Mario Vötsch Organisieren von Freiheit
Mario Vötsch
Organisieren von Freiheit Nomadische Praktiken im Kulturfeld
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Mario Vötsch Organisieren von Freiheit
Mario Vötsch
Organisieren von Freiheit Nomadische Praktiken im Kulturfeld
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt mit Förderung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich | Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17284-2
Danksagung
Von all den Menschen, die direkt oder indirekt dazu beigetragen haben, dass dieses Buch entstehen konnte, möchte ich an dieser Stelle insbesondere Richard Weiskopf hervorheben, der von Beginn an ein prägender und unverzichtbarer Wegbegleiter gewesen ist. Er ist zugleich Wegbereiter jenes Forschungsprojekts, in dessen Rahmen der empirische Teil dieser Arbeit erstellt wurde (FWF-Projekt „Re-creating organization: Organizing work and the work of organizing as ethico-aesthetic practice – a theoretical and empirical study in new modes of organizing“, P19026-G11). Des Weiteren gilt mein ausdrücklicher Dank den Menschen in und rund um die p.m.k, allen voran Ulrike Mair, ohne deren Offenheit und Entgegenkommen die hier präsentierte Fallstudie nicht in dieser Weise hätte durchgeführt werden können. Ihnen will ich dieses Buch widmen.
Inhalt
1 EINLEITUNG ........................................................................................... 11 1.1 FREIRÄUME IN DER KULTUR ................................................................................... 12 1.2 AUFBAU UND ÜBERBLICK ...................................................................................... 16
2 NOMADISCHE PRAKTIKEN DER FREIHEIT: EINE THEORETISCHE WERKZEUGSKISTE .................................. 21 2.1 FREIHEIT ALS BEGRIFF ........................................................................................... 21 2.1.1 Ideal und Form der Freiheit ........................................................................ 21 2.1.2 Regierung und Praxis der Freiheit .............................................................. 24 2.2 FREIHEIT ALS ORGANISATION ................................................................................ 30 2.2.1 Poststrukturalistische Organisationstheorie ................................................ 30 2.2.2 Freiheit zwischen Ordnung und Organisation ............................................ 31 2.2.3 Freiheit im hybriden Kosmos ..................................................................... 37 2.2.4 Freiräume des Handelns ............................................................................. 41 2.3 PRAKTIKEN DER FREIHEIT ...................................................................................... 44 2.3.1 Nomadologie .............................................................................................. 44 2.3.2 Nomadische Praxis ..................................................................................... 51 2.4 FLUCHTLINIEN DER KRITIK .................................................................................... 64 2.4.1 Die Kunst, anders anders zu sein ................................................................ 64 2.4.2 Die Komposition der Existenz .................................................................... 66 2.5 DIE MACHT DER PRAXIS ........................................................................................ 74 2.5.1 Prozessontologie ......................................................................................... 74 2.5.2 Affirmation, Immanenz und Singularität .................................................... 75 2.5.3 Konstitution von Praxis .............................................................................. 78 2.5.4 Organisation als Komposition sozialer Kräfte ............................................ 81
3 DER FREIHEIT NACHGEHEN: PRAXIS UND PROZESS DES FORSCHENS ....................................... 85 3.1 METHODOLOGISCHER ZUGANG .............................................................................. 85
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Inhalt 3.1.1 Post-Positivismus ....................................................................................... 85 3.1.2 Epistemologie und politische Praxis ........................................................... 86 3.2 METHODOLOGISCHES DESIGN ................................................................................ 89 3.2.1 Das Untersuchungsfeld: Kulturarbeit und Kultursektor .............................. 89 3.2.2 Qualitative Feldforschung .......................................................................... 92 3.2.3 Material und Methoden .............................................................................. 93
4 KULTURARBEITER ORGANISIEREN SICH: DAS BEISPIEL P.M.K ............................................................................ 101 4.1 DIE PLATTFORM MOBILE KULTURINITIATIVEN ..................................................... 102 4.1.1 Akteure und Struktur ................................................................................ 102 4.1.2 Programm und Strategie ........................................................................... 104 4.2 DIE ENTFALTUNG DER P.M.K ................................................................................. 105 4.2.1 Kontext: Die p.m.k als Teil der freien Szene Innsbruck ............................ 106 4.2.2 Genealogie: Die Entstehung der p.m.k ....................................................... 110 4.3 DER ORT DER P.M.K .............................................................................................. 112 4.3.1 Ort der Präsentation .................................................................................. 113 4.3.2 Ort der Vermittlung .................................................................................. 114 4.4 DIE RÄUME DER P.M.K ......................................................................................... 115
5 DIE ENTFALTUNG VON HANDLUNGS(FREI)RÄUMEN: DIE WELT DER P.M.K .......................................................................... 119 5.1 KRAFTLINIEN UND FLUCHTLINIEN IM GESELLSCHAFTLICHEN GEFÜGE ................... 119 5.1.1 Ressourcen-Vakuum ................................................................................. 120 5.1.2 Bedürfnis und Bedarf nach Kultur ............................................................ 124 5.1.3 Repräsentations-Vakuum: „Kultur ist Arbeit“ .......................................... 126 5.1.4 Medienvakuum und Öffentlichkeit ........................................................... 128 5.1.5 Regionale Strukturen, Förderpolitik und Freundschaften ......................... 131 5.1.6 Kommerzialisierung und Homogenisierung des Kultursektors ................ 135 5.2 AKTEURE UND IHRE LEBENSWELTEN .................................................................... 138 5.2.1 Die Immanenz der Praxis ......................................................................... 139 5.2.2 Der Wert der Praxis .................................................................................. 154 5.2.3 Der Prozess der Praxis .............................................................................. 164 5.2.4 Die Effekte der Praxis ............................................................................... 173 5.2.5 Die Ressourcen der Praxis ........................................................................ 181 5.2.6 Der zweckfreie Raum der Praxis .............................................................. 186 5.2.7 Die Praxis des Frei-Räumens .................................................................... 190 5.3 ORGANISIEREN IN DER P.M.K ................................................................................. 192
Inhalt 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6
9 Etablierung von Passagen: Der Zugang zum Praxiskollektiv ................... Kanalisierung von Handlungsräumen: Einbringen und Rausziehen ......... Aktualisierung von Virtualität: Imagination durch Konnexion ................ Kohärenz und Renitenz: Relationen und Proportionen ............................. Divergente Bewegungen: Differenzen im Raum ...................................... Spielräume des Umgangs: Einlenken und Ausgleichen ............................
194 196 203 209 212 216
6 DIE MACHT ZUR FREIHEIT: DAS GEFÜGE DER P.M.K .................................................................... 225 6.1 MACHTVERHÄLTNISSE IN DER P.M.K ...................................................................... 225 6.1.1 Arbeitsteilung und Machtverteilung ......................................................... 226 6.1.2 Führung und Selbstführung ...................................................................... 232 6.1.3 Heterogenität und Kollektivität ................................................................ 234 6.1.4 Schwerpunkte und Anführer ..................................................................... 248 6.1.5 Politische Vereine und Kulturvereine ....................................................... 251 6.2 DIE MACHT DER MULTITUDE ............................................................................... 253 6.2.1 Die Generierung von Vielfalt ................................................................... 254 6.2.2 Die Integration aller Kräfte ....................................................................... 258 6.2.3 Die Macht der Wirkung ............................................................................ 263 6.2.4 Die Transformation von Affekten zu Effekten ......................................... 268 6.2.5 Die Konstruktion kollektiver Identitäten .................................................. 273 6.3 STRATEGIEN DES KOLLEKTIVS ............................................................................. 278 6.3.1 Momente einer Mission? .......................................................................... 279 6.3.2 Mehrwert durch Ereignisse? ..................................................................... 284 6.3.3 Mitspieler oder Spielball? ......................................................................... 287 6.3.4 Praxis ohne Ort? ....................................................................................... 291 6.3.5 Coda: Theorie ohne Praxis? ...................................................................... 294
7 CONCLUSIO .......................................................................................... 297 8 LITERATUR ........................................................................................... 303 9 ANHANG ................................................................................................. 315
1 Einleitung
Was heißt Freiheit? Diese Frage entspringt nicht nur den ältesten philosophischen Traditionen, sondern gehört auch seit je zu den Leitmotiven des geistesund sozialwissenschaftlichen Forschens. Man kann Freiheit im Wesentlichen aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten: einerseits als Ideal, normative Vorgabe und als zu erreichendes Ziel; andererseits als konkreten Vollzug, Einsatz und Gebrauch, als tägliche Praxis. Im einen Fall fragen wir nach einem abstrakten Konstrukt und dessen spekulativen Inhalten wie theoretischen Dimensionen; im anderen Fall geht es um die Praktiken der Freiheit und deren konkrete Bedingungen, Einschränkungen und Effekte. Im Feld der Organisationsforschung überwiegt in vielen theoretischen Ansätzen, besonders jenen, die auf klassische Traditionen der Betriebswirtschaft zurückgehen (Gutenberg 1979), der erste Zugang zum Thema. Demnach zeichnen sich Organisationseinheiten – soziale Kollektive, Unternehmen, Staaten, Institutionen – durch Strukturen aus, in denen Freiheit entlang vorgegebener Hierarchien als erwünschtes Ordnungsprinzip oder aber als ungeplantes Nebenprodukt zur Entfaltung kommt. Nicht selten geraten Organisation und Freiheit gar zu Gegensätzen, wobei das eine als Einschränkung und Limitierung des anderen gilt. Insbesondere bei kritischen Ansätzen, wie etwa jenen der Frankfurter Schule (Adorno 1953), gilt die Einschränkung von Freiheit oft als Preis, den eine Organisation abverlangt. In jüngeren, neoliberalen Diskursen (Peters 1992) werden Organisationen häufig als Zerrbild einer die Freiheit begrenzenden und hemmenden Bürokratie dargestellt. Freiheit wird gefeiert zulasten der Organisation und kommt zur Entfaltung im Ideal der post-bürokratischen Organisation (Maravelias 2009). Dennoch sehen Kritiker1 gerade darin eine neue Form von Machtkonstellation, die durch die Modulation und Vereinnahmung der allumfassenden Subjektivität von Arbeitern eine neue, indirekte Form von Unfreiheit schafft (Willmott 1993). Dies drückt sich aus in einer Reihe emanzipatorischer Appelle: Entscheide selbständig! Handle unabhängig! Mache dich frei! Behaup1
Da es in der deutschen Sprache Bezeichnungen und Begriffe gibt, die nicht geschlechtsneutral sind, versuche ich im Folgenden, diese so gut es geht zu vermeiden. Sollten fallweise dennoch „männliche“ Formen verwendet werden, so erfolgt dies aus Gründen der Lesbarkeit. Das „weibliche“ Geschlecht ist in solchen Fällen selbstverständlich inkludiert und „mitzudenken“.
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Einleitung
te dich! Strebe gegen die Massen! Wähle das Besondere! Solche angeordneten Freiheitsimperative sind von der Paradoxie durchdrungen, das zu regeln, was zuvor als Tugend der Regellosigkeit hochgehalten wurde. Sie entfalten sich meist inmitten vordefinierter Rahmenbedingungen, die einen bestimmten Gebrauch von Freiheit zu dirigieren versuchen. Wir schlagen dagegen eine andere epistemologische Richtung ein und fragen nicht nach den Idealen oder Vorgaben der Freiheit, sondern nach ihrer Praxis. Aus dieser nahezu diametralen Perspektive ergründen wir die Form anstelle des Inhalts – also weniger das, was Freiheit ist oder sein könnte, sondern wie sie sich artikuliert. Gleichzeitig bringt dieses Wie auch Fragen nach dem Wer, Wo und Warum mit sich. Wo, innerhalb welcher Räume, Orte und Begebenheiten zeigt sich Freiheit als alltägliche Praxis? Was tun Menschen, um Handlungsfreiräume schaffen, bewahren oder vergrößern zu können? Aus welchen Gründen tun sie dies? Wie organisieren sie sich und andere, um Freiheit zuzulassen? Wie lässt sich Freiheit innerhalb organisationaler Netzwerke und sozialer Kollektive denken? Wie wird sie regiert, wie geführt? Welche Verfahren, Mechanismen und Strategien werden dabei wirksam? Das ist nur ein Auszug jener Fragen, welche die vorliegende Arbeit leiten werden. Sie zielen nicht auf eine Definition von Freiheit, sondern auf die Beschreibung und Untersuchung ihrer praktischen Ausübung. Auch geht es in all diesen Fragen nicht um eine vorgegebene Ordnung, aus der heraus Freiheit bestimmt wird, vielmehr um eine sich entfaltende Organisation, durch die sie erst möglich wird. Dementsprechend gilt es, Organisation anstatt als fertig geformte Einheit als ein komplexes Gefüge zu verstehen, ein Gefüge, das vielfältige Praktiken des Organisierens hervorbringt, über die Freiheit Form annimmt. Diese Form ist nicht mehr von außen aufgezwungen, sie konstituiert sich von innen heraus. Folgt man diesem Verständnis, dann verkörpert Organisation kein transzendentales Prinzip, sondern einen immanenten Modus. Organisieren, verstanden als konstitutive Praxis, wird zum radikal offenen Prozess, der sich aus aktiven Kräften generiert.
1.1 Freiräume in der Kultur Die vorliegende Arbeit verfolgt zwei Zielsetzungen, eine theoretische und eine empirische. Theoretisch gilt es, anhand empirischen Materials die Praktiken der Freiheit konsistent zu erfassen und daraus eine Topologie von nomadischen Praktiken herauszuarbeiten. Damit kann zum einen ein konzeptioneller Beitrag zur sozialwissenschaftlichen, insbesondere organisationstheoretischen Forschung geleistet werden. Zum anderen dienen die konzeptualisierten Praktiken dazu, ein
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Verständnis von Organisation zu forcieren, das entlang einer Kompositionsebene anstatt einer Ordnungsebene verläuft (Hardt 2002, Holland 2006). Eine solche Ebene wird in der Organisationsforschung vor allem mit poststrukturalistisch inspirierten Ansätzen argumentiert, die sich vor dem Hintergrund veränderter Arbeits- und Organisationswelten ansiedeln (Chia 1996, Cooper 1990, Cooper & Burrell 1988, Ortmann 2003, Weiskopf 2002). Exotisch anmutende Konzepte wie das Rhizom (Chia 1999, Styhre & Sundgren 2005) oder das Gefüge (Cooper 1998, DeLanda 2006a) deuten an, welch neue Wege aus dieser Forschungsrichtung heraus möglich sind. Diese beiden theoretischen Dimensionen – Praktiken der Freiheit einerseits und das Organisieren von Freiheit andererseits – implizieren eine kritische Auseinandersetzung mit den Kategorien Macht und Subjekt (Foucault 1994). Einer poststrukturalistischen Lesart folgend, gehen wir davon aus, dass Freiheit keinen autonomen Machtvollzug darstellt. Demnach ist das Subjekt als Gefüge zu denken, das aus hybriden Faltungsprozessen stets neu geformt wird. Dieses Gefüge wiederum konstituiert sich nicht durch das Zusammenwirken autonomer Positionen, sondern durch das hybride Ineinandergreifen unterschiedlicher Dimensionen (Latour 1986). Freiheit, so eine zentrale These dieser Arbeit, ist folglich nur mehr im Sinne einer Hybridisierung zu erfassen, als hybride Kategorie, durch die herkömmliche Gegensatzpaare wie Macht vs. Machtlosigkeit, Subjektivität vs. Unterwerfung oder Zwang vs. Konsens an Bedeutung verlieren. Besonders klar zeigt sich diese Hybridisierung gegenwärtig an der Konstruktion des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007). Das Subjekt des neuen Geists des Kapitalismus (Boltanski & Chiapello 2006) bestimmt seine Freiheit und Identität nicht nur selbst – es ist dazu verpflichtet (Rose 1999). Vor diesem Hintergrund geben uns vielleicht gerade nomadische Praktiken einen Hinweis darauf, was es bedeutet, zwischen Regulation und Kritik, Anstreben und Widerstreben, Ordnung und Organisation, andere Formen der Existenz zu generieren. Der dargelegte konzeptionelle Rahmen wird durch empirische Befunde aus der Arbeitswelt von Kulturschaffenden exemplarisch veranschaulicht. Nun könnten nahezu alle gesellschaftlichen Praxisfelder als empirischer Forschungsbereich für die Praktiken der Freiheit dienen, da diese weder einen spezifischen Ort haben noch von irgendeiner Rahmung des sozialen Handelns a priori auszuschließen sind.2 Mehrere Gründe geben jedoch den Ausschlag dafür, dass ich meine Fragestellung im Feld der Kulturschaffenden ansiedle. Zum einen sind dies persönliche Motivationen, die aus einer Fülle prägender Erfahrungen und 2
Letzteres wäre nur dann vorstellbar, wenn gesellschaftliche Praxis, anstatt von Macht durchdrungen zu sein, durch und durch von Herrschaft (fremd)bestimmt wäre und daher keine Möglichkeiten für das Schaffen von Handlungsfreiräumen bieten würde (vgl. Foucault 1993a: 11).
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Einleitung
Begegnungen innerhalb der Welt des kulturellen Schaffens resultieren. Zum anderen arbeite ich seit längerer Zeit in einem Forschungsprojekt, in dem die Arbeits- und Organisationspraktiken von Kulturschaffenden untersucht werden und dessen Ziel es ist, dieses empirisch bislang wenig ergründete Feld exemplarisch zu erhellen.3 Schließlich ist es aber auch die wissenschaftliche Relevanz, die dem Kultursektor heute zugesprochen wird. Denn inmitten der vielfältigen Arbeits- und Organisationswelten gibt es gegenwärtig wohl kaum einen Bereich, dem auf intellektueller wie wissenschaftlicher Ebene eine solch kritische Aufmerksamkeit zuteil wird wie dem Kultursektor. Nicht selten werden Kulturschaffende als paradigmatische Vorreiter einer neuen Arbeitswelt prognostiziert (Virno 2005), als exemplarische Vertreter einer um sich greifenden Projektgesellschaft diagnostiziert (Boltanski & Chiapello 2006) oder als neue „Helden der Arbeit“ (Mayerhofer 2003) ironisiert. Dies ist nicht der Ort, um die diskursanalytischen, konzeptionellen und programmatischen Diskussionen rund um das Feld der Kulturarbeit aufzugreifen. Vielmehr interessiert mich dessen empirische Realität. Ich werde die Praktiken der Freiheit anhand von Akteuren untersuchen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie im weitesten Sinne im Feld der Kultur arbeiten.4 Am konkreten Beispiel einer Veranstaltungsplattform aus der freischaffenden Kulturszene der Stadt Innsbruck soll gezeigt werden, wie sich unterschiedliche Vereine, Initiativen und Gruppierungen im Rahmen einer übergreifenden Identität organisieren und einbringen. Ziel ist es, ein möglichst breites Spektrum des kulturellen Schaffens zu erhalten, um die Relationen, Abhängigkeiten und nicht zuletzt jeweiligen Handlungsfreiräume der Akteure anschaulich zum Ausdruck zu bringen. Anhand welcher Praktiken geben die Akteure ihrer Freiheit eine Form? Wie organisieren sie sich und welche Relationen kommen dabei zum Vorschein? Was heißt es, in Projekten und über Netzwerke zu arbeiten? Welche Bedeutung nehmen Aktivitäten wie Koordination, Kommunikation und Kooperation dabei ein? Diese Fragen zeigen bereits, dass Kategorien wie Kultur und Arbeit zunächst unterdefiniert bleiben müssen. In Anbetracht der Pluralisierung von Arbeits- und Lebenswelten wäre es denn auch wenig sinnvoll oder möglich, kulturelles Schaffen entlang verbindlicher Definitionskriterien zu erfassen. Folglich beanspruchen die aus dem Untersuchungsfeld gewonnenen Erkenntnisse weder empirische Repräsentativität noch den Status einer normativen Theorie. Vielmehr sollten sie ihren
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Re-creating organization: Organizing work and the work of organizing as ethico-aesthetic practice – a theoretical and empirical study in new modes of organizing (FWF P19026-G11). Der Feldbegriff wird hier rein deskriptiv verwendet, nicht argumentativ. Zur Begriffsbestimmung von Kulturarbeitern vgl. 3.2.1.
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Zweck in der exemplarischen Darstellung einer theoriegeleiteten Argumentation finden, in einer Konzeption von Freiheit also, die ihrer Praxis gerecht wird. Aus der theoretisch-empirischen Zielsetzung erschließt sich die leitende Forschungsfrage: Durch welche Praktiken und Organisationsformen schaffen sich Kulturarbeiter Handlungsfreiräume? Dies ist zunächst eine Fragestellung theoretischer Natur: Es geht um eine gegenstandsbezogene Theorieentwicklung, die versucht, aus empirischen Beobachtungen Formen einer Freiheitspraxis zu begründen.5 Die empirischen Ergebnisse dienen nicht der systematischen Analyse von Kulturarbeit, auch nicht der Überprüfung einer vordefinierten Hypothese. Dass es um keinen repräsentativen Zugang zum Kultursektor gehen kann, zeigt allein die Problematik des inflationären Gebrauchs von Begriffen wie Kultur und Arbeit. Es mag nicht überraschen, wenn in gegenwärtigen Diskursen die Kategorie Kulturarbeit als übergreifende diskursive Formation Gestalt annimmt, die als Effekt aus den teils parallelen, teils gegenläufigen Transformationsprozessen der Ökonomisierung von Kultur sowie der Kulturalisierung von Ökonomie hervorgegangen ist (Bröckling et al. 2000). Kulturarbeit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie nicht mehr über vordefinierte Orte, Techniken und Inhalte zu kategorisieren ist – vielmehr werden die Begriffe Kultur und Arbeit heute als polyvalente Kategorien in unterschiedlichsten Diskursen und auf je unterschiedliche Weise kontextualisiert und materialisiert. Nach den Freiheitspraktiken im Kultursektor zu fragen heißt daher immer auch, die unmittelbare Eingebettetheit von Kulturarbeitern in jeweils spezifische sozio-ökonomische Macht-WissensDispositive zu erfassen. Ähnliches gilt für die Kategorie der Freiheit. Bei der Frage, wie Handlungsfreiräume in der Kultur organisiert werden, kann es nicht um die repräsentative Erfassung eines empirischen Phänomens gehen. Freiheit ist keine Kategorie, die sich quantitativ messen ließe, schlicht schon deshalb, weil sie als messbare Größe nicht existiert. Sie muss daher aus dem jeweiligen Handlungskontext heraus entwickelt, also explizit und operationalisierbar gemacht werden. Schließlich 5
Diese generative Ausrichtung zeigte sich auch im Prozess des Forschens. So hat sich meine Fragestellung im Verlauf des Forschungsprozess tendenziell konkretisiert und verschoben. Stellte sich eingangs noch die allgemeine Frage der Regierung von Freiheit, so wurde dieser Horizont unter dem Bezugspunkt des Organisierens deutlich eingegrenzt auf das Schaffen von Handlungsfreiräumen. Die Anwendung auf den Bereich des Kultursektors war hingegen eine Prämisse der ersten Stunde. Nichtsdestotrotz, in ihrer finalen Ausformulierung ist die Fragestellung weniger der Ausgangspunkt denn vielmehr das Ergebnis des Forschungsprozesses, also weniger hypothetisch denn vielmehr generativ. Strauss definiert generative Fragen als solche, „die bei der Forschungsarbeit sinnvolle Richtungen aufweisen; sie führen zu Hypothesen, nützlichen Vergleichen, zur Erhebung bestimmter Datentypen und sogar dazu, dass der Forscher auf möglicherweise wichtige Probleme aufmerksam wird“ (Strauss 1994: 50).
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Einleitung
kommt Freiheit keineswegs schon überall als solche zur Sprache, unabhängig davon, ob sie praktiziert wird oder nicht. Gewiss, unsere Fragestellung würde dann als Tatsachenfrage (Giddens 1999: 580) gelten, wenn wir etwa ausschließlich nach den Lebensverhältnissen und Arbeitsumständen von Kulturarbeitern fragten, also konkrete Einkommensund Ausbildungsverhältnisse, Arbeitsbedingungen, Tätigkeitsbereiche und Ähnliches erfassen würden. Wieder eine andere Problemstellung wäre es hingegen, Freiheit normativ zu definieren und darauf aufbauend historische oder vergleichende Studien durchzuführen. All diese negativen Abgrenzungen verweisen lediglich auf die spezifische Natur unserer Fragestellung sowie deren Erfordernisse. Die Generierung einer empirisch unterlegten Konzeption von Freiheitspraktiken bedarf nämlich einer Reihe von Beobachtungsdimensionen, aus denen heraus sie sich entwickelt. Das sind zum einen phänomenologische Dimensionen, welche die Lebenswelten und das Selbstverständnis der Akteure rekonstruieren; zum zweiten deskriptive Dimensionen, die das Handeln der Akteure und die Konstitution ihrer Praxis beschreiben; schließlich explorative Dimensionen, mit denen der Handlungszusammenhang eines Gefüges als ontologische Form des Organisierens begriffen wird. Erst mit diesen Dimensionen kann gezeigt werden, wie, wodurch und warum Kulturarbeiter die Entfaltung von Handlungsmöglichkeiten anstreben; erst mit ihnen lassen sich die Sinnwelten und Bedeutungszusammenhänge ergründen, aus denen ihre Praxis hervorgeht; und erst dann kann sinnvoll gefragt werden, wie sich Kulturarbeiter Handlungsfreiräume schaffen.
1.2 Aufbau und Überblick Die Arbeit gliedert sich grob in zwei Hauptteile. Im ersten Teil wird ein theoretischer Rahmen für die Konzeption von Freiheitspraktiken gelegt (Kapitel 2), im zweiten Teil führen wir die Ergebnisse einer Fallstudie als exemplarische Darstellung an (Kapitel 4, 5 und 6). Dazwischen stellen wir unseren methodologischen Zugang sowie die angewandten Methoden vor (Kapitel 3). Abschließend gilt es, ein Resümee aus den theoretischen und empirischen Ergebnissen zu ziehen und einen Ausblick für weitere Forschungsfragen zu entwerfen (Kapitel 7). Ziel des theoretischen Rahmens ist es zunächst, ein Verständnis von Freiheit zu konzeptionalisieren, das entlang der Praktiken des Organisierens funktioniert. Zunächst diskutieren wir den Begriff der Freiheit auf einer allgemeinen
Aufbau und Überblick
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Ebene (2.1).6 Indem wir zwischen Ideal und Form differenzieren, zeigen wir die Unterschiede eines normativen im Gegensatz zu einem praxiologischen Freiheitsverständnis auf. Letzteres erlaubt es, Freiheit als produktiven Modus zu begreifen, der sich aus konkreten Machtrelationen entfaltet. Daraus leiten wir zwei Möglichkeiten der Freiheitsanalyse ab: auf der einen Seite die dispositive Regulierung von Freiheit, ihre Regierung, auf der anderen Seite die konstitutive Entfaltung von Freiheit, ihre Praxis. In einem nächsten Schritt ist zu untersuchen, wie die Kategorie Freiheit in der Organisationsforschung konzeptionalisiert wird, wobei wir unseren Zugang in poststrukturalistischen Ansätzen verorten (2.2). In vielen organisationstheoretischen Traditionen überwiegt ein Freiheitsverständnis, das sich aus einer bestimmten Ordnung heraus ableitet und folglich die Freiräume des Handelns entweder neutralisiert oder ignoriert. Diesen Zugängen liegt die Vorannahme zugrunde, Organisationen wären gegebene Einheiten, Objekte mit vorgezeichneten und nachvollziehbaren Konturen sowie einer relativ festgelegen Identität. Freiheit ergibt sich dabei geplant oder zufällig, idealerweise oder unerwünscht, ergibt sich also als Effekt. Wir fragen hingegen nicht nach den Freiheitseffekten, sondern nach ihren Praktiken.7 Es gilt, Freiheit als individuelle Disposition des Subjekts zu denken, die sowohl von innen wie von außen generiert wird und damit eine tendenzielle Hybridisierung im Widerstreit unterschiedlicher Kraftlinien erfährt. Vor diesem Hintergrund ermöglicht die Actor-Network-Theory, Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit als Effekte einer zu Grunde liegenden Handlungsdimension zu begreifen. Darauf aufbauend werden die Praktiken gemäß ihrer Ausrichtung in Taktiken und Strategien unterschieden, die sich aus ihrer Relation zu Ort und Eigentum bestimmt. Schließlich fragen wir, wie Akteure versuchen, ihre Freiheitsmacht auszuweiten oder aber die Bemächtigung, die sich von anderen als den selbst generierten Kräften auf ihre Praxis niederschlägt, einzugrenzen. Wie konstituieren sie ein Kräftefeld, einen Freiraum, in dem sie weitestgehend aus eigenem Antrieb handeln und agieren können? Unter der Kategorie Nomadologie stellen wir eine Topologie von Praktiken vor, die erlauben sollte, das Streben nach Handlungsfreiräumen zu erfassen (2.3). Wesentlicher Bezugspunkt hierfür sind die Arbeiten von Gilles Deleuze und Félix Guattari, denen zufolge sich nomadische Praktiken dadurch auszeichnen, 6
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Nicht nur aus Gründen der Zeichenökonomie, sondern auch aus konzeptionellem Anlass werden textinterne Verweise lediglich durch die entsprechende Ziffernfolge des adressierten Kapitels angeführt. Dies hat gerade in den empirischen Abschnitten seine Berechtigung, als hier unzählige rhizomatische Querverbindungen stattfinden (vgl. Deleuze & Guattari 1977a). Wenngleich wir Freiheitspraktiken als Praktiken des Organisierens erforschen, so wären eine Reihe anderer Untersuchungsdimensionen ebenso möglich: Praktiken des Alltags, des Konsumierens, des Protestierens etc. (vgl. de Certeau 1988).
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Einleitung
dass sie nicht nach privatem Eigentum oder territorialem Besitztum streben. Gefördert und aufrecht erhalten werden soll kein materielles Prinzip, sondern ein immaterielles: eine Gemeinschaft, ein Handlungs- und Bewegungsspielraum, ein Kommunikationsnetzwerk, kurz: eine bestimmte Art des Denkens und Lebens, eine bestimmte Form sozialer Praxis. Im Rahmen dieser Topologie greifen wir auch die Parasitologie auf, ohne sie im Detail zu diskutieren. Sie zeigt, wie sich Praktiken aus der Subversion und Transformation einer gegebenen Ordnung entfalten. Diese parasitäre Logik funktioniert entlang von drei wesentlichen Prinzipien: Praxis definiert sich als unterwandernde Teilnahme, als störender Eingriff oder aber als schöpferische Transformation. Die Nomadologie zeigt auf, dass Freiheitspraktiken nie als autonome Vollzüge erfolgen, vielmehr sind sie eingebettet in konkrete soziale Bezüge. Praxis findet nicht in luftleeren, reibungslosen Räumen statt, sondern in machtbesetzten, widerständigen Kontexten. Welche Fluchtlinien der Kritik sind daraus möglich? Bleiben sie lose und beliebig oder können sie sich in einer Form artikulieren, die erlaubt, eine kohärente Lebensweise daraus abzuleiten? Wir werden daher sowohl die Ambivalenzen als auch die Möglichkeiten einer ethischästhetischen Subjektkonstitution diskutieren, die nomadische Freiheitspraktiken mit sich bringen (2.4). In einem letzten Schritt sind die Konsequenzen zu erörtern, die sich aus dem dargelegten Freiheitsverständnis für die Fragen der Organisation und des Organisierens ergeben. Solange Organisation als Ordnung verstanden wird, kann Freiheit nur als systematischer Teil ebendieser Ordnung oder als deren latentes Problem kontextualisiert werden. Stattdessen zeigen wir, wie sich Freiheit von unten konstituiert und plädieren für ein ontologisches Verständnis des Organisierens (2.5). Dafür benötigen wir philosophische Kategorien wie Affirmation, Immanenz und Singularität, durch die sich Organisation als Werden denken lässt. Die Ontologie von Gilles Deleuze bietet schließlich den geeigneten Rahmen, um Organisieren als konstitutive Praxis zu verstehen. Mithilfe der ontologischen Unterscheidung zwischen Kompositionsebene und Ordnungsebene diskutieren wir ein Verständnis von Freiheit, das durch Organisation Form annimmt. Dieser theoretische Rahmen bietet die Voraussetzung für den empirischen Teil (Kapitel 4, 5 und 6), in dem anhand einer Fallstudie eine deskriptive Freiheitsanalyse vorgenommen wird. Wir erfassen die Formen und Praktiken des konkreten Freiheitsvollzugs ebenso wie seine Orte und Techniken. Dabei greifen wir jedoch nicht auf ein normatives Konzept zurück, denn wenn es um Freiheit als Erfahrung und nicht als vorgedachte Idee geht, dann kann unser theoretischer Rahmen nicht mehr sein als eine methodologische Werkzeugkiste. Zweifellos, auch durch diese Werkzeuge rahmen wir unseren Zugang zur beobachteten Realität mit einem bestimmten theoretischen Vorverständnis, allerdings bleibt diese
Aufbau und Überblick
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Rahmung immer offen für empirische Theoriegenerierungen. Theorie und Praxis bleiben so stets aufeinander bezogen. Nach der Vorstellung unseres methodologischen Zugangs (3.1) und Designs (3.2) zeigen wir die äußerlichen Eckpunkte unseres Fallbeispiels auf. Es handelt sich dabei um eine Veranstaltungsplattform aus der freien Kulturszene Innsbruck. Wir untersuchen zunächst, wer die Akteure sind und wie die Plattform strukturiert ist (4.1); sodann, aus welchem sozio-kulturellen Kontext deren Praxis hervorgegangen ist und wie sie sich darin entfaltet hat (4.2); schließlich, welche Funktionen und Aufgaben die Plattform als Ort des kulturellen Schaffens zu erfüllen beansprucht (4.3). Dieses Porträt endet mit einer kleinen Phänomenologie des Namens, den das Kollektiv für sich gewählt hat: „Plattform Mobile Kulturinitiativen“ (p.m.k). Dabei beschreiben wir, wie der Ort – die Plattform – als Raum zu denken ist (4.4). Im nächsten Abschnitt rekonstruieren wir die Welt der p.m.k. Einleitend stellen wir das Kollektiv als Teil eines gesellschaftlichen Gefüges dar und untersuchen, welche Kraftlinien und Fluchtlinien seine Praxis prägen (5.1). Anschließend versuchen wir, die konkreten Lebenswelten der Akteure nachzuvollziehen. Wir fragen, was die Menschen über die Welt denken, in der sie handeln und welche Bedeutung sie dabei ihrem Tun beimessen (5.2). Dieser phänomenologischen Dimension folgt eine deskriptive Dimension, in der wir beschreiben, wie die Menschen ihr Handeln organisieren. Wie schließen sie sich zusammen, wie vernetzen sie sich, bereichern sich, kommen überein und kontrollieren einander? Die Beschreibung der beobachteten Organisationspraktiken ermöglicht Rückschlüsse auf die Konstitution des Gefüges und erlaubt es, das Streben nach Handlungsfreiräumen zu dimensionalisieren (5.3). Im letzten Abschnitt analysieren wir schließlich die Dynamiken, Prozesse und Relationen, die sich aus dem kollektiven Handlungszusammenhang der p.m.k ergeben. Dies sind zum einen die Machtverhältnisse unter den Akteuren, wie sie sich in der Arbeitsteilung, den Führungstechniken und den Praxisausrichtungen materialisieren (6.1). Zum zweiten thematisieren wir die Konstitutionsbedingungen der Multitude, jenes kollektiven Subjekts, in dem die Vielheit als Vielheit fortbesteht (6.2). Zum dritten fragen wir auch nach den Bedingungen, unter denen von einer Strategie des Kollektivs gesprochen werden kann (6.3). In all diesen Dimensionen tun sich Möglichkeiten für individuelle wie kollektive Handlungsfreiräume auf. Die Praxis der Akteure ist eingebettet in einen offenen Entfaltungszusammenhang, dessen Ambivalenz gleichwohl darin liegt, dass die Bewegungen der Formgebung und Gestaltwerdung stets oszillieren zwischen den Ebenen der Komposition und Ordnung.
2 Nomadische Praktiken der Freiheit: Eine theoretische Werkzeugskiste
2.1 Freiheit als Begriff 2.1.1 Ideal und Form der Freiheit Freiheit ist eine omnipräsente Kategorie. Implizit oder explizit, vieldeutig oder klar umgrenzt, stellt sie einen zentralen Begriff der gegenwärtigen Zeitläufte dar. Egal ob in politischen, ökonomischen oder kulturellen Kontexten – kaum eine Frage, kaum ein Problem, kaum ein Gesetz, das nicht mit dem Thema der Freiheit verknüpft wäre. Dabei wird Freiheit politisch wie sozial häufig zu einem der elementarsten Werte unserer gesellschaftlichen Verfassung erhoben, sie steht im Brennpunkt der Debatten um eine Ausweitung oder Einengung des ökonomischen Marktprinzips und ist vor dem Hintergrund zunehmender globaler Bedrohungspotentiale wie Terrorismus oder Weltklima zu einem der am heißesten umkämpften Terrains öffentlicher Diskurse geworden. Doch all das ist nur die eine Seite der Medaille: Freiheit als Ideal, Freiheit als normative Vorgabe, Freiheit als Phrase, Vorwand und Ziel. Nicht selten verkommt Freiheit dabei zum rhetorischen Allgemeinplatz, der inhaltlichen Beliebigkeit preisgegeben, denn mit der Offenheit eines normativen Begriffes steht immer auch seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Es ist daher, so könnte man warnend einlenken, nicht nur die drohende Beliebigkeit dieses Ideals, sondern mindestens ebenso die Gefahr seiner Instrumentalisierung, die eine erhöhte Sensibilität und Urteilskraft im Umgang mit dem Begriff der Freiheit nahe legen. Die andere Seite der Freiheit – das ist nicht ihr theoretischer Begriff, sondern ihr praktischer Vollzug, ihre konkrete Form. Gefragt wird hier nach der Praxis von Freiheit, nach ihren konkreten Bedingungen, Einschränkungen und Effekten. Diese Perspektive versteht Freiheit als ethisch-ästhetisches Handlungsprinzip, nicht als normatives Konzept. Sie setzt einen produktiven Freiheitsbegriff voraus, der sich innerhalb von Machtgefügen entfaltet (Deleuze 1992) oder aber von Machtdispositiven produziert und regiert wird (Foucault 1995). Die Differenzierung zwischen entfalteter und produzierter Freiheit ist indes lediglich eine methodische, keine ontologische. Sowohl bei Deleuze als auch bei Foucault
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Nomadische Praktiken der Freiheit
geht es jeweils um konkrete Möglichkeiten von Freiheit, bloß ist die Perspektive, von der aus beide Autoren das Problem behandeln, eine jeweils andere (Hardt 2002: 121). Während Foucault anhand von diskursiven Formationen, Wissensordnungen, Wahrheitsregimen und Dispositiven fragt, wie Freiheit von oben strukturiert wird, untersucht Deleuze – und sehr wohl auch der „späte“ Foucault – anhand von Fluchtlinien und Gefügen, wie sich Freiheit von unten konstituiert. Im einen Fall geht es um eine bestimmte Ordnung, aus der heraus sich Freiheit bestimmt, im anderen um eine Organisation, durch die sie Form annimmt. Hier wird Freiheit als Ordnungsdispositiv, da als Organisationsmodus diskutiert. Bezogen auf diese Differenzierung zwischen einem normativen und einem praxiologischen Freiheitsbegriff überwiegt in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen der normative Zugang. Dies ist etwa der Fall, wenn es um die historisch-systematische Frage geht, ob die heutige gesellschaftliche Verfassung den bislang höchsten Freiheitsgrad in der menschlichen Geschichte und somit ein spekulatives Endziel menschlichen Fortschritts erreicht hat (Fukuyama 1992).8 Oder wenn Freiheit auf jener philosophisch-anthropologischen Ebene diskutiert wird, auf der sie sich konträr zum Determinismus positioniert (Bloch 1969). Beides sind Beispiele einer normativen Setzung von Freiheit, in der ein universelles Ideal, ein Wert an sich, begründet und entsprechend verschiedener Denktraditionen idealistisch, empiristisch, marxistisch oder existentialistisch, um nur einige Richtungen zu nennen, konzeptionalisiert wird. Ihnen ist die Gefahr eines essentialistischen Freiheitsverständnisses inhärent, dessen formalen wie inhaltlichen Grenzziehungen jeglichen historischen und sozio-ökonomischen Kontext ausblenden.9 Es sind normative Setzungen von Freiheit, die universalisierend, homogenisierend und nicht selten totalisierend funktionieren. Seltener zur Anwendung kommt dagegen das praxiologische Freiheitsverständnis (Foucault 8
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Foucault etwa lehnt eine solche Vorstellung, wonach Freiheit eine Universalie wäre, die graduell realisiert oder in quantitativen Variationen existieren würde, entschieden ab: „Freedom is never anything other – but this is already a great deal – than an actual relation between governors and governed, a relation in which the measure of the ‘to little’ existing freedom is given by the ‘even more’ freedom demanded“ (Foucault 2008: 63). Freiheit bestimmt sich Foucault zufolge also als relationales Verhältnis zwischen den Subjekten und den Wahrheitsregimen, durch die sie regiert werden. Dabei sind selbst die impliziten Differenzierungen schon problematisch, etwa jene zwischen formaler Freiheit (Handlungsfreiheit durch Unabhängigkeit von Fremdbestimmung) und inhaltlicher Freiheit (Willensfreiheit durch Selbstbestimmung). Aus poststrukturalistischer Sicht sind solche Trennlinien nur schwer aufrecht zu halten. So zeigt Foucault etwa anhand der Gouvernementalität des Liberalismus, dass es wenig Sinn macht, die Quantität von Freiheit zwischen einzelnen Systemen zu vergleichen, weil Freiheit immer in Relation zu sozio-historischen Wahrheitsregimen bestimmt wird. „And we do not see what type of demonstration, what type of gauge or measure we could apply“ (Foucault 2008: 63f.).
Freiheit als Begriff
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1993a). Dabei geht es weder um eine Geschichte der philosophischen, soziologischen oder psychologischen Konzeptionen von Freiheit noch um deren metaphysischen, ontologischen, historisch-teleologischen oder anthropologischen Dimensionen. Im Fokus steht vielmehr die Frage, unter welchen Bedingungen, Konstellationen und Relationen Freiheit in der Praxis zur Entfaltung kommt. Die beiden skizzierten Zugänge können auch grob als negative und positive Freiheit gedacht werden. Im einen Falle geht es um „freedom as ideal, as articulated in struggles against particular regimes of power“ (Rose 1999: 64). Freiheit wird dabei zum ideellen Vehikel eines Befreiungskampfes, der gegen eine repressive Herrschaft, gegen Diktatur und Unterdrückung, gegen Zwang, Abhängigkeit und dergleichen geführt wird. Im anderen Fall hingegen verstehen wir „freedom as a mode of organizing and regulation: freedom here as a certain way of administering a population that depends upon the capacities of free individuals“ (ebd.). Während die negative Konzeption Freiheit als (noch) unerreichtes normatives Ideal begreift, in dessen Namen ein gegebener Zustand überwunden oder bekämpft werden soll, setzt die positive Konzeption Freiheit als inhärente Disposition menschlichen Handelns an, über deren konkrete Ausformung die jeweiligen sozio-ökonomischen Verhältnisse entscheiden. Im negativen Fall geht es um Widerstand, im positiven um Macht.10 Ersteres bezeichnet die Freiheit von, letzteres die Freiheit zu. Wenn Freiheit als Korrelat von Machtverhältnissen begriffen wird und ihr Vollzug immer auch eine Ermächtigung und Bemächtigung darstellt, dann ist gleichzeitig nach der zugrundeliegenden Konzeption von Macht zu fragen. Dabei folge ich dem Machtverständnis von Foucault (1995), welches sich nicht in einer allgemeinen Theorie niederschlägt, sondern sein gesamtes theoretisches Schaffen durchzieht, von den Anfängen der Archäologie über die Genealogie bis hin zu den späteren Analysen der Gouvernementalität und Biomacht. Macht ist für Foucault immer präsent, mehr noch, sie ist unvermeidbar. Sie kann nicht statisch gedacht werden, sondern nur prozessual. Und sie ist produktiv, insofern sie Freiheit voraussetzt – ansonsten hätten wir es mit bloßer Herrschaft oder Beherrschung zu tun. Mit diesem Machtverständnis grenzt sich Foucault sowohl von klassischen juridischen Legitimationstheorien11 als auch von institutionellen
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Rose unterscheidet „freedom as a formula of resistance from freedom as a formula of power. Or rather, to be more circumspect, between freedom as it is deployed in contestation and freedom as it is instantiated in government“ (Rose 1999: 65). Angeführt seien die klassischen Vertragstheorien von Locke, Hobbes und Rousseau, aber auch jüngere Konzeptionen wie jene von Habermas, in denen es durchgängig um die Frage geht, wer Macht wie und wodurch legitimiert. Foucault will durch seine Abgrenzung von solchen Legitimationstheorien diese nicht als nutzlos verstanden wissen, „but only that a theory of the legi-
Nomadische Praktiken der Freiheit
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Modellen ab, die fragen, was der Staat ist und welche Bedeutung etwa dem Recht zukommt.12 Während andere Theoretiker Macht unter dem Ziel einer bestmöglichen Regierung diskutieren, untersucht Foucault, wie regiert wird. Damit wendet er sich gegen normative Konzeptionen, die statisch, universell und ahistorisch sind und weder die Strukturen der Macht noch deren Dynamik und Prozesse entsprechend erfassen. „Statt die Macht von ihrer inneren Rationalität her zu analysieren, heißt es, die Machtverhältnisse durch den Gegensatz der Strategien zu analysieren“ (Foucault 1994: 245). Der Macht zentral ist also eine produktive Dimension, die sich am deutlichsten darin zeigt, dass Macht Freiheit nicht bekämpft, sondern überhaupt erst voraussetzt (Rose 1999). Sie setzt die Fähigkeit des Individuums voraus, aus Freiheit zu handeln und eröffnet ein Spektrum an praktischen und ethischen Möglichkeiten (Arendt 2003). Damit sind Machtbeziehungen „in jedem gesellschaftlichen Feld“ (Foucault 1993a: 20) omnipräsent. Nie fixiert oder eingebettet in ein geschlossenes System, stellen sie ein offenes, endloses, strategisches Feld von Relationen dar (Clegg 1989). „What defines a particular relationship as a relationship of power understood in this way is that it is a mode of action that does not act directly and immediately on others. Rather, it acts upon the actions of others, whether these be existing actions or those that may arise in the future.“ (Miller 1994: 241)
Macht besteht demnach in einem Handlungsmodus, der es erlaubt, über eigenes wie fremdes Handeln zu verfügen; Macht ermächtigt zum Handeln. Gleichzeitig bedeutet das aber, dass Macht nicht als feste Einheit oder Eigenschaft zu denken ist, die man besitzen kann oder nicht. Anstatt als Ursache tritt Macht immer erst als Wirkung in Erscheinung; anstatt als statisches Prinzip verortet, kann sie immer erst als performative Praxis beschrieben werden (Latour 1986).
2.1.2
Regierung und Praxis der Freiheit
Innerhalb der praktischen Dimension von Freiheit lassen sich zwei unterschiedliche Richtungen ausmachen: Die eine Seite betrachtet die Ausübung von Freiheit aus einer gouvernementalen Perspektive (Burchell et al. 1991, Bröckling et al. 2000, Lemke 2000, Mitchell 1999). Sie fragt, wie Freiheit regiert wird, welche
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timate basis of sovereignty cannot be relied upon as a means of describing the ways in which power is actually exercised under such a sovereignty“ (Gordon 1991: 7). Bei Foucault ist das Recht bloß ein Mittel der Macht.
Freiheit als Begriff
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Techniken und Strategien eingesetzt, welche Regelungen und Gesetze erlassen werden, um ein Leben in Freiheit zu ermöglichen oder aber zu beschränken. Ferner, welche Machtdispositive dabei zum Vorschein kommen und welche hegemonialen Diskursformationen auftreten.13 So lässt sich etwa das politische System des Liberalismus als Regierungsform analysieren, das Freiheit gleichsam produziert wie konsumiert (Barry et al. 1996, Lemke 1997). Zum anderen wird aufgezeigt, wie das kapitalistische Produktionssystem in seiner neoliberalen Ausformung das Individuum wesentlich über dessen Freiheit im ökonomischen Marktgeschehen definiert (Scott & Weiskopf 2008). Freiheit stellt aus gouvernementaler Sicht ein übergreifendes Disziplinierungsdispositiv dar, das sich sowohl über postfordistische Produktionsformen wie über postdisziplinäre Kontrollmechanismen artikuliert (Deleuze 1993b, Opitz 2004, Weiskopf & Loacker 2006). Schließlich werden vor dem Hintergrund dieser komplexen Disziplinierungs- und Kontrollmechanismen auch die unterschiedlichen Objektivierungsund Subjektivierungsverfahren untersucht, welche die Mobilisierung und Förderung von selbstverantwortlichen, autonomen und rationalen Subjekten generieren (Bröckling 2007). Folgt man Nikolas Rose (1999), dann ist die Grundlage neoliberaler Subjektivität jene Freiheit, die es jedem erlaubt, sich selbst zu regieren. Eine gouvernementale Freiheitsanalyse untersucht also nicht nur institutionelle Apparate und soziale Funktionsmechanismen, sondern auch Führungstechniken, Kontrollmodi und Regierungsstrategien, mit denen jener Raum der Freiheit abgesteckt wird, innerhalb dessen sich eine freie, wenngleich keinesfalls regellose oder ungeregelte Lebensführung entfaltet (Fach 2003). Sie fragt nach den Inklusions- und Exklusionsstrategien, über die Freiheit politisch regiert und operationalisiert wird sowie nach den sozio-ökonomischen Anforderungen der Normalisierung, Zivilisierung, Produktivität oder Rationalität, die den jeweiligen Orten und Strategien inhärent sind. Die andere Seite der Freiheitspraxis betrifft nicht ihre systematische Regulierung und Operationalisierung, sondern ihre konstitutive Entfaltung. Foucault (1993a: 10) spricht explizit von den „Praktiken der Freiheit“, wenn er vor dem Hintergrund der griechisch-antiken Ethik unterschiedliche Techniken der aktiven Subjektkonstitution untersucht. Diese Freiheitspraktiken stehen im Gegensatz zu emanzipatorischen „Befreiungsprozesse[n]“, welche zwar durchaus „ihren Stellenwert haben, mir aber aus sich selbst heraus nicht in der Lage zu sein scheinen, alle Formen der Freiheitspraxis zu bestimmen“ (ebd.). Eine dieser möglichen Formen stellen nomadische Praktiken dar, wie wir sie weiter unten eingehend diskutieren (2.3). Nomadische Praktiken zeichnen sich durch eine Entfaltungslo13
Die Verknüpfung von gouvernementalen Fragestellungen mit organisationstheoretischen und diskurstheoretischen Ansätzen findet sich in Krell & Weiskopf (2006).
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Nomadische Praktiken der Freiheit
gik aus, die den Zuschreibungen von Ort und Eigentum entkommen. Deterritorialisierung, Desubjektivierung und Enthierarchisierung sind die zentralen Momente einer Praxis, die ihre Handlungsmacht und Handlungsfreiräume in offenen Räumen und mit offenem Ausgang konstituiert. Nomadische Praktiken sind dabei nicht zu trennen von parasitären Praktiken, insofern sie weder aus einem autonomen Kräftefeld heraus entstehen noch ein solches begründen können. Diese Uneigentlichkeit und Vermitteltheit aller Praxis, so argumentieren wir anhand der Nomadologie, negiert jedoch nicht die Möglichkeit von Freiheit, sondern erfordert deren irreduzible Kontextualisierung. Foucault selbst betont „dass – wenn ich mich jetzt auch wirklich dafür interessiere, wie sich das Subjekt auf eine aktive Weise mittels Praktiken des Selbst konstituiert – diese Praktiken vom Individuum nicht selbst erfunden werden. Das sind Schemata, die es in seiner Kultur vorfindet, die ihm von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner sozialen Gruppe vorgeschlagen, nahegelegt und aufgezwungen werden.“ (Foucault 1993a: 19)
Es zeigt sich also, dass im Prozess der Subjektkonstitution durch Freiheitspraktiken die Attribute aktiv und passiv ein ungenaues, womöglich untaugliches Gegensatzpaar bilden; dasselbe gilt für die Begriffe autonom und heteronom. Zwar ergeben sich Möglichkeiten einer selbstbestimmten Subjektkonstitution und des Widerstandes daraus, dass Machtbeziehungen stets „beweglich, umkehrbar und instabil“ (ebd.) sind, gleichwohl darf daraus noch nicht vorschnell der Status einer Souveränität abgeleitet werden, die ein durch und durch unabhängiges und selbständiges Handeln in Aussicht stellen würde. Die beiden Seiten der Freiheitspraxis – dispositive Regulierung und konstitutive Entfaltung – stellen, wie bereits zuvor angedeutet, eine methodische Differenz dar, keine ontologische. Keineswegs wird damit eine dialektische Argumentationslogik unterstützt, die in der politischen Theorie, speziell in der kritischmarxistischen Tradition, lange Zeit wegweisend war. Hier wurden Macht und Freiheit anhand strukturierender Binaritäten konzeptionalisiert, die Beherrschung und Emanzipation, Macht und Widerstand, Strategie und Taktik, das Idente und das Andere, Kultur und Wunsch einander gegenübergestellt haben. In diesen Binaritäten steckt ein Denken, das eine von oben generierte Logik mit einer von unten kommenden Anti-Logik konfrontiert, etwa indem ein System auf der einen Seite mit den individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Bestrebungen der Menschen auf der anderen Seite konkurriert (Rose 1999: 277). Ebenso dialektisch – und aus unserer Sicht illusorisch – ist eine ontologische Teilung, der zufolge unsere Realität auf einer dominanten Machtstrategie basiert, welcher viele Widerstandskräfte entgegentreten. Solche univeralisierenden und totalisierenden Erklärungsversuche siedeln Freiheit zwischen Autonomie und Determinierung an. Entweder wird das Sub-
Freiheit als Begriff
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jekt als autonomer Ort vorgestellt, von dem aus das Handeln und die Handlungsprämissen aus eigenem Antrieb ihren Ursprung nehmen. Oder aber es ist ein überdeterminierter Kristallisationspunkt äußerer Strukturen, dessen Handeln, Denken und Wollen gänzlich heteronom bestimmt sind. Anstelle dieser binären Logik sollte hier jedoch ein Denken forciert werden, das es erlaubt, Freiheit in Bezug zum Subjekt als eine konstitutive Disposition zu denken, die gleichfalls von Außen geformt wie von Innen generiert wird. Wenn, um mit Deleuze zu sprechen, im Freiheitsvollzug das Außen nach Innen gefaltet wird, dann geht das Subjekt ein Gefüge ein, das es allererst konstituiert (Deleuze 1992: 146ff.). Während die Entfaltung von Freiheit das Subjekt stets neu hervorbringt, ist das Subjekt ohne sie nicht zu denken. Wenn aber das Subjekt nur mehr als Gefüge gedacht werden kann, das aus hybriden Faltungsprozessen stets neu geformt wird, dann kann Freiheit kein autonomer Vollzug sein. Das Subjekt-als-Gefüge konstituiert sich nicht durch das (dialektische) Zusammenwirken autonomer Positionen, sondern durch das hybride Ineinandergreifen unterschiedlicher Dimensionen. Einerseits sind dies die Dimensionen der (innerlichen) Erfahrung von Subjektivität, andererseits sind es die (äußerlichen) Machtfelder, also das breite Spektrum an sozialen, politischen, ökonomischen, moralischen, wissenschaftlichen, religiösen Dispositiven, die auf das Gefüge einwirken. „Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht.“ (Foucault 1994: 246f.)
Zwei Aspekte sind an diesem Zitat hervorzuheben. Zum einen ist das Subjekt vom Individuum zu unterscheiden. Während das Individuum den einzelnen Menschen als empirische Einheit bezeichnet, deutet das Subjekt bereits die Form an, die das biologische Wesen Mensch unter der Einwirkung äußerlicher wie innerlicher Kräfte annimmt. Damit ist noch nichts über eine konkrete Ausprägung oder inhaltliche Bestimmung, gar Determinierung der Formgebung gesagt, sondern lediglich etwas über die Disposition des Formbaren, die jedem Individuum zukommt. Egal, ob wir die Begriffe Formung, Faltung oder Fügung dafür verwenden – sie bezeichnen die Kontingenz menschlichen Lebens. Schließlich könnte man die analytische Differenz von Individuum und Subjekt auch damit beschreiben, dass man das Individuum als eine anthropologische, das Subjekt hingegen als eine physikalische Kategorie versteht, wobei letztere die InBeziehung-Setzung einer Subjekt-Objekt-Relation unterstreicht. Der zweite Aspekt des Zitats betont die beiden zu unterscheidenden Machtstrategien, die mit der Formgebung des Individuums, seiner Subjektwerdung, verbunden sind. Die subjektivierende Strategie gipfelt in der Macht, sich selbst
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Nomadische Praktiken der Freiheit
zu führen, die individualisierend-objektivierende Strategie hingegen in jener, andere zu führen. Einerseits konstituiert sich das Subjekt eigenmächtig durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis, andererseits wird es durch verschiedene Machttechnologien von außen als Subjekt konstituiert. Hier ist es das Subjekt einer Entwerfung durch inneren Antrieb, da das Objekt einer Unterwerfung durch Kontrolle und Abhängigkeit von außen.14 Nun sind diese beiden „Mächte“ jedoch nur analytisch auszumachen, empirisch sind sie meist schwer zu trennen und stehen in einem ständigen Wechselprozess. Ebenso können in der gegenseitig durchdrungenen Konstellation von Selbstführung und Fremdführung Machtstrategien nicht mehr von essentiell begründeten Interessen hergeleitet werden. So kann es sein, dass das, was das Subjekt will – durch Selbstführung und Technologien des Selbst –, bloß einer von außen intendierten und kontrollierten Subjektivierungsform und damit der Unterordnung unter ein Rationalitätsregime entspricht. Dasselbe gilt umgekehrt: Die von außen geleitete Fremdführung kann im Individuum solche subjektivierenden Wirkungen erzeugen, die verschieden sind von den ursprünglich intendierten oder aber vom Individuum anders als intendiert gefaltet werden. Weder sind die Techniken der Selbstführung als autonome Praxen zu denken, da sie vom Einzelnen in Abhängigkeit von bestimmten Wahrheitsregimen gestaltet werden. Noch erfolgt die Unterworfenheit als Subjekt im Rahmen der Fremdführung gänzlich heteronom, da es innerhalb der Korrelation von Subjektivierungsprozessen und Regierungspraktiken immer Spielräume gibt, die von Freiheit abhängig sind. Wir sehen: Es gibt eine gegenseitige Bedingung von Unterwerfung und Handlungsfähigkeit, von Kontrolle und Freiheit. Freiheit, so scheint es, ist nur mehr im Sinne einer Hybridisierung zu erfassen, als hybride Kategorie, durch die herkömmliche Gegensatzpaare wie Macht vs. Machtlosigkeit, Subjektivität vs. Unterwerfung oder Zwang vs. Konsens bedeutungslos werden. Besonders nachdrücklich zeigt sich die Hybridisierung von Freiheit an der Konstruktion des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007). Dass sich gegenwärtig – wenn auch auf jeweils anderen Ebenen – die Grenzen zwischen Staat und Individuum sowie zwischen Staat und Unternehmertum verschieben, hat seine Ursache wie seine Wirkung im emphatischen Subjektbegriff des Postfordismus (Opitz 2004). Im Vergleich dazu ging es in der Epoche des Fordismus um ein funktionierendes, diszipliniertes Subjekt, das von unternehmerischer und staatlicher Seite erzogen, gelenkt, bevormundet, belohnt und bestraft wurde. Heute hingegen wird das Subjekt emphatisch als sein eigener Lenker und Walter gepriesen. Mehr noch, es bestimmt seine Freiheit und Identität nicht nur selbst – 14
Vgl. zu den Begriffen Subjektivierung und Subjektivität sowie zur „Unterwerfung durch Subjektivität“ Foucault 1994: 247.
Freiheit als Begriff
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es ist verpflichtet dazu (Rose 1999). Gerade aus der staatlichen Rücknahme des direkten Zugriffes auf sein Tun und Handeln ergibt sich für das Subjekt ein stets ausgeweiteter Raum der Eigenverantwortlichkeit, den es eigenständig durch Selbstregulierung und Selbstoptimierung zu füllen verpflichtet ist. Systematisch werden also große Bereiche des Lebens der Entscheidungsfreiheit des Subjekts übertragen. Diese permanente Produktion von Subjektivität durch Freiheit macht es sinnlos, das Subjekt in den Kategorien eines autonomen Handlungsträgers zu bestimmen. Gleichfalls wird es damit sinnlos, Freiheit als autonomen Handlungsvollzug zu begreifen. Es wäre folglich reduktionistisch, gar fatal, wollten wir die komplexen, widersprüchlichen, heterogenen und ambivalenten Prozesse des Realen als die Realisierung einer „großen Erzählung“ (Lyotard 1993) erfassen. Stattdessen, so könnte man mit Foucault und Deleuze zusammen argumentieren, gibt es eine Fülle an Konfliktpunkten und Oppositionsthemen, die im Streit gegeneinander stehen, ebenso wie alle Kontrollimperative mit- und gegeneinander kämpfen. Erst aus dieser Logik von Konflikt und Differenz entsteht Realität. Das Reale ist, so verstanden, nichts anderes als die kontingente Konsequenz von Regulation und Kritik. Das, was diesen Bezügen inzwischen liegt, ihr immanentes Korrelat – ist Freiheit. Ob in den Alltagspraktiken von Produzenten und Konsumenten oder in den Führungsstrategien von Managern und Politikern – der entscheidende Zwischenraum (vgl. Kornberger 2003) zwischen Regulation und Kritik wird stets mit der Praxis der Freiheit gefüllt. Vor diesem Hintergrund geben uns vielleicht gerade nomadische Praktiken einen Hinweis darauf, was es bedeuten könnte, zwischen Regulation und Kritik, zwischen Anstreben und Widerstreben, zwischen Ordnung und Organisation, andere Formen der Existenz zu generieren. Demnach ist das In-Freiheit-Leben weniger ein ein- für allemal erreichter Zustand denn vielmehr ein andauernder Formgebungs- und Faltungsprozess. Freiheit, verstanden als strebende wie widerstreitende Praxis, bedeutet daher in letzter Konsequenz immer auch die Kunst, nach eigenen Ansprüchen zu leben. Oder, wie Foucault (1992: 12) sagt, „die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“. Diese ästhetische Matrix ist schließlich nicht von einer ethischen zu trennen. Da, wo wir Freiheit als entfaltete Lebenskunst begreifen, verliert Ethik ihre Bedeutung als normatives Wertsystem und wird zur eigengesetzlichen, schöpferischen Praxis der Freiheit (Schmid 1998).
Nomadische Praktiken der Freiheit
30 2.2
Freiheit als Organisation
2.2.1
Poststrukturalistische Organisationstheorie
Der forschungsrelevante Kontext, in dem wir die Freiheitspraktiken untersuchen, lässt sich entlang einer Reihe von poststrukturalistischen, dekonstruktivistischen und narrativen Ansätzen der Organisationsforschung verorten, die sich methodologisch wie empirisch mit den Praktiken des Organisierens auseinandersetzen. Dazu zählen auch verwandte Ansätze aus benachbarten Disziplinen wie Soziologie, Politologie und Ethnomethodologie, ebenso wie die Arbeiten einzelner Theoretiker (z.B. Deleuze und Foucault) oder ganze Theoriestränge (z.B. ActorNetwork-Theory), die sich nur schwer einzelnen Disziplinen zuordnen lassen. In allgemeinen Handbüchern zur Organisationsforschung werden poststrukturalistische Ansätze oft unter die Kategorie eines konstruktivistischen Organisationsverständnisses subsumiert (Kieser 2001: 287-319, Walter-Busch 1996: 273287). Konstruktivistisch sind sie, weil sie davon ausgehen, dass sich Organisationen nicht objektiv über Strukturen, Hierarchien oder Zwecke erfassen lassen. Im Rahmen ihrer Kritik an positivistischen Grundannahmen führen sie an, dass Organisation nur als Prozess zu verstehen ist, in dem Akteure keineswegs immer intentional handeln, sondern Sinnstiftung oft erst retrospektiv erfolgt (Weick 1995). Zudem eröffnen organisatorische Regeln immer Interpretations- und Anwendungsspielräume, weshalb Organisationsstrukturen nicht das Ergebnis formaler Regeln sind, sondern der Effekt von informellen und mikropolitischen Aushandlungsprozessen (Küpper & Ortmann 1992, Ortmann 2003). Eine andere Forderung liegt darin, den Prozess des Organisierens als diskursives Geschehen zu verstehen und nicht als abbildendes Verfahren (Chia 2000). Was nun poststrukturalistische Ansätze inmitten solcher konstruktivistischen Grundannahmen hervorhebt, sind meist spezifische Forschungsschwerpunkte, die sie mit bestimmten Theoriesträngen verbinden.15 Als eine Grundkonstante lässt sich ausmachen, dass poststrukturalistische Theorien das Thema der sozialen Relationen immer in Hinsicht auf die beiden zentralen Kategorien Macht und Begehren untersuchen (Carter & Jackson 2004: 111). Außerdem lehnen sie Möglichkeiten der Transzendenz ab, weshalb Versuche, Organisationsforschung mit aufklärerischen oder emanzipatorischen Motivationen zu betreiben, ohne Legitimation bleiben. Damit kann man im Kuhnschen Sinne 15
Vgl. für einen Überblick Alvesson & Deetz 1999, Alvesson & Sköldberg 2000: 148-200, Clegg 1990, Hassard & Parker 1993, Weiskopf 2003b. Bahnbrechend waren Arbeiten von und mit Robert Cooper (Cooper 1990, Cooper 1998, Cooper & Burrell 1988, Cooper & Law 1995) sowie Robert Chia (Chia 1995, Chia 1996, Chia 1998a, Chia 1998b).
Freiheit als Organisation
31
durchaus von einem Forschungsparadigma sprechen, denn wenn Rationalität und Fortschritt die Suche nach einer perfekten Organisation implizieren, dann grenzen sich poststrukturalistische Theorien gerade von diesen Leitmaximen moderner Forschung ab (Burrell & Gibson 1979, Morgan 1980). Vielmehr – oder viel weniger? – verlegen sie den Fokus weg von einem objektiven oder idealen Zustand der Organisation hin zur konkreten Praxis des Organisierens. Es geht also, ontologisch gesprochen, nicht um das Sein der Organisation, sondern um ihr Werden und Entstehen, um Kreation und Niedergang. Der Begriff der Praxis verweist dabei auf keine Konstante, sondern auf unterschiedliche Dimensionen von Intensitäten. Folglich ist die Realität von Praxis nie ein objektiv feststellbarer Sachverhalt, sondern bleibt immer ambivalent, chaotisch, komplex und unentscheidbar.
2.2.2
Freiheit zwischen Ordnung und Organisation
Wenn wir die Praktiken des Organisierens als Freiheitspraxis untersuchen, dann fragen wir nach den Taktiken und Strategien des Handelns, durch die sich Subjekte Freiräume zu schaffen versuchen. Dabei nehmen wir eine Forschungsperspektive ein, die Organisation von nah anstatt von fern betrachtet (Cooper & Law 1995). Aus der Ferne werden Organisationen meist über Grenzen, Funktionen und Strukturen definiert, die sodann maßgeblich sind für die Freiräume, welche sich daraus ergeben. Demnach verkörpern Organisationen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
7. 8. 9.
eine feststehende Struktur, die als abgeschlossenes Resultat erkennbar ist den Ort einer Ordnung eine Einheit, deren einzelnen Teile ein geordnetes Ganzes ergeben einen funktionalen Organismus, der durch einen hierarchischen Aufbau repräsentiert ist ein Territorium, das sich über Grenzziehungen nach außen definiert ein System von Kategorien und Klassifikationen, Kartographien und Territorien, die nicht nur eine Rahmung dessen ermöglichen, was es zu organisieren gilt, sondern auch einen Wahrnehmungsraster vorgeben, der sagt, was ein Problem ist und was nicht einen Apparat, der über räumlich-hierarchische Strukturen von Zentrum und Peripherie funktioniert einen Ort der reglementierten und hierarchisierten Entscheidungsverfahren den Grundsatz der Rationalität.
32
Nomadische Praktiken der Freiheit
Solange Organisationen aus der Ferne betrachtet werden, erscheinen sie als eine etablierte Ordnung, die das Resultat von struktureller Stabilität, personaler Hierarchie, diskreter Funktionalität und klarer Grenzziehung darstellt (Taylor 1913). Das Verständnis von Organisation als Ordnung impliziert folglich ein breites Set an Dichotomien, die einem dualistischen Denken entspringen und Kategorien wie Hierarchie, Zentralität, Stabilität und Kontrolle betonen. „Put simply, the organisation is understood as rationally designed, separated from its environment, a problem-solving tool, driven and determined by pre-given goals imposed by an environment of markets, stakeholders, functional needs, and so on.“ (Kornberger et al. 2006a: 59)
Ein solcher Außenblick begreift Freiräume als systematischen Teil einer übergreifenden, transzendenten Ordnung und bestimmt ihre Form und ihren Zweck aus ihrer Relation zu anderen Kategorien wie Effizienz, Erfolg, Fortschritt oder Sicherheit. Gilles Deleuze zufolge entspringen Kategorien wie Ordnung, Stabilität, Hierarchie und Identität einem Signifikantenregime, das seinen Ausdruck im Denkmodell des Staatsapparates findet und „Ziele und Wege, Leitungen, Kanäle, Organe, ein ganzes Organon vorschreibt“ (Deleuze & Guattari 2005: 515). So verstanden repräsentiert Organisation immer einen Anspruch auf Kontrolle und Sicherheit, anstatt Ambiguität und Spontaneität freien Raum zu lassen. Freiheit wird dabei als transzendentes Ordnungsprinzip betrachtet, das es zu regulieren, sondieren, kanalisieren, neutralisieren, isolieren oder gar eliminieren gilt. Ob als Bestandteil oder als Nebeneffekt, ob als Tugend oder als Gefahr – Freiheitspraktiken bestimmen sich in Relation oder als Opposition zu einer angestrebten Ordnung. Wenn Freiräume aber nichts anderes als abgeleitete Bestandteile eines funktionierenden Organismus sind, mag es nicht verwundern, wenn sie darin nur selten auftauchen: entweder werden sie nicht eingeplant oder aber systematisch ausgeblendet. Organisationen stellen den Ort einer Inklusion dar, in denen das Ausgeschlossene als das Ungeordnete und Unverstandene erscheint (Weiskopf 2002). Anders gesagt: Freiräume werden mitunter zum latenten Problem. Wenn wir jedoch unseren Standpunkt aus der Ferne verlassen und Organisation aus der Nähe betrachten, kommen wir zu einem anderen Bild. Die Organisation ist dann kein aussagekräftiges Substantiv mehr, sondern artikuliert sich über unzählige Verben, die auf die Praktiken des Organisierens verweisen. Auch hier geht es um Kategorien wie Grenzziehung, Entscheidungsfindung, Identitätskonstruktion, Übersetzung und Vernetzung, allerdings treten sie nun nicht mehr als eindeutige Gegebenheiten auf, sondern in Form von vielschichtigen offenen Fragen. Die Praktiken des Organisierens zeigen uns aus der Nähe gerade jene Dynamiken und Prozesse, die den Effekten und Resultaten der von fern betrachteten Organisation vorausgehen. Demzufolge erfassen wir Organisation
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als fortlaufenden Prozess als unabschließbares Geschehen des Ordnens und Organisierens, in dem Chaos und Unordnung nicht auszuschließen sind als Vielheit im Sinne eines Gefüges, das mehr ist, als die bloße Summe seiner Einzelteile als mannigfaltigen Funktionszusammenhang ohne übergeordneten Mechanismus als unaufhörliche Faltung von Grenzen nach Innen wie nach Außen als fortwährenden Prozess der Konstitution und Dekonstruktion von Grenzen. Grenze heißt hier nicht mehr Isolation, sondern Konstitution von Innen und Außen als Raum mit unterschiedlichen Kräften und Relationen. Das Organisieren erschöpft sich daher noch nicht in einer Struktur mit vorgegebenen Machtpositionen als Konstellation komplexer Entscheidungsverfahren, die durch ein paradoxes Ineinandergreifen von Regel und Ausnahme charakterisiert sind als Quelle von Rationalität ebenso wie von Irrationalität, Emotion und Leidenschaft.
Mit dieser Perspektivenverschiebung sagen wir nicht, dass die zuvor angeführten Dichotomien nicht existierten oder keine Bedeutung hätten. Wir bestreiten nicht, dass Organisationen als klar abgrenzbare, definierbare Ordnungen erscheinen können – dies erfolgt aber immer nur als Effekt. „So the distal exists – but (…) it is a proximal effect. So our argument has been that the theory of organizations privileges the distal, and tends to repress, displace, or forget the proximal. And that a theory of organization might, with profit, attend to what has been forgotten, and explore the proximal processes that generate the possibility of the distal.“ (Cooper & Law 1995: 264)
Dass das Ferne nur als Effekt existieren kann, zeigt sich deutlich bei der Kategorie Identität. Organisationen können durchaus eine bestimmte Identität haben, allerdings ist diese nie im Vorhinein gegeben (Clegg et al. 2007). Das Streben nach Identität verkörpert einen Anspruch auf Eindeutigkeit, Sicherheit und Gewissheit: Bedeutungen sollten eingeengt, Mehrdeutigkeiten ausgeklammert und Offenheiten geschlossen werden. Daher ist es immer ein offener Konstruktionsprozess, aus dem die Bedeutung von Identitäten hervorgeht. Wer oder was eine Organisation ist, ihre Identität also, das kann, wenn überhaupt, erst im Nachhinein, aus dem Prozess des Organisierens heraus, gesagt werden (Weick 1995). Organisationen sind zuallererst heterogene Gefüge ohne festgelegte Identität.
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Ähnliches gilt für den Zweck einer Organisation. Fürwahr, Organisationen verfolgen Pläne und Ziele, die zusammen genommen ihren Zweck ausmachen. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man einen Plan, ein Konzept hat, um mit ihm zu arbeiten oder um nach ihm zu arbeiten; ob man das Konzept benützt als Orientierung oder zur Disziplinierung. Ein Organisationsplan muss also noch keine starre Struktur implizieren. Damit ist die Unterscheidung zwischen Ordnungsebene und Kompositionsebene angesprochen, so wie sie Deleuze & Guattari (2005: 361ff.) entwerfen.16 Ein Konzept verleiht einem losen Gefüge zweifellos den Anschein einer bestimmten Ordnung – diese Ordnung allerdings ist nie abgeschlossen oder unverrückbar. Vielmehr wird sie immer wieder durchkreuzt und in Un- oder Neuordnung gebracht von „Kompositionen des Begehrens“ (ebd.: 551). Während also die Ordnungsebene die Anordnung von „Singularitäten“ bezeichnet, beschreibt die Kompositionsebene „die Rhythmen, Geschwindigkeiten, Temperamente und den ereignishaften Charakter jeder ‚Singularität’. Sie umfasst den subjektiven Stil, die besondere Weise der Annäherung, die Leidenschaften und Interessen, die jedem einzelnen Beitrag seine eigene Farbe geben und eine ‚Realität’ schaffen, die sich dem Organisationsplan entzieht. Organisieren ist die spannungsgeladene Aktivität, in der diese beiden Ebenen aufeinander bezogen bzw., wie Deleuze und Guattari sagen, ‚gefaltet’ werden.“ (Weiskopf 2003a: 21)
Dasselbe kann über Ziele gesagt werden: Auch hier ist es ein Unterschied, ob man Arbeitsprozesse entlang einer vorgegebenen Zielsetzung einzuhalten versucht, oder ob sie an einer Zielinterpretation orientiert sind. Weder Zweck noch Plan, weder Ziel noch Konzept einer Organisation können ein- für allemal festgelegt werden, vielmehr bedürfen sie der fortlaufenden Interpretation, Übersetzung, Adaption, Umorientierung und Improvisation. Ein letztes Beispiel für die Dekonstruktion der oben genannten Dichotomien sei anhand der Hierarchie erläutert. Aus der Ferne betrachtet funktionieren Organisationen entlang von Hierarchien, die als Mittel der Kontrolle und Rationalisierung sowie als Modus der Zuschreibung von Rechten, Privilegien und Autoritäten dienen (Kornberger et al. 2006a: 65). Max Weber zufolge kontrollie16
Deleuze (1980, 2001) sowie Deleuze & Guattari (1977b, 2005) verwenden mitunter unterschiedliche Bezeichnungen für diese beiden Ebenen. Unter Bezug auf Hardt (2002) legen wir uns aus Gründen der Anschaulichkeit auf das Begriffspaar Kompositionsebene und Ordnungsebene fest, wobei erstere dem entspricht, was bei Deleuze und Guattari Immanenzebene, Immanenzplan, Konsistenzebene, Konsistenzplan oder eben Kompositionsebene heißt, letztere dagegen dem, was sie Organisationsebene, Organisationsplan, Ordnungsebene oder Entwicklungsplan nennen.
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ren Autoritätshierarchien am Arbeitsplatz das Verhalten zur Steigerung der Effizienz (Weber 1947). Dabei besteht jedoch die Gefahr, Hierarchien sozialdarwinistisch zu naturalisieren, indem nicht nur Organisationsprozesse, sondern ganze Lebensprozesse auf hierarchische Prinzipien zurückgeführt und entsprechend determiniert werden (Foucault 2008). Aus der Nähe betrachtet zeigt sich hingegen, dass Hierarchien lediglich der Effekt von Machtrelationen sind, die aus einem organisationalen Gefüge hervorgehen. Dies wird mit dem Bild des Rhizoms deutlich, das Deleuze & Guattari (1977a) dem klassischen Baummodell entgegensetzen. Während starre Hierarchien ein Organigramm unterlegen, unterhält das Rhizom lediglich Relationen; die einen sind als Baummodell strukturiert, die anderen als wuchernde Verhältnisse und Beziehungen angelegt. Allerdings darf auch hier keine grundsätzliche Opposition zwischen den beiden Konzepten angenommen werden: Denn auch Baummodelle können rhizomatische Strukturen freisetzen, ebenso wie sich rhizomatische Relationen gelegentlich zu Hierarchien verfestigen. Während wir jedoch im Baummodell klar definierte und legitimierte Orte des Handelns vorfinden, weist das Rhizom Räume des Handelns aus. Diese Räume sind ohne Zentrum, ohne Hauptraum – stattdessen entsteht eine Vielfalt an Zwischenräumen. Zwischenräume werden so zum uneigentlichen „Ort“ des Werdens (Kornberger 2003). Die Kritik an den dargelegten Dichotomien des aus einem modernen Denken generierten Organisationsverständnisses bildet die ontologische und epistemologische Grundlage für eine poststrukturalistische Organisationstheorie (Chia 2003). Die Praktiken des Organisierens als Freiheitspraxis zu begreifen, konfrontiert uns dabei allerdings auch immer wieder mit der unumgänglichen Ambivalenz zwischen Affirmation und Kritik. Denn vor dem Hintergrund veränderter Arbeits- und Organisationswelten zeigt sich gerade die produktive Generierung und Einsetzung von Freiheit – im Gegenteil zu deren Isolation oder Negation – als besonders wirkungsvolle Führungsstrategie von Organisationen (Maravelias 2007, 2009). Anstatt Freiheit aus dem Organisationsprozess auszuschließen, machen es die Produktionsbedingungen der Wissensökonomie geradezu notwendig, Menschen nicht nur mit individuellen Freiheiten auszustatten, sondern ihnen auch systematisch Freiräume zu eröffnen. Das führt teilweise zur paradoxen Situation, dass Freiheit, je mehr sie zur Produktionsbedingung – etwa von immateriellen Gütern – wird, einen umso höheren Regulierungsbedarf erfordert.17 17
Aus gouvernementaler Perspektive ergeben sich hieraus eine Reihe von Widersprüchen der neoliberalen Freiheitsdoktrin: angeordnete Eigeninitiative, gesteuerte Selbstverantwortlichkeit, normierte Handlungsfreiheit oder auch marktgesteuerte Selbstbestimmung. Die Aufrechterhaltung dieser umfassenden Freiheitsbedingungen stellt, aus Sicht der Führung der Führungen, die Grundlage permanenter Intervention und Prävention dar. Anders gesagt: Der Liberalismus –
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Nomadische Praktiken der Freiheit „Tatsächlich bereitet eine Zwickmühle den kapitalistischen Unternehmern Kopfzerbrechen: Einerseits müssen sie notwendigerweise die Autonomie und Freiheit der lebendigen Arbeit als einzige Möglichkeit anerkennen, um zu einer produktiven Kooperation zu kommen, und andererseits stehen sie vor der Notwendigkeit, die Macht, die der neuen Qualität der Arbeit und ihrer Organisation innewohnt, nicht aus den Händen zu geben.“ (Lazzarato 1998: 44)
Aus diskursanalytischer Sicht mag es daher kein Zufall sein, wenn die grundlegende Ambivalenz der Kategorie der Freiheit eine ähnliche ist, wie sie gegenwärtig dem Begriff der Kreativität zukommt: „In ihrer Kontingenz ist Kreativität in hohem Maße ambivalent – gleichermaßen wünschenswerte Ressource wie bedrohliches Potenzial. Mit dem gesellschaftlichen Bedarf an Kreativität wächst deshalb das Bedürfnis, sie zu steuern, das heißt ihre produktiven Seiten nutzbar zu machen und ihre destruktiven zu beschneiden.“ (Bröckling 2004: 139f.)
Die Ambivalenz tritt über diesen Vergleich offen zutage: Auf der einen Seite Freisetzung von Freiheit, auf der anderen Einsetzung von Freiheit. Mit Deleuze & Guattari (2005) können wir diese Bewegungen durch die Begriffe Deterritorialisierung und Reterritorialisierung bezeichnen. Die Taktiken und Strategien, die wir im Rahmen der Nomadologie untersuchen, drücken beide Momente aus: Zum einen den Versuch, vorgegebenen Orten, Grenzen und Linien zu entweichen und neue, „glatte“ Räume zu schaffen (Deterritorialisierung). Zum anderen das dauerhafte Bestreben, unterschiedliche Kräfte der Wiederaneignung, Besitznahme, Landgewinnung und Nutzbarmachung, kurz: Kräfte des DingfestMachens erneut zu generieren (Reterritorialisierung). Freilich sind beide Bewegungen nicht klar zu trennen: „Wie sollten die Deterritorialisierungsbewegungen und die Reterritorialisierungsprozesse sich nicht aufeinander beziehen, sich nicht ständig verzweigen und einander durchdringen?“ (Deleuze & Guattari 2005: 20). Dieser heterogene, teils widerstreitende Entfaltungsprozess des Werdens charakterisiert folglich auch die Freiheitspraktiken, deren Fluchtlinien und Kraftlinien von innen wie von außen generiert werden. Denn nicht jedes Freiraumschaffen muss schon ein reaktives Moment des Widerstandes sein, und umgekehrt muss nicht jede Freiheitsbegrenzung von heteronomen Mächten ausgehen. Wir finden daher in parasitären Praktiken oft verblüffende Elemente der Deterritorialisierung, ebenso wie in nomadischen Praktiken strukturierende Tendenzen der Reterritorialisierung. nicht nur in seiner heutigen Ausprägung, sondern auch verstanden als idealtypisches Regierungssystem – produziert und konsumiert Freiheit (Lemke 1997: 185).
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2.2.3
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Freiheit im hybriden Kosmos
Anstatt die diffusen Praktiken der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung mit einer traditionellen „Handlungstheorie“ zu erklären, betten wir sie ein in einen Kosmos (Gombrowicz 2005) von Akteuren, Netzwerken, Interessen, Taktiken und Strategien, der sowohl ihre Entstehungs- als auch ihre Entfaltungsmöglichkeiten zu beschreiben beansprucht. Die Actor-Network-Theory erlaubt es, Handeln im Sinne einer umfassenden Hybridisierung zu erfassen, welche die herkömmlichen Determinanten der individuellen Handlungsfähigkeit transzendiert, indem die ontologischen Grenzen zwischen Welt und Umwelt aufgehoben werden. Soziale Akteure sind dabei nicht der Ausgangspunkt der Analyse, sondern deren Endpunkt. Das Subjekt verliert seinen Status als autonome, intentionale, sinnstiftende Einheit und wird innerhalb eines Netzwerkes von Bezügen unterschiedlicher Qualität und Intensität verortet. Seine Handlungsfähigkeit ergibt sich aufgrund seiner Positionierung inmitten eines sozio-ökonomischen, materiellen und diskursiven Kräftefeldes, nicht jedoch aus einer wesensbestimmten, universellen und ahistorischen Substanz. Erst mit diesem dezentrierten und dekonstruierten Subjekt, das als Effekt und nicht als Ursache hervortritt, können wir die Kategorien Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht ausreichend kontextualisieren. Und erst dann kann der „große“ Begriff der Freiheit unmittelbar in den sozialen Verhältnissen und Praktiken verortet werden. Radikal ist die Actor-Network-Theory, weil sie die Symmetrie aller Elemente fordert. Die Egalisierung von Akteuren, Netzwerken, Orten und Inhalten zu kontingenten Elementen, die in ihrem ontologischen Status ohne Unterschied sind – Law (1994: 23) spricht deshalb auch von einem „relational materialism“ – , verweist auf den Begriff des Aktanten. Der wohl wichtigste Vorzug des Aktanten-Begriffs liegt darin, dass mit ihm der problematische Begriff des Akteurs vermieden wird, welcher allzu schnell einen menschlichen Charakter und intentionales Handeln suggeriert. Außerdem haftet dem Akteur die Vorstellung eines souveränen Subjekts an, eine Vorstellung, die dem modernen Denken und dessen epistemologischen Dichotomien wie Körper-Geist, Mensch-Natur oder SubjektObjekt verpflichtet ist (Latour 1995). Das moderne Subjekt wird als einzelne, identifizierbare, bewusste, intentionale und verantwortungsvolle Einheit konstruiert und ist nach wie vor eine dominante, disziplinenübergreifende Denkkategorie für Fragen der Identität und Praxis. Auch in der Organisationstheorie herrscht diesbezüglich noch immer eine weit verbreitete „‚organizational mentality’ of modernity“ (Chia 1998a: 13), die ein organisatorisches Subjekt und damit einen spezifischen Akteursbegriff forciert (Sotto 1998: 69ff). Dem Akteur gegenüber steht also der Aktant. Der Begriff stammt ursprünglich vom französischen Semiotiker Algirdas Greimas und löst im Rahmen dessen
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Textsemiotik den Begriff character ab. Greimas definiert actant einfach als „that which accomplishes or undergoes an act“ (Greimas & Courtés 1982: 5). Akrich & Latour (1992: 259) sprechen in Anlehnung an Greimas von Aktanten als Allem und Jedem, das etwas tut – alles, das handelt. Aktanten sind also nicht nur menschliche Wesen, sondern auch Tiere, Objekte oder Konzepte. „Es“ sind, physikalisch gesprochen, Handlungseinheiten, die (aktiv) handeln oder mit denen (passiv) gehandelt wird. Ob das eine oder das andere zutrifft, ob aktiv oder passiv, kann nicht ein- für allemal gesagt werden, sondern hängt von den jeweiligen Konstellationen und Relationen ab, in denen ein Aktant auftritt.18 Eingefügt wird dieser Begriff bei Greimas ins Konzept des narrative program, das ein abstraktes Konzept zur Repräsentation von Handlungen liefert. Handlungen lassen sich dabei als Repräsentationen analysieren, so, als wären sie Erzählungen. Aktanten können im Verlauf einer Erzählung ihre Rolle ändern, sie können einen Charakter erhalten, ein Akteur werden oder etwa das Objekt für die Handlung eines anderen Akteurs darstellen.19 Daraus entstehen in weiterer Folge narrative trajectories, Verknüpfungen und Kurven, die durch unterschiedliche Erzählstränge geformt werden. Aktanten können also durchaus Akteure werden, unter Umständen auch Makro-Akteure (Callon & Latour 2006). Die grundsätzliche Symmetrie aller Elemente schließt deshalb nicht aus, dass sich diese in weiterer Folge verknüpfen und als wahrnehmbare Einheiten hervortreten können, „but only at the end of the story“ (Czarniawska & Hernes 2005: 8). In gleicher Weise wie die Transformation vom Aktanten zum Akteur kann auch die Verfestigung eines action nets (Czarniawska 2004) hin zu einem actor network erfolgen (Callon 2006). Was bei diesen Übergängen und Transformationen immer mitgedacht werden muss, ist die Kategorie der Macht. Ein MakroAkteur schafft es, im Verlauf von Erzählkurven, in denen sich konkurrierende Handlungsprogramme20 gegenüberstehen, so viele Aktanten wie möglich für sich bzw. für seine Version des Handlungsprogramms zu rekrutieren. Schließlich kann er einen klaren und stabilen Charakter annehmen und strategische Macht ausüben. Ähnlich wie bei Foucault wird die Kategorie der Macht in der ActorNetwork-Theory nicht im herkömmlichen Sinne als Grund und Ursache von Ereignissen und Handlungen gesehen, sondern als deren Effekt und Resultat. Bezogen auf die Organisationsforschung heißt das, dass nicht die Frage relevant ist, wer Macht in einer Organisation hat, sondern wie Macht durch Organisieren 18 19 20
Der Aktanten-Begriff problematisiert deshalb auch die Kategorien einer linearen Zeitlichkeit. Ein narratives Programm „is to be interpreted as a change of state effected by any subject (S1) affecting any subject (S2)“ (Greimas & Courtés 1982: 245). Diese Begrifflichkeit ist Latour (2006b) entnommen, der von Programmen und AntiProgrammen spricht.
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entsteht und ausgeübt wird (Clegg 1994). Hierin liegen denn auch die fruchtbarsten Überschneidungen der Actor-Network-Theory mit anderen poststrukturalistischen Ansätzen (vgl. Malavé 1998), wobei einer der für die Organisationstheorie wichtigsten Vertreter John Law (1994) ist, der das Organisieren als Prozess des heterogeneous engineerings begreift und damit in auffallender Nähe zu Theoretikern wie Robert Cooper oder Robert Chia steht – etwa, wenn letzterer konstatiert, dass „organization… is not a ‚thing’ or ‚entity’ with established patterns, but the repetitive actuality of ordering and patterning itself“ (Chia 1999: 224). Außer Frage steht auch, dass dieser theoretische Ansatz die Rede vom souveränen Subjekt ad absurdum führt. Menschen sind keine unabhängigen Akteure, sondern Arrangements, Kompositionen, Netzwerke für sich (Alvesson & Willmott 2002).21 Und nicht nur ihre Beziehungen untereinander, die sozialen Verhältnisse, bestimmen die Prozesse des Organisierens, sondern auch alle anderen, nicht-menschlichen Elemente und Materialitäten. An der „Komposition Mensch“ sind weder eine Wesenhaftigkeit noch unabänderliche Eigenschaften festzumachen. Auch ist eine Person noch nicht gleichzusetzen mit einem Akteur. Akteure sind vielmehr Schnittstellen von unterschiedlichen Kräften, eigenen und fremden, wobei selbst diese Differenzierung noch provisorisch ist. Man muss eher an eine Hybridisierung denken, an eine sozio-technische Teratologie, die sich auf soziologischer Ebene mit dem Leben von Monstern auseinandersetzt (Law 2006). Erst dann kann gezeigt werden, wie sich soziale und materielle Entitäten zu einem hybriden Kollektiv vereinigen: „Es handelt sich dabei um Netzwerke von Artefakten, Dingen, Menschen, Zeichen, Normen, Organisationen, Texten und vielem mehr, die in Handlungsprogramme ‚eingebunden’ und zu hybriden Akteuren geworden sind. Die Hybriden entfalten sich in einem Bereich zwischen Natur und Kultur, zwischen Objekt und Subjekt und bilden eine bis heute kaum theoretisch erfasste Form kommunikativer Ordnung, deren Erforschung neue konzeptionelle Modelle und einen radikalen methodologischen Perspektivenwechsel in der Soziologie verlangt.“ (Belliger & Krieger 2006: 15) 21
Wie bereits ausgeführt (2.1.2), findet sich auch bei Deleuze die Konzeption von Subjektivität als Gefüge (vgl. Rose 1996). Jedoch betont die Actor-Network-Theory noch systematischer als Deleuze die materielle Nivellierung von Aktanten und fokussiert ebenso stärker auf die Hybridisierung von anthropologischen und materiellen Elementen. Das ist weniger ein Versäumnis von Deleuze, sondern lässt sich daraus erklären, dass Begriffe wie Rhizom und Gefüge mehr im Sinne einer wegweisenden Programmatik, nicht aber als konsistente Theorien ausgearbeitet sind (DeLanda 2006b: 254). Nichtsdestotrotz hat auch Bruno Latour, einer der Begründer der Actor-Network-Theory, einmal in einem Nebensatz erwähnt, dass deren Begriff des Netzwerkes auch mit dem deleuzschen Begriff des Rhizoms ausgedrückt werden könnte – durchaus mit dem Vorteil, eine allfällige technische Konnotation zu vermeiden (Latour 2006a: 541).
