Butler � Parker � Nr. 401 � 401
Curd H. Wendt �
Parker stößt den � Boß vom Thron �
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Butler � Parker � Nr. 401 � 401
Curd H. Wendt �
Parker stößt den � Boß vom Thron �
2
»Man erlaubt sich, einen möglichst angenehmen Tag zu wünschen«, sagte Parker, verneigte sich höflich und ließ die Besucher eintreten. Zielstrebig steuerten Anwalt Mike Rander und seine attraktive Begleiterin Kathy Porter die weitläufige Wohnhalle an, wo sie Lady Simpson beim Frühstück vermuteten. Doch unvermittelt blieben beide wie angewurzelt stehen. »Das klingt ja, als wollte jemand das ganze Obergeschoß abreißen«, meinte Rander und blickte besorgt zur Decke. »Haben Sie etwa Handwerker im Haus, Parker?« »Keineswegs und mitnichten, Sir«, entgegnete der Butler. »Die fraglichen Geräusche dürften in ursächlichem Zusammenhang mit Myladys Fitneßübungen stehen.« »Klingt ja fast beängstigend«, meinte Kathy Porter und zog instinktiv den Kopf ein. »Es handelt sich sozusagen um das Finale, Miß Porter«, teilte Parker mit. »Mylady lockert sich beim Seilhüpfen.«
Die Hauptpersonen: Glen Anderson leitet ein ländliches Meditationszentrum und erweist sich als großzügiger Gastgeber. Al Thatcher wird durch energisches Zureden schlagartig von akutem Gedächtnisschwund geheilt. Jennifer Scott hat sich das Leben in einer spirituellen Gemeinschaft ganz anders vorgestellt. Clive Potter besitzt einen Hang zur Theatralik und zu anderer Leute Geld. Hank Roberts verpaßt eine wichtige Konferenz und scheidet am Tag seiner Beförderung aus dem Dienst. Jeremy Fields möchte möglichst vermeiden, daß sein Bauernhof in Flammen aufgeht. Lady Simpson experimentiert mit musikalischer Meditation und verärgert einen leitenden Yard-Beamten. Butler Parker erteilt einem Rottweiler Flugstunden und zeigt zudringlichen Verfolgern, was die Stunde geschlagen hat. Wenig später zeigte sich, daß der Butler mit den Gewohnheiten seiner Herrin bestens vertraut war. Puter-
rot im Gesicht, aber bei strahlender
Laune, erschien Agatha Simpson auf
der Galerie und winkte dem jungen
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Paar huldvoll zu. Sie war eine majestätische Erscheinung von beeindruckender Körperfülle und mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein. Die Sechzig hatte sie mit Sicherheit überschritten. Immens vermögend, konnte Lady Agatha sich jeden Luxus leisten. Dennoch wurde sie ständig von der Furcht geplagt, eines Tages mit leeren Händen dazustehen. Daher kam es, daß ihre Sparsamkeit ebenso stadtbekannt war wie ihr Reichtum. Nur wenn es um ihre Leidenschaft, die Kriminalistik, ging, war der resoluten Dame nichts zu teuer. Sich selbst hielt sie für die Detektivin des Jahrhunderts. Daß sie ihre Erfolge ihrem Butler verdankte, der diskret die Fäden zog und nur selten von ihrer Seite wich, überspielte Mylady glänzend. Vielleicht merkt sie es nicht mal… Von ihrer Neigung, sich mit dem Pathos einer Bühnenheroine in Szene zu setzen, ließ Agatha Simpson auch nach dem schweißtreibenden Fitneßprogramm nicht ab. Ein Handtuch, dekorativ über die Schulter geworfen, kam sie in ihrem stahlblauen Trainingsanzug, einer Sonderanfertigung, die geschwungene Freitreppe herab. »Vielleicht sollten Sie Ihre Übungen etwas vorsichtiger dosieren, Mylady«, bemerkte die attraktive Kathy. Die geröteten Gesichtszüge der älteren Dame schienen sie
bedenklich zu stimmen. »Unsinn, Kindchen«, gab die Detektivin zurück und ließ sich ächzend ins Sofa fallen. »Nur wer sich ständig Höchstleistungen abverlangt, bleibt auch in reiferen Jahren elastisch.« »Aber bei Ihren ständigen Auseinandersetzungen mit der Unterwelt verschaffen Sie sich doch Bewegung genug, Mylady«, äußerte der Anwalt, während Parker die Kristallkaraffe mit dem Sherry holte. »Das stimmt, mein lieber Junge«, räumte die Hausherrin zögernd ein. »Aber…« »… im Moment ist die Szene auf Tauchstation gegangen«, vollendete Rander den Satz. »So ist es«, gestand die passionierte Detektivin betrübt. »Hoffentlich habe ich die Unterwelt nicht derart eingeschüchtert, daß sie nichts mehr von sich hören läßt.« »Das wäre nicht auszudenken!« rief die hübsche Kathy in gespieltem Entsetzen und tauschte mit ihrem Begleiter einen amüsierten Blick. »Bis zum nächsten Einsatz halte ich mich mit Trockenübungen auf Trab, Kindchen«, verriet Agatha Simpson und leerte das Sherryglas. »Möglicherweise können Sie ja bald wieder aktiv werden, Mylady«, meinte der Anwalt. »Allerdings bin ich nicht sicher, ob in der Sache, von der ich gehört habe, überhaupt etwas zu machen ist.« 4
»Bis jetzt habe ich noch jeden Fall gelöst, mein lieber Junge«, warf Mylady sich postwendend in die ohnehin ausladende Brust. »Der Gangster, der mir gewachsen ist, muß erst noch geboren werden.« »Darin liegt nicht das Problem, Mylady«, erwiderte Rander. »Die Polizei ist ja auch schon tätig geworden. Aber sie hat die Ermittlungen wieder eingestellt und sich für unzuständig erklärt.« »Unzuständig!« wiederholte die Detektivin in verächtlichem Ton. »Damit will sie doch nur verschleiern, daß sie unfähig sind.« »Eine Feststellung, der man nicht unbedingt widersprechen möchte, Mylady«, schaltete Parker sich ein. »Dennoch dürfte es von gewissem Interesse sein zu hören, wo Mister Rander das Problem des Falles sieht.« »Die Schwierigkeiten liegen auf juristischem Gebiet«, erläuterte der Anwalt. »Konkret gesagt geht es um eine Jugendsekte, die ihre Mitglieder vermutlich mit kriminellen Methoden unterdrückt und ausbeutet.« »Wo soll denn da die Schwierigkeit sein, mein Junge?« fuhr die Detektivin ungeduldig dazwischen. »Ich werde die Lümmels schon überführen. Und die Polizei wird sich grün ärgern.« »Leider sind die Mitglieder der Sekte zwar junge Leute, aber ausnahmslos volljährig«, gab Rander zu
bedenken. »Und wenn die behaupten, freiwillig dort zu sein, kann man den Drahtziehern schwer am Fell flicken. Jedenfalls bewegt man sich ständig am Rand der Legalität.« »Das ist meine Spezialität«, machte die resolute Dame umgehend deutlich. »Wenn ich mich mit den kleinlichen Bedenken herumschlagen würde, die die Polizei als Entschuldigung vorschiebt, müßte ich mich auch für unzuständig erklären.« »Eine Feststellung, die man nur mit Nachdruck unterstreichen kann, Mylady«, bemerkte der Butler und wandte sich gleich darauf an den Anwalt. »Darf man im übrigen hoffen, von Ihnen Einzelheiten des erwähnten Falles zu erfahren, Sir?« »Es geht um die Tochter meines Tennisfreundes Arthur Scott«, kam Rander dem höflich geäußerten Verlangen nach. »Jennifer ist neunzehn und seit etwa zwei Monaten in einem Heim der sogenannten Nirwana-Sekte. Mit ihren Eltern steht sie nur noch in brieflichem Kontakt und verlangt von Ihnen einen Scheck nach dem anderen.« »Das Mädchen wird natürlich für Kost und Logis zahlen müssen«, wandte Lady Simpson ein. »Und wenn sie keine eigenen Einkünfte hat…« »Die Summen, die Jennifer anfordert, würden für eine Suite im Luxushotel reichen, Mylady«, erwiderte der Anwalt. »In Wahrheit 5
scheint die Unterbringung aber mehr als bescheiden zu sein.« »Immer diese Störungen!« beklagte sich Mylady lautstark, als die Haustürglocke läutete. »Man wird nachsehen, wer Einlaß begehrt«, bot Parker an, verneigte sich knapp und lenkte würdevoll seine Schritte in Richtung verglastem Vorflur. * Der Besucher, den Parker mit ausgesuchter Höflichkeit begrüßte, war fünfundfünfzig Jahre alt und untersetzt. Sein Gesicht, das wegen der vorstehenden Basedow-Augen an eine gereizte Bulldogge denken ließ, war leicht gerötet, wirkte aber ungewöhnlich entspannt. »Hoffentlich störe ich Mylady nicht beim Frühstück, Mister Parker?« vergewisserte sich ChiefSuperintendent McWarden, während der Butler ihm Hut und Mantel abnahm. »Mitnichten, Sir«, gab Parker Auskunft und wies dem Yard-Beamten den Weg in die Wohnhalle. In Fachkreisen galt McWarden als außerordentlich fähiger Kriminalist. Er war direkt dem Innenminister verantwortlich und leitete eine Sondereinheit zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Dennoch wußte er das ausgewogene Urteil des Butlers zu schätzen,
wenn seine Ermittlungen sich wieder mal festgefahren hatten. Dafür ertrug er mit mehr oder weniger Fassung die boshaften Sticheleien der Hausherrin, die in seiner Gegenwart erst recht nicht mit ihrer Meinung über die britische Polizei hinterm Berg hielt. »Oh, Mister McWarden!« entfuhr es der älteren Dame, als sie den Gast eintreten sah. »Das ist aber eine Überraschung.« »Hoffentlich keine unangenehme, Mylady«, erwiderte der ChiefSuperintendent und beugte sich galant über die Rechte, die Agatha Simpson ihm zum Handkuß entgegenhielt. »Nun, Sie wissen ja, daß meine Gastfreundschaft keine Grenzen kennt, mein Lieber«, gab Mylady ausweichend zur Antwort. »Fühlen sie sich wie zu Hause.« Trotzdem bedachte sie den Butler mit einem giftigen Blick, als er dem häufigen Gast wieder von dem alten Sherry einschenkte. »Keine Sorge, ich bin nicht im Dienst, Mylady«, sagte McWarden, der den Blick aufgefangen hatte. »Ich habe mir ein paar Tage freigenommen.« »Schön für Sie, daß Sie sich so was können, McWarden«, leisten bemerkte Agatha Simpson spitz. »Warum spannen Sie nicht auch mal aus, Mylady?« fragte der Besucher. 6
»Unmöglich.« erklärte die passionierte Detektivin. »Soll das heißen, daß Sie schon wieder in Ermittlungen stecken, Mylady?« hakte der Mann vom Yard sofort nach. »Ich? Wieso?« Agatha Simpson hatte sichtlich Mühe, unbefangen zu erscheinen. »Ich dachte nur, Mylady«, antwortete McWarden und nippte an seinem Glas. »Wie Sie hier mit Miß Porter und Mister Rander sitzen, sieht es fast nach einer Einsatzbesprechung aus.« »Papperlapapp«, widersprach Lady Agatha. »Sie wissen doch selbst, daß in der Szene augenblicklich Flaute herrscht.« »Stimmt«, bestätigte der Gast. »Nur…« »… nur…?« schnappte Mylady sofort zu. »Ich zerbreche mir den Kopf über eine Sache, in der wir die Ermittlungen allerdings schon eingestellt haben«, tat der Chief-Superintendent kund. »Was sie nicht sagen«, reagierte Mylady mit spöttischem Unterton. »Der Fall war wohl etwas kompliziert?« »So kann man es auch sehen«, gab der Beamte pikiert zurück. »Jedenfalls kommen wir nicht weiter, weil die mutmaßlichen Opfer alle volljährig sind und sich scheinbar nicht als Opfer fühlen.«
»Eine interessante Andeutung, die der näheren Erläuterung bedarf, falls der Hinweis genehm ist, Sir«, ließ Parker sich aus dem Hintergrund vernehmen. »Natürlich spricht er von der Alabama-Sekte, Mister Parker«, rutschte es der Detektivin heraus. Am liebsten hätte sie den Satz wieder verschluckt, aber McWardens Aufmerksamkeit war schon geweckt. »Sie kennen den Fall, Mylady?« erkundigte er sich überrascht. »Also ermitteln Sie doch?« »Papperlapapp«, gab die Hausherrin unwirsch zurück. »Von der Alabama-Sekte habe ich in der Zeitung gelesen.« »Sie heißt übrigens Nirwana-Sekte, aber mit Sicherheit meinen wir dasselbe, Mylady«, korrigierte der Gast. »So wie ich es gesagt habe, stand es jedenfalls in der Zeitung, Mister McWarden«, beharrte Agatha Simpson. »Vielleicht war es ein Druckfehler.« »Kann sein, Mylady«, antwortete der Chief-Superintendent, der sich vorgenommen hatte, jedem Zwist aus dem Weg zu gehen. »Aber wenn die Leute nicht wollen, daß wir ihnen helfen…« »Wie sind Sie denn auf die Sekte aufmerksam geworden, Mister McWarden?« wollte Kathy Porter wissen. »Verzweifelte Eltern haben uns angesprochen, Miß Porter«, teilte 7
der Besucher mit. »Sie sind alle davon überzeugt, daß Ihre Kinder in diversen Heimen der Sekte gewaltsam festgehalten und zum Schreiben der Bettelbriefe gezwungen werden.« »Hat man richtig vernommen, daß Sie von diversen Heimen zu sprechen geruhten, Sir?« schaltete Parker sich erneut ein. »Stimmt, Mister Parker«, bestätigte McWarden. »Bisher wissen wir von fünf Heimen, die in ländlichen Gebieten im weiteren Umkreis von London liegen. Vermutlich werden sie zentral verwaltet, aber wo diese Zentrale liegt, haben wir nicht herausfinden können.« »Das überrascht mich nicht im geringsten, mein lieber McWarden«, warf die Detektivin ein. »Wie soll ich das verstehen, Mylady?« Der Chief-Superintendent bemühte sich sichtlich um Gelassenheit, aber die gewundene Ader an seiner Schläfe pochte bereits. »Oft habe ich schon erklärt, daß es die falsche Taktik ist, hinter dem Schreibtisch zu sitzen und staubige Akten zu lesen«, ließ die ältere Dame ihren Vorurteilen freien Lauf. »Wenn Sie sich an mir eine Beispiel nehmen würden, statt immer nur darauf zu warten, daß ich die Kastanien aus dem Feuer hole…« »Sie scheinen nur wenig Ahnung von den Arbeitsmethoden der Polizei zu haben, Mylady«, reagierte
McWarden gereizt. »Es ist einfach nicht wahr, daß…« »Und jetzt wollen Sie mich auch noch als Lügnerin hinstellen?« fiel ihm die Hausherrin ins Wort. »Ist das der Dank für meine Gastfreundschaft?« »Aber Mylady«, versuchte der Yard-Beamte, sie zu besänftigen, obwohl er selbst kurz davor stand, die Fassung zu verlieren. »Ich wollte doch nur…« »Ich weiß schon, was Sie wollten, mein Lieber«, unterbrach Lady Agatha. »Mich um Hilfe bitten, stimmt’s?« »An dieser Sache dürften auch sie sich die Zähne ausbeißen, Mylady«, gab der Chief-Superintendent zurück. Sein Gesicht hatte mittlerweile die Farbe einer vollreifen Tomate angenommen. »Also lassen sie am besten die Finger davon.« »Ich wünsche, keine Vorschriften über das, was ich zu tun und zu lassen habe«, erwiderte die resolute Dame. »Und ich werde die Alabama-Sekte als kriminelle Organisation entlarven. Wetten?« »Ich wette nicht, Mylady«, meinte der Besucher und zerrte nervös an seiner Krawatte. Schließlich erhob er sich und verabschiedete sich kurz. »Meine Wenigkeit entnahm Ihren Äußerungen, daß es bei der Nirwana-Sekte üblich ist, Bettelbriefe zu schreiben, Sir«, kam Parker noch mal auf den Fall zu sprechen, als er 8
dem Chief-Superintendent in der Diele in den Mantel half. »Stimmt, Mister Parker«, bestätigte der professionelle Ganovenjäger. »Das scheint zu den Pflichten der Sektenmitglieder zu gehören. Und die jungen Leute sind alles andere als bescheiden.« »Darf man möglicherweise noch erfahren, wer die Empfänger der erwähnten Bettelbriefe sind, Sir?« »Fast immer die Eltern oder nahe Verwandte, Mister Parker«, gab McWarden Auskunft. »Und es scheinen ganz anständige Summen zusammenzukommen, denn die Sekte rekrutiert sich ausschließlich aus Sprößlingen wohlhabender Familien.« »Man dankt für die erhellende Auskunft und erlaubt sich, noch einen möglichst angenehmen Tag zu wünschen, Sir«, sagte der Butler, während er den Besucher hinausließ. »Danke gleichfalls, Mister Parker«, erwiderte McWarden, dessen Pulsfrequenz sich allmählich wieder normalisierte. »Außerdem wünsche ich Ihnen, daß sie bei der Nirwana-Sekte mehr Erfolg als meine Leute haben.« * Parkers hochbeiniges Monstrum rollte mit gleichmäßig summender Maschine über die Autobahn 1. Sein Ziel war das Städtchen Walkern im
Norden von London, wo die neunzehnjährige Jennifer Scott in einem Heim der Nirwana-Sekte lebte. Mike Rander hatte am Tag vorher noch den Vater des Mädchens angerufen, um nähere Einzelheiten zu erfahren. Dabei hatte Arthur Scott, ein erfolgreicher Werbemanager, sofort zugestimmt, als der Anwalt ihm vorschlug, Lady Simpson mit den Ermittlungen zu beauftragen. Insgesamt hatte Jennifer Scott in den zwei Monaten, seit sie ihr Elternhaus verlassen hatte, 5000 Pfund erbeten und auch erhalten. Angeblich brauchte sie das Geld, um ihren Unterhalt bestreiten und Kleidung kaufen zu können. Einmal hatten Arthur Scott und seine Ehefrau Gladys auch das Heim in der Nähe von Walkern aufgesucht, um mit dem Mädchen zu sprechen. Allerdings waren sie schon am Tor barsch abgewiesen worden. In den knappen Briefen, die die Neunzehnjährige immer dann schrieb, wenn sie wieder Geld brauchte, hatte Jennifer stets behauptet, es ginge ihr gut. Sie hätte endlich den Weg zum erfüllten Leben gefunden und sähe keine Veranlassung, nach Hause zurückzukehren. »Wie weit ist es noch, Mister Parker?« erkundigte sich Agatha Simpson über die Sprechanlage, die den schußsicher verglasten Fond des 9
Wagens mit dem Fahrerplatz verband. »In etwa zwanzig Minuten dürfte das Ziel erreicht sein, falls man nicht sehr irrt, Mylady«, meldete Parker, der soeben an der Abfahrt Stevenage die Autobahn verlassen hatte. »Zu allererst werde ich das Mädchen herausholen und jedem, der mich daran hindern will, eine Ohrfeige verpassen, Mister Parker«, tat die Detektivin kund. Sie hatte es sich auf der gepolsterten Rückbank bequem gemacht und hielt eine Schachtel Knusperpralinen auf den Knien, die ihr als Wegzehrung dienten. »Da Miß Scott volljährig ist, dürfte es entscheidend darauf ankommen, ob die junge Dame das Heim tatsächlich verlassen will, Mylady«, gab der Butler zu bedenken, während er sein schwarzes, eckiges Gefährt durch die Straßen von Stevenage lenkte. »Papperlapapp, Mister Parker«, schob Agatha Simpson den Einwand beiseite. »Das arme Kind ist doch nur eingeschüchtert.« »Eine Einschätzung, der auch meine bescheidene Wenigkeit zuneigt, Mylady.« »Sehen Sie, Mister Parker«, nickte die ältere Dame. »Aber sobald ich dort auftauche, wird Miß Flott sich vertrauensvoll unter meinen Schutz stellen.« »Was eindeutig zu hoffen wäre,
Mylady.« »Anschließend werde ich das kriminelle Gesindel dingfest machen, und der Spuk mit der AlabamaSekte ist ein für allemal vorüber, Mister Parker.« »In diesem Fall dürften Mylady sich der Dankbarkeit zahlreicher Eltern sicher sein«, bemerkte der Butler. Er hielt es noch keineswegs für ausgemacht, daß die Organisation, an der Scotland Yard gescheitert war, sich im Handstreich zerschlagen ließ. Die Wegbeschreibung, die Scott senior am Telefon übermittelt hatte, erwies sich als überaus zuverlässig. Wenig später war der südliche Ortsrand von Walkern erreicht, und Parker lenkte sein altertümliches Gefährt von der Landstraße nach links in einen von Pappeln gesäumten Fahrweg. Das Schild mit der Aufschrift ›PRIVATWEG – DURCHFAHRT STRENG VERBOTEN‹ ignorierte er. Es zeigte ihm lediglich, daß man sich auf dem richtigen Weg befand. In der Ferne tauchten zwischen Bäumen bereits die Umrisse eines größeren Gebäudes auf. Offenbar handelte es sich um einen ehemals aristokratischen Landsitz, dessen Unterhaltung den Besitzern zu aufwendig geworden war. Wenig später brachte der Butler seinen Privatwagen vor einem schmiedeeisernen Tor zum Stehen. 10
An den kunstvollen Ornamenten fraß der Rost. Von den gemauerten Pfeilern blätterte der Putz. Auch das einst prachtvolle Gebäude auf dem parkähnlichen Gelände machte einen heruntergekommenen Eindruck. »Sind Sie sicher, daß dies das Heim der Alabama-Sekte ist, Mister Parker?« fragte Agatha Simpson. »Zweifel dürften kaum möglich sein, Mylady«, antwortete Parker, während er der Detektivin diskret beim Verlassen des Fahrzeugs half. Nirgends wies ein Namensschild auf den Besitzer des Anwesens hin, aber nach den präzisen Angaben von Arthur Scott konnte es sich nur um das gesuchte Anwesen handeln. Die Torflügel waren durch eine Eisenkette mit schwerem Vorhängeschloß gegen unerwünschte Eindringlinge gesichert, aber dadurch ließ sich das skurrile Paar natürlich nicht aufhalten. In würdevoller Haltung legte der Butler die wenigen Schritte bis zum Tor zurück. In seinem schwarzen Zweireiher, den altväterlich gebundenen Universal-Regenschirm am angewinkelten Unterarm, stellte Parker das Urbild eines hochherrschaftlichen Butlers dar. Perfekte Umgangsformen und eine unerschütterliche Höflichkeit entsprachen seinem konservativen Erscheinungsbild. Daß er zusätzlich über Fähigkeiten verfügte, die nicht
