen Schrei hören, warf die Automatik ins nächste Gebüsch und um armte den Baumstamm in einer Weise, die man nur als leiden schaftlich bezeichnen konnte. Doch schon schwanden ihm Sinne und Kräfte. Stück für Stück glitt der Mann am Stamm abwärts und rutschte wie ein nasser Sack in sich zusammen. »Nicht übel, Mister Parker«, stellte die Detektivin fest. »Ich per 44
sönlich bevorzuge jedoch andere Taktiken.« »Ein Umstand, der meiner bescheidenen Wenigkeit durchaus geläufig ist, Mylady«, erwiderte der Butler. »Insofern werden My lady stets ein Beispiel darstellen, das man nur als leuchtend be zeichnen kann und muß.« »Eine wirkliche Kriminalistin gibt es eben in jedem Jahrhundert nur einmal, Mister Parker«, antwortete Agatha Simpson ohne fal sche Bescheidenheit. Parker öffnete die Tür und geleitete seine Herrin ins Freie. Bevor das skurrile Paar zielsicher den verglasten Vorbau ansteuerte, brachte der Butler die friedlich schnarchenden Wächter in leeren Abfalltonnen unter und sicherte die Deckel mit zähem Paketkle beband. * Beim Näherkommen wurde die gläserne Halle vor dem Haus des Gastronomen als das erkennbar, was sie wirklich war: ein tropi sches Palmenhaus mit üppig wuchernden Gewächsen, das einem mittleren Botanischen Garten zur Ehre gereicht hätte. »Daß ein Blumenfreund zugleich ein skrupelloser Verbrecher sein kann, ist fast unglaublich, Mister Parker«, stellte die ältere Dame fest und drückte sich die Nase an den leicht beschlagenen Scheiben platt. »Das eine schließt mitunter das andere nicht aus, wie die Le benserfahrung lehren dürfte, Mylady«, warf der Butler ein und klinkte lautlos die gläserne Tür auf, die auch den Zugang zu Woolridges privatem Reich darzustellen schien. »Wie schön«, flüsterte die Detektivin beim Eintreten. Sie schien ergriffen von der verschwenderischen Blütenpracht der Orchi deen, die allenthalben wucherten und dem fast düsteren Grün leuchtende Farbakzente gaben. Die Luft war schwül und drückend. Außer leise fallenden Was sertropfen war nicht das geringste Geräusch zu vernehmen. »Verschwinde, alte Schlampe!« durchbrach eine krächzende Stimme unvermittelt die bleierne Stille. Lady Agatha zuckte zusammen und faßte die Halteriemen des perlenbestickten Pompadours fester. Ihr Teint nahm schlagartig eine unheilverkündende Rotfärbung an. 45
»Wo steckt der dreiste Flegel, Mister Parker?« fragte Agatha Simpson und sah sich suchend um. »Ich werde ihm zeigen, daß man mich nicht ungestraft beleidigen kann.« Sie versetzte ihren wohlgefüllten Beutel in heftige Schwingun gen und brannte förmlich darauf, die Beleidigung mit ihrer per sönlichen Münze heimzuzahlen. Doch der Eigentümer der kräch zenden Stimme dachte nicht daran, sich ihr zu stellen. »Möglicherweise ist es gestattet, Myladys Aufmerksamkeit auf den Papagei zu lenken, der dort auf der Palme sitzt«, meldete sich der Butler zu Wort. Irritiert folgte Lady Agatha Parkers ausgestrecktem Arm und entdeckte nun auch den prachtvoll gefärbten Vogel, der aus lufti ger Höhe auf sie herabblickte – mit hämischem Grinsen, wie es ihr schien. »Und wenn es zehnmal ein Papagei ist«, grollte die erzürnte La dy und stampfte mit dem Fuß auf. »So etwas kann ich nicht dul den.« Nur mit Mühe gelang es dem Butler, Lady Simpson davon zu überzeugen, daß die ungehörige Bemerkung des Vogels nicht persönlich gemeint war. »Verschwinde, alte Schlampe!« kreischte der Papagei erneut, als die ältere Dame sich abwandte und an der Seite des Butlers ihren Weg fortsetzte. Mylady ließ zwar ein erneutes Grollen hören und ballte die Fäuste, aber sie ließ sich nicht mehr provozieren und strafte das freche Federvieh von nun an mit Mißachtung. Ein gewundener Weg aus weißen Marmorplatten führte durch den zentralbeheizten Dschungel zu einer Tür, die die Verbindung zum Wohnhaus darstellte. Rechts daneben führten Steinstufen ins Untergeschoß. Der Treppenschacht war durch ein Geländer aus Eisenrohren gesichert. Bisher war der Papagei das einzige Lebewesen, das sich hier hatte blicken und hören lassen. Doch jetzt drangen undeutliche Geräusche an Parkers Ohr, die auf die Anwesenheit weiterer Zeit genossen schließen ließen. »Haben Sie das gehört, Mister Parker?« raunte Agatha Simpson dem Butler zu. »Mister Poolwitch scheint hier noch andere Tiere zu halten.« »Die Laute, die Mylady vermutlich meinen, dürften eher auf menschliche Wesen als Urheber schließen lassen«, entgegnete Parker. In würdevoller Haltung schritt er auf das Treppengeländer 46
zu und sah in die Tiefe. Unmittelbar unter ihm, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, saßen am Fuß der Treppe zwei Männer… gefesselt und geknebelt. »Vermutlich ein plumper Trick von Mister Poolwitch«, meinte die ältere Dame abfällig, als der Butler ihr seine Beobachtung mitteil te. »Eine Möglichkeit, die man keinesfalls von vornherein aus schließen sollte, Mylady«, erwiderte der Butler. Konzentriert mus terte er die Umgebung. Was war hier geschehen? Zuerst fielen Josuah Parker die Spuren verschmutzter Schuhe auf den weißen Marmorplatten ins Auge, dann die zahlreichen Tritte in der lockeren Erde… zuletzt die fehlende Scheibe in der Außenwand. Zwei Schritte hinter der Öffnung ragte die Mauer zum Nachbar grundstück auf. Waren Unbekannte auf diesem Weg in Woolrid ges tropisches Paradies eingedrungen, oder handelte es sich wirk lich nur um eine verwirrende Inszenierung? War Woolridge von Chillers so rechtzeitig gewarnt worden, daß er alle diese Vorbereitungen zum Empfang des Duos aus Shepherd’s Market treffen konnte? Für weitere Überlegungen blieb dem Butler keine Zeit mehr. Hinter der Tür zum Wohnhaus näherten sich Schritte. Rasch gab Parker der passionierten Detektivin ein Zeichen. Als Sekunden später die Tür geöffnet wurde, waren beide schon hin ter dem imposanten Blattwerk einer Gruppe von Bananenstauden verschwunden… * Der Mann mochte fünfunddreißig sein. Die aufgeschwemmte Gestalt steckte in einem weißen Leinenanzug von lässiger Ele ganz. Die fetten rötlichen Haare waren akkurat gescheitelt. Nach der Beschreibung, die Horace Pickett geliefert hatte, konn te es sich nur um Woodie Woolridge handeln. Der GastronomieUnternehmer schien ausgesprochen guter Dinge zu sein. Er pfiff ein Lied vor sich hin. Unvermittelt blieb er stehen und lauschte. Das Stöhnen, das aus dem Keller kam, war nicht zu überhören. Zögernd machte der Gangster kehrt und pirschte sich an die 47
Kellertreppe heran. Im Gehen griff er unter seine Jacke und holte einen kurzläufigen Revolver heraus, den er sofort entsicherte. Langsam beugte sich Woolridge über das Geländer, die Waffe im Anschlag. Wieder war das Stöhnen zu vernehmen. Plötzlich kam Bewegung in den Rothaarigen. Seine schwere Gestalt schwabbelte wie ein Wackelpudding, als er über die Stu fen hastete. Aus den Geräuschen, die an sein Ohr drangen, schloß Parker, daß Woolridge die Männer im Keller von Fesseln und Knebeln befreite. »Ihr Tölpel!« brüllte er gleich darauf das Duo an. »Was ist pas siert? Wo steckt Thornfield?« »Wir… wir wissen es nicht«, stammelte einer der Männer. »Was heißt das: Ihr wißt es nicht?« schrie Woolridge unbe herrscht. »Hab’ ich euch vielleicht zum Pennen auf diesen Posten gesetzt?« »Wir… es ging alles so schnell, Chef«, war die Stimme des an deren Wächters zu hören. »Wir hatten keine Chance.« »Weil ihr Stroh im Kopf habt!« schnauzte der Großgastronom seine Mitarbeiter an. »Habt ihr die Kerle wenigstens erkannt?« »Ich sagte doch, es ging alles zu schnell, Chef«, versuchte sich der überrumpelte Wächter zu rechtfertigen. »Die Hunde haben uns von hinten niedergeschlagen. Als wir wieder zu uns kamen, waren sie schon weg. Und der verrückte Chemiker auch.« Eine Weile waren nur Woolridges Flüche zu hören, die alles in den Schatten stellten, was Parker je zu Ohren gekommen war. »Dahinter kann nur Brian stecken, der alte Gauner«, mutmaßte der Gangsterboß, als er seine Wut einigermaßen abreagiert hatte. »Der Bursche ist ja nicht blöd. Wahrscheinlich waren seine Leute auch in Haggerston unterwegs, als ihr Thornfield eingeladen habt.« »Wir haben aber niemand von Brians Leuten gesehen, Chef«, entgegnete der erste Wächter. »Aber sie euch, ihr Idioten!« brauste Woolridge wieder auf. »Wie kann man sich bloß so dämlich anstellen!« Eine kurze Pause entstand. »Hoffentlich schafft Brian es auch nicht, aus dem verrückten Chemiker herauszuholen, wo er das LSD versteckt hat«, redete der Gangsterboß weiter. »Ohne das Zeug ist der Mann völlig wertlos.« »Stimmt, Chef«, pflichtete der erste Wächter ihm eifrig bei. »So 48