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Der methodologische Perspektivenwechsel liegt dabei nicht nur in der Absage traditioneller Theorien, sondern auch in der Verschmelzung konstruktivistischer und empirischer Ansätze: „In short, ANT [Actor-Network-Theory, M.V.] is ontologically relativist in that it allows that the world may be organized in many different ways, but also empirically realist in that it finds no insurmountable difficulty in producing descriptions of organizational processes.“ (Lee & Hassard 1999: 392)
Mit der Actor-Network-Theory begreifen wir Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit als Effekte einer zu Grunde liegenden Handlungsdimension. Damit wird zum einen der Begriff eines autonomen Subjekts zurückgewiesen, das Individuum vielmehr als ein Ort begriffen, „an dem eine inkohärente (und oft widersprüchliche) Vielzahl von Größen aufeinandertrifft“ (deCerteau 1988: 11). Zum anderen wenden wir uns gegen ausschließlich hermeneutisch orientierte Lesarten menschlichen Handelns, die psychologische Kategorien wie Motivation und Interesse bevorzugen und eine relative Autonomie des Handlungssubjekts suggerieren. Mithin würden solche individuellen Handlungsmotivationen (oder, allgemeiner gesprochen, Handlungsgründe) allein nie ausreichen, die untersuchten Entfaltungs- und Organisationsprozesse entsprechend zu beschreiben und zu erklären. Die Handlungsdimension kann daher auch als Ausdruck einer spezifisch postmodernen Epistemologie verstanden werden, welche sich gegen die Autonomie und Intentionalität des modernen Subjekts stellt: „Human action and motives must, therefore, not be simply understood in terms of actors’ intentions or even the result of underlying generative mechanisms, but rather in terms of unconscious metaphysics, embedded contextual experiences, accumulated memories, and entrenched cultural traditions that create and define the very possibilities for interpretation and action.“ (Chia 2003: 130)
Diese methodologische Abgrenzung bedeutet jedoch nicht, dass im Rahmen der narrativen Programme nicht auch die Motivationen und Beweggründe des Handelns sehr wohl zum Tragen kommen können – aber immer als Beschreibung, Definition und Zuschreibung der jeweils identifizierten beteiligten Aktanten.22 22
Das Identifizieren und In-Beziehung-Setzen verschiedener Aktanten erfolgt Callon (2006) zufolge in der ersten Phase eines Übersetzungsprozesses. Die Problematisierung beschreibt „ein System von Allianzen und Assoziationen zwischen Entitäten, die dadurch die Identität und das, was sie ‚wollen’, definieren“ (ebd.: 150). Callon führt vier Momente der Übersetzung an: 1. Problematisierung (Interdefinition der Akteure, Definition eines obligatorischen Passagepunktes); 2. Interessement (Positionierung und Allianzenbildung); 3. Enrolment (Verhandlungen, Rollendefinition und Koordination); 4. Mobilisierung (Einsetzung repräsentativer Sprecher).
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Der Unterschied betrifft somit den epistemologischen Zugang unseres Forschens: Wir fragen nicht nach dem Warum des Handelns, wir beschreiben es lediglich. Das Wieso tritt in den Hintergrund zugunsten des Wie. Allerdings wird das eine nicht durch das andere ersetzt, vielmehr werden beide gleichgesetzt. Die epistemologische Unterscheidung zwischen Beschreiben und Erklären löst sich auf, da das eine unmittelbar zum anderen führt. Sobald eine Beschreibung ausreichend gesättigt ist, dient sie als Erklärung und bedarf keiner weiteren Gründe mehr. „Erklärung bedeutet – wie der Name schon sagt –, etwas offen zu legen oder zu explizieren. Es besteht keine Notwendigkeit, außerhalb des Netzwerkes nach mysteriösen oder globalen Ursachen zu suchen; wenn etwas fehlt, liegt das an der Unvollständigkeit der Beschreibung. Punkt.“ (Latour 2006b: 396) Diese Prämisse ist auch mit dem Prinzip eines allgemeinen Agnostizismus (Callon 2006) umschrieben: Wir treffen keine wertenden oder interpretierenden Vorannahmen bezüglich der Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht von unterschiedlichen Aktanten – wie es sehr wohl der Fall wäre, würden wir etwa in das Handeln von sozialen Aktanten mehr Einsicht und Intention hineindeuten als in das Handeln von materiellen Aktanten. Stattdessen versuchen wir, alle Entitäten ohne Priorität und ohne Reduktion auf „letzte Instanzen“ (Law 2006: 362) mit denselben Methoden, Werkzeugen und Konzepten zu beschreiben. Oder, um es mit einer berühmten Parole von Bruno Latour (1987) zu bekunden: Wir „folgen den Akteuren“.23
2.2.4
Freiräume des Handelns
Auf der Handlungsdimension aufbauend, unterscheiden wir die Praktiken der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung gemäß ihrer Ausrichtung in Taktiken und Strategien. In der Kunst des Handelns (1988) untersucht der französische Historiker und Soziologie Michel de Certeau diverse Konsumpraktiken und zeigt, wie Menschen qua Konsum systematisch angelegte Disziplinierungstechniken unterlaufen, anders falten oder neu entfalten. Konsumenten stehen damit nicht mehr als ohnmächtige Akteure da, die sich durch passives Verhalten den sie umgebenden und vorgegebenen Strukturen einfügen, sondern als machtpoten23
Latours programmatisches Zitat ist auch der Grund, weshalb wir für den weiteren Verlauf der Arbeit den Begriff des Akteurs anstelle des Aktanten beibehalten. Dies erscheint vor allem aus Gründen der Einfachheit als zweckmäßig. Damit sollte keineswegs die methodologische Unterscheidung von Aktant und Akteur übergangen werden, jedoch erscheint sie für die weitere Argumentation – bis auf wenige Ausnahmen, in denen wir auf die Unterscheidung zurückkommen – nicht zwingend notwendig.
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Nomadische Praktiken der Freiheit
te Akteure, die diese Strukturen durch aktives Handeln anders wenden und verwenden. „Diese ‚Handlungsweisen’ sind die abertausend Praktiken, mit deren Hilfe sich die Benutzer den Raum wiederaneignen, der durch die Techniken der sozio-kulturellen Produktion organisiert wird“ (de Certeau 1988: 16). Die Wiederaneignung eines vorstrukturierten Raumes geht wesentlich aus zwei unterschiedlichen Handlungsdimensionen hervor: zum einen aus dem Kalkül, einen Raum zu durchdringen; zum anderen aus dem Kalkül, einen Raum als Ort zu erobern. Im ersten Falle sprechen wir von Taktiken, im letzten von Strategien. „Als ‚Strategie’ bezeichne ich eine Berechnung von Kräfteverhältnissen, die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt (ein Eigentümer, ein Unternehmen, eine Stadt, eine wissenschaftliche Institution) von einer ‚Umgebung’ abgelöst werden kann. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas Eigenes umschrieben werden kann und der somit als Basis für die Organisierung seiner Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt (Konkurrenten, Gegner, ein Klientel, Forschungs-‚Ziel’ oder ‚-Gegenstand’) dienen kann. Die politische, ökonomische oder wissenschaftliche Rationalität hat sich auf der Grundlage dieses strategischen Modells gebildet. Als ‚Taktik’ bezeichne ich demgegenüber ein Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie dringt teilweise in ihn ein, ohne ihn vollständig erfassen zu können und ohne ihn auf Distanz halten zu können. Sie verfügt über keine Basis, wo sie ihre Gewinne kapitalisieren, ihre Expansionen vorbereiten und sich Unabhängigkeit gegenüber den Umständen bewahren kann. Das ‚Eigene’ ist ein Sieg des Ortes über die Zeit. Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig; sie ist immer darauf aus, ihren Vorteil ‚im Fluge zu erfassen’. Was sie gewinnt, bewahrt sie nicht. Sie muss andauernd mit den Ereignissen spielen, um ‚günstige Gelegenheiten’ daraus zu machen. Der Schwache muss unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind.“ (de Certeau 1988: 23)
Während eine Strategie einen Herrschaftsanspruch impliziert, mit dem die Eroberung oder Aufrechterhaltung eines Ortes verbunden ist, verweist die Taktik auf einen Machtanspruch, der die vorübergehende Wiederaneignung und Durchdringung eines Raumes anstrebt. Diese Konzeption von Strategie und Taktik berücksichtigt nicht nur die Differenzierungen von Herrschaft und Macht sowie von Ort und Raum, sie erlaubt auch die praxisorientierte Anwendung jener deleuzianischen Kategorien, die als Kraftlinien und Fluchtlinien, gekerbter Raum und glatter Raum oder Deterritorialisierung und Reterritorialisierung manchmal gar zu theorieüberladen daherkommen. Mithin bleibt der Sprachgebrauch an manchen Stellen ein verblüffend ähnlicher: Wo Deleuze von Fluchtlinien spricht, erkennt de Certeau Irr-Linien (ebd.: 21), und wo ein Toni Negri über umher-
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schweifende Produzenten schreibt (Negri et al. 1998), untersucht de Certeau die Umhervagabundierenden (de Certeau 1988: 22). Doch anstatt diese Parallelitäten überstrapazieren zu wollen, kehren wir zurück zur Frage der Praktiken und ihrer Ausrichtung: „In dem technokratisch ausgebauten, vollgeschriebenen und funktionalisierten Raum, in dem sie [die Konsumenten, M.V.] sich bewegen, bilden ihre Bahnen unvorhersehbare Sätze, zum Teil unlesbare ‚Querverbindungen’“ (de Certeau 1988: 21f.). Entsprechend dieser Konzeption sind auch nomadische Praktiken nicht immer und nicht unmittelbar lesbar oder vorhersehbar. Sie entziehen sich der Macht des Lesenden gleichsam wie der Macht des Sehenden. Die Macht eines Lesers besteht zum einen in der Fähigkeit des Lesens, zum anderen in der Potenz, etwas lesbar zu machen. Ähnliches gilt für den Sehenden, der nicht nur über die Macht des Sehens verfügt, sondern auch, ihr vorausgelagert, über die Potenz, etwas überhaupt erst sichtbar zu machen. Die nomadischen Praktiken verweisen hingegen – ebenso wie jene der Konsumenten – tendenziell auf „Finten mit anderen Interessen und Wünschen, die von den Systemen, in denen sie sich entwickeln, weder bestimmt noch eingefangen werden können“ (ebd.: 22). Der Macht des Bestimmens und Einfangens steht somit die Macht des Abweichens und der Fluchtlinien entgegen; hier das Definieren, Identifizieren und Kategorisieren, da das Verwischen, Entrücken und Unkenntlich-Machen.24 An dieser Stelle führt denn auch der Begriff der Bahnen, entlang derer sich Handlungen entwickeln, etwas in die Irre, da er diese Handlungen wenn auch nicht als Linie, so doch zumindest als Spur nachvollziehbar werden lässt. Ihm gegenüber erlaubt es die von de Certeau vorgeschlagene Konzeptualisierung von Strategien und Taktiken, Praktiken nach ihrem jeweiligen Bezug zu Ort und Eigentum zu unterscheiden. Folglich stellen Taktiken (1) solche Praktiken dar, die ohne Eigentum (und ohne Eigentümer) vollzogen werden. Die von de Certeau untersuchten Alltagspraktiken „produzieren ohne anzuhäufen, das heißt, ohne die Zeit zu beherrschen“ (ebd.: 26) und konstituieren damit „die subtile Kunst von ‚Mietern’“ (ebd.: 28). Die Praxis des Mietens, die weder Zeit noch Raum beherrscht, betrifft allerdings nicht nur die Ebene der materiellen, sondern auch die der immateriellen Verhältnisse – wie etwa die verbale Kommunikation. Eine Freiheitstaktik kann demnach genau so gut in den verbalen Produktionen ohne individuellen Eigentümer liegen. Dies sind „Kreationen einer Kommunikation, die niemandem gehört. Die Konversation ist eine provisorische und kollektive Wirkung der Fähigkeit in der Kunst, ‚Gemeinplätze’ 24
An anderer Stelle bezeichnet de Certeau Praktiken, die eine solche Unlesbarkeit entfalten, Heterologien (de Certeau 1997).
Nomadische Praktiken der Freiheit
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zu handhaben und mit der Unvermeidbarkeit von Ereignissen zu spielen, um damit vertraut zu werden.“ (de Certeau 1988: 28f.)
Neben dieser Dimension des Eigentums bezeichnen Taktiken (2) solche Praktiken, die ohne Ort vollzogen werden. Es findet durch sie keine räumliche Aneignung statt, vielmehr und wenn überhaupt finden diese Praktiken ihren „Ort“ in nichtmateriellen, nicht begehbaren Orten, die sich aus unterschiedlichen Aspekten wie Vertrauen, Freundschaft, Interesse, Beziehung, Wunsch oder Genuss konstituieren. Diese Praktiken und Prozeduren entstellen also eine Ordnung, ohne sie zu verlassen – sie unterwandern sie und unterlaufen sie. Dadurch bleibt „selbst in dem Raum ihre Andersheit bewahrt, der von dem Besatzer organisiert wurde“ (ebd.: 81). Wenn Taktiken als Praktiken ohne Eigentum und ohne Ort zu denken sind, dann entwickeln sich Strategien entlang der umgekehrten Vorzeichen – sie laufen immer auf die Aneignung, Sicherung oder Erweiterung sowohl des Eigentums als auch des Ortes hinaus. Die entscheidende Dimension für die Differenzierung und Analyse der beiden Praktiken ist der „Spielraum des Gebrauchs“ (ebd.: 82). Ohne Ort vollziehen sich die Taktiken in einem Raum, einem Spielraum, und ohne Eigentum entfalten sie sich durch die Anwendung dieses Raums, durch Gebrauch also. Strategien hingegen beanspruchen den Spielraum für sich und verwandeln ihn in den klar definierten Ort des Geschehens. Und sie bestimmen den Gebrauch des Spiels, indem sie (Gebrauchs-)Anweisungen für das Eigentum erstellen. Was de Certeau in Bezug auf die Alltagspraktiken des Konsums den Spielraum des Gebrauchs nennt, können wir in Bezug auf die Organisationspraktiken der Freiheit als Freiraum des Handelns bezeichnen. Er entfaltet sich zwischen Ordnung und Organisation, zwischen Struktur und Prozess, zwischen System und Individuum, zwischen Sein und Werden. Frei nach Heidegger könnten wir sagen: Der Freiraum des Handelns ereignet sich da, wo der Mensch sich in das Aufgegebene einbringt. Und präzise mit Heidegger müssten wir sagen: Das Dasein ereignet sich da, wo das Sein sein Da sucht (Heidegger 2006).
2.3 2.3.1
Praktiken der Freiheit Nomadologie
Mit Nomadologie bezeichne ich eine Topologie von Praktiken, die ohne nachhaltigen Anspruch auf Ort und Eigentum vollzogen werden. Sie entfalten sich in einem Freiraum des Handelns, der sich zwischen Ordnung und Organisation,
Praktiken der Freiheit
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zwischen Struktur und Prozess, zwischen System und Individuum, zwischen Sein und Werden auftut. Damit stellen nomadische Praktiken noch nicht notwendig eine Kritik zu den dominanten und herrschenden Kräfteverhältnissen dar, die das Handeln von Akteuren in geebnete Bahnen zu lenken versuchen. Vielmehr zeichnen sie sich vorrangig dadurch aus, dass sie sich entlang einer Kompositionsebene entfalten, um einen glatten Raum zu besetzen und diesen mit Fluchtlinien zu durchziehen. Diese Terminologie entstammt von Deleuze & Guattari, die in ihrem Werk Tausend Plateaus der Nomadologie ein eigenes Plateau widmen (Deleuze & Guattari 2005: 481-587). Sie beschreiben darin die Bewegungen nomadischer Kriegsmaschinen im Gegensatz zu vereinnahmenden Staatsapparaten, wobei der Krieg nicht für einen Naturzustand steht, sondern „der Modus eines Gesellschaftszustandes ist, der sich gegen den Staat richtet und ihn verhindern soll“ und damit „die Zersplitterung und Segmentarität der Gruppen“ aufrecht erhält (ebd.: 490). Nomadische Praktiken verweisen demnach auf solche Seinsweisen, die sich der Funktionslogik eines ordnenden und strukturierenden Gesellschaftsapparates entziehen, um die Entfaltung einer offenen, flüchtigen Lebensform zu ermöglichen. „Das Leben der Nomaden ist ein Intermezzo“ (ebd.: 523), schreiben Deleuze & Guattari, wobei wichtig ist, zwischen den Prinzipien und den Erscheinungen nomadischen Lebens zu unterscheiden, da nicht alles, was danach aussieht, schon damit gleichgesetzt werden kann. Was also sind nomadische Prinzipien? 25
Glatter Raum Nomaden besetzen einen Raum, ohne ihn zu beherrschen. Dabei können Momente der Territorialisierung und Deterritorialisierung auftreten, das heißt, verschiedene Modi, sich in einem Raum zu bewegen. Allerdings kommt es zu keiner Codierung und Stratifizierung des Raumes, wodurch dieser in Besitz überginge und als Herrschaftsort abgegrenzt würde. Diesen unterschiedlichen Umgang im Raum und mit ihm drücken Deleuze & Guattari durch die Kategorien des glatten und des gekerbten Raums aus. Der glatte Raum
25
Unter Bezug auf T.E. Lawrence und dessen ausgearbeiteten Strategien der arabischen Revolte gegen die türkische Belagerung während des ersten Weltkrieges arbeitet Munro (2005: 23ff.) ein Set an nomadischen Strategien aus, das folgende Prinzipien umfasst: the pack, speed, the idea, communication, friendship, leadership, peace und calculation. Wie sich zeigen wird, lassen sich diese strategischen Dimensionen relativ problemlos in unsere an Deleuze & Guattari orientierten nomadischen Prinzipien integrieren.
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„ist ein Raum des Kontakts, kleiner Kontaktvorgänge, der eher taktil oder manuell als visuell wie der gekerbte euklidische Raum ist. Der glatte Raum ist ein Feld ohne Leitungen und Kanäle. Ein Feld, ein heterogener, glatter Raum, verbindet sich mit einem besonderen Typus von Mannigfaltigkeiten: mit nicht-metrischen, nichtzentrierten, rhizomatischen Mannigfaltigkeiten, die den Raum besetzen, ohne ihn zu ‚zählen’, und die man nur ‚erforschen kann, indem man auf ihnen entlanggeht’.“ (Deleuze & Guattari 2005: 510)
Nomaden besitzen ein Land also nicht wie Sesshafte, sondern sie durchqueren und durchforsten es wie eine Herde Tiere auf der Suche nach Ressourcen. Als historische Erscheinungsformen nennen Deleuze & Guattari wiederholt Banden, Meuten, Vagabunden, aber auch Handwerker und wandernde Gesellen – Existenzen, deren Lebensweise ohne zentralen Lebensort bestimmt ist. Sinnbild für glatte Räume sind offene Räume, die weder gänzlich kontrolliert noch nachhaltig gekerbt werden können: die Wüste, die Steppe, das Meer. Solche Räume sind nie unbewohnt, vielmehr werden sie von Mannigfaltigkeiten bevölkert (ebd.: 700).
Intensität Die nomadische Lebensweise zeichnet sich durch eine spezifische Geschwindigkeit aus, die allerdings noch nicht mit Bewegung an sich gleichzusetzen ist: „eine Bewegung kann sehr schnell sein, aber trotzdem ist sie keine Geschwindigkeit; eine Geschwindigkeit kann sehr langsam oder sogar immobil sein, trotzdem bleibt sie Geschwindigkeit. Bewegung ist extensiv und Geschwindigkeit intensiv“ (ebd.: 524). Bewegung als solche charakterisiert das Nomadendasein also noch nicht, sie wird auch von Sesshaften ausgeführt. Vielmehr ist es die Intensität der Beweglichkeit, die Nomaden in Relation zu ihrem Lebensraum definiert: „The nomads occupy their territory by means of their ability to pick up their things and leave at great speed. Whereas movement is defined in a purely extensive manner, the concept of speed has an intensive dimension“ (Munro 2005: 22). Die Intensität des Bewegens und Erlebens impliziert zugleich eine spezifische Auffassung von Zeit. Es geht gerade nicht darum, Zeit kontrollierbar und beherrschbar zu machen, um sie im eigenen Interesse zu instrumentalisieren (vgl. Gronemeyer 1996). Statt als Mittel zum Zweck wird die Zeit in ihrer Eigendynamik angenommen und das eigene Dasein dem jeweiligen Rhythmus der Umgebung angepasst. Nomaden leben nicht in der Zeit oder gegen sie, sondern mit ihr, weshalb sie auch keine Geschichte im historischen Sinne haben, sondern lediglich eine Geographie (Deleuze & Guattari 2005: 543). Das intensive Erleben von Raum und Zeit verleiht ihnen darüber hinaus eine besondere Form von
Praktiken der Freiheit
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Sicherheit, vergleichbar etwa mit jener des Schlittschuhlaufens, bei dem die Sicherheit gerade in der Geschwindigkeit liegt (Bauman 2003: 244f.).
Immaterialität Das nomadische Erleben von Raum und Zeit schließt einen nachhaltigen oder codierten Anspruch auf Eigentum aus. Anstatt der territorialisierenden Anhäufung von Besitztum folgt der Umherziehende vielmehr „dem Materie-Strom als reiner Produktivität“ (Deleuze & Guattari 2005: 569), solchen Handlungsräumen also, in denen sich eine „schöpferische Fluchtlinie“ (ebd.: 584) auftut. Die Eroberungen der nomadischen Kriegsmaschinen sind folglich keine Unterwerfungen im kriegerischen Sinne, sie führen zu keiner dauerhaften Beschlagnahme. Zudem wendet sich das Prinzip der Immaterialität gegen einen codierenden und stratifizierenden Zugriff: Denken, Ideen und Affekte können weder derart kontrolliert noch derart zerstört werden wie materieller Besitz, noch lassen sie sich ohne weiteres kommodifizieren und ökonomisch verwerten. Deshalb dominiert unter Nomaden auch weniger der Austausch von Gütern als jener von Gedanken. Für die Entfaltung eines „Geflechts von immanenten Beziehungen“ (ebd.: 491) sind Kommunikation und Sprache, nicht aber Kapital und Eigentum die entscheidenden Vermögen. Ähnliches gilt für ethische Dimensionen wie Freundschaft und Vertrauen: auch sie entziehen sich dem System materieller Austauschbarkeit und dem Zugriff territorialisierender Vereinnahmungsapparate. Dass nomadische Praktiken nicht entlang ökonomischer Kategorien wie Eigentum, Wohlstand oder Wettbewerb operieren, ist, folgt man Munro, zugleich der Grund, warum sie nur selten in der Literatur des strategischen Managements auftauchen: „a key principle of nomadic strategies is that the acquisition of wealth or property is not their primary aim, and in fact, they may even be opposed to acquisition of this kind. Competiveness does not really apply to nomadic strategies” (Munro 2005: 16). Gemäß der gängigen Alltagsweisheit, wonach Besitz belastet, wird, wie etwa bei den Zapatistas in Mexiko, gerade dessen Gegenteil, die Besitzlosigkeit, zur nomadischen Leitidee: „This ideal of poverty is a distinctive part of the ascetic discipline required by nomadic strategy and may allow nomads to move free from the usual attachment to everyday comforts” (ebd.: 31).
Nomadische Praktiken der Freiheit
48 Komposition
Nomadische Praxis entfaltet sich entlang eines immanenten Kompositionsplans26, dem gegenüber ein Plan steht, „der aus Organisierung oder Formgebung besteht“ (Deleuze & Guattari: 506). Das heißt nicht, dass nomadische Praxis ohne Arbeitsteilung funktioniert, sehr wohl jedoch, dass es keine hierarchischen Strukturen darin gibt. Diese Form der Arbeitsteilung ist eher technischer denn sozialer, eher manueller denn intellektueller Natur (Holland 2006). Anstelle einer transzendenten Befehlsinstanz generiert sie kollektive Formen der Führung, durch die Positionen dehierarchisiert und Funktionen entpersonalisiert werden. Veranschaulicht wird diese horizontale Entfaltung durch das Bild des Rhizoms, in dem jeder Punkt mit jedem verbunden werden kann, ohne dass dabei ein vertikales Machtgefälle zum Tragen kommt. „Meuten, Banden sind Gruppen vom Typus Rhizom, im Gegensatz zum baumartigen Typus, der sich auf die Machtorgane konzentriert“ (Deleuze & Guattari 2005: 491). Ein solches Netzwerk wiederum, das aus symmetrischen Verknüpfungen hervorgeht, lässt immaterielle Prinzipien wie Freundschaft und Kommunikation zu immanenten Funktionsprinzipien werden. Innere Verbundenheit kann hier also durchaus im doppelten Sinne verstanden werden. Auch wenn es keine Hierarchien und Organigramme, keine Befehlsstrukturen und keine zentralen Entscheidungsträger gibt, schließt nomadische Praxis nicht das Prinzip einer Führerschaft aus, einer Person also, die eine leitende Funktion ausführt. Diese Funktion ist „ein komplexer Mechanismus, der nicht den Stärksten fördert, sondern eher die Entwicklung stabiler Kräfte zugunsten eines Geflechts von immanenten Beziehungen verhindert“ (ebd.: 491). Als Beispiele nennen Deleuze & Guattari etwa Häuptlinge oder Stammesführer (ebd.: 489, 503), die zwar zur Führerschaft ermächtigt sind, aber keine Macht im Sinne eines Herrschaftsapparates besitzen.
Immanenz Aus all dem geht hervor, dass nomadische Praxis ein Verständnis von Organisation hervorbringt, bei dem sich das Organisieren nicht nach einem Ordnungsplan gestaltet, sondern einem Kompositionsplan folgt. Damit ist auf den Begriff der Immanenz verwiesen, „der als Gegenbegriff der ‚Transzendenz’ alles umfasst, was nicht durch einen höheren Zweck oder ein höheres Ziel, sondern nur aus 26
Deleuze & Guattari (2005: 11-43) sprechen wahlweise auch von einem Konsistenzplan oder Immanenzplan (vgl. Fußnote 16).
Praktiken der Freiheit
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sich selbst heraus begründet und erklärt werden kann“ (Stingelin 2000: 103). Generiert aus mannigfachen Affekten und Kräften, unterliegt der immanente Kompositionsplan keiner transzendenten Instanz der Kontrolle und Koordination. Folglich ist Organisation nicht als fertige Einheit zu verstehen, sondern als komplexes Gefüge, das durch seine immanente Entfaltung Form annimmt. Deleuze & Guattari nennen diese Ebene der Immanenz mitunter auch Konsistenzebene oder organloser Körper und symbolisieren ihre glatte Oberfläche mit dem Bild der Wüste, die, wenn auch von Nomaden bevölkert, bewandert und durchzogen, doch immer Wüste bleibt, ein Raum ohne Kerbung und Geschichte. Umgekehrt ist es gerade deshalb auch das Bild des Nomaden, der sich in diesen Räumen bewegt, sie erfüllt und belebt, ohne sie einzunehmen. „Deleuze and Guattari find the nomads in the desert, and the organization is affirmed as a pure production of desire“ (Sørensen 2005: 121). Auf der Immanenzebene verbinden sich heterogene Elemente, ohne zu einer dauerhaften Formation zu verfestigen. Vielmehr verkörpert das Gefüge ein Modell des Werdens. Kräfte treten darin als heterogenes Material hervor, nicht als feststehende Materie. Das Prinzip des Gefüges „highlights the potential of combinations of qualitatively different factors: man-camel-desert-rifle, ideas-printing press-territory” (Munro 2005: 25). Die Immanenz des Gefüges ist mit bloßen Abstraktionen nicht zu erfassen, da die Heterogenität als Heterogenität, die Mannigfaltigkeiten als irreduzible Mannigfaltigkeiten erhalten bleiben. „Es geht hier nicht mehr darum, Konstanten aus Variablen abzuleiten, sondern darum, die Variablen selber in einen Zustand kontinuierlicher Variation zu versetzen“ (Deleuze & Guattari: 508). Diese Ontologie konstitutiver Praxis verweist auf einen kontinuierlichen Prozess des Werdens, in dem Differenzen ins Gefüge eingebracht statt egalisiert werden. Die entstehenden Relationen nivellieren nicht die Heterogenität der Kräfte, vielmehr artikulieren sie sie. Die Praxis des Organisierens gestaltet sich als radikal offener Prozess und ist, frei nach Nietzsche, nicht als reaktive, sondern als aktive Kraft zu verstehen (Linstead & Thanem 2007). Aus den dargestellten Prinzipien geht hervor, dass zentrale Momente wie Geschwindigkeit, Kommunikation und Besitzlosigkeit nicht nur die Handlungsdimensionen nomadischer Praxis konstituieren, sondern gleichsam auf einen Lebensstil verweisen. „It should be noted that a nomadic strategy is not necessarily suitable only for nomadic peoples, but is a way of thinking about strategy in terms of speed and movement. Thinking itself can be a way of moving. In sum, the nomad’s way of life is their strategy.“ (Munro 2005: 23)
Umgekehrt sollten diese Prinzipien nicht dazu verleiten, nomadische Praktiken zu romantisieren und die Herausforderungen und Gefahren, Risken und Unsi-
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Nomadische Praktiken der Freiheit
cherheiten zu verkennen, die sie latent enthalten.27 Gerald Raunig zufolge ist denn auch gerade die Prekarität ein zentrales Moment: „Offensives Agieren in prekären Kontexten ist Bedingung des Nomadischen“ (Raunig 2005: 208). Dessen eingedenk können wir vorerst folgendes Resümee festhalten: Die Nomadologie ist eine Matrix von Handlungsdimensionen, die nicht nach privatem Eigentum oder territorialem Besitztum streben. Gefördert und aufrecht erhalten werden nicht materielle, sondern immaterielle Prinzipien: Freundschaften und Kommunikation, offene Handlungs- und Bewegungsspielräume, kollektive Netzwerke und heterogene Gefüge. Damit verkörpern sie nicht nur einen spezifischen Lebensstil, sondern generell eine bestimmte Art des Denkens und Lebens, eine bestimmte Form sozialer Praxis. In dieser Bestimmung liegt einerseits die Abgrenzung zu diversen romantisierenden Ansätzen, die das Nomadische als „blumige Metapher“ von „Freiheit und Fließen“ (ebd.: 206) in oft naiver und beliebiger Weise instrumentalisieren. Andererseits beschreibt sie nomadische Praxis als offensive Lebensform, die nicht mit solchen Praktiken zu verwechseln ist, die dem Anschein nach ähnlich sein mögen, aber aus anderen Handlungsdimensionen heraus entspringen. So sind etwa Migrationsbewegungen meist weniger eine Frage einer selbst gewählten Lebensform, sondern der unmittelbare Effekt von Zwang und Repression. „Die ‚Nomadenlinie’ dagegen ist eine Fluchtlinie, die zwischen den Punkten hindurch die Deterritorialisierungsbewegungen zu einem Strom beschleunigt, eine reißende Bewegung, die nichts mit Flucht im herkömmlichen Sinn zu tun hat, sondern eher damit, im Fliehen eine Waffe zu suchen.“ (Raunig 2005: 207)
Weder sollte die Nomadologie als ethische Praxis hymnisch mystifiziert noch als aus der Not entsprungene Tugend umgedeutet werden (vgl. Hardt & Negri 2000: 212-214). Ihre Fluchtlinien entspringen einer immanenten Logik, die wir durch die dargestellten Prinzipien veranschaulicht haben. Im Folgenden gilt es, diese Prinzipien als Praktiken zu denken. Dabei geht es nicht um konkrete empirische Befunde, vielmehr um generelle Modalitäten, über die sich Praxis artikuliert.
27
So nimmt etwa Kivinen (2006) eine relativ unkritische Interpretation der Nomadologie vor, in der es vorrangig um einen anti-essentialistischen, nicht-fixierbaren Modus geht, der jedoch beliebig bleibt. Ähnlich offen und vage sind die Ausführungen von Styhre (2002). Anstatt die Nomadologie analytisch zu entwickeln, macht er sie zu einer euphemistischen Blaupause all dessen, was die Moderne nicht ist. Damit wird das Konzept nicht nur beliebig anwendbar, weil unterdefiniert, sondern auch in seinem Potential verkannt. Solche Ansätze bleiben deshalb unbefriedigend, weil sie die Ontologie von Deleuze nicht konsequent ausführen.
Praktiken der Freiheit
2.3.2
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Nomadische Praxis
Praktiken sind Texte, die wie eine Erzählung zu lesen sind. Dabei beziehen sie sich nicht nur auf ihren Kontext, sondern sie produzieren ihn (de Certeau 1988). Sie stehen also nicht in einem bloß relationalem Verhältnis zum Kontext, sondern in einem produktiven. Streng genommen wäre daher auch der Begriff Intertextualität treffender als Kontextualität, insofern Praktiken jeweils konkrete, singuläre und kontextbezogene Aktivierungen von Intertextualität sind (Hjorth 2003: 227). Da Akteure immer in verschiedenen sozialen Kontexten und symbolischen Ordnungen eingebettet sind, welche ihr Handeln dimensionieren, stellen Praktiken den aktivierenden Bezug auf diese Ordnungsgefüge dar. Sie sind der Einsatz in das Vorgegebene. Bezug-Nehmen und Bezug-Geben sind dabei zwei Momente ein- und derselben Bewegung. Ausgangspunkt für eine Konzeption nomadischer Praxis ist die Differenzierung von Strategien und Taktiken. Wie bereits zuvor erörtert (2.2.4), sind Strategien solche Praktiken, die auf die Beherrschung eines Ortes ausgerichtet sind. Dieser Ort impliziert im Wesentlichen drei Dimensionen: Zum einen ist es ein physischer Ort (Territorium), zum zweiten ist es ein Ort mit Kräften und Relationen (Macht), zum dritten ein Ort des Denkens und der Theorie (Wissen). Im Gegensatz dazu sind Taktiken solche Praktiken, die keinen eigentlichen Ort haben – sie liegen dazwischen. Die nomadische Matrix legt dabei den Schluss nahe, dass nomadische Praktiken vorrangig als Taktiken zu betrachten sind. Sodann wäre nicht nur zu fragen, gegen welche Strategien sie sich wenden, sondern auch, wann und wodurch sie sich selbst in Strategien verwandeln. Diese und ähnliche Fragen machen es notwendig, eine Reihe von Handlungsdimensionen aufzuzeigen, die uns helfen sollten, die unterschiedlichen Modi nomadischer Praxis zu erschließen.
Kartographie und Repräsentation: Deterritorialisieren Die Unterscheidung von Strategien und Taktiken verweist uns auf den Handlungsraum und damit auf die Kategorie des Territoriums. Praxis findet auf Territorien statt – auf physischen, mentalen, visuellen und imaginären Territorien. Während die Beschaffenheit des Territoriums entscheidend ist für die Handlungsdimension, ist der Bezug zum Territorium entscheidend für deren Ausrichtung. Nomadische Praktiken besetzen ein Territorium, sie beherrschen es aber nicht. Den codierenden Kraftlinien der Territorialisierung setzen sie die decodierenden Fluchtlinien der Deterritorialisierung entgegen. Die gegenläufigen Bewegungen von (Re-)Territorialisierung und Deterritorialisierung lassen sich auch
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Nomadische Praktiken der Freiheit
anhand unterschiedlicher Dichotomien veranschaulichen: Imperialismus vs. Nomadismus, Extensivität vs. Intensität, Beharrung vs. Bewegung, reaktionäres vs. kreatives Denken, Geschichte vs. Geographie28. Solche Dichotomien sind allerdings weder in sich konsistent noch gegenseitig ausschließend, sie enthalten sowohl materielle als auch immaterielle Dimensionen, können synchron auftreten oder sich in ihr jeweiliges Gegenteil verkehren. Sinnvoll sind ihre Differenzierungen dennoch, da sie je spezifische Manifestationen von Kartographien und Repräsentationen darstellen. Die Kartographie ist eine wesentliche Kategorie des Territoriums (vgl. Deleuze & Guattari 2005: 423-481). Erst durch Erfassen und Abstecken wird ein Territorium überschaubar, beherrschbar, repräsentierbar gemacht. Der Repräsentation geht daher immer die Konstruktion eines Territoriums voraus. Zugleich ist mit ihr ein Kontroll- und Regulierungsanspruch verbunden, der nicht nur das Territorium als Machtraum einschließt, sondern auch die Bewegungen, die darauf stattfinden. Kartographie und Repräsentation können daher als Grundfunktionen der Territorialisierung betrachtet werden. Sie dienen dazu, Ordnung zu schaffen. Diese Ordnung wiederum wird durch Asymmetrien hergestellt, das heißt durch Machtkonstellationen und -relationen von relativer Dauerhaftigkeit und Stabilität. Dabei erfährt die Symmetrie aller Aktanten eine Formgebung in geordnete Bahnen, welche, sobald die Spuren dieser Bahnen nicht mehr nachvollziehbar sind, als black box gespeichert wird. Black boxes enthalten Elemente, Inhalte und Beziehungen, die bereits erfolgreich zu einer bestimmten Anordnung vereint worden sind, ohne dass diese abgeschlossene Formgebung noch weiter zur Diskussion stünde (Callon & Latour 2006). Black boxes definieren somit ein geschütztes Territorium, das Autonomie beansprucht und einen Rahmen der Problematisierung vorgibt (Callon 1980). Sie machen die Kerbung eines Raums zur selbstverständlichen, quasi-natürlichen Repräsentation und geben richtungweisende Kraftlinien, obligatorische Passagepunkte und verbindliche Übersetzungen wie Deduktionen vor. Die Kerbung repräsentiert eine Nahtstelle verfestigter Macht, zustande gekommen durch die Stärke eines Aktanten, Bindungen herzustellen oder zu trennen. Gerade im Verfügen über das, was sich zwischen den Aktanten ereignet, besteht somit ein wesentlicher Indikator für die Handlungsmacht und deren Potential, sich in Tat umzusetzen. Salopp gesagt: Stark ist, wer die Zügel in der Hand hält. Stärke als Ausdrucksform von Macht geht immer auf das, was dazwischen liegt – auf Beziehungen, Verknüpfungen, Entwicklun-
28
„Unlike settled tribes, nomadic peoples tend not have written histories and are defined more by their geography rather than by their history“ (Munro 2005: 22).
Praktiken der Freiheit
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gen, Prozesse. „Allgemeiner ausgedrückt: Stärke beinhaltet Intervention, Unterbrechung, Interpretation und Interesse“ (Callon & Latour 2006: 91).29 Die Deterritorialisierung bezeichnet eine Reihe von Praktiken, die gekerbte Räume durchkreuzen, dominante Repräsentationen korrigieren, black boxes öffnen und gefestigte Nahtstellen unterbrechen oder gar lösen. Diese Praktiken reichen von der (1) Decodierung über die (2) Desubjektivierung bis hin zur (3) Enthierarchisierung. Damit bezieht sich die Deterritorialisierung, wie bereits erwähnt, nicht nur auf materielle Territorien, sondern auch auf immaterielle. In der Codierung finden wir unterschiedliche Strategien des Benennens, Bezeichnens und Kategorisierens, die einen Machtanspruch artikulieren. Wichtigstes Medium dafür ist die Sprache – sie funktioniert wesentlich über eine Technik des Er- und Be-Greifens. Sprache ergreift Besitz über die Dinge, die sie bezeichnet (vgl. Nietzsche 1999a). Dementsprechend liegt im Bezeichnen, Identifizieren und Definieren nicht nur ein Machtanspruch, sondern auch ein potentielles Moment der Gewalt. Diesen Ergreifungsversuchen stehen die Praktiken der (1) Decodierung gegenüber, wie sie etwa im „information nomadism“ (Munro 2005: 41-43) durch die diffuse Verstreuung von Informationen vollzogen werden. Wissen entfaltet sich dabei im Rahmen eines rhizomatischen Labyrinths anstatt eines überschaubaren Territoriums. Es zirkuliert frei, ohne räumliche und territoriale Grenzen. Diese Praktik kann allerdings gerade deshalb zu einer machtvollen Strategie werden, weil sie über das Instrument der Sprache funktioniert, ein Instrument, das jedem Menschen zusteht. Während sich Wissen – etwa durch Patentierung – oftmals noch aneignen, kartografieren und repräsentieren lässt, kann Sprache als Lebensressource nicht gefügig gemacht werden. Darin zeigt sich, dass Decodierung nicht nur das Durcheinanderbringen von Codes durch deren Egalisierung meint, sondern auch das Entwerten und Transformieren ihrer eingeschriebenen Bedeutung. So führt de Certeau (1988) zahlreiche Alltagspraktiken wie das Lesen, Schreiben, Sprechen, Kochen oder Gehen an, in denen vorgegebene Texte durch ihr Lesen unmittelbar und neu gefaltet werden. Die (2) Desubjektivierung meint wesentlich die Entkoppelung des Handelns und Denkens von der Autorität eines Subjekts sowie von dem sozio-ökonomisch legitimierten symbolischen Kapital, das dieses verkörpert (Foucault 1988a). Gesellschaftlich etablierte Vorstellungen von Subjektivität beruhen auf historisch gewachsenen Macht-Wissens-Dispositiven und bringen spezifische Zuschreibungen von Authentizität und Integrität, Autorität und Souveränität mit sich. In Prozessen der Desubjektivierung unterwandert das Subjekt solche territorialisierenden Zuschreibungen, indem es den Anspruch einer personalen Einheit aufgibt, 29
Aus diskursanalytischer Sicht lässt sich diese Macht zur Assoziation durch die Herstellung und Stabilisierung von Äquivalenzketten erklären (Laclau & Mouffe 1995).
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in der sich Handeln und Denken, Ideen und Interessen, Motivationen und Leidenschaften, Funktionen und Kompetenzen konsistent aneinander fügen würden. Damit geht auch ein Prozess der (3) Enthierarchisierung einher.30 Wenn Hierarchie ein Mittel der Kontrolle und Rationalisierung sowie ein Modus der Zuschreibung von Rechten, Privilegien und Autoritäten ist, dann weichen desubjektivierende Praktiken solchen territorialisierenden Kategorien tendenziell aus und folgen horizontalen Formen der Führung und Organisation. Allerdings, wenn Freiheitspraxis jenseits von Rechten, Pflichten und Autoritäten stattfindet, was heißt das dann für das Prinzip Verantwortung? Gerade Hierarchien sind durch strukturierte Verantwortungsdelegation gekennzeichnet – fallen sie weg, wer trägt sie dann? Das führt uns zu den ethischen Fragen des Handlungseinsatzes, der persönlichen Kohärenz sowie, schließlich, der Lebenskunst (Schmid 1998).
Passagen und Kanäle: Möglichkeiten schaffen Wohin führen deterritorialisierende Praktiken? Sind die singulären Fluchtlinien, die sie aus gekerbten Räumen ziehen, einmalige Auswege, die womöglich in einer Sackgasse enden? Oder konstituieren sie einen neuen, glatten Raum, der sich vom gekerbten durch einen spezifischen Modus des Handelns unterscheidet? Wir fragen also, philosophisch gesprochen, nach den Bedingungen der Möglichkeit von Praxis. Erst wenn es möglich ist, in einem strategisch strukturierten Handlungsfeld andere Räume zu öffnen, können sich neue Formen von Praxis entfalten. Deshalb müssen Passagen und Kanäle etabliert werden, allerdings nicht, um Fluchtlinien nachhaltig zu strukturieren, sondern um sie zu organisieren. Ein naheliegendes Beispiel hierfür ist die freie Kanalisation von Wissen: Sobald Wissen deterritorialisiert wird, zirkuliert es in einem rhizomatischen Labyrinth und schafft Möglichkeiten freier Vernetzung. Ein anderes Beispiel ist die Problematisierung, jener erkenntnistheoretische Zugang, der eine nomadische Wissenschaft charakterisiert (Deleuze & Guattari: 496). Passagen und Kanäle legen also Wege frei für die Konstitution neuer Praxisformen innerhalb eines von strategischen Deklarationen, Anforderungen und Kerbungen durchzogenen Handlungsfeldes. Keineswegs bezeichnen sie einen (illusorischen) Exodus aus dem gekerbten Raum, vielmehr loten sie ihn nach taktischen Möglichkeiten aus. So wie auch black boxes zuerst überhaupt als solche nachvollzogen werden müssen, bevor man sie offenlegen und falten kann, so bedingt auch nomadische Praxis ein Wissen um die Möglichkeiten, die ihre 30
Deleuze spricht statt von Hierarchisierung oft von Stratifizierung (Kornberger et al. 2006a: 65).
Praktiken der Freiheit
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Fluchtlinien zum Zug kommen lassen. Erst dann werden diese wirksam als „tactical use of occasions in order to channel (construct passages for) opportunities (the virtual) that could become actualised“ (Hjorth 2003: 221). Die Etablierung von Kanälen und Passagen ist somit gleichbedeutend mit der Produktion virtueller Möglichkeiten, nicht jedoch mit der Ausschöpfung potentieller Kapazitäten und Kompetenzen. Im zweiten Fall bleibt das Subjekt auf seine konsumptive Macht beschränkt, die sich aus der Realisierung von potentiellen Möglichkeiten ergibt. Diese Differenzierung von virtuellen und potentiellen Möglichkeiten, die im Englischen durch die Begriffe opportunity und possibility stärker zum Ausdruck kommt, findet ihre Entsprechung in der unterschiedlichen Nutzung derselben. Während potentielle Möglichkeiten einen Bezugsrahmen vorgeben, der realisiert werden kann, entwerfen virtuelle Möglichkeiten ein offenes Handlungsspektrum, das bei Gelegenheit aktualisiert wird. Die Schaffung von Virtualität geht daher nicht von den vorfindbaren Möglichkeiten aus, die sich innerhalb eines von dominanten Strategien strukturierten Handlungsraums realisieren lassen. Vielmehr geht sie von den Grenzen des strategisch besetzten Territoriums aus und versucht, aus deren Relation heraus taktische Praktiken zu ermöglichen. Taktiken zeigen somit Fluchtlinien auf, entlang derer Kreation entstehen kann. „With de Certeau these tactics can be described as a consumption producing opportunity/virtuality. ‘Production’ of opportunity is not constitutive of an identity whose transformational potential answers to its buying power or consumptive capability. It is instead driven through imagination and passion and as such not constituted as a consumptive subject of enterprise but a productive subject without obvious belongingness to a grand discourse. It rather works on the plane of the event (the moment) and its random distribution of occasions.“ (Hjorth 2003: 226)
Die Etablierung virtueller Möglichkeiten bewirkt eine Transformation des Subjekts als produktives Subjekt. Indem es sich aus eigenen Kräften Handlungsraum verschafft, steigert das Subjekt seine Entfaltungsmöglichkeiten und damit, in letzter Konsequenz, seine Freiräume. Wir haben es hier mit einer Bewegung zu tun, in der Möglichkeit und Freiheit nicht voneinander zu trennen sind: Je mehr Produktion von Möglichkeiten, desto mehr Eröffnung von Freiheiten. Und umgekehrt: Je mehr Freiräume, sich zu bewegen, desto mehr Möglichkeiten, sich zu entfalten. Bei der Etablierung von Passagen und Kanälen finden wir durchgehend Praktiken, die eine spielerische, kritische oder affirmative Auseinandersetzung mit dem Sujet der Grenze andeuten. Schon die Geschwindigkeit (Prinzip der Intensität) ist konstitutiv für das Überwinden von Grenzen, insofern die nomadische Lebensweise eine Bewegung in der Zeit anstatt eine Beherrschung eines Ortes darstellt. Die Neugierde wiederum, gleichfalls eine Grenzpraktik, wagt das
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Nomadische Praktiken der Freiheit
Unbekannte und lässt das Vertraute hinter sich. Die Leidenschaft ist per definitionem ein übermäßiger Antrieb, der sich über den Zustand des Maßhaltens hinwegsetzt und oft geradezu getrieben ist von einer Sehnsucht für das Imaginäre. Aber nicht nur solche Affekte, auch diverse spielerische, parodistische oder provisorische Verhaltensweisen sind Formen, in denen vorgegebene Grenzen taktisch gewendet werden (Virno 2008). Sprachliche Ausdrucksformen und verschiedene Stilmittel, angefangen von Ironie und Humor bis hin zu Witz und Zynismus, aktualisieren das Sprachsystem auf jeweils neue, kreative Weise. Mit Blick auf die Organisationsforschung ist auch auf die mannigfaltigen Formen des Gebrauchs von Regeln hinzuweisen (Ortmann 2003). Die Anwendung, Missachtung oder Widersetzung von Regeln sind ebenso Grenzpraktiken wie die verschiedenen Formen des politischen Widerstands oder unerlaubten Agierens innerhalb sozialer Normsysteme. Davon ganz abgesehen, kann schon das bloße physische Betreten von verbotenem Territorium eine Fluchtlinie eröffnen. Schließlich sei hier noch die bereits angedeutete Praktik des Problematisierens als Form der Virtualisierung angesprochen. Die nomadische Wissenschaft (Deleuze & Guattari 2005: 495-515) zeichnet sich durch ein epistemologisches Ethos aus, wonach Wissen als Modus der Kreation anstatt der Lösung, der Vermittlung anstatt der Vergegenständlichung dient. Menschliche Intelligenz und Intuition drücken sich weniger in der Lösung von Problemen denn in deren Konstruktion aus, weshalb „the history of man, from the theoretical as much as from the practical point of view is that of the construction of problems“ (Deleuze 1991: 16, zit. in Munro 2005: 61). Während die Lösung der Logik von Identität, Dialektik, Essenz und Sein folgt, steht das Problematisieren für Differenz, Singularität, Mannigfaltigkeit und Werden. Im einen Fall werden essentielle Interessen artikuliert, im anderen das Problematische als Ereignis konstruiert. Und während die Problemlösung kennzeichnend für eine repräsentative Kartographie steht, eröffnet die Problemkonstruktion eine Virtualität, die an der Möglichkeit von Kreativität orientiert ist: „Furthermore, it is by means of this process of constructing its own problems that humankind becomes conscious of its freedom“ (Munro 2005: 61).31 Eine kritische Praxis der Kreativität fragt daher weniger nach deren Kapazität, Probleme zu lösen, sondern nach ihrem Potential, solche überhaupt erst zu konstruieren. Daraus erklärt sich die große Bedeutung des Experimentierens und Improvisierens innerhalb nomadischer Praktiken. Kreative Praxis repräsentiert Wissen nicht, sondern experimentiert und improvisiert mit ihm.
31
Hier zeigen sich ein weiteres Mal die ähnlichen Konnotationen der Begriffe Freiheit und Kreativität (vgl. Kapitel 2.2.2).
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Neue Räume: Aktualisieren und Produzieren Passagen und Kanäle öffnen neue Wege, durch die sich Möglichkeiten von Praxis ergeben, sie konstituieren damit aber noch keinen Handlungsmodus. Freiräume schaffen ist die eine Sache, sie zu nützen eine andere. Erst durch die Aktualisierung der Möglichkeiten kann Praxis stattfinden. Das Aktualisieren bezeichnet das konkrete Anwenden, Kreieren, Falten, Wenden und Transformieren eines virtuellen Handlungsraums, es liegt im kreativen Einsatz neuer Praktiken ebenso wie in der transformativen Anwendung vorfindbarer Möglichkeiten. Damit ist die Aktualisierung nicht bloß Praxis, sondern auch Produktion. „Creative invention of new practices produces a space where one’s conduct is outside normalisation, as the normalising image is used in tactical ways. (…) Introducing new styles of practising – anomalies often inspired from different worlds and one’s dwelling within those – produces new spaces for action.“ (Hjorth 2003: 227)
Praxis, in diesem Sinne verstanden als produktive Aktivierung möglicher Handlungsräume, konstituiert sich nie autonom von vorherrschenden Kraftfeldern und Kraftlinien. Nomadische Praktiken sind oft als Korrektiv, Widerstand oder Affirmation von dominanten Strategien zu denken – immer in Relation zu ihnen, nie unabhängig von ihnen. Entsprechend dem Prinzip der Intensität sind sie mehr von Leidenschaft geprägt als von Interesse, da Interessen bereits auf Formen der Zielstrebigkeit, Willenskraft und Kalkulation verweisen, die in Relation mit der strategischen Eroberung oder Aufrechterhaltung eines eigenen Ortes stehen (de Certeau 1988: 23). Umgekehrt wird die vorherrschende Logik eines strukturierten Raums, wenn aktualisiert durch konkrete Anwendungen, als Ereignis neu hervorgebracht. Ähnlich wie in Foucaults Diskurstheorie, in der das Ereignis den Bruch einer dominanten diskursiven Formation markiert (Foucault 1981)32, bezeichnet das nomadische Ereignis den flüchtigen Ort einer Abweichung. „Tactical inventions are temporal events that break with the dominating through finding anomalies and holding on to them. Consumption-as-production has to work spontaneously and create temporary events that break with / differ from dominant meaning.“ (Hjorth 2003: 229)
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Foucault zufolge gibt es eine Reihe unterschiedlicher Ereignisse, welche die Transformation einer diskursiven Formation hervorrufen können – und selbst diese Transformationen sind wieder unterschiedlichen Typs, sodass ihre Effekte nie ein und derselben Logik folgen (Foucault 1981: 244-249).
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Das Ereignis symbolisiert somit einen spezifischen Modus der Anwendung von Zwischenräumen. Diese Zwischenräume und das, was in ihnen geschieht, machen aus poststrukturalistischer Sicht die Bedeutung von Organisation überhaupt erst aus, weshalb auch die Praktiken des Organisierens immer in den Grenzzonen zwischen Ordnung und Chaos oszillieren (Kornberger 2003: 123f.). Ob es darüber hinaus zu einer Transformation des Praxisfeldes kommt, bleibt indes fraglich. Denn dass ein Raum zwischen dominanten Kraftlinien und ihrer produktiven Anwendung existiert, heißt noch nicht per se, dass er auch als Handlungsfreiraum aktualisiert wird. Indem wir fragen, wie Akteure diese Zwischenräume ausfüllen, einsetzen, organisieren und verwenden, suchen wir gleichzeitig nach den Ereignissen, in denen sich die Freiheit ihres Handelns kristallisiert; suchen also nach ihren Interpretationen von Realität und fragen, wie sich die Akteure darin einschreiben; suchen ferner nach den repräsentativen Praktiken im Feld und fragen, wie sich Handelnde darin präsentieren; suchen nach den Wahrheitsregimen vor Ort und fragen, wie sie umgeschrieben werden; suchen schließlich nach den vorherrschenden Machtrelationen und fragen, wie sie verfestigt oder geschwächt, zusammengefügt oder aufgelöst werden.
Bewegungen: Entfalten und Organisieren Schließlich gilt es noch jene Dimension nomadischer Praktiken zu diskutieren, die ihre Entfaltung in den eröffneten Handlungsfreiräumen beschreibt. Hier finden mannigfache Bewegungen statt, ohne in geordneten Bahnen zu verlaufen. Praktiken des Verbindens und Vernetzens organisieren sich als nichtrepräsentative Kartographie (Hardt 2002). Praktiken der Enthierarchisierung drücken sich im Organisieren eines organlosen Körpers aus (Deleuze & Guattari 1977b). Praktiken des Zulassens ermöglichen die Komposition eines Gefüges (Vötsch 2008). Praktiken des Widerstands konstituieren sich als politisches Subjekt der Multitude (Virno 2005). Für viele dieser Bewegungen und Praxisformen dient das deleuzsche Bild des Rhizoms zur Veranschaulichung der Entfaltung von Organisation und Kreativität in einem glatten Raum. Das Rhizom funktioniert durch die Prinzipien der Konnexion und Heterogenität: „Jeder Punkt kann (und muß) mit jedem anderen verbunden werden“ (Deleuze & Guattari 2005: 16). Die horizontalen Verbindungslinien entfalten sich im Unterschied zur vertikalen Baumstruktur entlang einer Konsistenzebene, haben aber, streng genommen, keine Genealogie. „There is nothing but series of connections, ‚lines of thoughts’ that are developed in a single plane“ (Styhre & Sundgren 2005: 50). Das Rhizom stellt folglich eine nicht-repräsentative Karto-
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graphie dar, in der die freien Bewegungen seiner Kräfte und Elemente – die Fluchtlinien – nicht auf einen Punkt zu reduzieren sind. „It is characterized by lines of flight rather than fixed points through which one must pass. It has no underlying model or pattern, and develops through experimentation with what it comes into contact. The rhizome is a multiplicity, an assemblage of qualitatively different elements that combine to give it freedom of movement.“ (Munro 2005: 26)
Mit dem Bild des Rhizoms können wir das Werden in seiner Mannigfaltigkeit denken. Kreativität entfaltet sich hier entlang einer Serie von Aktivitäten und Verbindungen, die Effekte produzieren, es aber gleichsam unmöglich machen, nach einem Ursprung, einer Wurzel zu suchen. Fluchtlinien verbinden sich zwischen Akteuren und Erscheinungen, zwischen Ereignissen und Relationen. „In the Deleuzian conceptualization, creativity is the ability to make connections. (...) it is connectivistic. (...) In the light of this model, creativity is not transcendental but immanent; it is produced within the series of connections rather than influencing the connections.“ (Styhre & Sundgren 2005: 57)
Kreativität stellt damit weder ein Attribut noch eine Tugend dar, die kontextunabhängig existieren würde, sondern einen prozessualen Effekt, der aus singulären Konstellationen entsteht. Dementsprechend sind auch Handlungsfreiräume noch kein Garant für Kreativität, sie können sie lediglich zulassen. Entfaltung von Kreativität durch Freiheit im Rhizom – das ist eine Form von nomadischer Bewegung, die einen Raum mit Intensitäten bevölkert, ohne ihn einzunehmen. Damit konstituieren diese Bewegungen eine Ebene von Praxis, die ohne Programm und ohne Hierarchie offen steht. Sie ist vergleichbar mit dem Konzept des organlosen Körpers bei Deleuze & Guattari (1977b, 2005), das als Organisation ohne Organ bzw. organlose Organisation Eingang in die Organisationsforschung gefunden hat, wenngleich noch relativ unerschlossen geblieben ist (vgl. Kornberger et al. 2006a, Linstead 2000, Sørensen 2005, Thanem 2004). Die organlose Organisation folgt einem Verständnis von Organisation, wie wir es bereits kennzeichnend für poststrukturalistische Ansätze herausgearbeitet haben: Organisationen sind keine fixen Gegenstände, sondern Gefüge von Ideen, Erfahrungen und Repräsentationen, die sich entlang rhizomatischer Strukturen organisieren. Sie werden von einem immanenten Werden bestimmt, nicht von einem transzendenten Sein. Selbst Organisationen im traditionellen Sinn weisen solche Merkmale auf, insofern sie immer auch Momente enthalten, in denen gerade dann etwas funktioniert, wenn es nicht organisiert, geordnet oder geplant wird. Damit ist bereits ein wesentliches Merkmal der organlosen Organisation
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angedeutet: sie ist nicht dualistisch zu denken, sondern reziprok. Überhaupt steht der organlose Körper weniger den Organen selbst – diese sind als Intensitäten zu begreifen – denn vielmehr dem Organismus gegenüber: „Der oK [organlose Körper, M.V.] widersetzt sich nicht den Organen, sondern jener Organisation der Organe, die man Organismus nennt“ (Deleuze & Guattari 2005: 218). Diesem Organismus entspräche im traditionellen Verständnis der geordnete Funktionszusammenhang einer Organisation, der sich von Organigrammen, Hierarchien und Plänen bis hin zu Strukturen und Mechanismen erstreckt. Doch ebenso wenig wie Struktur und Prozess einander ausschließende Kategorien sind (Weick 1995), sollte auch die Opposition von Organ und Organismus nicht überstrapaziert werden. Vielmehr ist es die teleologische, transzendentale Komponente, gegen die sich der organlose Körper wendet. „Hence, the body without organs is not reducible to a finished object of metaphysics, but a matter of endless becoming (...). It is not just a concept, but an experimental practice into which desire continuously invests itself. It cannot be taken for granted, but needs to be created.“ (Thanem 2004: 210)
Gewiss, es wäre eine Utopie, hier einer organ- oder gar bodenlosen Organisation das Wort zu reden, die nie aufhört, sich selbst neu zu entwerfen. Prozesse der Kreation und Entfaltung finden nie losgelöst von Strukturen – oder, um mit Deleuze & Guattari (2005) zu sprechen: Territorialisierungen, Schichtungen, Stratifizierungen – statt. Die organlose Organisation liegt als Gefüge weder ausschließlich auf der Ebene der Komposition noch auf jener der Ordnung, sondern vielmehr dazwischen (Sørensen 2005: 120). Erfasst von einem steten Prozess des Werdens, ist sie nie gefeit vor den großen Strata, als da sind: Organ (Essenz), Zeichen (Identität) und Subjekt (Autonomie). Daher kann es bei der organlosen Organisation auch nicht um die radikale Negation dieser Stratifizierungen gehen, sondern vielmehr umgekehrt um die Potenzierung von Affekten und Intensitäten, ohne dass diese zugleich und erneut mit der Logik eines Ortes oder Plans verbunden werden. „Der oK [organlose Körper, M.V.] ist so beschaffen, dass er nur von Intensitäten besetzt und bevölkert werden kann. Nur Intensitäten passieren und zirkulieren. Dennoch, der oK ist kein Schauplatz, kein Ort und nicht einmal ein Träger, auf dem etwas geschehen wird. (…) Aus diesem Grund behandeln wir den oK wie das Ei vor der Ausdehnung des Organismus und der Organisation von Organen, vor der Bildung von Schichten.“ (Deleuze & Guattari 2005: 210)
Demnach ist die organlose Organisation eine quasi-ethische Konzeption von Organisation, da sie sich im Medium radikaler Offenheit auf ihre Umwelt einlässt – gleichzeitig aber auch in sie vordringt. Wie bei einem offenen Menschen,
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der sich zur Steigerung seiner Affekte auf seine Mitmenschen einlässt, immer schon eigene Affekte und Gewohnheiten mit einfließen, so sind es auch bei einer offenen Organisation kollektive Praktiken und Routinen, welche die Erfahrung des Neuen entweder mitprägen oder aber sie zu einer solchen überhaupt erst machen. Dabei birgt die Transzendierung eines geordneten Funktionszusammenhanges immer auch Momente des Kontrollverlusts, der Unsicherheit, Gefährdung und Unvorhersehbarkeit. „Insofar as making oneself a body without organs implies opening up and connecting to an entire assemblage, it is by no means cut off from organizational life – indeed, it is extraordinary in that its nonorganizational forces of desire exceed the mechanisms of order and control that typically attract the attention of the majority of organizational research and violently unsettles the assumed stability of organizational life.“ (Thanem 2004: 215)
Die organlose Organisation denkt das Werden im Sinne einer überschreitenden Verkörperung: Der Körper geht über sich hinaus und dabei in einer neuen Verkörperung auf – wenn auch nie zur Gänze und nie zu Ende. Es ist dieses Organisieren als Werden, das die Entfaltung nomadischer Praktiken innerhalb glatter Räume – Handlungsfreiräume – adäquat beschreibt. Zugleich kennzeichnet es die Form dieser Praktiken, die sich entlang rhizomatischer Strukturen und organloser Verkörperungen bewegen.
Parasitologie: Rauschen, Übersetzen und Transformieren Wie aus den Handlungsdimensionen nomadischer Praxis hervorgegangen ist, handelt es sich dabei alles andere denn um autonome Praktiken. Fluchtlinien und Deterritorialisierungen, Grenzpraktiken und Zwischenräume verweisen auf eine Form von Praxis, die immer in Relation zu anderen Akteuren, Räumen, Strategien und Dispositiven steht. Damit ist allerdings kein Spezifikum nomadischer Praktiken angesprochen, sondern ein Charakteristikum von Praxis schlechthin. Wie später noch eingehender zu zeigen sein wird (2.5), ist Praxis immer als kollektive Praxis zu denken, nie als individuell-autonomes Tun (Schatzki et al. 2001). An dieser Stelle wollen wir ein Konzept aufgreifen, das die unumgehbare Eingebundenheit des Handelns gerade in Bezug auf die konstitutiven Grenzen und Ränder, aus denen es hervorgeht, deutlich macht. Es ist dies die Parasitologie, eine „Theorie der Ränder“ (Serres 1992: 131), wonach sich Praktiken aus der Subversion und Transformation einer gegebenen Ordnung entfalten. Kernmoment der parasitären Logik ist ein Nehmen ohne zu geben, ein einseitiges Verhältnis ohne Austausch. Brown (2002: 15f.) stellt diese Logik anhand drei
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zentraler Momente dar: Die erste Dimension betrifft den Parasiten als biologisches Wesen, der sich in einem Wirt einnistet und dabei ein relationales Verhältnis konstituiert, in dem ein Nehmen ohne Geben stattfindet. Die zweite Dimension betont die zentrale Bedeutung der Interferenz, die als Störung, Eingriff oder Lärm den Prozessen von Kommunikation und Interaktion zugrunde liegt. Schließlich, drittens, ist der Parasit auch als uneingeladener Gast zu denken, als Schmarotzer, der, wenngleich er einen ungleichen Tausch vollführt, einen Transformationsprozess initiiert. „All three meanings then coincide to form a ‚parasite logic’ – analyse (take but do not give), paralyse (interrupt usual functioning), catalyse (force the host to act differently)“ (ebd.: 16). Wir können diese drei Momente in einen Praxisbegriff überführen, der für die Konzeption der Nomadologie besonders zugänglich und fruchtbar erscheint. Demnach definiert sich Praxis (1) als unterwandernde Teilnahme, (2) als störender Eingriff oder aber (3) als schöpferische Transformation. Im (1) Analysieren drückt sich eine unterwandernde Teilnahme aus, die nimmt, ohne zu geben. Dies kann etwa die Subversion eines Systems, einer Struktur oder eines Organisationsmodus sein, wobei es zu keinem Ausbruch aus dem vorherrschenden Ordnungsgefüge kommt, ja, ein solcher im Sinne einer Befreiung oftmals gar nicht angestrebt wird. Subversive Elemente sind auch in unterschiedlichen Arten der Regelanwendung (Ortmann 2003) zu finden, ebenso wie im vorübergehenden Entzug aus strukturierten Praxisfeldern. Das (2) Paralysieren bezeichnet einen störenden Eingriff, etwa indem ein Parasit durch Intervention für ständiges Rauschen im System sorgt (Serres 1987). Dieses Rauschen lässt eine Ordnung nie vollends zu sich kommen, umgekehrt ist es gerade wieder jene Intervention, die der Ordnung ihre Legitimation gibt. Permanente Störungen werden zunehmend in das System integriert und Komplexität, Chaos und Unordnung als jeweils aktivierendes Prinzip erschlossen (vgl. Bardmann & Hansen 2006). Im (3) Katalysieren liegen schließlich die Möglichkeiten des Initiierens und Transformierens enthalten. Dieser Dimension wollen wir uns aufgrund ihrer Implikationen etwas ausführlicher widmen. Das Verb katalysieren (vom Griechischen katálysis [Auflösung], abgeleitet zu katalýein [auflösen]) hat, etymologisch betrachtet, mehrere Bedeutungen: auflösen, reinigen, herbeiführen, ermöglichen, beschleunigen, verlangsamen. So wie der Begriff der Katalyse in der Chemie das Beschleunigen einer Reaktion bezeichnet, dient er auch der Parasitologie zur Beschreibung einer Wirkung, durch die das (Re-)Agieren von Akteuren ermöglicht, beeinflusst oder angetrieben wird. Zentral ist dabei der Prozess des Übersetzens (Callon 2006). Übersetzen bedeutet, für andere zu sprechen, ihnen Rollen und Identitäten zuzuweisen und sie damit, so die Übersetzung erfolgreich ist, zum Handeln zu mobilisieren. Kann sich eine Übersetzung dauerhaft als verbindlicher Weltzugang behaupten,
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dann funktioniert sie wie eine black box, in der alle Vorannahmen, Interpretationen, Deutungen und Urteile hermetisch gespeichert sind und nicht weiter hinterfragt werden; die black box erhält so den Status einer unwiderlegbaren Gegebenheit (Callon & Latour 2006). Andererseits heißt Übersetzen auch Vereinfachen: Es löst die komplexe Realität auf und verfasst sie als überschaubares, bearbeitbares Arrangement. Beschreiben, erklären, definieren – das sind elementare Übersetzungsleistungen. So gesehen schreibt das Übersetzen das Rauschen in Information um und vollführt damit gleichzeitig eine Transformation. Schließlich impliziert dieses Vereinfachen auch eine Gegenüberstellung. Die als Arrangement verfasste Realität beinhaltet unterschiedliche Entitäten, die zu einander in Beziehung gesetzt und, daraus abgeleitet, mit entsprechenden Handlungsdimensionen ausgestattet werden. Was nun lässt sich aus dieser „Theorie der Ränder“ und ihrer parasitären Logik für die Nomadologie ableiten? Zum einen betonen sie erneut das Verständnis von Organisation als Zwischenraum zwischen Ordnung und Chaos, als ein Werden im Grenzbereich, welcher nie abgesichert ist und ständig neue Passagen und Kanäle, neue Räume und Territorien freigibt. Dabei geht es allerdings nicht um eine repräsentative Kartographie, die irgendwo zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ marginalisierte Randphänomene ausmacht. Ränder sind keine Randerscheinungen, sondern sie sind überall und mittendrin. So wie die Grenze haben sie keine ab- oder ausschließende Bedeutung, sondern eine konstitutive (Weiskopf 2002). Zum anderen zeichnet die Parasitologie die Praktiken des Organisierens als notwendig parasitäre Praktiken aus. Das Unterwandern, Stören und Einreifen, das Initiieren, Transformieren und Übersetzen sind Praktiken des Bezug-Nehmens und Bezug-Gebens, der Teilhabe und Teilnahme, der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung. Es gibt keine Erfassung von Realität, die nicht zugleich Interpretation wäre, keine Beschreibung, die nicht zugleich Einschreibung wäre, keine Repräsentation, die nicht zugleich Präsentation wäre, keine Wiedergabe, die nicht zugleich Formung wäre, keine Übersetzung, die nicht zugleich Um- und Neuschreibung wäre, keine Information, die nicht zugleich Transformation wäre. Gerade an der Transformation lässt sich diese parasitäre Logik noch einmal exemplarisch zitieren: „In order to transform, one has to participate; a ‚transformator’ cannot be outside the relationship with what is to be transformed” (Hjorth & Steyaert 2003: 291). Schließlich wird so aus jedem Teilnehmen gleichzeitig auch ein Unternehmen. Zusammenfassend sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass die hier vorgestellten nomadischen Praktiken nicht, wie etwa bei Munro (2005), per se bereits als Strategien zu verstehen sind, sondern lediglich als Handlungsdimensionen, aus denen heraus sich taktische oder strategische Praktiken ergeben können. Dabei ist das Wechselspiel von Strategie und Taktik weder linear noch
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dialektisch zu denken. Taktiken können zu Strategien werden ebenso wie Strategien taktisch zu nutzen sind. Manche Taktiken werden ohne strategische Unterstützung oder Legitimierung praktiziert, andere gar gegen sie. Widerstand kann daher gleichfalls eine Strategie wie eine Taktik sein. Neben dem Strategie-Begriff besteht ein zweiter Vorbehalt gegenüber Munro in der Bewertung dieser Prinzipien. Munro (2005: 37-40) charakterisiert die nomadischen Praktiken vorrangig als innovative Praktiken, weniger als parasitäre. Ich argumentiere stattdessen für beides: Jede soziale Praxis ist parasitär, insofern sie aus konkreten gesellschaftlichen Kontexten heraus entsteht – egal, ob sie diese Verhältnisse konserviert oder transformiert, egal, ob sie an ihren „Rändern“ agiert oder in ihren „Zentren“. Eine Praxis wäre nur dann nicht parasitär, wenn sie die gesellschaftlichen Verhältnisse (und damit auch die Bedingungen des eigenen Handelns) völlig umstülpen würde. Das aber wäre dann nicht mehr Innovation, sondern Revolution. Daher sollte uns nicht so sehr die Frage beschäftigen, ob nomadische Praktiken eher innovativ sind oder parasitär – vielmehr gilt zu fragen, welche Fluchtlinien der Kritik sie freisetzen können.
2.4 2.4.1
Fluchtlinien der Kritik Die Kunst, anders anders zu sein
Nomadische Praktiken können im Sinne Bröcklings als die „Kunst, anders anders zu sein“, verstanden werden (Bröckling 2007: 283ff.). Sie entwerfen keine Programmatik, die sich hegemonialen Objektivierungs- und Subjektivierungsregimen entgegenstellt, weil damit lediglich die Utopie einer anderen Welt gefördert und die Gefahr einer erneuten, wenngleich anders gepolten Totalisierung drohen würden. Freiheitspraktiken, welcher Art und welcher Form auch immer, können sich der herrschenden (neo-)liberalen Gouvernementalität nicht entziehen, weil deren Programmatik gerade die Produktion von Freiheit ist (2.1.2). Gegenwärtige Anrufungen an das „unternehmerische Subjekt“ entfalten Wirkungen, die jede noch so radikale Kritik in ihr Gegenteil und damit in das Vokabular des hegemonialen Diskurses zu übersetzen in der Lage sind (Bröckling 2003). Beispielsweise kann Kritik, die als Systemkritik auftritt, von ebendiesem System ohne weiteres als unternehmerische Tugend instrumentalisiert werden (Boltanski & Chiapello 2006). Zahllos die Jobprofile, die von Arbeitnehmern Kritikfähigkeit als mitzubringende Qualität einfordern, zahllos auch die Führungsstrategien, die „Kritik von außen“ begrüßen, um die eigene Performance zu optimieren. Anstatt gegen das System operiert die Nomadologie im System. Sie generiert Formen des temporären Entzugs: „Nicht Gegenkraft, sondern ein Außer-
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kraftsetzen; Unterbrechung statt Umpolen des Energieflusses; permanente Absetzbewegung statt Suche nach dem einen point de résistance“ (Bröckling 2007: 286). Nomadische Praktiken streben nicht nach vollends neuen Subjektivierungsformen, sondern entziehen sich lediglich den herrschenden Leitbildern von Subjektivität. Daraus entspringt jener Modus der Deterritorialisierung, den wir bereits zuvor als Desubjektivierung vorgestellt haben – in leichter Abwandlung an Foucault, der von „Ent-Subjketivierung“ spricht (Foucault 1996: 27). „Während Subjektivierung sich auf edukative (von educare, erziehen) Verfahren des Zu-, Ab- oder Aufrichtens stützt, ist Ent-Subjektivierung eine e-dukative (von educere, herausführen) Aktivität, welche die Zwänge des Selbst-sein-Müssens zu überwinden versucht, ohne sich in Selbstauflösung oder -auslöschung zu verlieren.“ (Bröckling 2007: 286f.)
Nomadische Praktiken stellen daher keinen systematischen „Widerstand“ dar, keine systematische „Kritik“, kein Gegenprogramm (Spicer & Böhm 2007). Sie operieren nicht so sehr von einem Ort aus, sondern vielmehr in einem Raum (vgl. deCertau 1988: 85ff.). Sie verfolgen nur selten Strategien und produzieren stattdessen Taktiken. Ob die Nomadologie überhaupt eine wirksame Strategie bieten würde, mag bezweifelt werden. In jedem Fall wäre es eine sehr verfängliche, ja, nahezu gefährliche Strategie, wie Zygmunt Bauman mit seinem programmatischen Begriff der flüchtigen Moderne andeutet (Bauman 2003). In der Entgrenzung von Raum und Zeit, die Bauman als charakteristisch für die gegenwärtige gesellschaftliche Verfassung hervorhebt, verflüssigen sich nicht nur Machttechnologien und Herrschaftsapparate, sondern auch gesellschaftliche Bezugsrahmen und kapitalistische Produktionssysteme. Gegenwärtige Leittugenden wie Mobilität und Flexibilität können demnach als Insignien eines „Rachefeldzugs des nomadischen Prinzips gegen die Prinzipien der Territorialität und Seßhaftigkeit“ (ebd.: 21) gelesen werden. Mehr noch, sie markieren gar eine neue gesellschaftliche Trennlinie von Arm und Reich, insofern mobile und flexible (Selbst-)Führungsstrategien oft enorme ökonomische und symbolische Kapitalien voraussetzen. „In der flüchtigen Moderne steht die sesshafte Mehrheit unter der Herrschaft der nomadisierenden, exterritorialen Elite“ (ebd.). Nomadische Praktiken laufen daher nicht nur Gefahr, dem, wovon sie entfliehen wollen, in die Arme zu laufen. Vielmehr können sie unbeabsichtigt gerade jene Herrschaftsverhältnisse unterstützen, gegen die sie sich in erster (Flucht)Linie wenden, insofern deren Machttechniken „sich der Unverbindlichkeit und der Kunst des Verschwindens als Mittel bedienen“ (ebd. 22). Damit offenbart sich eine Unentscheidbarkeit, die zugleich als Konsequenz aus der Absage an ein normatives Freiheitsverständnis hervortritt: Freiheit als Praxis muss stets polyvalent bleiben (vgl. Derrida 2002). Jeder Versuch, aus den man-
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nigfaltigen Praktiken eine wahrhaft-authentische Form zu filtern, fiele bereits wieder in dieses normative Dilemma. Deshalb bleibt Freiheit als leerer Signifikant (Laclau & Mouffe 1995) offen sowohl für nomadisch-minoritäre Praktiken als auch für gouvernemental-hegemoniale Praktiken. „Damit die Macht sich frei entfalten kann, muß die Welt frei von Zäunen, Mauern, bewachten Grenzen und Kontrollpunkten sein.“ (Bauman 2003: 22)
Dieses Zitat von Bauman veranschaulicht die angesprochene Polyvalenz eindrücklich. Aus dem ursprünglichen Textfluss gerissen, könnte es die Beschreibung sowohl von nomadischen Fluchtlinien wie von hegemonialen Kraftlinien sein. Was die einen von den anderen unterscheidet, kann daher nur über ihre jeweilige Form der Kritik gezeigt werden. Damit jedoch ist ein Verständnis von Kritik angesprochen, das sich nicht über einen normativen Anspruch artikuliert, sondern als ethische Praxis vollzieht. Deshalb ist die Kunst, anders anders zu sein, immer auch eine Fluchtlinie der Kritik, verstanden als „Kunst nicht regiert zu werden bzw. Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12). Wenn nomadische Praktiken für sich genommen bloße, opportunistische Affirmation sein können, so erfordern sie, wollen sie der Gefahr der Instrumentalisierung entgehen, eine konsistente Artikulation von Kritik. Damit allerdings, so könnte man einwenden, wären sie geradezu auf dem Weg zu einer strategischen Ausrichtung. Dem kann man zustimmen, solange man bereit ist, das Streben nach persönlicher Integrität und Kohärenz als strategisches Handeln aufzufassen. Man muss den Einwand jedoch ablehnen, wenn Integrität und Kohärenz als Prinzipien einer ethisch-ästhetischen Praxis begriffen werden, die mit strategischen Zielen wie Macht durch Ort und Eigentum nur schwer vereinbar sind.
2.4.2
Die Komposition der Existenz
Wir haben im letzten Kapitel die Kunst, anders anders zu sein, auf der Ebene eines systematischen Handlungsmodus diskutiert, der sich nicht auf eine dominante Strategie stützt, sondern auf taktische, temporäre, unterwandernde, entziehende, flüchtige oder unterlaufende Praktiken der Freiheit. Wie konstituiert sich das Subjekt innerhalb eines solchen Freiheitsvollzugs? Bleibt nomadische Praxis notwendig auf der Ebene eines beliebigen und sporadischen Handelns stehen oder aber können wir dahinter eine kohärente Entfaltung vermuten? Was für eine Form von Kohärenz wäre das? Gewiss, wohl kaum kann es dabei um die Rettung eines autonomen Subjekts gehen, dessen Identität und Praxis auf einem essentiellen, unverrückbaren und widerspruchsfreien Selbst gründeten. Schließlich sollte
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das, was zuvor dekonstruiert wurde, nicht über die Hintertür wieder rekonstruiert und versöhnt werden. Bleibt aber dennoch die Frage, ob es Sinn macht, nomadisches Handeln in Begriffen wie Kohärenz und Integrität zu denken. Wenn wir von Subjektkonstitution sprechen, sind zunächst mehrere Dimensionen zu berücksichtigen (vgl. Foucault 1986a: 10): zum einen ein Feld des Wissens, das Konzepte, Theorien und Wissensbestände umfasst, welche das Individuum leiten; zum anderen eine Sammlung von Regeln, die ein System von Differenzen erstellen zwischen erlaubt und verboten, normal und abweichend, gut und böse; schließlich ein Modus, der das Verhältnis zwischen dem Individuum und seinem Selbst angibt. Durch diese Dimensionen wird das Subjekt nicht nur als regiertes, sondern zugleich als regierendes Subjekt konstituiert. Den davon nicht zu trennenden Prozess der Subjektivierung begreift Foucault als die „Art und Weise, wie das Individuum sich als moralisches Subjekt seiner Verhaltensweisen“ hervorbringt und gleichzeitig jene Anstrengungen vollzieht, „um in der Wendung auf sich das zu finden, was es ihm erlaubt, sich Regeln zu unterwerfen und seiner Existenz Ziele zu geben“ (Foucault 1986b: 129). Wir fragen folglich, wie das Individuum äußere Verhältnisse subjektivieren und sie dann nach eigenen Entwürfen entfalten kann; welche Übersetzungen im Prozess der Faltung stattfinden; wie und welche Grenzen – etwa zwischen inneren und äußeren Kräften – gezogen und gesetzt werden. Diese Fragen verweisen auf den Selbstbezug des Subjekts ebenso wie auf die Praktiken der Selbstbegründung, verweisen also auf die ethischen und ästhetischen Dimensionen des Subjekts.
Ethik des Subjekts Die Frage des Bezugs, den das Subjekt zu sich selbst und zu anderen hat, zielt auf Formen der ethischen Lebensführung. Zwei Dimension sind dabei wesentlich: (1) Zum einen zeigt sich gerade im Verhältnis, das ein Selbst zu sich selbst einnimmt, eine Dimension von Freiheit. (2) Zum anderen enthält ein so verstandener Selbstbezug immer auch Momente des Widerstands, des Fremdentzugs. (1) Im ersten Fall geht es neben Techniken der Selbstkontrolle vor allem um den Begriff der Selbstmächtigkeit, so wie ihn Foucault vor dem Hintergrund des antiken Lebens in der Polis kontextualisiert (Foucault 1986b, 2004). Die Selbstmächtigkeit macht sich zuallererst frei von Fremdbeherrschung, um ein Handeln nach eigenen Geboten zu ermöglichen. Sie stellt eine Praxis der Freiheit dar, die weder das Subjekt zum souveränen Akteur erhebt noch sich als Gegenpol zu einer repressiven Herrschaft von außen verortet. Sie bezeichnet vorerst lediglich einen Handlungsmodus – einen Modus, der den Umgang mit der Macht beschreibt, nicht aber deren Negation oder Reduktion. So verstanden, kann Selbst-
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mächtigkeit auch nicht als normatives Gebot einer universellen Moral gedeutet werden (wie es etwa bei Kant die Autonomie darstellt), sondern als eine individualisierende Strategie der ethischen Lebenskunst (Schmid 1998). Selbstsorge und Selbstschöpfung sind dabei zwei Momente ein- und derselben Bewegung. Diese Konzeptionalisierung von Selbstmächtigkeit unterstreicht das Verständnis von Ethik als Praxis im Gegensatz zu einem normativen System. Besonders deutlich wird der Gegensatz im Vergleich der Kategorien Ethik und Moral. Die Moral ist viel stärker mit dem Begriff einer Ordnung verbunden ist – Ordnung im zweifachen Sinne von Substantiv und Verbum: einerseits als Ordnungssystem, in das sich ein Individuum einfügt, andererseits als ein (an)ordnendes System, dem das Individuum untersteht (Fillion 2005: 56f.). Die als Praxis verstandene Ethik veranschaulicht hingegen nicht nur die Differenz von Ordnung und Organisation, sondern sie verweist auch auf den ontologischen Gegensatz von Realisierung und Aktualisierung. Was Foucault in seinen historischen Studien untersucht, ist nicht die Realisierung eines ahistorischen Freiheitsmodus, der sich über verschiedene Epochen und Kontexte hinweg in je unterschiedlichen Stufen und Graden verwirklichen würde – und damit einer dialektischen Entfaltungslogik des hegelianischen Weltgeistes nahe käme, welcher im Laufe der Menschheitsgeschichte mehr und mehr zu sich kommt. Vielmehr sind Foucaults ethische Praktiken jeweilige Aktualisierungen von Freiheit, eingebettet in spezifische sozio-ökonomische Kontexte, Dispositive und Episteme. Diese Aktualisierungen – man könnte auch von Artikulationen sprechen – entbehren jeglicher qualitativen Differenz. Schließlich bleiben sie ohne teleologische Vermittlung nebeneinander stehen. (2) Das zweite Moment des ethischen Selbstbezugs liegt in der Abwendung des Fremden, die nicht notwendig, aber tendenziell eine Form des Widerstands darstellt. Dass Selbstbezug zugleich auch Fremdbezug sein kann, zeigt sich gegenwärtig an neu entstehenden Umgangsformen im zwischenmenschlichen Bereich. Die Ökonomisierung aller Lebenswelten hat auch menschliche Beziehungen in einer Form erfasst, die der Arbeitsteilung kapitalistischer Privatunternehmen nahe kommt. Während letztere ganze Produktionsketten zur Konzentration auf das wesentliche Geschäft auslagern, delegieren heute auch schon Individuen einzelne Bereiche ihrer Lebensführung an Dritte, um sich gezielter ihren eigentlichen Angelegenheiten widmen zu können (März 2007). Nicht nur die unüberschaubare Fülle an Lebensratgeberliteratur und Selbsterfahrungsseminaren zeugt von steigender Lebens- und Erlebens-Nachhilfe, sondern auch das anwachsende Bedürfnis nach persönlichen Coaches, die ihre Dienste als Entscheidungsgehilfen für notwendige, wenn auch oft überfordernde Lebensbereiche anbieten. Was hier jedoch auf den ersten Blick noch als freiwillige Delegation persönlicher Freiheiten erscheint, erweist sich aus gouvernementaler Perspektive durchaus als
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umfassendes Managementdispositiv. Denn dass gegenwärtig nicht nur Unternehmen, sondern gängigen Subjektivitätsansprüchen zufolge auch persönliche Krisen, Beziehungen und Karrieren einer professionellen Führung bedürfen, erhärtet die Annahme eines „als übergreifendes Dispositiv zeitgenössischer Menschenführung“ (Bröckling 2000: 133) verstandenen Managementbegriffs. Deshalb kann man da, wo persönliche Identität und private Beziehungen unter den Vorzeichen des Managements bewertet werden, auch von einer „capitalization of the meaning of life“ (Gordon 1991: 44) sprechen, die die Subjekte agieren lässt, als wären sie bei sich selbst angestellt. Wenn der gegenwärtig hegemoniale Selbstbezug ein solcher ist, in dem sich Individuen als unternehmerische Subjekte erfahren, dann müsste eine allfällige Kritik genau hier, an diesem Bezug, ansetzen. Denn der Selbstbezug – verstanden als jener Modus, in dem sich das Individuum als Subjekt erfährt – ist es, in dem Foucault ein wesentliches, wenn nicht entscheidendes Widerstandspotential gegenüber herrschenden Verhältnissen ausmacht. So geht es heute nicht darum, „das Individuum vom Staat und dessen Institutionen zu befreien, sondern [darum,] uns sowohl vom Staat als auch vom Typ der Individualisierung, der mit ihm verbunden ist zu befreien. Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen.“ (Foucault 1994: 250)
Aus diesem Grund steht die Selbstsorge nicht nur in einem konstitutiven Verhältnis zur Freiheit, sondern auch zur Macht – man kann sie gar als „eine Art Konversion der Macht“ (Foucault 1993a: 15) verstehen. „Sie ist tatsächlich eine Art und Weise, die Macht zu kontrollieren und zu begrenzen“, aber auch, um vor „Machtmissbrauch“ zu schützen, denn schließlich ist es „die Macht über sich selbst, die dann die Macht über die anderen reguliert“ (ebd.: 15f.).
Ästhetik des Subjekts Foucault hat sich in seinen späten Werken zunehmend Fragen der ethischen Lebensführung gewidmet, um daraus die Idee einer Ästhetik der Existenz zu erschließen (Foucault 2007). Er begreift darunter die „reflektierte Kunst einer als Machtspiel wahrgenommenen Freiheit“ (Foucault 1986a: 318), wobei ihm diese programmatische Konzeption von manchen Seiten Kritik eingebracht hat, die damit argumentieren, dass Foucault genau jenes autonome Subjekt zu retten
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Nomadische Praktiken der Freiheit
versuche, das er zuvor so radikal verworfen hatte.33 Allerdings bedeutet die vertiefende Zuwendung zu den Praktiken der Lebensführung nicht, die Bedingtheit und Abhängigkeit dieser Praktiken von den Dimensionen der Macht zu leugnen. Es bedeutet lediglich die Verschiebung des Schwerpunktes zugunsten einer Auslotung subjektiver Handlungs- und Entfaltungsfreiräume. Das Subjekt wird nicht als Ort autonomer Handlungsvollzüge konzeptionalisiert, sondern als Umschlagplatz, in dem innere wie äußere Kräfte schöpferisch entfaltet werden. „The point of the subject of the aesthetics of existence is that it makes creative use of the forces. It ‘folds’ the forces of the outside and makes them productive“ (Weiskopf 2002: 86). Die menschliche Existenz wird darin nicht mit einer essentiellen Substanz versehen, die es zu enthüllen gäbe, sondern als formloser Stoff begriffen, der erst gewoben, gefaltet und gestaltet werden muss. „Im allgemeinen sind die Kräfte, die diesen Stoff formen, nicht nach dem monotonen Mechanismus von Unterdrückung und Befreiung zu bestimmen; die Formung dieses Stoffes resultiert eher aus der Auseinandersetzung zwischen Diskursen, Dispositiven und Techniken des Selbst. (...) Die Formung der individuellen Existenz funktioniert durchaus als eine Form der Kritik und des Widerstands gegen die großen Dispositive, die Subjektivität erzeugen sollen. Deshalb erscheint die Individualität nicht mehr als etwas Gottgegebenes, sie erscheint als Kunstwerk und Setzung ihrer selbst in Opposition zu einer Macht.“ (Mazumdar 1998: 71)
Das Selbst wird bei Foucault als Kunstwerk verstanden, das sich aus den Achsen Diskurs, Macht und Techniken des Selbst entfaltet (Foucault 1993b). Damit ist gleichsam eine ästhetische Dimension angesprochen, die in einer Matrix des Werdens Gestalt annimmt. Diese Matrix allerdings steht nie außerhalb zur Macht und auch nicht notwendig in Opposition zu ihr. Gestaltungsmacht und Formgebung sind als parasitäre Praktiken zu denken, die inmitten eines machtdurchdrungenen Kräftefeldes stattfinden. Anstatt eines illusorischen Entzugs von der Macht ist es der Umgang mit ihr, der zum Handeln ermächtigt. Das Prinzip der Gestaltungsmacht steht daher einer selbstvergessenen Machtaneignung ebenso gegenüber wie einer verhärteten Askese. Wenn wir nach den Praktiken der Selbst-Begründung fragen, dann bezeichnet diese Begründung weniger einen Ort der Herrschaft denn vielmehr einen Raum der Macht. Die Praktiken der Askese, die hier vollzogen werden, zeugen von einer schöpferischen Dimension: Selbstbesinnung und Selbstdisziplinierung als Übungen der Selbstbereicherung, nicht als Pflichten der Selbstbeschränkung. Foucaults Prinzip der Gestaltungsmacht wendet sich also nicht generell gegen die Askese, son33
Vgl. dazu eine Reihe erhellender wie kontroversieller Interviews mit Foucault (Foucault 1993a, 2007).