unbedingt zum Berufsbild eines Butlers gehörten, zeigte sich Sekunden später. Während Mylady schon ungeduldig mit den Füßen scharrte, zog Parker gelassen sein handliches Universalbesteck aus der Tasche. Dabei handelte es sich um ein zierliches Werkzeug, das dem Gerät eines leidenschaftlichen Pfeifenrauchers nicht unähnlich sah. Allerdings war es ungleich vielseitiger zu verwenden und hatte sich schon oft als wahrer ›Sesam-öffneDich‹ bewährt. Auch das Vorhängeschloß am Tor der Nirwana-Sekte widerstand dem Besteck nur kurze Zeit. Damit war der Weg zum Haus allerdings noch nicht frei, denn inzwischen schien man die Ankunft des Paares aus Shepherd’s Market bemerkt zu haben. »Bei den Herren dürfte es sich um eine Art Empfangskomitee handeln, das zu Myladys Ehren entsandt wurde«, sagte der Butler und deutete mit einer Kopfbewegung auf die breitschultrigen Gestalten, die im Laufschritt angetrabt kamen. Beide hielten knurrende Rottweiler-Hunde an der Leine und machten nicht den Eindruck, als würden sie die unangemeldeten Besucher mit offenen Armen empfangen. »Wunderbar«, strahlte die passionierte Detektivin und wickelte die ledernen Halteriemen ihres perlen11
bestickten Pompadours straffer ums Handgelenk. »Ein hübscher, kleiner Zwischenfall käme mir gerade recht, Mister Parker. Nach der langen Autofahrt geht nichts über ein bißchen Bewegung.« »Eine Feststellung, der man keinesfalls widersprechen möchte, Mylady«, pflichtete der Butler ihr bei. Steif, als hätte er einen Ladestock verschluckt, stand er auf der Schwelle des halb geöffneten Tores und sah den finster dreinblickenden Hundeführern seelenruhig entgegen. * »Man erlaubt sich, den Herren einen möglichst heiteren Tag zu wünschen«, sagte der Butler und lüftete höflich die schwarze Melone, als die Männer sich bis auf wenige Schritten genähert hatten. »Mylady hat die Absicht, mit Miß Jennifer Scott zu sprechen.« »Geht nicht. Jetzt ist keine Besuchszeit«, entgegnete einer der Breitschultrigen in ruppigem Ton. Der Mann war schätzungsweise vierzig, ließ beim Sprechen diverse Goldzähne blinken und musterte den Butler mißtrauisch von Kopf bis Fuß. »Man geht aber recht in der Annahme, daß Miß Scott sich hier aufhält?« vergewisserte sich Parker. Dabei behielt er die angriffslustig
knurrenden Rottweiler, die wütend an den Leinen zerrten, konzentriert im Auge. »Nie gehört, den Namen«, behauptete sein Gegenüber. »Also verschwindet, ehe wir euch Beine machen.« »Habt ihr denn nicht die Sperrschilder gesehen?« schaltete sein jüngerer Begleiter sich ein. »Hier hat niemand was zu suchen.« »Eine Lady Simpson läßt sich durch, nichts in der Welt aufhalten, schon gar nicht durch ein Sperrschild«, machte die resolute Dame deutlich und ließ den Pompadour wippen. Dabei handelte es sich um einen ledernen Handbeutel, der an die Damenhandtäschchen um die Jahrhundertwende erinnerte. In seinem Inneren befand sich ein solides Hufeisen, das von einem schweren Brauereigaul stammte. Dieses Souvenir, das aus humanitären Gründen in eine dünne Lage Schaumstoff gewickelt war, wußte Lady Agatha ebenso überraschend wie treffsicher einzusetzen. Dabei sprach sie liebevoll von ihrem Glücksbringer. Den Empfängern pflegte dieser sogenannte Glücksbringer jedoch alles andere als Glück zu bringen. »Hast du das gehört, Dan?« wandte sich der Mann mit den goldenen Beißwerkzeugen an seinen Kollegen. »Die fette Vogelscheuche 12
will frech werden.« Myladys wütende Reaktion irritierte für einen Augenblick sogar die beiden Rottweiler. »Der Lümmel hat es gewagt, mich zu beleidigen, Mister Parker.« Bevor der Butler antworten konnte, war der Glücksbringer schon unterwegs. Leise pfeifend durchschnitten die ledernen Halteschnüre die Luft. Instinktiv zog der ungalante ParkWächter den Kopf ein, als der perlenbestickte Handbeutel wie ein Raubvogel auf ihn herabstieß. Seine Reaktion kam jedoch um Sekundenbruchteile zu spät. Der Mann hatte den nicht mal abwegigen Eindruck, von einem auskeilenden Pferd getreten worden zu sein, als der Glücksbringer sich ungestüm an seinen Nacken schmiegte. Der Getroffene stieß einen langgezogenen Jaulton aus, knickte halb in den Knien ein und ließ die Leine seines Rottweilers los. Mit einem Satz wollte der vor Angriffslust geifernde Hund der Detektivin an die Kehle springen. Doch Parker, der mit Zwischenfällen dieser Art längst gerechnet hatte, war auf der Hut und redete dem Tier rechtzeitig seine unfreundlichen Absichten aus. Gelassen streckte er der angreifenden Bestie die bleigefüllte Spitze seines schwarzen Regendachs entgegen. Für den Rottweiler war es zum
Bremsen zu spät. Der Hund ließ ein heiseres Röcheln hören und verdrehte die Augen, als die Schirmspitze in seinen aufgerissenen Rachen drang. Anschließend absolvierte er eine Bauchlandung, streckte alle viere von sich und legte eine Verschnaufpause ein. Für den zweiten Wächter war dies das Signal, seinen kampferprobten Vierbeiner ebenfalls in die Arena zu schicken. Doch dem Tier erging es keineswegs besser. Der Hund stürzte auf Lady Simpson zu und geriet in die Bahn des rotierenden Glücksbringers. Postwendend absolvierte er einen doppelten Salto rückwärts und jaulte dabei wie ein liebeskranker Wolf. Nach der etwas unsanften Landung kam der Rottweiler zwar wieder auf die Beine, aber mit seiner Kampflust war es vorbei. Ungläubig glotzte der Hund auf den weiter kreisenden Handbeutel. Ein Zittern durchlief seinen muskulösen Körper. Anschließend zog er sich ebenfalls vom Geschehen zurück. Die Atempause, die die Tiere sich gönnten, blieb Mylady und dem Butler allerdings versagt. Unvermittelt hielten die Männer – auch der deutlich angeschlagene Goldzahnbesitzer – federnde Stahlruten in den Fäusten. Beide stießen einen martialisch wirkenden Kampfschrei aus und gingen beherzt zum Angriff über. 13
Dabei unterlief ihnen allerdings ein Fehler, der schon manchem zum Verhängnis geworden war: sie unterschätzten die Wehrhaftigkeit der älteren Dame und ihres Butlers beträchtlich. Mitten in der Attacke stieß der Wächter, der sich in Parkers Richtung geworfen hatte, ein Fauchen aus, das an eine altersschwache Dampflok erinnerte. Er hatte die bleigefütterte Schirmspitze, die sich ihm entgegenreckte, erst bemerkt, als sie schon eingehend seine Magengrube kitzelte. Röchelnd knickte der Mann in der Hüfte ein und ließ seine Schlagwaffe fallen. Anschließend wollte er die Besucher durch eine turnerische Übung erfreuen, ließ es aber bei einer ohnehin mißglückten Rolle vorwärts bewenden und streckte sich auf dem grünen Rasen aus. Sein Kollege, der die füllige Lady aufs Korn genommen hatte, kam allerdings auch nicht ans Ziel. Als er mit der Stahlrute gerade einen vernichtenden Schlag führen wollte, wurde ihm die Waffe auf offensichtlich schmerzhafte Weise aus der Hand gerissen. Blitzschnell hatten sich die ledernen Halteriemen des Pompadours um den Schaft des Totschlägers gewickelt und den Mann entwaffnet. Der gescheiterte Rutengänger blickte zunächst verdutzt in die Gegend und stieß dann einen Heul-
ton aus, der erst verstummte, als Parker den Bambusgriff seines schwarzen Universalschirmes auf des Mannes Schädeldecke pflanzte. »Sie gönnen mir auch nicht die kleinste Freude, Mister Parker«, beschwerte sich Agatha Simpson umgehend. »Mit diesem Lümmel wäre ich auch allein fertig geworden.« »Was man keine Sekunde lang bezweifelte, Mylady«, versicherte der Butler und deutete eine Verbeugung an. Mit der Miene eines routinierten Pokerprofis zog er anschließend ein Sprühfläschchen aus der Tasche, das mit einem hochwirksamen Betäubungsmittel gefüllt war. Ausgiebig ließ er die erschöpft wirkenden Parkwächter von dem feinen Nebel kosten, der auf Knopfdruck der Düse entströmte. Parker vergaß auch die etwas verstört wirkenden Hunde nicht und verabreichte ihnen ebenfalls eine Dosis, die eine Stunde entspannten Schlummer garantierte. »Die Flegel werden in Zukunft wohl wissen, wie man sich einer Dame gegenüber benimmt«, sagte Lady Simpson zufrieden, während man über den kiesbestreuten Weg zu dem schloßähnlichen, aber eindeutig heruntergekommenen Gebäude schritt. Außer den beiden Wächtern und ihren vierbeinigen Begleitern, die 14
alle auf dem Rasen die warme Mittagssonne genossen, schien noch niemand die Ankunft der Besucher bemerkt zu haben. * Unbehelligt gelangten Lady Agatha und Josuah Parker durch die angelehnte Tür in eine frisch getünchte Eingangshalle. Kein menschliches Wesen ließ sich blicken. Nur aus einem Seitenflügel waren Geräusche zu hören, die wie elegischer Gesang klangen und von einer Art Sphärenmusik untermalt wurden. »Was sind das für merkwürdigen Töne, Mister Parker?« erkundigte sich die Detektivin. »Meine Wenigkeit fühlt sich an Gesänge erinnert, wie sie zeitweise in indischen Tempeln zu hören sind, Mylady«, antwortete der Butler. »Wie auch immer. Ich werde der Sache auf den Grund gehen«, entschied die resolute Dame und setzte sich in Marsch. Parker hätte seine Herrin gern zurückgehalten, um kurz die angrenzenden Räume zu inspizieren, aber sie war schon in den rechts abzweigenden Flur eingebogen und steuerte auf die zweiflüglige Tür zu, hinter der wohl die Quelle der eigentümlichen Musik lag. Daß rechts und links der Tür zwei durchtrainierte wirkende Männer in weißen Baumwollanzügen standen,
nahm die passionierte Detektivin nicht zur Kenntnis. Energie durchpulsten ihre majestätische Gestalt. Der Blick war geradeaus gerichtet. Josuah Parker, der die Zuspitzung des Geschehens ahnte, beschleunigte seine Schritte, soweit es die Würde eines hochherrschaftlichen Butlers zuließ. Im Gehen faßte er mit der schwarz behandschuhten Rechten nach der stahlverstärkten Krempe seines Bowlers. Wie er erwartet hatte, fragten die Türsteher nicht nach etwaigen Wünschen der Besucher. Mit grimmiger Miene zogen beide federnde Stahlruten, die hier offenbar zur Standardausrüstung gehörten. Die Wächter kamen den skurrilen Eindringlingen in zweifelsfrei feindseliger Absicht entgegen. Im nächsten Augenblick stieß einer von ihnen einen spitzen Schrei aus. Der Weißgekleidete hatte Bekanntschaft mit der Krempe des Bowlers gemacht, den Parker mit ruckartiger Handbewegung auf die Reise geschickt hatte. Sirrend glitt die Stahlkante der Melone über die Stirn des Wächters und verpaßte ihm ein Haarstyling, das jedem Punker ein bewunderndes Rülpsen abgenötigt hätte. Von akuten Gleichgewichtsstörungen befallen, torkelte der Mann rückwärts, knickte dabei in den Knien ein und machte es sich vor der Tür, die er bewachen sollte, 15
bequem. Die andere Hälfte des Duos folgte dem Geschehen mit fasziniertem Blick. Dadurch entging dem Mann, daß Mylady den Glücksbringer in Schwung brachte und mit gewohnter Präzision ins Zielgebiet dirigierte. Fassungslos starrte der Türwächter die Detektivin an und tastete behutsam seinen Hinterkopf ab, wo sich in Sekunden eine hufeisenförmige Schwellung bildete. Schlagartig war der Mann kalkweiß geworden. Schweißperlen traten auf seine Stirn, während er unaufhörlich die Lippen bewegte. Anscheinend wollte er sich durch Flüche Erleichterung verschaffen. Was aber herauskam, war nur unverständliches Blubbern. Enttäuscht über seine Unfähigkeit zur Kommunikation, trat der Mann den Rückzug an und wollte sich beschämt in einer Ecke verkriechen. Dabei trat er jedoch auf die Stahlrute, die kurz zuvor seiner Hand entglitten war. Auf den Marmorfliesen wirkte das blanke Metall nicht weniger heimtückisch als eine weggeworfene Bananenschale. Für Sekundenbruchteile schwebte Myladys Gegner fast waagerecht über dem Boden und machte seiner Überraschung durch einen spitzen Schrei Luft. Das war dann der letzte Laut, den der Mann von sich gab, ehe ihm nach einer
unsanften Rückenlandung für längere Zeit die Puste ausging. Inzwischen gingen der Gesang und die Sphärenmusik hinter der verschlossenen Flügeltür weiter, als wäre nichts geschehen. Agatha Simpson wollte ihren Siegeszug schon fortsetzen, doch bevor sie eintreten konnte, beugte sich der Butler nach vorn und spähte höchst indiskret durchs Schlüsselloch. »Es scheint sich um eine Art musikalische Meditationsübung zu handeln, falls man sich in solchen Dingen ein Urteil erlauben darf, Mylady«, meinte Parker. »Meditation?« wiederholte Agatha Simpson, die sich gelegentlich auch auf den geistigen Weg in ihr innerstes Selbst begab. »Dabei sollte man eigentlich nicht stören. Aber Pflicht ist Pflicht, Mister Parker.« »Eine Feststellung, der kaum zu widersprechen sein dürfte, Mylady«, gab der Butler ihr recht und drückte behutsam die Klinke. * Wie Parker auf den ersten Blick schätzte, befanden sich in dem geräumigen, aber schmucklosen Saal rund zwei Dutzend Menschen. Die meisten von ihnen saßen im sogenannten Lotussitz auf dem Boden. Sie trugen weiße Gewänder, die an altväterliche Nachthemden erinnerten, und kehrten der Tür den 16
Rücken zu. An der Stirnwand des Saales, den meditierenden Sektenmitgliedern gegenüber, war ein tischhoher Podest errichtet, der mit kostbaren Teppichen belegt war. Dort saß ein etwa fünfzigjähriger Mann, der die Augen geschlossen hatte und unablässig seine Finger über die Saiten eines Instrumentes mit birnenförmigem Bauch und langem Hals gleiten ließ. Dazu stimmte er monotonen Singsang an, den seine Jünger mit wiegendem Oberkörper wiederholten. Offenbar war der Meister derart in seine Tätigkeit vertieft, daß er die Eindringlinge überhaupt nicht wahrnahm. Umgehend wurden allerdings zwei Männer aufmerksam, die mit verschränkten Armen an den Längswänden standen. Sie waren die einzigen, die den Kontakt zur Außenwelt nicht abgebrochen hatten und trugen dieselben weißen Baumwollanzüge, wie die völlig apathisch wirkenden Wächter vor der Saaltür. Plötzlich dröhnte Lady Agathas baritonal gefärbtes Organ durch den Saal. »Wo ist Miß Flott?« Augenblicklich war es mit der Versenkung des Meisters und seinen Jüngern vorbei. Erschrocken riß der grauhaarige Guru die Augen auf. Der Singsang verstummte. Polternd fiel das exotische Instrument, eine kostbar gearbeitete Tambura, vom
Podest. Entgeistert starrte die auf dem Parkettboden hockende Gemeinde ihren aus der Fassung geratenen Guru an. Danach drehten sich zwanzig Gesichter in die Richtung, aus der die Störung gekommen war. Josuah Parker, der durch Randers Vermittlung ein Foto der neunzehnjährigen Jennifer Scott erhalten hatte, erkannte das Mädchen sofort. Doch er mußte seinen Blick sofort wieder von dem hübschen, aber blassen Gesicht abwenden, denn die Männer, die an den Saalseiten gestanden hatten, machten nicht den Eindruck, als würden sie die Unterbrechung der Meditation widerspruchslos hinnehmen. Schon war der erste von ihnen bis auf wenige Schritte an Lady Simpson heran und zog die obligatorische Stahlrute. Doch die resolute Dame ließ sich von der bärbeißigen Miene des Aufsehers ebensowenig beeindrucken wie von seiner lebensgefährlichen Schlagwaffe. Lächelnd zog die Detektivin eine ihrer martialischen Hutnadeln aus dem Filzgebilde, das ihr aristokratisches Haupt krönte. Irritiert starrte der Angreifer argwöhnisch auf die nadelscharfe Spitze. Geistesgegenwärtig nutzte Agatha Simpson die Blöße, die der Gegner ihr bot, und langte mit der anderen Hand zu. Der Mann im weißen Baumwoll17
anzug jaulte wie ein getretener Hund, als die ältere Dame ihm eine ihrer berüchtigten Ohrfeigen verabreichte. Während er noch wimmernd die roten Striemen abtastete, die Myladys Finger auf seiner Wange hinterlassen hatten, ging die Detektivin erneut zum Angriff über. Sie stach mit der Hutnadel zu und suchte den linken Oberschenkel des Angreifers als Zielpunkt. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Betäubungsmittel, mit dem Parker die Spitze präpariert hatte, Wirkung zeigte. Heftig mit den Armen rudernd, versuchte der Mann, sein gestörtes Gleichgewicht wiederzufinden. Daß seift Bemühen von Erfolg gekrönt war, könnte man allerdings nicht behaupten. Im Gegenteil! Mit letzter Kraft wollte der Aufseher, in dessen Blutbahn schon das Betäubungsmittel kreiste, bei dem grauhaarigen Guru Zuflucht suchen. Dabei übersah er jedoch die Jünger, die immer noch in ihren Hemden auf dem Parkett saßen und sich offensichtlich keinen Reim auf das machen konnten, was sich ihren Augen bot. Taumelnd sorgte der Mann im Baumwollanzug für etliche Schmerzensschreie. Anschließend legte er sich mit einem erlösten Seufzer zur Ruhe. Noch war allerdings sein Kollege einsatzbereit und zeigte sich finster
entschlossen, die Scharte auszuwetzen. Mit einem Hechtsprung warf er sich in Parkers Richtung und fühlte sich schon als Sieger der Auseinandersetzung. Der Butler sah sich indes genötigt, dem Angreifer eine herbe Enttäuschung zu bereiten. Dazu bedurfte es nicht mal des altväterlich gebundenen Universal-Regenschirmes. Parker verneigte sich nur tief vor dem heranfliegenden Aufseher. Daß dies alles andere als eine Geste der Höflichkeit war, wurde dem Mann erst bewußt, als sich der stahlharte Rand der Melone ungeniert in seiner Magengrube breitmachte und das sensible Verdauungsorgan gehörig durchknetete. Schlagartig gab der Weißgekleidete alle Atemluft von sich und blieb wie ein nasses Handtuch über der Schulter des Butlers hängen. Von dort ließ Parker den gescheiterten Olympioniken behutsam zu Boden plumpsen. Die meisten Sektenmitglieder waren mittlerweile aufgesprungen. Sie gebärdeten sich wie aufgescheuchte Hühner, rannten kopflos herum und stießen verstörte Schreie aus. »Wo ist denn das Mädchen, das ich befreien will, Mister Parker?« wollte Lady Agatha wissen und sah sich ratlos um. »Dort, Mylady«, sagte der Butler in lakonischer Kürze Und deutete 18
auf die blonde Jennifer Scott. Die junge Dame schien als einzige ein festes Ziel vor Augen zu haben. Sie strebte mit raschen Schritten dem Ausgang zu. »Sagen Sie ihr, daß Lady Simpson sie zu sprechen wünscht, Mister Parker.« »Wie Mylady meinen«, erwiderte der Butler und setzte sich unverzüglich in Bewegung. Kurz vor der Tür hatte er das Mädchen erreicht und stellte sich ihm in den Weg. »Lassen Sie mich vorbei! Mit Ihnen habe ich nichts zu tun«, fauchte die Neunzehnjährige. Ihr hübscher Mund war verzerrt. In ihren Augen loderte der Haß. »Mylady wünscht Sie zu sprechen, Miß Scott«, brachte Josuah Parker sein Anliegen vor und verneigte sich höflich vor der jungen Dame. »Bestimmt haben meine Eltern Sie geschickt«, kreischte sie hysterisch. »Rühren sie mich bloß nicht an!« »Nichts liegt meiner bescheidenen Wenigkeit ferner, als Ihnen körperlich zu nahezutreten, Miß Scott«, versicherte der Butler. »Allerdings dürfte es auch in Ihrem Interesse liegen…« »Nein!« unterbrach Jennifer und sah plötzlich zur Tür. »Hilf mir, Sri Bhindha!« Daß sie nicht den ergrauten Guru meinte, der immer noch auf dem Podest saß und unter Kopfschütteln das Chaos im Saal verfolgte, war
eindeutig. Mit raschem Blick über die Schulter registrierte Parker, daß ein weiterer Akteur die Szene betreten hatte. Er war nicht viel älter als dreißig, hatte die blonden Haare sorgfältig nach hinten gekämmt und trug einen hellgrauen Maßanzug, der wohl von einem der teuersten Schneider Londons stammte. Der Unbekannte erfaßte die Situation sofort und griff mit der Routine eines Profis in den Ausschnitt seiner Jacke. Der Butler war jedoch um die entscheidenden Sekundenbruchteile schneller und durchkreuzte die unfreundlichen Absichten des Gangsters ebenso wirksam wie nachhaltig. Dazu setzte er erneut seinen Bowler ein und ließ ihn dem Mann wie eine schwarze Frisbeescheibe entgegenschwirren. Ehe Sri Bhindha die schallgedämpfte Automatic aus dem Schulterhalfter reißen konnte, hatte die fliegende Melone ihr Ziel schon erreicht. Der Bewaffnete stöhnte, als die Stahlkrempe über seinen Handrücken strich und von dort zum Kinn hüpfte. Die Waffe blieb stecken. Ihr Besitzer brauchte beide Hände, um sich am Türrahmen festzuhalten. Er protestierte nicht mal, als Parker die Pistole an sich nahm und in einer der seines schwarzen Innentaschen 19