stur, wie Thornfield ist, hält er bestimmt dicht, bis wir ihn wieder an Land gezogen haben.« »Im Grund geht es nur um das LSD«, ließ Woolridge verlauten. »Hätte Thornfield gleich hier ausgepackt, wäre er jetzt schon ein toter Mann.« »Vornehme Zurückhaltung bringt eben nichts«, urteilte der an dere Wächter. »Wenn wir den Verrückten wieder in die Finger kriegen, bringen wir ihn schon zum Singen, Chef.« »Ihr Schwachköpfe taugt nur noch zum Blumengießen«, blaffte Woolridge, dem der Ärger wieder hochkam. »Warum hat eigent lich niemand was gemerkt, als Brians Leute hier reinkamen?« »Keine Ahnung, Chef«, lautete die Antwort. »Dann sieh gefälligst nach, Dick!« raunzte der Gangster. »Al und John sollen sofort zum Rapport erscheinen. Außerdem waren Lester, Marvin und Ron im Restaurant. Die müssen doch auch was mitbekommen haben.« »Okay, Chef«, sagte Dick und wurde gleich danach auf der Treppe sichtbar. Er massierte vorsichtig das eindrucksvolle Horn an seinem Hinterkopf, während er eilig die Richtung zum Restau rant einschlug. »Wollen Sie den Lümmel einfach entwischen lassen, Mister Par ker?« raunte die Detektivin dem Butler zu. »Keineswegs und mitnichten, Mylady«, entgegnete Parker. Er legte gerade eine hartgebrannte Tonerbse in die lederne Schlaufe seiner Gabelschleuder. Dabei handelte es sich im Prinzip um die gleiche lautlose Waffe, wie auch Lausbuben sie benutzen. Die Spezialanfertigung des Butlers war derartigen Geräten jedoch an Reichweite und Treffsi cherheit überlegen. Mit kräftigem Zug spannte er die starken Gummistränge, wäh rend Agatha Simpson ein störendes Bananenblatt zur Seite hielt. Wie vom Stromschlag getroffen, zuckte Dick zusammen, als die kleine Kugel ihr Ziel erreichte. Reflexartig flogen seine Hände hoch. Ein Zittern durchlief den Körper des Mannes. Unschlüssig schwankte er auf einknickenden Knien hin und her, bevor er sich erschöpft zwischen weißen Orchideen zur Ruhe legte. »Jetzt die beiden anderen! Ich übernehme den Chef, Mister Par ker.« »Wie Mylady wünschen«, erwiderte der Butler im Flüsterton und 49
folgte seiner Herrin zum Treppengeländer. Den schwarzen Uni versal-Regenschirm hatte er schon an der Spitze gefaßt. Der Zeitpunkt war günstig gewählt. Schritte waren zu hören. Woolridge und der verbliebene Wächter kamen die Stufen herauf. Mit energischem Schwung legte Mylady ihren Glücksbringer auf den ersten Schädel, der sich zeigte. Allerdings war es der Wäch ter, der zusammensackte und treppab kollerte. Mit einem Tempo, das man einem Mann seines Formats nicht zugetraut hätte, sprang Woolridge zur Seite, ließ seinen Mitarbei ter vorbeipurzeln und griff gleichzeitig unter die Jacke seines wei ßen Leinenanzugs. Agatha Simpson, die oben am Geländer stand, gab ein prächti ges Ziel für seinen kurzläufigen Revolver ab. Parker sorgte jedoch dafür, daß der Gangster rechtzeitig von seinem unfreundlichen Vorhaben abließ. Ehe Woolridge die Waffe entsichern konnte, pochte die bleige füllte Krücke des altväterlich gebundenen Regendachs auf seinen rot behaarten Schädel. Postwendend stieß er ein zischendes Ge räusch aus, griff im Reflex nach der schmerzenden Stelle und ließ den Revolver fallen. Anschließend sank er wie vor den Stufen einer Wallfahrtskirche auf die Knie, produzierte unverständliche Grunzlaute und schickte sich an, auf allen vieren die Treppe zu erklimmen. Dieses kräfte zehrende Bemühen gab der schwergewichtige Gangsterboß je doch schon nach den ersten Stufen auf. Woodie Woolridge wollte nichts hören und nichts sehen. Er machte es sich dort bequem, wo er gerade war. Sehr komfortabel war seine Lage auf den steinernen Stufen bestimmt nicht. Ihn schien es aber nicht zu stören. Friedlich lächelnd gab er sich unter sanftem Schnarchen einem entspannenden Nickerchen hin. * »Bevor ich gehe, müssen Sie mir aber noch ein paar hübsche Orchideen pflücken, Mister Parker«, verlangte Lady Agatha wenig später. »Die roten da oben gefallen mir besonders gut.« Mylady hatte sich die prächtigsten Exemplare ausgesucht, die in Woodie Woolridges Tropenhaus wuchsen. Die eindrucksvollen Blütensterne sprossen allerdings in fünf Meter Höhe in der Astga 50
bel eines kapitalen Gummibaumes. »Myladys Wünsche sind meiner Wenigkeit Befehl«, sagte der Butler und verneigte sich höflich. »Darf man möglicherweise vor her die Frage stellen, wie Mylady mit Mister Woolridge und seinen Gehilfen weiter zu verfahren gedenken?« »Der Lümmel interessiert mich nicht mehr, Mister Parker«, ant wortete die Detektivin und streifte den rothaarigen Gangster mit einem gelangweilten Blick. »Daß Poolwitch den verrückten Che miker nicht hat, steht doch fest. Er weiß ja nicht mal genau, wo Cornfield steckt.« »Eine Feststellung, die exakt den Tatsachen entsprechen dürfte, Mylady«, räumte Parker ein. »Dennoch darf man möglicherweise daran erinnern, daß Mister Woolridge für die erste Entführung Mister Thornfields verantwortlich zeichnet. Chief-Superintendent McWarden dürfte hocherfreut sein, Gelegenheit zu einem einge henden Gespräch mit Mister Woolridge zu erhalten.« »Ich bin ja kein Unmensch, Mister Parker«, lenkte die ältere Dame ein. »Eine kleine Freude gönne ich McWarden auch. Aber meine Zeit ist kostbar. Wenn schon, kann er sich das Gesindel hier abholen.« »Wie Mylady zu wünschen belieben«, erwiderte der Butler und zog Handschellen aus speziell gehärtetem Stahl hervor, mit denen er Woolridge und Gehilfen ans eiserne Treppengeländer kettete. Das Trio schlummerte immer noch friedlich und ließ sich auch durch die Umbettungsaktion nicht stören. »Natürlich wird Mister McWarden sich den Lorbeer anstecken wollen und so tun, als hätte er Poolwitch gefangen«, argwöhnte die passionierte Detektivin, während Parker den Gangsterchef treppauf schleifte. »Immerhin ist der Schurke ein echter Entfüh rer, auch wenn man ihm sein Opfer wieder entführt hat.« »Mylady zweifeln an Mister McWardens Korrektheit?« fragte der Butler. »Man kann nie wissen, Mister Parker«, wich die ältere Dame aus. »Aber Sie können ja bezeugen, daß ich Poolwitch eigenhän dig zur Strecke gebracht habe.« »Mylady können sich uneingeschränkt auf meine Wenigkeit ver lassen«, versprach Parker. Er war es gewohnt, daß Agatha Simp son oft ihre ganz persönliche Sicht der Dinge hatte. »Und jetzt noch die Orchideen, Mister Parker«, erinnerte die De tektivin. 51
»Meine Wenigkeit eilt, Myladys Wünschen zu entsprechen«, ver sicherte der Butler. Aufrecht, als hätte er einen Ladestock ver schluckt, steuerte Parker gemessenen Schrittes den Gummibaum an, auf dem Myladys Wunschblüten wucherten. Gewandt hangelte er sich dann bis an die Astgabel hinauf, wo bei er den bleigefüllten Bambusgriff seines schwarzen Universal schirmes geschickt als Kletterhilfe benutzte. Zwei Minuten später war der Butler wieder am Boden, hielt ein betäubend duftendes Bukett der herrlichsten Orchideen in der schwarz behandschuhten Rechten und überreichte es mit einer Verneigung seiner Herrin. »Was sind das für eigenartige Geräusche, Mister Parker?« wollte Lady Agatha wissen, während man durch den Garten wieder zum Vorderhaus schritt. Das Poltern und Rumoren kam aus den beiden Abfalltonnen, de ren Deckel Parker mit Paketband befestigt hatte. »Fraglos dürften sich Mylady der bewaffneten Herren erinnern, die bei Myladys Ankunft auf der Gartenbank saßen«, schloß er Lady Simpsons Erinnerungslücke. »Ich weiß, Mister Parker«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich wollte nur Ihr Gedächtnis testen.« Im Gegensatz zu den Mülltonnen-Insassen zeigten der Koch und die beiden Hamburger-Esser noch keinerlei Neigung, in die schmerzliche Realität zurückzukehren. »Nicht doch, Mister Parker«, entschied die passionierte Detekti vin, als der Butler auch das Trio im Restaurant mit stählernen Handschellen in seiner Bewegungsfreiheit einschränken wollte. »Die Zeit ist kostbar. Man kann keinen weiteren Aufschub dul den.« »Mylady wünschen, unverzüglich zu Mister Andrew Mayall wei terzufahren?« vergewisserte sich der Butler, während er die Tür zur Straße aufschloß und einen prüfenden Blick nach draußen warf. »Unverzüglich, Mister Parker – sobald ich mich ein wenig ge stärkt und meinen angegriffenen Kreislauf therapiert habe«, setz te Mylady ihn ins Bild. »Das Angebot dieses sogenannten Restau rants ist ja für zivilisierte Menschen eine Zumutung.« »Was man nur mit allem Nachdruck bestätigen kann und muß, Mylady«, pflichtete Parker der älteren Dame bei. Aus dem Augenwinkel sah er unauffällig zu der schwarzen 52