Fluchtlinien der Kritik
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dern speziell gegen jene lebensverneinenden, versklavenden und unfreien Formen eines Selbstbezugs, denen bereits Nietzsche in seiner Genealogie der Moral entgegentrat (Nietzsche 1999d). Eine andere Praktik der Selbstbegründung liegt in der Wahrsprechung (parrhesia) sowie im Wahrsprechen des Anderen (Foucault 1988b). Hier etabliert Foucault den Begriff der „Wahrheitsspiele“, in denen sich das Subjekt das eigene (Da)Sein zu denken gibt. Er interessiert sich dabei für die „Spiele des Wahren und des Falschen, in denen sich das Sein historisch als Erfahrung konstituiert, das heißt als eines, das gedacht werden kann und muss“ (Foucault 1986a: 13). In Anlehnung an Foucault macht Wilhelm Schmid (1998: 165-172) fünf leitende Momente für die Ästhetik der Existenz aus: reflektierte Machtausübung, kreative Selbstentfaltung, gewählte Selbstgesetzgebung, Sensibilität und Urteilskraft sowie, schließlich, die Macht der Schönheit, die aus einem bejahenswerten Lebensentwurf hervorgeht. Der Modus der Selbstführung, der eine solche Existenz bestimmt, ist allerdings nicht mehr mit der modernen Konzeption eines Subjekts der Identität zu begreifen, das als autonomes und rationales Individuum fortwährend mit sich selbst identisch bliebe. Vielmehr ist es die Kategorie der Kohärenz des Subjekts, die – bei aller Unplanbarkeit des Lebensweges und der unvorhersehbaren Immanenz seines Vollzugs – die Gefahr der starren Festsetzung einer Identität, einer selbstidentischen Einheit, ebenso umgeht wie jene einer Auflösung in wahllose Beliebigkeit und grenzenlose Vielheit. Die Kohärenz des Lebens bezeichnet die Möglichkeit, „einen Zusammenhang des Lebens zu bilden, beständig und nachhaltig die unterschiedlichen und widersprüchlichen Bestandteile des Lebens miteinander zu verknüpfen und dem Ganzen Gestalt zu geben. So wird die Lebensführung zur Kunst, dem gesamten Leben Form und Stil zu verleihen.“ (Schmid 1998: 120)
Dass die Kohärenz einerseits für die Stabilität und Kontinuität des Subjekts sorgt, andererseits jedoch Zusammenhänge vereint, die keineswegs widerspruchsfrei sind, macht sie noch nicht beliebig. Beliebig wäre sie, wenn sie jederzeit veränderbar wäre und damit die Haltung des Selbst laufend unterminiert würde. Auch muss die Kohärenz nicht immer präsent sein, vielmehr kann sie sich in Techniken der Selbstvergessenheit verlieren, um sich dann wieder „auf spielerische Weise“ (ebd.: 333) neu zu konstituieren. Ähnliches gilt für Momente der Kontingenz, für das also, was unvorhersehbar und zufällig über das Leben hereinbricht: Die Kohärenz des Subjekts steht nicht für ein deterministisches oder gar fatalistisches Lebenskonzept, vielmehr bezieht sie Kontingenz mit ein und „und nutzt sie als Element der immanenten Erneuerung des Lebens und des Selbst“ (ebd.: 367). Kurzum: Widerspruch, Transformation und Kontingenz sind von der Kohärenz ebenso wenig ausgeschlossen wie Bruch, Zwiespalt, Uneinig-
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Nomadische Praktiken der Freiheit
keit und Vielstimmigkeit. Vielmehr verweisen all diese Aspekte auf den immanenten Konstitutionsprozess der Kohärenz, der durch Techniken der Selbstgestaltung, Selbstaneignung und Selbstermächtigung Form annimmt und dessen beständige Generierung eine „Kunst der Disposition“ (ebd.: 253) darstellt. „Die Kohärenz ist das Gefüge, das die vielen Aspekte des Ichs in einem vielfarbigen Selbst in einen wechselseitigen Zusammenhang bringt. (…) Sie ist es, die macht, dass Subjekte, obwohl sie nicht dieselben bleiben, sich doch als ‚sich selbst’ erfahren, indem sie nämlich dafür Sorge trägt, dass auch die Gebrochenheit und Unsicherheit noch ein Bezugsfeld haben kann, und weder ins Leere gehen noch zur Selbstauslöschung führen muss.“ (Schmid 1998: 252f.)
Zu unterscheiden ist die Kohärenz von der Integrität, wobei letztere eher einen Modus der ersteren darstellt; einen Modus, der die Art und Weise angibt, wie ein Zusammenhang des Lebens zwischen Werten und Haltungen hergestellt wird.34 Eine zweite Differenzierung liegt im Begriff der Haltung – auch sie steht gleichwohl in Bezug zur Kohärenz. Die Haltung, die im Verhalten einer Person zum Ausdruck kommt oder mit der eine Handlung ausgeführt wird, ist die Aktualisierung der als Virtualität zu denkenden Kohärenz. Sie verweist somit auf die Einbettung einer Handlung oder eines Verhaltens in den Horizont der Lebensführung sowie auf die Integrität einer Person.35 (Beispielsweise verkörpern autonom geformte Gewohnheiten eine selbst gewählte Haltung.) Allerdings ist die Haltung nicht als abgeschlossene Gussform zu verstehen, vielmehr wird sie fortwährend geformt – entweder durch heteronome Prägung oder durch autonome Ausprägung. Das bringt uns noch einmal zur Kohärenz, denn auch sie ist unabgeschlossen (und nie vollendet), des Weiteren fragmentarisch (nicht einheitlich) und sie beruht auf Ähnlichkeit (nicht Identität). Der Modus ihrer Konstitution erfolgt wesentlich über Narrativität, in der Identitäten in diachronen Bewegungen immer wieder neu erzählt und damit auch die Schwerpunkte und Kernelemente der Kohärenz verschoben werden. Zugleich ist die Kohärenz „Ausdruck der Selbstmächtigkeit des Subjekts, die nicht mit Selbstherrschaft oder 34 35
Häufig wird dabei auf einen ganzheitlichen leiblich-seelisch-geistigen Zusammenhang rekurriert (vgl. Pollmann 2005). Der Lebenshorizont bezeichnet eine Wahrnehmungsgrenze, mit der zugleich das Maß der Möglichkeiten abgegrenzt ist. Er wird stets aufs Neue durch Handlungen und Entscheidungen eröffnet wie begrenzt, da mit jeder Realisierung einer Möglichkeit andere Möglichkeiten wegfallen (vgl. Schmid 1998: 218). Gerade Entscheidungen haben daher oft formgebenden Charakter, da sie eine Verbindlichkeit instituieren, die mit den Möglichkeiten, die sie eröffnet, andere zugleich ausschließt. Bei alledem ist von zentraler Bedeutung, wie klar oder unklar der Horizont absehbar ist. Je klarer er vor Augen steht, desto selbstmächtiger kann das Individuum seine Existenz entfalten.
Fluchtlinien der Kritik
73
‚Selbstbeherrschung’ verwechselt werden darf“ (Schmid 1998: 257). Nichtsdestotrotz bleibt das Oszillieren zwischen einer weichen und einer harten Form von Selbstbemächtigung ein anhaltend ambivalenter Prozess. „Diese weiche und tragische Macht über sich selbst konstituiert sich sogar als Opposition gegen die Macht der Verhärtung, und die so gestaltete Existenz ist nicht als Gefängnis oder Gehege für die wilden Triebe zu betrachten, sondern als eine Matrix des Werdens: als eine Ordnung der Loslösungen von sich selbst oder eine Batterie der Grenzen im Sinn der Abgrenzungen und Abhebungen von sich selbst. Die Kunst der eigenen Existenz besteht in der immer wiederholten Übung, sich selbst als lebbares Ereignis hervorzurufen.“ (Mazumdar 1998: 72)
Fassen wir kurz zusammen: Die ethischen und ästhetischen Dimensionen der Subjektkonstitution haben gezeigt, dass wir es immer mit Faltungsprozessen und Subjektivierungslinien unterschiedlicher Intensität und Permanenz zu tun haben, welche die Rede eines souveränen Subjekts ad absurdum führen. Da das Subjekt in seinem Selbstbezug immer von und mit Macht umgeben ist, sind seine Formgebung und Gestaltwerdung nie abgeschlossen. Dennoch können wir über Kategorien wie Selbstsorge, Gestaltungsmacht oder Kohärenz sehr wohl zu einem Verständnis von Lebenskunst kommen, in dem selbstmächtige Subjekte durch reflektierte Wahl über die Komposition ihrer Existenz entscheiden und sodann eine singuläre Lebensform konstituieren.36 Schließlich macht es der relativ stabil ausgeprägte Kern der Kohärenz möglich, dem Subjekt Verantwortung zuzuschreiben sowie Verlässlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Verbindlichkeit von ihm zu erwarten.
36
Diese singuläre Lebensform hat durchaus Ähnlichkeiten mit dem, was Simmel „individuelles Gesetz“ nennt (vgl. Scott 2009).
Nomadische Praktiken der Freiheit
74 2.5 2.5.1
Die Macht der Praxis Prozessontologie
Welche Konsequenzen ergeben sich aus den nomadischen Freiheitspraktiken und ihren Fluchtlinien für die Fragen der Organisation und des Organisierens? Wie wir gezeigt haben, bedeuten sie zunächst weder den Tod der Organisation noch das Ende des Organisierens, vielmehr erfordern sie, diese Kategorien anderes als im herkömmlichen Sinne zu denken. Wenn wir Organisieren als Werden begreifen, dann setzen wir ein spezifisches Verständnis von Praxis voraus, das eine Reihe politischer Implikationen nach sich zieht. Wir fragen zunächst nicht mehr, was eine Organisation ist, sondern wie sie organisiert wird. Dieser Fokus auf die Praktiken des Organisierens hat sich seit dem practical turn in den Sozialwissenschaften (Schatzki et al. 2001) auch innerhalb der poststrukturalistischen Organisationstheorien niedergeschlagen (2.2.1). Anstatt der Strukturen von Organisationen werden die Prozesse des Organisierens fokussiert und schließlich jene Sinnwelten und Bedeutungszusammenhänge erschlossen, aus denen sich Praxis generiert. All dem liegt in der Regel ein Praxisbegriff zugrunde, der das Handeln immer in Relation zu einem Praxiskollektiv setzt (Barnes 2001). Das Praxiskollektiv verweist auf die Bedingungen der Möglichkeit des Handelns und somit auf dessen gesellschaftlich konstituierte Dimension. Zembylas (2004: 251f.) führt vier Grunddimensionen an, indem er aus anthropologischer, erkenntnistheoretischer, soziologischer und kulturtheoretischer Sicht ein solches Verständnis von Praxis als kollektivem Handlungszusammenhang nahelegt. Dass Handeln nie ohne sozio-historischen Kontext beschrieben und erklärt werden kann, heißt indes nicht, dem Praxiskollektiv eine deterministische Wirkung zuzuschreiben (Ortmann, 2003). Wie allein an den wechselseitigen Aushandlungsprozessen von Identitäten und Werten abzulesen ist, aber auch an der jeweils konservativen oder aber kreativen Auslegung und Ausführung von Regeln, Rollen und Tätigkeiten, stehen Individuum und Praxiskollektiv in einem reziproken Verhältnis zueinander, indem sie sowohl aufeinander strukturierend wirken als auch gegenseitig strukturiert werden (Giddens 1997). Dieses konstitutive IneinanderVerwobensein ist zugleich der Grund dafür, dass „Hybridität als Grundmerkmal von Praxiskollektiven“ untilgbar ist (Zembylas 2004: 257). Nun sind Praxiskollektiv und kollektive Praxis aus sozialwissenschaftlicher Sicht unerlässliche Kategorien zur Beantwortung der Frage, wie und warum Menschen tun, was sie tun. Aus organisationstheoretischer Sicht greifen sie jedoch zu kurz, wenn es darum geht, das Organisieren als Werden auf einer ontologischen Ebene zu erklären. Deshalb bedarf es einer konstitutiven Theorie von Praxis, die die Entfaltung sozialer Kräfte als produktiven Prozess begreift, um
Die Macht der Praxis
75
schließlich dessen politischen wie ethischen Dimensionen aufzuzeigen. Chia (2003) zufolge ist eine solche Prozess-Ontologie charakteristisch für postmoderne Organisationstheorien und zeichnet sich aus durch eine „metaphysical orientation that emphasizes an ontological primacy in the becoming of things“ (Chia 2003: 128). Dieses Denken des prozessualen Werdens wollen wir anhand der bereits erwähnten Kompositionsebene des Organisierens erschließen, die Deleuze & Guattari (2005) anstelle der Ordnungsebene ins Feld führen. Sie ermöglicht ein ontologisches Verständnis von Praxis, deren Entfaltung aus sich heraus, auf Ebene der Immanenz, erfolgt. Demnach gestaltet sich das Organisieren ohne transzendenten Plan; es realisiert keine vorgegebene Ordnung, sondern komponiert ein werdendes Gefüge. Gleichzeitig wird dabei ein Verständnis forciert, das Organisieren als genuin politische Praxis begreift. Dafür ist zunächst ein näherer Blick auf die durch Nietzsche und Spinoza beeinflusste Ontologie von Deleuze notwendig.
2.5.2
Affirmation, Immanenz und Singularität
Die Ontologie von Gilles Deleuze ist auf einer immanenten und materialistischen Ebene angesiedelt, die sich radikal gegen transzendentale oder verborgene Begründungen des Seins wendet. Deleuzes konstitutive Konzeption von Praxis stellt dem negativen Prinzip der Determinierung das positive Prinzip der Differenzierung gegenüber; statt einer dialektischen Synthese von Einheit und Vielheit argumentiert er für die irreduzible Mannigfaltigkeit des Werdens. Besonders anschaulich stellt sich diese ontologische Position am Unterschied zwischen der Ordnung des Seins und der Organisation des Werdens dar, eine Unterscheidung, die Michael Hardt in seinem Deleuze-Buch einführt: „By the order of being, of truth, or of society I intend the structure imposed as necessary and eternal from above, from outside the material scene of forces; I use organization, on the other hand, to designate the coordination and accumulation of accidental (in the philosophical sense, i.e., nonnecessary) encounters and developments from below, from within the immanent field of forces. In other words, I do not conceive of organization as a blueprint of development or as the projected vision of an avant-garde, but rather as an immanent creation or composition of a relationship of consistency and coordination. In this sense, organization, the composition of creative forces, is always an art.“ (Hardt 2002: XV)
Der Gegensatz von Ordnung/Sein und Organisation/Werden verschärft sich durch eine weitere Dichotomie: Ordnung wird im Bereich des Realen und Möglichen verortet, Organisation hingegen im Virtuellen und Aktuellen. In der Ord-
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Nomadische Praktiken der Freiheit
nung ist das Mögliche bereits determiniert als noch nicht Reales, als Realisierbares. In der Organisation hingegen ist es ein schöpferischer, kreativer, originärer, nicht-determinierter Schaffensakt, der das Virtuelle aktualisiert. Weitere Grundkategorien der deleuzschen Ontologie sind Affirmation und Singularität. Der Begriff der Affirmation geht auf Nietzsches Philosophie zurück, dessen radikale Lebensbejahung sich von allen heteronomen Gesetzlichkeiten befreit und in den Nihilismus mündet. Dieser endet an einem Punkt des Wissens, der nur mehr durch absolute Affirmation überboten werden kann. „Instead of being overwhelmed by the nihilistic vision of absurdity to be borne (i.e. passive nihilism), man must give meaning to this meaningless life and assign an aim to chance, that is create life values unknown so far” (Philippe 1999: 58). Erst die Affirmation macht aus dem passiven einen aktiven Nihilisten. Dessen unbedingte Lebensbejahung des amor fati stellt ein gleichsam post-kognitives, quasireligiöses Prinzip dar, weil es bewusst auf das Ungewisse zugeht. „Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut nicht-zu-wissen, als Künstler!“ (Nietzsche 1999c: 351). Der Negation folgt also die radikal Affirmation, der Destruktion die machtvolle Kreation, dem Wissen das schöpferische Nicht-Wissen. Diese Affirmation ist keineswegs eine passive Form der Akzeptanz oder Hinnahme des Daseins, sondern, im Gegenteil, eine aktive Form des Erschaffens und In-die-Welt-Setzens. Allerdings wäre reine Affirmation alleine noch zu wenig – damit wäre noch keine Praxis möglich. Nietzsche bleibt – in Deleuzes Interpretation – bei dem Spiel von Kräften stehen und kann so nicht zu einer Konzeption von (körperlichen, personalisierten, sozialen) Agenten kommen. „The attributes of a practical agent must be ‚personalist’ in some sense – for a theory of practice we do not need an individualist theory, but we do need a corporeal and desiring agent” (Hardt 2002: 54). Hier führt der Weg von Nietzsches Affirmation zu Spinozas Praxis. Mit Spinoza kommt zunächst der Begriff der Singularität zum Tragen. Singularität hat dabei weder mit Individualität noch mit Partikularität zu tun, sondern bezeichnet die unhintergehbare Differenz, die jeder Substanz inhärent ist. Das Besondere daran ist, dass Spinoza Singularität nicht nur ontologisch, sondern auch epistemologisch versteht. Nicht nur das Sein bezeichnet eine unhintergehbare Singularität, sondern auch die Wahrheit, insofern sie nur aus sich selbst und durch sich selbst zum Ausdruck kommen. Das Sein findet seine Wahrheit in sich, es ist die Form, die seine Ursache in sich trägt. Spinoza wendet damit ein Kriterium der Ontologie – die radikale Singularität – auf die Epistemologie an, seine „Wahrheit“ ist folglich weniger epistemologisch denn vielmehr ontologisch. Diese ontologische Wahrheit ermöglicht es, Wahrheit als Sein zu denken und dabei die Singularität der Gegebenheiten zu bewahren. Jeder Mensch, jedes Ding, jedes Ereignis, jeder Akt etc. hat seine eigene Wahrheit, seine adäquate
Die Macht der Praxis
77
Idee. Mit diesem ontologisch-epistemologischen Verständnis einer adäquaten Idee richtet sich Spinozas Denken gegen die traditionelle Korrespondenz-Theorie von Wahrheit.37 Die adäquate Artikulation dieser Wahrheit, kommt im Begriff der Kohärenz zum Vorschein. Die Kohärenz des Seins bedeutet die Affirmation von immanenter und singulärer Organisation einerseits und die Kritik von transzendenter und dialektischer Ordnung andererseits. Kategorien wie Affirmation und Singularität werfen notwendig die Frage der Macht auf. Je mehr wir zu unserer Wahrheit, zu unserer adäquaten Idee kommen, desto mehr erhöht sich unser Vermögen zu denken und zu partizipieren. Der Nietzscheanische Wille zur Macht entfaltet sich als Wille zur Wahrheit. „The strategy of the adequate idea makes the question of truth a project of power” (Hardt 2002: 90). Folglich wird die Frage der adäquaten Idee zugleich zu einem ethischen Projekt. „Here, in this transformation of the epistemological toward the ethical, we see a combined application of the principle of singularity (an absolutely infinite being as cause of itself, the adequate idea as enveloping its cause) and the principle of power (being as productivity, truth as creation); the principle of singularity gives us the terms for the definition of the adequate idea, and the principle of power transforms this definition into a project.“ (Hardt 2002: 90)
Spinozas positiver Machtbegriff gründet zunächst in der physikalischen Frage, was ein Körper kann, was also in seinem Vermögen liegt. „Was ein Körper kann, ist die Natur und die Schranken seines Affiziertseinkönnens“ (Deleuze 1993a: 192). Entlang dieser Kraft, affiziert zu werden, unterscheidet Spinoza zwischen aktiven und passiven Affektionen, wobei er letztere noch einmal differenziert in freudige passive Affektionen und traurige passive Affektionen. In dem Maße, in dem ein Körper – Spinoza spricht von einem endlichen, existierenden Modus – aktive Affektionen hervorrufen kann, stellt sich seine Macht als aktives Handeln dar, als „Kraft, tätig zu sein oder Tätigkeitsvermögen“ (ebd.: 195). Umgekehrt jedoch, wird sein Affiziertseinkönnen durch passive Affektionen erfüllt, so stellt sich die Macht als passive Leidenschaft dar, als „eine Kraft oder ein Vermögen zu leiden“ (ebd.). Die aktive Kraft der Tätigkeit steht also der passiven Kraft des Leidens gegenüber. Beide unterscheiden sich in ihrer Relation zu ihrer Ursache, die im einen Falle von innen (immanent) hervorgebracht, im anderen Fall von außen (transzendent) bezogen wird. Passive Affektionen verkörpern deshalb
37
„Das Wort ‚adäquat’ bedeutet bei Spinoza niemals die Korrespondenz der Idee mit dem von ihr vorgestellten oder bezeichneten Gegenstand, sondern die innere Übereinstimmung der Idee mit dem, was sie ausdrückt“ (Deleuze 1993a: 118).
Nomadische Praktiken der Freiheit
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einen Mangel an Macht, insofern sie ihren Grund nicht in sich selbst tragen, sondern von einer äußeren Quelle getrieben oder abhängig sind. „Unsere Kraft zu leiden ist allerdings nur die Unvollkommenheit, die Endlichkeit oder die Beschränkung unserer Kraft, tätig zu sein, in sich selbst. Unsere Kraft zu leiden bejaht nicht, weil sie gar nichts ausdrückt: sie ‚schließt’ lediglich unser Unvermögen ein, d. h. die Beschränkung unseres Tätigkeitsvermögens. In Wahrheit ist unser Vermögen zu leiden unser Unvermögen, unsere Knechtschaft, d. h. der niedrigste Grad unseres Tätigkeitsvermögens.“ (Deleuze 1993a: 197)
Auf der einen Seite ist das Sein also Spontaneität und pure Aktivität, auf der anderen Seite ist es Sensibilität. Es wird nicht nur von Handlungen bestimmt, sondern auch von Leidenschaften; Leidenschaften des Geistes und solchen des Körpers. Dabei, so gibt Spinoza zu bedenken, ist die Macht des Menschen von vornherein immer schon begrenzt durch seine schiere Gegebenheit als natürliches Wesen: „Die Kraft, mit welcher der Mensch in der Existenz beharrt, ist begrenzt und wird von dem Vermögen der äußeren Ursachen unendlich übertroffen“ (Spinoza 2002: 451). Diese äußeren Kräfte – bei Spinoza sind das Gott und die Natur – sind stärker als unsere eigenen und drängen uns passive Affektionen auf. An dieser Stelle nun begreift Deleuze die Frage, wie wir unsere Handlungsmacht steigern können, zugleich als ethisches Projekt: „Die ethische Frage findet sich bei Spinoza also verdoppelt: Wie erreichen wir es, aktive Affektionen hervorzubringen? Zunächst aber: Wie erreichen wir es, ein Maximum an freudigen Leidenschaften zu empfinden?“ (Deleuze 1993a: 217). Die Antworten darauf liegen in der Praxis!
2.5.3
Konstitution von Praxis
Die Theorie der Praxis verläuft bei Spinoza über drei Schritte: In einem ersten Schritt versuchen wir als soziale Wesen, solche Begegnungen und Erlebnisse zu fördern, die uns angenehme und freudige Leidenschaften bereiten. Aus dieser Selektion heraus konstituieren sich Gemeinbegriffe, „die Idee von ‚etwas Gemeinsamen’“ (Deleuze 1993a: 249), als Ausgangspunkt einer ethischen Praxis. Diese Gemeinbegriffe stellen bereits ein Gefüge von Ähnlichkeiten und Freundschaften dar. Deleuze: „Der Gemeinbegriff ist immer die Idee einer Gleichartigkeit in der Zusammensetzung existierender Modi“ (ebd.: 245). Wenngleich solche Gemeinbegriffe notwendig adäquate Ideen sind, beziehen sie sich grundsätzlich auf eine praktische Funktion, die Übereinstimmung von Körpern, und weniger auf einen spekulativen Gehalt. „Wenn wir auf einen Körper treffen, der mit unserem übereinstimmt, wenn wir eine passive freudige Affektion empfinden,
Die Macht der Praxis
79
dann werden wir induziert, eine Idee dessen zu bilden, was diesem Körper und unserem gemeinsam ist“ (ebd.: 251). In diesem ersten Schritt wird also aus einer passiven Leidenschaft die aktive Konstitution eines Gemeinbegriffes – und damit hört die Leidenschaft auf, Leidenschaft zu sein: „Ein Affekt, der ein Leiden ist, hört auf, ein Leiden zu sein, sobald wir eine klare und deutliche Idee von ihm bilden“ (Spinoza 2002: 629). Damit hat Spinoza eine völlig neue Ontologie geschaffen: „Being can no longer be considered a given arrangement or order, here being is the assemblage of composable relationships (…) – this assemblage, however, is not merely a chance composition but an ontological constitution“ (Hardt 2002: 99). Salopp ausgedrückt: Das Sein ist keine vorhandene Blaupause, die ordnungsgemäß ausgefüllt werden müsste. Vielmehr nimmt es erst im Prozess des Werdens Gestalt an, es entsteht aus dem Aktiv-Werden und Adäquat-Werden heraus. Sein ist daher nicht mehr länger Gegensatz zum Werden, auch nicht dessen vorgelagerte Bedingung oder dessen nachgelagerter Effekt – Sein ist Werden. Diese spinozistische Ontologie – Sein als Werden – sollte philosophiegeschichtlich erst wieder in Nietzsche und später in Heidegger zu einer prominenten Reformulierung gelangen. In einem zweiten Schritt erhärten sich die Gemeinbegriffe zu einem Medium der Vernunft. Der Gemeinbegriff fungiert dabei als konstruktiver Motor des „Aktiv-Werdens“ (Deleuze 1993a: 256), der in seinem spekulativen Inhalt auf ein Allgemeines hinweist, in seiner praktischen Funktion hingegen unser Tätigkeitsvermögen steigert, indem er ein Gefüge konstituiert, das unsere passiven Freuden, unsere Leidenschaften, in aktive Freuden, in Handeln, verwandelt. Anders gesagt: Der Gemeinbegriff ist ein Konstitutionsmodus, der inadäquate Ideen adäquat werden lässt. In diesem synchronen Entfaltungsprozess unterscheidet Spinoza drei unterschiedliche Arten und Qualitäten von Erkenntnis: Einbildungskraft, Vernunft und Intuition. Einbildungskraft, die erste Stufe, vermittelt noch keinen klaren Begriff einer adäquaten Idee, sondern höchstens vage Andeutungen davon. „Jene Erkenntnis ist eine durch ungefähre Erfahrung; und ungefähr hat etymologisch etwas mit der Zufälligkeit der Aufeinandertreffen zu tun“ (Deleuze 1993a: 257).38 Die 38
Der Vollständigkeit wegen sei angemerkt, dass Spinoza neben der Einbildungskraft auch noch Meinungen und Offenbarungen zur ersten Erkenntnisart zählt. Als negative Erkenntnisformen scheiden sie allerdings frühzeitig aus der weiteren Argumentation aus. Meinungen und Offenbarungen artikulieren im Unterschied zur Einbildungskraft „no corporeal encounter, but merely opaque mandates: They merely provide us with imperative signs. (…) the imagination is distinguished from opinion and revelation because an idea that arises from the material field of imagination gives indications of its cause (…) it is open to the laws of composability. The imagination not only may be true, but, through the indication of its cause, it may be adequate“ (Hardt
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Nomadische Praktiken der Freiheit
Einbildungskraft versorgt unsere Erkenntnis lediglich mit anzeigenden, hinweisenden und somit notwendig inadäquaten Zeichen. Auf der zweiten Stufe folgt die Vernunft, wobei immer mitgedacht werden muss, dass diese „Stufenabfolge“ keine lineare Bewegung im Sinne einer extensiven Entwicklung ist, sondern ein gleichlaufender Prozess im Sinne einer intensiven Entfaltung. Dabei spricht Deleuze von einer „erstaunliche[n] Harmonie zwischen der Vernunft und der Einbildungskraft“ (ebd.: 262), da die durch die Vernunft erschlossenen Gemeinbegriffe nur auf Dinge angewandt werden, die eingebildet werden können. Erst mit der Vernunft werden diese Dinge dann zugleich als notwendig verstanden und als Gemeinbegriffe konstituiert. „Die Gemeinbegriffe bedienen sich der Gesetze der Einbildungskraft, um uns von der Einbildungskraft selbst zu befreien“ (ebd.: 263). Und insofern „Notwendigkeit, Gegenwart und Häufigkeit“ (ebd.) die drei Charakteristika der Gemeinbegriffe darstellen, können wir die Vernunft als erstarkende, intensivierte und wiederkehrende Einbildungskraft bezeichnen. Mittels Vernunft wird die Kontingenz der Einbildungskraft zur Notwendigkeit. Erst so ist ein konsistenter und entsprechender Rahmen gegeben, durch den die Konstitution von Kräften als Gefüge nicht bloß möglich, sondern auch sinngemäß wird. Damit aber demystifiziert Spinoza die Vernunft zugleich, weil ihr die Einbildungskraft praktisch vorausgeht. Die hier vorgestellte Konstitution ist alles andere als dialektisch – sie folgt keinem hierarchisch gegliederten Ordnungsplan, der mit zunehmendem Forschritt mehr und mehr realisiert wird und zu sich kommt. „The progressive movement to a further stage is not accomplished through the negation of the present stage, but rather through its composition, preserving it with greater intensity and substance. In this context, contingency and necessity, imagination and reason are not exclusive and opposing couples, but rather they are plateaus linked together on a productive continuum by the process of constitution.“ (Hardt 2002: 104)
Der dritte Schritt in der spinozistischen Konzeption von Praxis ist die Bewegung von der theoretischen Praxis hin zur praktischen Konstitution.39 „So findet in der dritten Art das Ausdruckssystem seine letzte Form. Die letzte Form des Aus-
39
2002: 102). In dieselbe Richtung weist Deleuze, wenn er an anderer Stelle darlegt, warum es eine der zentralen Aufgaben der Philosophie ist, Begriffe zu erfinden: „Ein Begriff – das ist das, was das Denken daran hindert, eine einfache Meinung, eine Ansicht, eine Diskussion, ein Geschwätz zu sein“ (Deleuze 2001: 9). Die dritte Erkenntnisart (Intuition) bezeichnet bei Spinoza eine spezifische Form von Intelligibilität: eine anschauende Erkenntnis, die auf drei Ideen bezogen ist. „Das Ich, die Dinge und Gott sind die drei Ideen der dritten Art“ (Deleuze 1993a: 270).
Die Macht der Praxis
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drucks ist die Identität der spekulativen Bejahung und der praktischen Bejahung“ (Deleuze 1993a: 274). Bereits im zweiten Schritt haben wir gesehen, dass Praxis abhängig ist von der theoretischen Konstitution von Gemeinbegriffen, ein Befund, der stark an Lenins Leitparole „Without theory, no revolutionary practice“ erinnert. Konstitutive Praxis braucht eine ontologische Theorie, ein theoretisches Terrain, auf dem sie sich entfalten kann. Umgekehrt jedoch bedarf auch die Theorie der Praxis – ohne sie hätte sie weder eine konkrete Fundierung noch eine politische Legitimierung. Will man diesbezüglich eine Präferenz bei Deleuze finden – was ist wichtiger: Theorie oder Praxis? –, dann sucht man vergebens nach einer klaren Antwort. Während Althusser etwa die Theorie gegenüber der Praxis privilegiert, lässt Deleuze eine solche Festlegung aus guten Gründen offen, „weil niemand von vornherein die Affekte kennt, derer er fähig ist“ (Deleuze 1980: 79). So wie bei Spinoza ein Körper nicht durch Substanzen, sondern durch Modi der Affekte und Geschwindigkeiten definiert ist, wodurch das, wozu er praktisch in der Lage ist, nicht vorab bestimmt werden kann40, so können wir mit Deleuze folgern, dass auch das, was in der Macht unserer Praxis liegt, niemals determiniert ist. Die radikale Offenheit des praktischen Konstitutionsprozesses verdeutlicht abschließend noch einmal Deleuzes Abkehr von einer hegelianischen Entwicklungsdialektik: „The movement of a Hegelian practice is always recuperated within the logic of order, dictated from above, whereas a Deleuzian practice rises from below through an open logic of organization“ (Hardt 2002: 107).
2.5.4
Organisation als Komposition sozialer Kräfte
Die Ontologie von Deleuze und Spinoza bietet uns eine Konzeption, durch die wir die Produktivität des Werdens als Motor der Entfaltung sozialer Kräfte begreifen können. Dem Plan einer transzendenten Ordnung steht das Werden einer immanenten Komposition entgegen; der auferlegten Macht einer vorgegebenen Struktur steht die schöpferische Macht einer konstitutiven Praxis entgegen; der Einheit eines hierarchischen Apparats steht die Mannigfaltigkeit symmetrischer Kräfterelationen gegenüber. Allerdings sind Kompositionsebene und Ordnungsebene nie als autonome Ebenen zu denken, die ein- für allemal von einander getrennt wären. Organisation, verstanden als Gefüge, entfaltet sich gerade zwischen beiden Ebenen und wird dabei immer wieder von der Logik der Transzendenz eingeholt: „As such, the assemblage is a multiplicity, but it is habitu40
„Denn was der Körper alles vermag, hat bis jetzt noch niemand festgestellt“ (Spinoza 2002: 261).
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Nomadische Praktiken der Freiheit
ally botched or stratified, that is, reduced and simplified by the three great ‚strata’: the Organism, the Sign and the Subject” (Sørensen 2005: 120). Die Praxis des Organisierens oszilliert daher immer zwischen der prozessualen Logik einer freien Entfaltung und der strukturierenden Logik einer anordnenden Bestimmung – jenen beiden Bewegungen, die Deleuze & Guattari (2005) durch die Kriegsmaschinen einerseits und den Staatsapparat andererseits verkörpert sehen. Konsequent zu Ende gedacht, würden die (negative) Freiheit von Ordnung sowie die (positive) Freiheit zur Mannigfaltigkeit letzten Endes einen Freibrief für soziale Anarchie bedeuten. Will man, politisch gesprochen, nicht dem QuasiNaturzustand einer radikalen Mannigfaltigkeit ausgesetzt sein, dann gilt es, die freien Kräfterelationen in einem Gefüge zu organisieren – nicht jedoch, sie einer Ordnung zu unterwerfen. Deleuze: „Es gibt nur ein Mittel, den Naturzustand lebbar zu machen, indem man nämlich Aufeinandertreffen organisiert“ (Deleuze 1993a: 230). Dieses Organisieren von Begegnungen kann nicht unter Anrufung auf transzendentale Werte erfolgen, ist also weder durch eine göttliche noch eine moralische Ordnung legitimiert, welche außerhalb des immanenten Kräftefeldes stehen würde. „Man weiß sehr wohl, dass das heutige revolutionäre Problem darin besteht, eine Einheit der punktuellen Kämpfe zu finden, ohne in eine despotische und bürokratische Organisation der Partei oder des Staatsapparates zurückzufallen: eine Kriegsmaschine, die nicht mit einem Staatsapparat zu vergleichen ist, eine nomadische Einheit in Beziehung zum Außen, die nicht mit der inneren despotischen Einheit verglichen werden kann.“ (Deleuze 2001: 99)
Während Staatsapparate mit ihren Dispositiven der Macht, ihren Institutionen, Gesetzen und Bürokratien das Kräftefeld von oben (und außen) codieren, wird es von unten (und innen) durch mannigfaltige Gefüge mit ihren Fluchtlinien des Begehrens, ihren Konnexionen, Strömen und Intensitäten generiert (vgl. Deleuze 1996: 37). Die immanenten Kräfte ohne Anrufung einer transzendenten Autorität zu organisieren, legt daher den Weg frei für die Konstitution einer radikalen Demokratie.41 „What is open, and what links the ontological to the political, is the expression of power: the free conflict and composition of the field of social forces. This open or41
Eine radikale Version legen Hardt & Negri (2000) in ihrem Empire nahe: „Whereas Machiavelli proposes that the project of constructing a new society from below requires ‘arms’ and ‘money’ and insists that we must look for them outside, Spinoza responds: Don’t we already posses them? Don’t the necessary weapons reside precisely within the creative and prophetic power of the multitude?“ (Hardt & Negri 2000: 65).
Die Macht der Praxis
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ganization of society must be distinguished from the vertical structures of order.“ (Hardt 2002: 120f.)
Das Organisieren des freien Kräftefeldes gestaltet sich als konstitutive Praxis und nimmt Form an als Multitude – als eine solche kollektive Form also, in der die Vielheit als Vielheit fortbesteht (6.2). Damit geht, ontologisch gesehen, weder ein Machtverlust noch eine Machtauslieferung einher, es findet lediglich eine Machttransformation statt. „In this transformation the multiplicity of society is forged into a multitude. (…) The multitude is multiplicity made powerful. (…) the freedom of multiplicity becomes the freedom of the multitude“ (Hardt 2002: 110). Wie sich die Multitude gestaltet, bleibt indes offen, ja – muss offen bleiben. Die schöpferischen Kräfte der Komposition sind nicht zu trennen von den zerstörerischen Kräften der Dekomposition; Kreation ermöglicht immer Konstruktion wie Destruktion. Einseitige Huldigungen des produktiv-bejahenden Potentials der Multitude verkennen gerade diese Ambivalenz ihrer Machtkonstitution allzu häufig.42 Fassen wir zusammen: Was wir in Bezug auf das Subjekt als Ebene der Kohärenz bezeichnet haben (2.4.2), kann auch auf die Frage des Organisierens entlang einer Kompositionsebene übertragen werden. Beide Dimensionen setzen ein ontologisches Freiheitsverständnis voraus, das Sein als Werden begreift. Konstitution und Werden sind keine Gegensätze, sondern vollziehen sich in ein- und derselben Bewegung. Die Auseinandersetzung mit Deleuze und Spinoza hat gezeigt, dass sowohl die Konzeption von Praxis als auch die Organisation des sozialen Kräftefeldes zutiefst ethische Projektionen implizieren. Alle Momente der praktischen Konstitution beinhalten einen positiven Freiheitsbegriff, dessen Anspruch und Legitimation ausschließlich auf der Ebene reiner Immanenz entstehen. Organisieren heißt dabei immer auch Kreieren, Kommunizieren, Experimentieren, Transformieren, schließlich auch Riskieren und Dekonstruieren. Außerdem hat sich gezeigt, dass Organisieren, verstanden als ethisches Projekt, unvermeidlich auf eine politische Dimension hinausläuft: Es ist dies die aktive Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Damit aber ist Organisieren
42
Auch hierfür ist das zuvor zitierte Empire paradigmatisch, in dem die Verfasser die schöpferische, kreative Multitude, welche das Empire zugleich aufrecht erhält, aufrufen, als GegenEmpire aktiv zu werden: „The creative forces of the multitude that sustain Empire are also capable of autonomously constructing a counter-Empire, an alternative political organization of global flows and exchanges“ (Hard & Negri 2000: XV). Eine Hymne auf dieses Gegen-Empire legt auch Steinweg (2004) vor, der die „Subjektsingularitäten“, die es bevölkern, mitunter als Ausgeschlossene, Negative, Handelnde, Gewissenlose, Gebende, Unbekümmerte, Krieger, Liebende und Barbaren feiert.
84
Nomadische Praktiken der Freiheit
zugleich ein ästhetisches Projekt: Die Kunst, gesellschaftliches Zusammenleben nicht nur zu gestalten, sondern es auch in eine Form zu bringen.
3
3.1 3.1.1
Der Freiheit nachgehen: Praxis und Prozess des Forschens
Methodologischer Zugang Post-Positivismus
Mein wissenschaftlicher Ansatz und das Selbstverständnis als Forscher folgen einem konstruktivistischen Grundverständnis, das sich von traditionellen positivistischen Annahmen klar abgrenzt. Damit sind im Wesentlichen Annahmen über die Natur der Welt, der Wissenschaft, des Forschers sowie dessen Möglichkeiten angesprochen. Aus einer positivistischen Perspektive ist die Welt erkennbar, vorhersehbar und anhand einer Wahrheit erklärbar. Ziel und Zweck der Wissenschaft ist es, diese Einsichten beständig voranzutreiben. Wissenschaftler sind dabei objektiv und neutral, ihre Methoden reproduzierbar, beweisbar, verlässlich, generalisierbar sowie, empirisch betrachtet, statistisch signifikant. Die wissenschaftstheoretische Kritik an diesen Grundannahmen hat zu einer Reihe unterschiedlicher –ismen geführt: Konstruktivismus, Postmodernismus, Poststrukturalismus, interpretative und ethnographische Ansätze – um nur einige zu nennen. O’Leary (2004: 6) folgend, subsumiere ich diese Perspektiven unter die Kategorie Post-Positivismus, um die Abstoßbewegung ihrer epistemologischen und ontologischen Kritik zu verdeutlichen. Folglich gehe ich davon aus, dass die Welt vieldeutig, ambivalent und komplex ist, die Wissenschaft dagegen beitragen kann, plausible Erklärungen zu schaffen – wiewohl deren Geltungsbereich bedingt ist. Forscher sind keine neutralen Beobachter, sondern in den Forschungsprozess involviert, zumal leidenschaftlich und subjektiv. Die zum Einsatz kommenden Methoden sind kontextbedingt und abhängig, dennoch transparent und plausibel. Schließlich die Ergebnisse: sie sind bei weitem nicht immer generalisierbar, können aber wertvoll und nützlich, glaubwürdig und in vielen Fällen auch übertragbar sein. Ob wir sie nun post-positivistisch, interpretativ oder konstruktivistisch nennen – diese Ansätze stimmen darin überein, dass Wirklichkeit nie unmittelbar und unabhängig von Wahrnehmungs- und Äußerungskategorien zugänglich ist. Wahrnehmen, Erfassen und Erkennen erfolgen nicht als Abbildungsprozess,
Der Freiheit nachgehen
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sondern als Konstruktionsprozess, auf dem basierend subjektive Erfahrung und perspektivisches Wissen möglich werden, welche schließlich durch Interpretation ihre je kontextabhängige Bedeutung erhalten. Folglich kann auch wissenschaftliche Erkenntnis keinen neutralen Objektivitätsstatus für sich beanspruchen, durchaus aber eine sinnvolle, plausible „Re-Interpretation von Interpretationen“ (Kannonier-Finster & Ziegler 1998: 8) leisten. In diesem Sinne sind auch die in Kapitel 2 vorgestellten „Theorien“ keineswegs als unveränderliche, substantielle Fundamente zu betrachten, sondern als Aktivierungsquellen für kontextbezogene Anwendungen und weiterführende Problematisierungen.
3.1.2
Epistemologie und politische Praxis
Was nun kann das konkrete Ziel meines Forschens sein? Hier müssen wir zwei Dimensionen unterscheiden: eine epistemologische und eine politische. In epistemologischer Hinsicht ist mein Erkenntnisinteresse ein „verstehendes Erklären“ (Kaufmann 1996: 34), wobei das Kriterium der Validität in der Kohärenz der Forschungsergebnisse liegt, das heißt, in der Plausibilität der Aussagen, die aus dem empirischen Material für die theoretische Analyse gezogen werden. Weil es für die Qualität qualitativer Forschung keinen objektiven Maßstab geben kann, muss sie in sich stimmig, nachvollziehbar, überzeugend, um nicht zu sagen: zutreffend sein. Theoriegenerierung, Analyse und Interpretation finden daher ihre erste Beurteilungsinstanz unmittelbar in sich selbst und nicht in einer beliebigen oder willkürlichen Form von Erkenntnisproduktion. „Die Validität eines Modells hängt vielmehr von der Kohärenz des Argumentationsganges, der Treffsicherheit der Illustrationen einer Hypothese und der Genauigkeit der Analyse eines Kontextes ab, also einem möglichst feinen Ineinandergreifen von Theorie und Beobachtung.“ (Kaufmann 1996: 44)
Das erfordert auch, die angewendeten Methoden wie den Forschungsprozess als solchen so detailliert und transparent wie möglich wiederzugeben, denn erst wenn die Ergebnisse nachvollziehbar sind, können sie in ihrer Kohärenz und Glaubwürdigkeit gewürdigt werden. Dies ist umso wichtiger, da die Kriterien der Transparenz und Nachvollziehbarkeit die einzige Möglichkeit einer „Verifikation“ darstellen, Reproduzierbarkeit oder statistische Überprüfung dagegen ausgeschlossen sind. Weitere, als Korrektiv wirkende, wenngleich nur über Umwege zum Tragen kommende Beurteilungsinstanzen sind, grob gesprochen, die gesellschaftliche Realität einerseits und die scientific community andererseits. Würden meine Ausführungen in keiner Weise zutreffen, würden sie – auch und gerade für die beobachteten und befragten Menschen selbst – nicht nachvollziehbar sein,
Methodologischer Zugang
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dann wäre dies ein selbstredender Einspruch gegen ihre Zuverlässigkeit. Letztere wäre hingegen gegeben, wenn die generierten Erkenntnisse mit der „Beschaffenheit der Welt vereinbar“ (Kromrey 2006: 24) sind, wenn sie also in einem hermeneutischen Sinne „passen“. Auf der anderen Seite wäre es auch ein „Beleg“ für die Erklärungskraft der hier dargelegten Ausführungen, wenn sie nicht nur praktisch überzeugen, sondern auch als Forschungsarbeit theoretisch zu einer Weiterentwicklung im wissenschaftlichen Feld beitragen können. In politischer Hinsicht ist mein Forschen immer schon unmittelbare politische Praxis, insofern es beansprucht, eine überzeugende, wertvolle und kritische Form der Positionierung zu sein. „Research which changes nothing – not even the researcher – is not research at all. And since all social research takes place in policy contexts of one form or another research itself must therefore be seen as inevitably political“ (Clough & Nutbrown 2002: 12). Sozialwissenschaftliche Forschung kann sich mit einem status quo der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zufrieden geben, ansonsten gäbe es nichts, was sie zu erkennen, zu erklären oder zu verändern beanspruchen würde. Ob es dabei um Kritik, Veränderung, Aufklärung oder Emanzipation geht, ist zunächst eine Frage des jeweiligen begrifflichen Verständnisses. Alvesson (2008) etwa hält mitunter am Begriff der Emanzipation fest, ohne daran die Idee eines autonomen Subjekts zu verknüpfen. Vielmehr geht es ihm um ein Aufbrechen von Strukturen und Identitäten, Interessen und Ideologien43, das in die Lage versetzen sollte, Freiräume zu schaffen. Ziel wäre demnach das Streben nach einem „positive and less predefined space through the critical investigation of various traps and prisons“ (Alvesson 2008: 19). Auch aus diesem Ansinnen geht deutlich hervor, dass Forschung immer eine politische Praxis ist, insofern jedes Handeln einen Einschnitt in die Konstruktion von Realität bewirkt und sich nie freihalten kann von den Effekten, die es generiert. Umso notwendiger ist es, die Bedeutung des eigenen Forschens und Wirkens durch eine systematische methodologische Reflexion sowohl auf den Forschungsprozess wie auf sich selbst als Forschungssubjekt zu ermessen (Alvesson & Sköldberg 2000). Denn dass ich als Forscher eine Aussage produziere, ist zwar unbestritten, die Frage ist aber vielmehr, in welchem Ausmaß ich die Verantwortung dafür trage.
43
Natürlich ist auch Ideologie ein problematischer Begriff, insofern er aus seiner Theoriegeschichte heraus einen erkenntnistheoretischen Autonomiestatus suggeriert. Allerdings gibt es auch einen anderen, meines Erachtens durchaus fruchtbaren Gebrauch des Begriffes im Sinne einer Praxis. Ideologie zeigt sich demnach weniger in Aussagen und Denksystemen, sondern in dem, was Menschen tun; folglich ist sie weniger theoretisch als performativ zu verstehen (Fleming & Spicer 2003).
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Der Freiheit nachgehen
Wenn Forschung eine politische Praxis ist, dann bringt auch die vorliegende Untersuchung über nomadische Freiheitspraktiken politische Implikationen mit sich. Es ist daher unerlässlich, mein eigenes Involviertsein in den Untersuchungsgegenstand zu reflektieren, da ich als Forscher daran weder unbeteiligt war noch unverändert geblieben bin. So wie Sozialwissenschaftlicher im Generellen sind auch Organisationsforscher im Speziellen keine neutralen Wesen, die eine Organisation, eine soziale Ordnung, eine Welt-da-draussen unbehelligt unter eine objektive Lupe nehmen könnten. Vielmehr fließen ethnographische Forschungsprozesse immer schon in ihre eigenen Identitätskonstruktionen mit hinein, weshalb ihre Ergebnisse unvermeidlich autobiographische Züge annehmen (Humphreys et al. 2003: 9). Die Forschung muss daher jenen Zugang zu einem metareflexiven Erzählen finden, der es erlaubt, „to ‚watch the watchers’“ (Chia 1996: 84). Folglich werden nicht nur das Erkenntnisobjekt, sondern auch das erkennende Subjekt sowie dessen forschende und beobachtende Tätigkeit zum integralen Bestandteil der Erzählung (Czarniawska 1997). Neben dem Gebot eines reflektierenden, wortwörtlich rück-bezüglichen Selbstverständnisses als Forscher ist hier auch auf die zweite, bereits erwähnte Konsequenz des Forschens hinzuweisen. Denn schließlich beobachten Organisationsforscher die Welt nicht nur, sondern sie konstruieren sie. Durch unser Wahrnehmen, Erfassen und Kategorisieren bringen wir die untersuchten Praktiken überhaupt erst zum Vorschein. Ebenso wie ich eine Organisation erschaffe, sobald ich beginne, sie zu studieren, konstruiert mein Beobachten die zugrunde liegenden Praktiken ab dem Moment, ab dem ich sie aufgreife und benenne. Gerade die ethnographische Methodologie, wie sie in der vorliegenden Untersuchung durch teilnehmende Beobachtung zum Einsatz kommt, zeugt von dieser unentrinnbaren Konstruktion und Eingebundenheit: Ich beobachte das Leben einer Gruppe von Menschen, beschreibe es, interpretiere es und versuche dadurch, deren Sinnzusammenhänge und Bedeutungskontexte zu erfassen. Es geht also um ein verstehendes Beschreiben einer konkreten Lebenswelt, um den im sozialen Leben entfalteten Sinn. Gleichzeitig geht es nicht um Beobachtung als Selbstzweck, sondern um deren Integration im Rahmen einer Theorie. Beschreibung und Erklärung sind dann nicht mehr voneinander zu trennen. Die Ethnographie ist daher mehr eine methodologische Forschungsstrategie als eine einzelne Methode. Brewer definiert sie als „the study of people in naturally occurring settings or ‚fields’ by means of methods which capture their social meanings and ordinary activities, involving the researcher participating directly in the setting, if not also the activities, in order to collect data in a systematic manner but without meaning being imposed on them externally.“ (Brewer 2000: 10)
Methodologisches Design
89
So oder so, welcher Ansatz auch immer gewählt wird, um der Realität zureichend beizukommen – sie lässt sich damit nie ausreichend erfassen. Meine Forschungsergebnisse sind lediglich eine Übersetzung, die aus einer Interpretation hervorgegangen ist (Nietzsche 1999c). Ich übersetzte das Beobachtete in ein Sprachspiel, das den Anspruch hat, wissenschaftlich legitimiertes Wissen zu generieren. Dieses Wissen aber ist immer bereits Effekt, nie die Realität selbst.
3.2
Methodologisches Design
3.2.1
Das Untersuchungsfeld: Kulturarbeit und Kultursektor
Anhand eines empirischen Beispiels aus dem Kultursektor möchte ich zeigen, wie sich nomadische Praktiken innerhalb komplexer Machtrelationen entlang eines Kompositionsplans entfalten. Wie bereits in der Einleitung (1.1) festgestellt, ließen sich für diese generative Forschungsfrage nahezu alle Felder gesellschaftlicher Produktion und Konsumtion als Untersuchungshintergrund heranziehen, haben doch die Praktiken der Freiheit weder einen spezifischen Ort noch eine feststehende Form. Die Wahl für den Kultursektor geht aus dessen sozioökonomischen Relevanz für neue Arbeits- und Organisationsformen hervor, die sich auf unterschiedlichen Diskursebenen niederschlägt (Mayerhofer 2003, McRobbie 2002). Besonders deutlich zeigt sich das an relativ neuen Schlagwörtern wie Creative Industries, die in kurzer Zeit globale Karriere gemacht haben (Vötsch & Weiskopf 2009). Unzählige internationale Konferenzen und Enqueten, Kommissionen und Gremien finden statt, ebenso wie jedes Jahr eine inzwischen unübersichtlich gewordene Fülle an Berichten und Kulturbüchern erscheint. Dabei korrespondiert die Intensivierung auf diskursiver Ebene mit einer inflationären Sprachverwirrung. Kategorien wie Kunst und Kultur oder die Trennung von Hoch- und Alternativkultur lassen sich inmitten einer Proliferation von Begriffen wie Kulturwirtschaft, Kreativwirtschaft oder Kreativindustrie nur mehr schwer aufrechterhalten. An dieser Stelle wollen wir solche programmatischen Diskussionen jedoch nicht weiter ausführen, lediglich darauf hinweisen.44 Ich werde die nomadischen Freiheitspraktiken anhand von Akteuren untersuchen, die ich gemeinhin als Kulturschaffende oder Kulturarbeiter bezeichne. Diese Begriffe werden im Folgenden weitgehend identisch verwendet, da beide
44
Zembylas (2004) gibt einen guten Überblick über den Stand der Debatten. Der Autor diskutiert die Kategorie „Kultur“ als Begriff, erörtert ihre praktischen Dimensionen und stellt sie schließlich als Gegenstand der Kulturforschung vor.
90
Der Freiheit nachgehen
als allgemeine Kategorien für die Überwindung essentialistischer Kunst- und Kulturkonzepte stehen. „Der Terminus ‚Kulturarbeiter’ (‚cultural worker’) fungiert in manchen Diskursen als ein Konzept, das tradierte Unterscheidungen zwischen freien und angewandten KünstlerInnen, KulturproduzentInnen und KulturvermittlerInnen sowie zwischen hoher und populärer Kultur aufheben will.“ (Zembylas 2004: 264)
Die Gemeinsamkeit der Akteure besteht darin, dass sie im weitesten Sinne dem Kultursektor zuzuordnen sind. „Der Kultursektor stellt ein gesellschaftlich organisiertes und institutionell strukturiertes Feld dar, das die Entfaltung verschiedener kultureller Praktiken ermöglicht“ (ebd.: 221). Damit repräsentiert der Kultursektor noch nicht alle denkbaren kulturellen Aktivitäten von der Bestattung bis zur Beziehungstherapie, sondern „jene Produkte und Leistungen, die meist von professionell engagierten Leuten geschaffen, präsentiert und vermarktet werden“ (ebd.: 102). Im weitesten Sinne umfasst der Kultursektor auch den nicht institutionalisierten Bereich der freien Kulturszenen, womit kulturelle Praktiken bezeichnet sind, die strukturell unabhängig, inhaltlich selbstbestimmt, gesellschaftspolitisch engagiert, heterogen und vielfältig, unorthodox und zeitgenössisch sind (4.2.1). Wie aus diesen Begriffsbestimmungen hervorgeht, sind Kulturschaffende noch nicht per se als Marginalisierte oder Prekarisierte aufzufassen. Solche Zuschreibungen enthalten immer problematische Ambivalenzen, etwa die auftretenden Fragen von Peripherie und Zentrum, Herrschaftsverhältnissen und Klassenverhältnissen. Es mag zwar unbestritten sein, dass viele Kulturschaffende unter prekären Verhältnissen leben, dennoch sagt dies noch wenig darüber aus, welche Formen von Praxis sie generieren. Die Akteure vorab als Betroffene oder Unterworfene zu verstehen, würde der Komplexität des Handlungsfeldes nicht gerecht werden. Die kulturellen Praktiken lassen sich grob durch die Arbeitsfelder Kulturproduktion, Kulturvermittlung und Kulturorganisation strukturieren, wenngleich zu betonen ist, dass sich Kulturarbeit heute gerade dadurch auszeichnet, dass sie nicht mehr über vordefinierte Orte, Techniken und Inhalte kategorisiert werden kann. Diese Entgrenzung ist kein Spezifikum des Kultursektors, sondern das Charakteristikum einer übergreifenden Transformation gegenwärtiger Lebensund Arbeitswelten. Da dieser Übergang durch die tendenzielle Ökonomisierung auch jener Sphären gekennzeichnet ist, die nicht innerhalb der traditionell abgrenzbaren Territorien und Zeitlichkeiten von „Arbeit“ liegen, wird auch letztere zum Signum einer inzwischen kontextunabhängigen Produktivmachung. „Freizeit“ kann ebenso als notwendige physische wie psychische Kompensation im Dienste des Arbeitsprozesses verstanden werden wie das Plädoyer des lebenslangen Lernens als dauerhafte Konditionierung für denselben.
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„[Gegenwärtig] verschwinden die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Aus- und Weiterbildung einerseits und der eigentlichen Tätigkeit andererseits, zwischen Privatleben und Vita activa, zwischen Arbeitskraft und dem lebendigen Arbeitsvermögen, zwischen der Konsumtion der Arbeitskraft und der simplen Disponibilität, konsumiert zu werden.“ (Boutang 1998: 10)
In ähnlicher Weise gelten zwischenmenschliche Beziehungen, soziale Kompetenzen sowie die Ausrichtung nach bestimmten Lebensstilen, Konsummustern, politischen Präferenzen und persönlichen Glaubensinhalten inzwischen bereits häufig als arbeitstechnische Erfordernis. Dass Arbeit nie aufhört, zeigt sich umso deutlicher, als neue Formen der Arbeit sich nicht nur durch Interaktion auszeichnen, sondern teils vollends darin aufgehen. Anders gesagt: Arbeit ist Interaktion (Virno 2005: 123). Freiheit, Kultur und Arbeit – so wenig diese Kategorien also an notwendigen oder abgrenzbaren Orten zu finden sind, so sehr versuchen wir doch, sie durch die Praxis von Kulturarbeitern im Kultursektor empirisch zu erschließen. Es handelt sich dabei um eine Veranstaltungsplattform aus der freien Kulturszene Innsbruck mit dem Namen „Plattform Mobile Kulturinitiativen“ (p.m.k).45 Sie bezeichnet ein Netzwerk heterogener Akteure und besteht aus rund dreißig Initiativen und Vereinen, vorwiegend aus den Bereichen zeitgenössischer Musik und Medienkunst, die in sich jeweils autonome Statuten und Strukturen aufweisen. Nur wenige der Akteure können von ihren Tätigkeiten finanziell (über)leben, einige sind noch Studenten, andere Angestellte in der Privatwirtschaft. Generell gibt es unter den Kulturschaffenden der p.m.k ein breites Berufsspektrum: da sind DJ’s und Musiker, Produzenten, Lokalbetreiber, Journalisten, Graphiker und Mediendesigner, Techniker und Angestellte. Darin zeigt sich die Ausdifferenzierung des Tätigkeitsfeldes im Kultursektor, die in den letzten Jahren mehr und mehr zugenommen hat und deren breite und spartenübergreifende Arbeitsteilung es weder möglich noch sinnvoll macht, von einer homogenen „Berufsgemeinschaft“ zu sprechen (Zembylas 2004: 263-267). Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es zum einen, ein möglichst breites Spektrum des kulturellen Schaffens zu bekommen, um damit Relationen, Abhängigkeiten und nicht zuletzt jeweilige Handlungsfreiräume besser zum Ausdruck zu bringen. Zum anderen sollte die Entfaltung eines kollektiven Netzwerkes beschrieben und darüber hinaus gezeigt werden, wie sich die unterschiedlichen Vereine, Initiativen und Gruppierungen im Rahmen einer übergreifenden Identität organisieren und einbringen. Aus all dem geht umgekehrt auch hervor, dass die empirischen Ergebnisse nicht als Milieustudie integriert werden – etwa 45
Struktur, Organisation, Geschichte und Umfeld der p.m.k werden in Kapitel 4 beschrieben.
Der Freiheit nachgehen
92
im Sinne eine Studie zum „Umfeld der p.m.k“ oder zu „freischaffenden Kulturarbeitern in Innsbruck“ –, sondern exemplarisch für die theoriegeleitete Argumentation der nomadischen Freiheitspraktiken stehen.
3.2.2
Qualitative Feldforschung
Die vorliegende Untersuchung ist methodologisch als qualitative Feldforschung angelegt. Mit dem Ziel, das Organisieren von Handlungsfreiräumen im Kultursektor anhand einer Fallstudie exemplarisch zu veranschaulichen, bieten sich einzelne Instrumente der Feldforschung an, die dem Kriterium der Angemessenheit besser entsprechen als andere. So könnte ich zwar mit einer quantitativen Umfrage relativ rasch und ressourcensparend alle Akteure befragen und die Ergebnisse anhand standardisierter Fragebögen zügig auswerten und „dokumentieren“. Weiters wäre eine vergleichende Studie mit anderen Kulturorganisationen vorstellbar, um zu repräsentativen Aussagen zu kommen. Doch würden diese Methoden auch dem Gegenstand entsprechen? Aufgrund der generativen Forschungsfrage, die ja gerade nicht von Anfang an ihr genaues „Thema“ auf den Punkt bringen kann, ist auszuschließen, dass sich der Gegenstand quantitativ erheben lässt. Die „abgefragten“ Ergebnisse böten nicht ausreichend Tiefe und würden stattdessen eine Kategorisierung vorgeben, die das, was es zu erforschen gilt, nicht einfängt. Dagegen erlaubt die Feldforschung, spezifischer auf die Handlungskontexte der jeweiligen Akteure einzugehen und sie in weiterer Folge, aus dem Feld heraus, theoretisch anzureichern. Es handelt sich dabei um exemplarische Erkenntnis, die durch verstehendes Erklären Sinn- und Bedeutungszusammenhänge erhellt und so die Bedingungen und Möglichkeiten von Handlungsfreiräumen erschließt. Natürlich ist diese qualitative Ausrichtung wesentlich aufwendiger als eine quantitative, zudem ist es, um ein häufiges Vorurteil zu nennen, eben „nur“ exemplarische Erkenntnis ohne hohe empirische Repräsentativität. Jedoch halte ich diesen Zugang für notwendig, um der Komplexität der Realität gerecht zu werden. Aus diesem Grund erscheint mir auch das Forschungsdesign einer Fallstudie angemessen, wobei ich darunter weder eine eigene Methode noch ein Instrument der Datenerhebung oder -analyse verstehe, sondern eine spezifische Forschungsstrategie, „die sich das Ganze eines in Zeit und Raum gebundenen sozialen Phänomens zum Gegenstand nimmt und sich dabei einer Vielzahl von Methoden bedient“ (Kannonier-Finster 1998: 37). Wenn der Vorteil einer Fallstudie darin liegt, durch die Einengung auf einen begrenzten Gegenstand intensive Erfahrungen und damit umfangreiche Informationen über ihn zu erhalten, so heißt das keineswegs, dass es dabei um weniger komplexe Realitäten ginge. Das
Methodologisches Design
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Besondere hat keine andere Qualität wie das Allgemeine, vielmehr erlaubt es, soziale Phänomene in ihrer konkreten Situiertheit klarer nachzuvollziehen. So erwachsen im vorliegenden Fall die spezifischen Arbeits- und Organisationspraktiken einer vielschichtigen Alltagswelt, die mithilfe mehrerer Methoden möglichst umfassend erfasst und dargestellt werden sollte. „Ziel dieser Vorgangsweise ist es, das konkrete Phänomen in seinem ganzheitlichen und lebensnahen Charakter zu verstehen – unabhängig davon, in welchen quantitativen Relationen es erscheint“ (ebd.: 61). Umgekehrt wird in der Fallstudie nicht nur das Besondere des konkreten Phänomens hervorgehoben, sondern auch seine Eingebettetheit in die soziale Realität gezeigt. Daher kann der Fall letztlich auch nie völlig isoliert betrachtet werden, da die Grenzen zwischen sozialem Phänomen und Kontext verschwimmen. Gerade im gegebenen Fall wird dies umso deutlicher, als die p.m.k ein heterogener Schmelztiegel ist, durchaus eine Welt für sich, aber nie ausschließlich eine Welt in sich.
3.2.3
Material und Methoden
Der Beobachtungszeitraum der Fallstudie betrug sechs Monate (Jänner bis Juni 2008), Materialbasis sind sechzehn qualitative Interviews (zu jeweils 30 bis 90 Minuten) umfangreiche Feldnotizen und Beobachtungsprotokolle aus der teilnehmenden Beobachtung sowie die Auswertung unterschiedlicher Dokumentund Bildmaterialien. Im Rahmen einer Dokumentenanalyse wurden diverse Textsorten wie Flyer, Programmfolder, Vereinsstatuten oder Homepagetexte berücksichtigt. Die teilnehmende Beobachtung erstreckte sich von der regelmäßigen Teilnahme an offiziellen Gremiumssitzungen (sogenannten „Beiratssitzungen“) über den Besuch von kulturellen Veranstaltungen und Konzerten bis hin zu teils spontanen, teils vereinbarten informellen Treffen und Gesprächen. Ort der Beobachtungen, Treffen und Begegnungen war, bis auf wenige Ausnahmen, das Vereinslokal der p.m.k.
Fallauswahl und Fallkonstitution Die qualitativen Interviews wurden als semi-strukturierte (oder: teilstandardisierte) Befragung durchgeführt, das heißt, ich habe mich an einem Interviewleitfaden orientiert, der mehrere Fragedimensionen umfasst, dabei allerdings viele Spielräume offen lässt, die sowohl den Verlauf des Interviews beeinflusst als auch relativ flexibel gestaltete inhaltliche Fokussierungen ermöglicht haben (Hopf 2003: 351). Neben der Ausrichtung nach einem grob skizzierten Leitfaden sowie
94
Der Freiheit nachgehen
vereinzelten Sequenzen fokussierter Befragung enthalten die Interviews auch teilweise längere narrative Elemente, die vorwiegend biographische Informationen transportieren, oder aber episodische Abschnitte, die bestimmte Erfahrungen in ihrem Ablauf und Kontext wiedergeben. Der Ablauf der Interviews erfolgte in der Form, dass zunächst einzelne allgemeine Fragedimensionen gesprächsweise eingebracht wurden: diese Dimensionen umfassen das Selbstverständnis der Akteure; ihre Motivationen, um im Kultursektor zu arbeiten; die Beschreibung ihrer Tätigkeitsfelder; die Organisation des Alltags; Freundschaften und Arbeitsbeziehungen; die Zusammenarbeit in der p.m.k; Finanzierung und Probleme in der Arbeit; schließlich auch persönliche Wünsche und Visionen. Trotz dieser Fülle an Dimensionen gab es weder einen abzuarbeitenden Themenblock noch ein vorgezeichnetes Schema über den Fragenverlauf. Stattdessen waren Themensetzung und Gesprächsentwicklung jeweils kontextspezifisch und nahmen teils sehr unterschiedliche Ausformungen an.46 Obwohl alle interviewten Personen in unterschiedlichem Ausmaß in die p.m.k involviert sind, unterscheiden sie sich teilweise sehr in der Art ihrer beruflichen Tätigkeit. Zu Wort kommen DJ’s und Musiker, Produzenten, Lokalbetreiber, Journalisten, Graphiker und Mediendesigner, Techniker und Angestellte. Damit ist das Ziel, eine möglichst hohe Vielfalt des kulturellen Schaffens zu erfassen, weitgehend erreicht. Die vorausgehende Fallauswahl und Datensammlung erfolgte teils nach vorab festgelegten, teils nach generativen Kriterien. Zum einen ist der empirische Untersuchungsgegenstand durch die Fallstudie eingegrenzt, wobei ich versucht habe, aufgrund eigener Beobachtungen und aus mehreren Gesprächen heraus jene Akteure der p.m.k zu bestimmen, die auf jeden Fall interviewt werden sollten, da sie für das Funktionieren des Gesamtgefüges unerlässlich scheinen.47 Zum anderen entsprach die Fallauswahl da, wo es um ein möglichst breites Spektrum von Freiheitspraktiken geht, den Prinzipien des theoretischen sampling (Glaser & Strauss 1998). Demnach erfolgt „die Auswahl von Fällen bzw. Fallgruppen nach konkret-inhaltlichen statt abstraktmethodologischen Kriterien, nach ihrer Relevanz statt nach ihrer Repräsentativität“ (Flick 2002: 106). Hier war der Verlauf der Untersuchung für das weitere
46
47
So kamen in einzelnen Gesprächen etwa Themen wie Interessensvertretung oder Lobbying zur Sprache, die in anderen keine Erwähnung aufwiesen. Oft wiederum wurden Fragedimensionen vorweggenommen, etwa wenn der Einfluss der sozialen Situation auf die Alltagspraxis mit Begriffen wie Prekariat oder Selbstausbeutung selbstredend erklärt wurde. All das zeigt lediglich, dass es kein einheitliches „Muster“ der Gesprächsführung gegeben hat. Dazu zählen die Geschäftsführerin, der Programmkoordinator sowie einzelne Vereine, die sehr häufig in der p.m.k veranstalten.
Methodologisches Design
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Vorgehen entscheidend. Nicht alle Interviewpartner standen also von Anfang an fest, einige stellten sich erst nach und nach heraus.48 Diese beiden Strategien der Fallauswahl sind inhaltlich begründet: Im ersten Fall geht es um das Organisieren von Freiheit im Rahmen eines Kollektivs, wobei der Funktionszusammenhang des Kollektivs in seinen wesentlichen Bezugspunkten erfasst werden sollte. Im zweiten Fall geht es um die Praktiken der Freiheit von einzelnen Kulturschaffenden, wo die sich entwickelnde Theorie zum eigentlichen Bezugspunkt für weitere Forschungsschritte wird. In beiden Strategien ist das Kriterium der theoretischen Sättigung (Glaser & Strauss 1998: 69) ausschlaggebend dafür, wann mit der Einbeziehung weiteren Fälle zur Ausdifferenzierung einer Kategorie aufgehört werden kann – und soll. Konkret heißt das: Erst wenn der Funktionszusammenhang des Kollektivs sowie das Spektrum der Freiheitspraktiken in einer Dichte analysiert worden sind, aufgrund der es sehr wahrscheinlich ist, dass „nichts Neues“ (Strauss 1994: 61) mehr passiert, kann man den entwickelten Erklärungsmodellen das methodologische Kriterium der Solidität zusprechen (Kaufmann 1996: 42). Aus den angegebenen Dimensionen der Fallkonstitution kann nun auch erklärt werden, wofür der untersuchte Fall steht (vgl. Flick 2002: 112-113). Zum einen steht der Fall als Repräsentant seiner selbst. Sowohl die einzelnen Akteure als auch die p.m.k als Kollektiv stellen im besten Sinne des Wortes Singularitäten dar, die in ihrer besonderen Erscheinungsform einzigartig sind. Zum zweiten steht der Fall als Repräsentant eines spezifischen institutionellen Kontextes. Die p.m.k als Plattform heterogener Akteure aus unterschiedlichen Kontexten zeigt ein organisationales Gefüge, das, wiewohl einzigartig, in ähnlichen Konstellationen durchaus auch anderswo vorstellbar ist. Zum dritten steht der Fall als Repräsentant ausgebildeter Subjektivität, die aus spezifischen Handlungs- und Erfahrungsweisen hervorgeht. Durch die Rekonstruktion der Bedeutungszusammenhänge, aus denen heraus die Akteure ihre Praxis entfalten, kann ihr Handeln und Denken in Bezug auf eine theoretische Generalisierbarkeit erklärt werden. Schließlich steht der Fall auch als Repräsentant eines interaktiv hergestellten und herstellbaren Handlungsraums. Die p.m.k veranschaulicht die Entfaltung eines Gefüges, in dem das Organisieren von Handlungsfreiräumen ein wesentliches Moment seiner Konstitution ist.
48
Ebenso theoriebezogen wie die Fallauswahl wurden übrigens auch die bereits erwähnten Untersuchungsmethoden (Interview, Beobachtung, Dokumenten- und Medienanalyse) festgelegt, bei denen „die sich aus den empirischen Analysen entwickelnde Theorie der Bezugspunkt ist“ (Flick 2002: 103).
Der Freiheit nachgehen
96 Analyse und Auswertung
Die Analyse des empirischen Materials für die Entwicklung einer gegenstandsbegründeten Theorie folgt den Prämissen des theoretischen Kodierens (Strauss 1994). Dabei beginnt der Interpretationsprozess mit dem offenen Kodieren, wodurch eine Vielzahl von Codes generiert, sodann konzeptionalisiert und zu einer Theorie verdichtet wird. Mit dem Ziel, eine oder mehrere Schlüsselkategorien herauszuarbeiten, stehen die Analysekategorien also erst am Ende und nicht, wie etwa bei der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 1997), bereits am Anfang des Kodierens fest. Alle zugewiesenen Variablen „müssen ihren Weg in die Grounded Theory erst verdienen“ (Strauss 1994: 62). Es ist dies ein kontinuierlicher Prozess, der vom konkreten Material – in der Regel den Interviewtranskriptionen – zu abstrakten Kategorien führt. Diese Kategorien werden dann unter Bezugnahme eines Kodierparadigmas zueinander in Beziehung gesetzt, um schließlich zu zentralen Kategorien und Phänomenen zu kommen. Die Untersuchung findet da ihr Ende, wo die theoretische Sättigung eintritt und „nichts Neues“ mehr passiert (ebd.: 61). Soweit die Prämissen des theoretischen Kodierens. Allerdings werden sie in der vorliegenden Untersuchung nicht gänzlich befolgt. Ähnlich wie bereits die Materialerhebung entlang einer doppelten Forschungsstrategie erfolgte, stellt auch die Auswertung eine Kombination unterschiedlicher Methoden dar. Der erste Schritt der Analyse besteht hier in einer strukturierenden Sichtung des Materials, wie es auch in der qualitativen Inhaltsanalyse gängig ist (Mayring 1997: 53f., Schmidt 2003: 448ff.). Aufgrund der Fülle an Transkriptionsmaterial wäre eine durchgängige Analyse aller Interviews anhand der Grounded Theory weder machbar noch besonders sinnvoll gewesen. Die Strukturierung des Materials erfolgte entlang thematischer Kategorien, indem, nach mehrfacher Durchsicht, ein Schema deskriptiver Codes entworfen wurde, das die Materialfülle in grobe Themenblöcke einteilt (vgl. Miles & Huberman 1994: 57-61). Folgende Blöcke wurden gebildet:
Biographie: Aussagen über die Biographie der Akteure und über prägende Erfahrungen, Entscheidungen und Erlebnisse. Arbeit: Aussagen über Tätigkeiten, Praktiken und Verhaltensweisen, die sich in der Regel über einen längeren Zeitraum entfalten. Beziehungen: Aussagen über soziale Netzwerke, Freundschaften und Gruppierungen. p.m.k: Aussagen über Handlungen und Interaktionen, die die Eingebundenheit der Akteure in die p.m.k beschreiben.
Methodologisches Design
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Ereignisse: Aussagen über Vorfälle und Ereignisse in der p.m.k, die von übergeordneter Relevanz sind. Öffentlichkeit: Aussagen über institutionalisierte Politik, Medien und öffentliche Räume.
Diese Themenblöcke ermöglichen es, in einem zweiten Schritt nur jene Teile auszuwerten, die für die konkrete Fragestellung relevant sind. Umgekehrt werden solche Sequenzen ausgegliedert, die umfangreiche biographische Erzählungen, erschöpfende Schilderungen von Arbeitsprozessen, ausgedehnte Namensauflistungen und Beschreibungen von zwischenmenschlichen Netzwerken oder auch detailgetreue technische Erklärungen enthalten. Wenngleich diese inhaltliche Vorselektion nötig ist, um das gegenstandsbezogene Material herauszufiltern, heißt das nicht, dass die übrigen Teile nicht für spätere Analysen mit anders gelagerten Fragestellungen verwendet werden können und sollen. Da das strukturierte Kodieren als durchgängige Methode dem Material nicht angemessen wäre, wurde für die Feinanalyse der offene Zugang einer materialgeleiteten Theorieentwicklung gewählt. Dieses offene Kodieren erfolgt über drei Arbeitsschritte: (1) Im Zeile-für-Zeile-Kodieren werden Aussagen und Begriffe nach ihren impliziten Bedeutungen hinterfragt. „Hinter dem Gesagten verbirgt sich in der Regel mehr gemeinter Sinn, als dies auf den ersten Blick erkennbar ist“ (Kannonier-Finster 1998: 54). (2) Im Dimensionalisieren werden Kategorien mit Bedingungen, Konsequenzen, Interaktionen und Strategien in Zusammenhang gebracht.49 „Eine allgemeine Faustregel ist hier die, dass man natürliche Kategorien sucht, diese aber nicht als Themen analysiert, wie das qualitativ arbeitende Forscher oft tun, sondern im Hinblick auf Dimensionen, und dass man dann Hypothesen aufstellt, die sich auf möglicherweise relevante Bedingungen und Konsequenzen, Strategien und Interaktionen beziehen.“ (Strauss 1994: 211)
49
Dimensionalisierungen bezeichnen thematische Bereiche, die grobe Kategorien (z.B. Arbeit – Freude) einsetzen und in Beziehung bringen. Kategorien sind somit nicht gleichbedeutend mit unabhängigen Begriffen, sondern treten immer aus Unterscheidungen bzw. Dimensionalisierungen hervor. Sie entfalten sich entlang eines Kodierparadigmas, dessen Konzepte und Indikatoren charakteristisch sind für die gesamte Methode: „Die Grounded Theory basiert auf einem Konzept-Indikator-Modell, mit dessen Hilfe eine Reihe von empirischen Indikatoren nach Konzepten kodiert werden kann“ (Strauss 1994: 54). Dementsprechend ist das Kodieren nur ein anderes Wort für das „Konzeptionalisieren“ (ebd.: 48) von empirischem Material. Bedeutet Kodieren in der qualitativen Inhaltsanalyse das Zuordnen von Textstellen zu Kategorien, so heißt es hier Übersetzen oder Verschlüsseln.
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Der Freiheit nachgehen
In diesem rekursiven Prozess der Hypothesenbildung werden die Kategorien durch wiederholte Induktion und Deduktion entwickelt und durch Verifikation auf ihre Aussage- und Erklärungskraft hin geprüft. (3) In einem dritten Schritt werden Schlüsselkategorien herausgearbeitet und durch selektive Anwendung auf weitere Textpassagen verdichtet. Dieses axiale und selektive Kodieren dient vorrangig der theoretischen Sättigung der Kategorien. „Dadurch werden die Zusammenhänge zwischen Kategorien und ihren Eigenschaften erkennbar und konzeptuell dicht“ (ebd.: 66). Die Kategorien sind schließlich gesättigt, sobald sie empirische Varianz herstellen und übergreifende Erklärungskraft aufweisen. An dieser Stelle ist noch eine methodologische Klarstellung erforderlich. Wie soeben gezeigt, orientiere ich mich in der Analyse und Auswertung des empirischen Materials weitgehend an der Grounded Theory. Allerdings teile ich dabei nicht jene radikale Grundannahme, das forschende Subjekt müsse ohne Theorie auf das Material herangehen. Die Unmöglichkeit dieser Forderung wird von Kritikern der Grounded Theory immer wieder betont, insofern jedes Denken immer schon sozialisierte und kulturell geprägte Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster enthält. Diese können nicht ignoriert oder gar negiert werden, stattdessen gilt vielmehr, sie in anhaltender und aufrichtiger Reflexion bloßzulegen und damit ihren Einfluss auf den Forschungsprozess zu bemessen (Alvesson & Sköldberg 2000). Mein methodologischer Zugang ist daher eine Synthese aus Offenheit und Theoriegeleitetheit: Offen sollte auf das empirische Material herangegangen werden, ohne es dabei in vorgegebene theoretische Konstruktionen zu zwängen. Andererseits bringe ich sehr wohl theoretischen Vorannahmen mit in den Forschungsprozess. Dies sind die Grundpfeiler poststrukturalistischer Methodologie sowie die theoretischen Konzepte, so wie sie vorgestellt wurden. Jedoch, diese Vorannahmen stellen lediglich einen Werkzeugkasten dar – mit Alvesson & Kärreman (2007: 1273) kann man auch von einem „interpretativen Repertoire“ sprechen –, Basisbausteine also, mit denen ich arbeite. Sie geben noch keinen klar umrissenen Erkenntnisweg vor. Im Rahmen dieser synthetischen Methodologie kommt es zum ständigen Dialog zwischen Empirie und Theorie, der eine zirkuläre Erkenntnisgenerierung nach sich zieht. Sowohl die Theoriegenerierung als auch die Bearbeitung des empirischen Materials erfolgen in zirkulären Prozessen des Konstruierens, Konzeptualisierens und Dekonstruierens und erfahren dadurch eine prozessimmanente Weiterbearbeitung.
Methodologisches Design
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Beschreiben und Erklären Es wurde bereits einleitend (1.1) darauf hingewiesen, dass die empirischen Ergebnisse ihren Zweck nicht in der repräsentativen Erfassung eines vorhandenen Feldes oder Gegenstandes finden, sondern in der exemplarischen Darstellung einer theoriegeleiteten Argumentation. Es liegt also keine Tatsachenfrage (Giddens 1999: 580) vor, sondern eine generative Forschungsfrage. Anstatt einer abbildenden Dokumentation des Kultursektors wird dieser anhand eines singulären Phänomens interpretativ erschlossen. Hierfür lassen sich mithilfe der angeführten Methoden relevante Analysekategorien aus dem konkreten Handlungskontext entwickeln. Den entsprechenden Analyse- und Auswertungsdimensionen sind indes einige zentrale Beobachtungsdimensionen übergeordnet, mit denen gezeigt wird, wie, wodurch und warum Kulturschaffende tun, was sie tun. Erst dann lassen sich die Sinnwelten und Bedeutungszusammenhänge ergründen, aus denen ihre Praxis hervorgeht. Folgende Beobachtungsdimensionen sind daher zu differenzieren: 1.
Was denken die Menschen über die Welt, in der sie handeln? Aus der Rekonstruktion der konkreten Lebenswelten soll erfasst werden, welche Bedeutung die Akteure ihrem Tun beimessen. Erst dann lässt sich sinnvoll darüber sprechen, was sie unter frei entfaltetem Handeln verstehen und wo sie Handlungsfreiräume verorten. Dieser Fragenkomplex verweist auf eine phänomenologische Dimension.
2.
Wie organisieren die Menschen ihr Handeln? Die Beschreibung der beobachteten Organisationspraktiken erlaubt Rückschlüsse auf die Konstitution des Gefüges. Unter Nomadologie stelle ich eine Topologie von Praktiken vor, die es erlaubt, das Streben nach Handlungsfreiräumen zu erfassen. Dieser Fragenkomplex kann auch als deskriptive Dimension bezeichnet werden.
3.
Wie wird das Handeln organisiert? Die Analyse des kollektiven Handlungszusammenhangs zeigt die Möglichkeiten und Grenzen der Praxis auf. Aus der produktiven Dekonstruktion von Dichotomien wie Struktur und Prozess oder Ordnung und Organisation soll die Handlungsfreiheit der Akteure dimensioniert werden. Anstatt ein Set an Variablen oder Faktoren zu definieren, durch die sich das Schaffen von Freiräumen messen ließe, entwerfen wir mit der Kategorie des Gefüges ein Verständnis von Organisation, das die Praxis der Akteure in einen kompositorischen Entfaltungszusammenhang einbettet. Dies ist die erforschende oder explorative Dimension.
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Der Freiheit nachgehen
Diese phänomenologischen, deskriptiven und explorativen Dimensionen bilden die methodologischen Eckpfeiler unseres interpretativ-erklärenden Ansatzes, der das Organisieren von Handlungsfreiräumen nicht nur empirisch erschließt, sondern auch theoretisch anreichert.
4 Kulturarbeiter organisieren sich: Das Beispiel p.m.k
Die deskriptive Analyse der Freiheitspraktiken erfolgt auf Basis der durchgeführten Fallstudie.50 Zunächst stellen wir die „Plattform Mobile Kulturinitiativen“ (p.m.k) anhand äußerlicher Eckpunkte dar.51 Wir beschreiben, wer die Akteure sind und wie die Plattform strukturiert ist (4.1); sodann, aus welchem soziokulturellen Kontext deren Praxis hervorgegangen ist und wie sie sich darin entfaltet hat (4.2); schließlich, welche Funktionen und Aufgaben die Plattform als Ort des kulturellen Schaffens zu erfüllen beansprucht (4.3). Das Porträt endet mit einer kleinen Phänomenologie des Namens (p.m.k), den sich das Kollektiv gegeben hat (4.4). Äußerlich bleibt diese Beschreibung, weil damit im Wesentlichen eine Sicht von Außen eingenommen wird, die zeigen soll, um was es geht und damit die p.m.k wie eine klar erfassbare Organisation erscheinen lässt. Cooper & Law sehen das Charakteristikum einer solchen von Außen betrachteten Organisation darin, dass sie wie ein definierbares System mit starken Grenzen auftritt. „So the distal is what is preconceived, what appears already constituted and known, what is simplified, distilled; it’s a bit like fast food – packaged for convenience and ease of consumption“ (Cooper & Law 1995: 239).
50
51
Entsprechend der methodischen Orientierung an der Grounded Theory (3.2.3) wurde für die Darstellung darauf verzichtet, die zitierten Interviewauszüge übermäßig zu „glätten“. Nur wenn es Gründe der Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit notwendig erscheinen ließen, wurde der transkribierte Text sprachlich modifiziert. Vorrangiges Ziel war, die Umgangssprache möglichst authentisch und lautgetreu wiederzugeben. Die vollständigen Interviewtranskriptionen können auf Anfrage beim Autor eingesehen werden. Weiters ist darauf hinzuweisen, dass die Interviews anonymisiert wurden, dass heißt, alle zitierten Akteure finden – ebenso wie die adressierten Vereine – nicht mit ihrem richtigen, sondern mit einem fiktiven Namen Eingang in die Darstellung. Auf eine Namensgebung völlig zu verzichten und stattdessen die Akteure lediglich als Funktions- oder Rollenträger sprechen zu lassen, würde meiner Einschätzung nach weder der Form noch der Dynamik des Gefüges entsprechen. Ein Index der zu Wort kommenden Akteure findet sich im Anhang. Quellen für die folgende Darstellung sind vorwiegend offizielle Dokumente, Konzepte und Presseartikel sowie Homepagetexte und Onlinematerialien der p.m.k. Daneben werden punktuell Interviewauszüge herangezogen.
Kulturarbeiter organisieren sich
102 4.1
Die Plattform Mobile Kulturinitiativen
Die p.m.k ist ein Netzwerk von verschiedenen Akteuren, die sich zum Zweck der gemeinsamen Nutzung eines Ortes für ihre kulturellen Aktivitäten zu einem Verein zusammengeschlossen haben. Es handelt sich dabei um insgesamt knapp dreißig Initiativen und Einzelvereine, vorwiegenden aus den Bereichen zeitgenössischer Musik und Medienkunst, die in sich jeweils autonome Statuten und Strukturen aufweisen. Durch die Gründung der p.m.k vereint sie ein konkreter Ort, ein kollektiv genutztes physisches Territorium, an dem die Produktion, Vermittlung und Präsentation ihrer kulturellen Praxis stattfindet. Damit Betrieb und Organisation der p.m.k gewährleistet werden, sind zwei in Teilzeit angestellte Personen verantwortlich für die Geschäftsführung und die inhaltliche Koordination. Sie sorgen dafür, dass der Ort in seinem materiellen Bestand funktionsfähig bleibt und den Anforderungen der Akteure entgegenkommt, aber auch dafür, dass die Plattform ihrer immateriellen Dimension, verstanden als offener Raum des kulturellen Schaffens, gerecht wird. Die Finanzierung der p.m.k erfolgt – neben den Mieteinnahmen durch die Raumnutzung der Mitglieder – vorwiegend über regelmäßige Jahressubventionen von der Stadt Innsbruck, dem Land Tirol sowie des Bundes. Punktuell gibt es auch Zuwendungen sonstiger Förderfonds. Aufgrund der originären Dienstleistungsfunktion der p.m.k ist das kollektive Netzwerk weniger als ein übergeordneter Dachverband denn als „aktiver Zusammenschluss“ zu verstehen. Die p.m.k, die ihre Rolle in einem Gründungsdokument mit einer „Regiegemeinschaft“ vergleicht, unterstützt und fördert die Aktivitäten ihrer Mitglieder, sie bestimmt sie jedoch nicht. Ziel ist es weniger, etwas Neues vorzugeben, als vielmehr, bestehende und gewachsene Strukturen zu fördern, um daraus etwas Neues zu ermöglichen.
4.1.1
Akteure und Struktur
Die Akteure der p.m.k sind ihre Mitglieder, also die rund dreißig Initiativen und Einzelvereine.52 Nur sie, die offiziellen Mitglieder, sind berechtigt, Aktivitäten in der p.m.k zu setzen und den gemeinsamen Ort für ihr Schaffen zu nutzen. Viele der Vereine bestehen schon über Jahre hinweg, definieren sich über eigene Strukturen und haben meist auch in sich vielschichtige Informations- und Pro52
Dass Akteure als Vereine auftreten, hat vorwiegend administrativ-finanzielle Gründe. Einer davon ist etwa, dass bei der Veranstaltung von Konzerten ein als Kulturverein eingetragener Verein (mit Sitz in Innsbruck) von der Vergnügungssteuer (ca. 25 Prozent der Eintrittsgelder) befreit ist.
Die Plattform Mobile Kulturinitiativen
103
duktionsnetzwerke geschaffen, die es ihnen erlauben, ihre kulturellen Aktivitäten mit einem professionellen Anspruch durchzuführen. Solche Netzwerke umfassen regionale, nationale und internationale Künstler, Musiker und Bands, Veranstalter und Buchungsagenturen (sogenannte „booker“), aber auch institutionelle und politische Kontakte. Andere Vereine wiederum sind jüngeren Datums, was jedoch weder ihren Anspruch auf Professionalität noch ihren Grad an Vernetztheit schmälern muss. Zwar mögen deren Akteure im Sinne eines als Verein organisierten Kollektivs „neu“ auftreten, dennoch können sie meist auf umfassende Erfahrungen in ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen sowie auf langjährige und intensive Kontakte zu anderen Vereinen verweisen. Damit sind zwei Charakteristika angesprochen, die nahezu alle p.m.k-Mitglieder gemeinsam haben: Erstens kennen sie das Umfeld der p.m.k schon seit mehreren Jahren und stehen in mehr oder minder regem Kontakt untereinander, unabhängig davon, in welcher Form sie jeweils organisiert sind. Zweitens sind die Akteure in überwiegender Mehrheit Spezialisten in ihrem Tätigkeitsfeld und haben darin ein hohes Maß an theoretischem wie Erfahrungswissen angereichert, das unabhängig von den Aktivitäten in der p.m.k für sich stehen kann. Beide Charakteristika, Vernetztheit und Professionalität, lassen die p.m.k als äußerst vielschichtigen Zusammenschluss heterogener Elemente begreifen, der gleichzeitig von Bewegungen der Autonomie wie der Konnexion durchdrungen wird. Umgekehrt sind es dieselben Charakteristika, die ein maßgebliches Kriterium bei der Aufnahme neuer Mitglieder ausmachen (5.3.1). Das Aufnahmeverfahren gestaltet sich dabei als offener Entscheidungsprozess im Rahmen des Beirats, einem Entscheidungsgremium, das frei zugänglich ist für alle Mitglieder (6.1.3). Hier werden Anträge auf Neumitgliedschaft vorgestellt, diskutiert und schließlich mit Mehrheitsbeschluss genehmigt oder abgelehnt. Entsprechend ihrer programmatischen Struktur gibt es in der p.m.k keine Beschränkung in der Zahl der Mitglieder. Eine ständige Erweiterung der Tätigkeitsfelder durch neue Akteure stellt geradezu ein Kernmoment ihrer Strategie dar (6.3.1). Als weitere Akteure neben den Mitgliedern treten die beiden für Organisation und Koordination zuständigen Angestellten auf, die ihre Tätigkeiten in dem als Vereinslokal zugänglichem Gemeinschaftsbüro ausführen. Im Sinne einer Dienstleistungsfunktion bewerkstelligen sie all jene Tätigkeiten, die Voraussetzung für die Nutzung des gemeinsamen Veranstaltungsorts sind. Dazu gehören verwaltungstechnische, organisatorische, finanzielle, personelle, kommunikative und koordinierende Aufgaben, die im wesentlichen sicherstellen, dass die Infrastruktur funktionsfähig bleibt, die Finanzierung garantiert ist, Organisationsabläufe reibungslos ablaufen, Konditionen für die Mitglieder transparent und fair ausgehandelt und interne wie externe Informationsflüsse gewährleistet werden. Neben diesen zwei fest angestellten Funktionsträgern sind noch eine Reini-
Kulturarbeiter organisieren sich
104
gungskraft sowie ein Techniker zu nennen, die zwar beide jeweils nur nach Bedarf zum Einsatz kommen, nichtsdestotrotz für das Funktionieren des Gesamtgefüges der p.m.k eine notwendige Rolle einnehmen. Schließlich sei auch auf den Vereinsvorstand hingewiesen, der aus fünf Personen besteht.