Covercoats verschwinden ließ. Die Gefahr war beseitigt. Doch dafür fehlte von Jennifer Scott jede Spur. Sie hatte den Augenblick genutzt, in dem der Butler sich auf den Bewaffneten konzentrieren mußte, und war durch die offene Tür entwischt. * Wenig später saßen Agatha Simpson und Josuah Parker im Büro des Mannes, der offenbar als Heimleiter fungierte und mit dem Ehrentitel »Sri Bhindha« angeredet wurde. Nach dem Zwischenfall hatte sich der Meditationssaal im Handumdrehen geleert. Scheuen Blickes waren die Sektenmitglieder an ihrem angeschlagenen Chef vorbeigehuscht und in den weitläufigen Fluren verschwunden. »Sie sollten Ihr Personal etwas sorgfältiger aussuchen, junger Mann«, meinte Lady Agatha, nachdem der Butler vorsichtshalber die Tür verriegelt hatte, um vor Störungen sicher zu sein. »Gleich am Eingang wollten sich mir zwei Rüpel in den Weg stellen, so daß ich ihnen erst Manieren beibringen mußte.« »Tut mir leid, wenn es so war«, erwiderte ihr Gegenüber. »Aber was wollen sie überhaupt hier?« »Mister Flott hat mich beauftragt, seine Tochter nach Hause zu holen«, kam die Detektivin ohne
Umschweife zur Sache. »Nachdem die Polizei sich wieder mal als unfähig erwiesen hat, bin ich die einzige Hoffnung des leidgeprüften Mannes.« »Sie, Mylady?« Das Gesicht des Heimleiters war ein einziges Fragezeichen. »Mylady genießt einen außerordentlichen Ruf als Privatdetektivin«, griff Parker erläuternd ein. »So?« Sri Bhindhas Mundwinkel zuckten nervös. »Und ich werde dieses Heim nicht verlassen, ohne die kleine Jenny mitzunehmen, junger Mann«, machte Agatha Simpson deutlich. »Die kleine Jenny, wie Sie sie nennen, ist immerhin neunzehn«, gab ihr Gesprächspartner zu bedenken. »Sie ist eine junge Erwachsene, die sich aus freien Stücken entschieden hat, in unserer spirituellen Gemeinschaft zu leben.« »Papperlapapp«, widersprach die energische Dame. »Das Mädchen kann sich ja nicht mal selbst versorgen und wird von seinem Vater finanziell unterhalten.« »Trotzdem wäre es Kidnapping, wenn Sie Jennifer gegen ihren Willen von hier entführen würden«, wandte Sri Bhindha ein. »Sie wird freiwillig mitgehen, wenn ich erst mal mit ihr gesprochen habe, junger Mann«, war die Lady sich sicher. »Also: Wo ist das Mädchen? Meine Zeit ist kostbar.« 20
»Sie können sich gleich mit ihr unterhalten, wenn Sie wollen«, bot Sri Bhindha an. »Der Fairneß halber sollten Sie mir aber vorher Gelegenheit geben, ein paar Worte über das Leben im Nirwana-Meditationszentrum zu sagen, Mylady.« »Bitte, ich bin ja kein Unmensch«, gestattete die majestätische Dame großzügig und rutschte im Sessel herum, bis sie eine bequeme Sitzposition gefunden hatte. »Sie haben nicht zufällig einen Cognac im Haus?« Der Mann hinter dem Schreibtisch stutzte. »Sagten Sie Cognac?« »Ganz recht, junger Mann«, bestätigte Mylady. »Normalerweise trinke ich ja keinen Alkohol, aber mein sensibler Kreislauf braucht ab und zu eine kleine Stärkung.« »Verstehe«, nickte Sri Bhindha, trat an einen geschnitzten Wandschrank aus Sandelholz und förderte eine Flasche zutage, die selbst der verwöhnten Agatha Simpson ein wohlgefälliges Schnalzen entlockte. »Um Konflikte zu vermeiden, nehmen wir in unsere Gemeinschaft nur junge Leute auf, die schon volljährig sind«, begann Sri Bhindha, während die ältere Dame den Kreislaufbeschleuniger inhalierte. »Dennoch gibt es immer wieder Eltern, die uns diskriminieren, um von ihrer eigenen pädagogischen Unfähigkeit abzulenken.« »Darf man möglicherweise erfah-
ren, ob Sie Mister und Mistreß Scott ebenfalls zu dieser Kategorie von Eltern zählen?« schaltete Parker sich ein. »Natürlich«, bestätigte Sri Bhindha. »Sie haben in der Erziehung versagt, konnten es aber aus verletzter Eitelkeit nicht verwinden, daß ihre Tochter ihnen den Rücken kehrte, sobald sie volljährig war.« »Eine Darstellung, die man nicht ohne Überraschung zur Kenntnis nimmt«, bemerkte der Butler. »Sollte Mylady im übrigen davon ausgehen, daß Sri Bhindha nicht Ihr bürgerlicher Name ist?« »Sri Bhindha ist ein Ehrentitel, den ich als Leiter des Meditationszentrums trage«, gab der Mann im grauen Maßanzug Auskunft. »Früher hieß ich Glen Anderson. So steht es auch in meinem Paß.« »Vermutet man unter Umständen richtig, daß es den Mitgliedern der Nirwana-Sekte untersagt ist, das Gelände des Meditationszentrums zu verlassen, Mister Anderson?« setzte Parker die Befragung fort, derweil seine Herrin sich an dem zweiten Kreislaufbeschleuniger ergötzte. »Wie kommen Sie darauf, Mister Parker?« antwortete Anderson mit einer Gegenfrage. »Sie scheinen über eine beträchtliche Zahl von Aufsehern zu verfügen, die ausnahmslos mit gefährlichen Schlagwaffen ausgerüstet sind, 21
Mister Anderson«, wurde der Butler deutlicher. »Das ist ein Mißverständnis«, schüttelte der Heimleiter entschieden den Kopf. »Wir brauchen die Leute leider, um uns gegen Übergriffe von außen zu schützen.« »Darf man gegebenenfalls um Aufklärung bitten, was Sie konkret darunter verstehen, Mister Anderson?« hakte Parker sofort nach. »Sie wissen doch, wie die Leute auf dem Lande sind, Mister Parker«, erwiderte Sri Bhindha alias Glen Anderson. »Alles, was sie nicht kennen und verstehen, ist ihnen ein Dorn im Auge. Kurz nach der Eröffnung des Meditationszentrums rotteten sich einige Bauern aus der Umgebung zusammen und wollten uns gewaltsam von unserem rechtmäßig erworbenen Besitz vertreiben.« »Ein Vorgehen, das man keinesfalls gutheißen sollte, Mister Anderson.« »Dabei wollen wir lediglich ein Leben führen, das mit den Gesetzen des Kosmos im Einklang steht«, redete Anderson weiter. »Mylady wäre Ihnen zweifellos sehr verbunden, wenn Sie sich bereitfinden könnten, dieses Leben etwas eingehender zu schildern, Mister Anderson.« »Im Mittelpunkt steht die Meditation, die uns auf den Pfad der Erleuchtung führt, falls Sie verste-
hen, was ich meine«, kam sein Gesprächspartner der höflichen Bitte nach. »Dazu versammeln wir uns morgens, mittags und abends in dem großen Saal, den Sie ja gesehen haben.« »Interessant«, warf Agatha Simpson ein. »Ich gehöre nämlich auch zu den Erleuchteten, denen es vergönnt ist, sich durch Meditation in ihr innerstes Selbst zu versenken, Mister Glenderson.« Der Heimleiter wirkte verdutzt und erleichtert zugleich. »Dann wissen Sie ja, wie wichtig diese Versenkung ist, Mylady«, sagte er. »Jeder Mensch trägt den göttlichen Funken in sich, aber nur wenigen ist es gegeben, die kosmische Herrlichkeit zu schauen.« »Unter Umständen würde Mylady noch interessieren, mit welchen Tätigkeiten die Stunden zwischen den Meditationen ausgefüllt werden, Mister Anderson«, griff Parker ein, ehe das Gespräch in eine Fachsimpelei über verschiedene Methoden der Versenkung abglitt. »Ja, das interessiert mich wirklich, Mister Glenderson«, nickte die ältere Dame. »Verzeihung, Mylady«, ließ ihr Gegenüber sich vernehmen. »Mein Name lautet Anderson. Glen Anderson.« »Nichts anderes habe ich gesagt, Mister Glenderson«, versicherte die Detektivin. »Sie haben sich wohl 22
verhört.« »Die Zeiten, in denen wir nicht meditieren, werden zum Studium esoterischer Schriften genutzt«, fuhr Anderson leicht irritiert fort. »Ein wenig körperliche Arbeit steht auch auf dem Programm. Sie sorgt für den nötigen Ausgleich und hilft, die ewigen Zusammenhänge des Lebens zu erkennen.« »Darf man unter Umständen erfahren, um welche Art von körperlicher Arbeit es sich handelt, Mister Anderson?« bohrte Parker mit teilnahmslos wirkender Miene beharrlich weiter. »Die jungen Leute arbeiten auf den Feldern, die zu unserem Meditationszentrum gehören«, erläuterte der Heimleiter. »Sie bauen Getreide, Kartoffeln und Gemüse an, von denen sie sich dann ernähren.« »Schön, wenn junge Menschen so zu Selbständigkeit und Selbstverantwortung erzogen werden, Mister Glenderson«, schwärmte Lady Agatha und schob dem Butler ihr Glas zum Nachfüllen hin. »Eine Feststellung, der man nicht unbedingt widersprechen möchte, Mylady«, sagte Parker. »Dennoch dürfte unter diesen Umständen die Frage erlaubt sein, warum von den Sektenmitgliedern Beiträge für Kost und Logis erhoben werden, wie sie in einem Luxushotel üblich sind.« »Wer hat Ihnen denn das erzählt, Mister Parker?« zeigte Anderson
sich entrüstet. »Mister Scott sprach davon, daß seine Tochter in den zwei Monaten ihres Aufenthalts bei der NirwanaSekte entsprechende Beträge angefordert habe, Mister Anderson«, antwortete der Butler. »Das ist einfach nicht wahr, Mister Parker«, behauptete der Mann im grauen Maßanzug. »Wenn Jennifer sich von zu Hause Geld schicken läßt, ist das ihre Privatsache. Wir arbeiten jedenfalls ohne Gewinn – zum Selbstkostenpreis.« »Sehr lobenswert, Mister Glenderson«, meinte Agatha Simpson und erhob sich. »Ihr Konzept hat mich restlos überzeugt. Ich werde wohl mit dem Vater der verwöhnten Göre ein paar klärende Worte wechseln müssen.« »Dafür wäre ich Ihnen ausgesprochen dankbar, Mylady«, erwiderte Anderson und zeigte zum erstenmal ein wirklich entspanntes Lächeln. »Hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.« »Vielleicht sollten wir bei Gelegenheit etwas eingehender über Meditationserfahrungen reden, Mister Glenderson«, schlug Mylady vor, während man zur Tür schritt. »Ich nehme an, daß wir uns bald wiedersehen.« »Gern, Mylady«, nickte der Heimleiter. »Dann aber vielleicht an einem anderen Ort. Besuche von außen bringen nur Unruhe in unsere 23
spirituelle Gemeinschaft.« »Geht man recht in der Annahme, daß Mylady auf das geplante Gespräch mit Miß Scott zu verzichten gedenken?« vergewisserte sich der Butler, während man auf den Flur trat. »Das hat sich erledigt, Mister Parker«, beschied die Detektivin ihn. »Miß Flott ist hier in besten Händen.« »Ich werde Sie bis zum Tor begleiten, damit Sie nicht Grund haben, sich erneut über das Aufsichtspersonal zu beschweren, Mylady«, schlug Anderson vor und wies seinen Besuchern den Weg. »Man dankt für das außerordentlich erhellende Gespräch und erlaubt sich, noch einen möglichst ungestörten Tag zu wünschen«, sagte Parker und lüftete höflich seinen schwarzen Bowler, nachdem man unbeschadet das hochbeinige Monstrum erreicht hatte. Anschließend half er seiner Herrin in den gepolsterten Fond, setzte sich ans Steuer und ließ das schwerfällig wirkende Gefährt anrollen. Glen Anderson alias Sri Bhindha blieb am schmiedeeisernen Tor stehen und sah dem Wagen nach. Seine Miene spiegelte wider, daß er mit dem Verlauf des Gesprächs hoch zufrieden war. Erst als der Wagen hinter den Bäumen verschwunden war, kehrte er eilig ins Haus zurück.
* � Die Kreislauftherapie hatte nicht nur Myladys Wangen gerötet, sondern auch ihren Appetit geweckt. Deshalb hielt der Butler auf dem Rückweg nach einem Gasthof Ausschau und wurde auch bald fündig. Es handelte sich um einen schmucken Bau zwischen gepflegten Blumenrabatten, der nur zwei Meilen vom Meditationszentrum entfernt an der Landstraße lag. Die außen angebrachte Speisekarte, die Parker vor dem Eintreten kurz überflog, schien auch die Ansprüche verwöhnter Gaumen zu berücksichtigen – wenn sie hielt, was sie versprach. Neugierig ließ Agatha Simpson ihre Blicke schweifen, während der Butler sie durch den rustikal eingerichteten Schankraum zur Terrasse geleitete. Die Gäste, die an blankgescheuerten Holztischen ihr Bier tranken, machten aus ihrer Neugier kein Hehl. Unvermittelt verstummten die Gespräche. Ein Dutzend Augenpaare folgte dem skurrilen Duo. Der Wirt, der gleich darauf an Myladys Tisch erschien und sich nach ihren Wünschen erkundigte, war ein ernster, hagerer Mann zwischen fünfzig und sechzig. Höflich, aber wortkarg nahm er die Bestellung auf und entfernte sich wieder. »Ich habe ja gleich geahnt, daß an 24
der Sache nichts dran ist, Mister Parker«, äußerte die passionierte Detektivin, als der Wirt wenig später geräucherte Forellenfilets mit Meerettichsahne als Vorspeise auftrug. »Da hat der gute Mike sich ahnungslos vor Mister Flotts Karren spannen lassen.« »Nichts liegt meiner bescheidenen Wenigkeit ferner, als Mylady zu widersprechen«, meldete Parker auf seine höfliche Art Widerspruch an. »Dennoch dürfte es sich als sinnvoll erweisen, Mister Andersons Aussagen in einigen Punkten kritisch zu überprüfen.« »Ich wüßte nicht, was es da zu überprüfen gibt, Mister Parker«, entgegnete die ältere Dame. »Sie übertreiben es mit dem Mißtrauen. Bitte keine Vorurteile gegen Menschen, die ihr Leben auf unkonventionelle Weise gestalten.« »Eine Kritik, die man zweifellos beherzigen wird, Mylady«, antwortete der Butler. »Andererseits drängt sich die Frage auf, welche Funktion bewaffnete Wachposten bei einer Meditationsübung erfüllen.« »Sie haben doch gehört, daß Ungebildete diesen Hort geistiger Freuden am liebsten stürmen und dem Erdboden gleichmachen würden, Mister Parker«, gab die Detektivin mürrisch zurück. »Meine Wenigkeit hatte mit Verlaub nicht die Hundeführer auf dem Gelände, sondern die Posten im
Meditationssaal im Auge, Mylady«, blieb der Butler am Ball. »Die Aufgabe der betreffenden Herren dürfte wohl kaum darin bestanden haben, Angreifer von außen abzuwehren.« »Wie auch immer«, schob Agatha Simpson den Einwand beiseite. »Mister Glenderson ist ohne Frage ein Ehrenmann. Das hat er durch seine Gastfreundschaft und die kultivierte Unterhaltung bewiesen.« »Mylady dürfte kaum entfallen sein, daß Mister Anderson eine Feuerwaffe ziehen wollte, ehe er sich auf seine Pflichten als Gastgeber besann«, erwiderte Parker gelassen. »Das war sicher ein Mißverständnis, Mister Parker«, zeigte Lady Agatha sich überzeugt. »Wenn der Mann ein Gangster wäre, hätte mein kriminalistischer Instinkt sofort Alarm geschlagen.« Da der Wirt in diesem Augenblick wieder an den Tisch trat und eine köstlich duftende Ente mit Orangen servierte, brach Parker die Diskussion ab und wandte sich mit einer Frage an den hageren Gastronomen. »Geht man möglicherweise recht in der Annahme, daß Ihnen das Meditationszentrum der sogenannten Nirwana-Sekte bekannt ist?« wollte er wissen. Der Wirt musterte den Butler mit einem überraschten Blick. »Sie meinen die Leute in den weißen Hemden, die in dem Landsitz da drüben hausen?« vergewisserte 25
er sich und deutete mit dem Daumen in die fragliche Richtung. »In der Tat«, bestätigte Parker. »Ich hab’ mich noch nie darum gekümmert«, behauptete der Hagere und betrachtete eingehend seine sauberen Fingernägel. »Aber der alte Jeremy Fields kann Ihnen vielleicht was darüber erzählen. Jedenfalls wohnt er am dichtesten dran.« »Ein Hinweis, den man dankbar zur Kenntnis nimmt«, sagte der Butler. »Darf man im übrigen hoffen, daß Sie willens und in der Lage sind, den Weg zu Mister Fields zu beschreiben?« »Er sitzt gerade vorn in der Schankstube«, gab der Gastronom Auskunft. »Ich kann ihn ja mal rausschicken, wenn’s gewünscht wird.« »Ein Vorschlag, dem man unverzüglich nähertreten sollte«, ermunterte Parker den Hausherrn. Mylady enthielt sich eines Kommentars, bedachte den Butler aber mit einem mißbilligenden Blick, während der Wirt in den Schankraum zurückkehrte. * Es dauerte eine Weile, bis der alte Mann mit bedächtig schlurfenden Schritten auf die Terrasse kam, wo Mylady mittlerweile mit dem Dessert beschäftigt war. Parker schätzte ihn auf knapp über siebzig. Sein zerfurchtes Gesicht zeigte die
tiefe Bräune eines Menschen, der sein Leben lang an der frischen Luft gearbeitet hat. Die immer noch flinken, hellgrauen Augen wirkten wachsam und ein wenig mißtrauisch. »Sie wollten mich sprechen?« fragte Fields und musterte die tafelnde Lady geradezu ehrfürchtig. »Darf man Sie höflich einladen, für einen Moment Platz zu nehmen, Mister Fields?« ließ der Butler sich vernehmen und wies auf einen freien Stuhl. »Danke, ich bleibe lieber stehen«, entgegnete der weißhaarige Bauer und drehte verlegen seine Mütze zwischen schwieligen Händen. »Sie haben nach der indischen Sekte gefragt?« »Mylady würde gern hören, was Sie über das Leben der Mitglieder wissen, Mister Fields«, kam Parker zum Thema. »Das… darüber weiß ich eigentlich so gut wie nichts«, behauptete der alte Mann. »Ich dachte, ich sollte Ihnen den Weg erklären.« »Papperlapapp, ich war doch schon da!« fuhr Mylady mit ihrem sonoren Organ dazwischen, daß der Mann sichtbar zusammenzuckte. »Sie waren schon da?« reagierte Fields überrascht. »Was soll ich Ihnen dann noch erzählen?« »Mylady hegt den Verdacht, daß die jungen Sektierer gegen ihren Willen dort festgehalten werden«, 26
wurde der Butler deutlicher. »Nein, Mister Parker«, meldete Agatha Simpson sich erneut zu Wort. »Das ist Ihr Verdacht. Aber fragen Sie ruhig weiter. Sie werden feststellen, daß Sie auf dem Holzweg sind.« Nervös trat Fields von einem Bein aufs andere. Das Thema kam ihm eindeutig ungelegen. Am liebsten wäre er klammheimlich verschwunden. Josuah Parker verhinderte das jedoch, indem er dem Mann diskret eine größere Pfundnote zusteckte. Anschließend forderte er ihn erneut auf, sich am Tisch niederzulassen. »Ich möchte die feine Lady nicht beim Essen stören«, bekannte Fields und lächelte verlegen. Dann nahm er aber immerhin am leeren Nachbartisch Platz. »Jeder hier im Dorf weiß, daß bei der Sekte einiges nicht stimmt«, begann der Bauer und senkte unwillkürlich die Stimme zu einem Raunen. »Aber erzählen wird Ihnen keiner was.« »Darf man möglicherweise erfahren, welche Gründe diese Verschwiegenheit der Nachbarn hat?« fragte der Butler. »Es ist mal einer zur Polizei gegangen und hat Anzeige erstattet wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung, oder wie man das nennt«, berichtete Fields. »Ein paar Nächte später brannte sein Hof an allen
Ecken gleichzeitig.« »Versteht man richtig, daß Sie einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Anzeige und dem Schadenfeuer vermuten, Mister Fields?« vergewisserte sich Parker. »Jeder im Ort ist davon überzeugt, daß die Aufseher der Sekte den Hof angesteckt haben. Aber die Brandstifter wurden nie gefaßt«, teilte der Mann am Nachbartisch mit. »Deshalb traut sich keiner mehr, den Mund aufzumachen.« »Ein Verhalten, das keineswegs zu billigen ist, aber dennoch auf gewisses Verständnis stoßen dürfte«, merkte der Butler an. »Wenn ich damals den Fall bearbeitet hätte, wäre es natürlich nicht zu der Brandstiftung gekommen«, schaltete Lady Agatha sich wieder in das Gespräch ein. »Wie… wie meinen Sie das?« wollte Fields irritiert wissen. »Befassen sie sich denn mit solchen Sachen?« »Mylady erfreut sich eines außerordentlichen Rufes als Privatdetektivin, falls die Anmerkung erlaubt ist, Mister Fields«, setzte Parker ihn ins Bild. »Detektivin?« Fields schien fassungslos. »Das hätte ich nie und nimmer gedacht.« »In diesem Beruf ist es eben von Vorteil, wenn man nicht als das erkannt wird, was man ist«, erläuterte Agatha Simpson mit gewichti27