Daimlerlimousine hinüber, während er Lady Agatha über die Straße zum hochbeinigen Monstrum geleitete. Die Insassen des Wagens, der in einiger Entfernung auf dem Gehweg parkte, schienen von dem schwarz gekleideten Butler und der Dame mit dem Orchideenbukett keinerlei Notiz zu nehmen. Dennoch hatte Parker das untrügliche Gefühl, verstohlen beo bachtet zu werden. Ob Brian Chillers vier weitere Leute in Marsch gesetzt hatte, die dem Paar aus Shepherd’s Market nach getaner Arbeit den befrei ten Chemiker wieder abjagen sollten? Die Vermutung von Woodie Woolridge, Brian Chillers habe den Einbruch in das Palmenhaus und die zweite Entführung Dr. Thorn fields organisiert, konnte der Butler aus guten Gründen zu den Akten legen. Daß es hier keinen Jeremy Thornfield gab, den man nach erfolg ter Befreiung erneut kidnappen konnte, mußte den Männern im schwarzen Daimler klar sein, da Josuah Parker und Agatha Simp son allein die Straße kreuzten und in ihr Fahrzeug stiegen. Zusätzlich rechnete Parker damit, daß das Quartett den üppigen Blumenstrauß in Myladys Hand bemerkt hatte und daraus seine – falschen -Schlüsse zog. Das kostbare Angebinde mußte den Ein druck erwecken, als hätte die passionierte Detektivin mit Woodie Woolridge ein freundschaftliches Gespräch geführt. Während der Butler sich ans Steuer setzte und den Schlüssel ins Zündschloß schob, fand er seine Vermutung bestätigt. Beim Blick in den Rückspiegel sah er die schwarze Limousine vom Bordstein holpern und davonrollen. Wenn nicht noch ein gänzlich Unbekannter seine Finger in die sem Verwirrspiel hatte, konnte sich der entführte Dr. Jeremy Thornfield nur in der Gewalt des einflußreichen Finanzmaklers Andrew Mayall befinden. * Als Josuah Parker eine halbe Stunde später die raffiniert gesi cherte Tür des repräsentativen Fachwerkhauses in Shepherd’s Market aufschloß, hörte er schon in der Diele das Telefon schril len. Mit höflicher Verbeugung ließ er seine Herrin eintreten und in die Wohnhalle vorangehen. Er selbst begab sich ohne Hast zum 53
Apparat und nahm den Hörer ab. »Hier bei Lady Simpson«, meldete er sich. »Gut, daß ich Sie endlich erreiche, Mister Parker«, war Horace Picketts aufgeregte Stimme am anderen Ende der Leitung zu hö ren. »Ich habe schön mehrfach bei Ihnen angerufen.« »Kann und muß man vermuten, daß Sie wichtige Neuigkeiten mitzuteilen haben, Mister Pickett?« erkundigte sich der Butler. »Ich denke schon, Mister Parker«, bestätigte der einstige Eigen tumsumverteiler. »Wenn nicht alles täuscht, wurde der ver schwundene Chemiker vor einer Stunde in Andrew Mayalls Privat villa in Kensington gebracht.« »Darf man höflich nachfragen, woher Sie Ihre Kenntnisse bezie hen, Mister Pickett?« »Eigentlich wollte ich mir aus reiner Neugier mal ansehen, wie Mayall wohnt«, teilte der Anrufer mit. »Dabei sah ich zufällig, wie ein schwarzer Bentley in das Grundstück einbog und hinters Haus fuhr. Auf dem Rücksitz saß ein Mann, der zu schlafen schien.« »Man vermutete wohl richtig, daß es sich bei diesem Mann Ihrer Ansicht nach um Mister Jeremy Thornfield handelte?« vergewis serte sich der Butler. »Er hatte kurze blonde Haare, so einen Bürstenhaarschnitt«, schilderte Pickett den Mann. »Außerdem trug er eine Nickelbrille. Auch sonst stimmt er mit der Beschreibung überein, die inzwi schen in allen Zeitungen steht.« »Eine Mitteilung, die man zwar dankbar, aber ohne große Über raschung zur Kenntnis nimmt, Mister Pickett«, sagte Parker. »Wie… Sie wissen schon…?« wunderte sich der Eigentumsum verteiler a. D. Aufmerksam folgte er der knappen. Schilderung, die der Butler ihm von dem Besuch bei Woodie Woolridge über mittelte. »Demnach kann ich bald mit Ihrem Eintreffen hier in Kensington rechnen?« vergewisserte sich Pickett anschließend. »Daran dürfte kaum zu zweifeln sein, Mister Pickett«, bestätigte der Butler. »Mylady äußerte jedenfalls entsprechende Absichten.« »Dann halte ich mich weiterhin unauffällig in der Nähe, Mister Parker«, bot der Anrufer an. »Ein Vorschlag, der auch Myladys ungeteilten Beifall finden dürfte, Mister Pickett«, sagte Parker, bevor er das Gespräch be endete und seine Schritte in Richtung Wohnhalle lenkte. Er hatte erst wenige Meter zurückgelegt, als die Haustürglocke 54
läutete. Unverzüglich machte der Butler kehrt. »Man erlaubt sich, einen möglichst angenehmen Nachmittag zu wünschen«, sagte er gleich darauf und ließ die Besucher ein. »Ganz London kennt nur noch ein Thema, Parker«, wußte Mike Rander zu berichten. »Den wahnwitzigen Anschlag des verrückten Chemikers und seine Entführung.« »Der arme Mister McWarden mußte sogar im Fernsehen zu dem Fall Stellung nehmen«, setzte Kathy Porter hinzu. »Eine beson ders gute Figur hat er nicht gemacht.« »Sah richtig unglücklich aus, der Boß vom Yard«, grinste Rander schadenfroh. »Ist Mylady mit ihren Ermittlungen vorange kommen?« »Gewisse Fortschritte dürften nicht zu leugnen sein, obwohl der endgültige Erfolg noch aussteht, Sir«, teilte Parker mit und gelei tete das Paar in die weitläufige Wohnhalle. »Über nähere Einzel heiten wird Mylady bereitwillig Auskunft geben, derweil meine bescheidene Wenigkeit in der Küche den Tee bereitet.« Das tat die ältere Dame denn auch. Parkers Abwesenheit schien sie zu ermuntern, die Geschichte besonders blumig auszuschmü cken, so daß ihre eigene Leistung im besten Licht erschien. Aller dings hatte Mylady auch im Beisein des Butlers kaum Hemmun gen, die Wahrheit auf kreative Weise neu zu gestalten. Kathy Porter und Mike Rander versuchten sich während der mit reißend vorgetragenen Schilderung ihr eigenes Bild der Gescheh nisse zu machen. Sie wußten, daß Mylady gelegentlich zu leichten Übertreibungen neigte, und tauschten manchen belustigten Blick. »Natürlich hatte der Schurke gegen mich nicht den Hauch einer Chance, Kinder«, berichtete sie, als Parker die Sachertorte auf trug. »Ich habe ihn kurzerhand die Treppe hinuntergeworfen.« »Und das Ganze hat sich in einer Bananenplantage abgespielt, Mylady?« wollte Kathy Porter wissen. Die junge Dame machte einen irritierten Eindruck. »Richtig, Kindchen«, nickte die Detektivin und ließ sich von But ler Parker dunklen Assamtee einschenken. »Leider waren die Ba nanen noch nicht reif.« »Dr. Thornfield war also in Woolridges Gewalt, wurde aber von dort wieder entführt?« faßte der Anwalt zusammen, was er ver standen zu haben glaubte. »Sie sagen es, Sir«, bestätigte der Butler, da die Hausherrin mit der Sachertorte beschäftigt war. »Inzwischen dürfte sich der ge 55
suchte Mister Thornfield in der Villa des Finanzmaklers Andrew Mayall in Kensington befinden, wie der ehrenwerte Mister Pickett zu berichten wußte.« Kurz und präzise teilte er die Beobachtungen des früheren Ei gentumsverteilers mit. »Die Nachricht überrascht mich natürlich keineswegs, Kinder«, warf Mylady in der kurzen Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Tortenstück ein. »Nach dem Tee wollte ich mir Mister Payall sowieso vorknöpfen. Jedenfalls ist es nett, daß der gute Mister Pickett angerufen hat. Er ist immer so hilfsbereit.« »Eine Feststellung, die man nur mit dem allergrößten Nachdruck unterstreichen kann, Mylady«, pflichtete Parker ihr bei. »Und so bescheiden«, setzte die Lady mit dem ausgeprägten Hang zur Sparsamkeit nach kurzem Nachdenken hinzu. »Erinnern Sie mich daran, daß ich ihn gelegentlich zum Tee einlade, Mister Parker.« »Man wird es keinesfalls versäumen, Mylady«, versprach der Butler, verneigte sich knapp und lenkte seine Schritte in Richtung Diele. Doch das sonore Organ der älteren Dame ließ ihn auf hal bem Weg wieder umkehren. »Wo gehen Sie hin, Mister Parker?« wollte Agatha Simpson wis sen. »Man bittet um Nachsicht, Mylady«, schickte Parker voraus. »Meine Wenigkeit beabsichtigte, Chief-Superintendent McWarden telefonisch von der Arretierung Mister Woolridges und seiner Ge hilfen zu unterrichten, wie Mylady es ausdrücklich wünschten.« »Habe ich das? Wie auch immer, Mister Parker«, erwiderte die ältere Dame. »Vermeiden Sie alles, was McWarden ermuntern könnte, persönlich hier aufzukreuzen.« »Man wird sich bemühen, nach Myladys Anweisungen zu han deln«, versprach der Butler und schlug erneut die Richtung zum Telefon ein. »Bevor Sie das Gespräch führen, müssen Sie mir noch mein Kreislauftherapeutikum bringen, Mister Parker«, hielt Agatha Simpson ihn wiederum zurück. »Wie Mylady wünschen«, ließ Parker sich in seiner unerschüt terlichen Höflichkeit vernehmen. »Darf man fragen, ob Sherry oder Cognac bevorzugt wird?« »Lieber Cognac, Mister Parker«, entschied Lady Agatha. »Wenn mein sensibler Kreislauf so strapaziert wird wie heute, zeigt Sher 56