4.1.2
Programm und Strategie
Heterogenität und Professionalität der Akteure spiegeln sich Monat für Monat im inhaltlichen Programm wieder, das in der p.m.k präsentiert wird. Zum einen bedeutet das nicht nur eine qualitative Ausdifferenzierung in verschiedenste Richtungen, sondern auch eine quantitative Dichte, die sich in mehr als 200 Veranstaltungen pro Jahr niederschlägt. Zum anderen gibt es keine inhaltlichen Vorgaben oder Einschränkungen, die die Vielfalt des kulturellen Schaffens strukturell beschneiden würde. Erklären lässt sich diese unmittelbare Einsetzung von Akteuren und deren Praxis mit der selbst gewählten Leitdevise „Struktur ist Programm“. Die Vereine bestimmen selbst, was sie tun, was sie veranstalten, was sie präsentieren. Die Vielfalt ihres Schaffens bestimmt die Vielfalt des Programms. Die Art und Weise, wie sich das Netzwerk zusammensetzt, ist entscheidend für seine inhaltliche Ausrichtung. Inhalt resultiert aus Form. Möglich wird diese kollektive Selbstbestimmung über einen vergleichsweise einfachen Modus der Programmgestaltung: Jeder Verein trägt in einem internen Kalender ein, was er wann in der p.m.k machen möchte. Ist der gewünschte Termin bereits belegt, muss ein anderer, „freier“ Tag gewählt werden. Außer diesen terminlichen gibt es keine anderen Ausschließungsgründe für die kulturellen Aktivitäten. Konkrete Formen und Inhalte stehen nicht zur Disposition. Es gibt weder Ablehnungen noch Verbote, sehr wohl aber das Recht, Inhalte im Rahmen der kollektiven Kommunikationsprozesse zur Diskussion zu stellen. Der so geschaffene Freiraum für die Praxis der Akteure basiert darauf, dass sie durch ihre Aufnahme als Mitglieder bereits die entscheidende „Eignungsprüfung“ hinter sich haben (5.3.1). Über ihre laufenden Inhalte wird deshalb nicht abgestimmt, weil ihre inhaltliche Ausrichtung bereits bei ihrem Eintritt ins Praxisgefüge der p.m.k kritisch gewürdigt wurde. Die übergreifende Strategie, wonach Kulturschaffende sich eine programmatische Struktur geben und diese über die selbstbestimmte Nutzung des gemeinsamen Orts regelmäßig aktualisieren, schlägt sich auch in der Organisationskultur nieder. Die p.m.k-Mitglieder bestimmen ihre Inhalte nicht nur selbst, sondern sind auch dafür verantwortlich. Konkret heißt das, dass sie jene Veranstaltungen, die sie für sich angemeldet haben, auf eigene Rechnung über die Bühne bringen und infolgedessen auch den Ort, die p.m.k-Räumlichkeiten, an
Die Entfaltung der p.m.k
105
diesen Tagen in eigener Regie führen müssen. Veranstaltet ein Verein also ein Konzert, so muss er alle erforderlichen Aufgaben an und für diesen Tag selbst übernehmen: Barbetrieb und Getränkeausschank, DJ’s und Bandbetreuung, Visuals und Technik, Eintrittspreise und Türsteher, Werbung und Technik, Sauberkeit und Sicherheit – dies sind nur die wichtigsten organisatorischen Eckpunkte eines „normalen“ Abends. Gleichzeitig bedeutet die eigenverantwortliche Durchführung des Abends, dass der Veranstalter alle erzielten Einnahmen für sich lukrieren kann, dafür auch sämtliche Kosten und Aufwendungen selbst aufbringen und eventuelle Verluste aus eigener Tasche in Kauf nehmen muss. Diese Form eigenverantwortlicher Praxis korrespondiert mit der Struktur basisdemokratischer Entscheidungen. Das Gremium des Beirats gilt hierfür als aufschlussreichstes Anschauungsbeispiel (6.1.3). In den zweiwöchentlich stattfindenden Sitzungen, die frei zugänglich sind für alle Mitglieder, werden sämtliche Entscheidungen bei gleichem Stimmrecht (eine Stimme pro Verein) und mit Mehrheitsbeschluss getroffen. Auf der Tagesordnung steht das, was die Mitglieder einbringen. Der Beirat ist jedoch nicht nur zentrales Entscheidungsgremium, sondern auch ein regelmäßiges Forum des Informationsaustausches. Aktuelle Fragen, Probleme, Wünsche und Anregungen einzelner Mitglieder kommen hier offen zum Ausdruck. Mit der Strategie, die Struktur zum Programm zu machen, kann sowohl die Vielfalt kulturellen Schaffens an einem konkreten Ort artikuliert als auch die Offenheit des Raums gegenüber gegenwärtigen Kunstströmungen aufrecht erhalten werden (6.2.1). So etabliert sich ein Raum zeitgenössischer Virtualität, welche sich in mannigfaltiger Weise materialisiert und aktualisiert, nie jedoch zu einer inhaltlichen Schließung führt. Gleichzeit führt die angestrebte Integration nach Innen, die Einbindung vielfältiger Vereine in die offene Struktur, nie zu einer Homogenisierung von Praxis, sondern versucht, die ausdifferenzierte Heterogenität kulturellen Schaffens nach Außen hin aufrecht zu halten.
4.2
Die Entfaltung der p.m.k
Wenn die Struktur zum Programm wird, dann sind zunächst die historischen Bedingungen zu untersuchen, unter denen es überhaupt möglich geworden ist, dass sich Kulturschaffende nicht nur vernetzen und organisieren, sondern sich auch eine Struktur geben, die immer wieder aufs Neue durch ihre Praxis aktualisiert wird. Dazu skizzieren wir in einem ersten Schritt den sozio-historischen Kontext, vor dessen Hintergrund sich die p.m.k entfaltet hat. In einem zweiten Schritt wird der unmittelbare Gründungsprozess anhand der konkreten Entstehungsbedingungen dargestellt.
Kulturarbeiter organisieren sich
106 4.2.1
Kontext: Die p.m.k als Teil der freien Szene Innsbruck
Während der letzten Jahre hat das kulturelle Leben in Innsbruck eine deutliche Stärkung und Vervielfältigung erfahren, was sich besonders im Angebot des alternativen und freien Kultursektors niedergeschlagen hat. Neben etablierten Institutionen wie Konzerthaus, Landestheater und Landesmuseum sowie jährlichen Veranstaltungen wie dem Osterfestival, Festival der alten Musik, Innsbrucker Tanzsommer und Innsbrucker Festwochen haben sich im Jugend- und Alternativbereich Lokalitäten wie das Bierstindl, das Treibhaus, das Leokino oder die p.m.k nachhaltig hervorgetan. Besonders seit sich im Jahre 2004 eine Reihe freischaffender Künstler aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengeschlossen und unter dem Namen bættlegroup for art ein groß angelegtes Rechercheund Informationsprojekt ins Leben gerufen hat, konnte sich die vielfältige freie Kulturszene vermehrt ins Bewusstsein öffentlicher Debatten einbringen. Es mag dabei bezeichnend sein, dass die bættlegroup for art vor dem Hintergrund einer Kontroverse rund um die kulturpolitische Ausrichtung der Stadt Innsbruck hervorgegangen ist, in der eine Bewerbung als „europäische Kulturhauptstadt“ zur Debatte stand. Das daraus erwachsende Netzwerk der bættlegroup for art nützte den sich eröffnenden Diskussionshorizont, um Position wie Potential der freien Kulturszene mit Nachdruck zu thematisieren. Eine nahezu erschöpfende Kartographie, gestützt auf umfassenden Umfragen und qualitativen Interviews, ergab ein schillerndes Bild von insgesamt 77 Kulturinitiativen, KünstlerInnengruppen und Plattformen, hinter denen zusammengenommen knapp 1000 Personen stehen, die das Innsbrucker Kulturleben aktiv bevölkern.53 Besonders seit Mitte der 1990er Jahre ist die Zahl der freien Kulturschaffenden rasant angewachsen, wobei sich der Großteil mit der Organisation und Durchführung von Veranstaltungen beschäftigt. Während die konkreten Tätigkeitsfelder von Ausstellungen, Konzerten und Festivals über Veranstaltungsreihen, Lesungen und Diskussionen bis hin zu Film- und Theatervorführungen reichen, weisen rund zwei Drittel aller Kulturschaffenden eine spezifische Ausbildung für ihre Tätigkeit aus. Weiters ergab die Recherche, dass etwa ein Fünftel aller aktiven Personen ihre Tätigkeit ganz oder teilweise entgeltlich, vier Fünftel hingegen ausschließlich ehrenamtlich ausführen. Alles in allem verteilt sich die freie Kulturszene auf 36 Adressen in Innsbruck, unter denen jene der p.m.k mit inzwischen knapp 30 Initiativen die mit Abstand höchste Schnittmenge aufweist. Rund 40 Prozent der Gruppierungen finanzieren sich vorwie53
Die an dieser Stelle präsentierten Zahlen bilden lediglich einen Auszug aus den Detailergebnissen, welche auf der Homepage der bættlegroup for art nachzulesen sind unter http://www.baettle.net/uploads/tx_templavoila/baettlequantitativ2007_01.pdf
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gend aus öffentlichen Geldern, gefolgt von gut 20 Prozent, die ihre Tätigkeiten mehrheitlich aus „eigener Tasche“ bestreiten. Für etwa 15 Prozent sind Eintrittsgelder und Mitgliedsbeiträge die wichtigsten Einnahmenquellen, lediglich knapp 3 Prozent werden maßgeblich von privaten Sponsoren gefördert. Die hier in groben empirischen Befunden wiedergegebene Kartographie der bættlegroup for art entwirft nicht nur ein anschauliches Bild des status quo der freien Kulturszenen, sondern ermöglicht auch eine induktive Erschließung dessen, was der Begriff der freien Kulturszenen überhaupt bedeuten kann (vgl. Raunig 1996, Schnitzer 2007). Mehrere Dimensionen sind dabei zu beachten:
Zunächst subsumieren freie Kulturszenen solche Akteure, deren kulturelles Schaffen nicht aus einer institutionalisierten oder kommerzialisierten Form von Praxis hervorgeht. Sie agieren weder von Amts wegen noch im Dienste einer ökonomisch definierten Profitstrategie. Damit meist unmittelbar verbunden sind gesellschaftspolitische Handlungsmotive, emanzipatorische Tendenzen und mitunter gar notwendige Utopien, die nach Demokratisierung, Dezentralisierung und Autonomie streben und damit auf die historischen Anfänge freier Kulturarbeit während der 1960er- und 1970er-Jahre verweisen. Entsprechend dieser Ausrichtung entfaltet sich eine Praxis, für welche die Heterogenität ihrer Ausdrucksformen, Tätigkeitsfelder und Organisationsweisen charakteristisch ist. Die Vielfalt selbst ist noch nicht Merkmal freien Kulturschaffens, vielmehr entsteht sie aus der Praxis nahezu zwangsläufig. Der Praxis zugrunde liegt ein meist offener Kulturbegriff, „der kulturelle Aktivität als Handlung, als realen gesellschaftlichen Eingriff mit Mitteln und Methoden der Kunst und Kultur versteht“ (Schnitzer 2007). Dadurch verlieren oppositionelle Kategorien wie Hoch-, Populär- und Alternativkultur an Relevanz, aber auch die Grenzen zwischen kulturellem und politischem Handeln lösen sich auf. Ausrichtung und Praxis sind getragen von einer kritischen Auseinandersetzung mit Themen und Fragen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Im Aufspüren und Reflektieren aktueller Tendenzen liegt das, was als zeitgenössisch zu nennen ist. Zugleich liegt darin eine kompensatorische Funktion, die den „Vorschein eines anderen im bestehenden beschädigten Leben“ (Schwendter 1996: 217) erzeugt.
Freie Kulturszenen, so können wir kurz resümieren, verweisen auf eine kulturelle Praxis, die strukturell unabhängig, inhaltlich selbstbestimmt, gesellschaftspolitisch engagiert, heterogen und vielfältig, unorthodox und zeitgenössisch ist. Auch wenn diese Praxis nicht unbedingt im Rahmen eines engen politischen
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Kulturarbeiter organisieren sich
Handlungsfelds erfolgen muss, so stellt sie doch ein durch und durch politisches Handeln dar. Aufgrund dieser Charakteristika wird das Praxisfeld freier Kulturszenen auch häufig als autonome Kulturarbeit bezeichnet: „Autonome Kulturarbeit ist selbstbestimmte, von öffentlicher Förderung nur sehr teilweise getragene, nonkommerzielle infrastrukturbildende Kulturvermittlungsarbeit von Kulturveranstaltern, -stätten und –initiativen“ (Bernard 1996: 41). Ob institutionalisierte oder autonome Kulturarbeit, beide Praxisfelder sind schließlich wieder der übergeordneten Kategorie des Kultursektors zuzuordnen (3.2.1). Mit dieser groben Begriffsklärung, die lediglich einführend, nicht erörternd ist, können wir noch einmal auf die Innsbrucker freie Szene blicken und fragen, ob ihre Praxis nicht nur politisch ist, sondern auch Politik macht. Auch hier fällt als besonders hervorstechende Bewegung jene bereits erwähnte bættlegroup for art auf, die mit ihrer umfassenden Recherche- und Informationsplattform ein kollektives (aber nicht homogenisierendes) Sprachrohr geschaffen hat, das es den selbsternannten „Kulturarbeitern“ auch auf politischem Terrain ermöglicht, ihre Arbeit und soziale Lage stärker zu problematisieren und an politische Forderungen zu knüpfen (5.1.3). Ein erster Erfolg dieser starken Lobbyarbeit ist der im Jahre 2008 neu ausgeschriebene Fördertopf stadt_potentiale der Stadt Innsbruck, den die bættlegroup for art vorgeschlagen und konzipiert hat. Diese Entwicklung weist indes zwei interessante Aspekte auf: Zum einen unterstreicht sie die zentrale Rolle der p.m.k als Schmelztiegel in der freien Kulturszene Innsbruck, vereint sie doch die größte Dichte an Vereinen und Initiativen und ist zugleich Mitbegründerin der bættlegroup for art (5.1.2). Zum anderen verweist die sich abzeichnende Entwicklung – zumindest punktuell – auf ein gesellschaftspolitisches Klima, in dem sich Kulturschaffende und politische Verantwortungsträger nicht konfrontativ, sondern kooperativ gegenüberstehen. Insbesondere zwischen offiziellen Vertretern der Stadt Innsbruck und Akteuren der freien Kulturszene hat so ein intensivierter Dialogprozess eingesetzt.54 Ein weiteres Zeichen für die erstarkende freie Szene ist die von der Lobbyund Netzwerkplattform TKI (Tiroler Kulturinitiativen) im Jahre 2002 initiierte Projektförderschiene TKI Open. Dieser vom Land Tirol geförderte Wettbewerb weist seit Anbeginn eine kontinuierlich steigende Zahl eingereichter Kulturprojekte auf und kann als eine Art alljährlicher Pulsmesser der zeitgenössischern Kulturarbeit in Innsbruck betrachtet werden. Die hier eingereichten Projekte zeigen zugleich, mit welch hohem Grad an regionaler und überregionaler Vernetzung viele Akteure ausgestattet sind, wobei diese Netzwerkarbeit weniger ein notwendiges Übel darstellt als vielmehr eine zentrale Ressource ihrer Kulturar54
Für eine umfassende Bestandsaufnahme aus Sicht der Akteure vgl. Amt der Tiroler Landesregierung 2008.
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109
beit (5.1.1). Indiz hierfür sind nicht zuletzt eine Handvoll Plattformen und Einrichtungen, die sich als Zentren des Austausches und Dialogs in jeweils spezialisierten, nichtsdestotrotz interdisziplinären Tätigkeitsfeldern etablieren konnten. Als Beispiele gelten etwa das Künstlerhaus Büchsenhausen, eine Einrichtung der übergeordneten Tiroler Künstlerschaft, durch die eine internationale Plattform für Produktion, Forschung und Vermittlung im Bereich der visuellen Künste und der Kunsttheorie geschaffen wurde. Oder das Architekturforum aut, ein Zentrum für Diskussion, Information, Forschung und Lobbying für moderne Architektur in Tirol. Wenngleich viele der hier angeführten Tendenzen – die wachsende Zahl an Kulturschaffenden, der verstärkte Dialog mit politischen Akteuren, zunehmende Vernetzungs- und Bündelungsaktivitäten, angemessen dotierte Wettbewerbe für Alternativkultur – eine für die handelnden Akteure positive Entwicklung anzeigen, so werden sie doch von einer Vielzahl negativer Befunde konterkariert, die überwiegend struktureller Natur sind. Ein großes Manko, das unter den Kulturschaffenden regelmäßig beklagt und auch in den für die vorliegende Fallstudie durchgeführten Interviews durchgängig angesprochen wird, ist die Medienlandschaft des Landes Tirol – „diesbezüglich: wüste“ (Hundegger 2008). Hier, so der Tenor, fehle es gänzlich an einem kritischen Diskurs über Kulturpolitik, Feuilletonbeiträge und Rezensionen zu Kunst und Kultur seien Mangelware, ganz zu schweigen von einem eigenständigen Kulturmedium (Griesser 2007). Die mangelnde mediale Berichterstattung ist dabei nur ein, wenngleich das wohl offensichtlichste Indiz für eine nach wie vor unterrepräsentierte Stellung der freien Kulturszene im öffentlichen Raum (5.1.3).55 Ob es fehlende Plakatierungsmöglichkeiten sind, zu wenig Proberäume, ungenügende oder intransparente Stipendienvergabe, bürokratische Hürden bei Veranstaltungen oder öffentlichen Förderungen, die teils prekären Arbeits- und Sozialverhältnisse von Kulturschaffenden, unzeitgemäße kulturpolitische Agenden, veraltete gesetzliche Regelungen, monokulturelle Stadtentwicklungskonzepte, beschränkte Ausbildungsmöglichkeiten56 oder generell ein oft noch antiquiertes Verständnis von Kultur im Sinne einer verspielt-unterhaltsamen Hobby- und Freizeitbeschäftigung anstatt eines sozial- und einkommensrelevanten Arbeitfeldes – in solchen und ähnlichen Fragen der öffentlichen Bewusstmachung überschneiden sich zumeist Themenlagen, die das Konkrete mit dem Allgemeinen, das Lokale mit dem Globalen verbinden, indem sie über den spezifischen Kontext des Innsbrucker Kulturlebens hinaus-
55 56
Zur Rolle des Staates als repräsentativer Förderer kulturellen Schaffens vgl. Zembylas & Tschmuck 2005. Zur Diskussion rund um die Einrichtung einer Kunsthochschule in Innsbruck vgl. Siclodi 2007.
Kulturarbeiter organisieren sich
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weisen und auf einer überregionalen, nationalen und internationalen Ebene signifikante Bedeutung erhalten.
4.2.2
Genealogie: Die Entstehung der p.m.k
Der oben dargestellte Kontext ist eine Gegenwartsaufnahme, in die bereits wesentliche Entwicklungen eingegangen sind, welche zur Zeit der p.m.k-Gründung nicht oder noch nicht absehbar waren. Dabei hat die p.m.k wohl ebenso zu deren weiteren Entfaltung beigetragen, wie sie umgekehrt von ihnen geformt wurde. Die folgende Rückblende sollte dies veranschaulichen. Innsbruck, Januar 2001: Nach der Schließung mehrerer subventionierter Lokalitäten für alternatives und zeitgenössisches kulturelles Schaffen stehen im Frühjahr 2001 viele Kulturvereine und Initiativen vor dem Problem einer akuten Raumnot. Mitnichten ist dies bloß eine „Lücke“ in der Innsbrucker Kulturlandschaft – vielmehr fehlen schlicht die konkreten Orte, in denen die freie Szene produzieren und sich präsentieren kann. Aus gegebenem Anlass schließen sich mehrere Gruppierungen zusammen und arbeiten an einem Basiskonzept, das den bisherigen Subventionsgebern vorgelegt werden sollte. Dieses Grundpapier enthält bereits die Idee eines gemeinsamen Büros und eines Veranstaltungslokals: Damit ist die p.m.k ins Leben gerufen, wenngleich sie noch keinen eigentlichen Ort hat. Bezeichnend ist, dass Idee und Struktur von den betroffenen Kulturschaffenden selbst entworfen und entwickelt wurden. Dabei geht die Betroffenheit weit über die akute Raumnot hinaus. Es fehlt nicht nur an Orten, sondern auch an Infrastruktur, an Subventionen, an Aufmerksamkeit, an öffentlicher Präsenz. Die meisten Akteure haben weder ein eigenes Büro noch einen Veranstaltungsort, weder eine ausreichende technische Ausstattung noch die finanziellen Mittel dafür. Die p.m.k hat daher die Vision eines gemeinsamen Orts, der möglichst flexibel einsetzbar ist für unterschiedliche Präsentationsformen und Veranstaltungen; aber auch die Vision einer kollektiven Organisationsstruktur, in der Finanz-, Verwaltungs- und Öffentlichkeitsarbeit gebündelt und aus soliden betriebswirtschaftlichen Strukturen heraus bewältigt werden. Was folgt, sind drei Jahre geprägt von der Suche nach einem Ort, Verhandlungen mit Subventionsgebern sowie öffentlichen Demonstrationen, auf denen man „kulturelle Freiräume“ fordert und mit Parolen wie „Produktiv und obdachlos. Wir brauchen einen Ort“ auf die missliche Lage aufmerksam macht. Zwar tun sich mehrere Standortmöglichkeiten auf, sie müssen aber letztlich wieder fallengelassen werden. Sieht man von der vorübergehenden Einnistung in einem Baucontainer – dem „kleinsten Kulturzentrum der Welt“ (p.m.k 2008) – ab, dann bleibt der Entwurf eines Kulturhauses auf den Dächern eines Supermarktes die
Die Entfaltung der p.m.k
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aussichtsreichste Variante aus dieser Zeit. Aufgrund langwieriger und schließlich ergebnisloser Verhandlungen führt eine Reihe von Betroffenen Ende 2002 eine Hausbesetzung durch, die mitunter ein Echo der medialen Öffentlichkeit hervorruft, welches den Einigungsprozess zwischen Kulturschaffenden einerseits sowie Subventionsgebern und politischen Verantwortungsträgern andererseits entscheidend vorantreibt. Wenngleich Letztere vorerst nur die Anmietung eines Büros als Service- und Koordinationsstelle, nicht aber eines Veranstaltungsortes unterstützen, kann Mitte 2003 doch ein geeigneter Standort gefunden werden, der beides erlaubt: Zwei aneinandergrenzende Eisenbahnviaduktbögen stehen zur Verfügung, um einerseits ein Basisbüro, andererseits einen Konzertraum einzurichten. Aufgrund weitgehend ungesicherter Subventionszusagen bleibt der Einzug zunächst vor allem in finanzieller Hinsicht noch ein riskantes Unterfangen, da Umbau und Adaptierung der Räumlichkeiten einen hohen Kostenaufwand mit sich bringen. Dennoch, im Juli 2004 kann es schließlich zur Eröffnung kommen. Schnell etabliert sich der neue Ort zum pulsierenden Treffpunkt und Konzertzentrum, sodass sich Ende 2006 die Gelegenheit, aber auch Notwendigkeit ergibt, einen weiteren, separaten Viaduktbogen anzumieten. Nun verfügt die p.m.k sowohl über ein gesondertes Bürolokal als auch über angemessene Veranstaltungsräumlichkeiten mit Loungebereich und Clubatmosphäre. Heute ist die p.m.k nicht nur eine feste Größe im Kulturleben der Stadt Innsbruck, sondern auch, wie eine Studie der bættlegroup for art zeigt, der wichtigste Vernetzungspunkt für die freie Kulturarbeit in Innsbruck (bættlegroup for art 2007). „Das Konzept ist von der ersten Stunde an voll aufgegangen“, zieht die Geschäftsführerin zufrieden eine erste Bilanz. Grundsätzliche Organisationsfragen betreffend Raum, Finanzierung, Personal und Ausrichtung konnten dauerhaft geklärt werden. Dass die p.m.k jedoch nicht von allen Seiten des gesellschaftlichen Spektrums gutgeheißen wird, mussten die Mitglieder durch mehrere rechtsextremistisch motivierte Übergriffe im Jahre 2007 erfahren, welche mit Sachbeschädigung und Nazi-Wandparolen die Veranstaltungslokalitäten beschädigten und verunstalteten. Damit wurde die p.m.k – abgesehen von den nicht unbeträchtlichen psychischen Belastungen, die solche Vorfälle für die unmittelbar Betroffenen nach sich tragen – unfreiwillig in einen diskursiven Bedeutungszusammenhang radikaler politischer Gruppierungen verflochten, der ihre Ausrichtung als politisch unabhängiges und freies Kulturzentrum vorübergehend ausblendete (6.1.3). Dennoch spricht viel dafür, dass solche vorschnellen Diskreditierungsversuche wenig auszurichten vermögen gegenüber jenem urbanen Grundgefühl, das dem Architekturtheoretiker Arno Ritter zufolge mit der kulturellen Besiedelung der Viaduktbögen, speziell aber mit dem Einzug der p.m.k entfacht wurde und damit nachhaltig den „mentalen Stadtplan“ von Innsbruck verändert hat (Ritter 2007). Dieser Transformationsprozess, demnach Kultur die
Kulturarbeiter organisieren sich
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Atmosphäre eines Ortes, einer Stadt nachhaltig verändern kann, war im vorliegenden Fall womöglich nicht einmal „geplant bzw. anfänglich auch teilweise nicht gewollt, aber er entspricht jenem urbanen Grundprinzip, das unterschiedliche Kulturauffassungen gleichzeitig zulässt und daraus seinen Mehrwert bzw. seine Identität schöpft“ (ebd.). Insofern, verstanden als Generator kulturellen Identitätsmehrwerts (6.2.3), kann die p.m.k entscheidend dazu beitragen, dass nicht nur jene Artikulationsräume kulturellen Schaffens eröffnet werden, die ihre Mitglieder über vielfältige Praxisformen etablieren, sondern dass damit auch eine Bereicherung, Korrektur und Ausdifferenzierung des offiziellen Kulturbegriffes der Stadt Innsbruck erfolgt, welcher nach wie vor von den Insignien institutionalisierter Repräsentationskultur, etablierter Hochkultur, tourismusfähiger Folklore und massentauglicher Event-Veranstaltungen dominiert wird (6.3). Bereits mit Blick auf die Entfaltung der freien Kulturszene in Innsbruck haben wir gesehen, welche unterschiedlichen kritischen Aneignungsversuche dieses oft als Feindbild, oft als Provokation oder aber gar als Chance empfundene offizielle Kulturverständnis hervorgebracht hat. Inmitten dieses Kontextes nimmt die Genese der p.m.k gewiss eine ausnehmende Stellung ein, indem sie einen doppelläufigen Konstitutionsprozess verkörpert. Auf der einen Seite ist die p.m.k aus kritischer Praxis hervorgegangen, zugleich jedoch ist sie deren treibende Kraft geworden. Eine klare Trennung von Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion, Initiative und Widerstand, Berufung und Notwendigkeit lässt sich aus dieser offenen Gestaltwerdung nicht mehr sinnvoll behaupten.
4.3
Der Ort der p.m.k
Der Ort der p.m.k umfasst mittlerweile drei Viaduktbögen, die unter einer Eisenbahntrasse verlaufen und als Vereinslokale adaptiert worden sind. Erst nach einer langwierigen Lokalsuche und „mühsamen“ (Ursula) Verhandlungen konnten diese Räumlichkeiten angemietet und mithilfe mehrerer Subventionen nach eigenen Vorstellungen renoviert werden. Für die Benützung der Veranstaltungsräume ist von den Mitgliedern eine festgelegte Miete zu zahlen, die im Vergleich zu anderen Lokalmieten sehr günstig ist.57 Was passiert nun aber in diesen Räumlichkeiten? Und wie werden sie organisiert? Um diese Fragen zu beantworten, werden im Folgenden zwei Formen von Praxis – die Präsentation von Kultur
57
Diese Einschätzung stützt sich auf das durchgehende und voneinander unabhängige Urteil fast aller Befragten und stellt für die meisten zugleich einen wesentlichen Vorzug der p.m.k gegenüber anderen Lokalitäten dar.
Der Ort der p.m.k
113
und deren Vermittlung – näher beleuchtet und deren Organisation einführend dargestellt.
4.3.1
Ort der Präsentation
Die Tätigkeitsfelder der p.m.k umfassen Musik, Medienkunst, Film, Literatur, Graphik, Netzwerkarbeit, Bildende Kunst, Architektur und Kulturtheorie. Einen Schwerpunkt der Aktivitäten stellt die Veranstaltungstätigkeit dar: Nationale und internationale Musiker, Bands und Künstler werden von einzelnen Vereinen eingeladen, um in der p.m.k aufzutreten. Die Vereine treten folglich nicht als aktive Musiker oder Künstler in Erscheinung, sondern als Organisatoren. Das schließt allerdings nicht aus, dass die Bühne auch der Präsentation eigenen Schaffens dient, etwa wenn Vereinsmitglieder als DJ’s tätig oder in ein Bandprojekt involviert sind. Abgesehen davon sind, wie die Bandbreite der Tätigkeitsfelder zeigt, keineswegs alle Akteure mit dem Organisieren von musikalischen Performances beschäftigt. So gibt es Vereine, deren Tätigkeit in der Produktion von Visuals oder Design besteht, andere veranstalten Filmvorführungen oder Ausstellungen, Lesungen oder Vorträge, Symposien oder Diskussionsabende, wieder andere gestalten Siebdrucke, Logos, T-Shirts, betreiben Plattenlabels oder machen Öffentlichkeitsarbeit. Halten wir daher fest: Die Mitglieder der p.m.k sind nicht von vornherein mit jenen Akteuren gleichzusetzen, die dort – in der Regel als Musiker – auftreten. Der inhaltliche Anspruch der kulturellen Darbietungen artikuliert sich entlang einer strategischen Ausrichtung der p.m.k (6.3). Zum einen sollte mit der Vielfalt der unterschiedlichen Tätigkeitsfelder jener Ausdifferenzierung Rechnung getragen werden, welche während der letzen zwanzig Jahre speziell im Bereich Musik, generell aber in allen künstlerischen Sparten und Richtungen zugenommen hat (Tschmuck 2003). Diese Ausdifferenzierung hat nicht nur zu einer nahezu unüberschaubaren Proliferation an künstlerischen Genres, Stilen und Ausdrucksformen geführt, sondern auch zu neuen spartenübergreifenden und interdisziplinären Arbeits- und Organisationsweisen. Zum anderen will die p.m.k zu einer wesentlichen Stärkung zeitgenössischer Kunstformen beitragen, was in einer Kleinstadt wie Innsbruck umso schwieriger erscheint, als hier jenes Potential an interessierter Öffentlichkeit, Diskussion und Vernetzung nicht vorausgesetzt werden kann, welches charakteristisch ist für ein urbanes Umfeld. Daher bedarf es nicht nur eines hohen Qualitäts- und Professionalitätsanspruches für die kulturelle Praxis, sondern auch einer entsprechenden Präsentationsplattform, die sowohl für internationale Genregrößen attraktiv als auch für heimische Kulturschaffende förderlich ist. Gemäß dieser strategischen Ausrichtung er-
Kulturarbeiter organisieren sich
114
scheint es nur konsequent, wenn neben der Bühne als physischem Ort auch andere Territorien eröffnet werden, um der Präsentation des kulturellen Schaffens zu dienen (6.3.4). So betreibt die p.m.k eine eigene Homepage, die das Internet als modernes und aktuelles Informationsmedium nach Innen wie nach Außen nützt. Außerdem werden die Veranstaltungen in einem zweimonatlich erscheinenden Programmfolder angekündigt, der die angestrebte Präsenz in der Öffentlichkeit fassbar machen sollte.
4.3.2
Ort der Vermittlung
Ein nach außen hin weniger sichtbares Tätigkeitsfeld der p.m.k ist ihre Servicefunktion für die eigenen Mitglieder. Nicht nur die Bühne, auch das Büro und diverse Infrastrukturelemente sind kollektiv nutzbar. Computer und Internet, Telefon, Faxgerät, Kopierer und Schneidemaschinen sind allen Mitgliedern jederzeit frei zugänglich. Daneben dient das Büro als sozialer Treffpunkt, als Versammlungs- und Sitzungsraum sowie als Aufenthaltsraum für Bands und Musiker. Ein ausgewähltes Sortiment an Zeitungen und Zeitschriften steht zur Verfügung, ebenso einschlägige Fachpublikationen, eine Mediathek und Informationsmaterial. Für interne Kommunikationsprozesse dient neben den Beiratssitzungen auch ein eigenes Internetforum auf der p.m.k-Homepage, um den Meinungs- und Gedankenaustausch möglichst offen und unvermittelt zu gestalten. Hier können Sitzungsprotokolle eingesehen, Inhalte diskutiert und Kritikpunkte dargelegt werden. Diese umfassenden Formen der Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten sind in unmittelbarem Zusammenhang mit Vereinszielen wie politischer Bewusstseinsbildung oder Stärkung der freien Kulturarbeit im öffentlichen Diskurs zu sehen (6.3.1). Eine weitere Serviceleistung ist die Netzwerkarbeit, die von den beiden p.m.k-Angestellten betrieben wird. Die Geschäftsführerin ist regelmäßig in Kontakt mit Subventionsgebern, Politikern auf Landes-, Stadt- oder Lokalebene, verhandelt über Vereinbarungen und Verträge mit diversen institutionellen Akteuren, kümmert sich um Inserate und Werbeeinschaltungen und unterhält schließlich eine Reihe von Kontakten mit der Presse. Ähnliches gilt für den Programmkoordinator, der den einzelnen Vereinen vor allem in musikalischen und technischen Fragen beratend wie vermittelnd zur Verfügung steht. Diese Netzwerkarbeiten sind weniger ein notwendiges Schmiermittel kulturellen Schaffens, sondern werden bereits in den ersten Gründungskonzepten explizit als Vereinszweck angeführt. Aus ihnen heraus bahnen sich vielfältige Kooperationen mit anderen Netzwerken an, etwa der bættlegroup for art, einer übergreifenden Vereinigung von Kulturschaffenden aus dem Raum Innsbruck, oder den Tiroler
Die Räume der p.m.k
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Kulturinitiativen (TKI), einer Interessensvertretung für autonome Kulturarbeit. Gemeinsam mit der Universität Innsbruck veranstaltete Vortragsreihen, Medienkooperationen sowie eine wöchentliche Live-Übertragung über ein regionales „freies Radio“ („Freirad“) unterstreichen die Vielseitigkeit der betriebenen Netzwerkarbeit. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die p.m.k ihren Tätigkeitsschwerpunkt einerseits auf die unterschiedlichen Formen der Veranstaltung, Organisation und Präsentation von Kultur gelegt hat, andererseits auch die Vermittlung kulturbezogener Inhalte und Kontakte sowie die Etablierung interner Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten einen zentralen Raum des kulturellen Schaffens einnehmen. Deshalb stehen, wie sich bislang aus der Praxis gezeigt hat, die Veranstaltung und Vermittlung von Kultur im Vordergrund im Vergleich zu deren Produktion.
4.4
Die Räume der p.m.k
„Ohne Theorie keine Revolution“ leuchtet es in rosa Neonschrift von der Bar der p.m.k-Veranstaltungslounge entgegen. Was einst von Lenin vor knapp hundert Jahren zur revolutionären Theorie ausgerufen wurde, lässt sich als Hinweis auf die leitende Devise der p.m.k lesen. Denn wenn es ohne Theorie keine Revolution gibt, dann mag das gleichbedeutend sein mit dem Leitsatz, dass es ohne Programm keine Struktur geben kann. Betrachten wir daher abschließend den Namen, den sich das Kollektiv gegeben hat, aus phänomenologischer Perspektive. Eine Plattform kann zunächst einen Ort bezeichnen, der sich durch bestimmte Eigenschaften von anderen Orten unterscheidet und dadurch eine eigene Identität annimmt. De Certeau definiert einen Ort als „die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbedingungen aufgeteilt werden. (…) Hier gilt das Gesetz des ‚Eigenen‘. (…) Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität.“ (de Certeau 1988: 218)
Demnach impliziert ein Ort die Macht, Elemente, Relationen und Beziehungen festzulegen und ihnen in diesem Gefüge eine spezifische Eigenlogik zuzuschreiben, die von relativer Dauerhaftigkeit ist. Gleichzeitig kann eine Plattform aber auch einen Raum bezeichnen, in dem etwas geschieht. „Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. (…) Insgesamt ist
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Kulturarbeiter organisieren sich der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. (…) [In ihm gibt es] weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas ‚Eigenem‘.“ (ebd.)
Entgegen der Strukturiertheit des Ortes bleibt ein Raum also offen für Möglichkeiten, die nicht in ihm angelegt sind. Wesentlich an diesen Bestimmungen von Ort und Raum ist, dass sie sich gegenseitig nicht ausschließen, vielmehr ineinander übergehen. Eine erste Begriffsauslegung könnte daher lauten, dass sich eine Plattform zunächst als abgrenzbare Einheit bestimmt, von der aus strategische Ausrichtungen möglich sind. Gleichzeitig aber bezeichnet sie eine offen zugängliche Ebene, in der weder Hierarchien noch Zentren vorgegeben sind. Das Verhältnis von Ort und Raum wird durch den weiteren Namenszug Mobile Kulturinitiativen spezifiziert. Wenn Mobilität gerade die Unabhängigkeit von einem Ort oder Standpunkt bedeutet, dann wird die vorangestellte Plattform ohne explizierten Machtanspruch zur Beherrschung eines Ortes etabliert. Das schließt zwar das „Eigene“ des Ortes nicht aus, legt aber seine Generierung nicht auf diesen fest. Der Ort definiert sich dann gerade durch jene Räume, die er öffnet. Noch stärker wird dieser Ort-als-Raum durch den Begriff der Initiative akzentuiert. Wenn es darum geht, Aktivitäten nicht nur zu setzen, sondern gerade zu ermöglichen, zu initiieren, dann bedarf es dafür eines unabgeschlossenen Raumes, der deren freie Entfaltung erlaubt. Etablieren sich diese Aktivitäten als dauerhafte Praxis, dann konstituieren sie umgekehrt die Eigenheiten des Ortes, in dem sie stattfinden. Mit Deleuze & Guattari können wir die p.m.k auch als Gefüge bezeichnen, das sich erst einmal durch seine Territorialität auszeichnet. „Ein Territorium besteht aus decodierten Fragmenten aller Art, die den Milieus entnommen werden, die dadurch den Wert von ‚Eigenheiten’ bekommen“ (Deleuze & Guattari 2005: 698). Eine Vielfalt heterogener Akteure und Kräfte bringen sich in das Gefüge der p.m.k ein und bevölkern es mit Elementen und Eigenheiten. Allerdings bezeichnet die p.m.k nicht die Summe dieser Elemente als Milieu oder Organismus, sie etabliert kein hierarchisches System von Positionen. Vielmehr bleibt sie zunächst ungeformt, eine Konstellation von Kräften und Funktionen, Linien und Codes, Strömungen und Konnexionen. Dieses Netzwerk gehört zum Rhizom-Typus, seine Linien verlaufen zwischen den Punkten und manifestieren einen glatten Raum. Sie konstituieren Mannigfaltigkeiten ohne übergeordnete Einheit, „nomadische und anomale Mannigfaltigkeiten und nicht mehr normale oder legale; werdende und sich verändernde Mannigfaltigkeiten, und nicht mehr zählbare Elemente und geordnete Beziehungen“ (ebd.: 700). Zum anderen ist das Gefüge der p.m.k gekennzeichnet durch Deterritorialisierungslinien, die es durchziehen, öffnen, transformieren und mitreißen. Die Plattform bleibt offen, indem sie mobile Initiativen ermöglicht, vernetzt und
Die Räume der p.m.k
117
verbindet. Offenheit steht hier als Gegensatz zur inhaltlichen Geschlossenheit, ebenso wie Mobilität als Gegensatz zur Festlegung. Es gibt kein definiertes Programm der p.m.k, vielmehr wird das Programm selbst zum Modus der Offenheit und Mobilität. Initiativen sind wie Intensitäten, die sich entlang von Fluchtlinien – der Linie der Deterritorialisierung – entfalten.58 Umgekehrt kann diese Entfaltung immer wieder durch Bewegungen der Reterritorialisierung unterbrochen werden. Die Mannigfaltigkeiten der p.m.k sind zwar vom Typus des Rhizoms, sie würden aber dann zu Bäumen gemacht – etwa durch Segmentierungen, „die den Raum in alle Richtungen einkerben und ihn vergleichbar, teilbar und homogen machen“ (ebd.: 701). Unser Resümee: Die p.m.k verkörpert weder Akkumulation noch Stillstand. Durch Fluchtlinien der Deterritorialisierung eröffnen sich immer wieder neue Räume des Handelns. Gleichzeitig verfestigt sich die Plattform durch Reterritorialisierungslinien zu einem Ort, an dem dauerhaft die Praxis von Kulturschaffenden möglich wird.
58
Deleuze & Guattari (2005: 59-105) unterscheiden drei Typen von Linien: Molare und molekulare Linien sowie Fluchtlinien.
5
Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen: Die Welt der p.m.k
Was denken die Menschen über die Welt, in der sie handeln? Aus der Rekonstruktion der konkreten Lebenswelten soll erfasst werden, welche Bedeutung die Akteure der p.m.k ihrem Tun beimessen. Erst dann lässt sich sinnvoll darüber sprechen, was sie unter frei entfaltetem Handeln verstehen und wo sie Handlungsfreiräume verorten. Einleitend stellen wir das Handlungskollektiv als Teil eines gesellschaftlichen Gefüges dar und untersuchen, welche Kraftlinien und Fluchtlinien seine Praxis prägen. Diese historische Entfaltung zeigt, aus welchen Kontexten und Diskurssträngen das Kollektiv hervorgegangen ist (5.1). Anschließend versuchen wir, die konkreten Lebenswelten der Akteure nachzuvollziehen. Wir fragen, was die Menschen über die Welt denken, in der sie handeln und welche Bedeutung sie ihrem Tun beimessen. Dadurch wird nachvollziehbar, warum sie sich wofür engagieren und welches Selbstverständnis sie dabei von sich und ihrer Praxis entwickeln (5.2). Dieser phänomenologischen Dimension folgt eine deskriptive Dimension, in der wir beschreiben, wie die Menschen ihr Handeln organisieren. Die Beschreibung der beobachteten Organisationspraktiken ermöglicht Rückschlüsse auf die Konstitution des Gefüges und erlaubt es, das Streben nach Handlungsfreiräumen zu dimensionalisieren (5.3). Wurde die p.m.k im vorangegangenen Kapitel noch aus einer Fernsicht dargestellt, die ihre Akteure mit Identitäten und ihre Praktiken mit Strukturen objektiviert, so kommt es hier zu einer Nah-Perspektive, in der sich Identitäten womöglich auflösen und Strukturen als Gefüge erscheinen, die sich in ständigem relationalen Wandel befinden. Wir verlagern also unseren Fokus auf Dynamiken und Kräfte, auf Beziehungen und Praktiken, kurz: auf Prozesse. Damit erscheint das, was zuvor noch relativ klar und eindeutig bezeichnet werden konnte, lediglich als Effekt.
5.1
Kraftlinien und Fluchtlinien im gesellschaftlichen Gefüge
Wir haben bereits gesehen, dass die p.m.k aus einem vielschichtigen sozialen Gefüge hervorgegangen ist, das seinen Entfaltungsprozess entscheidend mitgeformt hat (4.2.1). Eine Reihe von Akteuren war von Anfang an in den Entste-
Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen
120
hungszusammenhang eingebettet, wobei allein dieser „Anfang“ schon eine vorschnelle Adressierung angibt, bestanden doch viele Beziehungen und Bewegungen, Räume und Praktiken bereits lange bevor sie unter dem Namen p.m.k gebündelt in Erscheinung getreten sind. Was sind nun aber die wesentlichen gesellschaftlichen Kraftlinien, aus denen heraus oder gegen die sich die Gründung der p.m.k vollzog? Auf welchen Territorien spielten sich welche Kämpfe um Handlungsmacht und Repräsentation ab? Gab es Restriktionen, Grenzen und Einschränkungen, die Widerstand unter den Kulturschaffenden hervorgerufen haben? Existierte ein vorgegebenes, offizielles „Skriptum“ (Hjorth 2003: 27) im Kultursektor, gegen das einzelne Akteure ihre eigene Sprache etablieren, ihren eigenen Text schreiben wollten? Wir werden im Folgenden eine Kartographie entwerfen, um die Territorien abzustecken, auf denen die unterschiedlichen Bewegungen der Kraftlinien und Fluchtlinien stattfinden. Dabei gilt es, jene Akteure und Strukturen, Konstellationen und Relationen nachzuzeichnen, die für die Entfaltung der p.m.k maßgeblich waren. Diese umfassende Kontextualisierung sollte nicht nur die unmittelbare Situiertheit unseres Fallbeispiels nahebringen, sondern steht auch ganz im Sinne unseres leitenden Forschungsinteresses, das nach konkreten Bedingungen und Möglichkeiten von Freiheitspraktiken fragt.
5.1.1
Ressourcen-Vakuum
Offensichtlich waren es vorrangig die räumlichen und finanziellen Ressourcen, deren Knappheit oder gänzliches Fehlen einigen Betroffenen Anlass zum Handeln geboten und sie zur Gründung der p.m.k bewogen hat. Spätestens mit dem Niedergang mehrerer Innsbrucker Szenelokalitäten verfügten viele Freischaffende über keinen Ort mehr, an dem sie ihre Kulturarbeit verrichten, vermitteln und präsentieren konnten. Allerdings reichte es in dieser Situation nicht, unmittelbar betroffen zu sein, vielmehr musste man sich auch zu einem betroffenen Subjekt machen, sich also als politisches Subjekt konstituieren. Denn mit wem sollte etwa eine Politikerin über kulturpolitische Maßnahmen sprechen, wenn es zwar viele Forderungen, aber keinen konkreten Gesprächspartner gibt? Oder mit wem ein Subventionsgeber verhandeln, wenn es zwar viele Klagen, aber keinen Antragsteller gibt? Dass etwas „in der Luft liegt“, reicht noch nicht aus, damit etwas entsteht. Also schließen sich mehrere Personen zusammen, um kollektive Interessen zu materialisieren. Sie kennen einander bereits aus früheren Begegnungen oder gemeinsamen Projekten, die einen mehr, die anderen weniger. Alle bringen sie ein spezifisches Wissen mit sich, Erfahrungen und Kompetenzen, Beziehungen, Anliegen und Perspektiven. Dabei ist es nicht unwesentlich, dass einer der han-
Kraftlinien und Fluchtlinien im gesellschaftlichen Gefüge
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delnden und verhandelnden Akteure – die spätere Geschäftsführerin – über gute Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern sowohl auf Stadt- wie auf Bundesebene verfügt, die sie aus früheren, leitenden Tätigkeiten im Feld der bildenden Kunst mitgebracht hat und auch hier wieder „spielen lassen“ kann. Und ebenso wie die einzelnen Akteure nun erfahren, dass die Probleme des einen oft dieselben Probleme des anderen sind, so stellen sie fest, dass auch die Interessen, Stärken, die Wünsche und Ansichten des einen mit jenen des anderen viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Über Monate hinweg arbeiten sie zusammen an Ideen, erstellen ein Konzept, unterhalten Kontakte zu Politikern und Subventionsgebern, verhandeln mit Beamten, suchen nach Orten, demonstrieren für ihre Forderungen, machen sich publik. Erst mit dieser Bündelung von Kräften können sie als ein starker Akteur auftreten, der für viele andere steht, als Sprachrohr, das für andere spricht und als Stellvertreter, der das Vakuum füllt. Adi: p.m.k heißt ja „Plattform Mobile Kulturinitiativen“. Und bevor es die p.m.k als Ort gegeben hat, hat es das einfach als losen Zusammenschluss gegeben und jeder Verein war halt mobil.
Die Bündelung der losen Kräfte hängt aber nicht nur von humanen Akteuren und deren Relationen ab, sondern auch von stadtgeographischen Bedingungen. Innsbruck hat rund 130.000 Einwohner und erstreckt sich über eine relativ begrenzte Stadtfläche, woraus sich ein im Vergleich zu Metropolen überschaubares Feld kulturellen Schaffens ergibt. Die Zahl dauerhafter Kultureinrichtungen ist ähnlich begrenzt wie jene von Kaffeehäusern, Restaurants und Abendlokalen. Das spricht weder gegen ein reichhaltiges Kulturangebot noch gegen einen regen sozialen Austausch unter Kulturschaffenden, aber es bewirkt einen verhältnismäßig stabilen Selektionsgrad. Anders gesagt: Wer in Innsbruck an Theater interessiert ist, hat eine Handvoll relevanter Einrichtungen zur Auswahl. Bei regelmäßigem Besuch und entsprechender Neugierde sollte es – im Gegensatz etwa zu Wien, Berlin oder New York – nicht allzu schwierig sein, sich einen Überblick über das hiesige Theaterleben zu verschaffen. Dasselbe gilt für andere Bereiche, bloß mit meist noch höherem Selektionsgrad. Ob Jazz oder Klassik, Film oder Literatur, Punk oder Elektronik – die einzelnen Genres und ihre dazugehörigen Szenen sind leicht erfassbar. Noch schneller stellt sich dieser Effekt ein, wenn ein Akteur aktiv in einem Bereich, in einer Szene tätig ist. Die demographischen Gegebenheiten einer Kleinstadt wie Innsbruck machen daher nicht nur eine integrative Milieubildung spezifischer Szenen rasch möglich, sondern auch eine entsprechend hohe Intensität und Frequenz zwischenmenschlicher Beziehungen. Ein salopper Spruch wie „Jeder kennt jeden“ verweist vor diesem Hintergrund eher auf eine empirische denn auf eine distinktive Dimension. Aus diesem Grund hat sich die Bündelung der losen, mobilen Kräfte, wie sie am
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen
Anfang der p.m.k stattgefunden hat, weniger als verdeckte Untergrundbewegung denn vielmehr als offenes Geheimnis gestaltet. Ein Vereinsakteur erinnert sich, wie er zum ersten Mal von der p.m.k erfuhr: Milan: Und da hat man uns scheinbar von Anfang an dazugerechnet. Und wir haben es eben darüber mitgekriegt, dass wir eine Einladung zu einer Sitzung bekommen haben. Also es war von keiner Seite irgendwie so ein Herangehen da, sondern es war scheinbar für die Leute, die damals die p.m.k gegründet haben, irgendwie klar, dass wir da dazugehören. Und wir haben das eigentlich nicht als Anmaßung dieser Seite, sondern als Kompliment empfunden.
In langwierigen und mühsamen Verhandlungen mit der Stadt Innsbruck und dem Land Tirol gelingt es dem erstarkenden Akteur p.m.k schließlich, einen geeigneten Ort zu finden und die notwendigen Subventionszusagen aufzutreiben. Damit ist die Basis für die gemeinsame Kulturarbeit gelegt. War zunächst lediglich von einem Kulturbüro die Rede, so hat sich mit der Anmietung der beiden Viaduktbögen die Möglichkeit aufgetan, auch eine Veranstaltungslokalität einzurichten. Für die „treibenden Kräfte“ (Ursula) war es allerdings alles andere als ein einfacher Entscheidungsprozess, dieser Möglichkeiten gewahr zu werden. Geprägt von finanzieller Unsicherheit, institutionellen Auflagen, organisatorischem Neuland, aber auch kollektiver Schaffenseuphorie und heldenhafter Tatkraft, nahm diese Anfangsphase einen Verlauf, der für die Betroffenen oft bis an die Grenzen ihrer psychischen Belastungsfähigkeit heranreichte und persönliche Grundsätze des vernünftigen Handelns in Frage stellte. Ursula: Weil Du musst Dir einmal vorstellen, wir haben mit nichts angefangen – mit einer Zusage von 30.000 Euro von der Stadt, und sonst gar nichts. Da sind wir hergegangen und haben zwei Bögen angemietet. Wobei – die Stadt wollte nur, dass wir ein Büro haben. Also phasenweise – da hab ich echt einmal einen Nervenzusammenbruch gehabt, das sag ich Dir. Die Hälfte von der Stadtsubvention als Kaution für die zwei Bögen. Dastehen mit 15.000 Euro – zwei Bögen umbauen. Also wir waren hasard – eigentlich waren wir wahnsinnig irgendwie.
Neben politischen, finanziellen, infrastrukturellen, personellen wie persönlichen Umständen brachte die Gestaltwerdung der p.m.k auch rechtliche Fragen mit sich. Die Plattform musste als juristische Persönlichkeit auftreten, um offiziell handlungsfähig zu werden, musste sich also als Verein mit bestimmten Organen ausweisen. Auch hier erfolgt der Konstitutionsprozess als kollektiver Gründungsakt, in dem die verschiedenen Akteure aus sich heraus die entsprechenden Funktionäre bestimmen. Eine erste offene Sitzung aller Mitglieder wird einberufen, um über die anstehenden Aufgaben zu entscheiden.
Kraftlinien und Fluchtlinien im gesellschaftlichen Gefüge
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Sebastian: Dann ist auch gesprochen worden, wer hat investiert, wer hat die richtigen Fähigkeiten, wer kann was machen. Und es hat dann einen Vorschlag gegeben, eben die Leute, die am aktivsten dabei waren (...), einmal zum vorübergehenden Vorstand zu machen. Und nachdem wir so gut gearbeitet haben, dass plötzlich diese zwei Bögen da gestanden sind, sind wir da das erste Jahr auch geblieben. Und inzwischen ist es beim Vorstand so, dass es eigentlich ein reges Kommen und Gehen ist. Wir werden jetzt im vierten Jahr zum vierten Mal wählen, weil ein Vorstand wird jedes Jahr von den Mitgliedern gewählt, und zwar Posten für Posten.
Der Vorstand wird also aus der Mitte aller Mitglieder gewählt, ohne formale Bedingungen oder spezifische Kompetenzen daran zu knüpfen. Die Kriterien für die Wahl ergeben sich, anstatt vorab definiert zu werden, aus dem Diskussionsprozess und bestehen schließlich im Grad der Verbundenheit und des Engagements, der von den betroffenen Akteuren bislang eingebracht worden ist. Das so entstandene Wahlprozedere hat sich auch seither bewährt, wobei anzufügen ist, dass fast alle Mitglieder des Vorstands gleichzeitig in irgendeinem Verein tätig, viele außerdem in anderen Vorstandsgremien vertreten sind. Natürlich, Subventionen gelten nicht unbefristet. Die laufenden finanziellen Verhandlungen im Rahmen der Kultur- und Förderungspolitik von Bund, Land und Stadt bleiben ein regelmäßiges Aufgabenfeld. Insofern die p.m.k rund 90 Prozent ihrer Mittel aus Subventionen erhält, den Rest aus den Mietgebühren der Mitglieder, besteht zweifellos ein Abhängigkeitsverhältnis von der öffentlichen Hand. Das macht sich allein schon daran bemerkbar, dass vergebene Subventionen zumeist zweckgewidmet sind, also etwa nur der Infrastruktur oder der inhaltlichen Arbeit zukommen dürfen. Fördert ein Subventionsgeber zum Beispiel gezielt die Öffentlichkeitsarbeit, dann müssen für den betreffenden Betrag auch entsprechend zuordenbare Ausgaben ausgewiesen werden. Daraus entstehen oft erhebliche Probleme, da Subventionen zwar materiell notwendig sind, aber nicht immer ihrer vorgesehenen Verwendung zugeführt werden können. Doch trotz dieser und ähnlicher Schwierigkeiten, die inzwischen ohnehin mehr dem Bereich laufender Organisationsroutinen zuordenbar sind als dass sie existentielle Notlagen hervorriefen, hat sich die p.m.k mittlerweile in ihrer rechtlichen und finanziellen Stellung konsolidiert. Abgesehen davon, so die Meinung der Geschäftsführerin, bleiben die einzelnen Mitgliedervereine von solchen übergeordneten Materien meist unbetroffen. Ihnen sollte vorrangig die Möglichkeit gegeben werden, ihre Praxis in günstiger und risikofreier Form zu realisieren und damit den einstigen Zwängen des Ressourcenvakuums nachhaltig zu entgehen. Dennoch bleibt die Frage, in welchem Ausmaß die eigenen Ansprüche, die am Anfang des Entstehungsprozesses der p.m.k aufkamen, bislang erfüllt werden konnten. Hier weisen einige Akteure, trotz weitgehender Zufriedenheit, auf einzelne gesonderte Versäumnisse hin. Während das Gründungskonzept die p.m.k
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen
auch als einen Ort der Produktion etablieren wollte, geht diese Funktion nach wie vor nicht auf. Das mag zum Gutteil finanzielle Gründe haben. Die zur Verfügung stehenden Mittel reichen knapp für die Kostenabdeckung der Veranstaltungslokalität und des Büros. Bereits die Anmietung des dritten Viaduktbogens, der nun ausschließlich als Büroraum dient, hat die p.m.k unter erhebliche finanzielle Bedrängnis gebracht. Ein weiterer Raum ausschließlich für Kulturproduktion wäre unter diesen Umständen, selbst wenn von mehreren Mitgliedern als notwendig erachtet, schlicht nicht leistbar. „Wir haben ein Konzept gehabt, das das Doppelte gekostet hätte, das auch notwendig gewesen wäre für Innsbruck“ (Sebastian). Ein anderer Grund dafür, dass die Ausgangsziele bislang nur teilweise erreicht worden sind, ist strategischer Natur: Die Ursprungsidee der p.m.k sah, wie auch der Name schon suggeriert, ein Konzept der mobilen Kulturproduktion vor (6.3.4). Unabhängig von einer feststehenden Lokalität sollte ein Praxismodus ermöglicht werden, durch den die Kulturschaffenden wie „umherschweifende Produzenten“ (Negri et al. 1998) von einem Ort zum anderen ziehen und dort jeweils punktuelle Artikulationsformen etablieren können. Diese Idee ist durch die territoriale Sesshaftigkeit tendenziell vernachlässigt worden. Zwar sind die einzelnen Mitglieder mobil in dem Sinne, dass sie nicht nur in der p.m.k, sondern an verschiedenen Orten auftreten, allerdings bleibt diese Mobilität auf sie beschränkt und geht nicht auf die p.m.k als Ganzes über. Die p.m.k versammelt eine Vielzahl mobiler Akteure, sie selbst bleibt aber immobil.
5.1.2
Bedürfnis und Bedarf nach Kultur
Die p.m.k hat in den Augen der Akteure von Anfang an einen Bedarf abgedeckt, der von anderen Seiten nicht oder nur ungenügend erfüllt wurde. Das heißt, sie hat sich weniger aus einem widerstrebenden Antrieb heraus gegen etwas konstituiert, das bereits existierte, sondern ist als aktive Kraft für etwas eingetreten, das es noch nicht oder nicht mehr gab. Dementsprechend definiert sie sich nicht als Konkurrenz zu anderen Kultureinrichtungen, weder kommerziell noch programmatisch, noch gesellschaftlich. Der Fokus ihres Selbstverständnisses liegt weniger in der Konkurrenz denn in der Alternative (6.3.3). Wie schon das interne Nebeneinander von knapp dreißig unterschiedlichen Initiativen zeigt, kann es nicht um die Opposition zwischen Akteuren gehen, die um die Vormachtstellung innerhalb eines Feldes rivalisieren. Vielmehr geht es gerade um die ständige Bereicherung und Erweiterung stets neuer Felder.
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Sebastian: Und da, wo wir Konkurrenz sind, ist es so, dass ich in den zehn Jahren, seit ich das mache, die Erfahrung gemacht hab, dass es nichts Besseres gibt für das eigene Geschäft als gute Konkurrenz. Wenn Du eine gute Konkurrenz hast, bildet sich nämlich ein Publikum und eine Szene. Sobald sich eine Szene und ein Publikum bildet, dann ist was los.
Differenzierung, Heterogenität, Mannigfaltigkeit, Aktivierung, Innovation – das sind nur einige Begriffe, die man für die Beschreibung eines Zustands heranziehen könnte, in dem „etwas los“ ist. Nun kann die Motivation, einen Raum so zu gestalten, dass etwas los ist, als subjektives Bedürfnis oder als objektiver Bedarf empfunden werden. Für den einen Fall entwerfen wir eine kleine Phänomenologie der Umstände, für den anderen jene der Abstände (Metzger 2004). Die Umstände verweisen auf die Aneignung eines Raumes, auf die Art und Weise, wie man mit und in ihm umgeht, ihn wahrnimmt und empfindet. Ein Ort etwa, an dem nichts los ist, zeugt dabei weniger von der Qualität des Ortes selbst als von der Empfänglichkeit und Empfindlichkeit des Subjekts, das ihm diesen Befund zuschreibt. „Wenn sich wenig tut, kann das immer auch daran liegen, dass man die Welt und die Wirklichkeit wenig sich tun lässt. Umstände bringen am deutlichsten zur Kenntlichkeit, dass eine Phänomenologie der Dinge von denjenigen abhängt, die mit ihnen hantieren.“ (Metzger 2004: 136)
Anders gesagt: Wo nichts los ist, findet und empfindet das Subjekt keine Anhaltspunkte, mit denen es etwas anfangen könnte. Es wird konfrontiert mit der Leere eines Raumes und zieht daraus eine von mehreren Konsequenzen: Entweder verlässt es den Raum nach der Devise: „Was soll ich hier schon tun?“; oder es erträgt den Raum nach der Devise: „Was kann ich hier schon tun?“; oder aber es lässt sich auf den Raum ein nach der Devise: „Ich will hier etwas tun.“ Im einen Fall mündet die Konsequenz in Askese, im zweiten in Fatalismus, im dritten hingegen in Aktivismus. Daraus können wir schließen: Das Bedürfnis nach Kultur drückt sich im Praxisgefüge der p.m.k darin aus, dass die Akteure aktiv versuchen, die Umstände ihres Lebensraums in einer Weise zu beeinflussen und zu verändern, damit diese den je eigenen Ansprüchen gerecht werden. Wird hingegen die Motivation, einen Raum zu gestalten und zu verändern, nicht mehr als subjektives Bedürfnis, sondern als objektiver Bedarf empfunden, dann geht es um eine Verlagerung seiner sozialen und strukturellen Abstände. Die Notwendigkeit an Kultur drückt sich folglich in Form einer solchen Praxis aus, mit der zugleich die gesellschaftlichen Relationen transformiert werden sollten, innerhalb derer sie sich entfaltet. Noch einmal Bezug nehmend auf den leeren Raum, in dem nichts los ist, wäre auch hier als praktische Konsequenz die
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aktive Aneignung des Raumes zu ziehen, diesmal jedoch unter Devisen wie „Was muss hier getan werden?“ oder „Es muss etwas passieren!“ Während es bei dem subjektiven Bedürfnis noch vorrangig darum geht, durch eine spezifische Aneignung der Umstände eines Raums die eigenen Wünsche und Interessen überhaupt möglich zu machen, so geht es beim objektiven Bedarf darum, dass diese Wünsche und Interessen nicht nur möglich, sondern auch repräsentiert werden. Dies erfolgt durch die Verschiebung der Raumkoordinaten, durch das Ins-Licht-Rücken oder Verdunkeln seiner sozialen Dimensionen, durch die Verringerung oder Ausweitung seiner Entfernung zu anderen Räumen, durch Einschlüsse oder Ausschlüsse, kurz: durch die Positionierung und Repräsentation des Raumes als solchen. Hieraus schließen wir: Der Bedarf nach Kultur drückt sich im Praxisgefüge der p.m.k darin aus, dass die Akteure aktiv versuchen, die Abstände ihrer Schaffensräume zu anderen sozialen Räumen in einer Weise zu transformieren, damit deren Repräsentation ihren Bedürfnissen gerecht wird. Christoph: Also ich würde mir jetzt keinen politischen Slogan irgendwie [umhängen], p.m.k ist links und will die Welt verbessern oder was, keine Ahnung – ist gegen das und für jenes. Eher für natürlich, für bin ich vieles, aber gegen – auch natürlich – aber jetzt nicht als p.m.k. Nein, ich sehe einfach einen Ort wie die p.m.k mit diesen alternativen Kulturformen, mit diesen Menschen, die die Kultur auch machen, diesen Musikern, die die Kunst machen, mit diesen Lebensformen, die die wählen, auch mit der Musik insgesamt als Kunstform, die auf eine subtile Weise, auf eine sehr subtile, metaphysische Art vielleicht einfach einen Blick oder ein Gefühl öffnen kann für eine andere mögliche Existenz außerhalb der kapitalistischen Realität.
Wir sehen, beide Dimensionen, sowohl Bedürfnis wie Bedarf nach Kultur, sind in ihren praktischen Konsequenzen eng miteinander verwoben. Bedürfnisse schaffen Möglichkeiten, Bedarf schafft Notwendigkeiten – eine klare Grenze zwischen ihnen ist indes nicht zu markieren. Das zeigt sich allein darin, dass beide Formen der Praxisgenerierung weder zwangsläufig noch ausschließlich Praktiken der Auflehnung, Abwehr oder des Widerstands nach sich ziehen. Opposition allein entfaltet noch keine Disposition. Damit etwas los ist, bedarf es also mindestens ebenso der Motivation, gegen etwas aufzutreten, wie jener, für etwas einzutreten (6.3.1).
5.1.3
Repräsentations-Vakuum: „Kultur ist Arbeit“
„Kultur ist Arbeit“ heißt es in großen Lettern auf dem Kopf eines Plakats, das die bættlegroup for art anlässlich des Tags der Arbeit im Jahr 2005 veröffentlicht hat. Am unteren Rand des Druckwerks steht in ebenso großen Lettern: „Arbeit
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verdient Geld“. Das Plakat ist eine Fotomontage und zeigt den Ausschnitt einer Computertastatur, zwischen deren Buchstabenreihen eine Handvoll kleiner Kunststoff-Spielfiguren verstreut positioniert sind. Die Figuren verkörpern traditionelle Bilder der Arbeit: Ausgestattet mit Schaufeln, Hacken und Schubkarren beackern sie wie Land- und Bauarbeiter ein Feld von Buchstaben, das in Form der Tastatur wohl symbolisch steht für die Creative Industries und deren wichtigste materielle Arbeitsressource, den Computer. In der Mitte des Bildes steht in kleineren Lettern die Losung: „wir machen’s euch gern. aber nicht gratis“. Dieses Plakat verdeutlicht anschaulich ein Ansinnen, das über das Umfeld der p.m.k hinaus viele Kulturschaffende nicht nur in Innsbruck, sondern auch in einem nationalen und internationalen Kontext vereint: Kulturarbeit sollte in öffentlichen Diskursen als gesellschaftliches Produktionsfeld wahrgenommen werden, dem dieselben arbeitsrelevanten Kategorien wie Verdienst, Versicherung und Sicherheit zukommen wie anderen Arbeitsfeldern auch. Die Bewusstmachung der sozialen Stellung von Kulturschaffenden repräsentiert somit eine zentrale Forderung der Betroffenen, die dem Bedarf an Kultur entspringt und die Notwendigkeit nach struktureller Veränderung impliziert. Sie stellt den Versuch dar, gegen ein vorgegebenes Skriptum Einspruch zu erheben und dagegen eine neue Lesart der gesellschaftlichen Realität zu etablieren. Während das offiziell gültige Drehbuch der Kultur vor dem Hintergrund gegenwärtiger Arbeitswelten noch weitgehend eine Nebenrolle zuschreibt, in der sie weniger Arbeit denn gerade deren Gegenteil ist, will die alternative Fassung ebendiese Kultur in ein anderes Licht stellen und sie als gleichberechtigten Protagonisten mit anderen Arbeitsformen einführen. Matthias: Weil einfach – ja, freie Kultur und neuartige Musik, solche Sachen, sind einfach Sachen, die von den öffentlichen oder von den staatlichen Institutionen vor allem mehr wie Rettungsdienst, Freiwilligendienst, sowas, gesehen wird. Also als ehrenamtliche Arbeit. Das ist kein Job. Beruf ist Schuster oder was, aber nicht Kulturarbeiter.
Die These, wonach Kultur noch keinen gesellschaftlich legitimierten Vollwertstatus als Arbeitsfeld einnimmt, ließe sich für Innsbruck leicht anhand der empirischen Befunde von bættle research untermauern (bættlegroup for art 2007): etwa daran, dass vier Fünftel aller Kulturschaffenden ihre Kulturarbeit ehrenamtlich leisten, oder dass der Großteil der Vereine und Initiativen von öffentlichen Geldern abhängig ist. Auch innerhalb der p.m.k kann nur ein Bruchteil der Akteure von Kultur leben, das Gros findet erst durch parallele Haupt- und Nebenjobs ein finanzielles Auskommen. Paradoxerweise bleibt für viele von ihnen die Kulturarbeit ein Luxus, den sie sich nur über Umwege leisten können (5.2.6).
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Zweifellos hängen die begrenzten Möglichkeiten, von Kultur zu leben, auch mit solchen strukturellen Faktoren zusammen, die auf die demographische und stadtgeographische Situation in Innsbruck verweisen. Bereits die begrenzte Reichweite an Öffentlichkeit sowie die räumliche Beschränkung von Ressourcen können Gründe sein, die ein Auskommen mit Kulturarbeit verhindern. Zumindest aber erschweren sie die Etablierung eines Umfeldes, in dem dies möglich wäre. Viele Akteure sehen sich daher gezwungen, Innsbruck zu verlassen und in eine größere Stadt oder ein entsprechend internationales Arbeitsumfeld zu ziehen, wo solche Marktbedingungen herrschen, die ein finanzielles Überleben möglich machen. Allein, dabei geht es nicht nur um eine ökonomisch gesicherte Existenz, sondern auch um eine künstlerisch erstrebenswerte. Christoph: Man kann eine Basisarbeit legen, um Kontakte zu schaffen in den Rest der Welt sozusagen, was ja heutzutage kein großes Problem mehr ist. Aber dann, früher oder später, um sozusagen wirklich seinen Level, sein Können auch zu bestätigen und wahrscheinlich auch wirklich ein Umfeld zu finden, in dem man als Künstler ein Selbstverständnis finden kann, muss man die Stadt wahrscheinlich verlassen.
Gewiss, egal wie und egal wo, nicht alle Akteure wollen von Kultur leben, selbst wenn sie es könnten. Als Argumente bringen sie jene finanzielle Unabhängigkeit und künstlerische Freiheit ein, die ihnen ein separates Einkommen sichert. Zudem sind gerade die spezifischen Verhältnisse in Innsbruck für viele ein Anlass, hier „Dinge“ auszuprobieren, die spannend, nahezu exotisch anmuten, von denen sie selbst jedoch nicht unbedingt existenzabhängig sind (5.2.6). Bei alledem muss auch berücksichtigt werden, dass die Forderung, Kultur als Arbeit wahrzunehmen, keinesfalls impliziert, dass jeder Kulturschaffende ausschließlich davon leben sollte, lediglich, dass die Arbeit als solche respektiert und angemessen bezahlt wird.
5.1.4
Medienvakuum und Öffentlichkeit
Dass die Kulturarbeiter einer umfassenderen Repräsentation entgegenarbeiten, hat auch mit regionalen Massenmedien zu tun, die dem Schaffen der freien Szene bislang nur wenig Platz eingeräumt haben. Das liegt zum einen an den spezifischen Strukturen der Tiroler Medienlandschaft, die von wenigen Trägern monopolartig abgedeckt wird und daher weder breite Vielfalt noch hohe Konkurrenz ermöglicht. Eklatant zeigt sich diese Situation am Zeitungsmarkt, wo eine einzige Tageszeitung eine überragende Dominanzstellung einnimmt, deren Kulturberichterstattung hingegen allein quantitativ verschwindend gering ist – abzu-
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lesen etwa daran, dass es kein Feuilleton gibt. Damit hängt zugleich der zweite Grund für die marginale Medienpräsenz freier Kulturschaffender ab, der in der Qualität der veröffentlichten Information liegt. Die Kulturberichterstattung der regionalen Massenmedien beschränkt sich meist auf traditionelle, etablierte oder institutionalisierte Kulturformen und geht im Bereich zeitgenössischen Schaffens selten über den Informationsgehalt von Ankündigungen hinaus. Selbst wenn es aufgrund einer Medienlogik, die das Neue um seiner selbst willen präsentiert, in Ausnahmefällen zu einer ausführlicheren Darstellung kommen sollte, dann bleibt dies auf das einmalige Ereignis begrenzt und schafft noch keine dauerhafte Auseinandersetzung. Ein modischer Zeitgeist ist noch lange kein zeitgenössischer Geist (Wagner 2000). Strukturelle Ignoranz und mangelnde Substanz verhindern so die Etablierung eines kritischen Diskurses und erhärten im Gegenzug die Leitbilder einer „musealisierten Kulturpolitik“, die vielen Kulturschaffenden zufolge nicht nur typisch für Tirol, sondern für ganz Österreich ist (Knapp 2005). Die hier nur grob dargelegten Linien des vorherrschenden Vakuums in den klassischen Massenmedien führen dazu, dass sich die Betroffenen mitunter alternativer Mittel und Wege bedienen, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Neue Formen des elektronischen Journalismus, Internetportale wie myspace oder youtube, Online-Ausgaben von Zeitungen, Homepages und Blogs sind nur einige der Möglichkeiten der Publizität, die sich aus den neuen Kommunikations- und Informationsmedien ergeben. Parallel dazu halten einige Akteure aber auch an traditionellen Formaten fest: Ein Verein der p.m.k veröffentlicht zwei Mal jährlich eine Zeitschrift für Filmkultur, ein anderer produziert und vertreibt auf eigene Kosten ein fanzine mit dem Schwerpunkt auf Punkmusik, andere Mitglieder wiederum sind Redakteure für eine unabhängige Straßenzeitung in Tirol. Doch ganz gleich, mit welchen Techniken und über welche Kanäle, nahezu alle Akteure machen die Mediatisierung ihres Schaffens zu einem elementaren Teil desselben – eine Tendenz, die der Annahme, dass Kulturarbeit heute immer auch Medienarbeit ist, hohe Plausibilität verleiht. Diese zunehmende Verschränkung von Kultur- und Medienarbeit ist Effekt einer weitläufigen Demokratisierung und Pluralisierung von Medienlandschaften, die es Kulturschaffenden mehr und mehr möglich macht, ihre Arbeit über vielfältige Wege einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zugleich symbolisiert sie aber auch die veränderten Bedingungen, unter denen Kulturarbeit heute stattfindet, insofern es in den meisten Bereichen nicht nur möglich, sondern auch notwendig geworden ist, das eigene Tun publik zu machen.59 59
Für DJ’s etwa bedeutet dies in der Regel, nicht nur über das „Auflegen“ an die Öffentlichkeit zu treten, sondern auch durch die Produktion von Tonträgern und die Gründung von eigenen Labels. Öffentlich-Werden heißt damit mehr und mehr: Veröffentlichen! In der Tat betreiben
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Doch so notwendig es ist, das eigene Tun publik zu machen, so erforderlich ist es umgekehrt, ein eigenes Publikum für das Tun zu schaffen. Öffentlichkeiten existieren nicht einfach, sie müssen hervorgebracht werden. Und je differenzierter ihre Artikulationsweisen, desto mehr sind die Kulturarbeiter darauf angewiesen, eine interessierte Öffentlichkeit für sich erst zu erarbeiten.60 Dass dafür durchaus Potentiale vorhanden sind, hat die Entwicklung der freien Szene während der letzten Jahre bereits bewiesen. Matthias: Der Nachteil ist halt wirklich, dass echt die Szene nicht total differenziert ist. Das ist natürlich auch wieder ein Vorteil. Also dass jetzt – sagen wir – die, die zu einem Rockkonzert gehen, auch einmal zu Techno gehen. Das gibt’s da ganz selbstverständlich. Das gibt’s wahrscheinlich woanders nicht so in einem großen Maße.
Wenngleich die Struktur der Öffentlichkeit in Innsbruck noch von dominanten Angeboten und Akteuren geprägt wird, so dass eine Ausdifferenzierung der freien und alternativen Kulturszene bislang kaum erfolgen konnte, so liegt gerade darin ein ambivalentes Potential, in dem sich Bedarf wie Bedürfnis überschneiden. Das Ziel von Kulturarbeitern, eine Szene zu schaffen, in der etwas los ist, lässt sich dann decken, wenn entsprechende Öffentlichkeiten dafür gewonnen werden, die ihren vielfältigen Artikulationsformen Raum und Gehör, Aufmerksamkeit und Interesse, aber auch Einkommen und Auskommen verschaffen. Das ist gewiss eine Form von Abhängigkeit: Für ihren Bedarf müssen Kulturschaffende Bedürfnisse wecken, für deren Grundlage Öffentlichkeiten eine wichtige Ressource darstellen. Gleichzeitig jedoch tun sich dafür immer dann Möglichkeiten und Gelegenheiten auf, solange Bedürfnisse nicht befriedigt, gesättigt, oder noch gar nicht geweckt sind. Die p.m.k kann insofern als fruchtbarer Boden des kulturellen Verlangens betrachtet werden, auf dem eine Vielzahl an Wünschen, Neigungen und Vorlieben heranreifen, ohne dass diese bereits durch sozio-
60
mehrere Akteure der p.m.k auch ein eigenes Label. „Und darüber macht man sich erst interessant für sowas. Ohne dass man selbst was rausbringt, ist man überhaupt nicht gefragt. Absolut nicht“ (Matthias). Hier ist, nicht zuletzt durch die veränderten Produktionsbedingungen, eine grundsätzliche Verschiebung auf globaler Ebene zu erkennen (Tschmuck 2003). Während Musiker und ihre Werke bis vor kurzem noch von Produktionsfirmen und großen Labels veröffentlicht wurden, nehmen sie diese Tätigkeit heute zunehmend selbst in die Hand. Es zeugt vom ambivalenten Charakter dieses Transformationsprozesses, dass diese Praxis sowohl aus struktureller Notwendigkeit als auch aus angestrebter Unabhängigkeit hervorgegangen ist. Die Strategien für dieses Erarbeiten reichen von klassischer Öffentlichkeitsarbeit (Plakate, Medien, Flyer, e-mail-Verteiler u.a.) über informelle Freundschaftsnetzwerke bis hin zu Anleihen an privatwirtschaftlicher Markenlogik. So stellt etwa ein Verein all seine Veranstaltungen unter denselben Namen, wodurch ein Seriencharakter entsteht und markenpsychologische Effekte bewirkt werden sollen.
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kulturelle Selektion und Segmentierung vorstrukturiert wären. Das Fehlen einer ausdifferenzierten Szene kann somit sowohl ein Nach- als auch ein Vorteil sein, wenn es darum geht, ein interessiertes Publikum zu erarbeiten. Allerdings bleibt die Konstruktion von Öffentlichkeiten – und um nichts anderes handelt es sich dabei, da Öffentlichkeiten ebenso wenig wie Völker, Nationen oder Staaten von Natur aus gegeben sind – letztlich immer auch eine Frage von strukturell bedingten Handlungsräumen und den daraus hervorgehenden Mobilisierungs- und Identifizierungsmöglichkeiten. Milan: Ich glaube einfach nicht, dass Tiroler sich nur für Sport interessieren. Und es ist auch – es hat einmal eine Auswertung gegeben, es werden im Jahr mehr Kulturveranstaltungen in Tirol besucht als Sportveranstaltungen. Also von den Besucheranzahlen her. Das heißt, es ist gerade Innsbruck nicht nur das hinterwäldlerische Provinzpublikum, sondern es wäre erheblich mehr zu motivieren und zu begeistern.
Spätestens an dieser Stelle kommen daher jene Machtverteilungen und Mechanismen wieder zum Tragen, welche die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum dauerhaft strukturieren. Denn selbst wenn verschiedene Tendenzen der Demokratisierung und Differenzierung die Strukturen von Öffentlichkeiten und deren Märkten aufweichen, so führen sie noch keineswegs zu einer intensiveren und kritischeren Auseinandersetzung mit Kultur an sich. Mehr Diskurs heißt noch nicht besserer Diskurs, heißt auch nicht mächtigerer Diskurs. Insofern kann ein kürzlich gestartetes Medienprojekt61, in dem eine Reihe von Kulturschaffenden aus dem Raum Innsbruck ein übergeordnetes Kulturmedium begründen wollen, durchaus als strategisches Ziel gewertet werden: Es geht dabei darum, die Diskursmacht der Betroffenen zu bündeln und damit nachhaltig eine hör- und sichtbare Position zu etablieren.
5.1.5
Regionale Strukturen, Förderpolitik und Freundschaften
Die Medienstrukturen sind auch ein Erklärungsfaktor dafür, dass Kulturarbeit in Innsbruck und Tirol nach wie vor einen starken regionalen Bezug aufweist. Das Regionale zu überwinden und damit sowohl internationale Kunst und Kultur nach Innsbruck zu holen als auch, umgekehrt, das eigene Schaffen inmitten eines überregionalen Kontextes zu positionieren, hat daher hohe Priorität für viele
61
Es handelt sich dabei um das Kooperationsprojekt „immediate steps/sofortmaßnahmen“, an dem unterschiedliche Initiativen und Vereine beteiligt sind.
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Akteure. Es geht um überregionale Relevanz, aber auch um die Etablierung eines innovationsfähigen Umfelds. Matthias: Aber eben – diese Alteingesessenen (…), die nehmen immer nur ihre eigenen Leute von ganz früher, die halt immer noch in Innsbruck sind und immer noch dasselbe machen wie vor zehn Jahren. Das finde ich einfach nicht spannend. Und da fühlt man sich halt manchmal als einer, der doch ein bisschen innovativer sein will und ein bisschen am Puls der Zeit auch – da fühlt man sich doch ein bisschen – nicht verarscht, aber doch ein bisschen ignoriert. Oder vielleicht auch missverstanden. Das ist es halt. Da ist wahrscheinlich auch wieder diese Beziehungskiste mit im Spiel.
Die regionalen Strukturen werden aus mehreren Quellen gespeist. Auf der einen Seite sind es Kulturanbieter, die auf Traditionelles, Vertrautes und Bewährtes setzen, weshalb nicht selten Akteure aus dem unmittelbaren Bezugskreis gefördert werden, deren Schaffen eben diesen regionalen Aspekt repräsentiert.62 Solche Angebote sind für Vertreter der freien Kulturszenen aber nicht nur unzeitgemäß, sie sind auch hemmend. Mit ihrem durch entsprechende Verwertungsstrukturen unterstützten Repräsentationsanspruch unterdrücken sie das nachhaltige Auftauchen anderer kultureller Artikulationsweisen. Das liegt auch daran, dass sowohl das Land Tirol als auch die Stadt Innsbruck hohe Anteile ihrer Wirtschaftsleistung dem Fremdenverkehr verdanken, weshalb ein alpenländlicher Charme nicht nur zentrales Charakteristikum offizieller Selbstdefinitionen ist, sondern auch über ein entsprechend traditionelles Kulturangebot vermarktet wird.63 Diese dominante Position eines im Alltagsbild omnipräsenten TourismusImages setzt sich in den teils tief verankerten ländlichen Förderstrukturen fort, deren Hauptaugenmerk der Wahrung von Tradition und Brauchtum gilt, Kategorien, unter die vorrangig Trachtenvereine, Musikkapellen, Schützenwesen, Volkstanz und Ähnliches fallen. Allerdings sind es nicht nur fehlender Gegenwartsbezug und stereotype Identitätskonstruktionen, oft ist es schlicht die Ignoranz, die an der dominanten Position der Traditionskultur kritisiert wird. Ignoranz am aktuellen Geschehen, an zeitgenössischen Kulturformen, Ignoranz auch an jungen Generationen, neuen Ausdrucksweisen und unbekannten Inhalten. In politischer Hinsicht ist die Ignoranz für die davon Betroffenen teilweise sogar nachvollziehbar, insofern es sich 62
63
Vgl. dazu diverse kritische Artikel auf der Homepage der Tiroler Kulturinitiativen (TKI) unter www.tki.at sowie der entsprechenden Interessenvertretung für autonome Kulturarbeit auf Bundesebene unter www.igkultur.at. Vgl. dazu die offiziellen Homepages von der Stadt Innsbruck (www.innsbruck.at), Innsbruck Tourismus (www.innsbruck.info) und Tirol Werbung (www.tirol.at).
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um oft schwierig zu kommunizierende Agenden handelt. Zeitgenössische Themen bergen hohes gesellschaftliches Konfliktpotential in sich, weil sie zumeist noch unabgeschlossenen Diskurssträngen entspringen; außerdem stellen sie ein ökonomisches Risiko dar, insofern interessierte Öffentlichkeiten und entsprechende Märkte dafür erst etabliert werden müssen; schließlich aber bleiben zeitgenössische Themen immer auch ein psycho-soziales Wagnis: sie hinterfragen, provozieren, entblößen, ironisieren, regen auf und fordern heraus. Ihre Konfrontation kann im Gegenüber Unsicherheit, Entsetzen, Angst oder Unverständnis auslösen, die ohne weitere und tiefere Auseinandersetzung nicht selten in Ignoranz münden. Im Gegensatz dazu kommt traditioneller Volkskultur und etablierter Hochkultur ein gesicherter Status zu, der gesellschaftlich erprobt, ökonomisch bewährt und moralisch zulässig erscheint. Gerade mit dieser strukturell legitimierten Präsenz weisen sie der freien Kulturszene eine schwache Ausgangslage zu. Die hohe Abhängigkeit von Subventionen, der eine geringe Selbstfinanzierung entgegensteht, aber auch die vergleichsweise kleinen Zielgruppen, die mit freier Kulturarbeit angesprochen werden, bilden hierbei nur einige der Angriffsflächen für eine ablehnende oder ignorierende Haltung. Armin: Prinzipiell ist das Standing jetzt von kleinen Kulturveranstaltern gegenüber der Politik natürlich ein schwaches, weil womit sollen wir argumentieren, dass zu unseren Veranstaltungen irgendwie 30 Studenten kommen, die eh kein Geld haben und keinen Einfluss auf etwas, wo bei den Festwochen der alten Musik alles, was Rang und Namen hat, natürlich da hinkommt.
Um Belang und Bedeutung der freien Kulturarbeit über ihre Grenzen hinaus einzufordern, bedarf es daher der dauerhaften Überzeugungsarbeit und einer aktiven Teilnahme an politischen Diskussionen und Entscheidungsprozessen. Diesbezüglich werden die Entwicklungen, wie sie sich seit einigen Jahren im Umfeld der p.m.k abzeichnen, von einzelnen Akteuren als durchaus positiv wahrgenommen. Zwar gab es auf landespolitischer Ebene bis zuletzt einen häufigen personellen Wechsel bei der Besetzung des Landesrates für Kultur, was eine kontinuierliche Ausrichtung und Zusammenarbeit nur schwer möglich machte, dennoch existiert grundsätzliches Entgegenkommen von dieser Seite. Oder: Das Kulturförderungsgesetz des Landes Tirol stammt nach wie vor aus dem Jahre 1979, ein heute so geläufiger Begriff wie „Initiative“ kommt darin nicht vor. Dennoch konnten mit TKI Open und stadt_potentiale zwei angemessen dotierte und in dieser Form bundesweit neuartige Wettbewerbe für Alternativkultur geschaffen werden. Und nicht zuletzt mit der Innsbrucker Stadtregierung bestehen zum Teil gute Gesprächsbedingungen, vor allem mit einer Bürgermeisterin, die Kultur zur „Chefsache“ erklärt hat.
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Allerdings, wenngleich auf all diesen Ebenen Dialog und Überzeugungsarbeit stattfinden, so hängt deren „Erfolg“ oft weniger von den inhaltlichen Argumenten selbst als von den sozio-strukturellen Gegebenheiten ab, vor denen sie eingebracht werden. Denn ähnlich, wie die p.m.k auf der einen Ebene zwar bestimmte zwischenmenschliche Beziehungen und personelle Netzwerke nützen kann, um ihre eigenen Anliegen durchzusetzen, so zeigt sich auf anderen Ebenen ein Prinzip persönlicher Kontakte, gegen das sie regelmäßig anläuft. Gerade die Dominanz traditioneller Kulturformen in Verbindung mit einer monopolistischen Medienlandschaft macht es für freie Kulturarbeiter oft schwer bis unmöglich, ihr Schaffen zu finanzieren und öffentlich zu etablieren, ohne dabei auf förderliche „Beziehungen“ zurückzugreifen. Diese nehmen dabei den Status von strukturellen „Türhütern“ ein, welche den Zugang zu bestimmten Mitteln und Ressourcen ermöglichen oder aber verhindern. Matthias: Aber mittlerweile – es ist wie in Tirol alles, sowohl in der Kulturförderung als auch, wenn man in der Zeitung stehen will, man braucht Beziehungen. Oder man muss es irgendwie über Beziehungen machen.
Beziehungen repräsentieren eine systemimmanente Notwendigkeit, die entweder als Eigentum zu besitzen oder als Praxis zu pflegen sind, in beiden Dimensionen aber eine unerlässliche Voraussetzung dafür darstellen, im System überhaupt zu partizipieren, irgendwo „reinzukommen“. Dadurch erhalten sie den Rang einer unentbehrlichen Ressource, von der jede Form von Praxis, egal in welchem Feld, abhängig ist, gleich einer allgemein gültigen Währung, ohne die eine Teilnahme am Tauschsystem ausgeschlossen bleibt (6.2.4). Der Preis solcher Beziehungen liegt demnach oft in einer zwischenmenschlichen oder aber kommerziell definierten Form von Abhängigkeit, die einzugehen für viele Akteure außerhalb des eigenen Arbeitsethos liegt. Während viele Vereine die Überschreitung solcher implizit moralischen Grenzen mit geringschätzigen Urteilen von Anbiederung bis Ausverkauf quittieren, setzen sie stattdessen ausdrücklich auf das Kriterium der Qualität: Nicht das, was bei einem breiten Publikum ankommt oder was aufgrund persönlicher Beziehungen zum Erfolg werden könnte, sollte im Mittelpunkt des Schaffens stehen, sondern das, was dem eigenen inhaltlichen Anspruch genügt (5.2.1, 5.2.2). Dieses Qualitätskriterium wiederum folgt keiner dogmatischen Linie, indem etwa nur das gutgeheißen würde, was internationalen, unbekannten oder antikommerziellen Charakter vorweist: „Und wenn jetzt wer in Tirol super wäre, wo wir sagen, Wahnsinn, dann machen wir das auch. Ganz klar“ (Matthias). Um möglichen Kompromissen vorzubeugen, die eigene Qualitätsansprüche bei einer Finanzierung durch öffentliche Gelder nicht mehr konsequent durchführbar machen, verzichten einzelne Akteure von vornherein auf die Möglichkeit
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der Subvention (5.2.6). Damit gehen sie zwar ein umso höheres finanzielles Risiko ein (das selbst mit Subventionen nicht gänzlich auszuschließen wäre), schaffen sich aber auch einen entsprechend größeren Freiraum, da sie ihre Praxis noch weniger nach institutionellen Vorgaben und rechtlichen Bedingungen ausrichten müssen. Umgekehrt sind sie gerade dann umso mehr auf informelle Netzwerke angewiesen, die aus je eigenen Quellen unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung stellen. Diese Form von Abhängigkeit entspringt jedoch keiner materiellen, vielmehr einer immateriellen Angewiesenheit, aus der heraus Praxis immer schon als kollektiver Prozess zu verstehen ist, dem man sich verbunden fühlt (6.1.1). Beide Momente, Angewiesenheit und Verbundenheit, verweisen auf die Kategorie der Freundschaft sowie die zentrale Rolle, die diese als eine der wohl wichtigsten Stützen der freien Szene einnimmt. Gerade das mannigfaltige Netzwerk der p.m.k stellt insofern ein gewaltiges Machtpotential dar, das neue Möglichkeiten und Bahnen öffnet, indem es Menschen, Wünsche, Antriebe, Kompetenzen, Motivationen, Ressourcen und Ideen zusammenbringt und daraus produktive Konnexionen herstellen kann (6.2). Allerdings, und das ist wohl der entscheidende Unterschied zur vorhin diskutierten Form von Beziehungen, handelt es sich dabei nicht um eine strukturelle Anordnung von Positionen, die über Inklusion oder Exklusion entscheiden, so wie es dem systemischen Charakter einer „Freunderlwirtschaft“ entspricht. Die Freundschaften rund um das Praxisgefüge der p.m.k sind in der Mehrheit weder als Mittel zum Zweck noch als auftretende Nebenwirkung zu erklären, sondern als Zweck in und für sich, als ideelle Vereinigung oder, noch umfassender, als sinnstiftende Praxis. Eine zweckrationale Intention ist ihnen ebenso fremd wie eine instrumentelle Spekulation. Damit sei noch nichts über die Stabilität und Kontinuität der daraus entspringenden Netzwerke gesagt, lediglich etwas über den Modus der sie antreibenden Beziehungen.64
5.1.6
Kommerzialisierung und Homogenisierung des Kultursektors
Eine weitere strukturelle Kerbung des Feldes freier Kulturarbeit ist die zunehmende Kommerzialisierung von Angeboten. Da in der p.m.k ein inhaltlicher Schwerpunkt auf musikalischen Veranstaltungen liegt, tritt hier ein häufig als „Musikbusiness“ gebrandmarkter Komplex aus institutionellen Akteuren, ökonomischen Interessen, massenkompatiblen Vermarktungsstrategien und unpersönlichen Zugangsformen auf, gegen den sich ein Gros der Akteure explizit 64
An anderer Stelle beschreiben wir diesen Modus als gegenseitigen Umgang, der sich über die Momente der Verbundenheit und Angewiesenheit artikuliert (6.1.1).