ger Miene. »Das ist eines der Geheimnisse meines Erfolges.« »Ja…«, begann der Mann am Nachbartisch. »Was soll ich Ihnen da viel erzählen. Im Haus bin ich noch nie gewesen. Wer denen zu nahekommt, dem hetzen sie gleich ihre Rottweiler auf den Hals.« »Ein Umstand, der Mylady aus eigener Anschauung bekannt ist, Mister Fields.« »Ich sehe die jungen Leute immer nur von weitem, wenn sie auf den Feldern arbeiten«, fuhr der weißhaarige Bauer fort. »Die müssen ganz schön ran. Auch die Mädchen. Ständig laufen Aufseher herum, die sofort mit Schlagstöcken drohen, wenn einer mal ‘ne Pause machen will.« »Eine Mitteilung, die man mit uneingeschränktem Interesse zur Kenntnis nimmt, Mister Fields. Darf man im übrigen hoffen, daß Sie bereit und in der Lage sind, noch weitere Einzelheiten mitzuteilen?« »Einmal habe ich beobachtet, wie jemand beim Rübenhacken zusammengebrochen ist und weggetragen wurde«, wußte Fields nach einer kurzen Denkpause zu berichten. »Ich glaube, es war eine junge Frau, aber das konnte ich nicht genau erkennen.« In diesem Augenblick ließ die ältere Dame ein explosionsartiges Räuspern hören und signalisierte dadurch, daß sie an Aufbruch
dachte. »Mehr kann ich Ihnen beim besten Willen nicht erzählen«, sagte Fields und erhob sich, als hätte er die Aufforderung verstanden. »Das Wenige war eigentlich schon zuviel, aber darüber hinaus weiß ich wirklich nichts. Können Sie mir glauben.« »Man sieht keine Veranlassung, an Ihren Worten zu zweifeln, Mister Fields«, erwiderte Parker. »Ansonsten dankt man verbindlich für die aufschlußreichen Auskünfte.« »Und Sie glauben wirklich, Licht in die Sache bringen zu können?« wollte der alte Mann noch wissen, ehe er sich endgültig entfernte. »Ich löse jede Aufgabe, die ich mir vornehme, junger Mann«, warf Lady Simpson sich in die ohnehin schon ausladende Brust. »Aber nennen Sie um Himmels nie meinen Namen«, willen beschwor Fields das skurrile Paar. »Worauf Sie sich unbedingt verlassen können, Mister Fields«, beruhigte der Butler ihn. Gleich darauf war Jeremy Fields im vorderen Teil des Hauses verschwunden, diesmal nicht mit bedächtigen, sondern mit hastigen Schritten. * »Das Informationshonorar, das sie dem senilen Wichtigtuer zugesteckt haben, werde ich wieder einsparen,
Mister Parker«, grollte Mylady, als man im Wagen saß. »Für Hirngespinste zahle ich keinen Penny.« »Wie Mylady meinen«, antwortete Parker über die Sprechanlage. »Kann und muß man aus dieser Äußerung schließen, daß Mylady den Aussagen von Mister Fields keinen Glauben schenken?« »Man weiß doch, wie schlecht alte Leute sehen«, reagierte die Detektivin brüsk. »Was der Mann aufgetischt hat, waren Phantasieprodukte, Mister Parker. Wenn er nicht mal auf dem Gelände gewesen ist, hat er auch nichts genau erkennen können.« »Demnach nehmen Mylady von der Möglichkeit Abstand, zum Meditationszentrum zurückzukehren und eine erneute Befragung vorzunehmen?« erkundigte sich der Butler, während er sein hochbeiniges Gefährt vom Parkplatz auf die Landstraße rollen ließ. »Ich denke nicht daran, Mister Parker«, stellte die resolute Dame klar. »Es ist höchste Zeit, daß ich nach London zurückkehre und an meinem Roman weiterarbeite. Außerdem muß ich noch das Fitneßprogramm nachholen, auf das ich heute morgen verzichtet habe.« »Myladys Wünsche sind meiner Wenigkeit Befehl«, versicherte Parker und schlug die Richtung zur Autobahn ein. Schon während der Ausfahrt vom
Parkplatz war ihm das weiße Jaguarcoupe aufgefallen, das in einiger Entfernung am Straßenrand parkte. Die beiden Männer, die darin saßen, trugen dunkle Sonnenbrillen und schienen auf etwas Bestimmtes zu warten. Der Butler war deshalb keineswegs überrascht, als er das sportliche Nobelfahrzeug bald darauf im Rückspiegel wahrnahm. Er machte Agatha Simpson jedoch erst darauf aufmerksam, als der Wagen ihm schon durch ganz Stevenage bis auf die Schnellstraße gefolgt war. Und das, obwohl man in der Stadt mehrfach von der ausgeschilderten Route zur Auffahrt abgewichen war. »Ich fürchte, Sie sehen Gespenster, Mister Parker«, ließ Lady Simpson sich mit deutlichem Bedauern in der Stimme vernehmen. »Wer sollte mich denn hier und jetzt verfolgen?« »Mylady dürften unter Umständen an Mister Glen Anderson und die Nirwana-Sekte denken, falls man sich nicht gründlich täuscht.« »Haben Sie sich diese Sache noch immer nicht aus dem Kopf geschlagen, Mister Parker?« reagierte die Detektivin verärgert. »Biegen Sie einfach an der nächsten Ausfahrt ab, dann werden sie sehen, daß der Wagen weiterfährt.« »Wie Mylady zu wünschen geruhen«, sagte Parker und handelte entsprechend. Der Jaguarfahrer hatte einige 29
Mühe, als der Butler gleich darauf in Hatfield von der Autobahn abbog. Aus gutem Grund hatte Parker darauf verzichtet, seine Absicht durch Blinken kundzutun und war erst im letzten Moment auf die Abbiegespur gewechselt. Doch der offenbar routinierte Lenker schaffte es. Die Pneus wimmerten zwar jämmerlich, hielten den weißen Jaguar aber zuverlässig in der Spur. »Das ist mit Sicherheit ein Zufall, Mister Parker«, meinte Agatha Simpson trotzig, als der Butler ihr mitteilte, was er im Rückspiegel gesehen hatte. »Wahrscheinlich wohnen die Leute hier irgendwo und wollten ohnehin die Autobahn verlassen.« »Eine Möglichkeit, die man nicht grundsätzlich ausschließen sollte, Mylady«, gab Parker ausweichend zur Antwort und machte erneut die Probe aufs Exempel. Dabei kam ihm zugute, daß sein altertümlich wirkendes Vehikel regelmäßig unterschätzt wurde. Von außen wirkte der Wagen wie ein betagtes Taxi, das er auch tatsächlich einmal war. Seit der Butler den Wagen erworben und nach seinen speziellen Vorstellungen umgebaut hätte, war das brave Gefährt allerdings zu einer regelrechten »Trickkiste auf Rädern« geworden, auf die selbst James Bond mit Recht neidisch sein konnte.
Neben einem hochbeinigen Spezialfahrwerk und schußsicherer Panzerung verfügte der schwarze Kasten über einen bulligen Rennmotor unter der eckigen Haube. Für hartnäckige Verfolger hielt das Fahrzeug außerdem eine ganze Palette von unerfreulichen Überraschungen bereit, die durch Kipphebel am Armaturenbrett ausgelöst wurden. Die Männer im weißen Jaguar schienen zu ahnen, daß Parker auf sie aufmerksam geworden war. Sie ließen dem Butler deshalb einen größeren Vorsprung, waren aber offensichtlich darauf bedacht, im Stadtverkehr von Hatfield den Anschluß nicht zu verlieren. Der Fahrer des repräsentativen Coupes hatte deshalb keinerlei Probleme zu folgen, als Parker in eine schmale Seitenstraße einbog. Der Mann am Steuer und sein Begleiter sahen sich jedoch verdutzt an, sobald sie den Schwenk nachvollzogen hatten. Die Straße vor ihren Augen war leer. Vom hochbeinigen Monstrum weit und breit nichts zu sehen. Gleich nach der Ecke hatte der Butler das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten und damit das Zusatztriebwerk aktiviert. Das schwerfällig wirkende Gefährt hatte einen regelrechten Satz nach vorn gemacht, bis Parker mit dem Fuß aufs Bremspedal wechselte und an der nächsten Kreuzung nach links 30
abbog. Auch der Jaguarfahrer holte jetzt aus seinem Wagen heraus, was drinsteckte. Er ließ die großvolumige Maschine aufröhren und vertraute darauf, das schwarze Monstrum schnell wieder einzuholen. Dem Mann entfuhr ein verblüffter Ausruf, als sein sportliches Gefährt über die Kreuzung jagte und er den schwarzen Kasten in der Seitenstraße stehen sah. »Warum fahren Sie denn nicht weiter, Mister Parker?« erkundigte sich Lady Simpson in diesem Moment. »Habe ich etwa eine Panne?« »Keineswegs und mitnichten, Mylady«, meldete der Butler über die Sprechanlage in den schußsicher verglasten Fond. »Man hat sich lediglich erlaubt, eine kurze Pause einzulegen, um Myladys Verfolgern das Aufschließen zu ermöglichen.« Im selben Moment kam der weiße Jaguar, dessen Fahrer ein Stück weiter gewendet haben mußte, auf jaulenden Pneus um die Ecke geschlittert. Um ein Haar hätte das flotte Coupe Parkers schwerfällig wirkenden Privatwagen gerammt, der gerade anrollte. Das reichte endlich, um Lady Agatha zu überzeugen. Allerdings trat sie den Rückzug von ihrer beharrliche behaupteten Position nur in Raten an. »Mir kamen die Burschen natür-
lich auch gleich verdächtig vor, Mister Parker«, äußerte die ältere Dame ungeniert. »Aber ich bin sicher, daß die dreisten Subjekte nichts mit der Alabama-Sekte zu tun haben.« »Mylady haben eine andere Vermutung?« erkundigte sich der Butler und gab dem hochbeinigen Monstrum die Sporen. »Ich kann mir schon denken, wer dahintersteckt. Doch davon später«, wich die Detektivin aus. »Aber die Lümmel haben auf jeden Fall einen Denkzettel verdient.« »Was man keinesfalls bestreiten möchte, Mylady. Darf man in diesem Zusammenhang unter Umständen die Frage anschließen, wie Mylady konkret mit den Herren zu verfahren gedenken?« »Die Details überlasse ich Ihnen, Mister Parker«, gestattete Agatha Simpson großzügig. »Sie wissen hoffentlich, worauf es mir ankommt.« »Meine Wenigkeit wird sich eingehend bemühen, Mylady unter keinen Umständen zu enttäuschen«, versprach Parker mit unbewegter Miene. Schon wenige Minuten später zeigte sich, daß er nicht zuviel versprochen hatte. * Den Männern im weißen Jaguar war nun endgültig klar, daß Parker mit ihnen spielte. Diese Einsicht brachte sie derart in Harnisch, daß sie jede 31
Vorsicht vergaßen und nur noch ein Ziel vor Augen hatten: Sie wollten es diesem stocksteifen Butler mit dem altertümlichen Gefährt zeigen… An seine eigentliche Aufgabe, den schwarzen Wagen diskret zu observieren, verschwendete das Duo keinen Gedanken mehr. In den Männern war der Jagdtrieb erwacht. Ihr verletzter Stolz verlangte nach Rache, und damit waren sie genau dort, wo der Butler sie haben wollte. Wütend gab der Jaguarlenker Vollgas und wollte im Spurt an Parkers eckigem Gefährt vorbeiziehen. Dazu gab der Butler ihm jedoch keine Gelegenheit. Ein Zittern lief durch die stahlgepanzerte Karosserie des hochbeinigen Monstrums, als Parker erneut das Zusatztriebwerk aufröhren ließ. Fassungslos mußten die Verfolger mit ansehen, wie das ehemalige Taxi mit dem Temperament eines Formel-Eins-Renners davonzog. Statt geringer zu werden, wuchs der Abstand von Sekunde zu Sekunde. Wenig später schöpften die Insassen des Sportcoupes jedoch wieder Hoffnung. Weil der Butler für Augenblicke den Fuß vom Gas nahm, gelang es ihnen, bis auf wenige Wagenlängen aufzuschließen. Daß es inzwischen zu regnen begonnen hatte, kam Parkers Absicht durchaus entgegen. So konnte er den Männern das erteilen,
was er insgeheim einen »Denkzettel« nannte, ohne andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden. Die langgezogene Rechtskurve, die in Sicht kam, erschien ihm geradezu ideal. Straße und Gehweg waren menschenleer. Nur Mülltonnen gab es in großer Zahl. Sie standen am Straßenrand und wartete auf Leerung. Daß sie selbst dazu ausersehen wären, diese Leerung vorzunehmen, ahnten die Verfolger im Jaguar noch nicht. Der Lenker des weißen Sportwagens, der sich Meter für Meter an Parkers Gefährt herangearbeitet hatte, wurde erst stutzig, als zwei Düsen am Heck des hochbeinigen Monstrums eine wasserklare Flüssigkeit auf die Fahrbahn sprühten. Da war es jedoch schon zu spät. Schlagartig wurde der vom Jagdfieber gepackte Verfolger leichenblaß. Im ersten Moment glaubte der Mann, auf Glatteis geraten zu sein, was angesichts der Jahreszeit aber mehr als unwahrscheinlich war. Ein plötzliches Versagen der Lenkung? Jedenfalls kündigte der Jaguar dem geschockten Fahrer unvermittelt den Gehorsam und reagierte nicht mal auf das Bremspedal. Der Wagen folgte bereitwillig der unwiderstehlichen Lockung der Fliehkraft und brach nach links aus. Poltern und Scheppern wurde hörbar, als der Jaguar an der Müllton32
nenbatterie entlangraste und die schweren Zinkblechbehälter wie Kegel zur Seite fegte. Deckel segelten wie fliegende Untertassen durch die Luft. Berge von Unrat fielen auf den Gehweg. Die Spuren, die dieser ungewohnte Einsatz an dem weißen Coupe hinterließ, waren ausgesprochen häßlich. Aber noch hatte der Wagen seine Endstation nicht erreicht. Im Slalom schlingerte das Fahrzeug über den Gehweg, nahm rasch einen Fahrradständer samt Drahtesel auf die Haube und schoß anschließend zielsicher in Richtung der Auslage eines Uhrengeschäftes. Der Inhaber, dessen Mittagspause noch nicht beendet war, hatte zwar die Rolläden heruntergelassen, aber für den eigenwilligen Jaguar stellte das kein ernstzunehmendes Hindernis dar. Ein scharfer Knall hallte durch die bis dahin friedliche Straße, als die Motorhaube den hölzernen Rolladen durchstieß und zugleich die Schaufensterscheibe in Trümmer legte. Die Schnauze in der verwüsteten Auslage, das Heck auf dem Gehweg, kam der sportliche Wagen zum Stehen. Aber Ruhe kehrte noch lange nicht ein. Mit vielstimmigem Rasseln und Klingeln reagierten die durcheinandergewirbelten Uhren auf den Einbruch in ihr beschauliches Dasein.
Sogar ein Kuckuck ließ seinen Ruf erschallen. »Recht hübsch, Mister Parker«, stellte die Detektivin anerkennend fest. Sie hatte sich ächzend umgedreht und sah zum Rückfenster hinaus, während der Butler sein hochbeiniges Gefährt gemächlich am Straßenrand ausrollen ließ. »Ich denke, ich werde die Lümmel persönlich vornehmen und ein ernstes Wort mit ihnen reden, Mister Parker«, entschied Agatha Simpson und vergewisserte sich, daß ihr Glücksbringer einsatzbereit war. »Ein Vorhaben, das eindeutig für Myladys Tatkraft und Entschlossenheit spricht«, ließ Parker sich vernehmen. »Allerdings dürfte mit unerwünschten Komplikationen zu rechnen sein, falls der Hinweis genehm ist.« Das Schrillen und Rasseln der mißhandelten Wecker wurden jetzt von nervtötendem Sirenengeheul übertönt. Offensichtlich hatten die Einbrecher wider Willen die Alarmanlage des Geschäftes ausgelöst. Mit dem Eintreffen der Polizei war in Kürze zu rechnen. Schon kamen die ersten Nachbarn aus ihren Häusern. Im Eingang des Uhrengeschäftes tauchte mit zornrotem Gesicht der Inhaber auf. »Sei’s drum«, verwarf Agatha Simpson schweren Herzens ihren Plan, eigenhändig mit den Männern zu reden.« 33
»Jedenfalls habe ich den zudringlichen Flegeln gezeigt, daß man sich nicht ungestraft mit mir anlegt, Mister Parker.« »Mylady haben in einer Weise agiert, die die Herren zutiefst beeindrucken dürfte, falls man nicht sehr irrt«, spendete Parker das Lob, das die passionierte Detektivin verdient zu haben glaubte. »Natürlich wird der Auftraggeber, der dieses Killerkommando hinter mir herhetzte, nicht ruhen«, tröstete sich Mylady, während der Butler seinen Privatwagen wieder anrollen ließ. »Mit erneuten Belästigungen und entsprechenden Zwischenfällen dürfte fest zu rechnen sein, Mylady«, pflichtete Parker ihr bei. Der Regenschauer, der eingesetzt hatte, verstärkte sich noch, so daß der Butler die Scheibenwischer einschalten mußte. Bis die Polizei am Ort des Geschehens eintraf, würde niemand mehr feststellen können, was den weißen Jaguar vom rechten Weg abgebracht hatte. Vermutlich hatte der Regen schon jetzt die letzten Reste der flüssigen Seife, mit der Parker die Fahrbahn in eine Rutschbahn verwandelt hatte, in die Kanalisation gespült.
tätigen. Es war schon Teezeit, als er in die stille Wohnstraßen einbog, an der Lady Simpsons altehrwürdiges Fachwerkhaus lag. Inmitten des hektischen Großstadtgetriebes stellte das idyllische Viertel in Shepherd’s Market eine Oase der Ruhe dar. Das war nicht nur eine Folge des fehlenden Durchgangsverkehrs, sondern wohl auch dem Umstand zuzuschreiben, daß Myladys zweigeschossige Villa das einzig bewohnte Gebäude an der Straße war. Die Bewohner der Nachbarhäuser hatten einer nach dem andern das sprichwörtliche Weite gesucht. Geschockt von den in schöner Regelmäßigkeit auftauchenden Rollkommandos der Unterwelt, hatten die Leute ihre Häuser für einen Spottpreis zum Verkauf angeboten. Mylady war auf den Plan getreten und hatte nach und nach die ganzen Grundstücke erworben. Seitdem standen die Gebäude leer. Eine Vermietung kam wegen der Risiken, mit denen etwaige Mieter rechnen mußten, kaum in Frage. Auf dem Vorplatz des Hauses, das auf den soliden Grundmauern einer alten Abtei errichtet war, ließ der Butler das hochbeinige Monstrum ausrollen, öffnete den hinteren Wagenschlag und war seiner Herrin * diskret beim Aussteigen behilflich. Minuten später war in der WohnJosuah Parker benützte die Heim- halle der Teetisch gedeckt. fahrt, um noch einige Einkäufe zu
Herzhaft sprach die ältere Dame 34
den Köstlichkeiten zu, die Parker aufgetragen hatte. Neben betörend duftendem Kleingebäck wartete eine kunstvoll garnierte Nugattorte darauf, Agatha Simpsons Wohlbefinden zu dienen. Dazu gab es goldbraunen Assamtee mit frischer Sahne. Zum Ausklang stand Lady Agathas Lieblingssherry in Reichweite. »Erinnern Sie mich daran, daß ich mir von Mister Flott die Auslagen für den Ausflug aufs Land ersetzen lasse, Mister Parker«, trug die Hausherrin dem Butler auf. »Als alleinstehende Dame kann ich es mir nicht erlauben, Zeit und Geld für mißratene Töchter unfähiger Eltern zu verschwenden.« »Man wird es keinesfalls versäumen, Mylady«, versprach Parker, schenkte Tee nach und trat anschließend in seiner unvergleichlichen Art einen halben Schritt zurück. »Kann und muß man im übrigen davon ausgehen, daß Mylady die Ermittlungen im fraglichen Fall einzustellen gedenken?« »Bei der Alabama-Sekte gibt es für mich nichts zu ermitteln, Mister Parker«, sagte Lady Simpson unwillig. »Wenn Sie noch einmal von dem Thema…« Sie unterbrach sich, weil in diesem Augenblick das Telefon ausschlug. »Hallo, Parker«, meldete sich Mike Randers vertraute Stimme, nachdem der Butler den Hörer abgenommen
hatte. »Wollte bloß mal hören, wie Ihr Besuch bei der Nirwana-Sekte ausgegangen ist.« So knapp wie ihm möglich schilderte Josuah Parker dem Anwalt die Rangeleien mit dem Aufsichtspersonal, das Gespräch mit Heimleiter Sri Bhindha alias Glen Anderson und die Verfolgung durch den weißen Jaguar. In diesem Zusammenhang erwähnte er auch die Informationen, die Jeremy Fields nach langem Zögern preisgegeben hatte, und unterrichtete sein Gesprächspartner schließlich von Myladys Absicht, den Fall zu den Akten zu legen. »Bedauerlich, aber gegen Myladys Dickkopf ist einfach kein Kraut gewachsen, Parker«, meinte Rander. »Haben Sie denn wenigstens mit Jenny Scott sprechen können?« »An einem Versuch in dieser Richtung fehlte es keineswegs, Sir«, teilte der Butler mit. »Miß Scott lehnte es jedoch strikt ab, sich mit meiner Wenigkeit zu unterhalten.« »Kann man nichts machen, Parker«, resignierte der Anrufer. »Dabei hatte ich wirklich gehofft, meinem Freund Arthur Scott helfen zu können.« »Momentan kann man nur hoffen, daß sich neue Gesichtspunkte ergeben, die eine Fortsetzung der Ermittlungen sinnvoll erscheinen lassen, Sir«, sagte Parker. »Rechnen Sie denn damit, Parker?« wollte der Anwalt wissen. 35
»Man sollte es keinesfalls ausschließen, falls die Meinung meiner bescheidenen Wenigkeit gefragt ist, Sir.« »Warten wir’s ab, Parker«, entgegnete Rander. »Jedenfalls treffe ich den bedauernswerten Arthur heute abend im Club und werde ihm berichten, wie es steht.« »Wie Sie zu wünschen belieben, Sir«, erwiderte der Butler, legte den Hörer auf und kehrte in die Wohnhalle zurück. Lady Agatha hatte sich inzwischen erhoben. »Ich, werde mich jetzt zurückziehen und konzentriert an meinem Kriminalroman arbeiten, Mister Parker«, teilte die Detektivin mit. »Sorgen Sie dafür, daß ich auf keinen Fall gestört werde.« »Worauf Mylady sich verlassen können«, sagte Parker und deutete eine Verbeugung an. »Und vergessen Sie nicht, mir die Stärkungsmittel zu bringen, die ich brauche, Mister Parker.« Sie nickte hoheitsvoll und verschwand über die geschwungene Freitreppe im Obergeschoß, wo ihre privaten Gemächer und das sogenannte Studio lagen. Hierher pflegte Agatha Simpson sich immer dann zurückzuziehen, wenn sie ihren literarischen Neigungen frönen oder sich meditierend in ihr innerstes Selbst versenken wollte.