ry keine Wirkung mehr.« Würdevoll schritt der Butler zur Hausbar, holte eine bauchige Flasche mit vergilbtem Etikett heraus und stellte sie zusammen mit einem Cognacschwenker auf ein silbernes Tablett. Kaum hatte er seiner Herrin eingeschenkt, als das Telefon läute te. »Endlich, Mister Parker«, vernahm der Butler die Stimme McWardens, als er sich meldete. »Den ganzen Nachmittag habe ich versucht, Sie zu erreichen.« »Mylady und meine Wenigkeit waren außer Haus, falls der Hin weis erlaubt ist, Sir«, teilte Parker mit. »Kann ich mir denken«, schnaufte der Chief-Superintendent. »Sind Sie denn wenigstens mit Ihren Ermittlungen vorangekom men? Der Minister läßt mir keine Ruhe mehr. Er soll heute abend vor die Fernsehkameras treten und möchte um jeden Preis we nigstens einen Teilerfolg vorweisen.« »Dem dürfte kaum etwas im Weg stehen, Sir«, entgegnete Par ker. »Wie?« McWarden holte tief Luft. »Sie haben doch nicht etwa schon wieder alles…« »Gegebenenfalls darf man daran erinnern, daß Sie von einem Teilerfolg zu sprechen geruhten, Sir«, unterbrach der Butler. »Ei nen solchen gedachte man, Ihnen in diesen Minuten zu melden. Insofern hätte es Ihres Anrufs nicht bedurft.« Parker unterrichtete den Chief-Superintendenten über die bishe rigen Ermittlungen, soweit er es für geboten hielt. Zum Schluß gab er die Adresse durch, unter der Woodie Woolridge und seine Gehilfen abzuholen waren. »Klingt fast unglaublich, die Geschichte«, kommentierte der Y ard-Beamte. »Wenn ich Sie nicht seit Jahren als seriösen Mann kennen würde, Mister Parker – ich wäre sicher, daß ein Krimi schreiber sich diese doppelte Entführung ausgedacht hat.« »Jeder Autor dürfte Schwierigkeiten haben, die Überraschungen zu erfinden, die das menschliche Leben hin und wieder bereithält, Sir«, bemerkte der Butler. »Aber jetzt geht die Suche erneut los«, äußerte der Kriminalist in einem Ton, der ans Jammern grenzte. »Wenn wir nur eine Spur hätten. Wenigstens eine Spur.« »Ohne überzogene Erwartungen wecken zu wollen, darf man Ihnen versichern, daß Sie vermutlich in kurzem mehr haben wer 57
den als eine Spur, Sir«, teilte Parker mit. »Sie wissen also noch einiges, wollen aber nichts Konkretes sa gen?« schloß der Anrufer. »Mit Verlaub, Sie sagen es, Sir«, bestätigte der Butler. »Na gut, ein Teilerfolg ist besser als gar nichts«, befand der Chief-Superintendent. »Ich werde sofort meine besten Leute in Marsch setzen. Richten Sie Mylady bitte aus, daß ich ihr zutiefst dankbar bin, Mister Parker.« »In dieser Hinsicht können Sie sich uneingeschränkt auf meine bescheidene Wenigkeit verlassen, Sir«, versprach Parker und hängte ein. * Eine halbe Stunde später rollten das hochbeinige Monstrum und Mike Randers dunkelblauer Austin dicht hintereinander aus der stillen Wohnstraße in Shepherd’s Market, bogen in die belebte Durchgangsstraße und schlugen die Richtung nach Kensington ein. Lady Simpson vibrierte förmlich vor Ungeduld. Die Kreislaufthe rapie hatte angeschlagen. Energiestöße durchpulsten Myladys majestätische Gestalt. Der Pompadour wippte schon. »Wann bin ich endlich da, Mister Parker?« wollte sie wissen, als der Butler gerade von der Kensington High Street in das elegante Villenviertel am Edwards Square einbog. »Mister Mayalls Anwesen dürfte nicht mehr weit entfernt sein, Mylady«, meldete Parker über die Sprechanlage nach hinten. Er hatte den älteren Herrn, der einen kleinen Hund an der Leine führte, trotz der Dunkelheit schon von weitem erkannt. »Die Lage ist unverändert, Mister Parker«, teilte Horace Pickett mit. »Mayalls Haus ist das zweite, wenn Sie da vorn rechts abbie gen.« »Konnten Sie möglicherweise in Erfahrung bringen, in welchem Teil des Hauses Mister Thornfield gefangengehalten wird, Mister Pickett?« fragte der Butler. Inzwischen war auch der Anwalt aus dem Wagen gestiegen und hatte sich hinzugesellt. »Offenbar in einem der hinteren Räume, Mister Parker«, teilte der Eigentumsumverteiler mit. »Genaueres konnte ich bisher nicht herausbekommen, weil die Vorderfront des Hauses scharf 58
bewacht wird.« »Eine Mitteilung, deren Wert man keinesfalls unterschätzen soll te, Mister Pickett«, bemerkte Parker. »Allerdings könnte man auch von hier aus über die Nachbar grundstücke an die Rückfront von Mayalls Villa gelangen«, fuhr Pickett fort. »Dabei wären lediglich zwei Maschendrahtzäune zu überwinden.« »Sie werden doch einer Dame nicht zumuten, über Zäune zu klettern, Mister Pickett«, schaltete Lady Agatha sich ein. »Ich werde den Schurken frontal angreifen.« »Dann könnten Kathy und ich den Weg durch die Gärten neh men, und wir treffen uns im Haus«, schlug Rander vor. »Aber seid vorsichtig, Kinder«, mahnte die ältere Dame. »Ich muß meine schützende Hand schon über Mister Parker halten. Da kann ich nicht auch noch auf euch aufpassen.« »Wir werden schon nicht in Gefahr geraten, Mylady«, versprach der Anwalt. »Ich werde noch eine Weile hier Spazierengehen und die Augen offenhalten«, kündigte Horace Pickett an. »Wenn Sie meinen Hund ausdauernd kläffen hören, können Sie davon ausgehen, daß Gefahr im Verzug ist.« »Mit Ihnen zusammenarbeiten zu dürfen, ist stets ausgespro chen erfreulich, Mister Pickett«, sagte der Butler, verließ das hochbeinige Monstrum und half der fülligen Lady diskret beim Aussteigen. »Sie wollen mich doch nicht wieder mit einem Fußmarsch quä len, Mister Parker?« erkundigte sich Agatha Simpson argwöh nisch. »Die Entfernung dürfte etwa zweihundert Schritte betragen, My lady«, erwiderte Parker. »Bei Mister Mayall mit dem Automobil vorzufahren, wäre vermutlich mit unkalkulierbaren Risiken ver bunden.« »Sie wissen, daß ich persönlich kein Risiko scheue, Mister Par ker«, reagierte die Detektivin großspurig. »Aber schließlich bin ich auch für Ihre Sicherheit verantwortlich.« »Myladys allgegenwärtige Fürsorge verpflichtet meine beschei dene Wenigkeit zu tiefstem Dank«, sagte der Butler mit unbeweg ter Miene und verneigte sich höflich. Während der Anwalt und seine attraktive Begleiterin in der Dunkelheit des angrenzenden Gartengrundstücks untertauchten, 59
bogen Josuah Parker und Agatha Simpson um die nächste Stra ßenecke und schritten zielstrebig auf das Haus zu, in dem der Chemiker Dr. Jeremy Thornfield nach seiner zweiten Entführung innerhalb weniger Stunden gefangengehalten wurde. Ein hoher schmiedeeiserner Zaun grenzte Mayalls Grundstück zur Straße hin ab. Verdeckt durch einen gemauerten Pfeiler, warf der Butler den ersten Blick auf das weitläufige Gelände. Die im Stil der Jahrhundertwende errichtete Villa, die der einflußreiche Finanzmakler bewohnte, war von geradezu fürstli chem Zuschnitt. Das Gebäude lag etwa fünfzig Schritte von der Straße entfernt. Davor erstreckten sich gepflegte Rasenflächen mit Blumenrabatten. Ein mit weißem Kies bestreuter Fahrweg führte vom offenste henden Tor bis vor den Haupteingang des Hauses, wo mehrere Limousinen gehobener Preisklassen parkten. Die meisten Fenster waren hell erleuchtet. Der überdachte Eingang lag jedoch in tiefer Dunkelheit. Wären nicht die beiden winzigen Fünkchen gewesen, die ab wechselnd in der Finsternis aufglommen – man hätte den Eingang für unbewacht halten können… Gelassen löste Parker den Sicherungshebel am Griff seines schwarzen Universalschirmes. Den gebogenen Bambusgriff wie einen Gewehrkolben an die Wange gedrückt, peilte er über den Schaft hinweg sein Ziel an. Als Sekunden später rechts von der Tür wieder ein roter Funke aufleuchtete, glitt der erste Pfeil lautlos aus dem Rohr und suchte sich in der Dunkelheit seinen Weg. Er hatte sein Ziel noch nicht erreicht, als auch der linke Wachposten an seiner Zigarette zog und durch das Aufglimmen der Glut seinen Standort verriet. Postwendend schickte der Butler das zweite der gefiederten Ge schosse auf die Reise. Fast gleichzeitig torkelten die Türwächter unter dem Vordach heraus. Im Lichtschein, der aus den Fenstern kam, war deutlich zu erkennen, wie die Männer sich schwankend in die Arme fielen und auf einknickenden Knien die wenigen Stufen hinabstolperten. Die langläufigen Automatikwaffen landeten im Kies des Fahrwe ges. Ihre Besitzer schien das nicht zu kümmern. Sie machten einen erschöpften Eindruck und suchten den Kontakt zu Mutter Erde. Die resolute Lady wollte sofort losstapfen, doch Parker hielt sie 60