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abgrenzt (6.3.2). Die eingesetzten Gegenstrategien lassen sich indes in zwei Dimensionen unterscheiden, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen mögen: Inklusion und Exklusivität. Die Kategorie der Inklusion beschreibt Strukturen, Mechanismen und Praktiken, die es Kulturschaffenden in einfacher und günstiger Form möglich machen, ihre Praxis auszuüben und zu präsentieren (6.2.2). Das angestrebte Vermeiden von finanziellen, bürokratischen und sozio-strukturellen Einstiegsbarrieren – von Abbau kann indes keine Rede sein, wenn es keinen Aufbau gegeben hat – impliziert einen offenen und unkomplizierten Zugang zum Praxisgefüge, dem weder obligatorische Hierarchien noch selektive Regelwerke, weder privilegierte soziale Beziehungen noch ökonomische Ressourcen im Wege stehen. Christoph: Was uns zum Beispiel auch wieder von einem kommerziellen Veranstalter unterscheidet, ist, dass wir einfach schon probieren, tolerant und sozial zu sein. Also es sollte eigentlich jeder die Möglichkeit haben reinzukommen, auch wenn er jetzt kein Geld hat. Die Getränkepreise und die Eintrittspreise sind sehr sehr niedrig gewählt. Es gibt einfach eine Toleranz zu leben und die auch irgendwie zu vermitteln und niemanden auszuschließen.
Solche strukturelle Offenheit mündet aber nicht zwangsläufig in inhaltliche Beliebigkeit: Zwar gibt es keine programmatischen Vorgaben, sehr wohl aber einen qualitativen Anspruch (5.2.2). Ob Rock, Electronic, Punk, Folk oder HeavyMetal – die angebotenen Veranstaltungen sollten sich gerade nicht durch Beliebigkeit auszeichnen, sondern durch einen argumentierbaren Ausnahmestatus. Die möglichst breite Inklusionsfähigkeit bezieht sich allerdings nicht nur auf Kulturproduzenten, sondern auch auf deren Konsumenten. Mit vergleichsweise günstigen Eintritts- und Getränkepreisen soll der Ort einem breiten Publikum offen stehen und eine angemessene Teilhabe am zeitgenössischen Kulturgeschehen zulassen. Dieses Ziel verweist bereits auf die andere Gegenstrategie, die über die Kategorie der Exklusivität beschrieben ist. Sie fokussiert die Entfaltung einer spezifischen Atmosphäre, welche die p.m.k als Ort ausweisen sollte, in dem besondere Erlebnisse und persönliche Begegnungen möglich sind (5.3.3). Allerdings geht es dabei nicht um solche Angebote oder Ereignisse, wie sie von kommerziellen Kulturanbietern als ausdifferenzierte Produkte einer LifestyleIndustrie65 entworfen werden, die in ihrer suggerierten Einmaligkeit oder Unver65
Unter Lifestyle bezeichne ich jene operativen Modi der Lebensgestaltung, die für eine „flüchtige Stilisierung ohne jede Festlegung“ (Schmid 1998: 128) stehen. „Lifestyle bereitet keinerlei Mühe mehr, man kann ihn kaufen, jederzeit einen anderen: Maximale Freiheit, die sich optimal in die Konsumgesellschaft einfügt. Die eigene Existenz wird zum bloßen Gegenstand, der auf völlig unterschiedliche Weise und in rasend schneller Folge mit Schnitten wie in Videoclips
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gesslichkeit der breiten Palette marktkonformer Individualitätskonzeptionen Rechnung tragen. Anstatt sich im System sozio-ökonomisch konkurrierender Lebensstile zu verorten, richtet sich die Exklusivität der p.m.k nach der Inklusivität ihrer Akteure. Ohne Schranken und Vorbehalte soll hier ein Austausch von kulturinteressierten Menschen stattfinden zwischen Musikern und Zuhörern, Organisatoren und Produzenten, Veranstaltern und Publikum (6.2.2). Wenngleich es naiv oder illusionär klingen mag, dass die so geschaffene Atmosphäre nichts anderes ist als das, was die Menschen daraus machen, so ist es doch die konsequente Fortführung der Inklusionsstrategie, die den offenen Zugang zur Kultur nicht nur präsentieren, sondern auch vermitteln und – praktizieren will. So gesehen ist die p.m.k in erster Linie ein allgemeiner Begegnungsraum, erst in zweiter Linie ein konkreter Veranstaltungsort. Die Abgrenzung von kommerzialisierenden und homogenisierenden Kulturformen, praktiziert über Gegenstrategien der Inklusion und Exklusivität, bringt auch eine spezifische politische Ausrichtung der p.m.k zum Vorschein (6.1.3). Zwar gibt es keine „Verfassung“, in der die Identität des Kollektivs niedergeschrieben wäre – und das, wie wir später sehen werden, aus guten Gründen (6.2.5) –, doch hat sich sowohl aus dem Konzept wie aus der Praxis heraus ein diskursiver Strang von Selbst- und Fremdzuschreibungen entfaltet, der eine politische Verortung möglich macht (6.3.3). Dabei müssen wir jedoch unterscheiden zwischen Haltung und Standpunkt, insofern die p.m.k zwar eine spezifische Haltung einnimmt, aber noch keinen konkreten Standpunkt vertritt. Zum einen die Haltung: Sie ist weder Vorschrift noch Programm, sondern ergibt sich aus der Praxis. Kategorien wie Offenheit, Partizipation, Selbstbestimmung, Vielfalt und Heterogenität verweisen auf ein liberales Grundverständnis von Gesellschaft und Kultur, das man in politologischen Termini mit links einordnen würde. Eine grundsätzliche Haltung ist aber noch nicht dasselbe wie ein konkreter Standpunkt. Die p.m.k versteht sich ausdrücklich nicht als parteipolitisch oder anderweitig institutionalisierter politischer Akteur, der konkrete politische Forderungen oder Präferenzen postuliert. Unparteiisch zu sein heißt wiederum nicht, parteipolitisch unabhängig zu sein – schließlich erfolgt die Finanzierung der p.m.k über öffentliche Gelder, die sehr wohl von parteipolitischen Entscheidungsträgern verteilt werden. Diese Abhängigkeit hat folglich weniger mit der politischen Ausrichtung zu tun als mit der strukturellen Stellung, aus der heraus sich die sozio-ökonomischen Abstände und Relationen von Kulturarbeit bestimmen.
darzustellen ist. (…) Schnell aufblitzende und verlöschende Modi der Existenz, ‚Moden’ eben, um ‚sich wohlzufühlen’ nach vorgegebenen Mustern“ (ebd.).
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Sebastian: Das heißt, parteipolitisch ist man sowieso immer ein bisschen ein Spielball, da kann man nie was machen (…). Man sagt ja immer, die freie Kulturszene – und jedes Mal, wenn ich das Wort „freie Kulturszene“ bei uns höre, würde ich immer gern sagen: Wir sind die unfreie Kulturszene, weil so abhängig wie wir ist fast niemand mehr.
Mit der Andeutung, freie Kulturszenen seien so frei gar nicht, ist ein geeignetes Schlusswort für dieses Kapitel gegeben. Wir haben gezeigt, welche unterschiedlichen Strukturen und Akteure, Konstellationen und Relationen, Kraftlinien und Fluchtlinien an der Entfaltung der p.m.k mitgewirkt haben. Deren Entstehung und Entwicklung kann nur aus diesem spezifischen Kontext heraus erklärt werden und zeigt, dass Prozesse wie Formgebung und Gestaltwerdung nie unabhängig von äußeren Verhältnissen und Bedingungen stattfinden. Diese Lektion mag an sich nicht neu sein, sie muss aber gerade in Bezug auf unsere Frage nach den Handlungsfreiräumen von Kulturschaffenden wieder und wieder betont werden. Fürwahr, es gibt eine „freie“ Kulturszene in Innsbruck – und es gibt sie auch nicht. Ob der eine Befund oder der andere zutrifft, ist keine Frage von Wahrheit oder Glaubwürdigkeit, sondern von konkreten Praktiken, Akteuren, Räumen, Strategien und Relationen. Mehr Sinn hat es daher zu fragen, wo und wann Kulturschaffende frei sind, inmitten welcher Handlungsdimensionen sie sich Freiräume des Handelns schaffen können.
5.2
Akteure und ihre Lebenswelten
Nachdem der Entstehungsprozess der p.m.k aus dem sozio-historischen Kontext heraus beschrieben und die Genealogie unterschiedlicher Diskursebenen nachgezeichnet wurde, gilt es, die Lebenswelten der Akteure nachzuzeichnen. Lebenswelt ist ein Begriff aus der Phänomenologie und verweist auf die Grundlegung des Seins und Bewusstseins durch die alltägliche Lebensrealität. Welt und Dasein werden nicht aus philosophischen Theoriegebäuden heraus erklärt, sondern aus ihren Erscheinungen, Zusammenhängen, Bezügen und Vollzügen. Die Lebenswelt wird daher nicht erst durch eine reflexive Tätigkeit begründet, sondern durch das unmittelbare und sinnliche Erfahren und Erleben, Wahrnehmen und Begreifen. Das kontingente „Netz der Lebenswelt ist nicht einfach nur gegeben, es muss ständig neu entworfen und gewoben werden“ (Schmid 1998: 43). Wir verwenden den Begriff der Lebenswelt im Folgenden in einem ethnographischen Sinne, in dem er der „dichten Beschreibung“ von Clifford Geertz (2002) nahekommt, welche die Wissensstrukturen, Deutungsschemata und Bedeutungszusammenhänge eines untersuchten Kulturfelds rekonstruiert. Damit soll nicht suggeriert werden, eine spekulative Innensicht der Akteure einzunehmen, viel-
Akteure und ihre Lebenswelten
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mehr ist es ein Rekonstruktionsprozess, der sowohl die systematische Reflexion des Forschers verlangt als auch seine kontextbezogene Sensibilität gegenüber den beobachteten Realitäten. Anders gesagt: Es geht um eine interpretative Rekonstruktion der sozialen Konstruktionen von Wirklichkeiten (Honer 2003: 202). Aus dem Begriff der Lebenswelt leiten sich eine Reihe hermeneutischer Fragestellungen ab: Welches Verständnis haben Menschen vom Leben? Wie sehen sie sich selbst, wie ihre Praxis? Warum tun sie, was sie tun? Aus welcher Motivation heraus handeln sie und welchen Sinn geben sie ihrem Handeln? Was ist von Bedeutung und wie orientieren sie ihren Lebensvollzug daran? Wie erfahren sie Konstellationen und Verhältnisse ihrer Lebensrealität? Welche Position schreiben sie sich selbst zu? Was betrachten die Sprecher als wichtig, wertvoll, was als gut und notwendig? Was steht für sie außer Frage? Wie adressieren sie andere Akteure, Praktiken, Strukturen und Ereignisse? Sehen sie ihre eigenen Positionen als fix an? Schreiben sie ihre Geschichte selbst? Welche Rollen beanspruchen sie für sich und welche Handlungsspielräume sehen sie darin? Aus der Rekonstruktion dieser Fragen erschließt sich die Lebenswelt der Akteure mit all den Relationen, Zusammenhängen und Phänomenen, die darin auftreten und Bedeutung annehmen. Wir fragen dabei nicht nach objektiven Bedeutungen von Lebenswelten, sondern dem jeweils subjektiv gemeinten Sinn, der sich aus der Perspektivität der Handelnden erschließt. „Durch Interpretation wird jenes Wissen erarbeitet, das ein Subjekt fürs Leben braucht, ums sich aufs Leben zu verstehen“ (Schmid 1998: 92). Die so vorgenommene Kontextualisierung der Subjekte begreift somit auch Kategorien wie Praxis, Qualität oder Professionalität als jeweils aus dem sozialen Zusammenhang entstehende Konstruktionen.
5.2.1
Die Immanenz der Praxis Dass wir da einfach was Neues installiert haben – patsch. Eine Akteurin (Ursula) kommentiert ihr Handeln.
Welche Bedeutung messen die Akteure ihrem Handeln bei? Welche Beweggründe mobilisieren sie, um etwas zu (er)schaffen? Welche Motivationen bringen ihre Praxis hervor? Sind damit Ziele verbunden, die über diese hinausgehen? Was ist für die Akteure wichtig, was wertvoll und was erstrebenswert? Kurz: Warum tun Menschen, was sie tun? Akteure schreiben sich mit ihrer Praxis in jene Realitäten ein, die ihrem Denken und Handeln zugrunde liegen. Allerdings stellen diese Realitäten keinen objektiv feststellbaren Text dar, der durch individuelles Handeln subjektiv interpretiert würde. Vielmehr sind es immer schon perspektivische Konstruktionen
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen
von Realität, zu denen sich Akteure handelnd in Beziehung setzen. Umgekehrt heißt das auch, dass die Praxis der Akteure erst aus ihrer Weltsicht erklärt werden kann. Das erfordert für die vorliegende Fragestellung zwar noch nicht, die Vielfalt der unterschiedlichen Weltbilder in aller Gründlichkeit zu rekonstruieren; sehr wohl aber, die Positionen und Relationen zu erfassen, die Akteure sich selbst und ihrer Praxis zuschreiben. Nicht die spezifische Gestalt der je eigenen Welt interessiert uns an dieser Stelle, sondern der Modus ihrer Formgebung. Ursula: Was das Schöne für mich ist. Und das ist im kreativen kulturellen Bereich so spannend für mich, dass es irgendwie Welt erschafft – Welt generiert irgendwie. Die p.m.k würde es ohne mich einfach nicht geben. Oder wenn Du ein Theaterstück schreibst – es würde ohne den Schreiberling das Theaterstück nicht geben. Oder wenn Du nicht die Band bist, dann würde es diese Musik nicht geben. Und das finde ich so spannend. Und wenn mich wieder einmal alles extrem ankotzt – was eh nicht oft ist – dann denke ich mir das. Ohne uns gäbe es keine p.m.k. Wie viel weniger toll wäre die Stadt, oder? Und wenn ich aber in einer Bank arbeite, wo ich jeden Tag am gleichen Schalter steh, dann bin ich austauschbar. Ob ich da steh oder wer anderer, ist komplett wurscht. Und bei der Kultur ist das aber nicht so. Das finde ich eigentlich das Spannendste an dem Ganzen.
Dieser Auszug steht stellvertretend für ein Verständnis von Praxis, in dem das eigene Handeln als etwas Welt-Erschaffendes begriffen wird. Egal, in welchen Referenzrahmen Akteure ihr Tun einbetten, ob sie es als Arbeit, Job, Projekt oder Engagement bezeichnen – sie begreifen es als einen aktiven Akt des Kreierens und Generierens. Mit ihrem Handeln konstituieren sie Realität, schaffen etwas Neues, das es ohne sie nicht geben würde, und bringen damit eine Artikulation hervor, die – zunächst ohne jegliche revolutionäre oder romantische Konnotation gedacht – die Welt verändert (Spinosa et al. 1997). Welche Formen diese Artikulation hat, ist dabei vorerst unwesentlich. Ob es also ein Schaffensakt ist, der sichtbare Spuren hinterlässt oder aber flüchtig ist; ein Akt, der gesellschaftliche Relevanz beansprucht oder ein subjektives Begehren verkörpert; ein Akt, der eine nachhaltige Repräsentation verlangt oder ein singuläres Ereignis hervorruft; ein Akt schließlich, der als Antwort oder Kritik auf bestimmte Verhältnisse auftritt oder aber ein individuelles Bedürfnis ausdrückt.66 All diese Formen und Erscheinungsweisen beziehen sich bereits auf mögliche Intentionen und Effekte des Handelns, sind dem Schaffensprozess also vor- oder nachgelagert. Sie betreffen nicht den Akt des Kreierens und Generierens als Praxis für sich. Wenn es für die meisten Akteure schlichtweg besser ist, 66
Spinosa et al. (1997) machen in den Praktiken des Welt-Erschaffens drei unterschiedliche Modi aus: Artikulation, Rekonfiguration und eine entkoppelte Form von Wiederaneignung.
Akteure und ihre Lebenswelten
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etwas zu schaffen als nichts zu schaffen, dann bemisst eine solche Haltung die Praxis als einen Wert an sich. Das Kreieren von Welt entspringt einem immanenten Schöpfungsprozess, der zunächst sich selbst genug ist. Oder anders – prägnanter, salopper und alltagsnäher – formuliert: Dinge werden um ihrer selbst willen getan. Konsequenterweise entbehrt eine solche Praxis aller transzendenten Bezugspunkte, durch die sie, über sich hinausgehend, legitimiert oder integriert würde. Ein übergeordnetes Emanzipationsbestreben kann aus ihr ebenso wenig unmittelbar abgeleitet werden wie etwa eine große Erzählung (Lyotard 1993) über die „Freiheit der Kunst“. I: Irgendeine Vision, die Du für die p.m.k hast? Sebastian: Nein. Nur machen.
Gleiches gilt für Kategorien wie Identität und Eigentum. Praxis, verstanden als Wert an sich, dient nicht als Mittel zum Zweck, durch das Akteure sich selbst präsentieren. Wenngleich eine immaterielle Bereicherung der handelnden Subjekte nie ausgeschlossen werden darf, so ist dieser Selbstbezug doch grundverschieden von jenem rational-ökonomisch motivierten, der sich in den Praktiken einer strategisch angelegten Persönlichkeitsprofilierung niederschlägt und demzufolge Identität ein Kapital darstellt, in das ununterbrochen investiert werden soll (Bröckling 2007). In ähnlichem Sinne treten auch all jene Aneignungsformen nur selten in Erscheinung, die über Praxis lediglich ein anderes Ziel – sei dies die Akkumulation von sozialem, ökonomischem, kulturellem oder symbolischem Kapital – zu erreichen versuchen. Wo hingegen solche kausale Intentionen dominieren, wird das Handeln nicht mehr aus immanenten Kräften und Affekten generiert, sondern entlang von äußerlichen Absichten und Effekten geleitet. Dagegen führt Praxis als Wert an sich gerade zu einer umgekehrten Ausrichtung: Sie wird nicht durch vorgegebene Identitäten und Ziele bestimmt, sondern bringt diese überhaupt erst hervor. Die Selbstzuschreibungen, aus denen heraus Akteure ihre eigene Identität verstehen, resultieren aus dem, was sie machen. Kausale Mittel-Zweck-Relationen kehren sich dabei um in ihr Gegenteil: Nicht die Praxis dient einem höheren Zweck, vielmehr ist sie Selbstzweck. Gleichwohl bedarf es mitunter verschiedener konkreter Mittel – etwa die Organisationsform als Verein oder das Eingehen finanzieller Risiken –, um den allgemeinen Wunsch des Kreierens und Generierens stets von Neuem zu ermöglichen. David: Und es ist einfach so, dass wir halt alle – wir machen das alles nur zweckmäßig. Wir sind ja keine Vereinsmeier in dem Sinn. Wir sind eigentlich zu dem geworden, weil wir Konzerte machen, weil wir uns treffen müssen, weil wir uns ab-
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen sprechen müssen. Aber dieses – dieses Vereinstum an sich ist eher Mittel zum Zweck für uns. Und an sich liegt uns das gar nicht so. Also wir haben eigentlich untereinander, dadurch, dass wir alles solche Individuen sind, zum Teil eine schlimme Gesprächskultur (Lachen). Und wir brauchen Diskussionsleiter und so. Was mich wieder total bestätigt, weil ich mir denke, he, wir sind nicht da, nur weil wir reden wollen, sondern weil wir etwas machen wollen. Wir sind einfach Macher und weniger die Reder.
Im angeführten Fall ist der Verein nur eine notwendige Form, um Praxis zu ermöglichen. Die auferlegte Organisation dient der Bündelung und Freisetzung von Kräften, sie determiniert diese jedoch nicht. Damit werden Begehren – vor allem das konstitutive Verlangen, etwas machen zu wollen – kanalisiert und neue Handlungsfreiräume eröffnet. Diese pragmatische Ausrichtung erklärt, warum sich eine irreduzible Multiplizität heterogener Akteure eine Organisationsform auferlegt, die dem jeweiligen Selbstverständnis oft diametral gegenübersteht. Aus dem dargelegten immanenten Praxisverständnis ergeben sich mehrere Prinzipien, die sich im konkreten Handlungsvollzug immer wieder aktualisieren und die wir mit folgenden Dimensionen umschreiben können67: 1. 2. 3. 4.
Praxis generiert sich aus Affekten und Leidenschaften Praxis setzt sich selbst in Gang Praxis geht auf in Ereignissen Praxis verlangt Kohärenz
1. Praxis generiert sich aus Affekten und Leidenschaften Entsprechend der spinozistischen Differenzierung von aktiven und passiven Affekten (2.5.2) können die produktiven Schaffenskräfte einerseits als unmittelbare Handlungsmacht, andererseits als Generator von Leidenschaften verstanden werden. Im einen Fall artikuliert sich der Schaffensakt als pure Aktivität und Spontaneität, im anderen Fall produziert und konsumiert er unterschiedliche Formen von Sensibilität. Pure Aktivität und Spontaneität zeigen sich überall da, wo die Praxis einem immanenten Begehren folgt, wo also Akteure schlicht das machen, was keines äußeren Antriebs bedarf. Gesellschaftspolitische und organisatorische Gesichtspunkte müssen dabei noch keine konstitutive Rolle spielen,
67
Die Dimensionen wurden aus dem empirischen Material entwickelt und theoretisch angereichert (3.2.3).
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da die Praxis weder davon abhängt, ob sie erwünscht oder benötigt wird, noch davon, ob sie sinnvoll ist oder zielführend. Camilla: Nein, das war jetzt nicht etwas, wo quasi – das gibt’s nicht, das braucht’s. Das war es nicht. Es war eigentlich wirklich so – auf das haben wir Lust, das kann funktionieren, wir probieren das einmal aus. Also wir haben nie überlegt, was jetzt in drei Jahren sein wird oder was in zehn Jahren ist oder was wir damit bezwecken wollen, sondern einfach, wir haben den Entschluss, das zu machen und wir machen das und wir probieren das aus. Und es hat halt glücklicherweise irgendwie recht gut funktioniert.
Pure Aktivität ist also pure Affirmation; sie enthält kein Moment der Negation, aus dem heraus sie erst entsprungen wäre. Anders verhält es sich in Bezug zu passiven Affekten, die zum Generator von positiven wie negativen Leidenschaften werden. Hier kann es durchaus ein konstitutives Moment von Unlust sein, das den Schaffensprozess antreibt. Gerade für produktives Schaffen ist es dabei bezeichnend, wenn es danach strebt, unerwünschte Leidenschaften zu reduzieren, erwünschte hingegen zu intensivieren. Selbst wenn die Quelle von passiven Affekten immer schon außerhalb des Subjekts liegt, kann dieses dennoch versuchen, aus sich heraus an deren Entfaltung mitzuwirken. Anders gesagt: Durch aktives Handeln arbeiten Akteure daran, ihre Empfänglichkeit für Freude, Begeisterung und Lust68 zu erhöhen, das Potential für Unmut, Schmerz oder Verbitterung hingegen zu minimieren.69 Damit bleiben die passiven Affekte zwar im68
69
Wenn wir hier von Lust sprechen, so meinen wir damit kein ontologisch-konstitutives Begehren, so wie es Deleuze der Lust geradezu entgegenstellt. Demnach ist die Lust eine Reterritorialisierung, die das Immanenzfeld des Begehrens unterbricht. „Die Lust scheint mir für eine Person oder ein Subjekt das einzige Mittel zu sein, ‚sich darin wiederzufinden’: in einem Prozeß, der sie überwältigt. Sie ist eine Re-Territorialisierung“ (Deleuze 1996: 33). Unser Begriff von Lust ist an dieser Stelle dagegen rein deskriptiv und „folgt den Akteuren“ (Latour 1987). Die hier angeführten Affekte dienen lediglich der anschaulichen Argumentation und folgen deshalb einer relativ klischeehaften Anordnung. Damit sollte keine normative Gliederung suggeriert werden, der zufolge erwünschte Leidenschaften ausschließlich in Freude, Begeisterung oder Lust bestünden, unerwünschte hingegen in den entsprechenden Gegenteilen. Für viele Akteure etwa ist die Kategorie „spannend“ ein zentrales Attribut für die Charakterisierung befriedigender und erstrebenswerter Praxis. Was aber heißt das konkret? Spannend muss noch nicht schön heißen, auch nicht angenehm, lustig oder sinnvoll. Ebenso kann das, was interessant ist, sehr hässlich und unpopulär sein; kann in der Artikulation von Wut auch Freude liegen; kann Begeisterung Aggressivität hervorrufen und Lust das Zufügen von Schmerz bedeuten. Wir könnten beliebig fortfahren mit solchen Beispielen, die letztlich nur zeigen, dass es keine unmittelbare und universale Identität von Begriffen und ihrem – in diesem Fall: emotionalen – Gehalt gibt. Vielmehr liegt, wie Wittgenstein (2000) eindrücklich gezeigt hat, die Bedeutung von Wörtern in ihrem Gebrauch. Das, was erwünschte Leidenschaften sind, kann daher nur aus dem jeweils konkreten Handlungskontext erklärt, nicht jedoch allgemein definiert werden.
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mer noch von außen bestimmt, allerdings verändern sich die Machtrelationen zwischen Affekt und Subjekt. Ein Subjekt, das eine Situation erleidet, kann nichts erschaffen, weil und solange es im Modus der Passivität verharrt. Ein Subjekt hingegen, das versucht, in derselben Situation eine Möglichkeit zu finden, sich – in welcher Form auch immer – affirmativ auszudrücken, kann damit in einen Modus der Aktivität treten und folglich seine Handlungsmacht steigern. Das Subjekt bleibt dann dem Affekt nicht mehr passiv ausgesetzt, sondern setzt sich aktiv mit ihm auseinander. Dieser durchaus abstrakte Argumentationsgang kann anschaulich an der Motivation einzelner Akteure dargelegt werden, der zufolge deren Praxis aus einem tiefgehenden Gefühl der Unzufriedenheit hervorgegangen ist. Wenn die herrschenden Verhältnisse in einer Weise strukturiert sind, dass eigene Bedürfnisse und Begehren darin keine Artikulationsmöglichkeiten vorfinden, dann positionieren sich die Akteure zumeist entlang von zwei grundverschiedenen Handlungsoptionen. Die eine ist es, sich mit den Verhältnissen abzufinden und sich folglich (und folgsam) in den Strukturen einzurichten. Die andere liegt hingegen gerade in der Weigerung, die Zustände, so wie sie sind, hinzunehmen, und stattdessen nach Möglichkeiten der Veränderung zu suchen. Im ersten Fall wird ein Zustand passiv ertragen, im zweiten aktiv behandelt. Erwin: [Die] Motivation, das fan-zine [Titel einer Zeitschrift, M.V.] zu machen und die Konzerte zu machen: Weil mir war das zu wenig, nur Musikkonsument zu sein – das war mir einfach zu wenig. Dadurch, dass ich schon ewig auf Konzerte gehe und auch mit Bands ins Gespräch gekommen bin. Das war mir irgendwie zu wenig. Da gehts nicht um Anbiederung, damit man irgendwo dabei ist oder so, sondern mir war das einfach zu wenig, einfach nur in Konzerte zu gehen. Auch in meiner Richtung war in Innsbruck zu wenig los. Also die Bands, die ich gerne gesehen hätte, die haben einfach da keinen Platz gefunden. Und dann hat man halt selber eine Möglichkeit schaffen müssen, dass die eben auch den Weg nach Innsbruck finden. Das war einfach so eine Intention. Also die Bands, die man gern hört, dass man die auch in Innsbruck selber live anschauen kann.
Da die Generierung von positiven oder erwünschten Leidenschaften mit dem Bedürfnis einher geht, sich in eine aktive Handlungsrolle zu versetzen, mündet sie nicht selten in Bewegungen der Fluchtlinie oder des Widerstands. Die Unzufriedenheit mit vorhandenen Strukturen und Identitäten; die Unlust, sich mit gegebenen Handlungsräumen und Entfaltungsmöglichkeiten abzufinden; das Verlangen, dominante Repräsentationen zu durchbrechen und Orte, an denen nichts los ist (5.1.2), zu transformieren; oder auch der Anspruch, hegemoniale Dispositive („das Musikbusiness“) und gesellschaftlich etablierte Konsummuster
Akteure und ihre Lebenswelten
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zu hinterfragen – all diese Bewegungen entspringen stets einem Moment der Negation. Sie gehen allerdings nicht notwendig darin auf. Beispielsweise kann im Bedürfnis, andere Musiker und Produzenten persönlich kennen zu lernen, zwar eine immanente Kritik an den Kommunikationsstrukturen einer anonymen und kommerzialisierten Musikindustrie verortet werden. Gleichwohl drücken sich darin auch grundlegende affirmative Begehren aus: im Zulassen neuer Begegnungen, im Eingehen von Freundschaften, in der Neugierde an Gedanken- und Erfahrungsaustausch oder in der Freude an verbindenden Wellenlängen. Oder: Wenn Akteure jene Musik zu etablieren versuchen, die sie selbst gerne hören wollen, dann mag auch hier ein Moment der Kritik an homogenisierten mainstreamAngeboten enthalten sein. Dennoch ist es mindestens ebenso ein affirmativer Affekt, Spaß und Freude zu haben an dem, worum es eigentlich und prinzipiell geht, und im Genuss dessen aufzugehen, wofür man sein „Herzblut“ (David) geben würde. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass immanente Praxis selten eindeutig als pure Affirmation oder als bloße Kritik auftritt. Vielmehr sind es hybride Bewegungen, in denen sich das Handeln aus Affekten und Leidenschaften, Korrekturen und Fluchtlinien generiert (2.4). Unabhängig davon jedoch, ob produktives Schaffen ein Moment der Negation enthält und wie stark dieses zum Ausdruck kommen mag – immanente Praxis bleibt nie dabei stehen.
2. Praxis setzt sich selbst in Gang Wir haben gesehen, dass die aus immanenten Antrieben generierte Praxis keiner äußeren Beweggründe oder Anstöße bedarf, um zur Entfaltung zu kommen. Selbst ein allfälliges Moment der Negation macht sie noch nicht zur bloßen Reaktion, sondern steigert allenfalls ihre Intensität. Daraus geht hervor, dass diesem Handlungsmodus keine Strategie innewohnt, die seine Abfolge vorherbestimmt, kein Plan, der seine Zweckgerichtetheit garantiert, kein Ziel auch, das über seine Vollendung entscheidet. Unabhängig von solchen handlungsleitenden Anordnungen folgt immanente Praxis keinem anderen Gesetz außer ihrer eigenen Logik. Wenn sie stattfinden muss, dann nicht aufgrund eines kreativen Imperativs, sondern weil Akteure unbedingt etwas machen wollen (Osborne 2003). Die Notwendigkeit zum Handeln entspringt einem inneren Begehren, keinem äußeren Auftrag. Georg: Du musst einfach schauen, wo kann ich auflegen. Wenn Du es tun willst und es macht keiner für Dich, dann musst Du es einfach selber machen. Das Do-ityourself ist, glaube ich – ich weiß nicht, ob man es noch Subkultur nennen kann, ist
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen sowieso eine eigene Frage. Es ist in dem ganzen Konzept aber echt fast etwas vom Wichtigsten. Subkultur macht niemand für Dich.
Allerdings, nur weil etwas getan werden muss und es kein anderer für dich macht, heißt das noch nicht, dass diese Selbstpositionierungen der Akteure zwangsläufig von heroischen Anklängen durchdrungen sind. In den meisten Fällen verhält es sich geradezu so, dass nicht die Akteure sich als Hauptprotagonisten ihrer Geschichte sehen, sondern dass es die Praxis ist, die die Dramaturgie bestimmt. Es sind Erzählungen ohne starkes Subjekt, deren Komposition von der Entfaltung der Handlungen bestimmt wird und nicht von den Intentionen der Handelnden. Letztere ergeben sich aus Ersteren, nicht umgekehrt. So lässt sich auch der „Leidensdruck“ erklären, der sich einstellt, wenn längere Zeit nichts passiert – oder wenn, wie einige Akteure es gelegentlich ausdrücken, die Luft draußen ist. Fällt die innere Notwendigkeit, dass etwas getan werden muss, weg, so ist dies zunächst jedoch noch keineswegs ein Versäumnis oder ein Leerlauf des Handelns. Wäre der praxisbezogene Antrieb durch Affekte und Leidenschaften ein fortlaufender Dauerzustand, dann wäre, ontologisch gesprochen, das Werden nur mehr in Begriffen einer kontinuierlichen Praxisentfaltung zu denken und schließlich auf einen zweckdienlichen Vollendungsprozess reduziert. Das Ausbleiben von Praxis käme dann ebenso einem lähmenden Stillstand gleich wie das Nichtstun einer nutzlosen Untätigkeit. Ein solches Denken würde jenen Gegensatz von Sein und Werden wieder einführen, den Spinoza (und nach ihm Nietzsche, Heidegger und Deleuze) mit seiner Ontologie aufgelöst hat, indem er Sein als Werden begreift (2.5.3). Daraus folgt: Werden ist nicht ohne Praxis möglich, es muss sich aber nicht ausschließlich darüber definieren. Dass nichts passiert, heißt nicht, dass kein Werden möglich ist – es heißt allenfalls, dass sich weniger Möglichkeiten des Werdens auftun. Wenn sich also die Akteure der p.m.k vorwiegend über ihr produktives Schaffen definieren, über das, was um und durch sie geschieht, dann nicht zuletzt deshalb, weil sie hier immer wieder neue Möglichkeiten des Erlebens und Erfahrens generieren können. Deren Ausbleiben hingegen bringt auf Dauer so etwas wie einen schöpferischen Engpass mit sich, der einen „Leidensdruck“ erzeugt. I: Was aber, wenn jetzt einmal ein halbes Jahr nichts passiert? Milan: Wir halten es ein halbes Jahr lang nicht aus. (Lachen) Das ist – es gibt dann wieder Phasen, dass man einen Monat lang Computer spielt und ausgeht und überhaupt nichts macht. Aber dann wird der Leidensdruck eh zu hoch, dass man wieder irgendeine blöde Idee hat, die man eigentlich unbedingt machen will.
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Aufgrund dieser inneren Entfaltungsdynamik stellt sich nicht die Frage, ob etwas getan werden soll oder nicht. Immanente Praxis hinterfragt sich nicht, weder in ihrem Entstehen noch im Vergehen. Erwin: Es ist bei uns komischerweise nie zur Sprache gekommen, dass man irgendwann einmal aufhört oder dass ein Mitglied im Verein einfach keine Lust hat, irgendwas zu machen.
Solange die Praxis ihrer eigenen Logik folgt, birgt sie die Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Konstitution in sich selbst. Da diese Konstitution jedoch immer im Rahmen eines kollektiven Handlungszusammenhanges erfolgt (2.5.1), kann die Praxis nur innerhalb eines sozialen Verhältnisses aufgehen. Folglich ist es das wenn auch selten explizit artikulierte, so doch andauernd und laufend aktualisierte „Ziel“ der Akteure – der Sinn und Zweck des Ganzen –, stets ein Teil jenes Gefüges zu sein, das ihr Handeln ermöglicht. Statt nach einem äußeren Zweck zu fragen, entspringt der Sinn des Handelns daher schon allein aus dem Umstand, dabei zu sein. Damit wiederum projizieren die Akteure ein Vorhaben auf ihre Praxis, das sich ununterbrochen in dem aktualisiert, was sie bereits schon immer tun. Christoph: Ja, ich bin halt schon konstant seit einer gewissen Zeit dabei und – wie soll ich sagen? – mein Anliegen oder meine Freude an dem Ganzen war es halt auch, immer verschiedenste Gruppen, Inhalte irgendwie auch zusammenzubringen und Möglichkeiten zu schaffen und Netzwerke zu bilden. Von dem her kenne ich halt viele Leute oder mich kennen viele Leute.
Solange immanente Praxis ein Wert an sich ist, drückt sich die Relation der Akteure zu diesem Wert durch ihr bloßes Dabeisein aus.70 Die Praktiken des Teilnehmens und Teilhabens begründen ein relationales Verhältnis, das weniger auf eine konkrete Praxis verweist als vielmehr auf einen Konnexionsmodus, durch den Praxis überhaupt erst möglich wird. Wo unterschiedlichste Verknüpfungen hergestellt, Begegnungen und Erlebnisse gefördert, aber auch sozioökonomische Grenzziehungen überwunden werden, da erschließen sich laufend neue Handlungsräume, die ungeahnte Entfaltungsfreiheiten bieten. Wie feinsinnige Spürhunde erkunden manche Akteure ihr Handlungsumfeld, um immer da dran zu sein, wo sich etwas auftun könnte:
70
Eine Dimension, die wir später mit den Kategorien Verbundenheit und Angewiesenheit noch weiter ausdifferenzieren (6.1.1).
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Georg: Also wir sind im Prinzip – gestartet haben wir als DJ-Kollektiv. Aber weil wir einfach in der Sparte, die wir bedienen, in Innsbruck damals nicht mehr haben auflegen können, weil es keiner für uns gemacht hat, haben wir gesagt, wir müssen es selber machen. Also dann wird aus einem DJ-Kollektiv ein Veranstalter-Kollektiv irgendwann einmal. Und wir haben halt immer geschaut, dass wir überall dabei sind, wo wir spüren, da ginge was, da könnten wir was beitragen oder da könnte für uns was sich auftun. Deswegen sind wir auch gleich einmal bei der p.m.k von Anfang an dabei gewesen. Und seitdem – das schaut so aus, als ob wir da ein bisschen etwas von den Vorstellungen, die wir haben, auch wirklich verwirklichen können.
Die Akteure der p.m.k spüren also Möglichkeiten auf, um Ungesehenes oder Ungehörtes ans Licht zu bringen. Dabei geht es bei weitem nicht nur um musikalisches Schaffen. Ein Filmverein etwa hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Aufnahmen von unbekannten Filmemachern aus dem Raum Innsbruck zusammenzutragen und sie sodann „aus der Schublade an die Öffentlichkeit“ zu bringen. Ein anderer Verein setzt sich mit Medienkunst auseinander und sucht in wechselnden Konstellationen nach neuen Möglichkeiten, „gewissen konzeptionell getriebenen Geschichten“ Ausdruck zu verleihen. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich anführen, in denen das Dabeisein neue Räume und Möglichkeiten eröffnet. Aufdecken und Entdecken, Zusammentragen und Kurzschließen, Hervorrufen und Herausbringen – all diese Kategorien stehen stellvertretend für einen Modus von Praxis, der sich aus immanenten Antrieben in Gang setzt, den Akteuren aber erst aus der Konnexion mit anderen Kräften mannigfaltige Handlungsdimensionen offenbart.
3. Praxis geht auf in Ereignissen Es wurde bereits mehrfach ersichtlich, dass immanente Praxis nicht notwendig einer Materialisierung im Sinne eines fertigen Produktes oder vollendeten Werkes entgegen strebt. Da die Praxis keinem anderen Zweck folgt außer ihrer eigenen Entfaltung, sind es vorwiegend die Erfahrungen und Erlebnisse der Handelnden, die aus ihr hervorgehen: flüchtige Augenblicke, prägende Eindrücke, bereichernde Momente, intensive Begegnungen, unvergessliche Episoden. All dies sind Ereignisse, aus denen die Akteure eine wichtige Quelle ihrer Realitätskonstruktionen beziehen. Dabei ist charakteristisch, dass solche Ereignisse offen und unabsehbar sind, bar jeder instrumentellen Logik, wonach sie einem bestimmten Ziel untergeordnet wären. „Obviously, if there is an event, it must never be something that is predicted or planned, or even really decided upon“ (Derrida 2007: 441). Ein Ereignis wäre kein Ereignis, wenn es sich bereits im Vorhinein als Möglichkeit abzeichnen würde. Wäre es möglich, dann wäre es
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vorhersehbar und könnte sich nicht mehr ereignen, sondern lediglich stattfinden. „A predicted event is not an event. The event falls on me because I don’t see it coming” (ebd.: 451). Das Ereignis geht also immer über das hinaus, was gemacht oder organisiert werden kann. Es ist keine Begebenheit, in der es um die bloße Befriedigung vorhandener Bedürfnisse oder Interessen geht. Ebenso wenig (be)schließt es Identitäten, sondern stellt diese immer wieder aufs Neue in Frage. Gewiss, Ereignisse in diesem Sinne sind weder erzwingbar noch berechenbar. Dennoch bilden sie in unserem Fall den dauerhaften Praxishorizont der Akteure, weshalb wir Derridas Phänomenologie des Ereignisses nicht in ihrer Radikalität übernehmen wollen. Die Akteure der p.m.k können Ereignisse nicht planen, organisieren oder unmittelbar möglich machen, sie können aber sehr wohl die Bedingungen beeinflussen, die das Möglich-Werden eines Ereignisses möglich machen. Das Sich-Ereignen eines Ereignisses bleibt dann noch immer ungewiss, ebenso wie sein allfälliger „Ausgang“, entscheidend ist aber vielmehr, dass es geschehen könnte. David: Was da am Abend passiert, das ist wirklich wichtig. Und das andere ist ja nur unser Privatvergnügen mehr oder weniger.
Aus dieser Lesart des Ereignisses können wir das Bestreben, die Umstände des eigenen Handelns selbst zu bestimmen (5.1.2), als Versuch interpretieren, die laufende Aktualisierung von Ereignissen in einem virtuellen Raum zu ermöglichen (5.3.3). Selbst und gerade da, wo die äußeren Zustände eines Ortes einen unveränderlichen und quasi-natürlichen Charakter annehmen, suchen die Akteure Gelegenheiten, durch die sie ebendiese vermeintlich objektiven Zustände als Umstände ihres Handelns bearbeiten und damit mehr aus ihnen machen können, als sie nach außen hin zu erlauben scheinen. Während ein passives Hinnehmen die Strukturiertheit eines Ortes bekräftigt, kann ein aktives Aneignen seine Kräftekonstellationen verschieben und daraus womöglich einen offenen Gestaltungsraum machen. Anders gesagt: Erst durch die Praxis erhält die Sphäre des Handelns eine Atmosphäre, und erst durch die produktive Bemächtigung eines Raumes wird und wirkt dieser belebt. Natürlich, Ereignisse sind dadurch noch nicht möglicher oder berechenbarer, aber zumindest werden sie so nicht schon vorab durch einen vorstrukturierten Handlungs- und Erfahrungsraum unterbunden. Das Ereignis als ein Unvorhersehbares generiert Welt, die in sich neue Möglichkeiten der Erfahrung offenhält. Gerade das Veranstalten von Konzerten und künstlerischen Performances kann als Praxis verstanden werden, die einen virtuellen Erfahrungs- und Erlebensraum öffnet, der die Lebenswelt der Akteure bereichert. Zunächst heißt Veranstalten, einen aktiven Bezug zu einem Raum herzustellen. Es ermöglicht die Konstitution eines Publikums, zu dem die Veranstalter direkt in Kontakt treten. Zugleich erlaubt es ein Verhältnis zu den auftre-
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tenden Künstlern und Musikern, das über ein passives Konsumverhalten hinausgeht und eine aktive Vermittlerrolle hervorbringt. Das Veranstalten schafft somit nicht nur Kommunikation und Beziehung, Atmosphäre und Austausch, sondern kann aus einem Auftritt ein persönliches Erlebnis machen. Anstatt eine Darbietung zu konsumieren, versetzen sich die Akteure in die Lage, ein Ereignis – zumindest die Bedingungen seines Möglich-Werdens – zu „produzieren“. David: Uns macht es großen Spaß, die Bands zu veranstalten, die wir selber mögen, und die dann auch kennen zu lernen. Also es ist etwas total Tolles, dass man das eigentlich nicht nur aus der Distanz betrachten kann, sondern es gewinnt an Nähe, wenn man dann die Sachen selber veranstaltet und vor allem ist man nicht mehr nur reiner Konsument, sondern gestaltet mit in einer gewissen Art und Weise.
Allerdings kann die Rolle des Gestalters, der eine Atmosphäre zugleich produziert wie konsumiert, nicht immer eingelöst werden. Gelegentlich geht das Schaffen in logistischen und organisatorischen Tätigkeiten unter und wird dadurch zur „Arbeit“, die notwendig, aber nicht schöpferisch ist. Damit ist noch keine entfremdete Arbeit im marxistischen Sinne gemeint, insofern der Zweck – das „Produkt“ – der Tätigkeit sehr wohl im Dienste des ausführenden Individuums steht und nicht im Dienste einer äußerlichen Instanz. Vielmehr ist es die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen Arbeit und Praxis, die hier zum Tragen kommt (vgl. Virno 2005: 66f.): Demnach bedeutet Arbeit, etwas herzustellen, das vom Handeln getrennt werden kann; hat Handeln jedoch seinen Zweck in sich, spricht Aristoteles von Praxis.71 Auf unseren Kontext bezogen können wir daher sagen, dass es Arbeiten gibt, die als Mittel zum Zweck der Praxis ausgeführt werden. Veranstalten ist deshalb nicht immer schon ein schöpferisches Produzieren oder Konsumieren von Ereignissen, sondern oftmals bloß das notwendige Herstellen und Arrangieren eines Raums, damit sich darin Praxis entfalten – und womöglich ereignen – kann. Diesbezüglich bedauern einige Akteure nahezu, dass die p.m.k relativ rasch nach ihrer Gründung die Räumlichkeiten ausbauen konnte, weil sich damit die Arbeitsbedingungen vor Ort – und folglich auch das Verhältnis von Arbeit und Praxis – gewandelt haben. 71
In eine ähnliche Richtung geht die politische Theorie Hannah Arendts. Sie unterscheidet im Rahmen der Vita acitva zwischen den Tätigkeiten des Arbeitens, Herstellens und Handelns, wobei das Arbeiten eine elementare Tätigkeit unter der Bedingung des Lebens darstellt, das Herstellen eine künstliche Dingwelt produziert, das Handeln hingegen die einzige Tätigkeit verkörpert, „die sich ohne Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt“ (Arendt 2003: 17). Neomarxistische Plädoyers für eine schöpferischlebendige Arbeit (Negri & Hardt 1997) vernachlässigen solche Differenzierungen häufig.
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Erwin: Es ist auch viel komplizierter geworden. Weil früher bist Du nur an der Bar gestanden, es war ein Raum und jeder hat alles mitgekriegt. Sogar wenn die Leute an der Bar gestanden sind, haben sie der Band zuschauen können. Das war überhaupt kein Problem. Und eben deswegen hat es vereinsintern quasi einen Stillstand einmal gegeben, es war echt einmal die Luft draußen. Weil man hat eigentlich nur für das gearbeitet, dass der Ablauf einigermaßen unkompliziert und ohne Probleme vonstatten geht, und das war auch immer der Fall. Und die Konzerte waren eigentlich auch gut besucht, die Bands waren auch gut unterhalten. Bloß die eigentlichen Veranstalter haben nichts mehr von dem Ganzen mitgekriegt. Die haben nur auszugsweise sich einmal die Band anschauen können. Und eigentlich geht’s ja bei uns schon um das, dass wir die Bands herholen, weil wir sie auch sehen wollen.
Wie sehr äußere Strukturen die Bedingungen und Möglichkeiten von Praxis beeinflussen, zeigt sich auch generell an der demographischen Ausgangslage im Raum Innsbruck. So ist es für viele Akteure der p.m.k ein durchaus relevantes Handlungsmotiv, dass ihre Praxis in einem noch relativ unerschlossenen Raum erfolgen kann. Denn aufgrund ihrer Größe und ihres kulturellen Angebots bietet die Stadt Innsbruck spezifische Möglichkeiten, das eigene Schaffen exklusiv zu positionieren. Die handelnden Akteure der freien Kulturszene kennen sich zumeist untereinander, was auch der Grund dafür ist, dass ihre Tätigkeitsbereiche und Vernetzungen im Groben überschaubar bleiben. Außerdem werden auf der Angebotsseite nur selten ähnliche oder idente Zielgruppen angesprochen, weshalb ein qualitativer oder kommerzieller Vergleich einzelner Veranstaltungen nur schwer möglich ist und unmittelbare Konkurrenz kaum stattfindet. Dieser Exklusivstatus führt nicht nur dazu, dass die Kulturschaffenden aufgrund ihrer geringen Anzahl in der Kleinstadt Innsbruck – im Vergleich zu Großstädten oder gar Metropolen – mehr herausstechen, sondern auch dazu, dass das – häufig erst zu erarbeitende – Publikum infolge des geringen Angebots „wahrscheinlich auch dankbarer“ (David) ist. Etwas aus dem Bedürfnis heraus zu tun, weil es noch nicht da ist, kann daher ebenso gut mit der Motivation einhergehen, dass es noch nicht da ist. Die Positionierungsversuche in einem strukturell vordefinierten Raum sind folglich nicht nur als Kritik darauf zu erklären, dass darin nichts los oder aber nicht das Richtige los ist. Denn in gleichem Ausmaß können sie auch die Inanspruchnahme eines Exklusivstatus darstellen, mit dem sich Akteure als Vorreiter in Szene setzen, gerade um eine neue Szene aufzubauen. Doch nicht nur für die Praxis generell, sondern insbesondere für die Entfaltung von Ereignissen ist eine solche Exklusivität von Bedeutung. Das Gefühl, weit und breit der Einzige zu sein, ein Pionier in seinem Ding, korrespondiert mit der Besonderheit, welche die Akteure – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer anonymisierten, homogenisierten und kommerzialisierten Musikindustrie – den Live-Ereignissen zuschreiben (6.3.2). Die Singularität des musikalischen Ereig-
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nisses drückt sich darin aus, dass es unwahrscheinlich, ja, unmöglich ist, dass es in derselben Konstellation und unter denselben Umständen noch einmal stattfinden wird. „The identity of the event, in short, is defined not by any one of its (individual) components (such as the author-composer), or even by the sum of its components (all that a musical performance involves). It lies, rather, in the singular becomingtogether of reciprocal prehensions.“ (Fraser 2005: 179)
Die Singularität des Ereignisses bezeichnet daher ein relationales Gefüge des Werdens, in dem Akteure und Aktanten nicht nur zusammen kommen, sondern auch zusammen werden (2.2.3). „The singularity of an event is based not simply on the coming together of prehensions therefore, but on their becoming together in a particular way“ (Fraser 2006: 131). Damit ist zugleich auf die Kontingenz von Raum und Zeit verwiesen, die sich im Ereignis unmittelbar offenbart. Schließlich: Um das Möglich-Werden solcher Ereignisse zu ermöglichen, nehmen viele Vereine finanzielle Risiken in Kauf und organisieren mitunter Veranstaltungen, bei denen aufgrund ihrer künstlerischen Ausrichtung von Anfang an unsicher ist, ob sie kostenneutral durchgeführt werden können – von Gewinn ganz zu schweigen. Natürlich sind diesbezügliche Ansprüche, wonach „Geld keine Rolle“ (Oliver) spielen sollte, vor dem Hintergrund zu bewerten, dass viele Akteure ein Einkommen aus Nebentätigkeiten beziehen und damit ihre Existenz nicht allein aus ihrem kulturellen Schaffen bestreiten müssen. Dessen ungeachtet ermöglicht die Finanzierung durch private Eigeneinlagen eine Unabhängigkeit, die durch öffentliche Subventionen nicht gegeben wäre und die aus Sicht der Akteure als „Stärke“ interpretiert wird, der zufolge sie, fern von den Richtlinien anderer Instanzen, das machen können, was sie wollen (5.2.6).
4. Praxis verlangt Kohärenz Die vorangestellten Dimensionen zeigen ein Verständnis von Praxis als immanentem Schaffen, das einen nahezu unpersönlichen Entfaltungsprozess entwirft. Es scheint zumindest so, als käme es mehr darauf an, was sich tut, als darauf, was die Akteure tun. In der Tat lassen sich praxisrelevante Vorgänge und Ereignisse meist nur in einer Form beschreiben, die weniger auf konkrete Personen denn auf bestimmte Konstellationen verweist. Sie bekräftigen einmal mehr einen Begriff des Subjekts, der dieses nicht als autonome und in sich geschlossene Einheit auffasst, sondern als Bündelung von Kräften, die sich in unterschiedlichen Gefügen aktualisieren und realisieren (Rose 1996). Dennoch sollte das nicht heißen, dass die Prozesse der Entfaltung und Subjektivierung von Praxis
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völlig beliebig ablaufen. Im Gegenteil: Gerade immanente Praxis verlangt, will sie sich nicht selbst verhindern, ein hohes Maß an Verantwortung auf Seiten der Akteure. Aufgrund ihrer unaufhörlichen Selbstbegründung kann diese Praxis nie zu einem definitiven Ende kommen, zu einer programmatischen Schließung oder dauerhaften Etablierung innerhalb eines gesellschaftlichen Handlungsfeldes. Das bedeutet zugleich, dass die Akteure nur die Bedingungen ihrer Möglichkeit aufrechterhalten, sie aber nie ein für allemal realisieren können. Sie müssen sich die Wege und Räume ihres Handelns immer von Neuem schaffen, die Möglichkeiten und Kanalisierungen, die Ereignisse und Aktualisierungen. Bleiben sie dabei, um es salopp zu sagen, auf der Strecke, dann laufen sie Gefahr, ihr eigenes Schaffen zu institutionalisieren und zu zementieren; laufen Gefahr, sich die Gelegenheiten und Fluchtlinien ihrer schöpferischen Kraft tendenziell zu verbauen. Praxis setzt sich dann nicht mehr selbst in Gang und geht auch nicht mehr auf in offenen Ereignissen, sondern dient mehr und mehr der Erhaltung einer etablierten Struktur, geht ein in bewährte Mechanismen und Routinen und bestimmt die Bereiche des Möglichen und Realisierbaren. Neben dieser Verantwortung, die der Praxis geschuldet ist, gibt es aber auch eine solche, die die Akteure sich selbst schulden. So wie immanente Praxis immer wieder auf sich selbst verweist, bedarf es auch eines verantwortungsvollen Selbstbezugs der Subjekte, um das, was sie geschaffen haben, weiterführen, zerstören oder neu entfalten zu können. Anders gesagt: Praxis ohne die Dimension der Zeit, ohne Vergangenheit und Zukunft, wäre keine Praxis mehr, sondern bloße und beliebige Willkür. Sebastian: Durch die Tatsache, dass wir wollen und dass wir machen, haben wir uns – um das jetzt ganz esoterisch zu sagen – ein Karma geschaffen. (…) Es gibt im Moment nur eine Bahn, die wir gehen können. Wir können nicht einfach sagen, wir lassen’s jetzt. Wir können nicht sagen, wir machen genau dasselbe. Wir haben Bahnen von Möglichkeiten, die sich durch unsere bisherige Arbeit und unsere bisherige Positionierung ergeben haben.
Immanente Praxis entfaltet sich also sowohl entlang der Kohärenz eines Handlungsmodus als auch entlang der Kohärenz der schaffenden Subjekte (2.4.2). Weder gibt sie vor, was die Akteure tun, noch, wer sie sind. Vielmehr erklärt sich aus ihr, warum überhaupt etwas getan wird.
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154 5.2.2 Der Wert der Praxis
Also man überlegt jetzt schon viel mehr, ob man was macht oder ob man es nicht macht. Ein Akteur (Erwin) über die Entfaltung seiner Praxis.
So wie es kein äußeres Kriterium für die Notwendigkeit immanenten Schaffens gibt, so existiert auch keine Norm dafür, was gute oder schlechte, bedeutsame oder belanglose Praxis ist. Anders gesagt: Die Qualität der Arbeit bemisst sich nicht nach allgemeinen Maßstäben, sondern nach den besonderen Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Entfaltung. Eine wesentliche Dimension dieser Bedingungen steckt in der Kategorie der Kohärenz: Praxis findet dann statt, wenn und solange die Akteure dahinter stehen können, wenn sie also ein Verhältnis zu ihrer Arbeit einnehmen, das eine konstitutive Beziehung zu ihrem Selbstverständnis artikuliert. Aus diesem Bezug leitet sich ein Begriff ab, der immer wieder den Praxishorizont der Akteure absteckt: es ist der Begriff der Haltung. David: Ja, und was bei uns besonders jetzt irgendwie ist [im Gegensatz, M.V.] zu den Vereinen, wo ich zum Beispiel früher war – dass wir halt zu 100 Prozent nur Sachen machen, wo wir wirklich dahinter stehen. Das heißt, wir machen jetzt nicht irgendwas, damit irgendwas passiert. Sondern wir möchten das mit Qualität machen.
Wir haben die Haltung bereits zuvor als Aktualisierung der als Virtualität zu denkenden Kohärenz bestimmt, welche im Verhalten einer Person zum Ausdruck kommt oder mit der eine Handlung ausgeführt wird (2.4.2). Nun gilt es, diese Kategorie zu spezifizieren, insofern die Haltung mehrere Dimensionen impliziert, die jenes konstitutive Verhältnis von Subjekt und Praxis beschreiben, das bei Fragen nach der Qualität und den Kriterien guter Arbeit zum Tragen kommt. (1) Zum einen zeigt sich, dass aus der Praxis erwachsende Qualitätsansprüche ein kollektiver Aushandlungsprozess sind. (2) Zum zweiten bestimmen sich aus diesem Aushandlungsprozess solche Kriterien und Prioritäten, die das Handeln in einen Professionalisierungsanspruch aufgehen lassen. (3) Ein drittes Moment zielt schließlich auf das Wechselverhältnis von Freiheit und Selbstverpflichtung, das aus einer spezifischen Haltung erwächst.
1. Qualität als kollektivierender Effekt Die Qualität der Praxis bestimmt sich aus ihren kollektiven Bezügen, sie ist eine soziale Konstruktion. Es wäre unmöglich für die Akteure, ihre Arbeit aus sich heraus als gut zu erfahren, ohne dass dabei Momente der Wiederholung, Ab-
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grenzung oder Bestätigung wirksam würden. Dabei sind im Wesentlichen zwei Formen von Kollektivität beteiligt: die eine beschreibt das engere und weitere Praxisgefüge der Akteure, die andere hingegen jene Menschen und jenes „Publikum“, die außerhalb davon stehen. Beginnen wir mit Letzteren: Kritik und Urteil von Außenstehenden können insofern ein konstitutives Qualitätskriterium sein, als die meisten Akteure ihre Arbeit als kritischen Dialog mit der Öffentlichkeit begreifen. Das erklärt sich zum einen aus ihrem zeitgenössischen Kulturverständnis, wonach kulturelles Schaffen immer auch eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen einbezieht (4.2.1). Zum anderen zeigt es sich an der Haltung, die dem Publikum – der konkreten Öffentlichkeit – entgegengebracht wird. Nicht nur, dass die Akteure viel Wert auf die Resonanzen des Publikums legen, sondern auch, dass sie darin überhaupt erst eine – oft nachträgliche – Sinnentfaltung ihrer Praxis erfahren. Beide Momente zeugen von einem respektvollen Zugang auf das Publikum, der diesem eine integrale Rolle in der Praxisentfaltung zuspricht, anstatt es durch Konfrontation auf Distanz zu halten (6.2.2). Durch diesen verbindenden Zugang kann sich ein kollektiver Bewusstseinshorizont konstituieren, an dem alle Beteiligten partizipieren, ohne dass sie dieselben Ansichten, Meinungen oder Positionen vertreten müssten (Bohm 1996). Eine zweite, unmittelbarere Bezugsebene für die Bestimmung von Qualität sind Kulturschaffende unter sich. Die Kontakte, die sich unter Musikern, Technikern, Designern oder Filmemachern ergeben; gleichfalls die Form und Intensität, in der solche Kontakte gepflegt werden; aber auch mögliche Folgeprojekte, gegenseitige Einladungen und Besuche, positive Rückmeldungen von Agenturen („booker“) oder wiederkehrende Auftritte – all das können Indizien sein für die Akteure. Indizien nicht nur für die Qualität ihrer Arbeit, sondern auch für deren Professionalität. So lässt sich etwa an der Qualität von persönlichen Netzwerken der Grad der Professionalisierung ablesen. Sebastian: Ich hab zum Beispiel oft Acts, die kosten 2000, 3000 Euro – und das ist völlig unfinanzierbar. Und da läuft’s dann so: Die wissen, was der Matthias und ich für eine Arbeit machen, die haben ein Konzert in München und sagen: Okay, jetzt fahren wir zu denen, weil die sind cool, und machen halt nicht 2000, sondern so ein bisschen. Das ist alles eine Vernetzung und eine Kommunikation, die man sich erarbeiten muss – eine Glaubwürdigkeit, die man sich schaffen muss. Und man kann auch, wenn man diesen Arbeitsweg geht, nie davon ausgehen, dass man irgendwas davon hat. Es ist nur momentan gerade so, es läuft ein bisschen, man hat ein bisschen Anerkennung, man hat Besucher, ein bisschen Taschengeld bleibt übrig.
Qualität und Professionalität sind keine der Praxis inhärenten Merkmale, sondern sie beweisen sich im Laufe ihres Vollzugs anhand unterschiedlicher und unter-
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schiedlich bewerteter Kriterien. So stellt etwa der ökonomische Erfolg einer Veranstaltung noch kein ausreichendes Kriterium für deren Qualität dar, hingegen die soziale Anerkennung in bestimmten Praxisgefügen sehr wohl. Und ebenso wenig sagt die Quantität des Publikums etwas über den Wert und die Wertschätzung eines Ereignisses.72 Zielgruppen und Quoten, Verkaufszahlen und Reinerlöse, Gagen und Bekanntheitsgrade – solche und ähnliche Faktoren mögen jeweils und unter Umständen von Belang für die Praxis sein, sie können aber nicht als allgemeine Kausalrelationen für deren Qualität herangezogen werden. Sie stellen lediglich Effekte dar, äußerliche Maßstäbe, die für den Schaffensprozess, wenn überhaupt, nur sekundäre Bedeutung haben. Hinzu kommt die grundsätzliche Problematik diverser Messgrößen für Qualität, die das Nicht-Messbare durch spezifische Kategorien erst einmal messbar machen und schließlich entsprechende Techniken, Methoden und Instrumente dafür entwickeln müssen. Jedoch sind es nicht nur äußerliche, objektive Maßstäbe, die für die Erklärung von Qualitätsbezügen zu kurz greifen. Dasselbe gilt indes für innerliche, subjektive Ansprüche. Das, was Bedeutung für die Akteure hat, ihre Wertschätzungen und Neigungen, kann noch nicht mit dem gleichgesetzt werden, was Qualität ausmacht. Zunächst nämlich stellen solche Wertschätzungen auf einer persönlichen Ebene nichts anderes dar als eine Frage von Geschmacksurteilen. Erst wenn sie in einem kollektiven Bezugsrahmen Bedeutung erlangen sollten, werden sie zu einer Frage von Qualität – und damit Gegenstand eines Aushandlungsprozesses, in dem Erfahrungs-, Erlebens- und Wahrnehmungshorizonte wechselseitig ausgetauscht werden. Ob es dabei zu einem gemeinsamen Einverständnis, zumindest aber gegenseitigen Verständnis kommt, hängt nicht zuletzt von der Bereitschaft ab, sich auf kollektiv generierte Sinn- und Praxishorizonte einzulassen. Anders gesagt: Qualität im Sinne einer kollektiv geteilten Bedeutungsebene geht über individuelle Geschmacksfragen hinaus. Objektivistische wie individualistische Erklärungsansätze können nicht erfassen, dass Qualität in Praxis weder in abstrakten Indikatoren noch in persönlichen Vorlieben aufgeht, sondern als wechselseitiger Aushandlungsprozess konstituiert wird. Sehen wir uns solche Aushandlungsprozesse an einem konkreten Beispiel an: Ein Verein der p.m.k veranstaltet Musik, die nach Ansicht einiger Akteure nicht vereinbar ist mit der Ausrichtung der p.m.k, zumindest aber als „umstritten“ gilt. Ein Vorstandsmitglied berichtet:
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Viele Akteure ziehen ein „überschaubares“ Publikum einer „Massenveranstaltung“ vor, weil dabei persönlichere Formen von Interaktion möglich sind. Das heißt nicht, dass sie sich nicht ein zahlreiches Publikum wünschen – allerdings nicht um jeden Preis. Der Preis, das ist in solchen Fällen meist ein subjektiv empfundener Mindestanspruch an sozialem Austausch.
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Sebastian: Wir haben etwas, das ist sehr umstritten, alle zwei Monate einmal von einem Verein (…). Der macht immer so Fördersachen für die sehr aktive westösterreichische harte Gitarrenszene. (…) Und das ist halt überhaupt nicht Meins. Und die machen so ein Ding, das heißt das „Gothing“ oder so. Das bewegt sich so auf – ja, das ist so ein Mittelding zwischen einer Party mit stupider Gothic-tranceScheißmusik, das sag ich jetzt so, und einfach dieser interessanten bürgerlichutopischen Gothic-Subkultur. Das heißt, es ist an und für sich eine interessante Schnittstelle. Und wo ich das erste Mal einen CD-Mitschnitt gehört hab – „He Jungs, das läuft nicht, weil das ist nichts anderes als Maskenball mit Goa-trance.“ Das ist zum Beispiel was, wo ich wirklich gesagt hab, wenn das so bleiben würde, würden wir als Vorstand einschreiten müssen. Weil das ist nicht die Ausrichtung von der p.m.k. Entwickelt hat sich’s dann so: Wir haben ganz privat einmal – ich bin mit dem relativ gut befreundet – hab ich gesagt: Du, das hab ich jetzt ein bisschen schwierig gefunden. (…) Und dann hat halt sein Kellner seine Lieblings-CDs aufgelegt und das war’s. Und inzwischen kommen irgendwelche Industrial-Bands aus London und so weiter und so fort. Und das kann sich ganz gut entwickeln. (…) Aber wie man in dem Beispiel auch gesehen hat, da gibt’s dann kein VorstandsOverrulen, da gibt’s dann – ich komme bei ihm in seinem Lokal – die haben ein Lokal da draußen (…) – vorbei und sage: „Du, jetzt hab ich mir die CD angehört, das hab ich ein bisschen komisch gefunden“ – und einmal darüber reden. Weil wir diese autoritäre kompetent- oder nicht-kompetent-Einteilung nicht haben wollen. Und es ist in jedem Fall so gewesen, dass wenn solche Sachen waren, das dann eigentlich eh nichts war. Und dass dann alles sich im Grunde eh immer gut entwickelt hat.
Dieses Beispiel offenbart mehrere interessante Aspekte: Zum einen zeigt es deutlich, dass die unterschiedlichen Auffassungen über die Qualität der Musik über individuelle Geschmacksfragen hinausgehen. Dass etwas „überhaupt nicht Meins“ ist, heißt noch nicht, dass es schlecht ist oder keine Berechtigung hätte. Im Gegenteil, als „an und für sich interessante Schnittstelle“ wird der Musik eine potentielle Relevanz auf einer kollektiven Ebene zugesprochen. Zum zweiten zeigt der Auszug, dass mit der Qualität der Musik auch die Ausrichtung der p.m.k Gegenstand eines Aushandlungsprozesses werden kann – denn auch hierfür gibt es keine festgelegten Bestimmungskriterien. Wo und wann lenkt der Vorstand ein? Wie lassen sich inhaltliche Differenzen diskutieren? Was kann das Ziel einer Aushandlung sein? Offenbar, soviel kann im konkreten Fall gesagt werden, geht es dabei nicht um eine gänzliche (Auf-)Lösung von Differenzen, sondern vielmehr um deren Artikulation. Am (vorläufigen) Ende gibt es daher weder Bevormundung noch Überredung oder einen Kompromiss als Ergebnis, sondern eine Aussprache. Aus ihr geht schließlich eine Übereinkunft hervor, der wenn auch nicht jeder der Akteure unbedingt gerne vorstehen mag, hinter der
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aber jeder mehr oder weniger stehen kann.73 Kurz: Qualität wird ausverhandelt, ohne die Heterogenität einzuebnen. Zum dritten kommt in dem konkreten Fall der nicht unwesentliche Aspekt der Freundschaft hinzu, der einen respektvollen Umgang und ein wechselseitiges Einlassen auf die jeweiligen Bedeutungshorizonte wenn auch nicht garantiert, so doch erheblich erleichtert. All diese Aspekte verweisen auf eine Dialogsituation, in der es weniger darum geht, eigene Standpunkte durchzusetzen, als gemeinsame Verstehenshorizonte zu etablieren. „The object of a dialogue is not to analyze things, or to win an argument, or to exchange opinions. Rather, it is to suspend your opinions and to look at the opinions – to listen to everybody’s opinions, to suspend them, and to see what all that means. If we can see what all of our opinions mean, then we are sharing a common content, even if we don’t agree entirely. It may turn out that the opinions are not really very important – they are all assumptions. And if we can see them all, we may then move more creatively in a different direction. We can just simply share the appreciation of the meanings; and out of this whole thing, truth emerges unannounced – not that we have chosen it.“ (Bohm 1996: 26)
Durch den gemeinsamen Verstehenshorizont kann ein Kollektiv Kohärenz erlangen, ohne dass eine vordefinierte Agenda existieren würde. Gerade der Aspekt einer freundschaftlichen Atmosphäre deutet dabei an, dass es auch verschiedene Eigendynamiken geben kann, die Einfluss auf den kollektiven Aushandlungsprozess von Qualität haben. Je mehr sich etwa die Akteure innerhalb eines Kollektivs einig sind über das, was sie machen, desto mehr Energie und Leidenschaft investieren sie in darin. Oder: Je mehr Interaktion zwischen Künstlern und Publikum stattfindet, desto mehr kann ein Konzert zu einem gelungenen Ereignis werden. Und je mehr Stammpublikum ein Veranstalter für sich erarbeiten kann, desto mehr darf er auf eine positive Grundstimmung hoffen. Natürlich, solche Zusammenhänge stellen nie zwingende Kausalitäten dar, sie sagen auch nichts aus über Qualität in einem objektiven Sinn. Jedoch machen sie es wahrscheinlich, dass sich dabei die Auffassungen der Beteiligten über das, was gut ist oder bedeutsam, mehr entgegenkommen als dass sie auseinanderdriften.
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Welche Machtbeziehungen hinter solchen Übereinkünften zum Vorschein kommen, behandeln wir weiter unten anhand der Entscheidungsprozesse im Beirat (6.1.3).
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2. Praxis als fortlaufende Professionalisierung Der beständige Aushandlungsprozess über Gehalt und Relevanz des Schaffens hat nicht nur konstitutive Bedeutung für die Qualität der Arbeit, sondern auch für die damit einhergehende Qualifizierung der Akteure. Und ähnlich wie bei der Qualität entfalten sich auch die Ansprüche und Maßstäbe von Professionalität aus kollektiven Praxisbezügen. Unter den meisten Akteuren gibt es explizit einen sehr hohen Professionalisierungsanspruch, der in der Qualität der Arbeit das entscheidende Kriterium des eigenen Handelns ansetzt. David: Also wir nehmen uns selber eigentlich nicht ernst. Aber das, was wir machen, nehmen wir schon ernst.
Was aber macht Professionalität aus? Woran bewerten Akteure, dass eine Arbeit gut und gut gemacht ist? Zunächst gilt auch hier: Der Begriff der „Professionalität“ verweist auf keine objektiv erkennbare Eigenschaft, die einem Individuum oder einem Kollektiv inhärent wäre. Stattdessen handelt es sich um eine soziale Konstruktion, die aus unterschiedlichen Bezügen Form annimmt und deren Bedeutung je nach Kontextgebundenheit verhandelt oder konserviert wird. Traditionelle Konzeptionen erörtern Professionalität im Wesentlichen über vier Dimensionen (vgl. Altrichter & Gorbach 1993): Zum einen über ein spezifisches Wissen, das für einen Beruf erforderlich ist; zum zweiten über eine professionsbezogene Ethik, die auf die Normen eines Berufsbildes verweist; zum dritten über ein relatives Handlungsmonopol, das die Abhängigkeit eines Berufes zu anderen Funktionen und Qualifikationen anzeigt; zum vierten über spezifische Privilegien, die den Berufstätigen in ihrer Profession zukommen. Ein solches traditionelles, „technisch-rationales“ Verständnis von Professionalität setzt eine Handlungstheorie voraus, in der qualifiziertes professionelles Handeln auf spezifischem Wissen beruht und hierarchisch-funktionale Handlungsautonomie beansprucht (ebd.: 81). Bezogen auf den Kultursektor greifen solche Konzeptionen allerdings nicht. Abgesehen von ihrer epistemologischen und methodologischen Heuristik, die zu hinterfragen wäre, ist es allein schon aufgrund der zunehmenden Ausdifferenzierung des Tätigkeitsfeldes im Kultursektor wenig sinnvoll, von einer homogenen „Berufsgemeinschaft“ zu sprechen (3.2.1). Zudem macht es die spartenübergreifende Arbeitsteilung unmöglich, Wissen, Ethik, Privilegien, Status, Handlungsautonomie und Handlungsmonopol eindeutig festzulegen und einzelnen Tätigkeitsfeldern zuzuordnen. So gehört es etwa zur Besonderheit des kulturellen Schaffens, dass sich Professionalität hier noch nicht darin erschöpft, die entsprechenden technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu beherrschen (vgl. Zembylas 2004: 262). Ein DJ mag das notwendige know-how und die er-
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forderliche Ausstattung besitzen, sie machen seine Arbeit aber noch nicht zwingend professionell. Matthias: Weil heute ist es ja eben so, es kann zwar jeder Musik machen daheim, es gibt ganz viel Software, es gibt leistbare Synthesizer und so. Man kann alles machen. Aber um es professionell klingen zu lassen, braucht man wieder einen Toningenieur, den man dann zahlen müsste. Weil es kann jemand ein irrsinnig kreativer Mensch sein, aber wenn er diese Handwerker nicht hat unter Anführungszeichen, sprich Toningenieure, die sagen, da muss man die Höhen so machen, die Tiefen so und diese Spur muss man doppelt machen – ganz kompliziert. Wenn man das nicht hat, dann kann man nichts machen. Dann kann man nichts Professionelles bringen.
Professionalität erschließt sich im Kultursektor also weder aus der deskriptiven Beschreibung von Berufsidentitäten noch aus der Zuschreibung von Kreativität und individuellem Talent. Vielmehr kommt sie erst in der kollektiven Praxis zur Entfaltung. Das kann zum einen eine unmittelbare, empirische Form von Angewiesenheit implizieren, die durch notwendige Arbeitsteilung erfüllt wird (6.1.1). Es kann aber auch eine tiefer liegende, ontologische Angewiesenheit bedeuten, die ein Praxisgefüge als Bezugssystem braucht, um eigene Ansprüche überhaupt entwickeln zu können. Viele Akteure erfahren erst aus ihrer Eingebundenheit in das Kollektiv die Notwendigkeit bestimmter Erfordernisse und Qualitäten, die dann wiederum auf ihr eigenes Arbeitsverständnis zurückwirken. Verlässlichkeit und Verbindlichkeit, Disziplinierung und Zielgerichtetheit, Lernbereitschaft und Kompromissfähigkeit, Engagement und Entgegenkommen, Artikulationsfähigkeit und Entschlusskraft, Respekt und Vertrauen – unter diesen Begriffen lassen sich die immer wieder genannten Aspekte einordnen, die aus Sicht der Akteure ihre Praxis zu einer professionellen machen. Die jeweiligen Aneignungen erfolgen im Sinne komplexer Konnexionsprinzipien74 und verweisen auf eine Eigendynamik des Praxisgefüges, der zufolge im kollektiven Schaffensprozess laufend eine Professionalisierung stattfindet. Adi: Ich denke halt, dass gerade die Leute, die in dem Feld arbeiten, immer professioneller werden. Das hat einerseits mit der p.m.k zu tun, aber auch mit anderen Sachen. Aber schon durch die p.m.k sind schon sicher alle – ich meine die, die halt regelmäßig dort was machen, eindeutig professioneller geworden in ihrem Arbeiten.
Ein Effekt dieser kollektiv konstituierten Professionalität ist eine wesentlich konkretere In-Bezug-Setzung der eigenen Person, eine bessere Einschätzung des 74
Später werden wir diese Konnexionsprinzipien als Praktiken des Einbringens und Rausziehens vorstellen (5.3.2).
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eigenen Vermögens, als es einem auf sich gestellten Individuum möglich wäre. Durch regelmäßiges Aushandeln, Konfrontieren, Vergleichen und Kooperieren wächst das Wissen der Akteure um ihr Eigenes (5.3.4), um das also, was in ihrer Macht und in ihrem Ermessen steht. So antwortet etwa die Geschäftsführerin der p.m.k auf die Frage, ob sie nicht auch selbst einmal auf der Bühne stehen wolle: Ursula: Nein, also auf diese Idee wäre ich jetzt mein Leben noch nie gekommen, ehrlich gesagt. Eine Band zu gründen oder selber zu malen. Früher hab ich einmal ein bisschen – nein. Nein, da bin ich auch zu viel Profi irgendwie, dass ich sehe, was es braucht.
Zu wissen, was man kann und „was es braucht“, setzt die Fähigkeit voraus, sich nicht nur zu anderen, sondern auch zu sich selbst in Bezug zu setzen. Es bedeutet, die eigenen Grenzen zu kennen und sie konsequent einzuhalten, indem man sich auf das konzentriert, was das Eigene ist. Diese Selbsteinschätzung kann sich auch als kollektive Zuschreibung artikulieren und damit auf einen Praxismodus verweisen, der ein eingespieltes Team charakterisiert. David: Wir schauen, dass wir unsere Arbeit möglichst professionell machen. Wie gesagt, einige von uns machen das schon seit zehn Jahren. Das heißt, wir wissen einfach, was zum Teil geht. Wir würden jetzt nicht irgendwas machen, wo wir wissen, das würde sich nie im Leben ausgehen.
Natürlich erwächst Professionalität nicht nur aus selbstbezogenem Erfahrungswissen, sondern auch aus spezifischem Fachwissen, das die Relation zu anderen Akteuren regelt und typische Rollenbilder – Freaks, Insider oder Leute, die was drauf haben – generiert. Die Akteure beanspruchen in ihrem Bereich einen Expertenstatus, der auf einer fundierten inhaltlichen Kompetenz basiert und es Außenstehenden schwer macht, sich auf gleicher Höhe einzubringen oder generell mitreden zu können. Georg: (…) bei vielen Sachen – das geht ja ziemlich in die Tiefe. Durch das, dass die ganzen Veranstalter in ihrem Bereich ziemliche Freaks eigentlich sind (…). Weil die können dann sagen, wo die Band herkommt, mit wem sie schon alles zusammengearbeitet hat, welche Stile die einfach mitgeprägt haben. Das muss man einfach auch teilweise wissen, sonst kann man in der Argumentation nicht mehr mitkommen, wenn’s um die Wichtigkeit oder Wertigkeit einer Band innerhalb von einer Szene geht. Um das geht’s ja dann auch oft.
Was schließlich sind die Effekte von Professionalität? Auch hierfür gibt es, wie bei der Bewertung von Qualität, keine vorgefertigten Schablonen. Professionelles Handeln geht darin auf, dass etwas Konstruktives oder Relevantes, Spannen-
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des oder Interessantes, Lustiges, Witziges oder Amüsantes dabei herauskommt. So vielfältig die Bezeichnungen dafür sind, so sehr kommen sich die Akteure mehrheitlich darin überein, dass sie mit ihrer professionellen Arbeitsweise etwas schaffen wollen, das sie nicht nur momentan befriedigt, sondern im besten Falle auch weiterbringt.
3. Freiheit und Selbstverpflichtung Wir haben einen Begriff von immanenter Praxis erarbeitet, in dem die Notwendigkeit zum Handeln einem inneren Begehren entspringt (5.2.1). Diesen Aspekt wollen wir hier noch einmal aufgreifen und unter dem Gesichtspunkt der Qualität des Handelns betrachten. Erübrigt sich, so ließe sich zunächst einwenden, die Frage nach der Qualität nicht von selbst, sobald sich Praxis ungefragt vollzieht? Hat es Sinn, nach Gehalt und Relevanz des Handelns zu fragen, wenn gerade diese Relevanz außer Frage steht? Diese Fragen führen uns einmal mehr zum Begriff der Immanenz. Gewiss, immanente Praxis vollzieht sich notwendig und unabhängig davon, welcher „Preis“ dafür zu bezahlen ist. Die Akteure nehmen finanzielle Risiken und Unsicherheit in Kauf; sie wissen oft nicht, ob sich der Zeit- und Energieaufwand für laufende Projekte „lohnt“; sozialrechtlich haben sie meist einen sehr prekären Status und arbeiten unter schwierigen materiellen Voraussetzungen; die politischen und gesellschaftlichen Kontextbedingungen bringen ihrer Arbeit häufig mehr Widerstand als Möglichkeiten entgegen (5.1); und schließlich ist auch das Publikum nicht immer ein dankbares – ebenso wie sich die sozialen Vernetzungsmöglichkeiten häufig als unbefriedigend und entmutigend darstellen. Dennoch, die Praxis setzt sich trotz aller Spannungen und Gegenkräfte durch und wird gerade aufgrund dieser Unbeirrbarkeit gutgeheißen. Sebastian: Es ist kein Harakiri-Geschäft mehr. Reich werden tut man nicht davon. Man wird auch nicht einmal nicht arm. Aber es ist völlig egal, weil das ist etwas, wo ich das Gefühl hab, dass es passieren muss. Und ich hab das Glück, etwas machen zu können, was passieren muss – und deswegen passiert’s. Das ist eigentlich alles – ganz simpel.
Andererseits aber bedeutet die Notwendigkeit immanenter Praxis noch nicht, dass jede Form von Praxis zugleich auch notwendig ist. Etwas zu tun, nur damit etwas getan wird, begründet noch keine ausreichende Relevanz. Fehlt dem Handeln das Begehren, die innere Dringlichkeit, dann droht es, beliebig zu werden oder aber in rein äußerlichen Bestimmungen aufzugehen. Letzteres wäre der Fall, wenn die Gründe des Handelns von außen herangetragen werden, etwa durch Pflichten, Normen, Zwänge, Bevormundung oder Gewalt. Dabei muss das Au-
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ßen nicht schon immer gleichbedeutend sein mit einer physischen Grenzziehung, sondern kann auch innerhalb des Subjekts einen Subjektivierungsmodus darstellen. Unterschiedliche Formen der Selbstführung und Selbstdisziplinierung (Bröckling 2007) können mitunter eine Subjektkonstitution begründen, in der äußere Verhältnisse verinnerlicht und zu eigen gemacht werden, ohne dass ihnen ein innerer Antrieb entsprechen würde. Das Subjekt nimmt sodann ein Verhältnis zu sich ein, in dem es sein Handeln danach ausrichtet, was es tun sollte und nicht danach, was es womöglich tun könnte oder wollte. Anders gesagt: Das Subjekt agiert, als wäre es bei sich selbst angestellt, es regiert sich ohne die Möglichkeit einer Fluchtlinie (2.4.2). So ist denn auch der gleichfalls von innen wie von außen generierte Leistungsdruck des Irgendetwas-Tun-Müssens zu erklären, der nicht zuletzt bei „Kreativen“ oder Kulturschaffenden aufgrund ihrer unterreglementierten Arbeitsformen oft zur Regel wird. Umso mehr kann dagegen ein Austreten aus diesen Konstitutionsverhältnissen als ein Akt des Freiräumens empfunden werden, durch den sich das Handlungssubjekt jeglicher vorgefertigter Handlungslogik entzieht (5.2.7). Der so geschaffene Handlungsfreiraum ist schließlich nicht nur als Abwesenheit von konkreten Bestimmungen, sondern zugleich als eine neue Qualität des Handelns zu begreifen. Milan: Und wenn wir einmal keine Projekte haben, dann passiert auch einmal gar nichts. Das gehört für mich auch zur Definition von Freiraum dazu, dass nicht was passieren muss, sondern dass was passieren darf. Und dass eben genau dieses – zum Beispiel auch das Projekt, wo wir einmal unser Pop-Video gedreht haben – das ist eigentlich genau aus dem Beschluss, überhaupt nichts zu tun, heraus gekommen. Wo wir auch einmal auf diesen Kongress gefahren sind mit der fixen Einstellung, wir machen jetzt eine Woche Urlaub und schauen uns bloß die Sachen an. Und aus dem sich-komplett-Zurückziehen von „ich mach irgendwas“ und allen sich eigentlich sonst mitgegebenen Verpflichtungen für so einen Kongress – nachdem wir uns da zurückgezogen haben, ist eigentlich am meisten passiert. Also es geht sehr viel auch darum, Punkte zu finden, wo man Dinge, die eigentlich implizit einen gewissen Druck ausüben – dass man diese Dinge explizit ausschaltet.
Wenn Freiraum einen Ort bezeichnet, an dem sowohl das Tun als auch das Nichtstun, das Gelingen wie das Nicht-Gelingen stattfinden, zumindest aber möglich sind, dann kommt diesem Ort als Handlungsraum eine eigene Qualität zu (5.2.6). Der Begriff des Handlungsfreiraums erlaubt uns daher, die Kategorien Praxis, Freiheit und Qualität zusammenzudenken, insofern Handeln ohne Handlungsdruck bereits einen Wert für sich darstellt. Fassen wir kurz zusammen: Wir haben gezeigt, dass immanente Praxis mit einem konstitutiven Verständnis von Qualität, Professionalität und Freiheit einhergeht, dessen unterschiedlichen Dimensionen in einer je spezifischen Haltung
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zum Ausdruck kommen. Eine Haltung zeigt sich in der Art und Weise, in der Akteure die Bedeutung ihres Handelns bemessen; sie zeigt sich in dem, was sie gut und wichtig finden; aber auch in dem Verhältnis, das sie zu sich selbst einnehmen. So kann es etwa als Zeichen einer offenen Haltung gesehen werden, wenn sich Akteure in ihrer Praxis immer wieder einen hohen Grad an Unbestimmtheit, Unentschiedenheit und Unsicherheit zugestehen. Zugleich ist aber zu betonen, dass eine Haltung als Aktualisierung von Kohärenz niemals in ihrer Unmittelbarkeit aufgeht, sie geht sozusagen immer über das hinaus, was sich offenkundig zeigt. Das erfordert, eine Dimension von Zeitlichkeit einzuführen, durch die wir erst die Richtungen und Linien, Entwicklungen und Brüche nachvollziehen können, aus denen heraus Akteure eine bestimmte Haltung einnehmen. Es erfordert, mit anderen Worten, danach zu fragen, was es heißt, seinen eigenen Weg zu gehen.
5.2.3
Der Prozess der Praxis Der Rest hat sich dann einfach – eben – so ergeben. Ein Akteur (Georg) über den „Hergang der Dinge“.
Die Kategorie der Haltung wäre eine bloße Momentaufnahme, wenn sie nur jenen Standpunkt beschriebe, den Akteure zu einem konkreten Zeitpunkt gegenüber ihrem Handeln einnehmen. Wenig wäre dann darüber gesagt, wie diese Haltung zustande gekommen ist, wofür sie steht und aus welchen impliziten Bezugsrahmen sie ihre Handlungsprämissen generiert. Welche Entscheidungen und Prägungen aus der Vergangenheit haben eine Haltung Form annehmen lassen? Welche Vorsätze und Aussichten bestimmen sie über die Gegenwart hinaus? Wie stark bindet eine Haltung, wodurch sind Veränderungen ablesbar? Und in welchem Verhältnis stehen Subjekte zu ihrer Haltung? Es geht hier, wie bereits zuvor erwähnt (5.2.2), nicht um konkrete Fragen des persönlichen Geschmacks, sondern um die allgemeine Ebene der Kohärenz des Handelns. Dafür ist es notwendig, eine Dimension von Zeitlichkeit einzuführen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als unablässig einwirkende Handlungshintergründe begreift, ohne daraus eine determinierende Dramaturgie abzuleiten. Auf eine kryptische Formel gebracht: Zeit wirkt immer, sie lässt aber auch immer wirken. Schatzki (2006: 1868) hat mit dem Begriff des „praxiologischen Gedächtnisses“ eine solche Zeitlinie benannt, die all jene Erfahrungen, Aneignungen und Erlebnisse umfasst, welche für die Praxis prägend sind. Neben dem kognitiven und dem autobiographischen Gedächtnis wird damit auf einer handlungsbezogenen Ebene auf die Kontinuität des Vergangenen in der Gegenwart hingewiesen,
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wobei nicht nur identitätsstiftende, sondern auch praxiskonstitutive Momente zum Tragen kommen. Die Haltung kann dabei durchaus als übergreifende Kategorie verstanden werden, die sowohl autobiographische wie praxiologische und kognitive Dimensionen in sich vereint, ohne diese ein für allemal in ihrer Bedeutung zu zementieren. Sie ist Ausdruck dessen, was Akteure tun, denken und erleben, gleichzeitig aber auch ein strukturierender Modus dafür, wie sie es tun, denken und erleben. Die Haltung gibt also Aufschluss nicht nur über den Lebensweg eines Menschen, sondern auch über die Art und Weise, wie er dabei (vor)geht. Was heißt es nun im vorliegenden Fall, wenn Akteure ihren eigenen Weg gehen? (1) Zum einen werden wir sehen, dass sich der Weg aus der Praxis ergibt – und nicht umgekehrt, dass die Praxis einem vorgezeichneten Weg folgt. (2) Zum zweiten ist nach den unterschiedlichen Formen des „Gehens“ zu fragen – ob jemand etwa einzelne Schritte bewusst setzt oder aber eher zufällig in etwas hineingerät. (3) Schließlich lassen sich aus der Wegmetapher einige unmittelbare Rückschlüsse auf die wechselseitige Entfaltung von Praxis und Identität ziehen, insofern es sich hier wie da um Prozesse des Herauskristallisierens handelt.
1. Der Weg ergibt sich aus der Praxis Ein Charakteristikum immanenter Praxis liegt darin, keinem äußeren Plan zu folgen. Die Richtungen, die Akteure mit ihrem Handeln einschlagen, ergeben sich aus inneren Antrieben, sie bleiben folglich unvorhersehbar. Ob jemand immer dasselbe macht oder aber immer etwas Anderes, sagt noch nichts über den Praxismodus aus, sondern lediglich etwas über die unterschiedlichen Effekte. Paul: Ja, mir gefällt das, ich tu das gern. Ich hab das nicht immer schon gemacht und ich weiß auch nicht, ob ich das immer machen werde. Aber es ist gut.