Daß Mylady seit längerem an einem Drehbuch und an einem Roman arbeitete, der selbstverständlich als Bestseller völlig neue Maßstäbe setzen sollte, war dem Butler hinreichend bekannt. Er wußte allerdings auch, daß seine schreibende Herrin bislang über die ersten Seiten nicht hinausgekommen war. Routiniert entkorkte er eine Cognacflasche feinster Provenienz, stellte sie mit einem Schwenker auf ein silbernes Tablett und folgte Lady Agatha in würdevoller Haltung. Als Parker wenig später ins Erdgeschoß zurückkehrte, um den Teetisch abzuräumen, plärrte oben eine der Krimikassetten, die er kürzlich in Lady Agathas Auftrag in einer Videothek erstanden hatte. Daraus schloß der Butler, daß die zukünftige Bestsellerautorin immer noch mit den Vorstudien zu ihrem Werk beschäftigt war. * »Die Arbeit an meinem Manuskript war anstrengender, als ich dachte, Mister Parker«, bemerkte die Detektivin später, als sie im Schein flackernden Kaminfeuers beherzt einer gespickten Rehkeule mit Pfifferlingen zusprach. »Nach dem Essen werde ich ein Stündchen meditieren, ehe ich weiterschreibe.« »Darf man möglicherweise bereits jetzt erfahren, ob Mylady Cognac 36
oder Sherry als Stärkungsmittel bevorzugen?« fragte Parker, der die Meditationsgewohnheiten seiner Herrin nur zu gut kannte. »Vielleicht sollte ich vorsichtshalber Cognac nehmen, Mister Parker«, meinte die ältere Dame nach kurzer Überlegung. »Ich will heute eine neue Methode ausprobieren. Deshalb kann ich die Belastungen, die dabei auf mich zukommen, noch nicht abschätzen.« »Wie Mylady zu wünschen belieben«, ließ der Butler sich vernehmen, während er Lady Simpson einige Mandelkroketten nachreichte. »Ich habe mich entschlossen, es mal mit musikalischer Meditation zu versuchen, Mister Parker«, redete Lady Agatha munter weiter. »Das müßte mir eigentlich liegen. Wenn ich an die Karriere denke, die mir als Opernsängerin offengestanden hätte…« Während Mylady schwärmerisch den Blick zur Decke hob, dachte Josuah Parker an die gelegentlichen Koloraturübungen seiner stimmgewaltigen Herrin. »In dieser Hinsicht hat sich die Fahrt zu Mister Glenderson gelohnt, Mister Parker«, fuhr Lady Agatha fort. »Die Anregung, mit Musik zu meditieren, verdanke ich nämlich der Alabama-Sekte. Allerdings werde ich die Methode noch entscheidend verbessern.« »Das Ergebnis dürfte beeindru-
ckend ausfallen, Mylady«, bemerkte Parker mit der undurchdringlichen Miene eines professionellen Pokerspielers. Seine Prognose erwies sich als absolut zutreffend. Minuten später brach ein akustisches Inferno los. Der Butler blickte besorgt zu Decke. Das war meistens so, wenn die leidenschaftliche Opernfreundin Wagners Werke in schönster Lautstärke erklingen ließ. Fast hätte Parker deshalb das Klingeln an der Haustür überhört. Gemessenen Schrittes begab sich der Butler in die Diele, öffnete den Wandschrank und schaltete die hauseigene Fernsehüberwachungsanlage ein. Als Sekunden später ein kristallklares Bild auf dem kleinen Monitor aufleuchtete, öffnete er unverzüglich die Tür und ließ den abendlichen Besucher eintreten. »Man erlaubt sich, einen möglichst entspannten Abend zu wünschen, Sir«, sagte Parker und verneigte sich höflich. »Was haben Sie gesagt, Parker?« versuchte Rander gegen die stimmgewaltige Geräuschkullisse anzukommen, die ihn im verglasten Vorflur empfing. »Man erlaubt sich, einen möglichst entspannten Abend zu wünschen, Sir«, wiederholte der Butler, so laut er konnte. 37
»Danke gleichfalls, Parker«, schrie der Anwalt. »Was ist denn hier los?« »Mylady ist damit befaßt, sich meditierend in ihr innerstes Selbst zu versenken, Sir«, gab Parker Auskunft. »Sie meditiert?« vergewisserte sich Rander. Seine Miene drückte Fassungslosigkeit aus. »Darauf muß ich erst mal einen Cognac trinken«, meinte er entgeistert und ließ sich von Parker einschenken. Rander kam jedoch nicht mehr dazu, das Glas zum Mund zu führen. Wie elektrisiert fuhr der Anwalt zusammen, als die Musik unvermittelt von einem Quietschen und Pfeifen abgelöst wurde. Der Cognacschwenker glitt ihm aus der Hand. »Die Verstärkeranlage dürfte Schaden genommen haben, falls man sich nicht gründlich täuscht«, bemerkte der Butler und wollte den Weg nach oben einschlagen, aber im nächsten Moment riß der nervtötende Lärm ab. Wenig später wurden auf der Galerie Schritte hörbar, und Lady Simpson erschien am Kopfende der Treppe. »Der Anfang war vielversprechend, Mister Parker«, teilte sie mit. »Leider war die Technik nicht den Anforderungen gewachsen, die ich an sie stellen mußte.« »Meine Wenigkeit wird morgen
nach einem leistungsfähigeren Gerät Ausschau halten, Mylady«, versprach Parker. »Achten Sie auf Sonderangebote und handeln Sie dem Verkäufer noch einen Rabatt ab, Mister Parker«, wünschte die sparsame Herrin des Hauses. »Sie wissen, daß ich mit dem Penny rechnen muß.« »Ein Umstand, dem man auf jeden Rechnung tragen wird, Fall Mylady.« »Oder warten Sie noch etwas mit dem Kauf, Mister Parker«, überlegte Lady Agatha es sich anders. »Auf diesen elektronischen Kram ist ja doch kein Verlaß.« »Darf man dieser Äußerung entnehmen, daß Mylady künftig auf musikalische Meditation zu verzichten gedenken?« fragte Parker. »Ich brauche jemand, der mich auf einem Instrument begleitet«, erwiderte die Detektivin. »Das ist stilvoller.« »Solche Leute kann man stundenweise mieten, Mylady«, warf der Anwalt ein. »Kann ich mir nicht erlauben, mein lieber Junge«, behauptete die immens vermögende Witwe, obwohl Mike Rander als ihr Geldverwalter es besser wußte. »Am besten würde Mister Parker ein Instrument lernen.« »Warum nicht?« erwiderte der Anwalt schmunzelnd. »Und singen müßte er auch«, fuhr 38
die Hausherrin fort. »Am erforderlichen Bemühen wird meine Wenigkeit es keinesfalls fehlen lassen, Mylady«, gelobte der Butler. »Dennoch dürfte es sich empfehlen, keine allzu hohen Anforderungen an das Ergebnis zu stellen.« »Wo ein Wille ist, ist ein Weg, Mister Parker«, dozierte die ältere Dame. »Wir kommen auf das Thema bei Gelegenheit zurück. Aber was führt dich denn um diese Zeit zu mir. Mein lieber Junge?« wandte sie sich an Rander. »Eigentlich wollte ich nur anrufen, aber dann kam ich sowieso in der Nähe vorbei und dachte, ich schaue mal kurz rein«, antwortete der Anwalt. »Wollte nur mitteilen, was ich heute im Klub von Arthur Scott gehört habe.« »Archie Flott? Wer ist denn das nun wieder?« »Bei Mister Arthur Scott handelt es sich um den Vater der neunzehnjährigen Jennifer Scott, um derentwillen Mylady das Meditationszentrum der Nirwana-Sekte bei Walkern aufsuchten«, half Parker dem manchmal störrischen Gedächtnis der Kriminalistin auf die Sprünge. »Er war natürlich sehr enttäuscht, daß sie die Ermittlungen eingestellt haben, Mylady«, berichtete der Anwalt. »Kann ich mir denken, mein Junge«, fiel Agatha Simpson ihm postwendend ins Wort. »Er wird
noch enttäuschter sein, wenn er meine Rechnung bekommt.« »Es hat ihn um so härter getroffen, als seine Tochter heute zum erstenmal seit zwei Monaten zu Hause angerufen hat«, fuhr Rander fort. »Das ist doch ein gutes Zeichen, Mike«, befand die Detektivin. »Bestimmt kehrt das Mädchen bald nach Hause zurück. Also hat mein Eingreifen etwas genützt. Darauf sollten wir anstoßen.« »Keine schlechte Idee, Mylady«, meinte der Anwalt. Der akustische Schock, den er vergeblich mit Cognac bekämpfen wollte saß ihm immer noch in den Knochen. »Und tragen Sie noch ein paar Häppchen auf, Mister Parker«, verlangte Agatha Simpson. »Wie Mylady zu wünschen geruhen«, antwortete Parker und war gleich darauf mit kaltem Braten und diversen Salaten aus der Küche zurück. * »Um noch mal auf das Thema zurückzukommen«, sagte Mike Rander, nachdem man sich zugeprostet hatte. »Es sieht ganz und gar nicht so aus, als ob Jenny Scott demnächst nach Hause kommt.« »Darf man unter Umständen erfahren, worauf Sie diese Annahme stützen, Sir?« wollte der Butler wis39
sen. »Bei dem Anruf ging es wieder nur um Geld«, antwortete der Anwalt. »Diesmal um sage und schreibe vierzigtausend Pfund.« »Ist das nicht ein bißchen viel für Kost und Logis, mein Junge?« wunderte sich Agatha Simpson. »Nicht für Kost und Logis, Mylady«, entgegnete Rander, »sondern für ein Auto, das sie angeblich zu Schrott gefahren hat.« »Demnach dürfte es sich um ein Fahrzeug der Luxusklasse gehandelt haben, Sir«, bemerkte Parker. »Sie sprach von einem JaguarCoupe V«, bestätigte Rander. »Angeblich gehört der Nobelschlitten der Nirwana-Sekte, die nun Ersatz haben will und mit gerichtlichen Maßnahmen droht, falls das Mädchen nicht zahlt.« »Hat man richtig vernommen, daß Sie von einem Coupe der Marke Jaguar sprachen, Sir?« hakte der Butler nach. »Stimmt, Parker. Wieso?« »Nach der unmaßgeblichen Meinung meiner bescheidenen Wenigkeit dürfte es sich um ein Fahrzeug weißer Farbe gehandelt haben, das zum Unfallzeitpunkt keinesfalls von Miß Scott, sondern von einem schätzungsweise dreißigjährigen Mann mit dunkler Brille gelenkt wurde, Sir«, äußerte Parker. »Richtig«, fiel es dem Anwalt wie Schuppen von den Augen. »Die Ver-
folger, von denen Sie am Telefon erzählt haben.« »In der Tat, Sir«, bestätigte der Butler. »Dazu paßt auch der Zeitpunkt, zu dem Jennifer Scott ihren Vater angerufen hat«, sagte Rander. »Nämlich am späten Nachmittag. Die Burschen scheinen ja wirklich keine Hemmungen zu kennen, wenn es um Geld geht.« »Muß man möglicherweise der Annahme zuneigen, daß Miß Scott zu dem Anruf gezwungen wurde, Sir?« erkundigte sich Parker. »Kann schon sein, Parker«, nickte der Anwalt. »Arthur hat erwähnt, daß seine Tochter während des Telefonats ungewöhnlich nervös wirkte und unter Druck zu stehen schien. Er führte das allerdings auf den Unfallschock zurück.« »Wer hat einen Unfallschock?« Agatha Simpson, die sich einen Moment zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte, war plötzlich wieder hellwach. »Mister Rander wußte zu berichten, daß die Nirwana-Sekte von Miß Scott Ersatz für das vierzigtausend Pfund teure Jaguarcoupe fordert, das Myladys Verfolger vor wenigen Stunden in Hatfield zuschanden fuhren«, setzte der Butler sie ins Bild. »Das ist ja unerhört«, entrüstete sich die ältere Dame. »Was kann denn das Mädchen dafür?« 40
»Nichts, Mylady«, sagte Rander achselzuckend. »Ich habe ja gleich gewußt, daß die Alabama-Sekte ihre Mitglieder skrupellos ausbeutet«, behauptete Mylady mit bewundernswerter Unbefangenheit. »Nur Mister Parker wollte mir nicht glauben.« »Denen sollte man wirklich das Handwerk legen«, meinte Rander und sah zu dem Butler hinüber, dessen glattes, altersloses Gesicht teilnahmslos wie immer wirkte. Seine Höflichkeit kannte keine Grenzen. »Das habe ich doch längst in die Wege geleitet, mein lieber Junge«, teilte die Detektivin mit. »Morgen führe ich den entscheidenden Schlag gegen die Lümmel.« »Dann kann ich Arthur also mitteilen, daß Sie die Ermittlungen wiederaufnehmen, Mylady?« vergewisserte sich der Anwalt. Der unverhoffte Sinneswandel der älteren Dame war ihm noch nicht ganz geheuer. »Wieso wiederaufnehmen, Mike? Das hört sich ja an, als hätte ich die Ermittlungen irgendwann unterbrochen«, antwortete die Detektivin und erhob sich. Anschließend bedachte sie Mike Rander mit einem huldvollen Lächeln, nickte dem Butler kurz zu und entschwand in Richtung ihrer Privatgemächer. »Möchte nur wissen, wie es den Pseudogurus gelingt, die Sektenmit-
glieder derart unter der Knute zu halten«, sinnierte der Anwalt, nachdem die Hausherrin gegangen war. »Eine Fragestellung, auf die Myladys weitere Ermittlungen hoffentlich eine Antwort geben werden, Sir«, bemerkte Parker. »Im übrigen dürfte auch von Interesse sein, wie Miß Scott in die Gewalt der Sekte geriet.« »Man kann ja nicht alle Leute gekidnappt haben«, meinte Rander. »Bei der großen Zahl der Sektenmitglieder wäre das bestimmt aufgefallen.« »Ist Ihnen zufällig bekannt, ob Miß Scott bereits vor ihrem Aufenthalt im Meditationszentrum Kontakte zur Nirwana-Sekte unterhielt, Sir?« fragte der Butler. »Keine Ahnung«, gestand der Anwalt. »Aber ich kann Arthur anrufen und ihn fragen.« »Sofern Ihnen das keine allzu große Mühe bereitet, Sir, wäre dies empfehlenswert.« Fünf Minuten später war Mike Rander vom Telefon zurück. »Soweit Arthur sich erinnert, hat Jenny seit ihrem siebzehnten Lebensjahr zunehmendes Interesse an der Meditation entwickelt«, berichtete der Anwalt. »Später besuchte sie dann fast täglich eine Meditationsschule in der Nähe ihres Wohnviertels. Zu der Zeit ließen ihre Leistungen am College nach, und sie bekam immer häufiger Streit mit ihren Eltern. Arthur und Gladys 41
hätten das Mädchen am liebsten von der Meditationsschule ferngehalten, aber sie ging immer wieder hin – bis sie von zu Hause verschwand.« »Darf man hoffen, daß Ihnen die Anschrift der erwähnten Meditationsschule bekannt ist, Sir?« »Ich hab’ Sie mir von Arthur geben lassen«, antwortete Rander. »Es handelt sich um eine der PravanandhaMeditationsschulen, von denen es mehrere in der Stadt gibt, und zwar um die Filiale an der Dorset Street in Marylebone. Chef ist ein gewisser Al Thatcher.« »Eine Information, die man Mylady auf jeden Fall übermitteln wird, Sir«, teilte der Butler mit. »Haben Sie vor, sich dort näher umzusehen, Parker?« wollte der Anwalt wissen. »Man könnte sich durchaus vorstellen, daß Mylady vor einer eventuellen Fahrt nach Walkern einen Besuch des genannten Instituts ernsthaft in Erwägung zieht«, gab Parker vorsichtig zur Antwort. »Sie werden Mylady schon dahinbringen, wo Sie sie haben wollen, Parker«, bemerkte Rander schmunzelnd und erhob sich. Der Butler schien die Äußerung überhört zu haben. Jedenfalls verzog er keine Miene, geleitete den Besucher zur Haustür und wünschte ihm eine ungestörte Nachtruhe. *
Die Strapazen, die Lady Agatha sich mit literarischen Studien und musikalischer Meditation zugemutet hatte, waren an der älteren Dame nicht ganz spurlos vorübergegangen. Zum Frühstück war sie mit noch größerer Verspätung erschienen als üblich. Nach der Morgenmahlzeit hatte die Detektivin dann einige Zeit und zwei ihrer berühmten Kreislaufbeschleuniger gebraucht, um ihr körperliches und seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Es war schon früher Nachmittag, als Parker das hochbeinige Monstrum vor der Pravanandha-Meditationsschule an der Dorset Street abstellte und seiner Herrin in würdevoller Haltung beim Verlassen des Fahrzeugs half. Das repräsentative Gebäude schien aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen. Es wirkte jedoch ausgesprochen gepflegt und war in freundlichen Farben gestrichen. »Hier könnte ich Unterricht erteilen, wenn ich nicht mehr in der Lage bin, die Unterwelt in Schach zu halten, Mister Parker«, meinte Agatha Simpson, während man zum Eingang schritt. »Eine Möglichkeit, die Mylady gegebenenfalls im Auge behalten sollten«, erwiderte der Butler. »Dennoch möchte man mit Nachdruck die Hoffnung äußern, daß bis zum 42
fraglichen Zeitpunkt noch viele Jahre vergehen.« »Jahrzehnte, Mister Parker«, korrigierte die energische Dame. »Heute werde ich dem Lümmel jedenfalls noch zeigen, wer sein Meister ist.« »Mylady haben sich bereits für ein konkretes Vorgehen entschieden?« erkundigte sich Parker. »Natürlich, Mister Parker«, bestätigte die passionierte Detektivin. »Ich habe ja nicht umsonst die ganze Nacht an meinem taktischen Konzept gearbeitet. Spätestens in zehn Minuten wird mich das Subjekt anflehen, ein Geständnis ablegen zu dürfen.« »Vermutete man unter Umständen, daß Mylady den Schulleiter, Mister Al Thatcher, zu meinen geruhen?« vergewisserte sich der Butler. »Wen denn sonst? Niemand anders als dieser Schurke hat das Mädchen gekidnappt und nach Walkern verschleppt«, war die Detektivin sich sicher. »Eine Vermutung, die man nicht ausschließen sollte, unbedingt Mylady«, bemerkte Parker, während er seiner Herrin die verglaste Eingangstür aufhielt. Daß es Querverbindungen zwischen den Pravanandha-Meditationsschulen und der Nirwana-Sekte gab, hielt auch er für wahrscheinlich. Allerdings war er mit seinen Schlußfolgerungen nicht so schnell bei der Hand wie die ältere Dame.