mit einer stummen Geste zurück. Auch nach zwei Minuten blieb der Eingang der Villa noch dunkel. Im Haus schien niemand gemerkt zu haben, daß die Türwächter den Dienst quittiert hatten. »Myladys Besuch bei Mister Andrew Mayall dürfte nun nichts mehr im Weg stehen, falls der Hinweis erlaubt ist«, sagte der Butler und geleitete die unternehmungslustige Dame durch das breite Tor. * Die Tür war verschlossen, doch für Parker stellte auch ein kom pliziertes Zylinderschloß kein ernst zu nehmendes Hindernis dar. Seelenruhig zog er sein kleines Universalbesteck aus der linken Außentasche des schwarzen Covercoats. Dabei handelte es sich um ein vielseitig einsetzbares Werkzeug, das dem Besteck eines passionierten Pfeifenrauchers nicht unähnlich sah. Mit sicherem Griff wählte der Butler die passende Metallzunge und ließ sie geräuschlos in den schmalen Schlitz gleiten. Ein paar Sekunden leistete der Mechanismus Widerstand, dann gab er mit leisem Klicken Parkers Überredungskünsten nach. Gleich darauf stand das skurrile Paar in einem unbeleuchteten Hausflur, der schon fast die Bezeichnung Foyer verdiente. Mit seinen scharfen Nachtvogelaugen machte der Butler eine breite Holztreppe aus, die zu einer Galerie führte und die Räume im O bergeschoß erschloß. Zu ebener Erde gab es sechs Zimmertüren, aber nur hinter ei ner waren Geräusche zu hören. »So kommen wir nicht weiter, Jungs«, hörten die Eindringlinge eine wütende Männerstimme, während sie auf leisen Sohlen die geräumige Vorhalle durchquerten, um näher am Geschehen zu sein. »Verpaßt dem Burschen ein paar ordentliche Elektroschocks, damit er endlich auspackt, wo der verdammte Stoff versteckt ist.« »Aber Sie können mich doch nicht foltern«, vernahm man eine zittrige Männerstimme, die wohl dem Chemiker Dr. Thornfield gehörte. »Und ob ich das kann«, hielt der gereizt klingende Boß dage gen. »Wer sollte mich hindern? Die Polizei vielleicht?« 61
Ein polterndes Hohngelächter folgte, in das nach und nach drei andere Stimmen einfielen. »Wenn ich wüßte, daß Sie hinter meinen Idealen stehen, würde ich das LSD ja sofort holen«, zeigte der Chemiker sich trotz dieser Drohung standhaft. »Bei Ihnen piept’s wohl, Doktorchen«, konterte der Gangster, der niemand anders als Andrew Mayall sein konnte. »Wo kämen wir da hin, wenn alle Klapsmühlen und Knaste geöffnet würden? Ich schlafe einfach ruhiger, wenn ich weiß, daß gewisse Leute bei Vater Staat logieren.« Wieder erklang vielstimmigem Gelächter hinter der Tür. »Wo die Kinder nur bleiben, Mister Parker?« fragte Agatha Simpson in diesem Moment. »Ihnen wird doch nichts zugestoßen sein?« »Bislang deutet nichts darauf hin, daß Miß Porter und Mister Rander in Gefahr geraten sein könnten, Mylady«, gab der Butler mit gedämpfter Stimme zur Antwort. »Mit ihrem Eintreffen dürfte kurzfristig zu rechnen sein, falls man nicht sehr irrt.« Im Zimmer waren Schritte zu hören, Stühle wurden gerückt. Of fenbar traf man die Vorbereitungen, um dem Chemiker mit Hilfe von Elektroschocks sein Geheimnis zu entreißen. Hatte da nicht ein Hund gebellt? Parker schloß die Augen und spitzte die Ohren. Tatsächlich! Ir gendwo draußen an der Straße kläffte Horace Picketts Hündchen ohne Unterlaß. »Ich kann jetzt aber nicht länger auf die Kinder warten, Mister Parker«, teilte die vor Erregung förmlich bebende Detektivin mit, die das kaum wahrnehmbare Kläffen überhört hatte. »Der Zeit punkt für den Angriff ist gekommen.« Im selben Augenblick hörte man hinter der Tür ohrenbetäuben des Scheppern und Klirren. Ein kurzer Tumult brach aus, bis zwei Männerstimmen gebieterisch »Pfoten hoch!« brüllten. Parker, der die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte, übersah die Situation mit einem Blick. Mit dem Rücken zu ihm standen vier Männer, die alle brav die Hände gehoben hatten. Dahinter saß ein junger Mann mit Nickel brille und blonder Bürstenfrisur auf einem Stuhl – offensichtlich der entführte Chemiker. Die Fenster an der gegenüberliegenden Seite des Raumes wa ren eingeschlagen. Zwei Männer, Revolver im Anschlag, stiegen 62
gerade durch die Öffnungen ins Zimmer. Gleich hinter ihnen tauchten zwei weitere Bewaffnete auf, die sich ebenfalls anschickten, den Weg über die scherbenbedeckte Fensterbank zu nehmen. Unmittelbar vor dem Hindernis ließen sie jedoch spontan von ihrem Vorhaben ab, warfen die Arme in die Luft und sackten stöhnend zusammen. Nur der Butler registrierte, daß es Kathy Porter und Mike Rander wären, die die Gangster mit Handkantenschlägen zu Boden ge schickt hatten. Bei den Komplicen der unvermittelt ausgeschiedenen Angreifer löste das Röcheln hinter ihrem Rücken eine gewisse Irritation aus. Instinktiv drehten sie sich um und… ermutigten dadurch Mayall und seine Leute, zum Gegenangriff überzugehen. Bei der Saalschlacht, die losbrach, durfte Lady Simpson nicht fehlen. Die temperamentvolle Dame ließ ihren Pompadour krei sen. Etliche Gangster wurden in Mitleidenschaft gezogen. Auch Parker stand nicht abseits, sondern benutzte den bleige füllten Bambusgriff seines altväterlich gebundenen Regenschir mes, um angreifende Ganoven zur Räson zu bringen. Der Kampf war schnell entschieden, zumal sich Myladys Vermö gensberater und ihre wehrhafte Gesellschafterin hinzugesellten und beherzt mitmischten. »Das war’s leider schon«, stellte die resolute Lady gleich darauf enttäuscht fest. Dabei streichelte sie liebevoll ihren perlenbestick ten Handbeutel und streifte die sechs hartgesottenen Unterweltler mit verächtlichem Blick. »Mylady waren wieder mal absolut unvergleichlich«, spendete der Butler das Lob, das seine Herrin wohl erwartete. »Ja… aber…«, unterbrach Kathy Porter. »Wo ist denn der Che miker? Er war doch eben noch hier.« Der Gefangene hatte das Getümmel benutzt, um sich unbe merkt abzusetzen. »Da läuft er!« rief Rander und war schon im nächsten Moment mit einem langen Satz zum Fenster hinaus. Josuah Parker zweifelte nicht daran, daß der durchtrainierte An walt dem eher schmächtigen Flüchtling überlegen war, aber Thornfield hatte bereits einen beachtlichen Vorsprung, und Ver stecke gab es in den dunklen Gärten und Parks rundum genug. * 63
»Was mache ich nun mit all dem kriminellen Gesindel?« über legte Agatha Simpson laut, während der Butler die im Zimmer verstreut liegenden Gestalten mit der kleinen Sprühflasche be handelte, um ihnen ungestörte Stunden der Entspannung zu be reiten. »Kann und muß man vermuten, daß Mylady von einer einge henden Befragung der Herren abzusehen gedenken?« »Eine Vernehmung wäre reine Zeitverschwendung, Mister Par ker«, erwiderte die ältere Dame. »Überführt sind die Schurken ohnehin. Den Rest kann meinetwegen die Polizei erledigen.« »Die wird sich bestimmt freuen, daß sie die Gangster nur noch einzusammeln braucht, Mylady«, meinte Kathy Porter. »Papperlapapp, Kindchen«, gab die Detektivin entschieden zu rück. »Zumindest Mister McWarden wird sich grün und blau är gern, weil ich ihm schon wieder zuvorgekommen bin. Aber da ist er selbst schuld. Wenn man immer nur hinter dem Schreibtisch sitzt…« Inzwischen waren zehn Minuten verstrichen, und Mike Rander war noch immer nicht zurück. Von Dr. Jeremy Thornfield ganz zu schweigen. »Eigentlich könnte ich jetzt nach Shepherd’s Market zurückkeh ren und noch ein kleines Nachtmahl zu mir nehmen, Mister Par ker«, äußerte Lady Agatha. »Wie Mylady zu wünschen geruhen«, erwiderte Parker. Er hatte in der Zwischenzeit von der Vorhalle aus Chief-Superintendent McWarden angerufen und ihm erklärt, wo das kriminelle Sextett abzuholen war. »Was Mister Rander betrifft, so dürfte er sich über kurz oder lang telefonisch in Shepherd’s Market melden, falls man sich nicht gründlich irrt, Mylady«, setzte er hinzu. »Aber irgend jemand muß hierbleiben und die Lümmel bewa chen, bis die Polizei kommt«, entschied Agatha Simpson. »Das könnte ich ja übernehmen, Mylady«, bot Horace Pickett an. Sein Hündchen an der Leine, spazierte er fröhlich zur Tür her ein. »Mylady dürfte Ihre entgegenkommende Hilfsbereitschaft aus gesprochen wohlwollend zur Kenntnis nehmen, Mister Pickett«, bemerkte der Butler, und seine Herrin nickte huldvoll. »Dieser dürre Chemiker ist ganz schön flink«, berichtete der 64