Die Akteure folgen also keinem selbstauferlegten Credo, wonach sie entweder Kontinuität oder aber Veränderung als Lebensregel, als Wert an sich zu befolgen hätten. Das eine oder das andere passiert aus Notwendigkeit, nicht aber aus Prinzip. Umgekehrt ist das Befolgen der inneren Antriebe und Leidenschaften keineswegs ein transparenter Prozess, vielmehr stellt es eine ständige Suche dar nach dem, was zutrifft und was nicht. Camilla: Naja, das ist das Einzige, was mir Spaß macht. Ich würde nicht wissen, was für einen Job ich mir suchen soll, weil mich keiner wirklich interessieren würde. (…) Ich weiß ja gar nicht genau – ich weiß, was ich nicht machen will. Und wenn man dann alles ausschließt und wenn man weiß, was man eigentlich gerade gern
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Anstatt im Vorhinein zu wissen, was sie machen wollen, müssen die Akteure überhaupt erst einmal erfahren, was sie nicht wollen.75 Es wäre denn auch kein affektives Begehren, wenn es von Anfang an einer kognitiven Reflexion folgen würde anstatt einer sinnlichen Erfahrung.76 Der Weg ergibt sich also mitunter negativ: Er eröffnet keine sichtbare Strecke, die zu gehen wäre, sondern lediglich Prüfsteine, die ausschließen, was nicht gangbar ist. Die Suche nach dem, was zutrifft, stellt deshalb kein unverbindliches oder beliebiges Unterfangen dar, sondern das konsequente Verfolgen des eigenen, letztlich jedoch ungewissen Lebenslaufes. Den eigenen Lebenslauf zu verfolgen heißt somit nichts anderes, als dass aus der konkreten Praxis heraus ein Weg entsteht: Möglichkeiten eröffnen sich, mitunter Ziele; Zu- und Abneigungen verschieben oder verstärken sich; Interessen bilden sich klarer heraus, womöglich auch Identitäten und Prioritäten… kurz: Dreh- und Angelpunkte tun sich auf, Entscheidungen werden getroffen, Dinge nehmen ihren Lauf.77 Und was, so könnte man fragen, ist dann der eigene Weg? Die einfache Antwort darauf: Der ist immer schon da gewesen. Alles, was ein Mensch in seinem Leben tut, denkt und erlebt, kerbt sich in diesen Weg ein, mehr noch, es konstituiert ihn stets von Neuem. Manches hinterlässt dabei tiefe Eindrücke, anderes wiederum bleibt nur vorübergehend an der Oberfläche. Was jedoch wie, wo, wann und wodurch Bedeutung erlangt, lässt sich letztlich schwer vorhersagen. Theoretisch kann alles bedeutsam oder bedeutungslos werden, selbst das Nicht-Handeln kann als eine Form des Handelns Wirkung zeigen. So unmöglich es ist, sich den Bedeutungen zu entziehen, so sehr ist es jedoch erst 75 76
77
Natürlich stellt auch Erfahrungswissen eine Form des Wissens dar, allerdings ist es nicht in kognitiver und reflexiver, sondern in praktischer, impliziter oder situativer Weise angelegt. Umgekehrt stellt das reflexive Praxiswissen darüber, was es braucht, gerade einen zentralen Aspekt des Professionalisierungsanspruches dar (5.2.2). Da sich dieser Anspruch nicht aus individuellen Affekten, sondern aus kollektiven Praxisbezügen und Aushandlungsprozessen entwickelt, kommt dem reflexiven Wissen dabei eine tragende Rolle zu. Damit ist eine ähnliche Entfaltungslogik gegeben, wie sie Kleist „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist 1989) beschreibt. Kleist zeigt, dass oft erst im Aussprechen Klarheit über das entsteht, was gesagt werden will; erst im Reden nehmen Ideen Gestalt an. Dementsprechend ist es nicht ein bereits vorgedachtes Wissen, das wir sprechend ausdrücken, sondern ein situativ generiertes Wissen, das sich in uns ausdrückt. „Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß“ (ebd.: 540). Hier sehen wir erneut jene unpersönliche Entfaltungslogik, die wir bereits als Charakteristikum immanenter Praxis benannt haben (5.2.1). Denn so wie beim Reden nicht immer wir es sind, die denken, sondern es, das in uns denkt, so sind es, bezogen auf unseren Lebensweg, nicht immer wir, die den Lauf der Dinge bestimmen, sondern die Dinge, die ihren Lauf nehmen.
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der praktische Vollzug, der sie ins Leben ruft. Erst mit dem Handeln entstehen die Ein- und Ausschlüsse, Linien und Brüche, Anziehungen und Entfernungen, die das Charakteristische eines eigenen Weges ausmachen. Der Weg selbst gibt daher noch keine Praxis vor, vielmehr ist es umgekehrt: er geht aus ihr hervor.
2. Verschiedene Formen des Gehens Wir halten weiterhin an der Metapher des Lebensweges fest, weil sich an den unterschiedlichen Formen des „Gehens“ anschaulich zeigen lässt, wie Entscheidungen zustande kommen, Ziele gesetzt und Aussichten eröffnet werden. Eine zentrale Kategorie ist dabei das, was wir in Folge das zufällige Hineingeraten nennen wollen. Paul: Meine Motivation war, ich bin da hereingefallen quasi.
Das zufällige Hineingeraten steht für eine unberechenbare Gelegenheit, in der eine nicht weiter absehbare Möglichkeit Relevanz bekommt für das eigene Handeln. Der entsprechende Modus des Gehens ist eine offene und ungesteuerte Bewegung, die nicht zielorientiert erfolgt – weil kein klares Ziel vorhanden ist. Allerdings ist es auch nicht notwendig ein zielloses Herumwandern. Die Akteure werden sich im Verlauf des Gehens durchaus bewusst, in welche Richtungen es sie zieht; ob sie etwas angeht oder nicht; wofür sie sich begeistern und interessieren und was sie, andererseits, ausschließen können, wollen oder müssen. Das zufällige Hineingeraten steht daher symptomatisch für eine Form von Subjektivität, deren Identität unabgeschlossen bleibt und die ungeahnte Möglichkeiten der Entfaltung in sich offen hält. Es ist eine Machtform der Selbstführung, die, anstatt sich festzulegen, stets für neue Räume des Werdens zugänglich bleibt. Leon: Bin da so reingerutscht und war dann Teil des Vereins, als Verein Teil der p.m.k, und da hat das Eine das Andere ergeben.
Ähnlich wie bereits bei immanenter Praxis folgt auch hier der Entfaltungsprozess einer nahezu unpersönlichen Logik, da der Antrieb der Bewegung weniger von einer steuernden Instanz als vielmehr vom konkreten Handeln selbst ausgeht. Nicht ein autonomes und intentionales Subjekt entscheidet über den Verlauf, stattdessen ist es ein kontinuierlicher Prozess des Werdens, in dem „actions, happenings, and relational configurations emerge, come together, coalesce and then take on stabilized appearances“ (Chia 1994: 802). Anstatt einen Schritt nach dem anderen zu setzen, wie es der Vorstellung eines souveränen, rational agierenden Subjekts zukommen würde, ergeben sich nach dieser Logik viele – wenn
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natürlich auch nicht alle – Schritte von selbst. Zwei kurze autobiographische Beispiele sollten dies veranschaulichen: Zum einen der Werdegang des Haustechnikers der p.m.k, Frank: Frank war vor seiner Zeit bei der p.m.k bei einer Verleihfirma für Veranstaltungstechnik beschäftigt. Musik hatte schon immer eine zentrale Bedeutung in seiner Arbeit gespielt, aber auch, wie er sagt, generell in seinem „ganzen Leben“. Irgendwann hilft Frank spontan bei einem Konzert von Freunden als Techniker aus – es ist seine erste Erfahrung in dieser Funktion. Kurz vor Gründung der p.m.k ruft ihn Christoph an, ein Gründungsmitglied der p.m.k, und fragt ihn, ob er „da Lust hätte, die Technik im Griff zu behalten“. Frank und Christoph kannten einander bis dahin eher flüchtig aus einigen Begegnungen in der lokalen Szene. Frank sagt kurz entschlossen „Ja“. Also wurde er Techniker der p.m.k. Diese Rolle war für ihn wohl ebenso ungeplant wie für die p.m.k. Denn im Zuge deren Gründung fiel zwar schnell eine Position an, die erfüllt werden musste – jemand, der „da Lust hätte, die Technik im Griff zu behalten“ (Frank) –, aber weder gab es dafür eine vorgesehene Person noch ein klar beschriebenes Aufgabenprofil. Das zweite Beispiel ist der Lebenslauf der Geschäftsführerin der p.m.k, Ursula: Obwohl sie aus einer anderen Szene kommt wie die restlichen Akteure und sie die meisten Menschen im Milieu des p.m.k-Umfelds anfangs noch gar nicht kannte, hat Ursula von Beginn an eine tragende Rolle für die Gründung und Entfaltung der p.m.k gespielt. Als ausgebildete Juristin hatte sie im Laufe ihres Arbeitslebens mitunter leitende Tätigkeiten im Bereich der bildenden Kunst inne, kommt also aus Arbeitsfeldern, deren sozialen Kreise nicht unmittelbar Übereinstimmung mit jenen anderer p.m.k-Akteure aufweisen; zudem stammt sie aus einer anderen Generation. Diese Kontraste lassen erahnen, wie wenig geplant diese Tätigkeit für Ursula war, deren ganze Biographie einen schillernden, abwechslungsreichen Verlauf aufweist. Mögen solche Kontraste für Außenstehende ein bizarres Bild ergeben – eine Juristin als Geschäftsführerin in der freischaffenden Szene! –, nach innen zeigen sie indes, dass das Gefüge trotz und manchmal gar wegen der irreduziblen Heterogenität seiner Akteure funktioniert (6.1.3). Die beiden Beispiele demonstrieren, dass die Bewegungen des zufälligen Hineingeratens weder gänzlich selbst- noch ausnahmslos fremdbestimmt sind. Vielmehr tun sich jeweils spezifische Konstellationen und Dimensionen auf, an deren Entstehung und Entwicklung die Akteure in ambivalenter Weise sowohl beteiligt als auch nicht beteiligt sind. Einerseits ist ihr Gehen kein gleichbleibendes Fortschreiten, andererseits hat aber auch ihr Weg keine unabhängige Existenz. Denn der Weg ergibt sich erst, indem er gegangen wird. Oder anders (und sehr phänomenologisch): Erst mit ihrem konstitutiven Eingehen können Mensch und Weg ineinander aufgehen.
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Neben dem zufälligen Hineingeraten besteht ein anderer Modus des Gehens im vorsätzlichen Verfolgen eines Weges. Akteure beschließen mit Absicht, einer eingeschlagenen Bahn zu folgen, zumindest aber einzelne Schritte darin zu setzen. Die bewusste Entscheidung impliziert eine Prioritätensetzung, ein Abwägen unterschiedlicher Perspektiven, somit also auch die Freiheit und Möglichkeit einer Wahl. Sebastian: Und das ist sicher schon ein Halbtagsjob, wenn man das als Job betrachtet. Aber wie schon gesagt, so darf man nie denken. Wenn man in Wochenstunden denkt, verdiene ich nämlich im Schnitt zwei Euro die Stunde. Aber ich hab eben beschlossen, diesen Weg zu gehen, nur Literatur und Musik. Und das ist halt ein Weg.
Bezeichnend an dieser Textsequenz ist auch, dass der Akteur seine Tätigkeit gerade nicht als Job betrachtet und demnach kalkulieren würde – eine solche Kategorisierung liegt anscheinend außerhalb seines Praxis- und Selbstverständnisses. Überhaupt sind Identitätszuschreibungen nur von marginaler Bedeutung, wenn es für Akteure darum geht, die Gründe anzugeben, warum sie sich für einen Weg entschieden haben. Sie setzen keine Identität voraus, aus der heraus sie ihr Handeln und ihr Selbstbild verstehen, sondern definieren sich umgekehrt über das, was sie tun – egal ob es in eine vorgegebene Schablone passt oder nicht. Hieraus lässt sich erneut ableiten: Sowenig die Praxis aus dem Weg hervorgeht, sowenig geht sie aus definierten Identitätskategorien hervor. Das eine wie das andere, Weg und Identität, ergeben sich aus dem konkreten Handeln. I: Siehst Du Dich selbst als Kulturarbeiter? Oder als Künstler? Sebastian: Ich mach einfach. Eines der Grundprobleme der Kulturszene ist, dass es Leute gibt, die sich als Künstler sehen anstatt dass sie Künstler werden. Und ich wollte das ja nie werden. Ich hab das einfach nur gemacht. Ich wollte nie DJ werden. Also ich hab nie gesagt: Wenn ich groß bin, werd ich einmal DJ. Ich hab das auch mit 18 nie gesagt. Wo ich 24, 25 war, da war so diese große Drum ’n’ BassRevolution, was wirklich einmal ein unglaublicher Innovationsschub war. (...) Dann hab ich irgendwann einmal meine Platten genommen und bin in die Alpha-Bar, hat das damals geheißen, zu dem Chef hin gegangen und hab gesagt: Lass mich heut Abend spielen. Und das hat ihnen so gut gefallen, dass ich immer den Alternative First Day gemacht hab in der Alpha-Bar. Und das war teilweise nicht einfach, weil das war ein wilder Schuppen. (...) Und da bin ich dann einfach durch und plötzlich hab ich angefangen, bookings zu kriegen. Und dann war das plötzlich mein Weg. Das hat sich eigentlich von ganz allein entwickelt.
An diesem Auszug erkennen wir mitunter eine Ambivalenz, die nur auf den ersten Blick als unvereinbarer Widerspruch erscheint. Derselbe Akteur, der zu-
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vor noch angibt, seinen Weg beschlossen zu haben, gibt in einer anderen Sequenz zu, der Weg hätte sich plötzlich und eigentlich von ganz allein entwickelt. Hier kommt eine Differenz zum Tragen, die in den meisten Biographien wirksam wird: die Unterscheidung zwischen bewusster und geplanter Entscheidung. Dass ein Weg bewusst beschlossen wird heißt noch nicht, dass er von Anfang an geplant war. Vielmehr entfaltet sich der Weg ohne Plan, er wird aber in seinem Verlauf durch bewusste Entscheidungen dirigiert, korrigiert und realisiert. Der letzte Modus des Gehens, den wir hervorheben wollen, ist gleichsam eine übergreifende Kategorie, verweist er doch auf die soziale Abhängigkeit aller Formen von Bewegung. Es handelt sich um das Mitgehen, das die Entfaltung der eigenen Gangart in Relation zu kollektiven Bezügen beschreibt. Der eigene Weg ist nie gänzlich unabhängig von den Wegen anderer; seinen individuellen Weg zu gehen heißt sehr oft und ohne dass es ein Widerspruch wäre, ihn miteinander zu gehen. Unter den Akteuren der p.m.k herrscht ein reges Austauschen und Informieren, Angleichen und Korrigieren – Bewegungen, die nicht selten zum Übereinkommen führen, oft aber einfach auch nur ein kollektives Wissen darüber vergegenwärtigen, wo jeder Einzelne „gerade umgeht“. Georg: Also der Austausch über die Musik ist enorm wichtig. Und allein über das – wenn man viel über das redet, wenn man sich gegenseitig einfach – mal blöd gesagt, allein schon, wenn man sich Sound gegenseitig zuschickt, was einem momentan am Herzen liegt, dann weiß man schon wieder, wo der andere gerade umgeht. Und da kann man dann unter Umständen was draus machen.
Wir können daher sagen, dass Akteure auf ihren Wegen nur bedingt unabhängig bleiben. Vielmehr ergeben sich ihre Bewegungen meist in kollektiven Zusammenhängen, durch die auch ihr Schaffen nicht mehr auf einzelne, isolierbare Linien zurückgeführt werden kann (5.3.3). Abschließend sei betont, dass die hier besprochenen Modi des Gehens nur selten als Widerspruch auftreten, selbst wenn sie, wie das offene im Verhältnis zum vorsätzlichen Vorgehen, unmittelbar als solcher erscheinen mögen. Im Gegenteil – oftmals sind die einzelnen Modi sogar wechselseitig konstitutiv. Bewusste Entscheidungen können manchmal erst dann getroffen werden, nachdem man sich offen in einem Feld bewegt hat, in das man wiederum womöglich nur zufällig hineingeraten ist. Innerhalb dieses Oszillierens zwischen zufälligem und vorsätzlichem Gehen tritt die Frage des Kompromisses hervor. Welche Kompromisse sind Akteure bereit, einzugehen? Wir haben bereits weiter oben von der Notwendigkeit immanenter Praxis gesprochen, die manche Akteure einen hohen Grad an Unsicherheit und Ungewissheit in Kauf nehmen lässt (5.2.2). Dieses InKauf-Nehmen bezieht sich allerdings fasst ausschließlich auf materiellsymbolische Kategorien wie Einkommen, Status und Eigentum:
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Sebastian: Ich muss natürlich private Kompromisse machen. Also ich könnte mir nicht vorstellen, in meiner Situation eine Familie zu haben oder mir eine 750 EuroEigentumswohnung zu leisten. Das ist ein Risiko, das ich nicht eingehen kann. Das sind die Kompromisse, aber das nehme ich in Kauf. Aber inhaltlich nehme ich keine Kompromisse in Kauf. Aber das ist – mei, man kann nicht alles geschenkt haben, das ist schon in Ordnung.
Es wäre also eine übertriebene Heroisierung, die Akteure als radikale Grenzgänger darzustellen, die stets und andauernd einen kompromisslosen Weg gehen. Denn selbst wenn die Praxis unter der Prämisse von kompromissloser Qualität steht – Lebensstil und Lebensweise tun es keinesfalls. Vielmehr spiegelt sich darin eine Zurücknahme äußerer Ansprüche wider, die sowohl auf materieller wie auf symbolischer Ebene Zugeständnisse einräumt (5.2.4, 5.2.5). Kompromisslosigkeit erweist sich daher nur selten als ganzheitliches Lebenskonzept, sondern tritt immer wieder als praxisabhängige Haltung in Erscheinung.
3. Werden als Prozess des Herauskristallisierens Die Beschreibungen des eigenen Weges und der unterschiedlichen Bewegungen, ihn zu gehen, erlauben Rückschlüsse auf den Prozess des Werdens, so wie er in der Praxis erfahren wird. Egal ob es dabei um die Intentionen, Motivationen, Ziele und Wertvorstellungen der Akteure geht oder aber um die Funktionen, Aufgaben, Abläufe und Arbeitsteilungen innerhalb des Praxiskollektivs – sowohl die individuelle Haltung als auch die kollektive Organisationsform nehmen ihre Gestalt an durch Entfaltungsprozesse, die sich mit der Kategorie des Herauskristallisierens charakterisieren lassen. Diese grundlegende, vielleicht sogar zentrale Praxis-Kategorie umfasst mehrere Dimensionen, die nicht unabhängig voneinander auftreten: Zum einen entfaltet sich Praxis als kontinuierlicher Prozess und weist weder einen deklarierten Anfang noch ein vorgegebenes Ende auf. Ähnliches gilt für die Interessen und Präferenzen der Akteure, die, wenn auch durch zunehmende Prägung gefestigt, so doch für sich wandelbar und unabgeschlossen bleiben. Zum anderen sind die Entfaltungsprozesse der Praxis oftmals unvorhersehbar und unplanbar. Die Akteure agieren mit einer Offenheit, mitunter gar Unerschrockenheit, durch die sie Dinge auf sich zukommen lassen, teilweise auch dezidiert ohne Plan arbeiten. Darin zeigt sich nicht nur die Unabsehbarkeit virtueller Möglichkeiten, die aus immanenter Praxis entspringen (5.3.3), sondern auch die Unvorhersehbarkeit ihrer relationalen und kausalen Verkettungen. Gerade letzteres wird durch phrasenhafte Redewendungen wie „das Eine ergibt das Andere“ (wobei zu Beginn des Prozesses oft nicht einmal das Eine feststeht)
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oder „etwas bietet sich an“ (etwa in Form spontaner Gelegenheiten) wiederkehrend hervorgehoben. Erwin: Und das mit dem Plattenlabel hat sich auch aus dem herauskristallisiert, dass wir halt Bands machen, die uns 100-prozentig gefallen. Die sind aber großteils noch unbekannt, haben großteils keine Releases. Und da hat es sich einfach angeboten. (…) Wenn eine Band von Amerika dann einmal tourt in Europa, dann bietet sich’s ab und zu an, dass man einfach in dem Zuge, während der Tour, einfach eine Single macht. Dass die während der Tour eine Single haben zum Verkaufen. Wenn sie dann in Innsbruck vorbeischauen, ist es einfach eine Release-Party.
Im Herauskristallisieren kommt das Eigene aus immanenten Kräften zur Entfaltung, ohne dass es bereits im Vorhinein absehbar wäre. Gleichzeitig wird der Prozess auch durch eine ungeahnte Vielfalt an äußeren Kräften und Einflüssen strukturiert, die sich ergeben oder anbieten. Individuelle Haltung und kollektive Praxis gewinnen daher im Prozess des Werdens an Klarheit und Bedeutung, allerdings nicht im Sinne einer monadischen Ausgestaltung, sondern als übergreifende Formwerdung. Vieles, was rückblickend als intentionale Handlung gelesen werden kann – etwa könnte das obige Zitat interpretiert werden als eine strategische Mission, Unbekanntes hervorzubringen (6.3.1) –, ist im Grunde nur der Effekt, der sich aus den virtuellen Möglichkeiten immanenter Praxis herauskristallisiert hat. Oder, wie bereits im Eingangszitat dieses Kapitels festgehalten, es ist der Rest, der sich dann einfach so ergeben hat. Was lässt sich, zusammenfassend, über die Kategorie der Haltung sagen? Die Haltung ist der Effekt des Weges, den die Akteure durch unterschiedliche Formen des Gehens einschlagen, der sich aber auch aus ihrer Praxis heraus ergibt. Der Lebensweg ist daher nicht immer ein persönlicher Werdegang, sondern oft einfach auch nur ein Hergang der Dinge. Die Haltung ist dabei eine Kristallisationsform vergangener und gegenwärtiger Erfahrungen ebenso wie der darauf aufbauenden, nach vorne gerichteten Perspektiven. Damit ist allerdings keine ein für allemal feststehende Gussform von Subjektivität bezeichnet, sondern vielmehr der Bezug der Akteure zu ihrem jeweils über Denken, Handeln und Erleben erfahrbaren Werden.
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5.2.4 Die Effekte der Praxis Das war das erste Mal, wo ich gedacht habe, aha, wir schaffen Kultur. Ein Akteur (Oliver) kommentiert seinen Bezug zu dem, was er macht.
Die Art und Weise, in der Menschen ihren Weg gehen, hat uns gezeigt, dass Identität und Praxis wechselseitig konstitutiv sind. Das Verhältnis von Selbst und Praxis drückt sich in einer spezifischen Haltung aus, die darlegt, wie Akteure zu ihrem Tun, Denken und Erleben stehen. Dabei kommen unterschiedliche Relationen zum Vorschein, je nach dem, ob Handelnde voll hinter ihrer Praxis stehen, ob sie dabei etwas mittragen oder unterstützen, ob sie sich verbunden fühlen oder angewiesen, oder auch, um ein letztes Beispiel zu nennen, ob sie etwas offen lassen oder sich festlegen. Wir können deshalb sagen, dass der Bezug zur Praxis einerseits stets von Neuem konstituiert, andererseits durch eine integre Haltung nachhaltig konserviert wird. In welcher Form und mit welcher Regelmäßigkeit sich dieses Verhältnis artikuliert, hängt von den „Subjektivierungsweisen“ ab, durch die Individuen ihre Lebenswelt wahrnehmen und erfahren. Mit Foucault haben wir den Prozess der Subjektivierung bereits weiter oben (2.4.2) beschrieben als die „Art und Weise, wie das Individuum sich als moralisches Subjekt seiner Verhaltensweisen“ hervorbringt und gleichzeitig jene Anstrengungen vollzieht, „um in der Wendung auf sich das zu finden, was es ihm erlaubt, sich Regeln zu unterwerfen und seiner Existenz Ziele zu geben“ (Foucault 1986b: 129). Es ist dies ein unaufhörlicher Faltungsprozess, der bei Foucault selbst mitunter bis an die Grenzen der Selbstauflösung geht, wenn er sich von einer intellektuellen Neugierde getrieben sieht, „die es gestattet, sich von sich selber zu lösen“ (Foucault 1986a: 15).78 Dabei werden die für die Subjektivierung konstitutiven Dimensionen des Innen und Außen nicht als hermetische Grenzbereiche gedacht, sondern als Schichten und Territorien, Gefüge und Linien, deren Kräfteverhältnisse sich wechselseitig affizieren und formieren. „Das Außen ist keine erstarrte Grenze, sondern eine bewegliche Materie, belebt von peristaltischen Bewegungen, von Falten und Faltungen, die ein Innen bilden: nicht etwas anderes als das Außen, sondern genau das Innen des Außen“ (Deleuze 1992: 135). Damit ist das Konzept der Falte angesprochen – „Subjektivierung vollzieht sich durch Faltung“ (ebd.: 146) –, das Deleuze an mehreren Faltungen
78
„Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist“ (Foucault 1986a: 15).
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der Subjektivierung darlegt.79 Subjektivität ist folglich als Umschlagplatz innerhalb der unerschöpflichen Faltungsprozesse zu denken, die das Individuum in ein Subjekt transformieren.80 Aus diesem Verständnis heraus ist der Prozess der Subjektivierung als interaktiver Effekt zu begreifen, der sich aus unterschiedlichen diskursiven Praktiken ergibt (Bergström & Knights 2006).81 Darin zeigt sich, wie Individuen äußere Verhältnisse subjektivieren und sie sodann selbstbezüglich entfalten. Aus dem empirischen Material geht hervor, dass die Akteure der p.m.k in ihren Biographien und Lebensstilen oftmals, anstatt konkrete Formen der Subjektivierung zu verfolgen, kontingenten Fluchtlinien der Desubjektivierung nachgehen. „This experience is constituted in the space between historically specific discourses and practices of goveming that delimit and circumscribe the field of possible action and the space of freedom, which lies always within and in-between them. The subject of experience is also the subject of the line of flight, which is a becoming rather than a being.“ (Weiskopf 2007: 150)
In der Linie der Desubjektivierung liegt ein Moment der Freiheit, das den Prozess des Werdens offenhält. So versuchen Akteure etwa, der Identifizierung mit festen Selbst- und Berufsbildern zu entgehen, indem sie codierte Zuschreibungen durch nonkonforme oder subversive Praktiken untergraben. Weder sich selbst noch das, was sie tun, begreifen sie als abgeschlossene Einheit. Wir zeigen in Folge einige konkrete Linien und Praktiken dieser Desubjektivierung auf.
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Die erste Falte betrifft „den materiellen Teil unserer selbst“; die zweite die „Kräfteverhältnisse im engeren Sinne“, die dritte ist „die Falte des Wissens oder die Falte der Wahrheit“; die vierte schließlich ist „die Falte des Außen selbst“ (Deleuze 1992: 146). Für den Begriff der Subjektivierung ist aus soziologischer Sicht auch das Konzept des Habitus bei Bourdieu relevant. Als vermittelnde Instanz zwischen Struktur und Praxis ist der Habitus ein „System der organisierten oder mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1991: 40). Allerdings weist die Habituskonzeption (zumindest in Bourdieus frühen Schriften) eine stark deterministische Dimension auf, die eine starre Verortung der handelnden Akteure in eine gesellschaftliche Struktur vorgibt und deren wechselseitige Strukturierung (Giddens 1997) nicht berücksichtigt. Dabei lege ich ein sehr breites Diskursverständnis zugrunde, wonach eine Unterscheidung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken aus epistemologischer Sicht keine Relevanz hat, da selbst das – wie auch immer definierte – Nicht-Diskursive erst über diskursive Praktiken sichtbar und vermittelbar wird (vgl. Laclau & Mouffe 1995).
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1. Der Entzug von Festschreibungen Entgegen einer traditionellen Subjektivierungsform als „Künstler“ verstehen sich die Akteure aus dem heraus, was sie tun und was folglich ihren Lebensweg ausmacht. Ein Zitat, das wir bereits an anderer Stelle (5.2.3) ausführlicher herangezogen haben: Sebastian: Ich mach einfach. Eines der Grundprobleme der Kulturszene ist, dass es Leute gibt, die sich als Künstler sehen anstatt dass sie Künstler werden. Und ich wollte das ja nie werden. Ich hab das einfach nur gemacht.
Wenn kein explizites Selbst- oder Fremdbild angestrebt wird, vielmehr und allein die Praxis die Bedeutung ausmacht, dann haben Zuordnungen und Kategorisierungen allenfalls eine retrospektive Funktion der Sinngebung (Weick 1995). Dies gilt sowohl für das Selbstverständnis der Akteure als auch für die Verortung ihrer Praxis in einem größeren sozio-ökonomischen Berufsfeld, letztlich aber auch für ihre Positionierung innerhalb eines umfassenden gesellschaftlichen Diskurses. Ob das, was sie machen, „Kultur“ ist oder nicht, spielt für einzelne Akteure ebenso wenig eine Rolle wie die Zuordnung zu normativen Klassifikationen. Zitieren wir dazu einen Akteur, der in einem Filmverein mitwirkt: I: Gibt’s für euch so eine Unterscheidung alternative Kultur/freie Kultur und Hochkultur auf der anderen Seite? Ist die wichtig in eurem Arbeiten? Oliver: Ich glaube, wir haben uns noch nie mit dieser Frage beschäftigt. Ich weiß, 82 dass wir ein Teil der freien Kulturszene sind – wegen dem Plakat. (Lachen) Wir hätten uns nie als Kulturschaffende selber betrachtet. I: Einfach als Filmproduzenten? Oliver: Nein – das war nie die Absicht. Das war das erste Mal, wo ich gedacht habe, aha, wir schaffen Kultur. I: Wie wäre denn euer Selbstbild gewesen? Oliver: Ja – und wir schauen, dass – eben, das ist die eine Ebene, eben selber Filme machen und auf verschiedene Festivals schicken, in verschiedene Länder. Und dann gibt’s die Plattform, wo wir wirklich nur schauen, dass Leute uns Filme geben und 82
Bezug genommen wird hier auf ein Plakat, das die übergreifende Plattform bættlegroup for art im Jahr 2006 entworfen hat, auf dem alle Kulturschaffenden der „freien Kulturszene“ Innsbrucks namentlich genannt sind (4.2.1).
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Interessant ist, dass der zitierte Akteur selbst auf die explizite Frage nach dem Selbstbild nichts über eine Identität sagt, sondern nur, was die Mitglieder des Vereins machen. Dieser Entzug von gesellschaftlich etablierten Etiketten kann als Versuch interpretiert werden, sich in seinem Schaffen weder auf einen konkreten Inhalt festlegen zu wollen noch – von außen – auf eine essentialistische Substanz reduzieren zu lassen (Alvesson & Willmott 2002). Die Fluchtlinie der Desubjektivierung entkommt damit der strukturellen Einteilung des Praxisfeldes in Sektoren und Berufsbilder, gerade weil die praktische Ausrichtung der Akteure danach strebt, sich nirgendwo reinzustellen. Damit ist zugleich eine Bewegung der Deterritorialisierung angegeben, die allerdings nicht den Exodus aus dem Territorium bedeutet, sondern bloß den Entzug von dessen codierenden Logik. „Weit davon entfernt, sich außerhalb des gesellschaftlichen Feldes zu verlaufen oder herauszuführen, bilden die Fluchtlinien sein Rhizom oder seine Kartographie“ (Deleuze 1996: 25). Folglich sind Fluchtlinien „nicht zwangsläufig revolutionär“ (ebd.), sondern affektive Modi der Faltung und Entfaltung von Subjektivität. So wie Praxis nur in einem Kollektiv zu denken ist, so bedarf auch dieser Entzug von Festschreibungen einer relationalen Verknüpfung mit anderen Kräften und Akteuren, aus der heraus komplexe – und damit auch nicht mehr eindeutig definierbare – Zusammenhänge entstehen. Ein solcher konkreter Zusammenhang ist allein durch die demographischen Bedingungen der Kleinstadt Innsbruck gegeben, der in hohem Ausmaß integrative Milieubildungen und intensive Interaktionen unter Gleichgesinnten zulässt und damit eine Potenzierung von grenzüberschreitenden Austauschaktivitäten ermöglicht (5.1.1). Anders gesagt: Je mehr interaktive Vernetzung, desto hybrider gestaltet sich die Praxis. Leon: Wie gesagt, man hat einen regen Austausch mit Leuten, die man vielleicht in einem Großstadtzusammenhang nicht so finden würde. Und das ist für mich schon ein großes Plus der Stadt und lässt sich einfach gut verbinden mit dem, wie ich das Ganze sehe. Und zwar so, dass ich mich schwer irgendwo reinstellen kann in irgendeine Richtung.
Eine weitere Desubjektivierungslinie besteht in der bewussten Verweigerung einer starken Identität zugunsten der Praxis. Wenn Akteure sich selbst nicht ernst oder wichtig nehmen und sie ihre diskursiv konstruierte Rolle ironisieren, wenn sie sich nicht in den Vordergrund stellen und ihre eigene Person so weit wie möglich im Unklaren halten wollen, dann sind das Formen eines Selbstbezugs, in denen das Handeln zum Generator von multiplen Identitäten wird, die für sich
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genommen keine bestimmte Geltungsposition beanspruchen. Alvesson & Willmott (2002) folgend, können wir solche Praktiken als Mikro-Emanzipation begreifen, die sich vorgezeichneten Mustern der Identitätsregulation entzieht: „The struggle to forge and sustain a sense of self-identity is shaped by multiple images and ideals of ways of being“ (ebd.: 637). Ohne fixe Identität als strategischem Ausgangspunkt des Handelns versetzen sich die Akteure in die Lage, unterschiedliche Handlungsoptionen offenzuhalten, während sie gleichzeitig von außen herangetragene Handlungsimperative oder vermeintliche Erwartungshaltungen begrenzen. Damit ist nicht so sehr die Praxis einer Beliebigkeit preisgegeben, vielmehr sind es die im Praxisfeld vorgezeichneten Identitätsmuster, die von ihrer Normativität entkoppelt und im Gegenzug aktiv konstruiert, transformiert oder dekonstruiert werden: „people are continuously engaged in forming, repairing, maintaining, strengthening or revising the constructions that are productive of a precarious sense of coherence and distinctiveness“ (ebd.: 626). Deshalb enthält das aktive Gestalten von Selbstbildern immer auch eine ethischästhetische Dimension, verlangt es doch das kreative Umschreiben vorgegebener Rollen ebenso wie Distanz und Offenheit im Selbstbezug: „Conscious identity work is thus grounded in at least a minimal amount of self-doubt and selfopenness“ (ebd.). Zitieren wir dazu einen p.m.k-Veranstalter über sein eigenes Rollenverständnis: David: Das ist ja so eine Veranstalterkrankheit, dass man sich selber so wichtig nimmt. Ja, wir machen das und deswegen musst Du ja kommen, weil wir das machen. Es ist total – das ist eine Krankheit, dass man meint, man muss sich mit Kreativität – dass man sich die Kreativität der Band, die man veranstaltet, selber auf die Fahnen schreibt und meint, man ist jetzt so toll, weil man jetzt so eine Band gemacht hat. Das ist es nicht. (…) Wir sind nicht die Wichtigen.
Diese Taktik der Desubjektivierung kann so weit gehen, dass Akteure gar nicht erst kontrollieren wollen, wie sie nach außen hin wahrgenommen werden. Weil jeder Versuch einer Selbstpräsentation mit dem Risiko der Überstilisierung und Fehlinterpretation behaftet bleibt, soll das Selbst – möglichst ohne eigenes Zutun – in das offene Spiel der Interpretationen eingelassen werden. David: Es soll alles menschlich rüberkommen, nicht so aufgesetzt irgendwie. Weil oft ist es so, wenn man nach außen hin sich total gibt, statisch irgendwie – eigentlich ist man ja gar nicht so. Man gibt ja nur ein Trugbild von sich nach außen hin. Wir versuchen das gar nicht zu beschreiben, sondern lassen es einfach – ich lege halt mehr Wert darauf, dass die Leute uns so kennen lernen, wie wir sind (…). Am besten ist natürlich, wenn andere Leute über uns reden, wie wir sind. (…) Und alles andere, was man so von sich selber nach außen hin gibt, das ist einfach gekünstelt ir-
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gendwie. Und davon hab ich einfach total die Schnauze voll, weil von dem gibt’s total viel. Und das finde ich nicht unbedingt ehrlich. Man weiß es eben nicht.
Gewiss, der nahezu selbstlose Umgang mit dem eigenen Selbst impliziert nicht selten ein Bemühen nach Authentizität und Aufrichtigkeit, die mit jeder bewusst gesteuerten Vorstellung der eigenen Person verklärt zu werden drohen. Auch mögen darin romantische Sehnsüchte nach Ehrlichkeit und Einfachheit liegen, die die Möglichkeit eines unmittelbaren „Übersetzungsprozesses“, einer reinen Kommunikation ohne Rauschen (2.3.2), suggerieren. Doch so problematisch Kategorien wie Authentizität und Aufrichtigkeit aus einer epistemologischen wie ontologischen Perspektive auch sind (vgl. Boltanski & Chiapello 2006: 473ff.), so klar zeigt sich darin wieder nur der Versuch, sich einer festen Subjektposition zu entziehen zugunsten dessen, was aus der Praxis hervorgeht.
2. Desubjektivierung durch Vielfalt Eine andere Kategorie von Praktiken, durch die bestimmte (Vor-)Bilder von Identität delegitimiert werden sollten, ergibt sich aus der schieren Vielfalt der empirischen Tätigkeitsfelder. Adi: Also ich bin bei der TKI im Vorstand, ich bin bei der p.m.k im Vorstand, ich hab unseren Verein gegründet und bin dadurch Obmann. Ich schreib für den Zwanz’ger [eine Innsbrucker Stadtzeitung, M.V.]. Ich mach immer wieder mal zusammen mit FM4 [ein bundesweiter Jugendradiosender, M.V.]. Ich arbeite bei so einem neuen Medienprojekt jetzt mit, das es geben wird. Ich arbeite in der Soundstation, in dem Plattenladen… Ja, da war noch mehr, aber ich vergesse das immer.
Das Verweigern einer homogenen Zuschreibung von Identität ist die Konsequenz aus der Fülle und Verschiedenartigkeit von Tätigkeitsfeldern, die einzelne Akteure ausüben. Damit sind die Handelnden auf einer soziologischen Ebene paradigmatische Vertreter der Projektgesellschaft (Boltanski & Chiapello 2006), gleichzeitig stehen sie symptomatisch für ein Verständnis von Arbeit, in dem man sich nicht (mehr) auf eine einzige Sache oder Tätigkeit festlegen möchte. Dass dabei immer wieder unterschiedliche Subjektivierungen stattfinden, die einander ergänzen oder aber untergraben, ist nicht nur strukturell bedingt, sondern in vielen Fällen auch individuell erwünscht. „What is different now is that work experience is more decoupled from specific organizations, more proactive and enactive, more indistinguishable from organizing, more portable, more discontinuous, less predictable, and more reliant on improvisation.“ (Weick 2001b: 208)
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In Zusammenhang mit dem Phänomen der „entgrenzten Karriere“ (Weick 2001b) lässt sich auch von einer „Kultur der Affekte“ (Die Zeit, Nr. 41/2008) sprechen, insofern die Arbeits- und Produktionsbedingungen im Zeitalter der Projektgesellschaft sowie der globalen Informations- und Kommunikationstechnologien eine Praxis hervorgebracht haben, in der immer weniger Produkte im Sinne eines fertigen und ausgearbeiteten Werkes entstehen, sondern Skizzen, Entwürfe und Konzepte, die auf spontanen Vernetzungen und vorübergehenden Kooperationen basieren. Aus dieser Praxis gehen alles andere als klare und abgrenzbare Subjektivierungsformen hervor, vielmehr sind es punktuelle Einlassungen, in denen oft alles ein bisschen probiert wird, aus Interesse, Neugierde oder Schaffensdrang, ohne dabei jedoch den verbindlichen Kompromiss eingehen zu müssen, sich irgendwo reinstellen zu lassen. Leon: Also ich selbst bin Tausendsassa (Lachen) Also wir sind im Verein generell jetzt nicht klassisch einer Richtung zuordenbar. Also es ist nicht so, dass wir uns zusammengesetzt haben aus Musikern, Filmemachern – was auch immer. Wir sind zusammengekommen aus Liebe zu allen Sachen und machen alles ein bisschen.
Natürlich, auch hier darf der empirische Befund noch nicht normativ aufgeladen werden. Ob die Hingabe zur Vielfalt eine beliebige Praxis nach sich zieht oder aber gerade der Ausdruck einer aus der Praxis entfalteten Haltung ist, kann nie allgemein, sondern immer nur im Kontext der jeweils Handelnden beurteilt werden. Erst aus ihrem Weg und ihrer Art des Gehens (5.2.3), aber auch erst aus den Praxisgefügen, in die die Akteure eingebunden sind (6.2), lässt sich erkennen, ob der Vielfalt eine immanente Notwendigkeit zukommt oder aber eine äußerliche Zweckdienlichkeit. (Freilich sind diese beiden Alternativen nicht immer klar voneinander zu trennen. Die immanente Notwendigkeit kann auch oft einen zweckdienlichen Effekt mit sich bringen, etwa jenen, sich damit einen finanziellen Lebensunterhalt zu verdienen.) Im vorliegenden Fall lässt sich Vielfalt allerdings nur schwer als beliebiges Handlungsprinzip des Alles-ist-möglich deuten, vielmehr verweist sie auf eine immanente Ethik der Praxis, aus der sich Praxisorientierungen und Bedeutungsschwerpunkte generieren. Während so die radikale Offenheit der Praxis bleibt, bedarf es jedoch auch immer wieder verbindlicher Bezüge, gemeinsamer Nenner und gleicher Wellenlängen, die einen kollektiven Sinnhorizont entwerfen: Leon: Wie gesagt, es gibt Vorlieben, nach denen ich mich orientiere. Und es gibt Vereine in der p.m.k, zu denen hab ich weniger Kontakt – und es gibt solche, da ist der Kontakt größer. Aber wirklich mich dann als rein in eine Musikschiene, in eine Filmerei oder so reinzutun, das – nein. Ich glaube, es ist einfach generell unser Verein auch nicht so. Es gibt einen Schwerpunkt natürlich, dass wir sagen, uns gefällt –
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen musikalisch haben wir einen gemeinsamen Nenner, der jetzt im weitesten Sinne Hip-Hop ist (…). Ja, ansonsten, wie gesagt, trifft man mich selber auch auf allem Möglichem an. Und ich finde das einfach gut.
Als ethische Leitdevise bedeutet die Hingabe zur Vielfalt immer auch eine Herausforderung für die Flexibilität und Freimütigkeit der Individuen. Unbekanntes ist noch keine Gefahr, Neues kein Risiko und Abwegiges keineswegs ein Tabu. Praxis wird so zum fortdauernden Anreiz, sich selbst neu und anders zu entfalten, ungeahnte Spielräume der Subjektivierung offenzuhalten, bereit zu bleiben für neue Erfahrungen und Aneignungen, aus alten Rollen heraus- und in neue einzutreten, konventionelle Formen der Arbeitsteilung zu überwinden und neue Praxishorizonte zu entwerfen. Wenn dabei der Kategorie des Lernens eine mitunter große Bedeutung zukommt, dann weniger als ökonomisch motivierter Opitimierungsimperativ des lebenslangen Lernens, sondern als ethischästhetische Maxime der Lebenskunst: „anstatt das Selbst und sein Lebenkönnen vorauszusetzen, zielt die reflektierte Lebenskunst auf die Heranbildung des Selbst und das Erlernen der Lebensgestaltung“ (Schmid 1998: 67). Um ein Beispiel zu nennen: Für den Haustechniker der p.m.k, Frank, bedeutet Arbeiten immer auch Lernen im Sinne einer Konfrontation mit dem Unbekannten. Als Haustechniker hat er zwar einen sehr routinierten Arbeitsalltag und eine hohe „Einsatzquote“, da er alle Konzerte abmischt, bei denen Künstler ohne eigenen Techniker auftreten. Dennoch bieten sich auf seinem Weg immer wieder Möglichkeiten, neue Erfahrungen zu machen, sich herauszufordern, auch oder gerade wenn es sich um Tätigkeiten handelt, die ihm entsprechend seines bisherigen Werdegangs nicht sonderlich entgegenkommen. Frank: Also ich sehe es eigentlich auch immer als Lernen, nach wie vor. Deswegen mache ich gerne auch Jobs, die mir persönlich nicht so zusagen.
Zuletzt sei noch auf einen Aspekt hingewiesen, der bei den unterschiedlichen Desubjektivierungsformen fast durchgehend auffällt: es ist dies der starke Bezug zum Praxiskollektiv. Die Zugehörigkeit zur p.m.k hat für die Akteure ungleich stärkere Subjektivierungseffekte als ihr je individuelles Rollenverständnis, mehr noch, gerade die aufgezeigten Fluchtlinien stehen in deutlichem Kontrast zur Integrationskraft des Gefüges, aus dem heraus sie stattfinden. Das geht mitunter so weit, dass eine allfällige Identifizierung mit der p.m.k entweder klarer hervortritt als mit dem eigenen Berufsbild oder aber auch gänzlich unabhängig von der eigenen Tätigkeit erfolgt. Auch hier zitieren wir noch einmal den Haustechniker: Frank: Also ich bin ein unheimlich großer Fan von der p.m.k. Auch, wenn ich da jetzt nicht arbeiten würde, weiß ich genau, dass ich einfach immer da wäre bei den
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meisten Veranstaltungen. Dass ich auf jeden Fall Stammgast wäre. (…) Und ich weiß genau, ich würde jetzt auch immer bei der p.m.k sein und vielleicht hätte ich sogar inzwischen irgendeine andere Rolle da angenommen, weil ich immer da wäre.
Wie dieses Beispiel zeigt, kann die Zugehörigkeit zu einem Gemeinschafts- und Handlungsraum über die konkrete Subjektivierung (hier: als Techniker) hinausgehen und als bloßes Dabeisein einen stärkeren Bezug schaffen, als ihn spezifische Formen des Teilhabens und Teilnehmens hervorbringen könnten. Der Haustechniker wäre auch dann Teil der p.m.k, wenn er nicht der Haustechniker wäre. Die Verbundenheit allein wäre ihm schon Grund und Anlass genug, „irgendeine andere Rolle“ anzunehmen. Die Entkoppelung von Rollenverständnis und Subjektivierung muss daher, allgemeiner gesprochen, keineswegs immer in Begriffen einer radikalen Destruktion oder Neuerschaffung sui generis gedacht werden. Vielmehr sind es Praktiken des Abweichens, Auslotens und Dazwischentretens, durch die neue Handlungsfreiräume generiert werden. Das Gefüge der p.m.k tritt dabei weniger als starre Struktur auf, die hemmt oder hindert, sondern als Katalysator, der antreibt und verstärkt.
5.2.5
Die Ressourcen der Praxis Das, was ich mache, ist völlig netzwerkabhängig. Ein Akteur (Sebastian) über die Bedingungen seiner Praxis.
Wir haben bisher mehrere Dimensionen erarbeitet, aus denen sich das Selbstund Praxisverständnis der Akteure generiert. Sie lassen auch mehrere Schlussfolgerungen zu, die das Verhältnis von Individuum und Eigentum konkretisieren und damit ein weiteres Charakteristikum dessen bilden, was „nomadische Praxis“ ausmacht (2.3.2). Mit Eigentum bezeichne ich eine Sache, die einem Menschen, einer Gruppe oder einem Kollektiv zu eigen ist, ihm also gehört und über die rechtlich verfügt werden kann (vgl. Schäfers 2001). Im Folgenden interessiert uns die Bedeutung von Eigentum als Ressource, wobei wir zwischen materiellen und immateriellen, ferner zwischen natürlichen und kulturellen Ressourcen unterscheiden können.83 Dabei kann Eigentum etwa als materieller Besitz 83
Eine andere Dimension von Eigentum liegt in den unterschiedlichen Modi der Aneignung, wie sie Schmid (1998: 162) in Bezug zur ethisch-ästhetischen Lebenskunst herausarbeitet. Dabei differenziert er zwischen einer materiellen und einer ideellen Dimension. In der einen geht es um den Besitz materieller Güter sowie das Streben nach materiellem Glück, im anderen Fall um „Aneignung von Selbst und Welt, Einübung von Selbstmächtigkeit, Wahrnehmung von Freiheit, Eingehen freier Verpflichtungen“ (ebd.). Die ideelle Aneignung geht aus der Selbst-
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(z. B. Produktionsmittel, Güter, Kapital, Grund und Boden) oder als geistiges Eigentum (z.B. Patent und Copyright) hervortreten. Folgt man der These von Jeremy Rifkin (2007), dann ist in den gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsverhältnissen nicht mehr der Austausch und Besitz von Eigentum entscheidend, sondern der Zugang und Zugriff. Wie allein aus der Entstehung der p.m.k und ihrer selbst geschaffenen Struktur hervorgeht, war der Mangel an materiellen Ressourcen ein wesentliches Gründungsmotiv. Die knapp dreißig Vereine und Initiativen, die gemeinsam einen Raum zur Präsentation, Vermittlung und Produktion ihres Schaffens nutzen, wären auf sich gestellt nur schwer oder gar nicht in der Lage, entsprechende finanzielle und materielle Mittel aufzubringen. Ohne Eigentum zu arbeiten, muss daher noch keine Tugend sein, sondern ist vorerst schlicht Notwendigkeit. Nehmen wir etwa das Beispiel eines Vereins, der Kurzfilme produziert und regelmäßig Filmabende veranstaltet, mitunter auch ein jährliches Kurzfilmfestival organisiert. Die betroffenen Akteure besitzen allerdings weder Kamera noch Leinwand noch Beamer – alles wesentliche Ressourcen ihrer Arbeit. Lediglich Computer und Laptops sind vorhanden, zum Schneiden der Filme. I: Was war eure Motivation, der p.m.k beizutreten? Oliver: Die Leinwand und der Beamer. Wir hatten das selber nicht. Wir haben weder eine Kamera – das leihen wir immer von der Uni aus.
Nun beziehen sich Bedingungen und Möglichkeit der Praxis nicht nur auf den physischen Arbeitsort der p.m.k und die entsprechende Infrastruktur, sondern auch auf dessen soziale Funktion. Der konkrete Ort nicht nur als Arbeits-, sondern auch als Bewegungsraum, erfüllt von einer bestimmten Atmosphäre, verweist dann nicht so sehr auf die Gegebenheit spezifischer Arbeitsmittel, sondern auf einen allgemeinen Dunstkreis von Interaktionen und Interessen. Manche Akteure der p.m.k leben außerhalb Innsbrucks, in Linz etwa oder in Wien, haben sorge (Foucault 1993a) hervor und bereichert das Selbst, um schließlich zu einer gesteigerten Selbstmächtigkeit zu führen (vgl. 2.4.2). Eigenmächtig zu handeln heißt daher, aus sich heraus zu handeln, auf Basis dessen, was man sich zu Eigen gemacht hat. „Die eigenen Vorstellungen, das eigene Empfinden, das eigene Verlangen, die eigene Meinung, die eigene Haltung, die eigenen Zweifel, die eigenen Interessen, die eigene Initiative, die eigene Wahl: All das ist Eigentum, über das das Selbst auch gegen die Einflussnahme durch Andere und anonyme Mächte selbst verfügen kann“ (Schmid 1998: 162). Damit macht Schmid die Praxis und Wahrnehmung von Freiheit zur Frage von Selbstaneignung und Selbstmächtigkeit, in der nicht nur ideelles, sondern sehr wohl auch materielles Eigentum angereichert werden kann – entscheidend ist bloß das Verhältnis des Eigentums zum Selbst, dass also „das materielle Eigentum seine instrumentelle Rolle behält und nicht zum Selbstzweck wird“ (ebd.: 163).
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keine eigene Wohnung in der Stadt und schlafen bei Freunden, wenn sie hier sind. Gerade sie schätzen es besonders, in der p.m.k einen Ort zu haben, wohin sie immer gehen können – sei es, um im Büro zu telefonieren, zu kopieren oder im Internet zu recherchieren, sei es aber auch, um die Leute vor Ort, Freunde und Bekannte, zu treffen. Diese soziale, immaterielle Funktion eines Raumes mag vielleicht auch ohne sein materielles Vorhandensein möglich sein – man denke nur an die unzähligen interaktiven Netzwerke im Internet –, sie kann dabei aber nur begrenzt jene Unmittelbarkeit und Intensität des wechselseitigen Austausches erzeugen, wie sie ein physisches Territorium mit sich bringt. Denn erst die persönlichen Bewegungen und Begegnungen machen einen Raum erfahrbar und daher auch zugänglich für eine emotionale Aufladung. Deshalb können virtuelle Räume auch nur schwer eine Stimmung erzeugen. Wir finden hier, im mikrosozialen Bereich des Organisationsgefüges, ein Moment von „Heimat“ wieder, das frei ist von starken Identitätskonstruktionen und ebensolchen Strategien der Inklusion und Exklusion. Heimat – das bedeutet in diesem Kontext, in einer Stadt einen Ort zu haben, an den man immer gehen kann. Für die meisten Akteure bezieht sich diese materiell-immaterielle Funktion nicht nur auf das Gefüge der p.m.k, sondern verteilt sich durch vielfältige Netzwerke über die ganze Stadt. Sie erschließen sich ihren Lebensraum als potentielles Reservoir an Ressourcen, ohne ihn gleichzeitig dauerhaft als Besitz anzueignen. Sie nutzen Ateliers als Schlafstätten, Privatwohnungen als Vereinslokale, leerstehende Keller als Proberäume, Galerien als Begegnungszentren und Abendlokale als kollektive Wohnzimmer. Daraus ergibt sich ein großes Netz an parasitären Beziehungen, in dem man sich gegenseitig Freundschaftsdienste erweist und ein quasi-autonomes System von Austauschleistungen unterhält. Adi: Ich zahle für so gut wie nichts in Innsbruck. Also ich zahl weder im Leokino noch im Treibhaus noch im Bierstindl noch in der p.m.k noch im Hafen. Also ich zahl nirgendwo Eintritt. Und das ist halt alles so – das kann man auch irgendwie als Vernetzung sehen. (…) Auch zum Beispiel ein Freund von mir hat ein Restaurant, und dann ist es so, er kommt bei unseren Partys gratis rein und kann gratis trinken, und dafür gehen wir halt ab und zu zu ihm essen. (…) Und das ist auch mit vielen anderen Kulturveranstaltern so, dass man einfach sagt, wenn wir schon nichts damit verdienen, dann ist es immerhin – es macht ja eigentlich so gut wie niemand Konzerte, um jetzt wirklich Geld damit zu verdienen.
Um als Kulturschaffender von der eigenen Arbeit leben zu können, erfordert (zumindest für die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen) kreative Strategien gegen die Abhängigkeit von Privateigentum. Diese werden umso wirkungsvoller, je kollektiver sie sind. Je mehr Menschen ein informelles Netzwerk an Kontakten, Vorzügen und Entgegenkommen aufbauen, desto größer kann ihre
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Machtentfaltung als gesellschaftlicher Akteur werden (6.2). Was für den Einzelnen noch eine Frage der persönlichen Lebensführung sein mag, kann, auf das Kollektiv gewendet, eine strukturelle Relevanz entfalten, die letztlich wiederum auf die Möglichkeiten des Individuums zurückwirkt. Je mehr Menschen sich vernetzen, desto vielfältiger werden ihre Austauschbeziehungen. Das legt den Schluss nahe, dass sich eine typische Form nomadischer Lebensführung gerade nicht aus den materiellen Ressourcen herleiten lässt, sondern aus den immateriellen Relationen. Ein weiteres Verhältnis von Praxis und Eigentum zeigt sich in den Praktiken, mit denen sich Akteure öffentliche Präsenz verschaffen. Sie sind mitunter aus finanzieller Ressourcenknappheit zu erklären. Für die meisten Vereine bringt ihre Kulturarbeit keine Mehreinnahmen, sondern oftmals gar Verluste. Selbst wenn ein Gewinn entsteht, fließt dieser wieder in die Vereinsarbeit zurück, anstatt ausbezahlt oder verteilt zu werden. Finanzielle Schwierigkeiten oder fehlendes Kapital sind für Kulturschaffende generell eher die Regel denn die Ausnahme (Menger 2006), sie lassen sie jedoch in vielen Fällen auch kreativ werden und auf alternative Mittel und Methoden zurückgreifen. David: Und ich finde es auch total toll – die Plakate, die ich selber gemacht habe – mit dem die Stadt zu verschönern. Weil für mich ist es Verschönern, wenn ich die Stadt zukleistere. (…) Viele Möglichkeiten haben wir ja nicht. Wir haben kein wirkliches Werbebudget, (...) wir können uns keine Werbung im Radio leisten, wir können uns keine Inserate leisten. Wir sind auf den Goodwill von Zeitungen angewiesen, dass sie uns reintun – hoffentlich mit Foto, wenn überhaupt.
Nun können Plakate, Mundpropaganda oder Konzertflyer in Zeiten von myspace und youtube wohl kaum mehr als neuartige Medien betrachtet werden, doch sie schaffen nach wie vor Präsenz im öffentlichen Raum. Wie beschränkt diese Möglichkeiten auch sein mögen, sie wollen Aufmerksamkeit und Provokation erzeugen, ansprechen und ankündigen, den öffentlichen Raum also nicht sich selbst oder seiner kommerziellen Verwertung überlassen. Gewiss, das sind keine großen Eroberungsversuche, sondern lediglich Einschübe, Farbtupfer und Irritationen inmitten des städtischen Alltagsbildes. Dennoch – sie schaffen Differenz und nutzen den Raum als Ort der Artikulation. Wenngleich also materielle Ressourcen notwendig sind für die Praxis der Akteure, so ist doch der Bezug zu ihnen ein flüchtiger. Anders verhält es sich mit den immateriellen Ressourcen der Kulturarbeit, die ihre eigentliche Substanz darstellen. Sie generieren sich im Wesentlichen aus den persönlichen Netzwerken, in denen Akteure aktiv werden. Die Dichte dieser Netzwerke schlägt sich nieder in einer Vielfalt heterogener Spezialisierungen, die zu den wesentlichen immateriellen Kapitalien der Arbeit zählen. Sie stellen kein verfügbares Eigen-
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tum dar, sondern abrufbare Ressourcen. Einerseits liegen hier Wissen und Kompetenz als virtuelle Vermögen einzelner Individuen vor, andererseits materialisieren sie sich erst über konkrete Zusammenhänge kollektiver Praxis. So kommt es zu immateriellen Austauschbeziehungen, deren Potenz die Macht des Individuums übersteigt, ohne dabei eine starre und dauerhafte Struktur vorzuweisen. Kontakte und Beziehungen werden anlassbezogen aktiviert und intensiviert, bilden aber letztlich nie ein System unmittelbarer Abhängigkeiten. Freunde, Bekannte, Kollegen, Kooperationspartner, aber auch Politiker, Medienleute und Intellektuelle – sie alle und andere mehr konstituieren Kontaktschleifen, die nach je eigenen Zeitlichkeiten, Kommunikationsstrukturen und Verhaltenscodes funktionieren und deren je individuelle Handhabung einen sensiblen wie flexiblen Umgang verlangt. Formale Zugehörigkeiten sind dabei weniger von Bedeutung als inhaltliche und interessensmäßige Überschneidungen. Gleichzeitig verfügen Netzwerke erst dann über ein breit gefächertes Spektrum, wenn möglichst viele Akteure Differenzen aufweisen, die produktiv eingebracht werden können. Milan: Bei unserem Verein war es auch immer so, dass nie zwei Leute drinnen waren, die das Gleiche können haben (…) wir haben vom Wirtschaftswissenschaftler bis zum Bauingenieur bis zur Glasspezialistin und eine Zeichnerin – wir haben immer ein möglichst breites Spektrum an verschiedensten Leuten gehabt, die in einem Bereich spezialisiert, sehr gut waren. Dass man damit dann in einem Projekt die Sachen, die irgendwo abgehandelt werden müssen, nicht sich schnell selber noch halbdilettantisch beibringt.
Der Fokus auf immaterielle Produktivkräfte und die entsprechend informelle Arbeitsweise in Netzwerken lassen zwei Schlussfolgerungen zu, die aufgrund der durchgeführten Beobachtungen sehr plausibel erscheinen. Zum einen die Annahme, dass in vielen Projekten und Netzwerkkooperationen der Prozess der Praxisentfaltung viel wichtiger ist als das, was letztlich dabei rauskommt. Kulturelle Güter und Produkte werden selten nach Reißbrett entworfen, sondern resultieren aus den Relationen und Konnexionen, die in sie eingehen. Zum anderen werden diese kulturellen Güter schließlich auch nur selten als Privateigentum, sondern mehrheitlich als Gemeinschaftsgut betrachtet. Die Art ihres Gebrauchs, ihrer Präsentation und Konsumation, teilweise auch ihrer fortlaufenden Konstruktion, machen kulturelle Güter zu symbolischen Formen, deren Charakteristikum es ist, gerade nicht in Kategorien des Privateigentums erfassbar zu sein (Zembylas 2004: 104ff.). Besonders anschauliche Beispiele bieten hierfür partizipative Formen der Wissensakkumulation im Internet, interaktive Open-SourceKooperationen oder auch die Verwertungsstrategien der Creative Commons, in denen aus Video- und Mediendaten generierte Endprodukte zur freien Verfügung gestellt werden (Lovink 2008). Hier werden nicht nur traditionelle Rollenbilder
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von Produzenten und Konsumenten ad absurdum geführt, sondern auch Begriffe wie kollektives Eigentum hinfällig zugunsten einer offenen, unabgeschlossenen, heterogenen und hybriden Form von Kreation.
5.2.6 Der zweckfreie Raum der Praxis Das ist halt irgendwie so ein Herzensprojekt, wo wir eh gewusst haben, das wird uns kein Geld einbringen. Ein Akteur (Armin) über den Stellenwert seiner Praxis.
Wir haben zuletzt gesehen, dass das kulturelle Schaffen zwar substantiell auf immateriellen Ressourcen aufbaut, dennoch aber in seinen Bedingungen und Möglichkeiten von materiellen Ressourcen abhängig bleibt. Insofern die meisten Akteure über keine ausreichende Eigenkapitalbasis verfügen, ergibt sich allein schon in finanzieller Hinsicht ein deutliches Abhängigkeitsverhältnis von gesellschaftlichen Strukturen, persönlichen Netzwerken und diversen Fremdfinanzierungsmöglichkeiten. Umgekehrt jedoch wollen einzelne Akteure diese Formen der Abhängigkeit nicht in eine durchgehende Unterwerfung unter das Diktat äußerer Verhältnisse münden lassen, weshalb sie gar nicht erst den Anspruch stellen, ihre Kulturarbeit hauptberuflich zu machen. Die einen haben dabei Angst vor einer anhaltend prekären sozialen Lage, die mitunter zur Selbstausbeutung führen kann. Die anderen sehen ihre künstlerische Unabhängigkeit bedroht, insofern sie ihren Interessen und Leidenschaften nur dann radikal nachgehen können, wenn sie davon nicht ihre Existenz bestreiten müssen. In all diesen Motivationen und Ausrichtungen drückt sich ein ambivalentes Verhältnis zwischen Arbeit und Freiheit aus, das wir näher beleuchten wollen. Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die meisten Akteure der p.m.k nicht hauptberuflich als Kulturschaffende tätig sind. Dies ist oft schlicht der Notwendigkeit geschuldet, dass sie allein davon nicht leben könnten und daher auf andere Verdienstmöglichkeiten angewiesen sind. Solche Tätigkeiten werden oft als „Brotverdienerjob“ tituliert, da hier der Zweck wichtiger ist als das Ziel. Diesen pragmatischen Kompromiss gehen Akteure ein, um ihre kulturelle Praxis in einem möglichst zweckfreien Rahmen entfalten zu können, in dem sie sich nicht unmittelbar der Marktlogik von Angebot und Nachfrage ausliefern müssen. Ist ein solcher zweckfreier Rahmen nicht gegeben, stehen Integrität und Qualität des Schaffens auf dem Spiel, da dieses dann nicht mehr ausschließlich einer inneren Notwendigkeit entspringt, sondern mindestens ebenso der äußeren Erfordernis des Geldverdienens. Wir haben bereits weiter oben ausgeführt (5.2.1), dass es Arbeiten gibt, die lediglich als Mittel zum Zweck ausgeführt werden. Wenn allerdings der Zweck nicht mehr in der Möglichkeit
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schöpferischer Praxis besteht, sondern allein in der materiellen Grundsicherung, dann bleibt die Arbeit auf ein Außen gerichtet, das der immanenten Selbstentfaltung des Menschen entgegensteht und im äußersten Falle zu dem führt, was Marx „Entfremdung“ genannt hat (vgl. Vossenkuhl 1986). Dazu kommt die Ungewissheit, ob die materielle Sicherung selbst bei voller Bereitschaft überhaupt zu erfüllen ist, da sowohl der Erfolg als auch der Ertrag von kulturellen Gütern nur schwer zu berechnen sind. Das Gros der hauptberuflichen Kulturschaffenden ist daher mit einer latent prekären sozialen Lage konfrontiert, die auf Dauer – gerade in schnelllebigen und stets im Wandel begriffenen Sektoren wie etwa dem Musikbusiness – einen vorzeitigen Verschleiß von Lebensenergien bedeuten kann (Lorey 2005). Matthias: Also ich glaube nicht, dass es auf ewig geht oder dass man es ewig aushält. Weil das ist ja auch ein dynamischer Prozess. Die Musik verändert sich, auch die Geschmäcker verändern sich. Es geht ja auch in Richtung Mode und so.
Mit dem Eingeständnis, nicht immer auf Achse sein zu können, ist die Gefahr einer kontinuierlichen Selbstausbeutung angesprochen. Umgekehrt befähigt gerade diese kritische Reflexion auf die offenen Perspektiven dazu, die eigene Lage mit all ihren Vor- und Nachteilen als selbst gewählte und selbst bestimmte Entscheidung wahrzunehmen (Lorey 2006). Schließlich ist auch Selbstausbeutung immer eine Frage der Interpretation, gleich wie das eigene Tun und Denken. Sebastian: Und das ist sicher schon ein Halbtagsjob, wenn man das als Job betrachtet. Aber wie schon gesagt, so darf man nie denken. Wenn man in Wochenstunden denkt, verdiene ich nämlich im Schnitt zwei Euro die Stunde.
Deshalb kann auch die oftmals kritisierte Ökonomisierung der Kultur84 nicht immer ausschließlich negativ konnotiert werden, da sie eine diskursive Zuschreibung ist, die noch nichts aussagen muss über die jeweilige Subjektivierung durch die Kulturschaffenden. Ohne ideologische Vereinnahmung beurteilt, verweist die Ökonomisierung zum einen auf das Gebot, dass auch Kulturarbeiter ihre Praxis unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten organisieren müssen, sofern sie davon leben wollen (Zembylas 2004: 270). Zum zweiten führt sie den paradoxen Effekt mit sich, dass Kulturarbeiter gerade durch ihre Ökonomisierung mehr Möglichkeiten haben, ökonomisch ernst und wahrgenommen zu werden – und damit letztlich auch überlebensfähiger. 84
„Unter ‚Ökonomisierung der Kultur‘ ist jene Form der Organisation der Konzeption, Produktion und Distribution kultureller Güter gemeint, die primär durch die Kräfte des Marktes und das Profitinteresse bestimmt sind“ (Zembylas 2004: 112).
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen Milan: Ja, es ist – je mehr Aufmerksamkeit der Kultur zukommt, desto mehr kommt natürlich die Gefahr der Ökonomisierung dazu. Aber die Gefahr der Ökonomisierung birgt in sich natürlich auch, dass die Künstler leben können.
Gerade in einer Kleinstadt wie Innsbruck hat die Ökonomisierung der Kultur daher zumindest jenen positiven Effekt, die Arbeits- und Lebensbedingungen von Kulturschaffenden überhaupt erst zu thematisieren. Auf nichts anderes verweist denn auch der demonstrative Leitspruch „Kultur ist Arbeit“ (5.1.3): Kultur sollte als Produktionsfeld wie jedes andere wahrgenommen werden, um schließlich auch Bedingungen und Möglichkeiten der beruflichen Praxis zu verbessern. Wir können daher vorerst festhalten, dass viele Akteure es aus durchaus pragmatischen Gründen vorziehen, ihr kulturelles Schaffen nicht als materielle Lebensgrundlage zu betrachten. Dass umgekehrt aber auch gesellschaftliche Prozesse der Prekarisierung und Ökonomisierung nicht als deterministische Zwangsvollstreckungen zu denken sind, sondern als umfassende Dispositive, die in der Praxis auf vielfältige Art und Weise subjektiviert und gefaltet werden. Ein Effekt davon ist, dass Akteure sachlich-rationale Strategien entwickeln, um zwischen ihrer kulturellen Praxis und ihren sonstigen Tätigkeiten einerseits zu unterscheiden, um sie andererseits aber auch – logistisch, zeitlich, finanziell, emotional, physisch und psychisch – zu vereinbaren. Diese Rationalisierung und Disziplinierung der eigenen Ressourcen betrifft Fragen des alltäglichen Zeitmanagements ebenso wie die langfristige Perspektivenbildung, sie geht aber auch über individuelle hin zu kollektiven Ebenen, sobald ein ganzes Gefüge aufgrund von zunehmenden Engpässen und Unvereinbarkeiten seine Organisationspraktiken überdenken muss. Ein Akteur berichtet über die Neuausrichtung seines Vereins, nachdem die meisten Mitglieder nach dem Studium in anderen Arbeitsfeldern berufstätig geworden sind: Erwin: Ja, im Jänner haben wir uns dann einmal zusammengesetzt und haben das diskutiert, wie wir das in Zukunft planen. Dass man bei der Planung von Konzerten vorsichtiger sein sollte, dass man nicht gleich zu enthusiastisch sein sollte und zu viele Konzerte ausmachen soll, sondern dass es einfach veranstaltungsmäßig im überschaubaren Rahmen ist. Wir haben uns darauf geeinigt, dass – das klingt jetzt nicht viel – dass ein Konzert im Monat eigentlich reichen muss.
Unvereinbarkeiten zwischen kulturellen und anderen Tätigkeiten verlangen also auf kollektiver Ebene, zeitlich begrenzte Ressourcen verbindlich zu planen, Termine langfristig anzusetzen und in der technischen Arbeitsteilung strukturiert und effizient vorzugehen. Das heißt wiederum, dass nicht alles, was wünschenswert wäre, auch durchführbar ist – die Ziele müssen realistisch gesteckt werden. All diese kollektiven Verbindlichkeiten lassen sich ohne weiteres auch auf die
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Ebene der individuellen Arbeitsdisziplin übertragen, insofern subjektive Prioritäten und Erwartungshaltungen danach ausgerichtet werden, was möglich, was realistisch und was wünschenswert ist. Gerade hier führen jedoch sachlichrationale Strategien zur Trennung von kultureller Praxis und materiellem Lebenserhalt oft zum ernüchternden Befund, dass zwar nicht alles Mögliche realistisch ist, vieles davon aber durchaus wünschenswert wäre. So ist es etwa der Fall, wenn es um die Konzentration auf das Wesentliche geht. Manchmal kann die Entlastung durch zweckdienliche Nebentätigkeiten, die der Kulturarbeit einen zweckfreien Entfaltungsraum garantieren sollten, auch zur Belastung werden, insofern es oft notwendig wäre, sich intensiver, kontinuierlicher und vor allem fokussierter auf einzelne Ideen und Projekte zu konzentrieren. Milan: Aber es sind definitiv auch Phasen anstrebenswert, wo man sich einfach wirklich darauf konzentriert, das zu machen. Also nicht nebenbei noch arbeiten zu müssen, sondern sich wirklich einmal längere Zeit auf ein Projekt 100-prozentig konzentrieren kann. Täte manchen Projekten sehr gut.
Affekte auszuleben, Ideen nachzugehen, Intensitäten Raum zu geben – all das sind Momente immanenter Praxis, die durch äußere Strukturen und Notwendigkeiten gestört werden können, gerade weil sie nicht steuerbar, planbar, dosierbar oder disponierbar sind. Dabei geht es weniger um unmittelbare Bedürfnisse der Akteure, die zu befriedigen wären, sondern um den konsequenten Anspruch, Dinge um ihrer selbst willen zu tun. Das mag zugleich das besondere des zweckfreien Raums kulturellen Schaffens sein: Dass er „irgendwie noch was bringt“ (Armin), das über ein normales Arbeitsverhältnis nicht zu erreichen wäre. Mag das die Loslösung von zweckorientiertem Denken und Handeln sein; die irrational anmutende Hinwendung zu einem „Herzensprojekt“, das man als sein eigenes „Steckenpferd“ (Paul) betrachtet; die Sehnsucht, herauszukommen aus bekannten Abläufen und Schemata; ein neuer Rahmen, um mit Menschen in Begegnung zu kommen; oder aber die unbedingte Motivation und Leidenschaft, der Spaß und die Energie, die aufkommen, wenn das Eigene voll zum Zug kommt. Schmid (1998: 120) spricht diesbezüglich auch vom „kalkulationsfreien Raum“, der entscheidend ist für die Lebensführung eines erfüllten Lebens: „Diese Lebensführung meint nicht die Abwicklung des Lebens gemäß eines Plans, sondern die Bereitschaft, das Selbst immer wieder irritieren zu lassen und, wenngleich mit einem Kalkül verbunden, den Versuch, einen kalkulationsfreien Raum zu bewahren, um das Selbst nicht zur Maschine werden zu lassen.“ (Schmid 1998: 120)
Mit der Abwesenheit jeglichen Kalküls sind wir bei einem zentralen Charakteristikum jenes Freiraums angelangt, der durch zweckfreies kulturelles Schaffen
Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen
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etabliert wird: in ihm muss nichts passieren. Die Unabhängigkeit von materieller Sorge, das Nicht-davon-leben-müssen, das Zurückziehen von allen Verbindlichkeiten, die Befreiung von Handlungsdruck, die Ziellosigkeit des Schaffens – all das sind Dimensionen, die die Qualität eines Freiraums ausmachen. Die Akteure können sich ihren Affekten und Leidenschafen, ihren Launen und Intensitäten widmen, ohne dass ein „kreativer Imperativ“ (von Osten 2003) vorherrscht. David: Sowas kann ich in meiner Arbeit nicht machen. Ich kann mich halt einfach auf eine gewisse Art ausspinnen.
Im Freiraum kann man sich Freiheiten leisten, die andernorts nicht möglich sind. Diese Freiheiten werden präzisiert durch ihre schiere Virtualität. Das, was beispielsweise „in der Arbeit“ nicht als Möglichkeit angelegt ist, sollte außerhalb derselben als Handlungsfreiraum erschlossen werden. Ob sich darin etwas aktualisiert, ob etwas passiert oder los ist, hat indes marginale Bedeutung. Eine solche Form von Erfüllung ist durch und durch nomadisch, weil sie ohne Territorium und ohne Eigentum stattfindet, flüchtig und vorübergehend wie ein Ereignis.
5.2.7
Die Praxis des Frei-Räumens
Wir haben in den vorangegangenen Kapiteln durch unterschiedliche phänomenologische Dimensionen rekonstruiert, in welchen Lebenswelten sich die Akteure der p.m.k verorten und wie daraus ihr Verständnis von Praxis hervorgeht. Handlungsfreiräume sind dabei solche Räume, in denen die Akteure frei, also unabhängig von vorgegebenen Ordnungen und Strukturen, ihren Affekten und Leidenschaften nachgehen, ohne dass dabei unbedingt etwas passieren muss. Diese Praxis ist durchdrungen von den nomadischen Prinzipien der Immanenz, Immaterialität und Intensität, sie entfaltet sich entlang einer Kompositionslogik auf einem glatten Raum. Was aber, so fragen wir abschließend, heißt es konkret, sich solche Freiräume zu schaffen. Wie werden Kanalisierungen etabliert, Passagen eröffnet, Strukturen gelockert und Widerstände frei geräumt? Zunächst kann sich das Schaffen von Freiräumen als einfache Suche gestalten, durch die Akteure die sie umgebenden Handlungsfelder ergründen, um nach Möglichkeiten eines eigenen Praxiszugangs Ausschau zu halten. Diese Suche mündet, aus der Retrospektive betrachtet, nicht selten in ein autobiographisches Initiationsereignis, das eine erstmalige Konfrontation mit anderen, spannenden Räumen mit sich gebracht hat. Christoph: Also das war mit 16 Jahren, wo ich halt zum ersten Mal in die Innsbrucker Subkulturszene irgendwie eingetaucht bin als junger Hupfer. Wie es halt ist mit
Akteure und ihre Lebenswelten
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dem Alter, man sucht halt nach spannenden Räumen. Wobei, es ist ja eh alles spannend in dem Alter irgendwie.
Die Gründung der p.m.k ist ebenfalls das Ergebnis einer Suche, sowohl im physischen wie im psychischen Sinne. Zum einen war es die Suche nach einem offenen Raum, in dem alternative Formen von Kulturarbeit möglich sind, zum anderen die Suche nach einem konkreten Ort, an dem diese Praxis erfolgen kann. Das muss zunächst noch nichts mit aktivem Widerstand oder einer bestimmten politischen Intention zu tun haben, vielmehr mit den Bedingungen der Möglichkeit, andere Formen der Existenz zu generieren. Dabei kommen Menschen zusammen, sie finden sich ein, setzen Energien frei, Affekte und Leidenschaften, bestärken einander, kreieren und produzieren, schaffen „Kultur“. Der gekerbte Raum, von dem sie sich abheben, muss indes noch nicht einmal als feindliches Territorium begriffen werden, sondern dient oft gar als wichtige, fruchtbare Basis. So hat sich die p.m.k nie als Konkurrenz zu bestehenden, etablierten Kulturbetrieben präsentiert, sondern als Alternative. Allerdings tut sie dies aus einer minoritären Position heraus, mit Akteuren und Vereinen, die weder über ausreichende finanzielle Mittel verfügen noch eine breite gesellschaftliche Mehrheit hinter ihren Anliegen vertreten. Entsprechend notwendig war es daher vor allem am Anfang, diverse politische und bürokratische Instanzen davon zu überzeugen, dass diese Alternative Repräsentativität beansprucht. Freiräume brauchen – wollen sie nicht nur Denk-, sondern auch Handlungsräume sein – immer eine „Repräsentation in der Realwelt“ (Milan). Dieser Bedarf trifft für die p.m.k als Ganzes ebenso zu wie für die Vereine und Akteure im Einzelnen. Ohne solche Repräsentationen bliebe Kulturarbeit auf vorstrukturierte Räume beschränkt, die nur bestimmte Bewegungen zulassen und damit das Handlungsfeld von vornherein eingrenzen. Milan: Aber es geht halt einfach darum, dass wenn man immer in irgendwelchen Privaträumlichkeiten oder später dann auch Büroräumlichkeiten bei einer Firma, wo ich dann gearbeitet hab – es ist – ja, da stehen jetzt auch wieder ein paar Sachen herum – man muss dann quasi die Dinge, sobald man sie aufgebaut hat, eigentlich wieder zerstören, weil der Platz ja mehrfach genutzt ist. Und da war es uns schon ein gewisses Bedürfnis, dass da Freiraum eingeräumt wird – ich lass jetzt eine Kamera, einen Beamer und ein paar Monitore einfach stehen und ich lass das Zeug herumliegen. Das heißt, dass am Anfang, in der hochenthusiastischen Phase, geht das alles noch recht gut. Aber irgendwann verlangt der rein psychisch vorhandene Freiraum auch seine Repräsentation in der Realwelt.
Sind erst einmal Kanalisierungen zu neuen Freiräumen geschaffen, dann können sich darin neue Bewegungen entfalten und mit ihnen neue Formen von Praxis etablieren. Das ist meist jene Phase, in der Ideen reale Formen und Projekte
Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen
192
konkrete Gestalt annehmen, Arbeitsteilungen stattfinden und Netzwerke sich erhärten, schließlich Praktiken zu Routinen gerinnen und Praxiskollektive einer vorübergehenden Form von Institutionalisierung entgegenlaufen. Hier kann es mitunter zu Reterritorialisierungen kommen, indem neue Räume nicht nur eröffnet, sondern auch nachhaltig besetzt und mit einem Machtanspruch versehen werden. Um einer solchen Festsetzung zu entgehen, die auf Dauer in Stillstand und Bewegungslosigkeit zu münden droht, versuchen viele Akteure, die einmal geschaffenen Freiräume so offen wie möglich in Schwebe zu halten. Milan: Teilweise gibt’s einfach so viele tolle Ideen und lustige Sachen, die man eigentlich nebeneinander machen will, dass man dann halt ständig sich – man ist dauernd gezwungen, auf Dinge zu verzichten, weil jede Entscheidung für etwas – also nicht jede, teilweise hat man genug Freiraum – aber sehr viele Entscheidungen für etwas sind Entscheidungen gegen etwas. Und ja, also da haben wir auch keine festgelegten Strukturen, die diese Entscheidungen treffen. Meistens ist es dann eh so, dass derjenige, der begeisterter von einer Idee ist und enthusiastischer, das Ganze macht und in seinem Enthusiasmus den oder die anderen so mitreißt, dass dann meistens relativ klar ist, welches Projekt man jetzt nimmt.
Freiräume auszufüllen, ohne sie zu besetzen – das könnte man als Losung nomadischer Praxis ableiten, die in sich notwendig unbestimmt bleiben muss. Sie kann nur durch eine Vielzahl von Dimensionen umschrieben werden, von denen einige bereits genannt wurden, andere im weiteren Verlauf noch zu erörtern sind: Es geht dabei um Intensitäten, Heterogenitäten und Prioritäten, um Angewiesenheit und Verbundenheit, Freundschaft und Leidenschaft, Vielfalt und kollektive Praxis, Einbringen und Rausziehen, um vernetzte Ideen und gemeinsame Bedeutungshorizonte. Umgekehrt heißt Freiraum schaffen und ausfüllen immer auch, Freiraum zu geben, etwa durch lose organisierte Netzwerke, wie die p.m.k eines darstellt. Wie dieses Organisieren von Handlungsfreiräumen in der Praxis erfolgt, werden wir im nächsten Abschnitt untersuchen.
5.3
Organisieren in der p.m.k
Wie organisieren sich die Akteure der p.m.k? Wie konstituiert sich ein relationales Gefüge und wie funktioniert es? Welche Passagen und Räume, welche Bewegungen und Intensitäten, welche Beziehungen und Differenzen kommen dabei zum Vorschein? Wir wollen diese Fragen anhand der Organisationspraktiken erörtern, aus denen der kollektive Handlungszusammenhang hervorgeht. Dabei legen wir, wie bereits an anderer Stelle ausgeführt (2.2.1), ein poststrukturalistisches Verständnis von Organisation als Werden zugrunde, das weniger die
Organisieren in der p.m.k
193
Strukturen und vielmehr die Praktiken und Prozesse des Organisierens untersucht. Wir greifen zu diesem Zweck speziell auf Karl Weick zurück, der Organisation als Serie von ineinander greifenden Routinen beschreibt und sich dabei wiederum auf Frances Westley bezieht, der Organisation definiert als „a series of interlocking routines, habituated action patterns that bring the same people together around the same activities in the same time and places“ (zit. in Weick 2001a: 104). Das heißt, es sind Praktiken, Routinen und Ereignisse, die Menschen innerhalb eines Handlungskollektivs zusammenbringen, nicht vorgegebene Strukturen. Entscheidend ist dabei die integrative Kraft des Kollektivs, die auf gemeinsam generierte Sinnhorizonte verweist und damit auch gegenseitige Bindungen, Beziehungen und Rollenverständnisse etabliert oder aber, im Falle einer unvorhersehbaren Zäsur – Weick (ebd.: 105) spricht von einer „kosmologischen Episode“ –, aufbrechen lässt. Aus all dem kann schließlich auf die Festigkeit oder Verletzbarkeit eines organisationalen Gefüges geschlossen werden, auf sein solides oder dünnes Gewebe. Dieser Forschungsperspektive folgend, werden wir die Praktiken, Routinen und Ereignisse innerhalb der p.m.k beschreiben, weshalb wir auch von einer deskriptiven Beobachtungsdimension sprechen können. Im Gegensatz zu den vorangehenden Kapiteln geht es hier weniger um die phänomenologische Rekonstruktion, warum Menschen tun, was sie tun, sondern um die beschreibende Interpretation, wie sie tun, was sie tun. Wie schließen sich die Akteure zusammen, wie vernetzen sie sich, bereichern sich gegenseitig, kommen überein und kontrollieren einander? Wir stellen diese Wie-Fragen entlang eines Entfaltungsprozesses, der einer Kompositionsebene des Organisierens folgt (2.5.4). Die einzelnen Momente der Entfaltung sind dabei weder linear noch irreversibel zu denken. Vielmehr handelt es sich um ein Verständnis von Praxis, das versucht, Sein als Werden zu begreifen und darin Immanenz und Heterogenität, Intensität und Virtualität zusammenzudenken. Wir haben es auch hier wieder mit Kanalisierungen und Aktualisierungen zu tun, mit Räumen, die eröffnet und besetzt, mit Bewegungen, die ermöglicht, schließlich mit Strategien und Taktiken, die hervorgebracht werden.
194
Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen
5.3.1 Etablierung von Passagen: Der Zugang zum Praxiskollektiv In Wahrheit weißt du ja, was die Leute tun. Eine Akteurin (Ursula) über das Aufnahmeverfahren.
Der Zugang zum Praxiskollektiv der p.m.k ist ebenso einfach wie elementar. Einfach ist er, weil das Aufnahmeverfahren so unbürokratisch und unhierarchisch wie möglich abläuft: Interessenten stellen einen formlosen Antrag auf Mitgliedschaft, der sodann im Rahmen des Beirats offen diskutiert wird. Der neue Verein stellt dabei seine kulturellen Aktivitäten und inhaltlichen Ausrichtungen vor. Nachdem diese Informationen über ein internes Forum an alle Mitglieder elektronisch versendet worden sind, erfolgt in der darauffolgenden Beiratssitzung die Abstimmung über die Aufnahme durch einfachen Mehrheitsbeschluss. Aufgenommen werden prinzipiell nur Vereine, das heißt keine Individuen als Privatpersonen (4.1.1). Das allerdings ist auch schon die einzige unmittelbare Bedingung. Die Struktur der Vereine ist kein Aufnahmekriterium, weshalb deren Größe variieren kann zwischen zwei und zwanzig Mitgliedern oder mehr. So einfach dieses Prozedere ist, so elementar drückt sich darin die programmatische Struktur der p.m.k aus. Aufgrund ihrer inhaltlichen Offenheit ist die ständige Erweiterung der kulturellen Praxisfelder ein Kernmoment ihrer Strategie, weshalb es auch keine Beschränkung in der Zahl der Mitglieder gibt (6.2.1). Allerdings bedeutet diese Offenheit nicht Beliebigkeit. Der Zugang mag zwar in technisch-bürokratischer Hinsicht einfach sein, dennoch beinhaltet er eine kritische Würdigung der Professionalität und inhaltlichen Ausrichtung der Eintretenden. Ursula: Und das klingt komplizierter, als es ist, weil in Wahrheit weißt du ja, was die Leute tun. Und wir haben auch schon verschiedene Sachen abgelehnt. Also die reine Partyschiene, die keinen qualitativen Kulturanspruch gehabt hat. Dann welche, die fast ein bisschen Richtung rechts gegangen sind, kann ich mich erinnern. Da gibt’s einfach genug Experten (…) die sich musikalisch genug auskennen und auch wissen, wie die Leute drauf sind und was die machen.
Mehr noch als die ausgebildete Professionalität ist es der professionelle Anspruch, der bei der Aufnahme entscheidend ist. Akteure müssen keine nachgewiesenen Experten in ihrem Berufsfeld sein – damit würden gerade solche sozioökonomischen Eintrittsbarrieren geschaffen, die man von Anfang an verhindern möchte. Sehr wohl aber müssen Akteure zeigen können, dass sie, auch ohne gesellschaftlich legitimierten Status, mit ihrer Praxis einem Anspruch nachgehen, der qualitativ wertvoll ist. Da solche Fragen über Qualität und Relevanz immer Gegenstand von sozialen Aushandelungsprozessen sind (5.2.2), kann es
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195
mitunter entscheidend sein, wenn Akteure bereits vor ihrem Eintritt mit dem Praxiskollektiv vertraut sind. Denn da, wo gemeinsame Sinn- und Praxishorizonte vorausgesetzt werden können, ist es naheliegend, dass die offizielle Aufnahme nur mehr zu einem formalen Akt wird. Der Kontext einer integrativen Milieubildung (5.1.1) ist daher nicht unwesentlich für den Zugang in das Gefüge, gibt er doch Auskunft über die Bedingungen und Möglichkeiten des Dabeiseins. Zu einer Szene dazuzugehören setzt zwar noch nicht voraus, irgendwo Mitglied zu sein, sehr wohl aber, dass man sich kennt. Dieser sozio-kulturelle Aspekt ist bereits bei der Gründung der p.m.k zum Tragen gekommen. Da die Innsbrucker Kulturszene überschaubar ist und viele Akteure einander kennen, war es durchaus nicht ungewöhnlich, wenn einzelne Vereine als Gründungsmitglieder aufgelistet wurden, ohne dass dafür eine explizite Anfrage erfolgte. Bestimmte Akteure mussten nicht erst offiziell in das Gefüge hineinkommen, sie waren immer schon drinnen. I: Wie seid ihr in die p.m.k hineingekommen? Wie hat sich das ergeben? Milan: Dass wir, wie sie aufgemacht hat, bei der Vereinsmitgliedsliste dabei gestanden sind. I: Wolltet ihr das von Anfang an? Oder waren da persönliche Kontakte da? Milan: Jaja, also wir sind – also sehr viel von dieser Szene sowieso, das ist Innsbruck. Und wenn man da ein bisschen aktiv ist. Und da hat man uns scheinbar von Anfang an dazugerechnet. Und wir haben es eben darüber mitgekriegt, dass wir eine Einladung zu einer Sitzung bekommen haben. Also es war von keiner Seite irgendwie so ein Herangehen da, sondern es war scheinbar für die Leute, die damals die p.m.k gegründet haben, irgendwie klar, dass wir da dazugehören. Und wir haben das eigentlich nicht als Anmaßung dieser Seite, sondern als Kompliment empfunden.
Wir sehen, das gleichzeitig einfache wie grundlegende Aufnahmeprozedere ist nicht nur aus formalen Regeln zu erklären, sondern auch aus informellen Relationen. So sehr allerdings persönliche Kontakte und die Vernetzung in der Szene einen wesentlichen Vorteil darstellen, so wenig sind sie unbedingte Voraussetzung. Am Ende bleiben Anspruch und Ausrichtung die entscheidenden Zugangskriterien, für die das Aufnahmeverfahren eine geregelte Beurteilungs- und Bewertungsmöglichkeit darstellt. Dabei sind schließlich nicht nur Qualität und Professionalität relevant, sondern auch die „Demokratiefähigkeit“ (Sebastian) der Akteure, die Fähigkeit also, die für das Funktionieren des Kollektivs erforderlichen ethischen, kommunikativen und organisatorischen Ansprüche zu erfül-
Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen
196
len.85 Hier dient das Aufnahmeverfahren durchaus der „Prüfung von Loyalität“ und verfolgt den Zweck einer „Gesinnungskooptation“, wenngleich dieser Prozess, und das ist nicht unwesentlich, gerade nicht über die quasi-objektiven Techniken traditioneller Eignungsbeurteilungen abläuft (Kompa 1990: 606). Vielmehr findet die Aushandlung reziproker Praxis- und Normvorstellungen zumeist schon vorab über informelle Interaktionen statt, weshalb das offizielle Prozedere mehr einen Legitimationsakt im Rahmen der etablierten Organisationskultur darstellt (Bergström & Knights 2006). Umgekehrt ist durch den erfolgten Zutritt auch bereits die Praxis der Akteure verbürgt. Einmal aufgenommen, werden ihre laufenden Inhalte nicht weiter verbindlich beurteilt – es sei denn, es kommt zu eklatanten Unvereinbarkeiten im Zuge der Praxis (6.1.3).
5.3.2
Kanalisierung von Handlungsräumen: Einbringen und Rausziehen Also es ist keine Tür verschlossen. Ein Akteur (David) über die Verteilung von Zuständigkeiten.
In poststrukturalistischen Organisationstheorien hat sich mittlerweile die Auffassung durchgesetzt, wonach das Verhältnis von Praxis und Struktur nicht nur relational, sondern auch produktiv bestimmt ist (2.5.1). Praktiken beziehen sich nicht nur auf ihren Kontext, sondern produzieren ihn auch (de Certeau 1988). Ihre bloße Kontextualität sagt deshalb noch wenig über den hervorbringenden Akt des Handelns aus. Vielmehr sind Praktiken als jeweils konkrete und singuläre Aktivierungen von Intertextualität zu verstehen (Hjorth 2003: 227). Ihr Einsatz ist der aktivierende Bezug auf ein Ordnungsgefüge, in dem Akteure eingebettet sind. Bezug-Nehmen und Bezug-Geben sind demnach zwei Momente einund desselben Prozesses. Das impliziert zugleich, dass Praxis nie in luftleeren Räumen stattfindet; ferner, dass es keine Handlungsdimensionen gibt, die nicht von sozio-historischen Einschreibungen gekennzeichnet wären. Da Akteure immer in irgendeinem Set an Ordnungen eingebettet sind, agieren sie nie auf einem unbeschriebenen Blatt. Freilich, nicht alle Praktiken entfalten neue Dimensionen des Handelns, überwiegend dienen sie als routinisierte Handlungsvollzüge der Reproduktion von Strukturen (Feldman & Pentland 2003). Ob aus ihnen Kanalisierungen für neue Handlungsfreiräume hervorgehen, bestimmt sich nicht allein aus der Macht 85
Wie diese „Demokratiefähigkeit“ in Interaktions- und Diskussionsprozessen zum Tragen kommt und was sie in konkreten Entscheidungssituationen bedeutet und erfordert, konkretisieren wir in Kapitel 6.1.3.