Al Thatchers Vorzimmerdame war jung, schwarzhaarig und wohlproportioniert. Sie musterte das skurrile Paar mit entgeisterten Blicken und hätte fast ihre Kaffeetasse fallen lassen. »Sie wünschen?« erkundigte sich die junge Frau, sobald sie ihre Fassung wiedergefunden hatte. »Mylady ist gekommen, um mit Mister Thatcher zu sprechen«, sagte der Butler und lüftete andeutungsweise seine schwarze Melone. »Mister Thatcher ist momentan sehr beschäftigt und möchte auf keinen Fall gestört werden«, teilte die Sekretärin des Schulleiters mit. »Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen, Kindchen«, stellte Lady Agatha unmißverständlich klar. »Meine Zeit ist kostbar.« Das selbstbewußte Auftreten der majestätischen Dame schien Eindruck auf die Schwarzhaarige zu machen. »Dann warten Sie bitte draußen«, schlug sie nach kurzem Überlegen vor. »Ich werde Mister Thatcher wissen lassen, daß Besuch für ihn da ist.« »Kommt überhaupt nicht in Frage«, reagierte Parkers Herrin verärgert. »Eine Lady Simpson ist es nicht gewohnt, daß man sie warten läßt.« »Dann kann ich nichts für Sie tun, Mylady«, erwiderte die Vorzimmerdame schroff. 43
»Wetten daß, Kindchen?« gab die Detektivin gefährlich freundlich zurück. Gleichzeitig zog sie eine der martialischen Hutnadeln aus dem wunderlichen Filzgebilde, das ihr ergrautes Haupt krönte. Die Sekretärin erbleichte. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen fixierte sie die Spitze der Hutnadel, deren Format schon fast an einen Grillspieß denken ließ. »Wird’s bald, Kindchen?« drängelte Mylady und lächelte maliziös. Dabei fuchtelte sie mit dem bedrohlich wirkenden Hutschmuck unter der Nase der Schwarzhaarigen herum. »N… nein!« stammelte ihr Gegenüber hilflos. »Ich melde Sie sofort an.« »Warum nicht gleich so, Kindchen?« triumphierte Agatha Simpson und steckte die Hutnadel wieder an ihren Platz. Am ganzen Leib zitternd erhob sich die junge Dame und steuerte auf sichtlich weichen Knien die Tür zu Al Thatchers Büro an. Erst nach dem zweiten Klopfen wurde im Nebenraum ein unwilliges Brummen hörbar, das man als Aufforderung zum Eintreten deuten konnte. Vorsichtig steckte Thatchers Vorzimmerdame den Kopf durch den Türspalt. »Eine Lady Simpson möchte Sie
dringend sprechen, Mister Thatcher«, meldete sie ihrem Chef. »Worum es geht, weiß ich zwar nicht…« »Das werde ich dem Subjekt schon selbst erzählen, Kindchen«, fiel Agatha Simpson ihr ins Wort. Gleichzeitig schob sie die Schwarzhaarige wie einen störenden Gegenstand beiseite und überschritt die Schwelle. * Al Thatcher war in der Tat beschäftigt gewesen: mit einer Whiskyflasche, die auf seinem Schreibtisch stand, und mit einem Pornoheft, das ihm vor Schreck aus der Hand fiel, als er die Detektivin eintreten sah. Parker schätzte den Leiter der Meditationsschule auf höchstens vierzig Jahre. Er war schlank, aber auffallend breitschultrig und trug einen lässig geschnittenen Leinenanzug. Der gebräunte Teint brachte seine wachsamen, eisblauen Augen eindrucksvoll zur Geltung. »Sie können doch nicht einfach…« protestierte er. »Und ob ich kann, junger Mann«, gab die exzentrische Lady unbeeindruckt zurück. Dabei ließ sie wirkungsvoll ihren perlenbestickten Pompadour wippen. »Was wollen Sie denn überhaupt von mir?« fragte Al Thatcher unwirsch und versuchte, das zu Boden gefallene Pornoheft mit der 44
Fußspitze unter den Schreibtisch zu schieben. Mylady war jedoch schneller, setzte ihren rustikalen Schnürschuh darauf und bedachte den Schulleiter mit einem mißbilligenden Blick. »Die Fragen, die Mylady Ihnen stellen möchte, Mister Thatcher, beziehen sich auf eine junge Dame namens Jennifer Scott«, kam der Butler wunschgemäß auf den Anlaß des Besuches zu sprechen. »Jennifer Scott?« wiederholte der Mann im Leinenanzug. Seine Miene drückte Ahnungslosigkeit aus. »Die fragliche junge Dame hat bis vor etwa zwei Monaten regelmäßig die, Veranstaltungen Ihrer Schule besucht, falls der Hinweis genehm ist, Mister Thatcher«, wurde Parker deutlicher. »Kann mich nicht erinnern«, behauptete Thatcher. »Sind Sie die Eltern?« »Unerhört!« entrüstete sich die ältere Dame. »Mister Parker ist mein Butler, junger Mann.« »Von mir aus«, reagierte der Hausherr mißmutig. »Dann sind Sie also die Mutter?« »Keineswegs und mitnichten, Mister Thatcher«, klärte der Butler ihn auf. »Mylady wurde von Mister und Mistreß Scott gebeten, sich um die junge Dame zu kümmern.« »Und was ist mit dieser Jennifer Scott?« wollte der Schulleiter wissen. Dabei schielte er unschlüssig zu der
halbvollen Whiskyflasche. »Sie dürfen mir ruhig einschenken, junger Mann«, ermunterte Lady Simpson ihn. »Meinem sensiblen Kreislauf würde es bestimmt guttun.« Al Thatcher ließ ein unwilliges Grunzen hören, kam der freundlichen Aufforderung aber nach. »Mylady hat Grund zu der Annahme, daß Miß Scott gegen ihren Willen in einem Meditationszentrum der sogenannten NirwanaSekte festgehalten wird«, antwortete Parker auf Thatchers Frage. Für Sekundenbruchteile wurden die eisblauen Augen des Mannes starr. Die Pupillen verengten sich. Aber es gelang ihm, weiterhin den Ahnungslosen zu spielen. »Mag ja sein«, meinte er mürrisch. »Aber was um Himmels willen habe ich damit zu tun?« »Der Lümmel ist verstockter, als ich dachte, Mister Parker«, meldete Lady Agatha sich mit ihrem baritonal gefärbten Organ zu Wort. »Ich werde die Vernehmungsmethoden geringfügig verschärfen müssen.« »Wie bitte? Was wird denn hier gespielt?« Thatchers Augen wanderten zwischen der Detektivin und dem Butler hin und her. »Habe ich richtig gehört?« »Wenn Sie Vernehmung gehört haben, war das genau richtig, junger Mann«, setzte Agatha Simpson ihn ins Bild. »Aber wenn Sie glauben, 45
daß das ein Spiel ist, sind Sie auf dem Holzweg.« »Sie sind wohl nicht ganz dicht«, brauste Thatcher auf. »So was wie Sie gehört in ‘ne Anstalt.« Josuah Parker wußte, was unweigerlich kommen mußte. Mit unbewegter Miene ließ er den Dingen freien Lauf. Myladys Züge versteinerten sich. Ihre Stimme klang wie das bedrohliche Grollen eines fernen Vulkans, als sie sich erkundigte: »Könnte es zutreffen, daß dieser ungehobelte Flegel mich soeben beleidigt hat, Mister Parker?« »Eine Frage, die man kaum mit nein beantworten kann, Mylady«, bemerkte der Butler und deutete eine Verbeugung an. Dieser Bestätigung hätte es allerdings gar nicht bedurft, denn Parker hatte den Satz noch nicht beendet, als die Detektivin dazu überging, sich in ihrer sehr spontanen Weise Genugtuung zu verschaffen. Al Thatcher stieß ein Brüllen aus, das an einen gemarterten Kampfstier erinnerte, als sich der perlenbestickte Pompadour vehement an sein rechtes Ohr schmiegte. Der Kopf flog zur Seite, die Züge entgleisten. Ein Beben durchlief den athletischen Körper des Mannes, während er die resolute Dame aus hervorquellenden Augen musterte. Gleich darauf kippte sein Oberkörper nach vorn. Ein dumpfes, hohles Geräusch
wurde vernehmbar, als der Schulleiter ein wenig ungestüm seine Stirn auf die Schreibtischplatte bettete. Zu Lady Agathas tiefem Bedauern fegte er dabei die Whiskyflasche samt Gläsern vom Tisch, worauf sich das hochprozentige Kreislauftherapeutikum eilends über den halben Fußboden verteilte. »Tolpatschig ist der Lümmel auch noch«, äußerte die ältere Dame ärgerlich. »Aber wenn er hofft, daß Scherben ihm Glück bringen, hat er sich geschnitten.« Gleichzeitig blickten Agatha Simpson und Josuah Parker zur Tür. Thatchers wohlproportionierte Sekretärin war durch den Lärm aufgeschreckt worden, den ihr Chef produziert hatte. Fassungslos starrte die junge Dame auf das Bild, das sich ihr bot. »Sie kommen rein und machen die Tür hinter sich zu«, sagte Mylady in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Wahrscheinlich muß ich Sie auch noch vernehmen.« Gehorsam leistete die Sekretärin der energischen Einladung Folge. In ihren Augen flackerte die nackte Angst. »Darf man möglicherweise fragen, ob Ihnen der Name Jennifer Scott geläufig ist, Miß?« wandte sich Parker an die Frau, da Al Thatcher noch keinerlei Neigung zeigte, wieder an der Unterhaltung teilzunehmen. »Ja… natürlich«, nickte die 46
Schwarzhaarige. »Sie war oft hier.« »Damit ist eindeutig bewiesen, daß der Lümmel gelogen hat, Mister Parker«, gab die Detektivin zu Protokoll. »Eigentlich hätte er noch eine zweite Lektion verdient.« »Was aber nicht unbedingt förderlich auf Mister Thatchers Gesprächsbereitschaft wirken dürfte, Mylady«, gab der Butler zu bedenken. »In letzter Zeit habe ich Jenny aber nicht mehr gesehen«, teilte die Vorzimmerdame des Hausherrn mit. »Seit ungefähr zwei Monaten kommt sie nicht mehr.« »Natürlich wissen Sie auch, warum Miß Flott nicht mehr herkommt, Kindchen«, ließ Mylady sich mit triumphierendem Lächeln vernehmen. »Nein, keine Ahnung«, erwiderte die junge Dame. Ihr fragender Blick wirkte echt. »Strengen Sie Ihr Gedächtnis ansonst muß ich nachhelfen«, verlangte die resolute Dame derart unvermittelt, daß ihr Gegenüber erschrocken einen Schritt zurückwich. »Nein!« schrie die Sekretärin in höchster Not, als Mylady auch noch die Hutnadel herauszog. »Ich weiß wirklich nicht, was mit Jenny ist.« Irritiert ließ Agatha Simpson die erhobene Hand mit der Hutnadel sinken und sah ratsuchend zu Parker hinüber. »Mylady dürften möglicherweise
davon ausgehen, daß die junge Dame die Wahrheit gesagt hat«, tat der Butler seine Meinung kund. »Wehe, wenn nicht!« grollte Agatha Simpson und wandte sich wieder dem Hausherrn zu. * Al Thatchers eisblaue Augen wirkten trüb und entzündet, als er wenig später in die schmerzliche Realität zurückkehrte. Josuah Parker hatte ein bewährtes Hausmittel, sogenanntes Riechsalz, benutzt, um den schlummernden Hausherrn aus seinen Träumen zu locken. Die erste Äußerung, die der Mann nach dem Erwachen von sich gab, war ein heiserer Schrei. Offenbar wähnte er sich in einem Alptraum, als er die majestätische Gestalt Agatha Simpsons erblickte, die sich über ihn beugte und ihn mit der Spitze der Hutnadel an der Nase kitzelte. »Ich hoffe, Sie sind jetzt einsichtig genug, ein Geständnis abzulegen, junger Mann«, ließ Mylady ihn wissen. »Andernfalls würden Sie mich zwingen, meine Vernehmungsmethoden zu verschärfen.« »Aber ich weiß doch so gut wie nichts darüber«, beteuerte Al Thatcher. »Alles, was Sie über die Umstände wissen, unter denen Miß Scott in die Hände der Nirwana-Sekte geriet, dürfte für Mylady von Interesse 47
sein, Mister Thatcher«, ließ der Butler sich vernehmen. »Jenny kam in der Tat zwei Jahre regelmäßig hierher. Sie war eine begabte und hochmotivierte Meditationsschülerin«, begann Thatcher. »Aber auf die Dauer waren ihr die Treffen hier nicht genug. Sie wollte fest in einer spirituellen Gemeinschaft leben.« »Ein Wunsch, der in der Tat erfüllt wurde, Mister Thatcher«, sagte Parker. »Allerdings scheint es sich bei der bereits erwähnten NirwanaSekte um eine Gemeinschaft zu handeln, deren Verhalten bisweilen kriminelle Tatbestände erfüllt, falls die Anmerkung erlaubt ist.« »Ich kenne diese Sekte nur vom Hörensagen«, entgegnete der Mann und schielte ängstlich auf die noch immer einsatzbereite Hutnadel. »Eine infame Lüge.« Lady Agatha stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Ehrlich«, versicherte der Schulleiter mit allem Nachdruck, der ihm zu Gebote stand. »Nirwana-Sekte und Pravanandha-Meditationsschule haben nicht das geringste miteinander zu tun.« »Eine Behauptung, deren Wahrheitsgehalt sich noch erweisen dürfte«, meinte der Butler kühl. »Sollte man Ihre Äußerung im übrigen so verstehen, daß Miß Scott ohne Ihr Zutun zur Nirwana-Sekte kam, Mister Thatcher?« Sein Gegenüber zögerte mit der
Antwort. »Der Lümmel denkt sich schon wieder eine Lüge aus, Mister Parker«, fuhr die ältere Dame dazwischen und holte demonstrativ mit der Hutnadel aus. »Ich habe Jenny die Sekte empfohlen«, bekannte der Hausherr eilig. »Aber in bester Absicht, denn über die Nirwana-Leute hatte ich nur Gutes gehört.« »Eine Mitteilung, die man mit einer gewissen Überraschung zur Kenntnis nimmt, Mister Thatcher«, bemerkte Parker. »Von den Vorwürfen, die Sie erheben, höre ich wirklich zum erstenmal«, beteuerte der Schulleiter. »Allerdings war ich noch nie persönlich dort.« »Der Lümmel ist auf jeden Fall mitschuldig am Schicksal des Mädchens«, stellte Lady Agatha grimmig fest. »Ich werde ihn inhaftieren. Und seine Helfershelferin gleich mit.« Dabei deutete sie auf die völlig eingeschüchterte Sekretärin. »Hat man richtig vernommen, daß Mylady auch die junge Dame vorläufig festzunehmen beabsichtigen?« vergewisserte sich der Butler. »Selbstverständlich, Mister Parker«, bestätigte die passionierte Detektivin. »Ich muß das Frauenzimmer daran hindern, mir in die Ermittlungen zu weiteren pfuschen.« »Eine Feststellung, der man kei48
nesfalls widersprechen möchte, Mylady«, sagte Parker. Einerseits widerstrebte es ihm, die junge Dame, die mit den Praktiken der Nirwana-Sekte offenbar nicht das geringste zu tun hatte, irgendwelchen Zwangsmaßnahmen zu unterwerfen, andererseits stand wirklich zu befürchten, daß sie ihr Erlebnis nicht für sich behalten würde. So kam es, daß Al Thatcher und seine Sekretärin – selbstverständlich getrennt – in den ausbruchsicheren Gästezimmern untergebracht wurden, über die Lady Simpson im Souterrain ihres Hauses verfügte. Für den Butler war es zwar keine ganz leichte Aufgabe, die beiden über den belebten Gehweg zum hochbeinigen Monstrum zu geleiten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, aber mit dem nötigen Fingerspitzengefühl schaffte er es. * »Sind schon Verfolger in Sicht, Mister Parker?« erkundigte sich die ältere Dame, während das ehemalige Londoner Taxi über die Autobahn Nr. 1 in Richtung Norden rollte. »Man bedauert zutiefst, Mylady einen negativen Bescheid erteilen zu müssen«, meldete der Butler, nachdem er sich noch mal im Rückspiegel vergewissert hatte. »Allerdings dürfte Mister Thatcher auch kaum
Gelegenheit finden, Verfolger auf Mylady anzusetzen, falls der Hinweis erlaubt ist.« »Warum?« fragte die Detektivin entgeistert. »Mylady geruhten, Mister Thatchers ausbruchsichere Unterbringung in Shepherd’s Market zu verfügen«, teilte Parker mit unbewegtem Gesichtsausdruck mit. Agatha Simpson stutzte, um gleich danach in Kichern auszubrechen. »Die Frage war natürlich nicht ernst gemeint, Mister Parker«, behauptete sie. »Ich wollte nur prüfen, ob Sie auch den Überblick behalten.« »Stets ist meine Wenigkeit darum bemüht, Mylady.« »Mit wechselndem Erfolg, Mister Parker. Dabei könnten Sie noch so viel von mir lernen.« »Ein Angebot, das man ausgesprochen dankbar zur Kenntnis nimmt, Mylady«, erwiderte der Butler und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Inzwischen hatte man die Autobahn verlassen. Nach Walkern war es nicht mehr weit. Wenig später kam der pappelgesäumte Fahrweg in Sicht, der von der Landstraße zum Meditationszentrum der Nirwana-Sekte abzweigte. Parker verlangsamte die Fahrt und betätigte den linken Blinker. Daß kurz zuvor ein schwarzer Chevrolet im Rückspiegel aufge49
taucht war, hatte er beiläufig registriert. Auch daß der Fahrer zum Überholen ansetzte. Aber daß der Wagen knapp vor der Schnauze des ehemaligen Taxis in die Allee einbog, kam doch einigermaßen überraschend. Der Butler mußte scharf bremsen und auf die Grasnarbe ausweichen, um eine Kollision zu vermeiden, die allerdings eindeutig zu Lasten des Chevrolet gegangen wäre. Im nächsten Moment stoppte der Straßenkreuzer, so daß die Durchfahrt gesperrt war. Zwei Männer sprangen heraus. Sie zeichneten sich durch athletischen Körperbau und federnden Gang aus. Ihre Gesichter waren wutverzerrt. »Kannste nich’ aufpassen, Opa?« brüllte einer von ihnen, nachdem Parker die Scheibe des Fahrerfensters ein Stück gesenkt hatte. »Solltest allmählich den Führerschein abgeben.« »Ihre Äußerung zeugt von einer bemerkenswert eigenwilligen Sicht der Tatsachen«, entgegnete der Butler gelassen. »Meine Wenigkeit ist sich keines Fehlverhaltens bewußt.« »Überhaupt habt ihr hier gar nichts zu suchen«, meldete sich der zweite Chevrolet-Insasse zu Wort. »Also, macht schleunigst die Biege. Seht ihr nicht das Sperrschild?« »Sagen Sie den Flegeln, daß Sie den Weg freimachen sollen, ehe ich ungemütlich werde, Mister Parker«,
dröhnte Agatha Simpsons baritonal gefärbte Stimme dazwischen. »Hoppla, die alte Vogelscheuche will wohl frech werden, Sam«, meinte der Mann, der am Steuer des Chevrolet gesessen hatte. Gleichzeitig gab er seinem Begleiter durch Kopfnicken ein Zeichen. Blitzschnell packten sie die Griffe des eckigen Gefährts und wollten die Türen aufreißen. Dabei machte das Duo jedoch eine ausgesprochen unangenehme Erfahrung. Parker, der mit derart zudringlichem Verhalten der Muskelmänner gerechnet hatte, kam ihren unfreundlichen Absichten zuvor. Zu diesem Zweck tippte er mit der Fußspitze auf einen kleinen Schalter am Wagenboden und setzte die Türgriffe unter elektrische Spannung. Augenblicklich produzierten die Männer rhythmische Schreie und führten dazu einen regelrechten Veitstanz auf. Aber so sehr sie sich auch mühten und zappelten – sie bekamen die Hände nicht von den Griffen. Das gelang ihnen erst, als der Butler den Strom wieder abschaltete. Da zeigte sich jedoch, daß die ungeübten Tänzer sich zu viel zugemutet hatten. Sie taumelten an den Straßenrand, kippten hintenüber und streckten sich zu einer Verschnaufpause ins Gras. Gleich darauf war Parker an ihrer Seite, zog das bekannte Sprühfläsch50