ehemalige Eigentumsumverteiler, während Agatha Simpson, Ka thy Porter und Josuah Parker sich schon zum Gehen wandten. »Ich habe noch versucht, dem Burschen ein Bein zu stellen – vergeblich. Aber Mister Rander wird ihn schon einholen.« »Woran kaum zu zweifeln sein dürfte, Mister Pickett«, erwiderte der Butler, lüftete zum Abschied höflich seine schwarze Melone und geleitete die Damen hinaus. Draußen verordnete Parker den unruhig schlummernden Tür wächtern Andrew Mayalls noch eine Dosis Traumspray aus dem weißen Sprühfläschchen. Anschließend schleifte er die Männer unmittelbar vor die Treppe, damit die Polizisten sie nicht übersa hen. »Aber Mikes Wagen ist ja weg!«, rief die hübsche Kathy über rascht, als man auf dem Weg zum hochbeinigen Monstrum um die nächste Straßenecke gebogen war. Tatsächlich war der Platz hinter Parkers schwarzem Vehikel, wo der dunkelblaue Austin des Anwalts gestanden hatte, leer. Su chend sah der Butler sich um, ob Rander vielleicht eine Botschaft hinterlassen hatte, fand aber nichts. »Merkwürdig«, sinnierte die junge Dame. »Thornfield war doch zu Fuß. Warum hat Mike dann das Auto genommen?« »Das wird sich aufklären, sobald wir zu Hause sind, Kindchen«, zeigte Mylady sich zuversichtlich und ließ sich von Parker in den Fond des hochbeinigen Monstrums helfen. Die eindeutig beunruhigte Kathy Porter brauchte jedoch nicht die Rückkehr ins Haus der älteren Dame abzuwarten, um zu er fahren, warum Mike Randers Austin nicht mehr am Straßenrand stand. Kaum hatte Parker auf dem Fahrersitz Platz genommen und die Zündung eingeschaltet, machte sich das eingebaute Sprechfunk gerät mit unüberhörbaren Pieptönen bemerkbar. »Parker?« hörte der Butler die Stimme des Anwalts, sobald er auf Empfang geschaltet hatte. »Hören Sie mich, Parker?« * »Darf man die Hoffnung äußern, daß Sie sich noch auf der Spur des gesuchten Mister Thornfield befinden, Sir?« fragte der Butler. 65
»Der Bursche ist vor meiner Nase in ein Taxi gesprungen, das zufällig vorbeikam, als ich ihn verfolgte«, teilte Rander mit. »Zum Glück stand mein Wagen in der Nähe, so daß er mich nicht ab hängen konnte. Jetzt ist er gerade ausgestiegen und in ein Haus an der Broadley Street in Lisson Grove gegangen. Das Taxi wartet vor der Tür.« »Sagten Sie Broadley Street, Sir?« »Ja, Parker. Warum?« »Mit einiger Sicherheit dürfte es sich um das Haus handeln, in dem Mister Thornfields Wohnung samt privatem Labor liegt, Sir.« »Hat McWarden Ihnen die Adresse verraten, Parker?« »Sie sagen es, Sir.« »Da kommt er gerade wieder heraus«, berichtete der Anwalt. »Er trägt etwas unter seiner Jacke, was ich aber nicht erkennen kann.« »Möglicherweise sollte man in Betracht ziehen, daß es sich da bei um das LSD handelt, das Mister Thornfield aus dem Versteck geholt hat«, mutmaßte der Butler. »Jetzt steigt er wieder ins Taxi«, meldete Rander. »Soll ich ein greifen, Parker?« »Mylady würde es zweifellos vorziehen, wenn Sie dem Fahrzeug weiterhin folgen würden«, antwortete Parker. »Man wird versu chen, umgehend zu Ihnen zu stoßen, Sir.« »Okay, ich gebe also laufend Positionsmeldungen durch, Par ker«, bestätigte der Anwalt. »Gleich die erste: Wir biegen im Moment auf die Marylebone Road ein und fahren in westlicher Richtung.« »Verstanden, Sir«, quittierte der Butler und ließ sein hochbeini ges Gefährt anrollen. In ganz London gab es keinen Taxifahrer, der den Stadtplan der Millionenstadt derart präzise im Kopf hatte wie Josuah Parker. Als der Anwalt wenig später mitteilte, man wäre eben von der Marylebone Road nach rechts in die Warwick Avenue und gleich wieder links in die Harrow Road abgebogen, rollte der schwarze Kasten schon über die Chepstow Road in Richtung Norden. Zehn Minuten später trug der ständige Funkkontakt Früchte: An der Ecke Great Western Road/Harrow Road sichtete der Butler Mike Randers Austin und – einige Wagenlängen voraus – das Taxi. Gleich darauf lag das altertümlich wirkende Vehikel dicht hinter dem Wagen des Anwalts. Wenn der Chemiker tatsächlich zu Hau 66
se das LSD geholt hatte, konnte Parker sich schon denken, wohin die Reise ging. Er wußte, daß es an der Ashmore Road einen wuchtigen Was serturm gab, der fast den gesamten Westen der Stadt mit Trink wasser versorgte. Wenn es Thornfield tatsächlich gelang, dort sein wahnwitziges Vorhaben in die Tat umzusetzen, war die Ka tastrophe von Haggerston wirklich nur eine »kleine Kostprobe« gewesen. Der Butler hatte sich nicht verrechnet: Gleich darauf schwenkte das Taxi nach rechts in die Ashmore Road ab. Entweder hatte Thornfield seine Verfolger noch immer nicht bemerkt, oder er ignorierte sie einfach. Jedenfalls schien er von Vorsichtsmaßnahmen nichts zu halten. Unmittelbar vor dem Zaun des Wasserturm-Geländes ließ er den Taxifahrer stoppen, drückte dem Mann rasch einen viel zu großen Schein in die Hand und stieg aus. Parker und Rander, die gerade ihre Fahrzeuge zum Stehen brachten, sahen noch, wie der Verfolgte mit schnellen Schritten den Gehweg überquerte. Anschließend absolvierte er eine ge konnte Flanke über den fast mannshohen Gitterzaun und war auf dem dunklen Gelände verschwunden. * »Sie können diesen gewissenlosen Irren doch nicht einfach lau fenlassen, Mister Parker«, räsonierte Agatha Simpson. »Entsprechendes liegt auch keinesfalls in der Absicht meiner Wenigkeit, Mylady«, entgegnete der Butler in ruhigem Ton. »Über Mister Thornfields Ziel dürfte kaum Unklarheit bestehen. Gemein sam mit Mister Rander wird man versuchen, ihm sein Vorhaben auszureden.« »Nun gut, Mister Parker«, lenkte die Detektivin ein. »Aber da will ich natürlich dabeisein.« »Wie Mylady wünschen«, sagte Parker mit unbewegter Miene. »Mister Thornfield dürfte sich momentan auf dem Weg in die obe ren Geschosse des Wasserturms befinden, um die mitgebrachte Droge in das große Vorratsbecken zu schütten. Insofern wäre unter Umständen eine gewisse Eile angebracht.« »Kein Problem, Mister Parker«, erwiderte Agatha Simpson. »Der 67
Wasserturm verfügt doch hoffentlich über einen Fahrstuhl?« »Keineswegs und mitnichten«, erläuterte der Butler, der die Konstruktion dieser Veteranen der Wasserversorgung kannte. »Die Galerie über dem Vorratsbecken dürfte ausschließlich über eine Wendeltreppe zu erreichen sein, falls man sich nicht sehr täuscht.« »Dann verzichte ich auf die persönliche Teilnahme, Mister Par ker«, verkündete Lady Simpson erwartungsgemäß. »Aber beeilen Sie sich! Sonst richtet der Lümmel wirklich noch Unheil an.« »Man wird sich die allergrößte Mühe geben, Mylady«, versprach Parker, verließ das Fahrzeug und stieg zusammen mit Mike Rander über den Gitterzaun. Die fast vierhundert Stufen, die in schier endlosen Windungen zur Galerie hinaufführten, stellten eindeutig ein Konditionstraining für Fortgeschrittene dar. Mike Rander, der sich durch regelmäßi ges Sporttreiben fit hielt, wunderte sich im stillen über die fast unerschöpflichen Kraftreserven, die dem Butler zu Gebote stan den. In gewohnt würdevoller Haltung nahm Parker eine Stufe nach der anderen in einem Tempo, das den Anwalt schnell ins Schwit zen brachte. Dabei durften die Männer nicht mal hörbar nach Luft schnappen. Jeremy Thornfield, der sich bisher allein in dem impo santen Gemäuer wähnte, hätte sie vermutlich bemerkt. Er hatte zwar noch einen beachtlichen Vorsprung, kam aber be deutend langsamer voran, so daß die Chancen, ihn vor dem Ziel einzuholen, nicht schlecht standen. Vorausgesetzt, er wurde nicht auf seine Verfolger aufmerksam. Andernfalls hätte er vermutlich einen verzweifelten Endspurt vorgelegt. Im Schein der trüben Notlampen, die abschnittweise ein schwa ches Licht verbreiteten, warf Rander einen raschen Seitenblick auf Parkers Gesicht. Es wirkte undurchdringlich, fast teilnahmslos. Der Butler atmete ruhig und gleichmäßig. Nicht mal Schweißperlen standen auf sei ner glatten Stirn. Er war und blieb in jeder Situation Zoll für Zoll ein echter Butler. Sekunden später passierte es: Der Anwalt rutschte von der Kante einer Stufe ab. Er fing sich zwar sofort wieder, aber das Geräusch ließ Thornfield aufhorchen. Wie angewurzelt blieb er stehen, sah den schwarz gewandeten Butler und den sportlichen Mike Rander und hastete mit letzter 68