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197
und Fähigkeit der Akteure (was ihnen weitgehende Autonomie in ihrem Handeln unterstellen würde), sondern vielmehr aus den Relationen und Konnexionen, in denen diese Kräfte eingebracht werden. Wir können diesen wechselseitigen Prozess an den ambivalenten Praktiken der Spezialisierung und Kollektivierung beispielhaft vor Augen führen. Die Akteure der p.m.k bringen eine Reihe von Fähigkeiten und Kompetenzen in das Vereinskollektiv sowie in die Plattform ein, ohne damit eine soziale Arbeitsteilung im Sinne eines hierarchischen Systems zu etablieren und diese in weiterer Folge zu reproduzieren. Stattdessen bilden die vorhandenen Spezialisierungen einen dichten Fundus, aus dem heraus das Gefüge wirksam wird. Akteure bringen sich individuell ein, um kollektiv Vielfalt zu entfalten. David: Wir haben da schon irgendwie Spezialisierungen, aber wir versuchen schon irgendwie auch – denke ich mir schon – dass jeder irgendwie alles macht. Also mit der Grafik – ich mach nicht alles, ich will auch, dass die anderen das auch lernen und das machen, damit irgendwie – wenn nur einer was macht – wenn immer nur eine Tätigkeit von einer Person belegt wird, dann – wenn mehrere Leute die gleiche Tätigkeit machen, gibt’s irgendwie mehr Vielfalt, denke ich mir. (…) Und das ist so – bei Grafik sieht man es einfach. Ich hab zum Beispiel einmal einen internen Grafik-Workshop gemacht, damit einfach mehr Leute von uns lernen, mit Photoshop umzugehen, damit man einfach für sich selber auch aus dem Verein was herausziehen kann.
Das individuelle Einbringen in den kollektiven Handlungszusammenhang kann schließlich dazu führen, dass sich Tätigkeiten von einzelnen Personen lösen. Es kommt zur Deterritorialisierung von Kompetenzen und Wissen. Diese werden als kollektivierende Ressourcen ins Gefüge eingebracht und über Aktualisierungsprozesse stets von Neuem subjektiviert. Die Vereinsarbeit schafft somit Handlungsräume, von denen alle Akteure „profitieren“, insofern sie daraus Neues herausziehen oder sich aneignen können. Die Praktiken des Einbringens und Rausziehens sind allerdings nicht zu verwechseln mit den ökonomisch konnotierten Tauschverhältnissen des Gebens und Nehmens. Nur selten materialisiert sich das Einbringen über quantitativ erfassbare Anteile, als würde die Funktionalität eines geordneten Ganzen durch kumulative Anhäufungsprozesse erhöht. Vielmehr vollzieht es sich im Duktus einer Gabe (Ortmann 2004), die eine Bereicherung für das Gefüge darstellt, ohne greifbar zu sein. Eine ähnlich immaterielle Relation konstituiert sich im Rausziehen: So wenig sich Subjekte durch ihr Einbringen irgendeines Kapitals benehmen, so wenig verliert das Kollektiv durch unentwegtes Herausziehen seine Kohärenz. Die kollektivierende Desubjektivierung führt mitunter zum Anspruch, dass jeder Akteur alles können und machen sollte. Gerade durch die Entkoppelung
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen
von Aufgaben und Personen, Kompetenzen und Funktionen, erfährt Praxis ein anonymes Zirkulationsprinzip, das um seiner selbst willen erhalten wird. Weniger sind es dann die Akteure, die eine Praxis vorgeben, als vielmehr die Praxis, aus der heraus sich jene ergeben. Eine Reihe unterschiedlicher Aussagen bestätigt diese besondere Verknüpfung, indem Arbeit als etwas verstanden wird, das getan werden muss (5.2.1). Die organisierende Kraft geht dann nicht mehr von einer mit hierarchischer Legitimation ausgestatten Instanz aus, sondern von der Praxis selbst; sie tritt nicht mehr als personifizierte Autorität auf, sondern versteht sich von selbst. Folglich besteht der Vollzug der Praxis mehr in einem selbstverständlichen Zusammenspiel von Kräften als in einer expliziten Koordinationsleistung. Es ist dies ein Bedeutungsrahmen, innerhalb dessen das Kollektiv als eingespieltes Team hervortritt (vgl. Alvesson & Willmott 2002: 631). Umgekehrt aber verstärkt das Arbeiten im eingespielten Team auch die Tendenz, dass Akteure sich gerade in solchen Bereichen einbringen, in denen sie sich für kompetent befinden. Hier greift die Spezialisierung denn doch wieder durch, indem Akteure auf gewisse Qualitätsmaßstäbe Wert legen, für die sie aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ein legitimes Recht beanspruchen. David: Es gibt halt so Sachen wie bei mir, weil ich halt die Grafik mache – dadurch, dass ich das auch hauptberuflich mache, nehme ich mir jetzt das Recht heraus, dass ich einfach sage bei gewissen Sachen, dass ich einfach behaupte, ich kenne mich da einfach besser aus als ihr. Und ich muss es machen und ich mache das aus meinem Herzblut heraus und deswegen will ich, dass es jetzt auch so ausschaut. Und da hat es Sachen gegeben, wo alle gesagt haben, nein, mach es bitte nicht so – und ich hab’s dann aber trotzdem so gemacht (…). Harald: Und im Endeffekt hat er dann auch wieder Recht gehabt. David: Man muss halt jedem sein Spezialgebiet zusprechen. Dann kann es halt passieren, dass es wie eine Dampflok über einen drüberfährt. Aber wir kennen uns ja untereinander. Es ist ja nicht – wir nehmen das nicht so wirklich persönlich. Wir wissen ja, um was es geht.
Der legitime Anspruch des Sich-Behauptens erwächst weniger aus einer festgelegten Ordnung, sondern aus der Realisierung vorhandener Kompetenzen. Akteure besitzen nicht das Recht, etwas in ihrem Sinne zu tun, sondern sie nehmen es sich heraus. Sobald Praxis mit einer bestimmten Vorstellung von Qualität verbunden ist, werden damit auch spezifische Kompetenzen aufgezeigt, die einen beliebigen Vollzug ausschließen. Man muss etwas so tun und nicht anders. Am deutlichsten wird dieser Anspruch in der negativen Abgrenzung, wonach bestimmte Dinge nicht akzeptiert werden können. Anders gesagt: Kein Dilettantismus da, wo entsprechende Ressourcen vorhanden sind.
Organisieren in der p.m.k
199
Doch das ist nur die eine „Seite“ des Gefüges. Wenn Einzelne sich regelmäßig individuelle Rechte herausnehmen, müssen diese von Anderen auch – zumindest retrospektiv – anerkannt und zugesprochen werden. Ansonsten wäre die Funktionalität des Kollektivs in Frage gestellt, weil dieses weder eine wechselseitige Eingebundenheit noch einen gemeinsamen Praxishorizont hervorbringen kann. Recht-nehmen verlangt daher – nicht zwangsläufig, aber doch in der Regel – auch Recht-geben. Schließlich kann daraus sogar die vorübergehende Stellung des Recht-habens hervorgehen, allerdings nur als Effekt der Praxis, nicht als deren Ursache. Wir sehen: Einbringen und Rausziehen müssen nicht voneinander losgelöste Praktiken darstellen, sondern können sich ebenso sehr und unmittelbar gegenseitig konstituieren. Akteure bringen sich ein, indem sie sich Rechte, Ansprüche und Freiheiten herausnehmen. Ein wesentliches Moment für die Funktionalität des Gefüges ist daher das kollektive Zusprechen, Gewähren und Einräumen von Individualität, selbst wenn damit ein hoher Eigensinn verbunden ist. Voraussetzung dafür ist jene Form von respektvoller Interaktion, die Weick (2001a: 113ff.) zufolge entscheidend ist für die konzertierte Interdependenz eines losen Gefüges. Sie gründet auf Intersubjektivität, welche sich aus dem gegenseitigen Austausch und der Synthese von Bedeutungen zwischen den Subjekten entfaltet. Zugleich werden die Interagierenden dabei so verändert, dass womöglich gemeinsame Horizonte entwachsen. Weick beruft sich hier auf Donald Campbells drei „Gebote“ für das soziale Leben und die Möglichkeit gemeinsamer Erfahrung: „(1) Respect the reports of others and be willing to base beliefs and actions on them (trust); (2) Report honestly so that others may use your observations in coming to valid beliefs (honesty); and, (3) Respect your own perceptions and beliefs and seek to integrate them with the reports of others without deprecating them or yourself (self-respect).“ (Weick 2001a: 114)
Kurz: Vertrauen, Aufrichtigkeit und Selbstachtung sind zentrale Kriterien von Interaktion (vgl. Bohm 1996). Fehlen sie, kann es zu wachsender Angst, Verstimmung oder Kommunikationshemmnis kommen. Sind sie hingegen entwickelt, kann es auch beim Kollaps von Rollensystemen zu neuen Optionen, gegenseitigen Anpassungen, blinden Imitationen, kreativen Lösungen oder vertrauensvoller Zustimmung und Befolgung kommen. Unter Bezug auf Robert Ginnett verfeinert Weick die genannten Imperative noch einmal, um die Bedingungen von konstruktiver Kommunikation und Interaktion auszuloten: „Excellent crews expect one another to enact any of these four exchanges: ‚(1) I need to talk to you; (2) I listen to you; (3) I need you to talk to me; or even (4) I expect you to talk to me’” (Weick 2001a: 120). Diese vier Interaktionsmuster unterstreichen nicht nur, sondern operationalisieren zugleich die genannten ethischen Dimensi-
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen
onen des Vertrauens, der Aufrichtigkeit und der Selbstachtung. Sie verweisen aber auch auf die Notwendigkeit des Nachfragens, Eintretens, Befürwortens, Erklärens und Behauptens, wenn Menschen nicht die Gründe verstehen, warum andere etwas tun oder ignorieren (vgl. ebd.). Die interaktiv eingebrachten Werte Vertrauen, Aufrichtigkeit und Selbstachtung entstehen natürlich nicht spontan, sondern resultieren als Effekt des gegenseitigen Umgangs und der langjährigen Vertrautheit oder Freundschaft. Dimensionen der Angewiesenheit und Verbundenheit ermöglichen es dabei, dass sich Eigensinn und Kollektivhorizont nicht in einer Atmosphäre permanenter Konfrontation gegenüberstehen, sondern als bezugnehmende und bezuggebende Ebenen einander überhaupt erst bedingen. Der hier dargestellte reziproke Konstitutionsprozess geht auf Seiten der Akteure zumeist mit der Interpretation einer Bringschuld einher, die sie sich selbst infolge ihrer Angewiesenheit und Verbundenheit dem Kollektiv gegenüber auferlegen. Sie fühlen sich der p.m.k in einer Weise verbunden – in manchen Fällen ließe sich durchaus verpflichtet sagen –, dass sie ihre Praxis als eine Art Dankesbekundung an das Kollektiv einlösen wollen. Die Bringschuld ergibt sich demnach schon aus dem bloßen Vorzug der Teilhabe am Kollektiv, aber auch aus der Möglichkeit, sich darin frei entfalten zu können. Beide Beweggründe zeugen von einer bewussten Vergegenwärtigung der je eigenen Praxisbedingungen: Da die p.m.k ihnen, den Akteuren, viel ermöglicht (hat), wollen diese auch weiterhin daran partizipieren. Erwin: Wir machen zwar ab und zu Veranstaltungen im Project [ein weiteres Konzertlokal in Innsbruck, M.V.], aber das rührt daher, dass das Bands sind, die nicht so populär sind, wo wir mit 60 Zahlenden zufrieden sind. Die verlieren sich in der p.m.k. Aber für uns war klar, dass wir das nie – dass wir immer Teil von – es ist wirklich so besprochen worden, dass wir eigentlich immer Teil von der p.m.k sein wollten und dass wir der p.m.k schon sehr viel schuldig sind, ehrlich gesagt. Weil durch die Gründung von der p.m.k und wie das die ersten eineinhalb Jahre gelaufen ist bei uns – und das war wirklich alles unkompliziert und das war die beste Veranstaltungsmöglichkeit für uns, die es jemals gegeben hat. Deswegen sind wir der p.m.k sehr viel schuldig und deswegen wird es auch immer von uns Veranstaltungen in der p.m.k geben.
Schließlich, wie obiges Zitat zeigt, kommen auch hier wieder mehrere ethische Dimensionen zum Tragen – von Loyalität und Treue bis hin zu Respekt und Wertschätzung –, die zeigen, dass es dabei weniger um materielle Abhängigkeitsverhältnisse denn um immaterielle Beziehungen geht. Aus diesem Grunde stellt sich für viele Akteure erst gar nicht die Frage, ob sie die p.m.k für ihre Praxis unbedingt nötig haben; sehr wohl aber, ob sie darauf verzichten wollen.
Organisieren in der p.m.k
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Die komplexen Relationen, die aus den Praktiken des Einbringens und Rausziehens, Einräumens und Herausnehmens hervorgehen, zeigen auch, welche Bedeutungsdimensionen dem Begriff des Netzwerkes im Kontext der p.m.k zukommen (vgl. Boltanski & Chiapello 2006: 188ff.). Netzwerke sind an sich weder gut noch schlecht, ihr Sinn ergibt sich erst aus der Praxis, die sie ermöglichen, fördern oder aber verhindern. Netzwerke entfalten strukturierende Effekte, deren Einfluss und Nützlichkeit sich danach bemisst, ob und wie sie funktionieren. Kriterien für dieses jeweils kontextabhängige Funktionieren sind im vorliegenden Fall vor allem die Flexibilität und Dynamik der Relationen, das gegenseitige Interesse der Akteure sowie die Grade an Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit, die sie erlauben. Milan: Es ist definitiv eine hohe Fluktuation da. Das heißt, Leute, mit denen ich vor fünf Jahren ein Projekt gemacht hab – mit vielen von denen habe ich jetzt überhaupt keinen Kontakt mehr. Das heißt, da sind wir sehr promiskuitiv – hohe Künstlerpromiskuität. Es sind da – viele von den Kooperationen sind sicher keine Bindungen aufs Leben. Aber wenn dann im Projekt und wenn dann die Ideen einmal hinhauen – das Projekt haben wir eigentlich fast immer irgendwie abwickeln können. Und dann macht man entweder wieder was miteinander oder man geht auseinander.
Wie bei der Kategorie der Freundschaft (5.1.5, 5.2.5, 5.3.3) muss auch bei Netzwerken zwischen instrumenteller Ressource und immanenter Praxis unterschieden werden, wobei die Ressource auf einen zweckgerichteten Gebrauch verweist, die immanente Praxis hingegen auf gemeinsame Sinn- und Bedeutungshorizonte. Als Ressource dienen Netzwerke vorwiegend der Aktualisierung von Ideen und Projekten, wobei die gemeinsame Praxis oft mehr Gewicht hat als die gegenseitige Beziehung. Dies erklärt auch den häufigen Wechsel personeller Konstellationen, der nicht zuletzt einer Verfestigung der Relationen zuvorkommen soll. Diese Form von Unabhängigkeit muss aber nicht bloß ein Wert an sich sein, der den Akteuren ein höheres Ausmaß an Bewegungsspielraum, Aktionsradius und Konnexionsmöglichkeiten erlaubt. Neben dieser individuellen Entfaltung ist es auch eine kollektive Bereicherung, die darin liegt, dass heterogene Akteure konsequent heterogene Wege einschlagen. Akteure profitieren davon, dass sich andere auf ihre je eigene Art und Weise entwickeln. Das Vermeiden von individuellen Abhängigkeiten korrespondiert also indirekt mit der Generierung von kollektiver Vielfalt (6.2.1). Milan: Wenn ich versuche, ein Netzwerk konstant und starr aufrecht zu erhalten und die Bindungen auf gleicher Qualität zu halten, geht das Ganze irgendwann ein, weil ich – entweder das Netzwerk so stark ist, dass ich damit den einzelnen Leuten Entwicklungsmöglichkeiten nehme. Oder die Leute sich weiterentwickeln und damit das Netzwerk eigentlich nicht mehr auf die Leute hinpasst. Das heißt, es sind Leute,
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen mit denen ich zusammenarbeiten will – will ich ja nicht, dass die sich nicht weiterentwickeln, sondern ich profitiere ja genau davon, dass die Leute alle sich weiterentwickeln. Und das wird halt nie genau synchronisiert passieren. Das heißt, es gibt dann wieder Phasen, wo man quasi sich in den Schwingungen wieder annähert und das Ganze dann wieder hinhaut. Und Phasen, wo man sich auseinander entwickelt. Das heißt, Netzwerke – gerade funktionierende Netzwerke, glaube ich, pulsieren immer in einem gewissen Maße. Und wenn sie wieder kleiner werden, entsteht wieder der gewisse inhärente Druck, dass man wieder das Netzwerk in eine andere Richtung vergrößert. So bleiben sie am Leben, funktionieren und wachsen.
Folglich können wir festhalten, dass sich die Funktionalität von Netzwerken nicht danach bestimmt, ob sie starke oder schwache Bindungen hervorbringen, homogen auftreten oder nicht, langlebig sind oder von vorübergehender Dauer (Granovetter 1973).86 Anstatt eine geschlossene Einheit zu repräsentieren, verkörpern sie ein offenes Konnexionsprinzip, so wie es Deleuze & Guattari (1977, 2005: 11-43) mit dem Rhizom beschreiben. Deshalb sollten Netzwerke nie zum Selbstzweck werden, der die Handlungsräume der Akteure strukturiert. Im Gegenteil, es sind die Akteure und ihre Praktiken, die das Netzwerk in seiner Gestaltwerdung und Formgebung prägen. Ihre Aktivitäten und Interessen, Affekte und Leidenschaften, Rhythmen und Bewegungen machen das Rhizom erst lebendig. Schließlich bleibt auch hier die Gleichzeitigkeit von Bezug-Geben und Bezug-Nehmen charakteristisch: Das individuelle Einbringen ins Netzwerk macht dieses erst aus, umgekehrt aber geht das Netzwerk weit über die Handlungsdimension der Individuen hinaus und eröffnet einen kollektiven Praxishorizont, aus dem jeder Einzelne etwas Neues herausziehen kann.
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Granovetter (1973) zeigt in seiner quantitativ-explorativen Studie, dass gerade schwache Bindungen zwischen Akteuren die Kohäsion eines Netzwerkes fördern, starke sie hingegen fragmentieren können: „weak ties, often denounced as generative of alienation (…) are here seen as indispensable to individuals’ opportunities and to their integration into communities; strong ties, breeding local cohesion, lead to overall fragmentation“ (ebd.: 1378). Ein mitunter entscheidender Aspekt dafür ist die relativ lose Vernetzung durch „Brücken“, die durch schwache, offene Bindungen oftmals leichter hervorgebracht wird wie durch solche, die eine starke und hermetische Verknüpfung aufweisen. Gerade schwache Bindungen können also die „Transitivität“ eines Netzwerkes erhöhen, indem sie lockere Übergänge zwischen einzelnen Interaktionspunkten begünstigen.
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5.3.3 Aktualisierung von Virtualität: Imagination durch Konnexion …dass eben die gesamten Ideen sowieso alle irgendwo zwischen den Menschen da herumfließen und schwimmen und man halt zur richtigen Zeit da sein muss, dass eine Idee vorbeischwimmt. Ein Akteur (Milan) über Ideenwerdung.
Welche Bewegungen in den kollektiv generierten Handlungsräumen stattfinden, welche Kanalisierungen sie eröffnen und welche Möglichkeiten des Handelns daraus hervorgehen, veranschaulicht die Praxis der Ideenvernetzung. Allein der Sprachgebrauch vieler Akteure lässt einen spezifischen Umgang mit Ideen erkennen: Ideen sind demnach kein Vermögen, das man hat, kein Besitz, über den man verfügt, auch keine Essenz, die man verinnerlicht und bei Bedarf exponiert. Vielmehr kommen Ideen zustande, sie fallen ein oder sie entfalten sich. Sie entstehen in einem prozessualen Werden, das abhängig ist von den Relationen und Konstellationen, in denen Akteure sich bewegen. Gleichzeitig wird ihre Gestaltwerdung und Formgebung von der Strukturiertheit des Territoriums bestimmt, dem sie entspringen. Wo Praxis entlang geordneter Bahnen verläuft, Hierarchien die Relevanz von Routinen und Gewohnheiten kontrollieren und Zielvorgaben die Möglichkeitsräume des Handelns abstecken, da sind auch die Quellen und Formen der Ideengenerierung meist in einen engen funktionalen Zusammenhang integriert. Umgekehrt aber, wo Praxis sich ohne Vorgabe entfalten kann, die Zusammensetzung von Akteuren und Aktivitäten sich aus dem Prozess heraus ergibt und, schließlich, Potentiale und Vermögen nicht von vornherein absehbar oder planbar sind, da können sich Räume öffnen, die für zwecklose Gedankenarbeit zugänglich sind (5.2.6). Sie sind noch nicht geprägt von ortsansässigen Denkmustern, sondern offen für fremde Gedankenwelten. Diese Bedingungen machen solche Räume zu „Duty-Free-Zonen des Gedankenaustausches“ (Milan), Denkoasen also, die sich ohne zweckgebundene Abgaben oder gebührenpflichtige Aufträge entfalten können. Milan: Und da ist es uns eigentlich darum gegangen, dass wir einen Raum haben wollten, wo es eben nichts konkret Formuliertes gibt, was passieren sollte – wo man einfach die Fähigkeiten, die man sich da angeeignet hat, einmal ohne irgendeinen Druck wuchern lässt und schaut, was herauskommt. Das versuchen wir eigentlich immer noch aufrecht zu erhalten.
Im Vorhaben, Räume zu schaffen, in denen Ideen ohne Intention gesponnen, freigesetzt und unmethodisch kreiert werden, zeigt sich der Versuch, Passagen zur Produktion von Möglichkeiten zu etablieren. Es geht allerdings weniger um ein Anbahnen möglicher Ziele, vielmehr um das Ausloten möglicher Ansätze von
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Praxis. Ziele setzen bereits einen Bereich des Möglichen voraus, Ansätze hingegen entwerfen diesen erst. An dieser Stelle müssen wir den Begriff der Möglichkeit näher bestimmen, indem wir die englische Differenzierung von possibility und opportunity heranziehen (Linstead & Thanem 2007). Im einen Fall (possibility) geht es um einen Bereich des Möglichen, der die Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit von Akteuren auf das beschränkt, was in ihrer Macht steht. Akteure tun, was im Rahmen des Möglichen liegt und richten ihr Handeln nach der Strukturiertheit des gegebenen Handlungsfeldes aus. Der konkrete Vollzug erfolgt dabei im Modus der Realisierung. Das betrifft zum einen die Ausschöpfung vorhandener Kapazitäten und Kompetenzen, zum anderen die Einhaltung bestehender Regeln und Normen, schließlich auch die Befolgung sozialer wie moralischer Wertsysteme. Das Mögliche ergibt sich hier als Effekt eines gekerbten, funktionalisierten und eingeschriebenen Territoriums, das anzeigt, was denkbar, anwendbar, realisierbar ist und somit vorgibt, in welchem Modus Praxis in Frage kommen und relevant werden kann. Im anderen Fall (opportunity) steht hingegen das Mögliche nicht für ein angelegtes Potential, das es zu realisieren gilt, sondern für eine offene Virtualität, die unabhängig vom Bestehenden ist. Das Mögliche bietet sich im Sinne einer ungeahnten Gelegenheit, welche die Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit von Akteuren überhaupt erst dimensionalisiert. Praxis erfolgt dabei nicht auf Basis jener Macht, die durch bestehende Territorien, Identitäten oder Vermögen festgelegt ist, sondern sie erschließt sich aus jener Ermächtigung, die durch Affekte und Begehren freigesetzt wird. Der konkrete Vollzug geschieht hier über den Modus der Aktualisierung. Während die Realisierung eines Potentials die Konsumtion von Möglichkeiten darstellt, entsteht in der Aktualisierung von Virtualität deren Produktion. Im einen Fall bleibt das Subjekt im Wesentlichen auf seine konsumptive Macht beschränkt, im anderen hingegen macht es als produktives Subjekt Transformation möglich.87 Diese Transformation wiederum ermöglicht, sich aus eigenen Kräften Handlungsräume zu schaffen und damit Gelegenheiten wahrzunehmen, „which make us aware of freedom as a movement” (Hjorth 2003: 227). Die p.m.k, so können wir folgern, ist ein Praxisraum, der fortlaufend die Aktualisierung von Virtuellem ermöglicht, indem er Menschen und Ideen zusammenbringt, ohne dabei schon konkrete Praxis zu bestimmen. Vielmehr als durch eine bestimmte Produktion zeichnet sich der Raum durch eine bestimmte Atmosphäre aus.
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Vgl. Kapitel 5.2.1, in dem der Zusammenhang von Praxis und Transformation durch die Kategorie der Immanenz gezeigt wird.
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Milan: Was ganz konkret passiert, ist für uns in der derzeitigen Phase nur von dem her wichtig, weil es generell einfach [die] p.m.k einer der wesentlichen Punkte ist, die so die – nennen wir es kulturelle Stimmung in der Stadt mit beeinflussen. Wie man mit Leuten umgeht – auch, was zählt einfach auch zu den Punkten, wo ich am Abend hingehe und mir Sachen wieder anschaue und da wieder auf Ideen komme.
Zunächst findet also eine Art Austausch ohne Produktionsverhältnisse statt, ein Vernetzen ohne feste Güter. Die Netzwerke, die daraus entstehen, bleiben anfangs noch bar jeder instrumentellen Intention. Im Grunde sind es oftmals noch gar keine Ideen, die im Vernetzen ausgetauscht werden – als wären diese bereits fertig, abgeschlossen, und harrten nur noch einem Marktplatz der Präsentation entgegen. Vielmehr entstehen viele Ideen erst in der Vernetzung, aus ihr heraus. Das schöpferische Moment der p.m.k liegt demnach vielleicht gerade darin, nicht bloß eine Börse von Ideen zu sein, wo diese nach ihrem Potential bewertet und entsprechend ihrer Umsetzbarkeit realisiert werden. Zweifellos, diese Funktion als Sammelstelle existiert und ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Allerdings ist sie zu unterscheiden von der produktiven Entfaltung eines Denkraums, in dem etwas Neues entsteht. Akteure tauschen sich aus, Gedanken, Vorstellungen, Meinungen, Erfahrungen und Wünsche – und finden sich womöglich gemeinsam in einer Idee, einer adäquaten Idee (2.5.3), wieder; möchten sie weiterdenken und weiterspinnen, vorerst aber noch ohne konkretes Ziel. Der Gedanke einer Materialisierung, einer konkreten Form von Praxis, liegt diesem Prozess zunächst noch fern. Am Anfang weiß man noch nicht, wohin das Ganze führt. Adi: Ich bin überhaupt mehr so ein Vernetzungstyp. Ich mache total gern mit irgendwelchen Leuten was zusammen, weil ich mir denke, wenn mehr Leute was zusammen machen, dann hat man einfach von verschiedenen Seiten Ideen und dann kommt vielleicht was Lustigeres heraus, wie wenn man es halt nur allein macht. Und es ist auch leichter durchführbar, wenn man es zu mehrt macht.
Spätestens an dieser Stelle kommt ein weiterer Aspekt der produktiven Entfaltung von Möglichkeiten zum Vorschein: die Steigerung von Macht durch kollektive Praxis (6.2). Bereits die Differenzierung von potentiellen und virtuellen Möglichkeiten zeigt die Kategorie der Macht in ihrer produktiven Dimension (2.1.1). Individuen haben nicht Macht, sie sind machtvoll. Ob virtuelle Handlungsmacht aktualisiert wird, hängt nicht von den Eigenschaften ab, die Individuen besitzen, sondern von den Relationen, die sie eingehen. Macht wird hier nicht mehr im Verhältnis von Ursache und Wirkung gedacht, sie ist weder Grund noch Resultat von Praxis. Vielmehr ist sie immer schon gegeben – virtuell gegeben. Die Frage nach ihren konkreten Aktualisierungen ist die Frage nach den
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Räumen und Anordnungen, Akteuren und Praktiken, Konstellationen und Relationen, aus denen sie als Effekt hervorgeht. Milan: Ja, mir ist noch fast nie irgendwas eingefallen, wenn ich allein wo gesessen bin. Das heißt, es ist – wenn ich das Ganze jetzt zum Beispiel da – unseren Verein komplett allein machen würde, würde ich trotzdem – wenn ich entweder ins Nachbaratelier zum Adi rüber gehe und dort wieder irgendwelche blöden Ideen mit ihm austausche oder im Innkeller betrunken mit irgendjemand über irgendwas, was man doch machen könnte, vor mich hin philosophiere – es wäre trotzdem eigentlich ständig irgendwo ein Austausch da. Das ist ja eben das Schöne an unserem Verein, das Umherschwebende, Umhertreibende – dass eben die gesamten Ideen sowieso alle irgendwo zwischen den Menschen da herumfließen und schwimmen und man halt zur richtigen Zeit da sein muss, dass eine Idee vorbeischwimmt.
Entsprechend diesem Verständnis verkörpert Macht keine feste Entität, die zwischen Menschen oder unter ihnen existiert. Keine Entität, die den einen mehr, den anderen weniger zur Verfügung steht, und die sich proportional summieren ließe, wenn Individuen sich, aus welchen Gründen immer, zusammenschließen. Solche Kausalrelationen würden Macht als reaktive Form definieren, bei der es vorwiegend um Fragen der Verteilung, Organisation und Regierung ihrer Anteile geht. Die aktive Form hingegen setzt kein bestehendes Machtquantum voraus, sondern strebt nach der steten Kreation und Verknüpfung von Macht. Aus alldem geht jedoch auch hervor, dass die irreduzible Virtualität von Macht noch nicht zu verwechseln ist mit den realen Machtverhältnissen, gleich wie die Entfaltung von Handlungsmöglichkeiten noch nicht in der Nutzung existenter Ressourcen aufgeht. So erklärt sich, warum nicht jeder Austausch bereits ein produktiver ist und warum nicht jede Vernetzung bereits kreative Freiräume schafft. Da die Austauschbeziehungen in der p.m.k erst als Effekt aus kollektiver Praxis resultieren, anstatt ihr vorauszugehen, bleiben sie oft auf die Ebene pragmatischer Belange beschränkt (6.1.3). Es kommt dann zwar zu einem technischen Informationsaustausch, seltener aber zum offenen Gedankenaustausch. Erwin: Es gibt ja nur eine Handvoll Vereine, die sich für Musik, die wir veranstalten, interessieren, die halt unsere Konzerte besuchen oder wir andere Konzerte. Das ist meinetwegen bei uns – also die, die uns am Nähesten liegen, wo wir auch persönliche Freundschaften haben (...), da ist eigentlich der Erfahrungsaustausch schon relativ gut. Wenn irgendwer von uns ein Konzert macht, dann fragt man, wenn man selber nicht dort war, schon ein paar Tage später nach, wie war das, waren Probleme, wie war’s bei euch mit der Schankanlage und so. Da gibt’s schon eigentlich relativ guten und direkten Kontakt. Mit anderen Vereinen, wo es musikalisch nicht so dasselbe ist, gibt’s schon auch Kontakt und man kennt sich halt, aber man trifft sich jetzt nicht so richtig, persönlich. Es gibt auch keinen Erfahrungsaustausch.
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Die Austauschmodi in der p.m.k müssen differenziert werden in Gedanken-, Erfahrungs- und Informationsaustausch. Informationsaustausch ergibt sich aus der bloßen Notwendigkeit des geteilten Handlungsraums, während Gedanken- und Erfahrungsaustausch oft bereits eine gemeinsame Wahrnehmung und Interessenslage voraussetzen, die erst einen authentischen, direkten Zugang ermöglichen. Anders gesagt: Kooperation bedeutet noch nicht Freundschaft. Mit jemandem einen kollektiven Arbeitsraum zu teilen, generiert noch nicht dieselbe „Kontaktqualität“ (Boltanski & Chiapello 2006: 164) wie gemeinsame Geschmäcker und Interessen, Sympathien und Freunde. Wir müssen daher auch die Beziehungsmodi grob unterteilen in Bekanntschaften und Freundschaften. Bekanntschaften ergeben sich aus dem Netzwerk heraus, ohne gemeinsame Sinn- und Bedeutungshorizonte umfassen zu müssen. Letztere sind grundsätzlich auch nicht notwendig, um Praxis zu ermöglichen. Wie Weick (2001a) anschaulich darlegt, funktioniert die konzertierte Interdependenz eines organisationalen Gefüges auch ohne eine zugrundeliegende, allumfassende Kohärenz. „Simply acting in concert was enough, and there was no need to know each other well in addition. This social form resembles what Eisenberg (…) called nondisclosive intimacy, by which he meant relationships rooted in collective action that stress ‘coordination of action over the alignment of cognitions, mutual respect over agreement, trust over empathy, diversity over homogeneity, loose over tight coupling, and strategic communication over unrestricted candor’.“ (Weick 2001a: 118)
Mit anderen Worten: Praxis strukturiert weitgehend die Relationen – und nicht umgekehrt. Kollektive Praxis funktioniert, ohne dass alle Akteure eine gemeinsame Wellenlänge haben müssen. Wo jedoch eine solche besteht, können wir von Freundschaften sprechen. Freundschaften haben eine tiefere Verbindung, seien dies ähnliche Biographien, gemeinsame Vergangenheiten, Erlebnisse oder Initiationsereignisse. Sie fließen ein in reale Machtkonstellationen, begründen Vorzüge wie Vorbehalte und verweisen damit auf psycho-soziale Formen der Inklusion und Exklusion innerhalb des Gefüges. Zwar kommen solche internen Freundschaftsbande selten strategisch zum Einsatz, etwa indem sie als systemimmanente Türhüter fungieren würden, dennoch sehen wir: Spätestens hier stößt die Virtualität der Macht an die Grenzen der realen Verhältnisse – da also, wo Bekanntschaften nicht über die Ausschöpfung gegenseitiger Ressourcen hinausgehen und Freundschaften eine unvoreingenommene Entfaltung virtueller Möglichkeiten verhindern. Verschärft werden solche Dynamiken durch das tendenzielle Verschwimmen der Grenzen zwischen Bekanntschaft und Freundschaft, insofern nicht immer klar zu unterscheiden ist zwischen einem instrumentellen und einem immateriellen Beziehungsmodus. „Wie kann man überhaupt noch wissen, ob eine Einladung zum Abendessen, die Vorstellung eines guten Freun-
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des, die Teilnahme an einer Diskussion ohne Hintergedanken erfolgt, oder ob dabei ein Kalkül im Hintergrund steht?“ (Boltanski & Chiapello 2006: 493).88 Welche generellen Schlüsse lassen sich ziehen? Wir haben die p.m.k als Ort und Raum der Ideengenerierung vorgestellt, in dem weniger eine Vernetzung von Ideen stattfindet, vielmehr Ideen durch Vernetzung entstehen. Mit dem ontologischen Verständnis von Möglichkeit als Virtualität und Macht als aktivem Praxismodus gehen wir über traditionelle Begriffsbestimmungen hinaus, die Macht als Eigenschaft oder Eigentum denken und darauf Dichotomien wie Macht vs. Ohnmacht oder Herrschaft vs. Freiheit aufbauen. Mitnichten werden damit Verhältnisse des Macht-Habens und Macht-Über-Etwas-Habens (power over) geleugnet, bloß beschreiben diese weniger die Phänomene der Macht als deren Effekte. „Power is above all a relational effect, not a property that can be held by someone or something“ (Clegg et al. 2006: 223). Deshalb kann erst ein prozessuales Verständnis erklären, wie sich Macht als Ermächtigung (power to) durch Relationen und Konnexionen entfaltet und dabei keineswegs auf den Bereich des potentiell Möglichen zu reduzieren ist. Erst der Bereich der Virtualität ist es, der unabhängig vom Realen den Prozess der Machtentfaltung entsprechend dimensionalisiert. Solange Macht nur im Verhältnis von Potentialität und Realisation gedacht wird, öffnen sich schwerlich Räume zur Entfaltung aktiver und produktiver Handlungsmöglichkeiten. Dies zeigt sich anschaulich an der kollektiven Praxis der Ideengenerierung in der p.m.k. Während der Austausch mit Anderen regelmäßig notwendig ist, damit Neues entsteht, entfalten sich komplexe Konnexionsprinzipien der Angewiesenheit und Verbundenheit (6.1.1). Das Individuum, auf seine Macht beschränkt, könnte vielleicht sein Potential ausnutzen, nicht aber die Virtualität an Möglichkeiten, die sich im gemeinsamen Denkraum entfaltet. Mithin generiert kollektive Praxis umfassendere Formen der Machtentfaltung, seien dies Imaginationsmacht, Gestaltungsmacht oder bloße Vollzugsmacht: Gemeinsam kann man sich mehr vorstellen, wird Praxis spannender oder einfach leichter durchführbar. Umgekehrt zeigen vornehmlich Freundschaften sehr wohl die Grenzen virtueller Möglichkeiten auf. Sie zeugen von der Gewordenheit des Gefüges und ziehen Linien vor, die wenn auch keine nachhaltige Stratifizierung, so doch vorübergehende Limitierungen bewirken. Nichtsdestotrotz bieten auch sie immer wieder Gelegenheit, anders gefaltet zu werden und Fluchtlinien zu entwerfen, entlang derer neue Ideen entstehen.
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Boltanski & Chiapello (2006: 493ff.) unterscheiden zwischen Geschäft und Freundschaft bzw. zwischen beruflichen und persönlichen Beziehungen. Im Falle der p.m.k scheint mir die Differenzierung von Bekanntschaft und Freundschaft angemessener.
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5.3.4 Kohärenz und Renitenz: Relationen und Proportionen Jeder verwendet zwar den Ort für seine eigenen Veranstaltungen, aber alles, was die Einzelperson oder die Einzelgruppe tut sozusagen, produziert, veranstaltet oder nach außen trägt, kommt im Endeffekt wieder aufs Gesamte zurück. Ein Akteur (Christoph) über das Verhältnis von Individuum und Kollektiv.
Bei jedem organisationalen Gefüge, das eine große Heterogenität von Akteuren in sich fasst, stellt sich die Frage, wie viel Eigenes das Kollektiv verträgt. Wie sehr bringen sich Individuen ein, ohne dabei den Gesamtzusammenhang zu gefährden? In welchen Formen kann sich das Eigene artikulieren? Und was bedeuten diese Praktiken wiederum für die Kohärenz des Kollektivs? Ist es ein in sich abgestimmter Organismus mit einer Vielzahl von Bestandteilen, die eine relativ feststehende Funktion und Zuordnung auszeichnet? Oder mehr ein loses Netzwerk, in dem die einzelnen Teile zwar verbunden, aber nicht starr verkettet sind? Von all den Ebenen, über die sich das Eigene der Akteure im Ganzen der p.m.k artikuliert, fällt die Programmgestaltung am deutlichsten auf. Betrachten wir daher eingangs deren technische Praxis, also die Ausfüllung des inhaltlichen Programms mit den Veranstaltungen der einzelnen Mitglieder. Zunächst tragen alle Akteure ihre Termine in den Kalender ein, wobei es weder Privilegien noch Vorrechte gibt, ebenso wenig wie Pflichten oder Auflagen. Mögliche Terminkollisionen werden durch das Recht des Schnelleren verhindert. Ursula, die Geschäftsführerin, beschreibt es so: „Und da trägt einfach jemand ein, wenn er was hat. Und wer zuerst mahlt, kommt zuerst. Und das funktioniert. Und so kommt das Programm zustande.“ Kommt es dann aber nicht zu Problemen, dass einzelne Vereine überproportional viele Veranstaltungen machen, andere dagegen keine Termine mehr bekommen? Wieder Ursula: „Nein, da haben wir jetzt schon ein bisschen eingebremst. Da haben sich schon Regelungen herauskristallisiert.“ Diese Regelungen bestehen darin, dass Serien-Termine nur einmal monatlich stattfinden können, ebenso begrenzt sind wiederkehrende Filmabende. Auch dürfen Terminbelegungen nicht „auf Verdacht“ erfolgen, sondern nur auf Basis konkreter Veranstaltungen, weshalb gilt: „keine Termine ohne Programm“ (Matthias). Wir sehen: Regeln zur Programmgestaltung werden erst festgelegt, nachdem sie notwendig geworden sind, sie haben sich aus der Praxis herauskristallisiert (5.2.3). Hat sich ihre Relevanz erhärtet, dann wird die Praxis durch sie lediglich „eingebremst“, nicht jedoch verhindert. Aber nicht nur Regeln haben sich aus dem Prozess herauskristallisiert, sondern auch einzelne Praktiken: Bei Bedarf werden Termine untereinander getauscht, bei Programmausfällen suchen die betroffenen Akteure meist selbst nach Ersatz, bei strittigen Veranstaltungen finden im Vor- oder Nachfeld lebendige Debatten im Beirat oder im internen Forum statt. Doch trotz dieser strukturierenden Routinen bleibt die Programmges-
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taltung eine latente Reibungsfläche, insofern sie nicht nur Disziplin voraussetzt, sondern auch Vertrauen. Erwin: Natürlich ist das das Problem. Muss das stimmen? Ich kann ja einen Raum reservieren und einfach einen Bandnamen reinschreiben und dann ist der einmal reserviert. Und da glaube ich schon, dass die meisten Vereine schon so ehrlich sind. Und auch, wenn einmal Verhandlungen sind mit Bands oder mit dem Booker – weil die können sich auch über zwei Wochen hinziehen – dass man dann schon sagt, jetzt kurzfristig diese Woche einmal den Termin für uns offen halten. Das ist sicher kein Problem. Aber mir ist schon öfter aufgefallen, dass eben dann Veranstaltungen ganz anders abgelaufen sind, wie sie an und für sich zum ersten Mal ins Forum eingetragen worden sind.
Trotz etablierter Routinen lässt die Praxis der Programmgestaltung den Akteuren einen Ermessensspielraum offen, weshalb die vorgesehenen Regeln dafür anfällig sind, durchbrochen oder umgangen zu werden. Ihre Anwendung bleibt also letztlich unterdefiniert und erfordert das gegenseitige Vertrauen in den angemessenen Gebrauch aller Akteure. Angemessen ist der Gebrauch, wenn er fair ist – und fair ist er, wenn er allen Akteuren gleichbleibende Bedingungen und Möglichkeiten zur Praxis eröffnet.89 Dazu bedarf es wiederum Disziplin, Respekt, Verlässlichkeit und Selbstverpflichtung. Ähnlich dem kategorischen Imperativ bei Kant stellen viele Akteure das Handeln des Einzelnen im Rahmen des Kollektivs unter eine Generalisierbarkeitsannahme, wonach das eigene Tun immer auch als Gesetz der Allgemeinheit gelten können soll. Zum Tragen kommt diese moralisch-normierende Dimension allerdings meist nur in Form eines Appells, selten als Imperativ. Prinzipiell halten die meisten Akteure am wechselseitigen Vertrauen in die jeweilige Selbstführung fest und unterstellen keine unlauteren Motive, ohne persönlich und nachhaltig davon erfahren zu haben. Da sich alle im selben Handlungsraum bewegen, wird ihnen auch ein höheres Maß an Verständnis zuteil für etwaige Komplikationen, die gelegentlich eine abweichende Anwendung der Regeln erfordern. Übertreten diese Abweichungen jedoch den Rahmen dessen, was vorstellbar oder nachvollziehbar ist, unterlaufen sie also 89
Vgl. dazu Schmid (1998), der das Prinzip Fairness – mit Anleihen bei John Rawls Gerechtigkeitstheorie – nicht normativ als natürliche Pflicht begreift, sondern als Selbstverpflichtung des Subjekts der Lebenskunst, in der sich die individuelle Sorge um Gerechtigkeit manifestiert. „Fair ist es, einen eigenen Vorteil zurückzustellen, wenn Andere durch seine Wahrnehmung benachteiligt würden; fair ist es ferner, eine Inanspruchnahme von Privilegien durch adäquate Selbstverpflichtungen auszugleichen. Des weiteren sollte das Subjekt dem Grundsatz der Fairness zufolge ‚nicht die Früchte fremder Anstrengung in Anspruch nehmen, ohne selbst seinen fairen Teil beizutragen’ [J. Rawls]. Und schließlich verlangt die Fairness, den Rahmen jener Regeln zu respektieren, die als gerecht anerkannt werden können“ (Schmid 1998: 282).
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den kollektiven Vertrauens- und Verständnishorizont, dann ist wenn auch nicht die Funktionalität, sehr wohl aber die Kohärenz des Gefüges exponiert. Dann nämlich löst sich der übergreifende Bedeutungszusammenhang auf, der kollektive Handlungssinn setzt aus und führt zu einer einschneidenden Zäsur des Organisationsalltags – eine Zäsur, die Weick als „kosmologische Episode“ definiert: „an interlude in which the orderliness of the universe is called into question because both understanding and procedures for sensemaking collapse together“ (Weick 2001a: 109). Während das Verhältnis des Eigenen zum Kollektiv anhand des Beispiels der technischen Programmgestaltung auf eine organisationale Dimension verweist, betrifft es auf einer anderen Ebene Dimensionen der Identität und strategischen Ausrichtung. Im einen Fall geht es um die Frage, wie kollektive Strukturen und Praktiken von einzelnen Akteuren produziert und gefaltet werden, im anderen darum, welche Positionierungen und Geltungsansprüche das Kollektiv als solches entfaltet. Auf den ersten Blick mag es zunächst nichtig erscheinen, Identität und Ausrichtung, Position und Bedeutung der p.m.k zu problematisieren. Wie wir einleitend gesehen haben (4.1), ist die p.m.k eine Plattform von und für Kulturarbeiter(n), ein „Dienstleister“, der einen gemeinsamen Raum zur Verfügung stellt, eine „Regiegemeinschaft“, die das Schaffen ihrer Mitgliedsvereine unterstützt und fördert – kurz: ein Netzwerk, das die Arbeit seiner Akteure sichtbar macht, selbst aber nichts Sichtbares produziert. Insofern können die Akteure gar nicht anders, als ihr Eigenes in den Vordergrund zu stellen, denn das schließlich ist der kollektive Zweck. Ob sie dabei selbst auftreten oder andere engagieren, ob sie viel machen oder wenig, pompös agieren oder bescheiden, all das steht ihnen frei und muss ihnen freistehen. Die Selbstpräsentation ist somit weniger Recht denn Pflicht der Akteure, und die Form, wie sie das tun, bleibt ihnen überlassen. Allerdings ist da eine Grenze des Eigenen erreicht, wo der kollektive Raum eine strategische Aneignung erfährt, die das Gefüge als Ganzes betrifft. Da, wo das Eigene die Identität des Ganzen kolonisiert, entsteht ein Ungleichgewicht innerhalb der horizontalen Machtverteilung, insofern es die Artikulationsweisen aller Akteure in ein anderes Licht stellt. Sebastian: Dieses Problem sehe ich nur in den radikal-politischen Ausrichtungen. Wenn zum Beispiel – es gibt bestimmte Gruppen, die bereits glauben, wir haben ein autonom-linkes Kulturzentrum, weil sich unsere Linksheiligen – sag ich einmal ganz vorsichtig – gerne mehr in den Vordergrund drängen, als sie sollten.
Zwar werden wir der Frage nach der strategischen Ausrichtung des Kollektivs noch weiter unten ausführlich nachgehen, indem zu zeigen ist, wie das Gefüge in spezifischen Situationen durchaus als ein erstarkter Akteur mit übergreifenden Zielen auftreten kann (6.3). Davor aber gilt es, die organisationalen Implikatio-
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nen einer strategischen Aneignung des kollektiven Raums aufzuzeigen. Obwohl Ausrichtung und Aneignung keine klar zu trennenden Kategorien sind, markieren sie eine Grenze zwischen dem, was das Gefüge kollektiv tut, und dem, was mit dem Gefüge individuell getan wird. Sobald Akteure eigenwillig im Namen des Kollektivs agieren, ist nicht nur dessen politische, sondern zuallererst auch seine organisationale Kohärenz bedroht. Dass dieser funktionale Zusammenhang oft schon durch wiederkehrende Alltagspraktiken gefährdet sein kann, zeigt sich besonders anschaulich am „Problem“ des gemeinsamen Raums.
5.3.5
Divergente Bewegungen: Differenzen im Raum Es ist so – es sind doch viele Vereine mit vielen Meinungen. Ein Akteur (David) kommentiert die Heterogenität der p.m.k.
Wird ein Raum von knapp dreißig verschiedenen Vereinen kollektiv genutzt, dann scheinen alltägliche Komplikationen hinsichtlich seiner ordnungsgemäßen Benützung nahezu unumgänglich. Wenn etwa nach einer Veranstaltung die Böden nicht blankgeputzt oder Bierflaschen nicht weggeräumt sind, wenn bei der Abrechnung etwas nicht stimmt oder irgendwelche Kabel verlegt wurden, dann sind dies Vorkommnisse, die für sich genommen noch keine allgemeinen Rückschlüsse rechtfertigen. Während meiner intensiven Beobachtungs- und Befragungsphase hatte ich den Eindruck, dass die Mehrheit der Akteure die gemeinsame Nutzung der p.m.k-Räumlichkeiten in der Regel als unproblematisch betrachtet. Die konstatierten Probleme waren meist ähnlich gelagert und wurden auch mit ähnlicher Hinnahmebereitschaft dargestellt. Adi: Dann sind halt ab und zu einmal nicht alle Becher abgewaschen – das ist so – mein Gott.
Nicht zuletzt aufgrund meiner eigenen Beobachtungen möchte ich mich daher mit einer Reihe von organisatorischen Missständen nicht weiter im Detail befassen, da ich sie nicht für besonders signifikant betrachte und denke, dass man ähnliche Missstände, wenngleich mit je unterschiedlicher Intensität, in allen Vereinen, Plattformen, Institutionen, Organisationen, Unternehmen – generell gesprochen: in allen Praxiskollektiven findet, ohne dabei schon auf besondere Organisationsformen oder Organisationskulturen schließen zu können. Zu betonen bleibt an dieser Stelle lediglich die Selbstverständlichkeit, mit der die Akteure der p.m.k die Möglichkeit von Auffassungsunterschieden und Unstimmigkeiten quittieren. Dass bei einem Netzwerk von knapp dreißig Vereinen und Initiativen unterschiedliche Meinungen und Interpretationen allein bei organisatori-
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schen Alltagsfragen schon aufkommen können, wird dabei als Allgemeinplatz erachtet, der ein hohes Maß an pragmatischer Toleranz wie Ignoranz nach sich zieht. Da solche Auffassungen von Selbstverständlichkeit mehrheitlich vorherrschen, hat sich ein kollektivierter Toleranzbereich darüber herausgebildet, was im Rahmen des Erträglichen ist. Selbst wenn darin bereits das Eingeständnis impliziert ist, dass Organisation nie perfekt ablaufen kann, dass Kleinigkeiten und Problemchen natürlich sind, halten einzelne Akteure am ambivalenten Eindruck fest, dass man einem Praxiskollektiv ähnlich wie einer Schicksalsgemeinschaft ausgeliefert ist und daher oft mehr tolerieren muss als man möchte (oder aber ignorieren kann). David: Aber es ist halt schon so, dass man da auf Gedeih und Verderben – und dann aber auch bei den Vorteilen – einfach unter einem Hut steckt. Und wenn bei einem jetzt die Zapfsäule kaputt wird und man hat am nächsten Tag das Konzert, dann ist das einfach so. Da hängt man halt dann auch mit drinnen.
Eine andere Qualität von Ambivalenz ist allerdings erreicht, wenn sie sich nicht mehr als Ernüchterung über die empirische Angewiesenheit auf das Praxiskollektiv artikuliert, sondern als Enttäuschung über die normativen Ansprüche einer Lebensform. Matthias: Aber das p.m.k-Beispiel schreckt mich ein bisschen ab leider, weil ich mir denke, wenn’s dann so versifft und wenn jedem alles wurscht ist, weil’s eh niemandem wirklich gehört, sondern weil es halt jeder benutzen darf. Das ist leider das Dilemma, wenn man so was hat.
Die hier aufgeworfene normative Dimension gibt Aufschluss über den Anspruch zur Selbstverantwortung und Selbstdisziplinierung, den die Struktur des gemeinsam geteilten Raums bei gleichzeitiger Heterogenität der Akteure mit sich bringt. Die Probleme, die dabei auftreten, lassen sich anschaulich an der Frage der Sauberkeit und Instandhaltung des Ortes darstellen, wofür wir zunächst die Perspektive der Putzfrau (Barbara) heranziehen, die nach jeder Veranstaltung die Räumlichkeiten der p.m.k reinigt. Wenngleich alle Akteure dazu angehalten sind, nach ihren Veranstaltungen selbst aufzuräumen (Aufkehren, Leergut wegbringen, Geschirr spülen etc.) und die p.m.k „besenrein“ zu hinterlassen, ist die Putzfrau engagiert, um eine gründliche Endreinigung durchzuführen. Da die Sauberkeit und Benutzbarkeit des Raumes immer ein Diskussions-, manchmal auch ein Konfliktthema unter den Akteuren darstellt, ist die Putzfrau zugleich die erste und oft einzige Instanz, die diverse Mängel und Missstände adressieren und kommunizieren kann.
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen Barbara: Dann gibt’s wieder zum Beispiel bei der „Gürtellinie“ [Name des Vereins geändert, M.V.], da ist es eigentlich auch immer in Ordnung. Und sie spülen jetzt auch immer ab, was früher manchmal passiert ist, dass dann kiloweise schimmlige Kochtöpfe herumgestanden sind. Die „Arena Tirol“ [Name des Vereins geändert, M.V.] bemüht sich zwar, sauber zu sein, lassen aber die Boxen drüben. Verstellen sie in die verschiedensten Räume. (...) Oder sie stapeln alle Boxen übereinander (...) und [ich] sag’s halt immer wieder. Aber manche machen’s und manche nicht.
Wiederkehrende Versuche von Seiten des Beirats, Sauberkeit und Ordnung durch einheitliche Regelungen sicher zu stellen, haben bislang nur selten den gewünschten Erfolg gebracht. Sei es, dass für jeden Abend eine Art SchmutzKaution eingehoben wird, dass die Veranstalter anhand von Checklisten ihre Aufräumarbeiten protokollieren oder aber dass am Ende jeder Veranstaltung Fotos von den Räumlichkeiten gemacht werden – aufgrund des Prinzips der Selbstführung und in Ermangelung einer verbindlichen Kontrollinstanz (6.1.2) sind solche Vorschläge letztlich immer von der Selbstverantwortung und Selbstdisziplinierung der Akteure abhängig. Werden sie nicht einheitlich angenommen oder ausgeführt, dann offenbaren sich darin nicht nur die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was Sauberkeit und Ordnung bedeutet. Vielmehr noch kommen dabei die ethischen Prinzipien Solidarität, Fairness und Verantwortung zum Tragen, insofern gerade der gemeinsame Raum die Möglichkeit offen lässt, etwas nicht zu erledigen, weil am nächsten Tag ohnehin ein anderer damit fertig werden muss. Wir sehen, die Organisationskultur ist deshalb sehr stark auf die Eigenverantwortung der Akteure angewiesen, weil es keine verbindlichen Führungs- und Kontrollinstanzen gibt. Eine andere, womöglich noch strittigere Dimension von Selbstverantwortung und Selbstdisziplinierung liegt nicht so sehr in der Nutzung des Kollektivraums, sondern in seiner Aneignung. Die Akteure können im gemeinsamen Raum nur schwer ihre eigenen Regeln etablieren, weil diese durch voneinander abweichende Praktiken unterlaufen werden. Unterschiedliche Regelungsansprüche prallen aufeinander, die oft gleichbedeutend sind mit unterschiedlichen Professionalisierungsansprüchen (5.2.2). Matthias: Das Problem ist auch bei der p.m.k – jeden Tag ein anderer Veranstalter, jeden Tag ein neuer Türsteher. Die einen sind ganz locker und haben fast keine Ausgaben, sagen natürlich, nicht so tragisch, machen wir halt statt fünf zwei (Lachen). Und das macht es den anderen dann ganz schwer, wenn sie einmal eine rigorose Türpolitik machen wollen und sagen, ja, wir haben fünf.90 90
Mit „Türpolitik“ spricht der Akteur unterschiedliche Modalitäten beim Kassieren von Eintrittsgeldern an. Verursacht ein Abend keine hohen Fixkosten für einen Veranstalter, so hat er, abge-
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So kommt es, dass sich einzelne Vereine bei ihren Versuchen, den Raum mit einer beständigen und wirksamen Ordnung zu reglementieren, im wortwörtlichen Sinne entgegenarbeiten. Manche Akteure wollen den Raum temporär zu einem möglichst selbstbestimmten Handlungsort transformieren, wobei spezifische Praktiken dazu ermächtigen sollten, den Ort mit einer vorübergehenden Identität zu besetzen (6.2.5). Für andere ist der Raum an sich schon Ermächtigung genug und wird daher nicht durch zusätzliche Maßnahmen spezifiziert oder konkretisiert. Besonders deutlich wird diese unterschiedliche Auffassung des Raums bei Vereinen, die ausdrücklich politische Ziele verfolgen (6.1.5). Hier überschreitet die eigenmächtige Aneignung oft jene kollektive Struktur, deren Grenzen im Gegenzug von außen wieder entsprechend eingemahnt werden müssen, um den Raum für seine vielseitige Nutzung offen zu halten. Ursula: Da gibt’s, finde ich, oft mentale Abgrenzungsschwierigkeiten, dass zum Beispiel die „Gürtellinie“ eigentlich glauben, wir sind so was wie ein besetztes Haus oder so. (Lachen) Da muss man schon kontinuierlich immer wieder in den Sitzungen einbremsen oder eingrenzen irgendwie. Aber ich finde, es hat sich jetzt doch gut eingespielt.
Für Grenzüberschreitungen in der Aneignung des Raumes gibt es kein geregeltes Prozedere, keine vorgefertigten Sanktionsmechanismen. Die beiden für Organisation und Koordination zuständigen Angestellten der p.m.k, Ursula und Christoph, sprechen immer wieder von der Notwendigkeit, achtsam und dahinter zu sein und sehen sich dabei selbst in einer wichtigen Vermittlerposition. Allerdings ist von ihnen selten zu hören: „Das geht so nicht!“, „Das ist nicht erlaubt!“ oder „Das ist gegen die Vorschriften!“ Anstelle eines sanktionierenden Überwachungs- und Disziplinierungsvokabulars ist ihre diplomatische Führungsrhetorik durchzogen von Appellen an die Eigenverantwortung der Akteure sowie an deren Verbundenheit und Angewiesenheit im Rahmen des Kollektivs. Allein die Wortwahl gibt diese Umsicht wieder: Ausdrücke wie einbremsen oder eingrenzen signalisieren Geschwindigkeitsübertretungen, Grenzüberschreitungen, signalisieren also einen Grad an Intensität an, der beizeiten zu hoch ausfallen kann. Anstelle ihn jedoch einzuebnen oder völlig zu negieren, sollte er lediglich temperiert, in Zaum gehalten werden. Oder der Ausdruck eingespielt, der auf das Bild eines eingespielten Teams verweist. Eingespielt ist ein Team, eine Band, Menschen, die sich teils blind, teils wie selbstverständlich verstehen, soweit jedenfalls, dass nicht mehr alles erklärt und geklärt werden muss. Die Mitspieler wissehen von seinem persönlichen Ermessen, mehr Spielraum, durch flexible und spontane Preispolitik attraktive Eintrittspreise festzulegen (und kann etwa statt fünf Euro nur zwei verlangen).
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sen über ihre Aufgaben und Grenzen Bescheid, ohne dass dies von außen angeordnet werden müsste. Was aber passiert, wenn dieser selbstverständliche Spielmodus nicht mehr funktioniert? Welche sozialen Kontrollmechanismen und Konfliktlösungsstrategien kommen dann zum Einsatz? Diesen Fragen wollen wir im nächsten Kapitel nachgehen.
5.3.6
Spielräume des Umgangs: Einlenken und Ausgleichen Man sollte nie mit Chefs befreundet sein. Ein Akteur (Barbara) über sein Arbeitsverhältnis.
Der Organisationszusammenhang der p.m.k basiert im Wesentlichen auf den selbstgeführten Praktiken der Akteure sowie auf den gemeinsamen Sinn- und Praxishorizonten, die die Kohärenz des Gefüges ausmachen. Viele Abläufe funktionieren im selbstverständlichen Modus eines eingespielten Teams, andere wiederum durch die koordinierten basisdemokratischen Entscheidungen und Strukturen der Akteure. Was aber, wenn die Kohärenz des Gefüges gestört ist, wenn einfache Abläufe des Organisationsalltags nicht mehr funktionieren oder gewohnte Kommunikationsprozesse fehlschlagen? Welche Regeln und Regelungen kommen dann zum Einsatz, welche Rollen und Positionen bilden sich heraus? Wie entstehen informelle Hierarchien, wie werden Autoritäten gehandhabt? Welche sozialen Kontrollmechanismen und Konfliktlösungsstrategien lassen sich erkennen? Um diesen Fragen nachzugehen, versuchen wir, die unterschiedlichen Rollen und Positionen sowie die entsprechenden Konfliktlösungsstrategien auszumachen, die bei Spannungen und Problemfällen wirksam werden. Da die Struktur der p.m.k weder geregelte Kontrollmechanismen noch vorgegebene Entscheidungsinstanzen vorsieht, kommen bei der Klärung von Problemen, Spannungen oder Differenzen unterschiedliche soziale Praktiken zur Anwendung, die notwendig sind zum Verständnis der Organisationskultur. Aus ihnen kristallisieren sich Aufgaben und Funktionen, Rollen und Positionen, aber auch Autoritäten und Hierarchien heraus, die so weder in Statuten noch in Organigrammen festgelegt sind. Einleitend zitieren wir einen längeren Auszug aus einem Interview mit der Geschäftsführerin, da hier wesentliche Dimensionen zur Sprache kommen, die wir nachfolgend im Rahmen einer Feinanalyse interpretativ-hermeneutisch herausarbeiten und durch weitere Aussagen anreichern. Ursula: Also ich muss Dir ganz ehrlich sagen, ich bin für disziplinierend Eingreifen nicht so begabt. Da ist der Christoph besser. Wobei wir beide – was aber ganz großartig ist, anders würde das überhaupt nicht funktionieren, glaube ich – eher konfliktscheue, ausgleichende Typen sind. Alle beide. Also wir tun nicht polarisieren und
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sind auch die Typen nicht dazu. Weil es gibt schon so Leute, die dann immer nur ihres sehen. Also wir sind in der Lage, das Übergeordnete zu sehen und auch einmal ein bisschen zurückzustecken. Also disziplinieren tu ich dann eher so wie die liebevolle Mama und sag: Jetzt g’schafft’s halt wieder. – Und der Christoph schimpft dann zwischendurch wohl wieder ein bisschen, aber auch nicht so wahnsinnig ernst. Aber wir versuchen das eher so auf der Vertrauensschiene, auf der Fairnessschiene, auf der Solidaritätsschiene, so irgendwie. Also nicht auf der Hierarchieschiene, so Papa und Mama sagen und Kind muss tun, sondern eher es ist unfair dem nächsten Veranstalter gegenüber oder der p.m.k gegenüber.
Zunächst stellt sich die Frage, welche Formen der Aufsicht und Kontrolle es in der p.m.k gibt und welche Konsequenzen aus ihnen hervorgehen. Findet etwa bei Spannungen ein disziplinierendes Eingreifen statt? Und wenn ja: Wann, wo und in welchen Fällen muss wer wen oder was disziplinieren? Wie aus dem Zitat hervorgeht, betrachtet die Geschäftsführerin (Ursula) weder sich noch den Programmkoordinator (Christoph) als solche Typen, die disziplinierend eingreifen oder polarisieren. Müssten sie versuchen, so zu sein, könnte es krampfhaft, zwanghaft, geradezu selbstdisziplinierend wirken. Sie müssten dann womöglich eine Strategie verfolgen, die vielleicht gerade deshalb scheitern würde, weil damit die Offenheit und Transparenz der Organisationskultur gefährdet wäre. Dass es solcher Typen in der p.m.k nicht bedarf, wird indes nicht nur festgestellt, sondern lobend hervorgekehrt. Anstatt zu polarisieren – was soviel heißen würde wie: Gegensätze bewusst hervorzukehren – charakterisiert Ursula ihr eigenes Verhalten als konfliktscheu und ausgleichend.91 Diese Form der Führung kommt dann zum Einsatz, wenn Relationen aus dem Gleichgewicht geraten. Das betrifft zunächst noch nicht den Eigensinn der Akteure. Sich selbst in den Vordergrund zu stellen, das Eigene präsentieren zu wollen, ist kein ungebührliches Verhalten, im Gegenteil – so sollte es sein (5.3.4). Die p.m.k versteht sich gerade als Ort, an dem Menschen ihr Eigenes einbringen können. Gleichzeitig aber sollten sie es nicht rücksichtslos verfolgen, viel eher mit Bedacht und Rücksichtnahme auf das Kollektiv agieren und, im Bedarfsfalle, zurückstecken. Gewiss, nicht alle Mitglieder mögen in gleicher Weise fähig oder in der Lage sein, zurückzustecken, sie müssen dies vielleicht auch gar nicht immer tun. Zurückstecken ist mitnichten ein Anspruch, der typisch und unverzichtbar für das Praxiskollektiv wäre. Sich zu fügen, unterzuordnen unter ein Übergeordnetes, nachzugeben, sich zu benehmen oder gar wegzunehmen – all das sind Anforderungen, die der programmatischen Struktur der p.m.k nahezu diametral entgegenstehen. Jedoch, sobald nur mehr Eigensinn 91
Der Vorsatz, nicht zu polarisieren, lässt indes vermuten, dass dadurch Freiräume eher verhindert denn geschaffen würden.
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da ist und kein Gemeinsinn, dann ist der kollektive Zusammenhang gefährdet. Wir haben bereits an anderer Stelle diskutiert, wie viel Eigensinn den Akteuren in der p.m.k eingeräumt, wie viel Gemeinsinn umgekehrt von ihnen verlangt wird (5.3.4). Fallen diese beiden Seiten aus dem Gleichgewicht, dann bedarf es verschiedener Praktiken des Ausgleichens, Einlenkens und Vermittelns. Welche Akteure sind nun hierfür legitimiert und prädestiniert, welche autorisiert? Legitimiert sind zunächst alle aufgrund der demokratischen Struktur, prädestiniert hingegen sind nur einige aufgrund ihrer Funktion im Gefüge, autorisiert schließlich sind nur wenige aufgrund ihrer Person und Position. Die Geschäftsführerin etwa ist in einer entsprechenden Position: Sie hat zum einen den Überblick über das Netzwerk und ist zum anderen auch nicht befangen im Eigenen. Denn im Eigenen befangen zu sein kann bedeuten, das Ganze aus den Augen zu verlieren. Dabei wiederum geht es nicht darum, das Übergeordnete zu erhalten oder zu festigen, sondern lediglich, es im Auge zu behalten. Und selbst das kann nur ein fragmentarischer, unvollständiger Überblick sein, um, so Ursula, „Gesamtzusammenhänge“, „Abläufe“ und mögliche „Schwachstellen“ besser zu erfassen. Einen panoptischen Blick im Sinne einer durchgängigen Überwachung und Kontrolle (Foucault 1995) hat allerdings niemand. Die Geschäftsführerin auf die Frage, ob sie alles im Blick und unter Kontrolle haben möchte: Ursula: Nein – um Gottes willen. Nein, das hab ich mir von Anfang an schon nicht angefangen. Am Anfang war ich aus anderen Gründen öfter da, um das anzuschauen. Also eher zu beobachten, wie läuft’s, wo müsste man – also die ganzen Gesamtzusammenhänge. Erstens auch, dass ich mitreden kann natürlich. Und was könnte man besser machen (…) Also nicht als Kontrolle, sondern einfach, um Abläufe zu begreifen oder wo sind die Schwachstellen. (…) Und Christoph auch nicht, das haben wir von Anfang an – wir können ja nicht dauernd da sein, das geht ja gar nicht.
Das Fehlen eines allumfassenden Blicks ist ein Indiz für das Vertrauen, das der Selbstverantwortung und Selbstdisziplin der Akteure entgegengebracht wird. Ferner verweist es darauf, dass das Übergeordnete mehr als Idee in den Augen und Köpfen der Akteure existiert denn als materielle Dimension. Schließlich legt es auch nahe, dass es schlicht unmöglich ist, die Heterogenität der Akteure und die Vielfalt ihres Schaffens aus einer einzigen Perspektive einzufangen. Die Praktiken des Ausgleichens, Einlenkens und Vermittelns kommen zum Zug, wenn einzelne Relationen aus den Fugen geraten sind, wenn Akteure nur ihr Eigenes sehen und damit blind geworden sind für das Ganze. Sie vollziehen sich als anlassbezogene Versuche der Konfliktlösung, ein systematisches Prozedere gibt es dafür nicht. Allein dass sie im offenen Modus eines jeweils aufs Neue aktualisierten Versuchs stattfinden (Ursula: „wir versuchen das eher so“), zeugt von der horizontalen Machtverteilung im Gefüge (6.1.1). Im Gegensatz zu
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Vorgaben oder Auflagen beziehen Versuche die Beteiligten in die Praxis mit ein, sie lassen Handlungsspielraum offen und definieren ihn nicht vorweg. Dementsprechend werden Konflikte auf Bahnen und Schienen ausgetragen, nicht auf festgelegten Territorien. Wie der Versuch verweist auch die Schiene auf ein offenes, zugängliches, glattes Handlungsfeld. Mehr noch, Bahnen, Schienen und Spuren enthalten geradezu ein kollektivierendes Moment – man versucht, gemeinsam einen Weg zu gehen, wobei kein Weg vorgegebenen ist (Ursula: „so irgendwie“ und „eher so“).92 In all diesen Konfliktlösungsstrategien zeigt sich also die Offenheit des Versuchs, das Eigene der Akteure zwar sehr wohl zu problematisieren, es aber auch ununterbrochen zuzulassen. Es gibt dabei kein festgelegtes Territorium von Eigenheiten, sondern nur Spielräume des MiteinanderUmgehens. Gewiss, die Grenze des Eigenen ist da erreicht, wo das Ganze auf dem Spiel steht. Umgekehrt werden aber keine Hierarchien angestrebt, die dem Werden festgelegte Territorien – etwa Erlaubnisse oder Befugnisse – zuweisen. Welche Rollen und Positionen ergeben sich nun aus diesen Konfliktlösungsstrategien? Die Geschäftsführerin versteht sich selbst als liebevolle Mama, nicht als strenge, förmliche, Ehrfurcht gebietende und autoritäre Mutter, sondern besorgt, verständnisvoll, mit Hingebung.93 Vielleicht würde sie ihre Führungspraktiken auch gar nicht als Disziplinierung begreifen, denn eine liebevolle Mama kann im Grunde nicht streng disziplinierend sein, vielmehr ist sie bestärkend. Sie droht nicht, sondern ermuntert, ordnet nicht an, sondern spricht zu, unterbricht nicht, sondern hört zu. Deshalb will sie Spannungen zwischen einzelnen Akteuren auch nicht mit disziplinierenden Machtworten beikommen, sondern mit motivierenden Appellen. Ursula: Da [bei internen Unstimmigkeiten, M.V.] muss man wieder hineinfahren und ausgleichend irgendwie wirken. Man muss einfach immer wieder sagen, wie toll das [die p.m.k als solche, M.V.] eigentlich ist – den Spieß umdrehen und sagen: He, was steht denn da jetzt eigentlich da? – Weißt Du, so. – Und was schaffen wir denn eigentlich Tolles. Jetzt regt’s euch nicht auf über irgendeinen Käse und streitet’s nicht, sondern arbeitet’s gescheit und macht’s lässige Veranstaltungen.
Die liebevolle Mama lenkt aber nicht nur als ausgleichende Streitschlichterin ein, sondern auch als Vertrauensperson, der man (fast) alles sagen kann. Dadurch wächst zugleich ihre Autorität, mit der sie das Ganze im Auge behalten und erfahren kann, was alles so im Haus passiert.
92 93
Ähnliches gilt für Stränge – man versucht, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Oftmals fühlt sie sich auch, wie sie selbst sagt, in der Rolle einer Kindergartentante.
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Die Entfaltung von Handlungs(frei)räumen Ursula: Ich weiß viel nicht. Aber sie erzählen mir irgendwann dann doch alles. Ich bin in einer Vertrauensposition, wo ich immer – mittlerweile erzählen sie mir wirklich alles. Bis auf Schlägereien, wenn’s von ihnen ausgeht. Da hab ich den Eindruck, dass da oft einmal nicht alles – aber ich frag immer: Wie ist es euch gegangen? War irgendwas los – also im Sinne von Problem oder so. Dann frag ich auch immer, ob irgendwelche Kontrolleure oder Zivilpolizei oder so irgendwas da war.
Wenn wir die Familienmetapher weiterführen, dann steht mit dem Programmkoordinator (Christoph) an der Seite der liebevollen Mama der wohlgesinnte Papa. Auch er ermutigt und kommt entgegen, er kann jedoch auch „schimpften“ (Ursula). Weil er aber im Grunde nicht der Typ dafür ist, passiert dies nur gelegentlich (Ursula: „zwischendurch“) und nicht regelmäßig; angedeutet (Ursula: „wohl“) und nicht demonstrativ; begrenzt (Ursula: „ein bisschen“) und nicht systematisch. Dass es Christoph dabei durchaus ernst meint und er auch ernst genommen wird, zeigt sich an seiner Autorität als Vermittler. Sein Verhalten ist dabei nicht wesentlich strenger als jenes der Geschäftsführerin, in vielen Fällen jedoch konsequenter und nüchterner. Auch er warnt nicht oder ermahnt, straft nicht oder sanktioniert, sondern motiviert, fordert auf, übt Kritik, klärt auf und sieht nach dem Rechten. Christoph: Man muss immer achtsam sein und dahinter sein und die Leute auch motivieren und ihnen klarmachen, was zu tun ist und was nicht zu tun ist. Weil sonst natürlich – klar, man bietet ein Maximum an Freiheit, an Selbstorganisation, auch an Unterstützung – und erwartet natürlich dafür auch, dass man darauf schaut, dass der Raum nicht total abfuckt, dass Abrechnungen einfach passen, dass wenn was kaputt ist, dass man das auch irgendwie – wenn es möglich ist – dann wieder in Ordnung bringt und so weiter und so fort.
Zugleich erwächst die Autorität von Christoph aus seiner Kompetenz als Programmkoordinator. Wenn es jemanden gibt, der den „inhaltlichen Überblick“ (Ursula) hat, dann ist er es. Aus dieser Position heraus kann er gegenüber anderen Akteuren als Schiedsrichter auftreten, dessen Meinung und Urteil als befugt und unbefangen gilt. Diese Eigenschaft zeichnet generell die Funktion von Vermittlern aus: Sobald Akteure nicht ihresgleichen gegenüberstehen, ist automatisch eine andere Kommunikationssituation geschaffen. In der p.m.k kommt eine solche Vermittlerposition – die zugleich auch Kontrollfunktion ist – notwendigerweise den beiden Unparteiischen Ursula und Christoph zu, weil sie nicht in ihrem Eigenen befangen, sondern für den reibungslosen Organisationsablauf des Kollektivs zuständig sind. Die restlichen Akteure treten ihnen nicht aus gleicher Position entgegen, weil Funktion und Intention jeweils unterschiedliche sind. Eine ähnliche Position nimmt auch noch der Haustechniker (Frank) ein, dessen Praxis ebenfalls eine übergreifende Ausrichtung hat.
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Frank: Ich bin einfach der Techniker, ich bin für jeden da, ich bemühe mich bei jedem gleich gut und ich hoffe, dass sich jeder auf mich verlassen kann. Das will ich.
Frank vertritt durch seine Tätigkeit sowohl eine vermittelnde wie eine neutrale Position. Dabei kommt ihm zwar keine unmittelbare Kontrollmacht zu, allerdings erhält er eine spezifische Autorität, da seine Tätigkeit zum einen ein relativ autonomes Handlungsfeld darstellt (Frank: „Da pfuscht mir keiner rein, sag ich einmal.“) und zum anderen in einem übergeordneten Referenzrahmen aufgeht, durch den ihr allgemeine Anerkennung und Würdigung zukommt (Frank: „An manchen Abenden bin ich zumindest Mädchen für alles, um nicht Hausherr zu sagen.“). Bei Problemen, etwa wenn ein Gerät defekt ist oder Kabel verlegt sind, versucht Frank zunächst, die Sache selbst zu regeln: Er sucht eigenständig nach Lösungen oder kommuniziert die Angelegenheit mit den möglicherweise verantwortlichen Vereinsakteuren. Erst danach wendet er sich, so das Problem noch immer besteht, an eine andere Ebene und spricht den Programmkoordinator (Christoph) darauf an. Dieser verkörpert nicht eine explizit höhere Hierarchieebene, sehr wohl aber eine andere Funktion, durch die das Problem – zusätzlich zur gesteigerten Aufmerksamkeit – erhöhte Legitimation bekommt. Frank: Ja, wenn ich es nicht selber regeln kann. (…) Wenn alle Mikrofonkabel weg sind oder so, dann rufe ich natürlich den Christoph an und schrei um Hilfe, weil der weiß dann, wer hat sich das ausgeliehen und so. Je nachdem, manchmal rufe ich dann den Verantwortlichen an, manchmal macht’s der Christoph selber, wenn er ein bisschen Druck machen will.
Wie durch diese neutralen Positionen, vor allem aber durch die Familienmetapher gezeigt wurde, geht es bei den Konfliktlösungsstrategien in der p.m.k immer auch um Führung im Sinne einer Erziehung. Gerade wenn Selbstverantwortung und Selbstdisziplin wesentliche Funktionskriterien des Kollektivs sind, müssen diese Kompetenzen ein dauerhaftes Ziel der Organisationskultur sein. Im gleichen Rahmen ist auch die Funktion des Vorstandes zu interpretieren, zum einen, weil er ausschließlich aus p.m.k-Akteuren zusammengesetzt ist und daher keinen äußerlichen Statusunterschied impliziert, zum anderen, weil sich seine praktische Funktion auf das ohnehin nur selten eingesetzte Recht reduziert, bei Unstimmigkeiten wegweisend einzulenken. Matthias: Und das ist ja auch immer das Ziel vom Vorstand oder zumindest von großen Teilen des Vorstandes, dass man die Leute zur Selbstverantwortung ein bisschen erzieht.
Auch das Vokabular, das bei Konfliktlösungsstrategien zum Einsatz kommt, spiegelt auf semantischer Ebene die Praktiken des Ausgleichens, Einlenkens und
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Vermittelns wider. Ausdrücke wie einbremsen, eingrenzen, ausreden und ausreden lassen, klären, hineinfahren, dahinter sein und wachsam sein zeugen von einem Umgang mit Problemen, der weder auf einer hierarchischen Entscheidungsstruktur noch auf einer starren Kompetenzverteilung basiert. Eigensinnige Vorstöße von Einzelpersonen werden eingebremst, nicht eingeebnet. Dispute werden über Dialog und Aushandlung geklärt, nicht durch Weisung von oben. Meinungsverschiedenheiten werden nicht ignoriert, sondern ausgeredet. Wie wir bereits bei den Aushandlungsprozessen von Qualität gesehen haben, geht es bei der Diskussion um inhaltliche Differenzen nicht um deren (Auf-)Lösung, sondern vielmehr um deren Artikulation (5.2.2). Sebastian: Da gibt’s dann kein Vorstands-Overrulen, da gibt’s dann – ich komme bei ihm (…) vorbei und sage: Du, jetzt hab ich mir die CD angehört, das hab ich ein bisschen komisch gefunden – und einmal darüber reden. Weil wir diese autoritäre kompetent- oder nicht-kompetent-Einteilung nicht haben wollen.94
Voraussetzung für diese Praktiken der Konfliktlösung ist der wechselseitige Respekt vor der Professionalität und Selbstführung aller Akteure, aber auch das Vertrauen auf ihre kollektive Verbundenheit, wodurch unmittelbare Kontrollmechanismen hinfällig werden sollten. Dieses Vertrauen sowohl in den Eigensinn der Akteure als auch in ihren Gemeinsinn durchzieht die Praxis des Kollektivs von Anfang an. Christoph: Wenn wir einen Verein aufnehmen, bringen wir dem so viel Vertrauen entgegen, dass wir sagen, erstens gehen wir davon aus, dass das Programm Qualität hat, und zweitens gehen wir davon aus, dass die Gruppe mit den Ressourcen sozusagen sorgfältig und sensibel umgeht. Und drittens eine gewisse Solidarität, Loyalität mit der Gesamtheit sozusagen halt irgendwie.
Ethische Kategorien wie Respekt, Vertrauen und Verbundenheit verweisen auf ein spezifisches Freundschaftsverhältnis, das die paradoxe Situation zulässt, dass selbst Grenzüberschreitungen noch im Rahmen des Erträglichen bleiben. David: Man muss halt jedem sein Spezialgebiet zusprechen. Dann kann es halt passieren, dass es wie eine Dampflok über einen drüberfährt. Aber wir kennen uns ja untereinander. Es ist ja nicht – wir nehmen das nicht so wirklich persönlich. Wir wissen ja, um was es geht.
94
Hier schildert ein Vorstandsmitglied (Sebastian) die Klärung einer inhaltlichen Differenz mit einem Veranstalter. Das Beispiel wurde bereits an anderer Stelle zitiert und analysiert (5.2.2).
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Umgekehrt zeigt sich aber, dass gerade das Prinzip Freundschaft auch zu einem Problem werden kann. Zum einen in Entscheidungsprozessen, wenn ein zu hohes Maß an Rücksicht und Zuvorkommenheit eine offene Aussprache verhindert (6.1.3). Zum anderen in generellen organisatorischen Belangen, wenn zu viel Verbundenheit davon abhält, nicht alle Unstimmigkeiten oder Unzufriedenheiten zur Sprache zu bringen. Hier ein Zitat der Putzfrau, die, weil sie die einzige Reinigungskraft ist, mitunter über die hohe physische wie psychische Arbeitsbelastung und ständige Abrufbereitschaft klagt: Barbara: Ich bin einfach nicht der Typ, der dann plötzlich nicht kommt und das Handy ausschaltet. Ich weiß nicht, dazu mag ich sie einfach zu gern, weil sie auch meine Freunde sind. Das ist eben wieder schwierig – man sollte nie mit Chefs befreundet sein. (Lachen)
Barbara hat schwere körperliche Arbeiten zu verrichten, die für ihr Alter einen hohen Kraftverschleiß bedeuten und weder angenehm noch bequem sind. Zudem weiß sie, dass im Falle von Krankheit keine zweite Putzkraft da ist, die für sie einspringen könnte. Auf der anderen Seite ist es die Freundschaft mit ihren p.m.k-Arbeitgebern (ihren Chefs), die sie daran hindert, solche Probleme klar zu artikulieren und auf deren praktischen Lösung nachhaltig zu insistieren. Die Freundschaft basiert auf langer Bekanntschaft, zudem auf dem Gefühl der Angewiesenheit, der p.m.k ihren Job zu verdanken, schließlich aus Verbundenheit mit der Idee der p.m.k selbst. Hier entstehen Spannungen zwischen Arbeitsbelastung und Freundschaft, zwischen einer als unangemessen empfundenen Arbeitssituation und einer aus Freundschaft gespeisten Loyalität, die das offene Austragen von Konflikten nur schwer möglich machen. Wenngleich also nicht alle Angelegenheiten jederzeit zur Sprache kommen, hat sich die p.m.k durch das Gremium des Beirats eine Struktur geschaffen, mit der ein Forum zum Ausreden und Ausreden-lassen gegeben ist. Ursula: Da ist es jetzt einmal das erste Mal zum Beispiel wirklich unter die Gürtellinie gegangen von jemandem. Dann ist die Beiratssitzung dazu da, dass ich sage: He, ein Mindeststandard an gemeinsamem Umgang oder so ist einzuhalten. Und dann muss man halt wieder ein bisschen schimpfen und dann ist wieder Streit und dann passt’s eh wieder so.
Gewiss, die Einrichtung des Beirats hat, ebenso wie viele andere strukturelle Elemente, erst nach und nach ihre Bedeutung und Funktion entfaltet. Am Anfang war noch nicht klar absehbar, welche Wichtigkeit und Wirksamkeit das Gremium haben würde. Man hatte quasi eine Struktur geschaffen, ohne genau zu wis-
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sen, was sie eigentlich für die Praxis bedeutet. So wie sich ein Team von Akteuren erst einspielen muss, muss sich auch ein Set von Strukturen erst erweisen. Die Mama-Papa-Metaphorik lässt natürlich offen, ob die p.m.k überhaupt als Familie betrachtet werden kann. Wir werden diese Frage noch eingehend anhand der diskursiven Praktiken (6.1.3) und identitätsstiftenden Ereignisse (6.2.5) des Gefüges untersuchen. Mit Hinsicht auf den kollektiven Handlungszusammenhang können wir fragen, ob sich ein sichtbarer Familienbund aus der Organisationskultur ablesen lässt. Allein das Fehlen eines allumfassenden Blicks verweist darauf, dass das Übergeordnete der p.m.k mehr ein abstraktes Leitbild denn eine konkrete Gegebenheit ist. Da, wo sich das Ganze materialisiert und verdinglicht, sind es meist flüchtige Ereignisse oder aber vorsichtige Versuche einer konstituierenden Verfassung. Letztere haben besonders seit dem Vorfall der „NaziÜbergriffe“ (6.1.3) an Häufigkeit und Dringlichkeit zugenommen, abzulesen etwa am Versuch, eine schriftliche Präambel aufzusetzen; oder an der Diskussion über eine klare politische Stellungnahme nach außen; schließlich auch am Vorschlag nach verbindlichen Handlungsrichtlinien im Falle weiterer Übergriffe. Erwin: Aber die Gefahr ist natürlich immer, dass, sobald irgendwo Richtlinien sind, dass sich einzelne Vereine eingeschränkt fühlen mit dem, was sie machen wollen. Wenn das auch zum Beispiel nicht deren Meinung ist, dann fühlen sich die eingegrenzt, so quasi es wird von oben herab entschieden, Du darfst das und das nicht machen oder Du musst da und da die Kassa machen, Du musst da und da zumachen.
Letztlich ist es aber weniger als Scheitern zu interpretieren, wenn diese Ansätze einer substantiellen Materialisierung bislang folgenlos und erfolglos geblieben sind. Vielmehr zeigt sich darin so etwas wie ein kollektiver Respekt vor der konstituierenden Heterogenität, aber auch vor der etablierten Organisationskultur, die sich strukturell gegen einebnende Gleichschaltungstendenzen verwahrt. Deshalb greift am Ende die Familienmetapher zumindest auf der organisationalen Ebene auch zu kurz, fehlen dazu doch die durchgehenden und verbindlichen Bezüge, welche die Verbundenheit der Akteure auch auf einer materiellen Ebene dingfest machen würden.
6 Die Macht zur Freiheit: Das Gefüge der p.m.k
Wie wird das Handeln der Menschen organisiert? In diesem letzten Abschnitt analysieren wir jene Dynamiken und Prozesse, Interaktionen und Relationen, die sich aus dem kollektiven Handlungszusammenhang der p.m.k ergeben. Dies sind zum einen die Machtverhältnisse unter den Akteuren, wie sie sich in der Arbeitsteilung, den Führungstechniken und den Praxisausrichtungen materialisieren (6.1). Zum zweiten thematisieren wir die Konstitutionsbedingungen der Multitude, jenes kollektiven Subjekts, in dem die Vielheit als Vielheit fortbesteht (6.2). Zum dritten fragen wir auch nach den Bedingungen, unter denen von einer Strategie des Kollektivs gesprochen werden kann (6.3). In all diesen Dimensionen tun sich Möglichkeiten für individuelle wie kollektive Handlungsfreiräume auf. Die Praxis der Akteure ist eingebettet in einen offenen Entfaltungszusammenhang, dessen Ambivalenz gleichwohl darin liegt, dass die Bewegungen der Formgebung und Gestaltwerdung stets oszillieren zwischen den Ebenen der Komposition und Ordnung. In dieser explorativen Analyse sind Struktur und Prozess nicht als Dichotomie zu denken: Zwar wirkt strukturierte Realität auf das Handeln der Akteure ein, strukturierende Elemente wie Normen, Werte, Regeln, Rollen, Zwänge, materielle Dimensionen oder Machtverhältnisse stellen aber kein determinierendes System dar, sondern den Kontext, der die Handlungsfreiheit der Akteure dimensioniert.
6.1
Machtverhältnisse in der p.m.k
Macht ist produktiv, dynamisch, prozessual, stets präsent und unvermeidbar. Dieses auf Foucault zurückgehende Machtverständnis haben wir bereits zu Beginn vorgestellt (2.1.1). Demnach ist Macht produktiv, weil sie Freiheit voraussetzt; dynamisch, weil sie nie fixiert ist oder eingebettet in ein geschlossenes System; prozessual, weil sie nicht als statische Einheit oder Eigenschaft zu denken ist, die man besitzen kann; stets präsent, weil sie ein offenes und endloses Feld von Relationen darstellt; und unvermeidbar, weil alle sozialen Beziehungen von Machtrelationen durchdrungen sind. Macht heißt also immer, nach Macht-
Die Macht zur Freiheit
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verhältnissen zu fragen; heißt ferner, nach jenen Modi zu fragen, durch die Akteure über eigenes oder fremdes Handeln verfügen; heißt schließlich, die Effekte, durch welche Macht in Erscheinung tritt, nicht zu verwechseln mit den Prozessen und Relationen, durch welche sie zur Entfaltung kommt. Aus dieser methodologischen Perspektive fragen wir im Folgenden nach den Machtverhältnissen in der p.m.k. Sie zeigen sich auf unterschiedlichen Ebenen der Arbeitsteilung und Organisationskultur, in Entscheidungsprozessen und Rollenverständnissen, in Bindungen und Beziehungen. Wir fragen beispielsweise, wie Diskussionen geführt werden, wie Konsens, Dissens, Kompromiss oder Dialog zustande kommen; fragen nach ethischen Dimensionen des Organisierens, die für die Kohärenz des Gefüges notwendig sind; fragen, wie Heterogenität gelebt und aufrechterhalten wird, welche Aneignungsversuche des kollektiven Raums es gibt und welche Gefahren dadurch entstehen; fragen, wie kollektive Identitäten ausverhandelt werden und welche Schwerpunkte und Anführer, welche Kräfte der Anziehung und Abstoßung auftreten. All diese Dimensionen zeigen auf, wie verletzbar oder aber belastbar das Gefüge in seiner Kohärenz und Funktionalität ist, zeigen also auf, wann kollektiver Handlungssinn generiert oder bedroht wird und wann kollektive Praxis gelingen kann oder scheitern (Weick 2001a: 109). Anders gesagt: Zeigen auf, wie dünn und durchlässig oder aber dicht und gefestigt das organisationale Gefüge mitunter sein kann.
6.1.1
Arbeitsteilung und Machtverteilung Man hat ja eine gemeinsame Basis, wie was gemacht werden sollte. Und deswegen teilt man das eben auf. Ein Akteur (Erwin) über den Modus der Arbeitsteilung.