chen hervor und sorgte dafür, daß die beiden ihren Schlummer ausgiebig genießen konnten. »Eigentlich hätten diese Verkehrsrowdies noch ein paar saftige Ohrfeigen verdient, Mister Parker«, befand die passionierte Detektivin, die mittlerweile ebenfalls das Fahrzeug verlassen hatte. »Aber solange sie wehrlos sind, macht das überhaupt keinen Spaß.« »Mylady wünschen, mit den Herren ein Gespräch zu führen?« wollte der Butler wissen. »Die Flegel sollen schleunigst ihren Wagen wegschaffen«, antwortete die resolute Lady. »Ich kann es auf den Tod nicht leiden, wenn mir Unbeteiligte bei Ermittlungen im Weg stehen, Mister Parker.« »Was man durchaus nachempfinden zu können glaubt, Mylady«, schickte Parker voraus. »Dennoch ist unter Umständen der Hinweis erlaubt, daß es sich bei den Herren wohl kaum um Unbeteiligte handeln dürfte.« »Damit sagen Sie mir doch nichts Neues, Mister Parker«, behauptete Agatha Simpson umgehend. »Ich habe die zwielichtigen Subjekte schon gestern bemerkt.« Parker konnte sich zwar nicht erinnern, den Männern bereits begegnet zu sein, schwieg aber aus Höflichkeit. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schritt er unverzüglich zu dem
schwarz lackierten Straßenkreuzer hinüber, zog die Schlüssel ab und öffnete den Kofferraum. »Tabletten! Nichts als Tabletten!« schimpfte die Detektivin, nachdem sie einen kurzen Blick hineingeworfen hatte. »Möglicherweise darf man Myladys Aufmerksamkeit auf die Art der Präparate lenken«, sagte Parker, der bereits einige Schachteln näher betrachtet hatte. »Vermutlich Kopfschmerztabletten, Mister Parker«, entgegnete die ältere Dame gelangweilt. »Keineswegs und mitnichten, Mylady«, teilte der Butler mit. »Nach der unmaßgeblichen Meinung meiner bescheidenen Wenigkeit handelt es sich ausnahmslos um Mittel, die stark beruhigend wirken, die Willenskraft schwächen und bei entsprechender Dosierung ein euphorisches Glücksgefühl erzeugen.« »Aber wer braucht das Zeug denn in solchen Mengen, Mister Parker?« »Falls man nicht sehr irrt, dürften Mylady der Annahme zuneigen, daß die Lieferung für das Meditationszentrum der Nirwana-Sekte bestimmt war.« Agatha Simpsons Züge versteinerten sich. »Ich gehe also davon aus, daß die Insassen dieser spirituellen Haftanstalt durch Drogen gefügig gemacht werden, Mister Parker?« vergewis51
serte sie sich grimmig. »In der Tat, Mylady.« »Höchste Zeit, daß ich diese Gangsterbande hinter Schloß und Riegel bringe.« »Eine Feststellung, der meine Wenigkeit absolut nichts hinzuzufügen hat, Mylady.« Unverzüglich rangierte Parker den Chevrolet an die Seite, setzte die verhalten schnarchenden Muskelmänner auf die Vordersitze und fixierte sie sicherheitshalber durch Handschellen aus speziell gehärtetem Stahl an der Lenksäule. Anschließend half er seiner Herrin in den Fond des hochbeinigen Monstrums, nahm hinter dem Lenkrad Platz und legte den ersten Gang ein. * »Muten Sie mir etwa Fußmärsche durch die Wildnis zu, Mister Parker?« beschwerte sich Mylady, als Parker sein altertümliches Gefährt nach kurzer Fahrt hinter einem Holundergebüsch am Wegrand abstellte. »Ein kleiner Umweg dürfte sich kaum vermeiden lassen«, erwiderte der Butler. »Es sei denn, ich würde frontal angreifen, Mister Parker.« »Mylady schätzen das Risiko, falls man sich diese Bemerkung erlauben darf.« »Über alles, Mister Parker. Von
hinten reinschleichen, ist nicht meine Art.« »Dennoch dürften Mylady in diesem Fall von einem Frontalangriff absehen.« »Wegen der Wachposten etwa, Mister Parker?« »Mylady dürften darauf bedacht sein, Miß Scott und die übrigen jungen Leute keiner unnötigen Gefährdung auszusetzen, wie sie bei einem Schußwechsel zu befürchten wäre.« »Darauf wollte ich Sie gerade hinweisen, Mister Parker«, behauptete die ältere Dame und schickte sich schweren Herzens zum Aussteigen an. Körperliche Anstrengungen gefielen ihr nicht. Außerdem hatte es zu nieseln begonnen, und die Dunkelheit brach herein. Aber im Interesse Unschuldiger war Lady Agatha manchmal zu Entsagungen bereit. Die Detektivin schimpfte leise, während man durch nasses Gras schritt, aber sie überließ dem Butler, der sich in der regenfeuchten Dämmerung problemlos zurechtfand, die Führung. Fünf Minuten später hatte man die mehr als mannshohe Ziegelmauer erreicht, die das Anwesen der Nirwana-Sekte nach hinten begrenzte. Der Butler deutete auf ein kleines Holztor in der Einfriedung, das er mit seinen scharfen Nachtvogelaugen schon von weitem erspäht hatte. Es erwies sich als verschlossen. 52
Der altertümliche Schließmechanismus war jedoch derart einfach, daß ein krummer Nagel ausgereicht hätte, ihn zu überlisten. Bevor Parker sein bewährtes Universalbesteck zu Hilfe nahm, legte er das Ohr ans Holz und lauschte. Gleichzeitig achtete er auf die geheimnisvolle innere Stimme, die ihn schon oft vor tödlichen Gefahren gewarnt hatte. Bisher meldete sie sich nicht zu Wort. Hinter dem Tor war nichts zu vernehmen, was auf die Anwesenheit eines Wachpostens schließen ließ. Das Schloß leistete keinen nennenswerten Widerstand. Es spielte dem Butler aber doch einen Streich, indem es einen kurzen, aber unüberhörbaren Quietschlaut von sich gab. Daß er auch an andere Ohren gedrungen war, zeigte sich Sekunden später, als Agatha Simpson und Josuah Parker innerhalb der Mauer hinter einem Rhododendronbusch untertauchen wollten. Es waren keine menschliche Ohren gewesen, die das verräterische Quitschen aufgefangen hatten, sondern die hochempfindlichen Lauscher der beiden Rottweiler. Knurrend kamen die vierbeinigen Wächter über den Rasen heran. Ihre massigen Körper wirkten noch bedrohlicher als bei Tag. Unvermittelt zogen die angreifenden Bestien dann die Notbremse. Sie
stemmten die Vorderpfoten in den Boden und blieben wenige Meter vor dem Butler stehen. Beide Tiere schnupperten und ließen ein klägliches Winseln hören. Gleich darauf machten sie kehrt und trabten mit hängenden Köpfen ins Haus zurück. Die erste Begegnung mit Parker schien ihnen noch in unguter Erinnerung zu sein. »Haben Sie bemerkt, wie ich die Ungeheuer hypnotisiert habe, Mister Parker?« erkundigte sich Lady Simpson stolz. »Sie mußten sich einfach meinem Willen unterwerfen.« Josuah Parker schwieg und bedeutete seiner Herrin durch eine stumme Geste, dasselbe zu tun. Zwischen den Stämmen der alten Parkbäume erschienen schemenhaft die Gestalten zweier Männer – etwa fünfzig Schritte entfernt. Geschmeidig zog der Butler die Gabelschleuder nebst zwei hartgebrannten Tonmurmeln aus einer Tasche seines schwarzen Covercoats. Mit den Holzgabeln, die Jungen eines gewissen Alters sich gern schnitzen, hatte Parkers Spezialkonstruktion nur noch den Namen und das Prinzip gemein. An Reichweite und Treffsicherheit war sein ausgefeiltes Modell jedenfalls nicht zu überbieten. Gelassen plazierte er eine Tonmurmel in der Lederschlaufe, strammte die Gummistränge und visierte sein 53
erstes Ziel an. Der Mann machte es ihm leicht: Er hatte im Gehen eine brennende Zigarette im Mund. Sekundenbruchteile später jagte der tönerne Gruß in der Dunkelheit davon. Der Mann reagierte mit dumpfem Stöhnen, als die kleine Kugel keck an seine Nasenwurzel tippte. Gleich darauf sah man die Zigarettenglut zu Boden fallen. Ohne seinen Glimmstengel schien der Unbekannte keinen Gefallen an dem abendlichen Spaziergang zu finden. Kurz entschlossen suchte er die Horizontale auf und machte es sich im Gras zu einem Nickerchen bequem. Erst in diesem Moment gewahrte der Butler auch wieder die beiden Rottweiler. Sie waren den Männern gefolgt, hielten sich aber zaghaft im Hintergrund. Bislang jedenfalls. Auf den zweiten Spaziergänger wirkte der plötzliche Schwächeanfall seines Begleiters alarmierend. Da er aber nicht mal das übliche ›Plopp‹ einer schallgedämpften Waffe vernommen hatte, tippte der Mann offensichtlich auf eine Herzattacke. Besorgt beugte er sich über die apathisch hingestreckte Gestalt, die von den schnuppernden Hunden umkreist wurde, und knipste eine Taschenlampe an. Er leuchtete dem vermeintlichen Kranken ins Gesicht, was sein entscheidender Fehler war. Im nächsten Augenblick ereilte
auch ihn das Geschick in Gestalt einer hartgebrannten Tonmurmel aus Parkers Gabelschleuder. Doch während die Männer sich stöhnend ihren offenbar faszinierenden Träumen hingaben, erwachte in den Rottweilern der Mut der Verzweiflung. Ihrer Gebieter beraubt, suchten die Tiere ihr Heil im erneuten Angriff. Schon hatte sich der erste Hund mit wütendem Knurren in der bleigefütterten Spitze von Parkers Universalschirm festgebissen. Der Vierbeiner reagierte jedoch ausgesprochen verdutzt, als seine Pfoten unvermittelt den Kontakt zum Boden verloren und er selbst mit unwiderstehlicher Kraft in die Lüfte gehoben wurde. Wie ein Hammerwerfer schleuderte der Butler seinen zappelnden Gegner im Kreis herum, bis der Rottweiler den Biß lockerte. Jaulend flog das Tier in hohem Bogen über die Mauer und wurde nicht mehr gesehen. Seinem Kollegen erging es nur geringfügig besser. Sein Angriff endete abrupt, als er die Kreisbahn von Lady Simpsons rotierendem Glücksbringer kreuzte. Röchelnd knickte das Tier in den Vorderläufen ein und verdrehte die Augen. Ein Zittern lief durch den Hund, ehe er sich der resoluten Dame wie ein Bettvorleger zu Füßen legte. 54
Parker verabreichte allen Gegnern eine entspannende Dosis aus dem Sprühfläschchen, die nach seinen Erfahrungen mindestens zwei Stunden vorhielt. Dann nahm er die großkalibrigen Revolver an sich, die in den Schulterhalftern der schlummernden Spaziergänger steckten, und wies seiner Herrin mit einer höflichen Verbeugung den Weg zum Haus. * Die Kellertür an der rückwärtigen Gebäudefront war unverschlossen und unbewacht. Im Schein seiner Kugelschreiberlampe, die der Butler nach dem Eintreten anknipste, pirschte das Paar sich durch den niedrigen Gang voran, der auf eine nach oben führende Treppe mündete. »Haben Sie das gehört, Mister Parker?« flüsterte Lady Agatha und blieb unvermittelt stehen. »Durchaus, Mylady«, bestätigte der Butler, der das Geräusch ebenfalls vernommen hatte. Es klang fast wie das Wimmern eines Tieres. Die klagenden Laute kämen aus einem seitlich abzweigenden Stollen, der über Steinstufen in die Tiefe führte und vor einer schweren Eichentür endete. Jetzt hörte ea sich an, als ob jemand von innen mit den Fäusten gegen diese Tür trommelte.
»Laßt mich raus, ihr gemeinen Kerle! Laßt mich raus!« schrie eine verzweifelt klingende weibliche Stimme. »Leider sieht man sich genötigt, Mylady um einen Moment Geduld zu bitten«, sagte der Butler in seiner höflichen Art, deutete eine Verbeugung an und ließ Agatha Simpson stehen. Josuah Parker drehte den von außen steckenden Schlüssel im Schloß und mit leisem Knarren schwang die Tür auf. Das Mädchengesicht, auf das der gebündelte Lichtstrahl von Parkers Lampe fiel, war blaß und tränenverschleiert. Die blonden Haare hingen in wirren Strähnen herab. »Darf man sich unter Umständen nach Ihrem Befinden erkundigen, Miß Scott?« fragte Parker und bot der jungen Dame seinen Arm als Stütze an. »Bis vor einer Minute war mir’s hundeelend«, antwortete Jennifer Scott. »Aber wer sind Sie? Holen Sie mich etwa hier raus?« »Unverzüglich, sofern Sie es wünschen, Miß Scott«, erwiderte der Butler, während man langsam die Steinstufen zu Agatha Simpson hinaufstieg. »Sie dürfen Ihrer Retterin dankbar sein, Kindchen«, verkündete Mylady und drückte das erschöpft wirkende Mädchen vehement an ihre Brust. »Über die genaue Summe werde ich 55
mich mit Ihrem Vater einigen.« »Darf man möglicherweise um Auskunft bitten, wie Mylady weiterzuverfahren gedenken?« erkundigte sich Parker. »Ich werde die Wachmannschaften überwältigen«, antwortete die passionierte Detektivin in beiläufigem Ton. »Unter Umständen dürften Mylady auch erwägen, zunächst Miß Scott in Sicherheit zu bringen«, gab der Butler zu bedenken. »Sie kann doch im Keller warten«, entschied die ältere Dame. »Da passiert mit Sicherheit nichts.« »Im Keller? Nie und nimmer!« protestierte Jennifer Scott. »Ich hab’ für mein Leben genug von Kellern.« »Dann muß das Mädchen mitkommen«, schlug Agatha Simpson eine andere Lösung vor. »Ich werde meine schützende Hand über sie halten, Mister Parker.« »Was man nicht im Traum bezweifeln wird, Mylady«, entgegnete Parker. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, die Neunzehnjährige beim weiteren Eindringen in das Gebäude an seiner Seite zu wissen, aber Lady Agatha blieb unnachgiebig. »Ich kann doch nicht wegen Miß Flott die Hintermänner dieser Vereinigung einfach laufenlassen«, befand sie, und die blonde Jenny schien diese Regelung durchaus in Ordnung zu finden.
»Ich hab’ keine Angst«, erklärte sie und ballte die zierlichen Fäuste. »Ich hab’ eine Wut im Bauch und würde am liebsten alles hier kurz und klein schlagen.« »Ein Wunsch, der als durchaus verständlich gelten dürfte, Miß Scott«, bemerkte der Butler und legte der jungen Dame seinen Wollschal um die Schultern. »Erst haben sie mich völlig fertiggemacht, weil ich nicht gleich weggerannt bin, als Sie mich angesprochen haben«, berichtete die neunzehnjährige Tochter von Randers Tennisfreund. »Dann mußte ich unter Androhung von Schlägen Dad anrufen und ihm das Märchen mit dem zu Schrott gefahrenen Jaguar erzählen.« »Das fragliche Fahrzeug wurde tatsächlich durch Unfalleinwirkung in einen verkehrsuntauglichen Zustand versetzt, Miß Scott«, setzte Parker sie ins Bild. »Allerdings von zwei Männern, die anscheinend den Auftrag hatten, Mylady und meine Wenigkeit zu observieren.« »Kein Wunder, daß Sri Bhindha vor Wut fast geplatzt ist«, entgegnete Jennifer Scott und konnte vor Schadenfreude fast schon wieder lächeln. »Er war es auch, der mich gleich nach dem Anruf zu Hause zu zehn Tagen Keller verdonnerte.« »Eine ebenso ungerechte wie unmenschlich harte Strafe, Miß Scott.« 56
»Außerdem hat er mir noch eine weitere Strafe aufgebrummt«, wußte das Mädchen zu berichten. »Ich wurde von den Glückspillen ausgeschlossen, die jeder von uns dreimal täglich vor den Meditationen bekommt.« »Eine durchaus bemerkenswerte Praxis, Miß Scott.« »Mit dem Entzug wollte er mich kleinkriegen und demütigen«, fuhr das Mädchen fort. »Aber das genaue Gegenteil hat Sri Bhindha erreicht. Seit ich die Pillen nicht mehr erhalte, fühle ich mich stark und wütend zugleich. Jetzt wird mir erst klar, was für einem Leben ich mich hier unterworfen habe.« »Eine Erkenntnis, die spät – aber zweifellos nicht zu spät kommt, Miß Scott.« »Zum Plaudern ist jetzt keine Zeit, Mister Parker«, unterbrach Agatha Simpson das Gespräch. »Wo geht es zum Chef? Mich ruft die Pflicht.« Wenig später hatte das Trio unbehelligt das Büro von Sri Bhindha alias Glen Anderson erreicht. Die Tür war zwar verschlossen, aber Parkers handliches Universalbesteck bewährte sich auch hier. »Wo hat der Lümmel sich denn verkrochen?« fragte die passionierte Detektivin nach dem Eintreten und sah sich suchend um. Das menschenleere Büro nötigte ihr ein herzhaftes Gähnen ab, wohingegen Parker sich unverzüg-
lich dem Innenleben eines Aktenschrankes widmete. Er mußte nicht lange suchen, um fündig zu werden. Gewissenhaft waren die Einzahlungen der Sektenmitglieder auf ein Konto des Meditationszentrums verbucht. Dabei handelte es sich durchweg um namhafte Beträge, die sich im Monatsdurchschnitt auf über 50.000 Pfund summierten. Das Geld floß jedoch durch wöchentliche Überweisungen an eine dem Butler unbekannte »Khabvali-Stiftung« mit Sitz in London zügig wieder ab. Parker prägte sich die Bankverbindung dieser Stiftung genau ein, ehe er den Ordner schloß und in den Schrank zurückstellte. »Da kommt jemand«, flüsterte Jenny Scott. Umgehend bezogen die Detektivin und der Butler, die die Schritte auf dem Flur ebenfalls vernommen hatten, rechts und links der Tür Posten. Jenny Scott tauchte hinter dem dichten Blattwerk eines repräsentativen Grünpflanzen-Arrangements unter. Ein Schlüssel wurde ins Schloß geschoben und die Klinke gedrückt. Der Ankömmling trat jedoch nicht gleich in den Raum, sondern blieb irritiert auf der Schwelle stehen. Während er offenkundig noch überlegte, warum die vorher abgeriegelte Tür jetzt nicht mehr verschlossen war, langte Agatha Simpson mit der ihr eigenen Energie und Treffsicherheit zu. 57
Schlagartig gab der Mann seinen Vorrat an Atemluft von sich, als Myladys Glücksbringer sich ungestüm an seine Brust schmiegte. Anschließend torkelte er ins Büro, knickte in den Knien ein und nahm vor dem Schreibtisch am Boden Platz. »Eigentlich hatte ich den Lümmel anders in Erinnerung«, sinnierte die Detektivin, während sie den behaglich ausgestreckten Mann argwöhnisch musterte. »Bei diesem Herrn dürfte es sich mitnichten um Mister Anderson handeln, der sich Sri Bhindha nennen läßt«, bemerkte Parker. »Nein, das ist nicht Sri Bhindha«, war auch Jennifer Scott sich sicher. »Aber ich kenne diesen Mann nicht. Ich habe ihn noch nie hier gesehen.« »Ich werde schon herauskriegen, wer das zwielichtige Subjekt ist, Kindchen«, kündigte Agatha Simpson selbstbewußt an, während Parker das Fläschchen mit dem Riechsalz aus der Tasche zog. * Das erste, was der Unbekannte sah, als er stöhnend die Augen öffnete, waren die Läufe großkalibriger Pistolen. Mit den Waffen, die von den Hundeführern im Park stammten, hatte Agatha Simpson sich in der Pose eines schießfreudigen Westernhelden vor ihm aufgebaut.