Anstrengung die wenigen Stufen hinauf, die noch vor ihm lagen. Umgehend legten auch die Verfolger ein schärferes Tempo vor. Als der Chemiker den oberen Treppenabsatz erreichte und dann mit langen Sätzen durch den Gang in Richtung Galerie stürmte, war der Abstand auf wenig mehr als zehn Meter zusammenge schmolzen. Noch auf den letzten Stufen griff der Butler nach seiner steifen Melone und schickte sie hinter dem Mann her. Wie ein schwarzes Miniaturufo segelte die Kopfbedeckung davon und jagte dem Flüchtenden nach. Thornfield stieß einen Schrei aus, als die scharfe Stahlkrempe des Bowlers seinen Nacken erreichte und sirrend eine Schneise in seiner blonden Meckifrisur hinterließ. Wenige Schritte vor dem Rand der Galerie geriet er ins Stolpern und absolvierte eine Bauchlandung. Die weiße Papiertüte, die er in der Linken gehalten hatte, ent glitt seiner Hand, rutschte über die blanken Fliesen und ver schwand mit einem leisen Plumps in den Fluten. Platschen und Spritzen folgten Sekunden danach. Auch Thorn fields Bremsweg war zu lang gewesen. Bäuchlings war er unter dem Stahlrohrgeländer hindurchgeglitten, mit dem die Galerie gesichert war. »Hilfe!« gellten im nächsten Moment die Schreie des Chemikers durch den weitläufigen Bau. »Hiiilfe! Ich ertrinke!« »Erfreulicherweise kann man Ihnen versichern, daß die geäu ßerte Befürchtung der Grundlage entbehrt, Mister Thornfield«, sagte Parker, der inzwischen die Galerie erreicht hatte. Gelassen beugte er sich über das Geländer und reichte dem panisch plan schenden Nichtschwimmer die Krücke seines schwarzen Univer sal-Regenschirmes. Mit letzter Kraft griff Thornfield danach. Gemeinsam zogen But ler und Anwalt den Mann aufs Trockene. * »Kann und muß man gegebenenfalls von der Annahme ausge hen, daß die versunkene Tüte das LSD enthielt, Mister Thorn field?« fragte Parker, sobald der Chemiker das Wasser aus seinen Lungen gehustet hatte und wieder zu Atem gekommen war. »Na 69
türlich«, nickte der Chemiker und grinste den Butler an, wobei seine Augen ins Leere starrten. »Einskommafünf Millionen Londo ner werden die Realität mit völlig anderen Augen sehen. Sie wer den sich hinter meine Ideale stellen und die grenzenlose Freiheit für alle fordern. Für Menschen, Tiere, Blumen…« »Wir müssen sofort die Wasserversorgung stoppen, Parker«, unterbrach Mike Rander. »Die Katastrophe wäre unbeschreiblich.« »Eine Einschätzung, der man sich vorbehaltlos anschließen kann, Sir«, ließ der Butler sich vernehmen. »Meine Wenigkeit eilt, die erforderlichen Handgriffe vorzunehmen.« Auf dem Weg zur Galerie waren Parker die kolossalen Regelar maturen ins Auge gefallen, mit denen sich der Wasserabfluß aus dem Vorratsbecken für Reparaturen oder andere Notfälle unter brechen ließ. »Ich passe solange auf diesen Brunnenvergifter auf, der sich selbst zum Befreier der Menschheit ernannt hat, Parker«, bot der Anwalt an. Gespannt blickte er dem Butler nach, wie er in würde voller Haltung davonschritt. Würde es Parker gelingen, in letzter Sekunde das große Chaos zu verhindern? Unglücklicherweise waren die riesigen Absperräder an den baumstammdicken Wasserrohren nur mit Zahlen gekennzeichnet. Welches der insgesamt sechs Ventile unterbrach nun den Ablauf? Kurz entschlossen verlegte sich der Butler aufs Probieren. Das erste Rad, an dem er drehte, war eindeutig nicht das richtige. Ein armdicker Gummischlauch, der zusammengerollt in einer Ecke lag, schien plötzlich lebendig zu werden, ringelte sich wie eine erwachende Riesenschlage und spie einen kräftigen Wasser strahl aus. Schon wollte Parker das Ventil wieder schließen, als er plötzlich Schritte auf der Wendeltreppe vernahm. Keuchend hasteten zwei bis an die Zähne bewaffnete Gangster die Stufen herauf. Ohne Zögern griff der Butler nach dem tanzenden Ende des Schlauchs und drehte das Ventil bis zum Anschlag auf. Mit der gelassenen Routine eines altgedienten Feuerwehrmannes ging er seine Aufgabe an. Die Ganoven, die inzwischen die letzten Stufen erreicht hatten, traf der armdicke Wasserstrahl wie ein Keulenschlag. Schreiend torkelten sie rückwärts und suchten verzweifelt Halt am Geländer. Geduckt wollten die Männer den prasselnden Was 70
serfluten ausweichen, die Parker ihnen entgegenschickte. Doch an weiteres Vordringen war nicht zu denken. Der Butler ließ den Bewaffneten keine Chance und fegte sie mit dem Was serstrahl buchstäblich von den Beinen. Jammernd und kreischend kugelten die Gangster wieder trepp ab, bis Parker ein Einsehen hatte und die Wasserzufuhr abstellte. Widerstandslos ließ sich das völlig durchnäßte und eindeutig benommen wirkende Duo mit Handschellen aus gehärtetem Spe zialstahl ans eiserne Treppengeländer ketten. * Den triefenden und vor Kälte schlotternden Chemiker zwischen sich, traten Parker und Rander den Rückweg an. Gleich nach der Ausschaltung der Angreifer war der Butler zu den Absperrarmaturen zurückgekehrt und hatte auf Anhieb das richtige Ventil gefunden. Eine Katastrophe war verhindert worden. »Bin doch ganz schön erleichtert, Parker«, bemerkte der Anwalt und atmete tief durch, während man sich in spiralenförmigen Windungen allmählich dem Erdboden näherte. »Eine Reaktion, die man nur als verständlich bezeichnen kann, Sir«, antwortete Parker. Er selbst verspürte dieses Gefühl der Erleichterung aber nicht. Im Gegenteil. Je näher man dem Ausgang kam, desto deutlicher wurde das Kribbeln und Ziehen, das der Butler in seiner Magengrube regist rierte. Konnte das die geheimnisvolle innere Stimme sein, die ihn sonst vor tödlicher Gefahr warnte? Mit stummer Geste bedeutete Parker seinen Begleitern zurück zubleiben, während er selbst auf leisen Sohlen bis zur Tür schritt. Mit geschlossenen Augen legte er das linke Ohr ans stählerne Türblatt und lauschte konzentriert. Verdächtige Geräusche waren nicht zu hören. Dafür wurde das warnende Kribbeln immer stärker. Gelassen griff der Butler in eine der unergründlichen Innenta schen seines schwarzen Covercoats und holte ein weißes Plastik röhrchen heraus. Dabei handelte es sich um eine miniaturisierte Blitzlichtbombe, die Parker in seinem privaten Labor in Shepherd’s Market entwickelt hatte. Vorsichtig drückte er die Tür einen Spalt auf, knickte das Röhr 71
chen in der schwarz behandschuhten Rechten und warf es hinaus. Ruckartig zog er die Tür wieder ins Schloß. Der Lichtblitz, der Augenblicke später aufflammte, war so grell, daß der Widerschein noch durch die Ritzen der dicht schließenden Stahltür drang. Als der Butler kurz darauf ins Freie trat, taumelten dort zwei wimmernde Gestalten orientierungslos auf dem Vorplatz herum. »Die unangenehme Irritation Ihrer Sehnerven dürfte sich in vierundzwanzig Stunden weitgehend gelegt haben, falls der Hin weis genehm ist«, sagte Parker, was die Männer aber nicht daran hinderte, weiterhin den Verlust ihres Augenlichts zu beklagen. Sie protestierten nur verhalten, als der Butler auch sie mit Handschellen versorgte und damit für die Polizei sicherstellte, die später zum Einsammeln kommen würde. »Eigentlich hätten Mylady und Kathy doch merken müssen, daß die Burschen uns gefolgt sind, Parker«, Wunderte sich der An walt. »Die Damen werden einen gewichtigen Grund gehabt haben, nicht in das Geschehen einzugreifen, Sir«, mutmaßte der Butler. Wenig später stellte sich tatsächlich heraus, daß jedenfalls Ka thy Porter die Männer bemerkt hatte, als sie zu viert den Gitter zaun überstiegen. Und ein gewichtiger Grund war es wirklich ge wesen, der sie am Eingreifen gehindert hatte. Schon aus etlichen Schritten Entfernung vernahmen Parker und Rander die Schnarchgeräusche, die aus dem hochbeinigen Monst rum drangen. »Mylady schläft«, stellte der Anwalt im Flüsterton fest, als der Butler den Wagenschlag geöffnet hatte und der Blick in den Fond frei wurde. »Aber ich nicht«, war die Stimme der attraktiven Kathy zu hö ren. Sie klang schwach und gepreßt, als habe die junge Dame unter akuter Atemnot zu leiden. Und dieser Eindruck entsprach durchaus den Tatsachen. Ermattet hatte die ältere Dame den Kopf an die Schulter ihrer zierlichen Gesellschafterin gelegt und war eingenickt. Je tiefer sie in Schlummer fiel, desto unaufhaltsamer hatte sie ihre Sitznach barin in die Ecke der Polsterbank gedrängt. »Als die Männer mit den Pistolen aus dem Wagen stiegen, kam ich beim besten Willen nicht mehr raus«, erläuterte Kathy Porter, die unter Lady Agathas Körperfülle fast begraben war. »Und 72