»Raus mit der Sprache! Wo steckt Mister Glenderson?« herrschte sie den Mann zu ihren Füßen an. »Mylady geruht von Mister Glen Anderson zu sprechen, der unter dem Namen Sri Bhindha dieses Haus leitet«, griff Parker erläuternd ein. »Ich… ich weiß nicht, was sie mit ihm gemacht haben«, stammelte der Fremde. »Er wurde gestern abend abgelöst. Nach diesem Zwischenfall mit…« Der Mann unterbrach sich. »Sind Sie etwa die beiden Leute, die gestern den Wirbel veranstaltet haben?« fragte er ungläubig. »Natürlich, junger Mann. Wer denn sonst?« warf Lady Agatha sich in die ohnehin voluminöse Brust. »Das war allerdings nur das Vorspiel.« »Jedenfalls hat es Glen den Posten gekostet«, bemerkte ihr hier Gesprächspartner. »Darf man möglicherweise der Annahme zuneigen, daß Sie zu Mister Andersons Nachfolger bestellt wurden?« tippte der Butler an. Der Mann nickte. »Mylady wäre Ihnen übrigens sehr verbunden, wenn Sie Auskunft darüber geben könnten, wer Mister Andersons Ablösung und Ihre Einsetzung verfügt hat, Mister…?« »Roberts ist mein Name, Hank Roberts«, stellte sich der neu ernannte Hausherr vor. 58
»Und wer ist Ihr Brötchengeber, junger Mann?« schaltete Mylady sich ungeduldig ein. Roberts zögerte. »Wird’s bald?« drängelte die resolute Dame. »Ich halte die Dinger nicht zum Spaß in der Hand.« Ihr Gegenüber musterte die großkalibrigen Revolver, die immer noch auf ihn gerichtet waren, mit unverhohlener Besorgnis. Feine Schweißperlen standen auf seiner blassen Stirn. »Pravanandha«, gestand er schließlich. »Ich dachte, Sie wüßten schon, daß bei ihm alle Fäden zusammenlaufen.« »Selbstverständlich wußte ich das, junger Mann«, brüstete sich die Detektivin. »Ich wollte nur überprüfen, ob Sie auch die Wahrheit sagen.« »Kann und muß man vermuten, daß es sich bei dem erwähnten Herrn um den Besitzer der Londoner Pravanandha-Meditationsschulen handelt, Mister Roberts?« hakte Parker nach. »Genauer gesagt ist Pravanandha Präsident der Khabvali-Stiftung, die wiederum Trägerin der Meditationsschulen ist«, gab Roberts Auskunft. »Aber das hat natürlich nur steuerliche Gründe.« »Geht man möglicherweise recht in der Annahme, daß der so Betitelte auch über einen bürgerlichen Namen verfügt, Mister Roberts?«
»Eigentlich heißt er Clive Potter«, gestand der Hausherr. »Und wo steckt der Lümmel?« wollte Lady Agatha wissen. »Wahrscheinlich in der Zentrale in Chelsea«, gab Roberts zur Antwort. »Heute ist nämlich…« Am liebsten hätte er den Satz wieder verschluckt, aber die Hälfte war ohnehin schon heraus, und Myladys energisches Zureden erwies sich als ausgesprochen wirksam. »Für heute abend hat Pravanandha die Leiter aller Nirwana-Zentren zu sich bestellt«, verriet Roberts. »Eigentlich wollte ich auch gerade losfahren.« »Eine Mitfahrgelegenheit nach London könnte man Ihnen durchaus anbieten, sofern Mylady keine Einwände erhebt, Mister Roberts«, teilte der Butler mit. »Eine Gelegenheit zur Teilnahme an der Konferenz dürfte sich für Sie allerdings kaum ergeben.« »Was heißt hier Mitfahrgelegenheit, Mister Parker?« protestierte die ältere Dame. »Hier im Haus wartet noch Arbeit auf mich.« »Mylady dürften mit der Möglichkeit liebäugeln, der Konferenz in Chelsea durch eigene Diskussionsbeiträge eine ungeahnte Note zu geben.« »Richtig, Mister Parker«, nickte Agatha Simpson. »Diese Absicht wollte ich soeben bekanntgeben. Um die Randfiguren, die es hier einzu59
sammeln gibt, kann sich die Polizei kümmern.« »Eine Entscheidung, die man vorbehaltlos begrüßen kann und muß, Mylady«, ließ Parker sich vernehmen. »Im übrigen sollte man Mister Roberts beim unbemerkten Verlassen des Geländes behilflich sein.« »Ich werde ihn als Geisel nehmen«, griff Agatha Simpson den Gedanken auf. »Falls das gewissenlose Subjekt mich in eine Falle zu locken versucht, drücke ich sofort ab.« »Aber alle Ausgänge sind besetzt«, entgegnete Roberts hilflos. »Sogar das kleine Tor in der hinteren Mauer.« »Die dort eingesetzten Wachposten zogen es bei Myladys Eintreffen vor, sich einstweilen zur Ruhe zu begeben, Mister Roberts«, setzte der Butler ihn ins Bild. »Dann ist das die einzige Möglichkeit«, erwiderte der Hausherr. »Also los«, sagte die ältere Dame. »Und denken Sie daran, junger Mann: Keine falsche Bewegung!« * Das Zusatztriebwerk unter der eckigen Haube ließ ein gleichmäßiges Summen hören, während das hochbeinige Monstrum auf der fast leeren Autobahn in Richtung London jagte. Meile um Meile fraßen sich die Lichtkegel der Scheinwerfer durch
die Dunkelheit. Vor dem Aufbruch hatte Parker noch von Roberts’ Telefon aus Mike Rander angerufen und mit dem Anwalt einen Treffpunkt vereinbart, an dem er die neunzehnjährige Tochter seines Tennisfreundes Arthur Scott in Empfang nehmen wollte. Jetzt saß das Mädchen neben Agatha Simpson im Fond des Wagens und war vor Erschöpfung an Myladys Schulter eingenickt. Auch Hank Roberts, der die Fahrt auf dem Beifahrersitz mitmachte, schien zu schlafen. Der Butler ließ sich jedoch durch die gleichmäßigen Atemzüge des Mannes nicht täuschen und blieb wachsam. Die Vorsicht machte sich prompt bezahlt, als Parker vor dem Autobahnkreuz Welham Green mit dem Tempo heruntergehen mußte. Wie eine Stahlfeder schnellte Roberts aus dem Sitz und wollte sich auf den schwarz gewandeten Wagenlenker stürzen. Er sackte jedoch stöhnend in die Polster zurück, ehe seine geballten Fäuste ihr Ziel erreichten. Dem Angreifer war entgangen, daß der Butler kurz vorher mit der Fußspitze einen kleinen Schalter berührte und damit die gepanzerte Trennscheibe zwischen Fahrer- und Beifahrerplatz ausgefahren hatte. Während Roberts noch seine lädierten Fingerknöchel zu kühlen versuchte, legte Parker gelassen 60
einen der zahlreichen Kipphebel am Armaturenbrett um. Der wimmernde Mann zuckte leicht zusammen und glaubte an einen Insektenstich, als er das feine Pieken im Sitzfleisch verspürte. Er ahnte nicht, daß eine Hohlnadel aus dem Polster geglitten war, die im Handumdrehen ein rasch wirkendes Betäubungsmittel in seinen Blutkreislauf pumpte. Sekunden später rutschte Roberts haltlos in sich zusammen und fiel in einen tiefen Schlummer. Die weitere Fahrt verlief ebenso reibungslos wie der Rückzug vom Gelände der Nirwana-Sekte. Wenig später huschten die ersten Lichter der Großstadt vorbei, und an der Ecke Gray’s Inn Road/Theobald’s Road brachte der Butler sein altertümliches Vehikel zum Stehen. Außer Mike Rander und Kathy Porter hatte sich noch ein etwa fünfundvierzigjähriger Mann am vereinbarten Treffpunkt eingefunden – Jennys Vater, wie sich herausstellte. Mit einer höflichen Verbeugung öffnete Parker den Wagenschlag und ließ das noch etwas schlaftrunkene Mädchen aussteigen. Zögernd machte Jennifer Scott die ersten Schritte auf ihren Vater zu. Dann fiel sie ihm schluchzend um den Hals. »Wer ist denn der Bursche auf dem Beifahrersitz?« wollte der Anwalt wissen. »Es handelt sich um Mister Hank
Roberts, der wegen Unzuverlässigkeit seines Vorgängers als neuer Leiter des Nirwana-Meditationszentrums eingesetzt wurde, Sir«, teilte der Butler mit. »Dann ist der Fall also so gut wie abgeschlossen, Parker?« mutmaßte Rander. »Keineswegs und mitnichten, Sir. Mylady befindet sich auf der Fahrt zu einer Konferenz in Chelsea, an der alle leitenden Herren der fraglichen Sekte teilnehmen«, entgegnete Parker. »Hätten Sie was dagegen, wenn Kathy und ich auch mitkämen, Parker?« erkundigte sich der Anwalt prompt. »Im Gegenteil, Sir«, antwortete der Butler. »Ihr freundliches Angebot kommt einer entsprechenden Bitte meiner bescheidenen Wenigkeit zuvor.« Während Arthur und Jennifer Scott winkend in ihren Wagen stiegen, kehrte Parker gemessenen Schrittes an seinen Platz am Lenkrad zurück und ließ das ehemalige Taxi wieder anrollen. Mike Randers dunkelblauer Austin folgte in kurzem Abstand. Zwanzig Minuten später war die Straße, die Roberts genannt hatte, erreicht. In gemächlichem Tempo glitt Parkers Gefährt an dem gepflegten Gebäude vorbei, das die Verwaltung der Pravanandha-Meditationsschulen beherbergte. 61
Von der Straße aus war nirgends Licht zu sehen. Das mußte freilich nicht heißen, daß das Haus menschenleer war. In einer schmalen Seitengasse stellte der Butler das hochbeinige Monstrum ab und leistete Mylady diskrete Hilfe beim Aussteigen. Fast gleichzeitig waren auch Mike Randar und Kathy Porter zur Stelle, die ein Stück weiter geparkt hatten. Rasch verständigte man sich darauf, daß die Detektivin und der Butler frontal in das Gebäude eindringen sollten, während der Anwalt und seine attraktive Begleiterin die Umgebung im Auge behielten. * »Nun machen Sie schon, Mister Parker! Soll ich mir hier vielleicht die Beine in den Leib stehen?« drängelte die resolute Dame, während der Butler mit seinem handlichen Universalbesteck das Sicherheitsschloß an der Eingangstür zu überreden versuchte. Die Detektivin vibriert vor Tatendrang. Energie durchpulste ihre majestätische Fülle. Der Pompadour schaukelte erwartungsfroh. Daß es mit dem Öffnen der Tür etwas länger dauerte, lag allerdings nicht allein an dem komplizierten Schließmechanismus. Parker ging mit doppelter Vorsicht zu Werke, weil sich in diesem Moment mit lei-
sem Kribbeln seine geheimnisvolle innere Stimme zu Wort meldete. Doch Agatha Simpson war nicht mehr zu bremsen. Kaum war der Riegel mit sanftem Klicken zurückgeglitten, stürmte sie an Parker vorbei in den dunklen Flur. Dem Butler blieb keine andere Wahl, als seiner Herrin zu folgen. Trotzdem war es keine gute Wahl, wie sich Sekunden später herausstellte. »Pfoten hoch!« knurrte eine Männerstimme. »Und keine faulen Tricks!« Im nächsten Augenblick flammte das Licht auf. Parker und Mylady sahen sich zwei stämmigen Wachposten gegenüber, die superschallgedämpfte Automatics im Anschlag hielten. »Die Art, in der Sie Besucher empfangen, verletzt die elementarsten Gebote der Höflichkeit«, bemerkte der Butler, hob aber doch die Hände, da die kaltblütige Entschlossenheit in den Mienen der Männer ihn zur Vorsicht mahnte. Lady Agatha, die beim Anblick entsicherter Schußwaffen eine beneidenswerte Unbefangenheit an den Tag legen konnte, folgte unter verhaltenem Protest seinem Beispiel. »Ist das nicht das verrückte Pärchen, auf das der Chef so wütend ist?« meinte einer der Wächter. »Klar«, bestätigte sein Kollege. »Die Beschreibung paßt genau auf 62
die fette Vogelscheuche und den stocksteifen Kerl.« Agatha Simpson ließ ein bedrohliches Grollen hören, zog es dann aber doch vor, die fällige Lektion in gutem Benehmen auf später zu verschieben. Ohne daß sich auch nur die geringste Chance ergeben hätte, das unerfreuliche Blatt zu wenden, mußte das Paar aus Shepherd’s Market in einer fensterlosen Abstellkammer Quartier beziehen. Mit dumpfem Knall fiel die Tür zu. Von draußen wurde der Schlüssel umgedreht und abgezogen. »Ich geb’ unten Bescheid«, hörte Parker einen der Männer sagen. »Paß du solange hier auf.« »Okay«, bestätigte der Komplize und baute sich mit dem Rücken zur Tür vor der Kammer auf. »Warum tun Sie denn nichts, Mister Parker?« beschwerte sich Lady Simpson umgehend. »Ich habe keine Zeit zu verlieren.« »Dieser Umstand ist meiner bescheidenen Wenigkeit nachhaltig bewußt, Mylady«, antwortete der Butler mit gedämpfter Stimme und löste einen Sicherungshebel am Griff seines schwarzen Universal-Regenschirmes. Anschließend klappte er die bleigefütterte Spitze rechtwinklig zur Seite. Dadurch wurde der hohle Schaft zum Lauf, aus dem Parker kleine, bunt gefiederte Pfeile verschießen
konnte. Für die erforderliche Schubkraft sorgte eine Patrone mit komprimierter Kohlensäure, die in den Schirmfalten verborgen war. Mit einem kurzen Kontrollblick vergewisserte sich der Butler, daß der zurückgebliebene Wächter noch immer der Tür den Rücken zukehrte. Und das Schlüsselloch schien groß genug, um das zierliche Geschoß durchzulassen. Ein leises Zischen wurde hörbar, als der kaum stricknadelgroße Pfeil aus dem Lauf glitt und sein Ziel suchte. Der Bewaffnete stieß einen unterdrückten Schrei aus, als die nadelscharfe Spitze sich respektlos in seinen verlängerten Rücken bohrte. Gleich darauf hörte man die Automatic des Mannes zu Boden poltern. Ihr Besitzer folgte Sekunden später, wie unschwer aus den Geräuschen vor der Tür zu schließen war. Das konzentrierte Betäubungsmittel pflanzlicher Herkunft, mit dem Parker die Pfeilspitze präpariert hatte, wirkte ebenso rasch wie gründlich. Im Nu stand das skurrile Paar wieder auf dem Flur. Dafür wurde der friedlich schnarchende Wächter in die Kammer eingeschlossen. Suchend sah der Butler sich um. Wo war der zweite Mann? Da fiel sein Blick auf eine halboffene Tür am Ende des Ganges. Auf leisen Sohlen pirschten sich Agatha 63
Simpson und Josuah Parker heran. Vorsichtig spähte der Butler in den Raum. Er war leer. Ein wenig ratlos sahen sich die zwei in dem Zimmer um, das mit einer luxuriösen Sitzgruppe und einem geräumigen Kleiderschrank ausgestattet war. Von dem gesuchten Wächter war nichts zu sehen. Aber dafür hörte man ihn jetzt. Schritt für Schritt kam der Mann näher und pfiff ein fröhliches Lied vor sich hin. Die passionierte Detektivin blickte irritiert in die Runde, doch plötzlich begriff auch sie, woher die Geräusche kamen: aus dem Schrank. Kaum hatte der ahnungslose Gangster von innen die Türen aufgedrückt, da trat Myladys Glücksbringer in Aktion. Röchelnd versuchte der stämmige Bursche, auf schwankenden Beinen das Gleichgewicht zu halten. Er gab schnell auf und ließ sich erschöpft in einem Sessel nieder. Josuah Parker versorgte den Mann mit eigenen Handschellen aus speziell gehärtetem Stahl und ließ seine schallgedämpfte Automatic unter dem Sofa verschwinden. Anschließend hielt er seiner Herrin mit formvollendeter Verbeugung die Schranktür auf. Der Stollen, der von der Rückwand des repräsentativen Möbels aus mit deutlichem Gefälle in die
Tiefe führte, schien unbewacht. Der Butler zweifelte nicht daran, daß man den Eingang zum unterirdischen Fuchsbau des Sektenchefs gefunden hatte. * Sektenführer und Stiftungspräsident Clive Potter schien einen ausgeprägten Hang zur Theatralik zu haben. Lautlos schob Parker den schweren Brokatvorhang ein Stück zur Seite und ließ die Detektivin in den eigenwillig ausgestatteten Konferenzraum blicken. Was der Mann, den seine Untergebenen ehrfürchtig Pravanandha nannten, sich in einem geräumigen Kellergewölbe eingerichtet hatte, glich eher einem orientalischen Thronsaal. Er selbst hatte in Buddha-Pose auf einer protzigen Sitzbank Platz genommen und richtete von dort aus das Wort an die Leiter der verschiedenen Nirwana-Zentren. Zwei mit Malaiendolchen ausgerüstete Karatekämpfer flankierten die massige Gestalt des Sektenchefs, den der Butler auf etwa sechzig Jahre schätzte. »Wie ihr gehört habt, sind die lästigen Schnüffler, die uns vorübergehend zu schaffen machten, endlich ins Netz gegangen«, sagte Pravanandha gerade. »Wir können den Aufbau unserer Organisation also ungestört weiterbetreiben. Das 64
Gelände für ein sechstes Meditationszentrum ist bereits gekauft. In Kürze werden wir die ersten Meditationsschulen auf dem Festland eröffnen, um auch dort Menschen für die Nirwana-Zentren heranzuziehen.« Vier Heimleiter, die mit dem Rücken zu Parker und Mylady auf flachen Sitzkissen hockten, ließen beifälliges Gemurmel hören. »Wo bleibt denn eigentlich Hank Roberts?« fragte der skrupellose Anführer. »Ich wollte ihn euch als neuen Leiter in Walkern vorstellen.« »Ich habe schon versucht, ihn anzurufen«, meldete sich einer von Roberts’ Kollegen zu Wort. »Aber da geht niemand ans Telefon. Vielleicht ist der Apparat gestört.« »Vielleicht, vielleicht«, wiederholte Pravanandha ungeduldig. »Probier’s gefälligst noch mal. Ich will wissen, was da los ist.« Gehorsam sprang der Mann auf und machte sich auf den Weg, der ihn dicht an Lady Simpson und dem Butler vorbeiführte. Den schwarzen Universalschirm einsatzbereit in der Rechten, wollte Parker Clive Potters Untergebenem noch ein paar Schritte in den düsteren Gang hinaus erlauben, aber Lady Agathas Tatendrang verlangte nach einem Ventil. Kaum hatte der Mann den Kopf durch den Vorhang gesteckt, stieß der perlenbestickte Pompadour wie
ein Raubvogel auf ihn nieder. Stöhnend taumelte Myladys Opfer in den Thronsaal zurück und gab damit das Signal für eine neue Phase der Konferenz, die eindeutig lebhafter war als die vorangegangene. In würdevoller Haltung trat der Butler hinter dem Brokatvorhang hervor und ließ in einem einzigen Wirbel gleich zwei Heimleiter mit dem bleigefüllten Bambusgriff seines altväterlich gebundenen Regendachs Bekanntschaft schließen. Den dritten ereilte Lady Simpsons Glücksbringer. Erst jetzt erfolgte das Kopfnicken Potters, auf das die martialisch ausstaffierten Leibwächter offenbar gewartet hatten. Mit Kampfschreien gingen die Männer zum Angriff über. Das Paar aus Shepherd’s Market wechselte die Taktik. Parker streckte dem auf ihn zufliegenden Karatekämpfer die bleigefütterte Schirmspitze entgegen und löste damit eindeutig eine unangenehme Situation in der Magengrube des Mannes aus. Agatha Simpson hatte blitzschnell zwei Hutnadeln gezogen und stach beherzt zu. Allerdings achtete sie darauf, keine allzu edlen Körperteile des fliegenden Angreifers zu treffen. Im selben Moment nahm der Butler aus dem Augenwinkel wahr, daß an der Rückwand des Saales eine Tür geöffnet wurde. Ein unbekanntes Gesicht tauchte kurz auf und ver65
schwand schnell wieder. Fast gleichzeitig drang Potters gebieterische Stimme an sein Ohr. »Hoch die Flossen!« befahl der Gangsterboß. »Das Spiel ist aus.« Der großkalibrige Revolver in seiner Rechten wirkte nicht weniger beunruhigend als sein diabolisches Grinsen. »Sie können Ihr Schießeisen ruhig wegwerfen, junger Mann«, schlug Lady Agatha in herablassendem Ton vor. »Das Haus ist umstellt.« »Mich jagen Sie nicht ins Bockshorn, Mylady«, gab Potter unbeeindruckt zurück. »Ich weiß, daß Sie beide Einzelkämpfer sind und im Auftrag eines gewissen Mister Scott arbeiten, den ich mir auch noch vorknöpfen werde.« »Ein Vorhaben, von dem man nur hoffen kann, daß es mißlingt, Mister Potter«, bemerkte Parker kühl. »Da!« stieß die passionierte Detektivin in diesem Augenblick einen Überraschungsschrei aus. In der offenen Tür im Hintergrund, wo der Butler Sekunden zuvor ein unbekanntes Gesicht wahrgenommen hatte, standen Kathy Porter und Mike Rander. Die ältere Dame konnte es sich zwar gerade noch verkneifen, mit der Hand in die Richtung zu deuten, doch Potter brauchte nur ihrem Blick zu folgen, um die unangemeldeten Besucher zu entdecken, die hinter seinem Rücken den Raum
betreten hatten. Für einen Augenblick ließ er dabei Josuah Parker und Agatha Simpson aus den Augen, doch die winzige Zeitspanne genügte dem Butler, um das Blatt endgültig zu wenden. Mit einer ruckartigen Bewegung ließ er seinen Bowler davonsegeln. Pravanandha heulte auf, als die Stahlkrempe über seine Fingerknöchel glitt, von dort aus übermütig weiterhüpfte und ihm die letzten Stoppeln von der Glatze schabte. Die Waffe entglitt Potters Hand. Röchelnd kippte er vornüber und absolvierte einen etwas schmerzhaften Purzelbaum über die Thronstufen, ehe er den teppichbelegten Boden küßte und alle viere von sich streckte. »Das war aber knapp«, kommentierte Mike Rander, während Parker den Gangsterboß mit Handschellen aus Spezialstahl nachhaltig in seiner Bewegungsfreiheit einschränkte. »Das sah nur so aus, mein lieber Junge«, entgegnete die Detektivin. »Ich hatte die Situation natürlich jederzeit im Griff.« »Dennoch erlaubt man sich, für Ihr außerordentlich hilfreiches Erscheinen zu danken, Miß Porter und Mister Rander«, sagte der Butler und deutete eine Verbeugung an. »Darf man im übrigen erfahren, wie Sie den zweiten Geheimgang zu Mister Potters Kommandozentrale gefunden haben?« 66
»Wir waren gerade dabei, die Hofeinfahrt des Gebäudes in Augenschein zu nehmen«, berichtete die attraktive Kathy Porter. »Dabei wurden wir darauf aufmerksam, daß jemand ein Garagentor von innen zu öffnen versuchte.« »Vermutlich war es einer von Potters Angestellten, der klammheimlich das Weite suchen wollte«, setzte der Anwalt den Bericht fort. »Aber sobald der Bursche an die frische Luft kam, wurde ihm so übel, daß er sich erst mal hinlegen mußte.« »Kein Wunder bei dem Schwinger, den Mike ihm versetzt hat«, erklärte die junge Dame. »Im Inneren der Garage stießen wir dann auf einen unterirdischen Gang, der uns hierherführte«, sagte der Anwalt und blickte sich in dem verwüstet wirkenden Thronsaal um. »Aber zum Eingreifen kamen wir ja nicht mehr.« »Ich bin schließlich keine Anfängerin«, warf Agatha Simpson sich in die ohnehin ausladende Brust. »Der
Gangster, der mir gewachsen wäre, muß erst noch geboren werden.« »Eine Feststellung, der man sich vorbehaltlos anschließen möchte, Mylady«, bemerkte Parker, der inzwischen auch Potters Untergebene einschließlich der Karatekämpfer mit Handschellen versorgt hatte. »Scheint kein armer Mann zu sein, dieser Clive Potter«, stellte Rander fest, nachdem der die Einrichtung des unterirdischen Thron- und Konferenzsaals näher in Augenschein genommen hatte. »Alles echt und vom Feinsten.« »Vielleicht sollte ich mir das eine oder andere Souvenir mitnehmen«, dachte Lady Simpson laut und begann unverzüglich mit der Auswahl, »Sie dürfen inzwischen schon die Polizei anrufen, Mister Parker.« »Meine Wenigkeit eilt, Mister zu informieren, McWarden Mylady«, versicherte der Butler und machte sich in würdevoller Haltung auf den Weg.
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