wachgekriegt habe ich Mylady auch nicht.« »Aber ich habe doch überhaupt nicht geschlafen, Kindchen«, meldete sich die Detektivin zu Wort. Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne, die Augen waren geschlossen. »Ich war im Wasserturm und habe den verrückten Chemiker dingfest gemacht«, erzählte sie und richtete sich langsam auf. Agatha Simpson gähnte herzhaft, ehe sie die Augen öffnete und die drei Männer draußen vor dem Wagen stehen sah. »Da ist der Lümmel, Kindchen!« rief sie und deutete auf den durchnäßten Jeremy Thornfield. Mike Rander und Kathy Porter verschluckten sich fast gleichzei tig bei dem Versuch, einen explosionsartigen Heiterkeitsausbruch zu unterdrücken. Thornfield glotzte fassungslos und klapperte dezent mit den Zähnen. Nur Parkers Pokergesicht blieb glatt und unbewegt wie immer. »Die Jagd ist vorbei«, verkündete Lady Simpson und spreizte die Finger zum Victory-Zeichen. »Sie sind immer erfolgreich, Mylady«, ließ Rander sich verneh men. »Weiß ich, mein Junge, weiß ich«, gab die passionierte Detekti vin ohne falsche Bescheidenheit zurück. »Trotzdem tut es gut, wenn man das von anderen hört.« * Chief-Superintendent McWarden brachte nicht nur einen riesi gen Blumenstrauß, sondern auch eine Kiste vom feinsten Sherry mit, als er drei Tage später zum Fünfuhrtee in Shepherd’s Market aufkreuzte. In überschwenglicher Form stattete er – schon unter der Haus tür Parker, anschließend in der Wohnhalle Lady Simpson – seinen Dank ab. »Der Minister hat mich beauftragt, Ihnen seine Anerkennung für den beispiellosen Einsatz zu übermitteln, Mylady«, teilte der einflußreiche Yard-Beamte feierlich mit. »Das habe ich doch nicht für den Innenminister getan, sondern ausschließlich für Sie, mein lieber McWarden«, flötete die ältere Dame und setzte ein Lächeln auf, das den Ganovenjäger sichtlich erröten ließ. 73
»Sie hätten es ja ohnehin nicht geschafft«, fuhr die Hausherrin in spöttischem Ton fort, worauf die leichte Röte in McWardens Gesicht postwendend wieder verflog. »Tatsache ist, daß Sie schneller waren, Mylady«, räumte der Chief-Superintendent bereitwillig ein, während Parker die Blumen in eine Kristallvase stellte und mit leichter Hand ordnete. »Übrigens muß ich zu meiner Überraschung bekennen, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe, mein lieber McWarden«, fuhr A gatha Simpson gut gelaunt fort. »In mir? Wieso, Mylady?« wollte der Besucher wissen. »Sie wissen anscheinend doch, was sich für einen Gentleman gehört«, erwiderte die Detektivin und sah dabei auf McWardens Mitgebringsel. »Sie vergessen es nur meistens.« »Wenn das so ist, Mylady«, gab der Mann vom Yard lachend zu rück »werde ich mit aller Kraft gegen meine Vergeßlichkeit an kämpfen. Darauf und auf den Erfolg der Fahndung sollten wir ei gentlich einen Schluck trinken.« »Eine hervorragende Idee, McWarden«, lobte Mylady. »Am bes ten öffnet Mister Parker eine der Flaschen, die Sie mitgebracht haben. Die Kiste sieht jedenfalls so aus, als wäre der Inhalt einen Versuch wert.« »Das will ich hoffen, Mylady«, bekräftigte der ChiefSuperintendent. »Nicht übel«, urteilte die verwöhnte Lady nach dem ersten Schluck. »Mit der Zeit könnte ich mich sogar daran gewöhnen.« »Bekommt Mister Parker denn nicht auch ein Glas, Mylady?« fragte McWarden, nachdem der Butler eingeschenkt hatte und schließlich in seiner unvergleichlichen Art einen halben Schritt zurückgetreten war. »Mister Parker ist im Dienst, mein geschätzter McWarden«, ent gegnete die ältere Dame streng. »Eigentlich bin ich auch im Dienst, Mylady«, verriet der ChiefSuperintendent mit fröhlichem Grinsen. »Man muß auch mal eine Ausnahme machen können.« »Nun gut, ich bin ja kein Unmensch«, lenkte Lady Agatha ein. »Schließlich war Mister Parker an meinem Erfolg beteiligt, obwohl er immer noch Fehler macht.« »Seien Sie nachsichtig, Mylady«, bat McWarden in gespieltem Ernst. Dabei hob er sein Glas und prostete dem Butler zu. »Meine Wenigkeit empfindet es als Auszeichnung, in diesem 74
Augenblick nicht abseits zu stehen, Sir«, sagte Parker mit der undurchdringlichen Miene eines professionellen Pokerspielers. Anschließend hob auch er sein Glas und trank dem ChiefSuperintendenten zu. »Die bedauernswerten Leute aus Haggerston, die sich mit dem LSD verseuchten Wasser Tee gekocht oder die Zähne geputzt haben, sind übrigens inzwischen alle wieder entlassen worden«, wußte McWarden zu berichten. »Insgesamt mußten wir an dem Morgen über siebenhundert Erwachsene und Kinder in psychiatri sche Kliniken einliefern. Ärzte und Pfleger haben gearbeitet bis zum Umfallen.« »Dafür werden sie schließlich auch bezahlt«, stellte die ältere Dame mitleidlos fest. »Inzwischen haben wir natürlich auch Chillers, Woolridge und Mayall eingehend vernommen«, wechselte der ChiefSuperintendent das Thema. »Alle drei hatten wir schon länger im Visier, ohne ihnen etwas beweisen zu können. Aber jetzt haben sie ganze Geständnisse zu Protokoll gegeben.« »Eine Nachricht, die auch Mylady mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen dürfte, Sir«, schaltete Parker sich ein. »Übrigens hatte Chillers mit der Entführung des Chemikers nichts zu tun«, fuhr der Besucher fort. »Er hat ihnen lediglich die vier Leute nachgeschickt, die dann am Wasserturm auftauchten.« »Interessant«, bemerkte die Hausherrin und dachte angestrengt nach. Doch beim besten Willen erinnerte sie sich nicht, welche vier Männer McWarden meinte. »Woolridge und Mayall gaben beide an, schon während des Empfangs beim Lord Mayor von dem Erpressungsversuch erfah ren und sofort geschaltet zu haben«, redete der Yard-Beamte weiter. »Möchte nur wissen, wer da nicht dichtgehalten hat.« »Das möchte ich allerdings auch wissen, mein lieber McWar den«, antwortete Agatha Simpson unbefangen. Parker zweifelte nicht daran, daß seine Herrin in diesem Mo ment genau das sagte, was sie meinte. So war sie nun mal. Sei ner Wertschätzung tat das aber keinen Abbruch.
ENDE Nächste Woche erscheint BUTLER PARKER Band 385 Günter Dönges 75
PARKER terminiert das „Killerspiel“ Zuerst ist es nur eine verrückte Idee, um aus der Monotonie des Alltags auszubrechen. Junge Leute ziehen ein „Killerspiel“ auf und haben natürlich nicht die Absicht, sich gegenseitig nach gewissen Regeln wirklich umzubringen. Sie suchen Nervenkitzel und be kommen ihn überraschend schnell in der Realität serviert. Es gibt da nämlich einige Seiteneinsteiger, die plötzlich lustvoll mitmi schen und eine neue Masche entdecken, um risikolos ans große Geld zu kommen. Sie verschicken ihre Mordanleitungen an zah lungskräftige Bürger und jagen sie durch alle Ängste. Bis sie auch eine gewisse Lady Agatha einladen, sich an diesem Spiel zu betei ligen. Und damit aktivieren sie natürlich auch Butler Parker, der sich würdevoll und gemessen einschaltet, um diesem mörderi schen Spiel trickreich ein Ende zu bereiten. Günter Dönges schrieb einen neuen Parker-Krimi, der wieder ein aktuelles Thema behandelt und in dem Hochspannung sich mit Witz und Humor paaren. Ein Klasse-PARKER! Gönnen Sie sich jede Woche einen BUTLER PARKER!
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