Aufgrund ihrer Struktur schließt die p.m.k solche Formen der Arbeitsteilung aus, in denen soziale Machtgefälle etabliert und gefestigt werden würden. Gewiss, es gibt eine Arbeitsteilung, aber diese ist mehr technischer denn sozialer, mehr manueller denn intellektueller Natur (Holland 2006: 195). In ihr formt sich kein hierarchisches System von Positionen, die eine bestimmte Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über andere Akteure implizieren würden, sondern eine technisch-administrative Aufteilung von Funktionen und Aufgaben, welche primär koordinative und verwaltende Tätigkeiten betreffen. Dadurch verfestigt sich im Laufe der Praxis allenfalls ein Gefüge relativ fixer Positionen, nicht jedoch eine Ordnung im Sinne einer hermetischen Schließung von sozialen Beziehungen. Wie aber funktioniert das konkret? Auf der einen Seite haben wir das Prinzip selbstbestimmter Praxis: Die Mitglieder der p.m.k entscheiden selbst über das quantitative Ausmaß sowie die
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qualitative Ausrichtung ihrer Praxis. Das, was gemacht wird, bestimmt sich aus ihrer inhaltlichen Ausfüllung des offenen Programms. In diesem Prozess der freiwilligen Teilhabe herrscht basisdemokratische Gleichheit, insofern jeder Verein die Möglichkeit hat, sich nach eigenem Ermessen einzubringen. Dabei gibt es weder eine inhaltliche Kontrolle noch eine dafür zuständige Instanz, vielmehr ist die Praxis der Akteure bereits durch ihre Aufnahme in die p.m.k verbürgt (5.3.1). Zwar gibt es formal das Gremium des Vorstands, das über inhaltliche Prämissen entscheiden und ein Einspruchsrecht beanspruchen kann. Allein, weder existieren inhaltlich definierte Vorgaben in verschriftlichter Form, noch hätte der Vorstand davon je präventiv – im Sinne einer einzuhaltenden Regel – Gebrauch gemacht. Bislang war es nur ein einziges Mal, dass das Gremium dieses Vetorecht einlöste, und selbst hier bestätigte weniger die Ausnahme die Regel, als dass vielmehr die Regel erst mit der Ausnahme konstituiert wurde (Ortmann 2003). Ein Vorstandsmitglied schildert jenen Fall wie folgt: Sebastian: Wir haben uns – glaube ich – erst ein einziges Mal beschwert über was (Lachen). Und das war – weil wir haben einen Filmdienstag, wo wir alternative, im Kino nicht laufende Filme bringen – und der Oliver von den „El Gaucho“ [Name des Vereins geändert, M.V.] wollte seinen Lieblingsfilm über den Ray Charles bringen. Und der war aber gerade im Kino und hat drei Oscars gekriegt. Da haben wir gesagt: Oliver, vielleicht, überleg Dir’s – und das hat dann eh gepasst. Also wir haben Glück, dass unsere Mitglieder im Großen und Ganzen so vernünftig sind, dass man sie nicht overrulen braucht. Und was sie so machen – sprich, ob sie den Artist jetzt haben wollen oder die inhaltliche Ausrichtung – das geht uns nichts an. Der Beirat setzt sich aus Expertenvereinen zusammen und die müssen einfach wissen, was Sache ist.
Der Auszug steht symptomatisch für eine Reihe kommunikativer Praktiken, die bei inhaltlichen Differenzen zwischen einzelnen Akteuren zum Tragen kommen. Zum einen wird in einem bagatellisierenden, selbstzweifelnden Duktus Bezug genommen auf Situationen, in denen ungleiche Auffassungen zum Vorschein kommen, was auf den vorsätzlichen Verzicht auf hierarchisch legitimierte Entscheidungspositionen hinweist. Zum zweiten wird die Situation selbst in ihrer Offenheit für unterschiedliche Handlungs- und Meinungsoptionen gewürdigt. Zum dritten wird die Klärung der Situation einer gegenseitigen Form von Dialogbereitschaft zugeschrieben, herbeigeführt durch antiautoritäre kommunikative Mittel. Zum vierten wird die weitgehend funktionierende Praxis der Selbstbestimmung der Akteure mit deren Professionalität begründet und damit eine Organisationskultur hochgehalten, in der die Notwendigkeit für hierarchisch gebotenes Einschreiten ausbleibt. Schließlich, fünftens, wird den Akteuren nicht nur
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volle Eigenständigkeit in der inhaltlichen Gestaltung ihrer Praxis zugesprochen, sondern auch das Vertrauen, dass sie dabei immer wissen, was sie tun (6.1.2). Während das Prinzip selbstbestimmter Praxis eine soziale Differenzierung in der Art ausschließt, als dass damit angeordnetes, fremdgeleitetes Handeln durchsetzbar oder legitimierbar wäre, gibt es eine Reihe von Tätigkeiten, die sehr wohl auf Aufgabendelegation, Funktionshierarchie und Kompetenzunterschieden beruhen. Es sind dies, grob gesprochen, alle anfallenden Arbeiten, die der Betrieb einer Kultureinrichtung mit sich bringt. Übergeordnete Verwaltungs- und Buchhaltungstätigkeiten, Subventionsverhandlungen und Vertragsabschlüsse, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Instandhaltung, Technik und Putzdienst – all diese Arbeiten werden von den hierfür eingesetzten und vorab bestimmten Funktionsträgern ausgeführt. Jedoch ist es weder möglich, sämtliche Kompetenzen und Befugnisse, noch sämtliche Aufgaben und Zuständigkeiten vorab festzulegen, weshalb sich in vielen Fällen ein unterdefinierter Entscheidungsspielraum eröffnet. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der Organisationsalltag regelmäßig Unregelmäßigkeiten hervorbringt, anfallende Zwischenfälle und unvorhersehbare Probleme, die ein Entscheiden außerhalb des vorgesehenen Rahmens erfordern. Daher ist es vielmals schon die bloße logistische Notwendigkeit, unmittelbar zu handeln, die es unmöglich macht, dass alle Entscheidungen einer demokratischen Diskussion und Abstimmung innerhalb des Beirats zugeführt werden können. Umgekehrt ändert eine solche, in ihren Grenzziehungen oft schwammige technische Arbeitsteilung nichts an der kollektiv ausgerichteten Ergebnisdiskussion. Die Entscheidungsfindung mag individuell stattfinden, ihre Konsequenzen hingegen müssen für alle transparent und nachvollziehbar sein. Ursula: Das [der Beirat, M.V.] hat mehr so eine psychologische Funktion, dass die Leute sich als Teil der p.m.k empfinden. Weil die großen Entscheidungen, wie gesagt, Buchhaltung und diese ganzen Sachen, das brauchen die ja gar nicht. Dafür gibt’s ja mich. Aber dass sie sich mit der p.m.k identifizieren, dass sie das Gefühl haben, sie entscheiden mit in den Sachen, die sie angehen. Und so ist es auch.
De facto werden also nicht alle Entscheidungen im Beirat getroffen, sehr wohl aber besprochen und diskutiert. Indes gestaltet sich der unterdefinierte Entscheidungsspielraum für die Betroffenen gleichfalls zur Ermessensfrage, was wichtig ist und was nicht. Zweifellos kann man hier von einer technischen Hierarchie oder „Heterarchie“ (Weick 2001b: 214) sprechen, insofern Ursula und Christoph einzelne Entscheidungen vorselektieren können – oft auch müssen – und damit eine Strukturierungsmacht darüber ausüben, welche Teilbereiche der Organisation in die Praxis des kollektiven Gefüges eingehen und welche nicht. Andererseits ist diese Strukturierung an kein soziales Gefälle geknüpft, das spezifische Formen der Inklusion oder Exklusion vorzeichnen würde. Im Gegenteil, die
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arbeitsteilige Strukturierung wird von einzelnen Mitgliedern nicht nur akzeptiert, sondern gar offenkundig begrüßt, insofern sie die Konzentration erleichtert auf jene Sachen, die sie angehen. David: Und da sind wir sicher auch froh, dass es Leute gibt, die nicht so sind wie wir, die einfach Freude am Organisieren haben und so. Daran, eine gewisse Struktur zu erhalten und so. Wir allein in der p.m.k – das wäre scheiße. Wir würden da nichts machen. Wir bringen uns echt nur ein, wenn es uns wirklich entweder an die Nieren geht oder wirklich eine gute Idee da ist.
Damit ein komplexes Gefüge in seiner technischen Arbeitsteilung funktionieren kann, bedarf es also einer Reihe immaterieller Komponenten, die den sozialen Zusammenhalt der heterogenen Akteure organisieren, ohne ihn zu zementieren: Kategorien wie Selbstbestimmung und Professionalität zählen dazu, aber auch Prinzipien der Transparenz und offenen Diskussionskultur, darüber hinaus ethische Dimensionen wie Offenheit, Vertrauen, Verlässlichkeit und Freundschaft. Sie markieren allesamt eine Organisationskultur, die einen spezifischen Praxismodus hervorbringt und gerade bei der Arbeitsteilung der Vereine deutlich wird. Fast alle Vereine betreiben ein flexibles, auf Gegenseitigkeit beruhendes personelles Aushilfssystem, wenn es darum geht, füreinander einzuspringen. Einmal hilft ein Freund eines anderen Vereins an der Eintrittskassa, ein andermal eine Bekannte am Barausschank, und sollte dann und wann ein DJ ausfallen, ist schnell ein Freund zur Stelle. Vereine arbeiten sich gegenseitig zu, nicht alle mit jedem, aber doch fast jeder mit vielen. Voraussetzung dafür ist ein dichtes Netz sozialer Beziehungen unter den Akteuren, das in sehr vielen Fällen über eine oberflächliche Bekanntschaft hinaus- und in eine tiefer gehende Freundschaft übergeht (5.3.3). Doch egal, welche Qualität dahintersteht, entscheidend ist der Modus dieser Beziehungen: Was die meisten davon ausmacht, lässt sich weder als eine Form von abgeleiteter Genossenschaftsbindung oder blinder Vereinstreue adäquat beschreiben, noch unter dem Bezugsrahmen einer Schicksalsgemeinschaft oder politisch-ideologischen Gruppierung begreifen. Vielmehr taucht als wiederkehrendes Schlüsselwort, das wie ein sozialer Kitt die einzelnen Bande elastisch zusammenhält, der elementare Begriff der Verbundenheit auf. Die Verbundenheit zu einem spezifischen Ort und seiner Idee hält die einzelnen Akteure, so ungleich, heterogen und oft auch gegensätzlich sie sein mögen, wie eine offene Klammer zusammen. Sie symbolisiert ein immaterielles Konnexionsprinzip, das gleich einer transversalen Vernetzungslinie die verschiedenen Elemente vereint, ohne je in einer materiellen Einheit zu gründen oder zu enden. Dabei hat dieses unsichtbare Prinzip durchaus eine normierende, oftmals disziplinierende Funktion, insofern es für eine bestimmte Form des Umgangs miteinander steht und folglich einen kollektiven Modus des Organisierens
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zwar nicht vorgibt, aber doch entwirft. Dieser Modus materialisiert sich weder als Verhaltenskodex noch als Geschäftsordnung, sondern – so einfach wie umfassend – als Praxis. Die Praxis des gegenseitigen Umgangs zeigt sich in der Art, wie die Akteure miteinander diskutieren, wie sie sich einbringen und ausklinken, sich füreinander interessieren und untereinander vernetzen, wie sie mit Problemen umgehen, aber auch wie sie sich aufregen und freuen, ärgern und amüsieren. All diese – hier nur auszugsweise genannten – Dimensionen des Umgangs enthüllen zugleich ein anderes Moment, das der Verbundenheit unmittelbar zur Seite steht: das Moment der Angewiesenheit. Miteinander verbunden sein heißt aufeinander angewiesen sein. Heißt zwar noch nicht, direkt abhängig – gebunden – zu sein, sehr wohl aber, dass die eigene Praxis in den Horizont der Anderen eingelassen ist. Allerdings ist an dieser Stelle zwischen empirischer und ontologischer Angewiesenheit zu differenzieren. Empirisch ist sie allein dann schon gegeben, wenn eine Tätigkeit aus logistischen, zeitlichen, finanziellen oder einfach physischen Gründen der Mithilfe anderer Akteure bedarf. Diese Form der Angewiesenheit ist in der p.m.k eine fast durchgehende Organisationskonstante; zum einen, weil viele Tätigkeiten gemeinsam einfacher und schneller zu erledigen sind als alleine; zum anderen wird damit Verantwortung kollektiviert und bleibt nicht an Einzelpersonen haften. Schließlich muss der Großteil der Akteure seine Kulturarbeit auch noch mit anderen Tätigkeiten oder Verpflichtungen vereinbaren. Viele von ihnen betreiben parallel ein Studium, unterhalten mehrere Arbeitsverhältnisse oder aber arbeiten zugleich an anderen Projekten, weshalb ihre zur Verfügung stehenden Ressourcen begrenzt und sie auf entsprechende Arbeitsteilungen angewiesen sind. David: Es ist einfach viel zu tun und man will ja auch was vom Konzert sehen. Ich muss auch sagen, das sind alles Leute, die uns helfen, die kein Geld kriegen dafür. Also es sind zu 100 Prozent Leute dabei, die es nur aus Eigeninteresse machen. Das kann man eigentlich auch nur machen, wenn man jetzt gute Beziehungen hat zu den Leuten. Wir freuen uns, wenn uns Leute helfen, wir sind dankbar. Und wir tun die Leute nicht herumkommandieren – wir tun uns selber nicht herumkommandieren. Jeder weiß von selber, ich könnte jetzt sofort aufstehen und gehen. Wir sind aufeinander angewiesen auch.
Auch hier zeigt sich: Die technische Arbeitsteilung ist notwendig für die Praxis, sie umfasst aber keine soziale Hierarchie. Empirische Angewiesenheit erscheint in Form des gegenseitigen Aushelfens als ein zentrales Organisationsprinzip der p.m.k, das indes auf einen Umgang miteinander verweist, der von horizontalen Machtverteilungen getragen wird. Innerhalb dieses wechselseitigen Gefüges findet kein hierarchisches „Herumkommandieren“ statt, Verbundenheit und Angewiesenheit drücken sich eher in Kategorien der Dankbarkeit und Freude
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aus. Schließlich aber gibt der Umgang mit anderen auch Aufschluss über den Umgang mit sich selbst. Das Fehlen strukturierender Machtgefälle offenbart sich nicht nur im Bezug zum Außen, sondern auch im Bezug zum Selbst (2.4.2). Neben dem empirischen unterscheiden wir das ontologische Moment der Angewiesenheit: Es liegt darin, dass die Tätigkeit der Akteure, selbst wenn sie für sich ausgeführt werden könnte, immer in Bezug zu einem kollektiven Gefüge steht, in dessen Rahmen sie erst zur Entfaltung kommt. Hier braucht man einander nicht, damit etwas ausgeführt werden, sondern damit überhaupt erst etwas entstehen kann. Es geht also nicht um die empirische Möglichkeit des Handelns, sondern um eine ontologische Form von Praxis (2.5.1). Immaterielle Formen wie der Austausch von Ideen, Gedanken und Erfahrungen, aber auch Motivation und Mobilisierung, Anregung und Bereicherung können eine solche ontologische Angewiesenheit begründen. Fassen wir zusammen: Damit das Prinzip der selbstbestimmten Praxis innerhalb eines kollektiven Gefüges funktionieren kann, bedarf es eines spezifischen Modus des Organisierens, der über immaterielle Kategorien wie Verbundenheit und Angewiesenheit strukturierende Effekte hervorbringt. Dahinter steht eine Form von Praxis, die zwar durchaus vielfältige Dimensionen einer technischen Arbeitsteilung, nicht jedoch solche einer sozialen Differenzierung entfaltet. Wie aller sozialen Praxis liegt auch diesen Prozessen Macht zugrunde. Allerdings funktioniert sie hier wie ein Fluidum, das sich kooperativ verfestigt, um Praxis zu ermöglichen, nicht jedoch, um Positionen und Autoritäten zu sichern. Gerade Kategorien wie Verbundenheit und Angewiesenheit bekräftigen das wechselseitige Eingebettet-sein der Akteure in den kollektiven Handlungszusammenhang, der einerseits ihre Praxis ermöglicht, andererseits durch sie erst zur Entfaltung kommt. All das ist auch dahin zu bedenken, als gerade in der p.m.k wie generell im Feld der freien Kulturschaffenden viele Akteure auftreten, denen aufgrund ihrer Arbeit und Lebensführung nicht selten das Bild von Einzelgängern oder Eigenbrötlern zugeschrieben wird. Nun schließt das eine das andere nicht aus: Verbundenheit und Angewiesenheit stehen der Ausrichtung von Querköpfen noch nicht im Wege, allerdings korrigieren sie den Verdacht, dass es sich dabei um radikal autonome Außenseiter handeln müsse.
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232 6.1.2 Führung und Selbstführung
Es weiß ja jeder, wie’s geht. Ein Akteur (Matthias) über kollektive Praxis.
Die Praxis im Kollektivraum funktioniert nach dem Prinzip der Selbstverantwortung und Selbstdisziplin. Jedes Mitglied sollte wissen, wie der Raum zu benützen ist und welche Regeln es zu beachten gibt. Dieses Wissen leitet sich allerdings nicht aus einer Hausordnung oder einem schriftlichen Regelwerk ab, sondern von mündlich weitergegebenen Gebrauchsanweisungen, Instruktionen und Organisationsroutinen, allesamt Informationen, die über informelle Wege ausgetauscht werden. In vielen Fällen ist eine detaillierte Einführung in die Anwendung spezifischer Ressourcen erst gar nicht nötig, weil das dafür notwendige Wissen gerade die Kompetenz der Mitglieder ausmacht. Dass Musiker wissen, wie mit Ton- und Aufnahmegeräten umzugehen ist, DJ’s hingegen, wie Plattenspieler zu bedienen sind oder Filmemacher, wie Projektoren funktionieren – solche Bereiche technischen Wissens werden vorausgesetzt. In anderen Fällen ist es die langjährige Erfahrung aus dem jeweiligen Arbeitsfeld, oft auch die bereits vorhandene Vertrautheit mit dem Ort an sich oder der freundschaftliche Umgang mit seinen Akteuren, die neuen Mitgliedern wie ein verbürgtes Wissen zugeschrieben werden. All diese Momente verweisen auf die zentrale Voraussetzung des Vertrauens für das Funktionieren des kollektiven Organisationszusammenhangs. Das Praxisgefüge der p.m.k kann deshalb durch Selbstführung zusammengehalten werden, weil die Akteure darauf vertrauen, dass alle
wissen, was sie tun, gewissenhaft tun, was sie können und ihr Wissen, Tun und Können als eine Form kollektiver Praxis erfahren.
Damit umfasst das Vertrauen jene Dimensionen der Professionalität, Integrität und Solidarität, die sowohl als Zeichen des Respekts wie als Gewährung eines immateriellen Kredits in das Beziehungsgefüge der Akteure eingewoben sind. Indes ist charakteristisch, dass Vertrauen hier weniger eine individuelle Qualität als vielmehr einen kollektiven Bezugsrahmen markiert, in dem es nicht so sehr konkreten Personen zugesprochen wird, sondern einer wechselseitigen Relation, in welcher jene sich bewegen. Es mag nicht notwendig sein, dass Akteure sich persönlich durch und durch vertrauen, sehr wohl aber, dass sie darauf vertrauen, sich gegenseitig zu respektieren. Sehr offensichtlich zeigt sich diese umfassende Form von Vertrauen allein daran, dass es keine Instanzen gibt, die die Führung des kollektiven Raums kon-
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trollieren, keine Position, aus der heraus ein Gesamtüberblick auf das Gefüge erfolgen würde (5.3.6). Selbst die Aufgaben der Geschäftsführung und Programmkoordination werden ohne Anspruch auf eine panoptische Aufsichtsfunktion realisiert. Ein Akteur antwortet auf die Frage, ob die Geschäftsführung Kontrolltätigkeiten übernimmt: Matthias: Nein, die Ursula ist ja mehr für diese Lobbying-Geschichte zuständig. Also die ist mehr unsere Bürokraft, unsere Geschäftsführerin, die die Buchhaltung und alles macht. Der Christoph ist da mehr der – wie soll ich sagen? – der Chef. Aber der ist ja – wenn wir veranstalten, ist der nicht da. Die sind vielleicht im Büro, aber es weiß ja jeder, wie’s geht.
Es gibt kein offizielles Chef-Organ, in dessen Perspektive alle Vorgänge und Aktivitäten zusammenlaufen, keine zentrale Führungsstelle, die Anweisungen oder Ermahnungen erteilt. Voraussetzung dafür sind die verschiedenen Dimensionen des Vertrauens, insbesondere die Professionalität, aufgrund der „ja jeder weiß, wie’s geht“. Umgekehrt bedeutet es auch eine Form von Selbstdisziplinierung, wenn das Gefüge ohne Führung funktionieren sollte. Da es weder in der Verantwortung noch im Interesse von Ursula und Christoph liegt, immer da zu sein, sind die Akteure darauf angewiesen, selbstständig für eine reibungslose Praxis zu sorgen. Diese eigenverantwortliche Einhaltung der erforderlichen Regeln ist nicht nur eine laufende Replik auf das kollektivierte Vertrauen, sondern auch eine Kollektivstrategie zur Selbstdisziplinierung, die von allen Akteuren aktiv verfolgt wird. Selbstdisziplinierung als Notwendigkeit wie als Tugend – auch hier drücken sich die Momente der Angewiesenheit und Verbundenheit aus, mit denen wir die technische Arbeitsteilung charakterisiert haben (6.1.1). Zugleich entpuppt sich die Kollektivstrategie als wechselseitige Form sozialer Kontrolle: Wo die Stelle des Wärters frei bleibt und kein individualisierter, zentralisierter Kontrollmodus zum Zug kommt, da ersetzt eine kollektivierte Verantwortung den Überwachungsapparat. Damit wird zum einen verhindert, dass sich die Heterogenität der Akteure in eine Polarität unterschiedlicher Nutznießer verwandelt, zum anderen sichergestellt, dass alle Akteure sich als Teil des Praxisgefüges begreifen. Ursula: Es könnte viel tragischer sein. Es finden alle – es kapieren schon alle, dass sie da einen großen Freiraum haben und sie irr gute Konditionen haben und dass der ganze Laden im Großen und Ganzen passt und man sich darauf verlassen kann.
Allerdings offenbart die Führung durch Selbstführung in spezifischen Situationen ein Führungsvakuum – dann, wenn es um konkrete Entscheidungsprozesse
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geht und die Heterogenität der Akteure mitunter beträchtliche Konfliktpotentiale generiert. Wann und wie dies geschieht, behandelt das nächste Kapitel.
6.1.3 Heterogenität und Kollektivität Ich weiß es nicht, ob man den Vergleich große WG irgendwie bringen kann. Ein Akteur (Leon) über kollektive Entscheidungsprozesse.
Horizontale Machtverteilung, Führung durch Selbstführung, Verbundenheit und Angewiesenheit – all diese Momente verweisen auf einen Organisationsmodus, der das Kollektiv zusammenhält, ohne eine feste Einheit zu begründen. Es stellt sich dabei die Frage, wie Vielfalt und Zusammenhalt gleichzeitig bewahrt werden können? Wie viel Heterogenität verträgt das Kollektiv, wie viel Homogenität hingegen lässt die Vielfalt zu? Geht es dabei um einander ergänzende oder ausschließende Kategorien, ist das eine nur um den Preis des anderen zu erreichen? Anders gefragt: Wie lebt sich Heterogenität kollektiv? Wir untersuchen diese Frage da, wo Heterogenität das offensichtlich größte Konfliktpotential in sich trägt: in konkreten Entscheidungsprozessen. Diese werden in der p.m.k bekanntlich basisdemokratisch im Beirat ausgetragen. Wie wir gesehen haben, gibt es weder eine zentrale noch eine hierarchisch legitimierte Machtposition (4.1). Der Vorstand ist ein formales Gremium, das unregelmäßig, meist nur einmal jährlich, zusammentritt und ein Vetorecht besitzt, welches allerdings selten in Anspruch genommen wird. Außerdem ist der Vorstand weisungsgebunden an den Beirat: „Es gibt jetzt nichts, was der Vorstand entscheidet oder weiß, was jetzt der Beirat nicht weiß“ (Adi). Die beiden Funktionen der Geschäftsführung und Programmkoordination umfassen übergeordnete Verwaltungs- und Kommunikationstätigkeiten, verkörpern jedoch keine unabhängige Entscheidungsmacht. Stattdessen stellt sich der demokratisch organisierte Beirat als das maßgebliche Entscheidungsgremium heraus: Hier darf jedes Mitglied teilnehmen, sich einbringen, Kritik anbringen, Vorschläge machen und schließlich durch Abstimmung entscheiden. Die Tagesordnung dieser alle zwei Wochen stattfindenden Sitzungen ergibt sich aus den eingebrachten Anliegen der Mitglieder. Agenden, die einer Entscheidung bedürfen, werden anhand einfacher Mehrheit kollektiv beschlossen, wobei allen Anwesenden das gleiche Stimmrecht – eine Stimme pro anwesendem Verein – zukommt. Für jede Sitzung wird ein Protokoll geschrieben, das danach über das Intranet für Diskussionen, Nachträge und Einsprüche offen steht. Zunächst interessiert uns der Beirat in seiner Funktion als Plattform, in der sich Heterogenität frei entfalten kann. Bereits die Vielzahl unterschiedlicher
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Akteure lässt erahnen, dass es in den Sitzungen und entsprechenden Entscheidungsprozessen zu oftmals sehr differenzierten Meinungsbildern und Stimmungslagen kommt. Bei weitem nicht immer laufen Diskussionen einhellig ab, vielmehr bringen sie unterschiedliche Standpunkte ans Licht. Ursula: Es gibt so Gruppen, die untereinander ein bisschen streiten, und die muss man dann halt wieder ausreden lassen und so. Also eher gruppendynamisch therapeutisch oder was auch immer.
Als Plattform ist der Beirat, salopp gesprochen, Demokratiebasis, Therapiecouch, Identitätsgenerator und Konfliktzone in einem. Er erlaubt das Einbringen und Austragen von Meinungen, ebenso wie er verbindende und trennende Momente offenbart. Dementsprechend verkörpert er weniger einen Ort, der Einstimmigkeit voraussetzt, als vielmehr einen Raum, der Unstimmigkeit ermöglicht. Damit gleicht der Beirat zunächst jenem leeren Raum, der Bohm (1996) zufolge notwendig ist, um Meinungen offenzulegen und so eine geteilte Bedeutungsebene zu etablieren, auf der ein konstruktiver Dialog stattfinden kann. „We must have an empty space where we are not obliged to do anything, nor to come to any conclusions, nor to say anything or not say anything. It’s open and free. It’s an empty space. (…) So we have here a kind of empty space where anything may come in – and after we finish we just empty it. We are not trying to accumulate anything (…) we are not going to have any agenda, we are not going to try to accomplish any useful thing. As soon as we try to accomplish a useful purpose or goal, we will have an assumption behind it as to what is useful, and that assumption is going to limit us.“ (Bohm 1996: 17)
Der leere Raum ist unbesetzt und muss unbesetzt bleiben. Erst in diesem Rahmen können sich jene Prozesse der Meinungsbildung und des Gedankenaustausches ereignen, welche die Heterogenität des Gefüges einerseits bekräftigen, sie aber gleichzeitig durch deren offene Artikulation assoziieren. Unstimmigkeiten auszutragen ist daher kein notwendiges Zugeständnis an abstrakte Demokratisierungsprinzipien, sondern eine elementare Dimension des Beirats zur Wahrung seiner Zusammensetzung. Folglich kann es nicht darum gehen, sie eindämmen, verschmähen oder gar vermeiden zu wollen, sondern zuallererst, sie zuzulassen und dann, im Bedarf einer anstehenden Entscheidung, zwischen ihnen zu vermitteln und auszugleichen. Letzteres gestaltet sich als ein „Übersetzungsprozess“ (Callon 2006) von Sprachspielen, der von den „Übersetzern“ hohe ethische Anforderungen verlangt: „managing the polyphonic organization means listening carefully to the voices of others, keeping oneself in the background and mediating between different language games“ (Kornberger et al. 2006b: 21). Im Falle
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der p.m.k wird eine solche Übersetzungskompetenz vorrangig der Geschäftsführung zugeschrieben. Sebastian: Unsere Geschäftsführung, die Ursula, ist Meisterin der Diplomatie in solchen Fällen. Die sorgt eher dafür, dass verschiedene Meinungen unter dem gleichen Dach leben.
Damit Heterogenität als solche ermöglicht und bewahrt bleibt, bedarf es also eines offenen Raums, der sowohl Konflikte als auch Aushandlungsprozesse einräumt. Für beide Momente gibt es eine äußere Grenze dessen, was im Sinne des Kollektivs und seiner Akteure vertretbar ist. So sind Konflikte bis zu jenem Punkt möglich, an dem sie die Funktionsfähigkeit und ethischen Prinzipen des Kollektivs nicht dauerhaft in Frage stellen. Aushandlungsprozesse hingegen finden nur dann Akzeptanz bei den Akteuren, solange sie nicht zu einer hegemonialen und reduktionistischen Homogenisierung ihrer Ansprüche führen. Beide Eckpunkte beschreiben Grenzen ontologischer Natur, Unvereinbarkeiten, die am immanenten Praxisverständnis des Gefüges rühren. Sie sind zu unterscheiden von jenen Grenzen phänomenologischer Natur, Unstimmigkeiten, die innerhalb des Praxisgefüges zum Vorschein kommen. Während erstere das Gefüge in seiner Heterogenität in Frage stellen, bilden letztere gerade den lebendigen Beweis dafür. Wir können daraus schließen, dass der Modus, in dem ein Gefüge Unstimmigkeiten generiert, offen hält und schließt, bezeichnend ist für die Entfaltung seiner Heterogenität. Unstimmigkeiten mögen Konflikte auslösen, Streitfragen, Unzufriedenheit, Einspruch oder Abneigung – solange sich aber Akteure in den durch das Gefüge eröffneten Repräsentationen und Praxisräumen wiederfinden können, bilden sie einen immanenten Teil desselben. Bestehen jedoch grundsätzliche Unvereinbarkeiten darüber, was Praxis ist oder sein kann, über welche Orte, Mittel und Wege sie sich entfalten sollte, dann sind sowohl die Akteure in ihrer Integrität als auch das Gefüge in seiner Kohärenz gefährdet. Da, wo sich die Welten der p.m.k und ihrer Akteure nur mehr als Antagonismen und Disparitäten gegenüberstehen, wird Praxis verhindert oder instrumentalisiert, eingeebnet, verordnet oder kontrolliert. Zwar halten auch der Widerstreit (Lyotard 1987) und das Unvernehmen (Ranciere 2002) die Heterogenität aufrecht, allerdings lassen sie keine Brücken der Übersetzung und Konnexion zu. Heterogenität kollektiv zu leben, so können wir folgern, bedarf also des grundsätzlichen Einverständnisses in geteilte Praxisbezüge, bedarf des gegenseitigen Einlassens in gemeinsame Sinnhorizonte. Solche verbindenden Zugänge zur Welt können sich unterschiedlich artikulieren: über Respekt und Vertrauen, Verbundenheit und Angewiesenheit, gemeinsames Wirken und Schaffen, Freude und Freundschaft, Offenheit und Neugierde. All diese Kategorien wirken verbin-
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dend, sie sind jedoch nicht verbindlich. Die berühmte gemeinsame Wellenlänge ist nicht ihre Voraussetzung, maximal ihr Effekt. Heterogenität als Praxis setzt weder Einstimmigkeit voraus noch zielt sie darauf ab, vielmehr gründet sie in unhintergehbarer Vielstimmigkeit und entfaltet sich in den Übergängen, Relationen und Konnexionen, die aus deren Artikulation hervorgehen. Dass eine solche gelebte Heterogenität auch ein hohes Maß an (Selbst-)Disziplin und persönlichem Entgegenkommen erfordert, zeigt sich in der p.m.k allein am Anspruch, den kollektiven Handlungszusammenhang ohne übergeordnete Entscheidungsinstanzen funktionieren zu lassen. Dieser Anspruch betrifft zuallererst die im Vorstand und in der Geschäftsführung eingesetzten Funktionäre: Gerade sie sind angehalten, jene offiziell legitimierte Machtposition, die ihnen aufgrund ihrer formalen Stellung zukommen würde, in sozialen Aushandlungsprozessen zu übergehen. Insofern haben sie eine nicht zu unterschätzende Vorbildfunktion, als sie die Praxis des respektvollen Miteinander-Umgehens an ihrem eigenen Rollenverständnis veranschaulichen. Sebastian: Aber nach außen hin ist es offensichtlich so, dass wahrgenommen wird, dass vor allem der Vorstand (…) sehr viel an Zeit und gutem Willen investiert, dass wir eine funktionierende Demokratie in der p.m.k haben. Und es ist offensichtlich so, dass das von den einzelnen Mitgliedern so respektiert wird, dass sie sich selber Mühe geben, das funktionieren zu lassen.
Sich inmitten einer basisdemokratischen Struktur einzulassen auf die Heterogenität kollektiver Praxis verlangt daher mindestens ebenso viel Entgegenkommen wie Disziplinierung. Selbst dann ist aber noch keineswegs garantiert, dass sich gemeinsame Praxisbezüge und Sinnhorizonte einstellen. Es ist dies eine Art Restrisiko des sozialen Handelns, das mit zunehmender Vielfalt des Handlungsgefüges steigt und oftmals ein nicht unbeträchtliches Potential an Frustration und Ernüchterung offenhält. Die Rede ist hier nicht von akut auftretenden Meinungsverschiedenheiten, sondern von permanenten Unstimmigkeiten, die den Wunsch nach Homogenität, Einklang und Schließung nach sich ziehen. Matthias: Eigentlich würde ich es mir schon homogener wünschen, ehrlich gesagt. Oft einmal muss man sich echt überlegen, was man sagt, auch wenn man was denkt – man kann nicht immer alles sagen, was man denkt. Das ist schwierig.
Dies also ist, neben dem ermöglichenden das fordernde Moment der Heterogenität: Das Einlassen in gemeinsame Praxisbezüge und kollektive Sinnhorizonte artikuliert sich nicht nur über Respekt, Neugierde und Vertrauen – es bedingt sie auch. Nicht immer, aber durchaus regelmäßig sind die Akteure mit einem Grad an Offenheit konfrontiert, der eine weitreichende ethische Herausforderung dar-
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stellt, gleichfalls aber das Praxisgefüge mit einem unbefriedigenden Schleier der Diplomatie umgibt. Die Vielstimmigkeit der Heterogenität macht es nämlich schwierig, meist gar unmöglich, eine gemeinsame Sprache zu sprechen (Kornberger et al. 2006b: 11). Das Unkommunizierbare wird dann zwar diplomatisch übersetzt, bleibt aber ein trennendes Moment im Praxisbezug. Nun ist die Differenz zwischen Denken und Sagen, Sagen und Meinen, Meinen und Verstehen eine philosophische Kardinalfrage, die hier nicht weiter ausgeführt werden kann (vgl. Wittgenstein 2000). Für das heterogene Praxisgefüge scheint indes relevant, dass dadurch ein authentischer Austausch von Meinungen, Erfahrungen, Ansichten und Begehren stets latent bedroht bleibt und Praxis folglich nicht immer in ihrem ganzen Potential ausgeschöpft werden kann.95 Gewiss, ebenso wenig wie unter Akteuren vorab ein Konsens über Ziel und Zweck des gemeinsamen Handelns bestehen muss, um kollektiven Handlungssinn zu generieren (Weick 1995: 340), so setzt auch ein kollektiver Handlungsraum noch nicht zwingend einen gemeinsamen Sprachgebrauch voraus. Dennoch leitet sich das Maß seiner Möglichkeiten daraus ab. Natürlich bleiben die Differenzen zwischen Denken, Sagen, Meinen und Verstehen nicht auf heterogene Gefüge beschränkt, sondern treffen auf unzählige alltägliche Handlungssituationen zu, weshalb sie eher die Regel denn die Ausnahme darstellen.96 Kollektive Praxisbezüge und Sinnhorizonte erfordern jedoch erhöhte Bereitschaft, kommunikativen Missverständnissen durch sprachliche Ausgewogenheit vorzubeugen. Der Effekt ist für die Akteure ein oft ernüchternder: Wo ein gedanklicher Austausch nur über vermittelndes und abwägendes Sprechen möglich ist, eine innere Haltung also nicht unmittelbar und authentisch zum Ausdruck gebracht werden kann, da bleibt auch die Praxis in ihren Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt. Nicht die Diplomatie selbst ist daher das „Schwierige“, sondern der Preis, den sie verlangt. 95
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Zweifelsohne macht die angesprochene philosophische Differenz auch den Begriff der Authentizität problematisch, allein schon deshalb, weil unklar ist, wo das Authentische zu suchen ist: im Denken oder im Sagen – oder aber in der Praxis selbst? Und wie lässt sich Authentizität überhaupt behaupten, allenfalls nachweisen? Wir belassen es an dieser Stelle mit dem Hinweis auf die Problematik des Begriffs und verwenden ihn hier im Sinne jener Haltung, die wir als Aktualisierung der als Virtualität zu denkenden Kohärenz beschrieben haben (2.4.2). Dabei kann die Haltung mit der parrhesia verbunden werden, jener Praktik der Selbstbegründung, die durch Wahrsprechung und Wahrsprechen des Anderen funktioniert (Foucault 1988b). Demnach wäre ein Sprechen oder Handeln dann authentisch, wenn es eine innere Haltung ohne Rücksicht auf etwaige Konsequenzen zum Ausdruck bringt. Schmid nennt eine „parrhesiastische Existenz“ eine solche, „die auf Wahrhaftigkeit und Freimütigkeit setzt“ (Schmid 1998: 125) und sich durch Offenheit im Verhältnis zu sich selbst wie zu Anderen auszeichnet (ebd.: 201f.). Die Vorstellung, immer sagen zu können, was man denkt, hat dabei ebenso etwas Illusorisches oder gar Bedrohliches, wie jene, dass andere immer verstehen würden, was man meint.
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Wir haben bislang vor allem die Möglichkeiten und Erfordernisse diskutiert, welche die Entscheidungsprozesse eines heterogenen Praxisgefüges mit sich bringen, nicht jedoch deren Effekte. Wie einigen sich die heterogenen Akteure auf ihre Entscheidungen? Was verbirgt sich hinter den Mehrheitsbeschlüssen? Bloß ein numerisches Faktum? Diplomatische Kompromisse oder erstrittene Notlösungen? Konsensuale Übereinkünfte oder argumentativ ausgehandelte Überzeugungen? Werden dabei heterogene Bezüge aufrecht erhalten oder bilden sich mitunter vorübergehende Homogenitäten? Schließlich, welche Effekte hat die Heterogenität des Gefüges auf dessen Machtkonstellationen? Wie wirkt sich das Fehlen übergeordneter Führungsinstanzen auf den Prozess der Entscheidungsfindung aus? Gibt es Situationen, in denen der kollektive Beirat einem individuellen Machtwort weicht? An dieser Stelle ist eine methodische Bemerkung notwendig: So vielfältig die Hintergründe der Entscheidungen sein mögen, so unterschiedlich sind deren Wahrnehmung und Interpretation durch einzelne Akteure. Während etwa ein Akteur (Sebastian) sagt, dass es gerade in „ideologischen“ Fragen meist schnell zu Übereinkünften komme, betrachtet ein anderer (David) es als generell schwierig, Konsens zu finden. Ein dritter (Erwin) vermisst eine ernsthafte Diskussionskultur, ein vierter (Ursula) befindet wiederum, es könnte angesichts der Vielfalt an Akteuren „viel tragischer“ sein… – wir könnten so fortfahren und am Ende gut zwei Dutzend unterschiedlicher Bewertungen von Entscheidungs- und Einigungsprozessen anführen, die noch dazu in sich ambivalent und fraglich bleiben. Wie in der bisherigen Analyse kann es daher auch an dieser Stelle nicht darum gehen, die Perspektiven aller Akteure offenzulegen. Vielmehr sollten übergreifende Bedeutungskontexte erschlossen werden, um daraus Funktionszusammenhänge des Praxisgefüges zu erklären. Diese interpretative Rekonstruktion wendet sich gegen traditionelle, normativ ausgerichtete Erklärungsmodelle von Entscheidungsprozessen, in denen die Rationalität der Akteure, die Notwendigkeit konsistenten Verhaltens sowie die Gegebenheit von Zielen und Zwecken – anstatt problematisiert – vorausgesetzt werden (March 1979). Vielmehr gilt es, eine Position „symmetrischer Naivität“ (Chia 1994) einzunehmen, durch die Entscheidungen noch nicht als faktische Ereignisse auftreten, sondern erst aus dem Fluss von Handlungen, Interaktionen und Relationen heraus Form annehmen. „Symmetrically naivety is therefore another way of expressing the commitment to begin again with an ‘innocent’ pair of eyes using a becoming style of thought to show how actions, happenings, and relational configurations emerge, come together, coalesce and then take on stabilized appearances.“ (Chia 1994: 801f.)
Aus dieser methodologischen Position heraus kann nie vorab gesagt werden, was wie und warum entschieden wird. Wenn wir daher im Folgenden über Entschei-
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dungsagenden sprechen, dann beziehen wir uns dabei immer schon auf Effekte, die aus den Interaktionsprozessen hervorgegangen sind und erst rückblickend analysiert und klassifiziert werden können. So, aus der Retrospektive, ist es denn auch zu erklären, warum wir die im Beirat getroffenen Entscheidungen grob in (1) pragmatische, (2) praxiologische und (3) strategische Belange einteilen können. Im einen Fall geht es um die technisch-administrative Funktionalität des Kollektivs, im zweiten um seine sozistrukturelle Organisation, im dritten schließlich um gesellschaftspolitische Orientierungen. (1) Pragmatische Belange sind solche, in denen das Kollektiv über technische, administrative, logistische und finanzielle Fragen berät, um den laufenden Betrieb der Veranstaltungsräumlichkeiten sicherzustellen. Dabei fällt auf, dass gerade in diesen häufig als Banalität abgeurteilten Angelegenheiten ein hohes Konfliktpotential liegt, das Differenzen an die Oberfläche bringt. Sebastian: Erstaunlicherweise ist es so (…) dass bei Globalthemen wie: Was machen wir mit der Nazi-Problematik in den Bögen – was machen wir mit einer allgemeinen Kulturausrichtung, wo man erwartet, dass sich jetzt alle befetzen – gibt’s eigentlich immer einen Konsens. Und es gibt immer nur den Wunsch, das vernünftig und konstruktiv zu machen. Und andererseits ist es aber so, dass wir zum Beispiel – der Beschluss, ob wir einen Vorhang aufhängen für unser schönes transparentes Büro – das war eine Sache von einem halben Jahr. Und wenn Du irgendein Beiratsmitglied fragst, wie das war mit der Küche (Lachen) dann kann Dir da jeder sicher Horrorstorys erzählen. Also das ist eigentlich anders als man es erwartet. Die Kleinigkeiten wie Jetons hergeben bei einem Bierbecher oder nicht, ist oft ein Kleinkrieg. Und die ganzen globalen Sachen, die werden eigentlich ganz cool immer gemacht.
An der vermeintlich paradoxen Situation, dass technische Fragen intensivere Kontroversen auslösen als etwa politische, zeigt sich erneut die zuvor eingeführte Differenz von Unvereinbarkeit und Unstimmigkeit. Die Akteure stimmen in Grundsatzfragen der politischen Haltung wesentlich überein, in vielen Fällen bedarf es dafür nicht einmal einer expliziten Aussprache. Ihr je eigenes Verständnis von Praxis ist vereinbar mit den Organisationsprinzipien des Kollektivs, über die sie sich artikulieren. Das, was sie tun, und die Gründe, warum sie es tun, müssen in ihrer Sinnhaftigkeit selten in Frage gestellt werden. Anders jedoch verhält es sich mit all den konkreten Dimensionen des Wie: Wie sollten Räumlichkeiten gestaltet werden, wie Abrechnungen durchgeführt, wo Gäste untergebracht, welche Küchenutensilien angeschafft werden? Wie laut darf Musik sein? Sollte Bier in Bechern oder in Dosen ausgeschenkt werden? In welchem Zustand sind technische Geräte zu hinterlassen? Wer darf den Kopierer benutzen? Wo sind Kabel aufzubewahren? Wie viele Leute sollten am Eintritt stehen? All diese Fragen – und sie stellen nur einen Auszug dar – betreffen das Kollektiv in sei-
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nem täglichen Funktionszusammenhang und die einzelnen Akteure in ihrer konkreten Praxis. Allein, sie werden von diesen weder übereinstimmend festgestellt noch in derselben Weise gehandhabt oder gelöst. Hier treten unterschiedliche Wahrnehmungen zutage, Auffassungen und Perspektiven, aber auch unterschiedliche Prioritäten und Ansprüche, Routinen, Erfahrungen und Gewohnheiten. Sie alle sind in ihrer Heterogenität Anlass für Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten – Unstimmigkeiten also. Und dennoch, es sind keine ganzen Welten, die da aufeinanderprallen, sondern Biographien und Lebensstile. (2) Die Entscheidungsprozesse über pragmatische Angelegenheiten zeigen bereits, dass daraus jederzeit praxiologische Fragen hervorgehen können. Diese verweisen auf die Organisationspraktiken der Akteure. Sie werden dann zum Gegenstand gemeinsamen Interesses, wenn sie das gesamte Kollektiv oder einzelne Teile davon nachhaltig betreffen. Gerade da, wo regelmäßig unterschiedliche Problemwahrnehmungen oder Zielvorstellungen aufeinandertreffen, zeigt sich, welche kollektiven Mechanismen der Konflikt- und Problemlösung wirksam werden. Womöglich bilden sich mächtige Sprecher und Wortführer heraus, wenn es darum geht, inhaltliche Unvereinbarkeiten oder Spannungen zu klären. Womöglich werden aus der Problemsituation auch etwaige Konsequenzen in Erwägung gezogen, von Appellen über Forderungen bis hin zu konkreten Maßnahmen wie Sanktionen oder Verboten. Zunächst bedarf es aber, wie gesagt, einer übergeordneten Relevanz, damit einzelne Praktiken offizieller Gegenstand des Beirats werden. Ausgehend vom Prinzip der Selbstverantwortung und Selbstdisziplin muss ein begründeter Befund vorliegen, demnach sich einzelne Mitglieder nicht an kollektive Regeln halten oder entgegen übergreifender Organisationsprinzipien handeln. Allerdings gibt es für die Diskussion des betroffenen Vorfalls weder autorisierte Entscheidungsinstanzen noch vorgezeichnete Verfahrensprozedere. Probleme und Konflikte werden im Forum zur Sprache gebracht, sie werden aber nicht von einer spezifischen Stelle angehört. Dieser Unterschied ist durchaus bezeichnend: Während die Anhörung eine Kommunikationshierarchie impliziert, verläuft das ZurSprache-bringen ohne angeordnete Rede. Selbst die Geschäftsführung hat hier kein vorgeschriebenes Privileg, vielmehr eine nachgelagerte Funktion. Wenn sie eine Entscheidung herbeiführt, dann geschieht dies nicht auf Grundlage einer bestehenden Ordnung, sondern im Sinne eines Schiedsrichters, der zwischen mehreren Ansprüchen und Auffassungen vermittelt. Für viele Akteure könnte eine solche Vermittlungsposition durchaus stärker auftreten und mit der Macht eines Wortführers ausgestattet werden, der Diskussionsbeiträge aktiv moderieren und so verhindern würde, dass Gesprächsteilnehmer aneinander vorbei reden.
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Die Macht zur Freiheit David: Wo wir dabei waren – also Harald und ich haben gesagt, wir sind nicht so einverstanden. Wir verstehen, dass die anderen Gruppen von der p.m.k nicht so denken wie die „Gürtellinie“ zum Beispiel. Aber es ist eh gut, dass es diskutiert wird, dass Leute wirklich erfahren, was die anderen von denen halten und so. Manchmal kann es sehr banal sein, aber das kennen wir ja von demokratischen Systemen, wo alle gleich sind. Manchmal ist es sehr sehr schwierig, auf einen Konsens zu kommen. Das habe ich bemängelt, dass öfter bei Diskussionen eine Leitperson fehlt oder ein Moderator. Jemand, der wirklich da steht und alles moderiert. Aber es ist so.
Solange – mit oder ohne Vermittlung – kein gemeinsamer Verstehenshorizont etabliert werden kann, droht das formlose Zur-Sprache-Bringen in einen Zustand des Aneinander-Vorbeiredens zu münden. Damit ist ein ähnlicher Effekt gegeben, wie er bereits in der Differenz von Sagen und Verstehen angedeutet wurde: Wo Akteure einander nicht richtig verstehen, kommen auch ihre Aussagen nicht so an, wie sie es meinen. Die Konsequenz ist entweder Unverständnis oder aber, von Anfang an nicht alles zur Sprache zu bringen. Auffallend ist, dass solche Kommunikationsdifferenzen nicht nur, wie man oberflächlich vermuten würde, in Situationen entstehen, in denen die Gesprächsteilnehmer einander fremd sind, sondern auch in solchen, in denen bereits eine Bekanntschaft besteht. Nicht selten passiert es, dass gerade Freundschaften ein Maß an Rücksicht und Zuvorkommenheit mit sich bringen, das es verhindert, in aller Offenheit miteinander zu reden. Dann wird es für die Betroffenen umso schwieriger, ihre Differenzen zu artikulieren – eben weil man sich kennt. Das Problem des gemeinsamen Verstehenshorizonts wird aber nicht nur da evident, wo Akteure Kritik äußern, sondern auch da, wo sie Anliegen vorbringen. Praxiologische Angelegenheiten beinhalten nämlich keineswegs nur Probleme oder Differenzen unter den Akteuren, sondern auch deren Vorschläge und Anregungen, die auf die Praxis des Kollektivs gerichtet sind. Hierbei können sich ähnliche Spannungen zeigen wie bereits zuvor ausgeführt: Erwin: Die Leute [unseres Vereins, M.V.], die (…) ab und zu beim Plenum [= Beirat, M.V.] waren, haben schon öfter das Gefühl gehabt, dass es zu kompliziert ist, Vorschläge richtig vorzubringen, damit die richtig diskutiert werden. Weil ab und zu hab ich mitgekriegt, dass wenn verschiedene Personen beim Plenum sind, dass da auch – während man diskutiert über irgendwelche Unzulänglichkeiten bei Konzerten oder wenn irgendwelche Richtlinien nicht klar sind oder so – dass da in der Diskussion immer persönliche Animositäten eingebracht werden und keine sachliche Diskussion herauskommt und quasi Probleme immer mehr zerredet werden. Ich war bei zwei Terminen dabei und hab auch leicht den Eindruck gehabt, dass wenn einmal ein Thema aufgekommen ist – ja, da ist einmal wieder gewitzelt worden – also es ist zu wenig ernst, hab ich das Gefühl gehabt. Ich kann es nicht 100-prozentig sagen.
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Ohne gemeinsamen Verstehenshorizont ist es kompliziert, Vorschläge richtig vorzubringen; und ohne gemeinsamen Sprachgebrauch schwierig, sie richtig, sachlich und ernst zu diskutieren. Abweichende Auffassungen von dem, was wichtig ist, führen ebenso zu wechselseitigen Spannungen wie divergierende Ansprüche über das, was es zu erreichen gilt. Wo Probleme zerredet werden, können sie nicht offen zur Sprache kommen, und wo über ernsthafte Themen gewitzelt wird, reden Akteure offenkundig aneinander vorbei. Schließlich taucht auch hier wieder das Phänomen auf, dass zuviel Bekanntschaft, Freundschaft oder Vertrautheit hinderlich ist für Entscheidungsprozesse. Wenn Akteure einander zu gut oder jedenfalls gut genug kennen, um sich vorab ein ausreichendes Bild vom Gegenüber zu machen, scheitern Diskussionen über Anliegen und Vorschläge oft daran, dass sie in vorgefertigten Bahnen verlaufen. So wie sich Probleme zerreden lassen, können ganze Diskussionen verfahren. Die Effekte sind Unmut und Unverständnis, im äußersten Fall auch fehlender Respekt und gegenseitige Abneigung. Wir können daraus schließen, dass das Konfliktpotential von praxiologischen Belangen durchaus dazu führen kann, aus anlassbezogenen Unstimmigkeiten dauerhafte Verstimmungen hervorgehen zu lassen. (3) Bereits bei praxiologischen Angelegenheiten zeigt sich, dass die basisdemokratische Entscheidungsstruktur der p.m.k ein latentes Führungsvakuum offenbart, weshalb viele Akteure gelegentlich nach vermittelnden oder moderierenden Positionen verlangen. Noch stärker tritt dieses Vakuum bei Entscheidungen strategischer Natur zum Vorschein, in denen Fragen über die gesellschaftspolitische Ausrichtung und Positionierung des Kollektivs behandelt werden.97 Hier finden wir oft eine ambivalente Ausgangssituation vor, insofern es unter den Akteuren bei allgemeinen politischen Orientierungen zwar selten zu unvereinbaren Auffassungen kommt, sehr wohl aber zu unterschiedlichen Konsequenzen, die daraus gezogen werden. Wie sich die Diskussionskultur und Entscheidungsprozesse in solchen Situationen gestalten, lässt sich exemplarisch am Vorfall der „Nazi-Übergriffe“ veranschaulichen, die im Jahre 2007 auf die p.m.k verübt wurden. Es handelt sich dabei um mehrere rechtsextremistisch motivierte Anschläge, durch die Veranstaltungslokalitäten der p.m.k beschädigt und Teile der Außenfassade mit NaziParolen verunstaltet wurden. Über einige Wochen hinweg standen viele der betroffenen p.m.k-Akteure in einem Schockzustand, der sich auch späterhin noch durch Unsicherheit und Verängstigung auf ihr Alltagshandeln auswirken sollte. Während es von politischer Seite rasch Unterstützung gab, um der Sache durch Anzeigen und Verfassungsschutz nachzugehen, herrschte innerhalb der p.m.k 97
Es geht an dieser Stelle nicht um Strategien des Kollektivs als solche (6.3), sondern darum, wie sich die Heterogenität des Gefüges auf Entscheidungsprozesse strategischer Natur auswirkt.
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Uneinigkeit, wie auf den Vorfall reagiert werden sollte. Zwar konnten die Sachschäden vorübergehend behoben und eine einstweilige polizeiliche Videoüberwachung veranlasst werden, doch verlangten die Anschläge aus Sicht vieler Akteure eine explizite strategische Positionierung der p.m.k. Zumal, da die Plattform aufgrund der Übergriffe – und entsprechender regionaler Medienberichterstattung – unfreiwillig in einen diskursiven Bedeutungszusammenhang radikaler politischer Gruppierungen verflochten worden ist, der ihr Selbstverständnis als politisch unabhängiges und freies Kulturzentrum vorübergehend ausgeblendet hat. Als Konsequenz sprachen sich einzelne Akteure für ein starkes und akzentuiertes Auftreten der p.m.k aus, das sowohl nach Innen wie nach Außen eine dezidierte Abgrenzung gegen Rechts sowie gegen jegliche Form von Gewalt klarstellen sollte. Andere wiederum forderten konzertierte Aktionen des aktiven Widerstands, wobei dies die Anwendung von Gegengewalt nicht ausschließen musste. Diese Argumentationslinien verliefen entlang zweier loser Gruppierungen, die sich seit Gründung der p.m.k im Laufe der Jahre mehr und mehr herauskristallisiert haben, ohne je eine geschlossene Formation darzustellen. Die eine Gruppe von Akteuren, numerisch die Mehrheit, hat die p.m.k immer schon primär als Veranstaltungsort für sich reklamiert – als Ort, der zwar politisch ist, aber nicht unmittelbar politisch auftreten muss. Die andere, kleinere Gruppe betrachtet die p.m.k indes nicht nur als politischen Raum, sondern auch als politisches Instrument, mit dem konkrete Ziele verfolgt werden sollen. Im Zuge der Nazi-Übergriffe kam es zwischen diesen beiden Seiten zu Spannungen, die über das gewohnte Maß an Unstimmigkeit hinausgingen. Dass es aufgrund der heterogenen Aneignungsversuche des kollektiven Handlungsraums immer wieder zu Spannungen kommt, stellt für die Mehrheit der Akteure eine vertraute Erfahrung des Organisationsalltags dar. Aus gegebenem Anlass entfaltete sich jedoch ein Dissens von neuer Qualität. Es kam zu Anschuldigungen, einzelne Vereine hätten durch ihren offenkundigen politischen Aktionismus die verübten Anschläge nahezu provoziert und damit das ganze Kollektiv gefährdet. Dagegen standen Vorwürfe, wonach es nicht akzeptabel wäre, die Anschläge tatenlos hinzunehmen, eine schriftliche Erklärung auf der Homepage alleine reiche etwa nicht aus. Rund um diese Kontroversen wurden übergreifende Handlungsoptionen erwogen, Positionierungsversuche diskutiert, schließlich auch kollektive Identitäten problematisiert: Galten die Anschläge der p.m.k, einzelnen Akteuren oder aber der freien Kulturszene als solcher? Wer ist die p.m.k und wofür steht sie? Wogegen grenzt sie sich ab? Was heißt Kultur und was Politik? Was tun die einzelnen Vereine und was wollen sie? In welcher Relation steht ihre Praxis zur Bedeutung des Kollektivs? Wer trägt wofür Verantwortung? Wer entscheidet worüber?
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Erwin: Solche Sachen sind natürlich schon wichtig, dass das diskutiert wird. Für mich war es dann wichtig, dass es Richtlinien gibt, ganz klare Richtlinien, wie sich jeder Verein zu verhalten hat. Und nicht so, der Verein sagt von sich aus, nein, wir machen da nicht irgendwie auf Beschwichtigung, sondern wir gehen – wenn’s einen Übergriff gibt, dann gibt’s Kontra. Natürlich gibt’s verschiedene Auffassungen, aber ich fände da halt wirklich wichtig, dass es da klare Richtlinien von der p.m.k gibt und dass solche Sachen diskutiert werden.
Der Vorfall der Nazi-Anschläge hat gezeigt, dass sich die Akteure der p.m.k als „Angriffsziel“ (Matthias) zwar durchgehend verbunden fühlten, dass allein daraus aber noch kein kollektiver Akt hervorgegangen ist. Waren bereits die Interpretationen des Ereignisses – ablesbar etwa an der Frage nach Motiven, Ursachen und Betroffenen – teils sehr abweichend, so zeigten sich besonders in den Schlüssen, die daraus gezogen wurden, deutliche Differenzen. Eine unmittelbare Entscheidung über eine konzertierte Vorgehensweise fand denn auch nicht statt, vielmehr blieb die Heterogenität unaufgelöst in der Schwebe und hinterließ den Eindruck eines Führungsvakuums. Damit wurden die horizontalen Machtverhältnisse gewahrt und eine normierende Kerbung des kollektiven Handlungsraums verhindert. Weder erfolgte eine Instrumentalisierung des Raums zur Verfolgung politischer Ziele, noch wurden seine offenen Entscheidungsstrukturen hierarchisiert, um die Instanz eines übergeordneten Machtwortes zu legitimieren. Zugleich bestätigte sich dadurch jene ausgewogene Kräftekonstellation, die von Anfang an charakteristisch war für die Heterogenität des Gefüges und deren Unentscheidbarkeit, anstatt aus gegebenem Anlass vorübergehend geschlossen zu werden, aufrechterhalten blieb. Der folgende Auszug gibt nicht nur die Sichtweise eines Akteurs auf den geschilderten Vorfall wieder, sondern fasst gleichzeitig mehrere der zuvor analysierten Momente zusammen, die auf die Komplexität von Entscheidungsprozessen in einem heterogenen Praxisgefüge verweisen: Momente, in denen sich Führungsvakuum, Vermittlungsposition, Identität, Unvereinbarkeit, Freundschaft, Praxisbezug, Kollektivraum, aber auch Unstimmigkeit artikulieren. Leon: Es hat Situationen gegeben, wo ich mir für mich gewünscht hätte, dass es eine Struktur oder etwas gibt, das einfach vorgibt, okay, so nicht. Und um ein Beispiel jetzt zu benennen: Wir haben Schwierigkeiten mit der rechtsradikalen Szene gehabt und da ist es dann irgendwann in eine Richtung gegangen, naja gut, von einem Teil eines Vereins – so, von wegen Sexismus ist Scheiße, Gewalt ist vollkommen okay. Und da hätte ich mir in der Situation natürlich jemanden gewünscht, der sagt: Nein, Moment, die p.m.k kann niemals für sowas stehen. Also p.m.k darf nicht für Gewalt stehen. Und da – das sind für mich Situationen – (…), wo ich mir gewünscht hätte, dass ein Machtwort im Sinne von „für sowas darf und kann die p.m.k nie stehen“ ausgesprochen wird. Was natürlich bei so einer Struktur schwierig ist. Man kennt
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Die Macht zur Freiheit sich zum Teil privat, man kennt sich eben persönlich, es ist – man will natürlich auch jedem seine Freiheit lassen oder versucht’s natürlich. Und das dann unter einen Hut zu bringen ist natürlich schwierig. Und es ist bei einem Beirat von meiner Seite einmal die Idee gekommen, dass man vielleicht von außen her sich jemanden holt, der das jetzt vielleicht als Nichtinvolvierter oder Involvierter das einmal objektiv betrachten kann und vielleicht das Ganze – einmal ein Feedback geben, wie das jetzt von einem objektiven Standpunkt her vielleicht gut wäre, das Ganze anzugehen. Ist überlegt worden, ist – ja – hat – ist als solches schon in Erwägung gezogen worden, ist jetzt in dem Sinn nicht wirklich so zustande gekommen, aber – ja – ich weiß es nicht, ob man den Vergleich große WG irgendwie bringen kann. Wo einfach man vieles nicht ausspricht und sich das dann natürlich über die Zeit auch staut und natürlich auch zu Konflikten führt.
Strategische Belange, so können wir schließen, treten in Grenzsituationen hervor, in denen die kollektive Identität des Gefüges verhandelt wird, in Situationen also, die eine Stellung-Nahme auf Basis des gemeinsamen Territoriums erfordern. Solche Positionierungen müssen keineswegs, wie die Strategien der Inklusion und Exklusivität zeigen (5.1.6), durch konkurrierende Grenzziehungen erfolgen. Spätestens seit den gewaltsamen Nazi-Anschlägen gibt es jedoch bestimmte gesellschaftliche Territorien, gegen die eine explizite Abgrenzung notwendig zu werden scheint. So wurde auch im betreffenden Fall schließlich doch eine Entscheidung getroffen, in der die Grenzlinie schlicht durch das Moment der physischen Gewalt markiert ist. Demnach distanziert sich die p.m.k ausdrücklich von allen Formen der Gewalt, aus welchen Gründen oder Motivationen diese auch immer entstehen mögen. Auf diese Weise verwehrt sich das Kollektiv strategisch dagegen, etwas mitzutragen, hinter dem es nicht stehen kann. Nichtsdestotrotz bleibt damit die kollektive Identität des Gefüges weiterhin unabgeschlossen, insofern sie aus heterogenen wie unsteten Positionen hervorgeht (6.2.5). Gerade die Pluralität und Wandelbarkeit der Identitätsbezüge sind daher konstitutiv für den emergenten Identitätsbildungsprozess des Gefüges, dessen kollektive Identität nicht durch intrinsische Charakteristika, sondern durch ein heterogenes Feld diskursiver Praktiken konstruiert wird. „Organizational identity is not an essence or a substance fleshed out by characteristics; rather, organizational identity is enacted and embedded in a field of differences. These differences represent the condition as well as the impossibility of defining identity.“ (Clegg et al. 2007: 510)
Wie lebt sich Heterogenität kollektiv, so fragten wir zu Beginn dieses Kapitels. Anhand von Entscheidungsprozessen konnten wir ermöglichende und fordernde Momente von Heterogenität nachzeichnen, wobei sich die Kohärenz der Akteure ebenso wie jene des Gefüges wesentlich aus den kollektiv generierten Praxisbe-
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zügen und Sinnhorizonten bestimmen. Zentral dafür sind Orte wie der Beirat, in denen Unstimmigkeiten allererst ermöglicht werden. Damit bleibt die Vielfalt der Akteure gewahrt, solange nicht Unvereinbarkeiten die Praxis des Gefüges als solche in Frage stellen. Die Entscheidungsprozesse selbst implizieren, je nach Gegenstand, ein hohes Konfliktpotential, das nicht zuletzt aufgrund der horizontalen Machtverteilung zu komplexen Aushandlungsprozessen führen kann. Die Resultate sind für einzelne Akteure nicht immer befriedigend, sei es, weil die basisdemokratische Diskussionskultur in keine konstruktiven Bahnen mündet oder weil persönliche Konflikte im Wege stehen. So kann es durchaus Situationen geben, in denen gerade die Vertrautheit innerhalb des Gefüges zum Problem wird. Anlassbezogen entsteht deshalb das Bedürfnis nach vermittelnden, moderierenden oder tonangebenden Instanzen, oft gar nach einem obligatorischen Machtwort, die verhindern sollten, dass Akteure aneinander vorbeireden oder aber Dinge unausgesprochen im Raum stehen bleiben. Schließlich kann Praxis erst da, wo ein gemeinsamer Verstehens- oder Sinnhorizont erreicht wird, in ihren ungesehenen Möglichkeiten voll ausgeschöpft werden. Ein Akteur hat die Entscheidungsprozesse in der p.m.k einmal zynisch, aber durchaus mit ernstem Nachdruck, weniger als basisdemokratisch denn vielmehr als basisdiktatorisch bezeichnet. Jeder, so die Argumentation, könne machen, was er will, es komme aber zu keinem demokratischen Aushandlungsprozess. Diese Einschätzung mag in vielen Fällen zweifellos zutreffen. Diskussionen sind nicht immer schon Dialoge, in denen Gedanken offengelegt, Argumente ausgetauscht und abweichende Interpretationen beraten werden (Bohm 1996). Oft ist, wie wir gesehen haben, weder ein gegenseitiges Verstehen noch ein offenes Miteinander-Reden möglich. Oft ist es aber auch gar nicht erst notwendig. Solange ein heterogenes Gefüge die Bedingungen seiner Praxis nicht untergräbt, solange Vielfalt offen und Unstimmigkeit möglich bleiben, solange aber auch kollektive Entscheidungsprozesse individuellem Machtstreben zuvorkommen, solange bleibt auch die „Basis“ der Praxis offen für die Generierung neuer Handlungsfreiräume. Damit kann schließlich auch der Begriff der „Demokratiefähigkeit“ verfeinert werden, der als Anspruch an die Akteure bei der Aufnahme in das Praxiskollektiv herangetragen wird (5.3.1). Die Demokratiefähigkeit ist in der p.m.k nicht als normative Vorgabe zu verstehen, sondern als konstitutives Set an Praxisprinzipien, die die Akteure im Rahmen ihrer Selbstführung in das Gefüge einbringen. Diese Prinzipien kommen nur selten explizit zur Sprache, vielmehr ergeben sie sich aus der Praxis. Allgemein gesprochen sind dies Gerechtigkeitsprinzipien wie Gleichheit, Fairness, Verfahrensgerechtigkeit, Partizipationsgerechtigkeit, Gleichberechtigung und Chancengleichheit (vgl. Schmid 1998: 278286). Konkret auf das organisationale Gefüge der p.m.k angewandt, sollten wir
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jedoch eher sprechen von Respekt und Offenheit, Vertrauen und Verbundenheit, Neugierde und Dialogbereitschaft, Selbstdisziplinierung und Selbstachtung, Freundschaft und Aufrichtigkeit, Rücksicht und Entgegenkommen.
6.1.4 Schwerpunkte und Anführer Es braucht Einzelpersonen eben als Motor – und um dann wirklich was durchzusetzen, braucht’s halt viele. Ein Akteur (Adi) über Kräfteverhältnisse in der Praxis.
Wenngleich die Macht des Gefüges noch nicht durch soziale Arbeitsteilung vorstrukturiert ist, vielmehr als Virtualität in Form eines größtmöglichen Handlungsfreiraums allen Akteuren offen steht, dann heißt das nicht, dass es keine Schwerpunkte, keine tragenden Elemente oder anführenden Personen innerhalb des Praxiskollektivs gäbe. Kulturarbeit mag zwar hochgradig vernetzt sein, dennoch bedarf es Initiatoren und Antreiber, Dreh- und Angelpunkte, oder, wie es Czarniawska (2004) formuliert, Übersetzer und Versender, um die unterschiedlichen Kräfte und Konstellationen immer wieder neu zu verknüpfen und in Gang zu bringen. Adi: Es ist immer so, in dem ganzen Kulturbereich – egal wohin man schaut in Österreich – (…), dass prinzipiell Einzelpersonen schon sehr viel bewirken können als treibender Motor. Aber Einzelpersonen jetzt nichts allein durchsetzen können. Das geht halt nicht. Es braucht Einzelpersonen eben als Motor – und um dann wirklich was durchzusetzen, braucht’s halt viele. Ich meine, das ist überall so. Das ist wahrscheinlich in der Politik und in der Wirtschaft das Gleiche, dass es da Persönlichkeiten gibt, die irgendeinen Weg gehen.
Auch in der p.m.k gibt es einen Grundkern an Akteuren, die das Gefüge stärker prägen und vorantreiben als andere. Dieses Ensemble unterscheidet sich allerdings, ontologisch gesehen, nicht von anderen umherschweifenden Produzenten oder Initiativen. Seine Praxis ist nicht durch einen anderen Bezug zu Eigentum oder Territorium gekennzeichnet, sondern durch eine andere Intensität und Kontinuität der Artikulation. Wie Deleuze & Guattari (2005) konstatieren, bedarf es auch bei nomadischer Praxis treibender, kanalisierender und initiierender Akteure, die Akzente setzen und Anlässe geben, die aufgrund ihres zurückgelegten Weges Bahnen freilegen, auf die andere Akteure bei Gelegenheit aufspringen
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und sich mal mehr, mal weniger einbringen.98 Praxis gestaltet sich dabei wie eine physikalische Theorie der Schwerkraft, wobei unterschiedliche Anziehungs- und Abstoßungskräfte zum Tragen kommen, die in einer komplexen Wechselwirkung aus verschiedenen Elementen in Raum und Zeit wirksam werden (Ford & Ford 1994). Die aus der Praxis hervorgehenden Grundkerne oder Kernteams bilden allerdings keine hermetischen Inklusions- oder Exklusionsmechanismen, vielmehr können Eingebungen, Ideen oder Initiativen von Innen wie Außen kommen. Nichtsdestotrotz bilden vor allem die Kontinuität und Erfahrung der Akteure die wesentlichen Elemente, durch die Anziehungskräfte generiert werden. Akteure werden aus ihrer Praxis heraus zu Schwerpunkten, sie ziehen an und lassen (sich) anziehen. Und je bewährter und vertrauter einzelne elementare Kräftekonstellationen sind, desto stärker kann sich ihre Sogwirkung entfalten. Milan: Wenn jemand einmal mehrere Ideen mit umgesetzt hat, dann wird er schon automatisch durch das Miteinander-Arbeiten enger an den Kern herangezogen.
Allerdings stellen selbst diese Kernteams keine absolute Größe dar. Ausmaß, Gravitation und Wechselwirkung hängen immer von energetischen Schüben ab, die teils aus individuellen Antriebskräften, teils aus kollektiven Wellenbewegungen hervorgehen. Weil immanente Praxis immer von Affekten und Leidenschaften ausgeht, bedarf es nicht nur der individuellen Begeisterungsfähigkeit, sondern auch der zwischenmenschlichen Anziehungskraft, um in eine kollektive Bewegung überzugehen. Solche Verbindungen geschehen folglich kaum als rationaler Prozess, vielmehr als emotionale Reaktion. Dementsprechend sind auch das Mitmachen und das Mitgehen, das Dabeisein und das Dahinterstehen nur selten Ergebnis eines sachlich-abwägenden Aushandlungs- oder Diskussionsprozesses, sondern der Effekt einer energetischen Kettenreaktion, die häufig auf starken Bindungen und fruchtbaren Austauschbeziehungen beruht. Milan: Wir haben verschiedenste Schwankungsformen von Größendruck gemacht. Jetzt sind wir gerade auf unserer Kleinstform, allerdings ist das derzeit die effizienteste Arbeitsform. Ja, da haben wir – auch in den Größtformen war es immer so, dass wir eigentlich nie gemeinschaftlich jetzt Sitzungen abgehalten haben und dann beschlossen haben, sondern jemand ist gekommen – und wenn jemand genug Energie gehabt hat, dass er ein Projekt wirklich machen wollte und durchziehen wollte, dann ist es gemacht worden. Und ist auch von allen unterstützt worden. Aber die
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Als Beispiele nennen Deleuze & Guattari (2005: 489, 503) Häuptlinge oder Stammesführer, die zwar zur Führerschaft ermächtigt sind, aber keine Macht im Sinne eines Herrschaftsapparates besitzen.
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Die Macht zur Freiheit Entscheidungsfindung war eigentlich nie ein demokratischer Prozess, sondern es hat eigentlich immer quasi eine Kernzelle gegeben, von der das Ganze ausgegangen ist.
Egal, wie groß ein Grundkern ist, wichtig ist, welche Energien er freisetzen und welche Räume er eröffnen kann. Je größer das Feld der virtuellen Anschlüsse, desto mannigfaltiger kann die Aktualisierung seiner Kombinationsmöglichkeiten ausfallen. Konkret gesprochen: Können Akteure auf ein vielfältiges Netzwerk an materiellen wie immateriellen Ressourcen zurückgreifen, dann steigern sich auch die Möglichkeiten, daraus kreative Formen von Praxis herzuleiten. Nicht nur für die Generierung von Ideen sind Netzwerke elementar (5.3.3), sondern auch für deren Umsetzung. Eingebungen zu haben ist die eine Seite, doch auch über die virtuellen Strukturen zu verfügen, um sie auszuarbeiten, die andere. Hier kommt im Falle der p.m.k neben der internationalen Vernetzung einzelner Akteure auch die dichte Milieubildung im Raume Innsbruck zum Tragen, da die Überschaubarkeit des lokalen und regionalen Praxisfeldes schnell zu einer starken Verknüpfung der treibenden (und mittreibenden) Kräfte und somit zu einer Hybridisierung von Handlungsoptionen führt. Ergebnis ist weniger ein widerstrebendes denn zumindest ein freundschaftliches Nebeneinander: Man kennt sich, respektiert einander, hilft sich gegenseitig aus oder verbindet sich gar zu „Spezialisierungsclustern“ (Milan). Es überrascht deshalb nicht, wenn sich in der p.m.k viele Akteure und Vereine aufgrund ähnlicher inhaltlicher Ausrichtungen zu losen Netzwerken zusammenschließen, damit einen „gemeinsamen Personenpool“ (Milan) etablieren, übergreifende Arbeits(auf)teilungen einführen, füreinander Kontakte herstellen oder bei Engpässen wechselseitig aushelfen. Auch hier kristallisieren sich wieder tragende Elemente heraus, die von umherschweifenden Produzenten (Milan spricht von „Satellitenvereinen“) umkreist werden und dabei ihre produktiven Bahnen mit wechselnden Konstellationen verfolgen. Abgesehen von dieser mikropolitischen Ebene gibt es in der p.m.k auch übergreifende Gruppierungen, deren Aufteilung entlang der groben Kategorien politische Vereine und Kulturvereine erfolgt. Obwohl erstere in der p.m.k in der Minderheit sind, erhält ihre Tätigkeit sowohl in der inneren wie äußeren Wahrnehmung aufgrund ihrer akzentuiert politischen Inhalte eine überproportionale Bedeutung. Selbst wenn daraus noch keine ungleichen Machtverhältnisse für das Praxiskollektiv entstehen, kann diese Gruppenbildung sehr wohl Anlass für diskursive Verschiebungen oder wegweisende Ereignisse sein, deren Auswirkungen auf die Praxis aller Akteure zurückwirken. So geschehen etwa bei dem rechtsradikalen Angriff auf die Lokalität der p.m.k (6.1.3), ebenso bei einem Konzert mit polarisierenden Liedtexten, oder, ein letztes Beispiel, anlässlich eines Cd-Covers mit provokantem Sujet. Solche Ereignisse zeitigen Konsequenzen, welche die p.m.k als Ganzes betreffen und – meist unbeabsichtigt – eine einheitliche Identi-
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tät suggerieren. Umgekehrt sind sie der „Preis“ sowohl der Heterogenität wie der Offenheit des Handlungsraums.
6.1.5
Politische Vereine und Kulturvereine Wie soll ich sagen – ja, ich meine, das mit dem Anspruch ist immer so schwierig einfach. Ein Akteur (Georg) über unterschiedliche Ansprüche an die eigene Praxis.
Wie die diskursive Aufteilung in politische Vereine und Kulturvereine zeigt, spiegelt sich die Heterogenität der p.m.k-Akteure in unterschiedlichen Handlungsmotiven wider. Für die einen geht es darum, qualitativ anspruchsvolle Konzerte zu veranstalten, für andere mehr darum, politische Inhalte zu vermitteln. Dem zugrunde liegen sowohl unterschiedliche Selbstverständnisse als auch unterschiedliche Praxisausrichtungen. Politische Aktivisten oder, etwas weiter gefasst, politisch motivierte Akteure möchten den kollektiven Raum strategisch nutzen, um einen Ort der kritischen Diskussion und des Widerstands zu etablieren. Dagegen geht es den Musikern, Filmproduzenten und Veranstaltern der p.m.k sowie all jenen Akteuren, die sich allgemein als Kulturarbeiter verstehen, mehr darum, einen Ort des kulturellen Schaffens zu etablieren, ihn zu beleben und aufrechtzuerhalten. Der Ort wird dabei als Handlungsraum genutzt, in und mit ihm wird etwas gemacht, ohne dass es zu starken Positionierungen kommt. Während die Handlungsziele der einen Seite also tendenziell auf strategische Aneignungsversuche des gemeinsamen Raumes hinweisen, sind bei der anderen Seite vermehrt taktische Gebrauchsweisen vorzufinden. In dieser Differenz drücken sich nicht nur zwei unterschiedliche Logiken von Praxis aus, politische Arbeit einerseits und Kulturarbeit andererseits, sondern auch zwei unterschiedliche Logiken von Artikulation: hier eine politische Aussage, da eine ästhetische. Dass es dabei im Rahmen des heterogenen Praxiskollektivs regelmäßig zu Spannungen und Zielkonflikten kommt, sollte nicht weiter verwundern. Adi: Und jetzt auch von den politischen Vereinen es halt schon auch so ist – wie soll ich sagen? – dass einmal die Qualität von den Konzerten oft jetzt nicht so gut ist, aber sie jetzt zum Beispiel mit einem Geld, das bei solchen Konzerten vielleicht hereinkommt, weil halt die Bands billiger sind – da geht’s dann um den Sinn, der dahinter steht. Und bei den anderen geht’s vor allem um die Qualität bei den Konzerten. Allein das ist einmal schon so ein Spannungsding. Aber ich meine, das ist eben ein Kompromiss, den man eingehen muss.
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Die aus der dargestellten Differenz hervorgehenden Zielkonflikte machen Kompromisse unumgänglich. Diese werden jedoch nicht ein- für allemal ausverhandelt, sondern stellen sich immer wieder neu, sobald sich durch die Praxis neue Handlungsräume auftun und damit die Frage stellt, wie diese angeeignet oder benützt werden. Was ist Gebrauch und was Missbrauch? Wo hört das eine auf und fängt das andere an? Wo liegen die Grenzen? Und was bedeutet das wiederum für das Selbstbild und Fremdbild des Praxiskollektivs? Grundsätzlich lässt sich sagen, dass ein problematischer Zustand da erreicht ist, wo der gemeinsame Raum strategisch instrumentalisiert wird. Das tritt bei politischen Vereinen wahrscheinlicher ein als bei Kulturvereinen. Zum einen haben sie ein anderes Selbstbild von der p.m.k als die große Mehrheit der restlichen Akteure (Sebastian: „Es gibt bestimmte Gruppen, die bereits glauben, wir haben ein autonom-linkes Kulturzentrum.“), zum anderen geht mit ihrer politischen Praxisausrichtung auch eine andere Auffassung ihrer eigenen Rolle einher. Person und Präsentation bilden hier oftmals eine sehr starke Einheit, die anderen Kulturarbeitern als Selbstgefälligkeit oder Selbstgerechtigkeit erscheint. Prinzipiell sehen die meisten Vereine eine politische Instrumentalisierung des Kollektivraums als unproblematisch an, solange sie im Rahmen des Gesetzlichen bleibt und keine nachhaltige Vereinnahmung aller Akteure bedeutet. Eine solche Form des Aktivismus wird dann nicht nur passiv toleriert, sondern findet im Sinne des offenen Kulturbegriffs der freien Kulturszene (4.2.1) auch aktive Unterstützung. Politisches Engagement, Bewusstseinsschaffung, Aufklärung und Information, ja, auch Provokation – all das sollte in der p.m.k nicht nur möglich, sondern auch erstrebenswert sein: Sebastian: Und das gehört auch, das ist Bestandteil moderner Kultur und das gehört zu uns dazu. Aber wir müssen natürlich immer die Frage stellen: Wo ist die Grenze?
Problematisch wird es allerdings, wenn die Instrumentalisierung auf eine strategische Positionierung des Kollektivs hinsteuert. Sobald die p.m.k in politischen Fragen auf einer klaren Seite verortet wird, sind ihre Heterogenität und Vielfalt bedroht. Dies war etwa anlässlich der rechtsradikalen Angriffe der Fall (6.1.3), als es nahezu zu einer „Stigmatisierung“ (Oliver) der p.m.k kam, durch die sie mit einer linksradikalen Szene gleichgesetzt wurde. Die problematische Grenze von Gebrauch und Missbrauch wäre hier spätestens dann überschritten gewesen, wenn es im Zuge der Gewalt zur Toleranz von Gegengewalt gekommen wäre. Eine einseitige und fixierte Ausrichtung würde auf Dauer nicht nur die immanente Praxis der p.m.k-Akteure gefährden, sondern auch deren Wirkungsmöglichkeiten nach außen hin beschränken. Unabhängige und unorthodoxe Artikulationsformen, wie sie zeitgenössische Kulturarbeit immer wieder provoziert, wären dann nur schwer möglich. Schließlich drohte die Gefahr, zu schnell in gesell-
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schaftliche Kategorisierungen eingeordnet zu werden und damit nur mehr begrenzte Relevanz und Reichweite beanspruchen zu können (6.2.1). Entgegen dieser strategischen Aneignung des Raums verfolgt die Mehrheit der Akteure den pragmatischen Anspruch, den etablierten Handlungsraum für ihr kulturelles Schaffen lediglich zu benutzen. Das Ziel ist die Artikulation einer ästhetischen Aussage, also die Produktion und Präsentation von qualitativ gehaltvoller Kulturarbeit. Um dieses Ziel stets aufs Neue realisieren zu können, ist es jedoch notwendig, die Bedingungen seiner Möglichkeit zu erhalten. Georg: Also in Innsbruck finde ich die Bedingungen [für Kulturarbeit, M.V.] eigentlich – ich bin zufrieden. Durch das, dass ich einfach keinen allzu hohen Anspruch an das Ganze habe, dass ich mich da jetzt auch nicht weiter ausbreiten will mit dem ganzen Ding, finde ich einfach die Möglichkeiten, die wir haben, ausreichend.
Wo nicht der Anspruch da ist, sich auszubreiten, die eigene Praxis zu einer dominanten Repräsentation zu erheben, sind die Bedingungen für einen offenen und heterogenen Schaffensraum gegeben. Andererseits soll dabei nicht vergessen werden, dass die meisten Akteure sich ihre eigenen Möglichkeiten sehr wohl erst haben schaffen müssen.
6.2
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Wir haben bislang gezeigt, wie die p.m.k organisiert ist, in welchen Lebenswelten sich ihre Akteure verorten, welche Organisationspraktiken im Praxiskollektiv entfaltet werden und welche spezifischen Machtverhältnisse innerhalb des Gefüges zum Vorschein kommen. Nun fragen wir, ob und wie die Heterogenität unterschiedlicher Kräfte, die im Organisationszusammenhang wirksam werden, als ein politisches Subjekt verstanden werden kann. Hierfür setzen wir den Begriff der Multitude ein, der auf die Macht eines kollektiven Subjekts verweist, wobei es sich, ontologisch gesprochen, nicht um eine andere Qualität von Macht handelt als jene der heterogenen Kräfte. Der Begriff der Multitude wurde wesentlich von Spinoza geprägt: „Für Spinoza verweist die multitudo auf eine Vielheit, die als solche im öffentlichen Raum fortbesteht, im kollektiven Handeln, in der Erledigung der öffentlichen Angelegenheiten, ohne in einer Einheit aufzugehen, ohne sich in einer zentripetalen Bewegung aufzulösen. Multitude ist die soziale und politische Existenzform der Vielen als Vieler: eine bleibende Form, keine vorläufige oder vorübergehende.“ (Virno 2005: 26)
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Die Multitude bezeichnet also ein konstituierendes Vermögen, das einem Gemeinwesen zukommt. In ihr erfährt die Multiplizität sozialer Kräfte weder Machtverlust noch Machtauslieferung, vielmehr ist es eine Transformation von Macht. „In this transformation the multiplicity of society is forged into a multitude. (…) The multitude is multiplicity made powerful“ (Hardt 2002: 110). Während die Multiplizität von Kräften eine freie, unorganisierte Entfaltung von Macht bedeutet, findet in der Multitude eine organisierte Formgebung statt. Das Organisieren des freien Kräftefeldes gestaltet sich als konstitutive Praxis, als Prozess der Transformation von Multiplizität in die Multitude, in der die Vielheit als Vielheit fortbesteht. Wir werden in Folge mehrere Dimensionen untersuchen, in denen diese Formgebung Gestalt annimmt.
6.2.1
Die Generierung von Vielfalt Also ich glaube, man kann schwer alles mitkriegen in der p.m.k. Ein Akteur (Leon) über die Vielfalt in der p.m.k.
Die Macht der Multitude kann nicht auf das einzelne Individuum zurückgeführt werden. Sie besteht weder in der Summe der Teile noch in einer gänzlich anderen Qualität, die unabhängig wäre von diesen Teilen. Vielmehr entsteht sie aus den Zwischenräumen der Teile, aus den Relationen und Beziehungen, die diese miteinander eingehen, aus den Möglichkeiten und Räumen, die sich aus ihren Verknüpfungen eröffnen, schließlich aus den Zusammenhängen und Formationen, die sie bilden. Multitude, das heißt Kräfte plus Form, so wie p.m.k nichts anderes heißen könnte als Kulturschaffende plus Organisation. Was sind nun die Quellen für diesen kollektiven Machtmodus, der über die Macht der einzelnen Akteure hinausgeht? Worin und wodurch wird er für das Individuum erfahrbar? Schließlich, wie zeigt er sich, materialisiert sich und nimmt Gestalt an? Wir werden diese Fragen anhand der kollektiven Machtkonstitution erschließen, die sich aus der Generierung von Vielfalt entfaltet. Allein, dass sich das mannigfaltige Schaffen von heterogenen Akteuren nicht mehr getrennt, sondern in einem Zusammenhang vollzieht, bewirkt Effekte, die über die Handlungsmacht der Einzelnen hinausgehen. Abzulesen ist das bereits an der Aufbruchstimmung, die bei der Gründung der p.m.k aufgekommen ist. Es war für viele Akteure ein Gefühl des kollektiven Enthusiasmus, das sich auch fortan immer wieder einstellen sollte: das Gefühl, neuen Boden zu beschreiten, etwas Neues entstehen zu lassen, ungeahnte Möglichkeiten vor sich zu haben. Dieses Gefühl ist der Macht des erwachsenden Kollektivs zuzuschreiben. Immerhin waren viele Akteure schon lange vor der p.m.k in ihren Berufsfeldern aktiv, für
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sie war die Tätigkeit an sich also nichts Neues. Orte wie das Utopia, die Workstation, das Haus am Hafen oder das Jugendzentrum Z6 waren Sammelbecken und Experimentierfelder jener Szene, aus der schließlich die p.m.k hervorgehen sollte. Es gab demnach eine Reihe von Akteuren, die bereits im Vorfeld gearbeitet haben und eine Basis schufen für das, was später als p.m.k Form annahm. Diese ist weder aus dem Nichts entstanden noch gab es einen adäquaten Vorgänger zu ihr. Das aber war zugleich das Neue: Man kannte sich zwar, aber nicht unter diesen Umständen. Neu waren die Relationen, die Räume, die Möglichkeiten und die Perspektiven; neu die Art und Weise, sich selbst und die Anderen zu sehen; neu die Identitäten, die daraus hervorgingen; neu die Praktiken, die damit möglich wurden; ja, neu war die Welt, die sich da auftat (Spinosa et al. 1997). Damit sich auch fortan immer wieder neue Welten auftun können, bedarf es der Bewahrung von Heterogenität und Vielfalt: ein offen strukturierter Ort, heterogene Akteure, immanente Vielfalt im Programm. Beides, Heterogenität und Vielfalt müssen innerhalb des Gefüges gewahrt bleiben, ansonsten hätte die Praxis keine Relevanz. Denn wenn stattdessen ein geschlossener Handlungsraum etabliert würde, mit fixen Relationen und starken Strukturen, dann wäre die Erhaltung und Ausweitung des einmal erschlossenen Territoriums der Sinn der Praxis, nicht deren stete Entfaltung hin zu neuen Handlungsfreiräumen. I: Also diese Vielfalt soll bleiben? Sebastian: Die muss bleiben. Wenn ich Musik produziere oder veranstalte, die nur mehr noch ist für Pädagogikstudenten oder für Bankangestellte oder für Südtiroler Studenten – entschuldige, dass ich jetzt lauter Klischeegruppen hab – dann hab ich verloren. Dann ist es aus, dann gehe ich heim und schreib ein Buch oder mach was Anderes. Dann ist das, was ich machen will, nicht mehr relevant.
Die p.m.k ermöglicht, dass Praxis relevant und lebendig bleibt, dass die Schnittstellen zwischen Kulturarbeit und Gesellschaft beweglich bleiben, ermöglicht also, dass Auseinandersetzung stattfindet. Relevante Kulturarbeit begründet sich darin, dass Kunst interessant bleiben muss – nicht nur für eine Gruppe von Auserwählten, sondern für eine unüberschaubare Vielfalt. Eine homogene, in sich geschlossene Gruppe zu bedienen, wäre demnach unbedeutend, weil vorhersehbar, erwartbar, schließlich ohne Risiko und mitunter rein kommerziell. Dieser Anspruch an die Praxis bringt oft zwangsläufig heterogene Organisationsformen mit sich. Einzelne Vereine stellen in sich eine Vielfalt an Intentionen und Interessen, Motivationen und Vorlieben dar. Selbst wenn Akteure untereinander ähnlich ticken, wenn gemeinsame Wellenlängen vorhanden sind, Gemeinbegriffe, also „die Idee von ‚etwas Gemeinsamen’“ (Deleuze 1993a: 249),
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konstituiert werden (2.5.3), so sind sie nicht auf eine Ausrichtung oder ein Format zu reduzieren. Georg: Also im Großen und Ganzen ticken wir schon ungefähr alle gleich. Aber es hat natürlich jeder so seine Präferenzen innerhalb. Und wir haben lange Zeit drei Veranstaltungsreihen gehabt, um dem eben gerecht zu werden. Da haben wir gesagt, wir machen dieses wirkliche Party-Drum ’n’ Bass, wo man sagt, das ist wirklich rein Unterhaltung. (…) Dann haben wir gesagt, okay, das, was uns aber interessiert, das Spannende, wo vielleicht dann noch ein bisschen was (…) Experimentelleres passiert, damit gehen wir in p.m.k. Und wir haben noch einen Dritten gehabt bei uns, der gesagt hat, er möchte irgendwie ein bisschen diese smoothe, leichte, clubbige Form machen. (…) Deswegen waren dann irgendwie so – wir haben dann immer gesehen, wir wollen alle Spektren von Drum ’n’ Bass irgendwie innerhalb von der Crew abdecken. (…) Weil wir einfach sagen, (…) wenn man jetzt eine Community mit einem klar vorgefertigten Sound irgendwie abspeist, dann hat das für mich höchstwahrscheinlich keine lange Halbwertszeit. Dann ist das nach zwei – wenn dieser quasi Hype dann vorbei ist, es gehen dann zwei Jahre alle Leute hin – und wenn Du Dich nicht weiterentwickelst und in verschiedene Richtungen immer wieder schaust, was tut sich dort – dann glaube ich, schläft das Ding irgendwann einmal ein.
Wie das Beispiel zeigt, benutzen Vereine teils mehrere Handlungsräume, um ihren unterschiedlichen Ausrichtungen gerecht zu werden. Voraussetzung dafür ist nicht nur ein vielfältiges Netzwerk, sondern auch die Konsequenz, den verschiedenen Orientierungen nachzugehen. Erst dadurch verhindern Akteure, sich ausschließlich auf eine community festzulegen – denn sonst könnte ihre Praxis nicht mehr lebendig bleiben und das Ding würde irgendwann einmal einschlafen. Wir finden hier mehrere Dimensionen von immanenter Praxis vor, welche die Generierung von Vielfalt notwendig machen (5.2.1). Die Unabgeschlossenheit von Praxis sowie das Einlassen ins Offene und Unbekannte sind unvereinbar mit der Sicherung von bekanntem Terrain – sei dies ein bestimmter Spartensound oder ein berechenbares Zielpublikum, sei es ein angesagter Trend oder eine kommerzielle Nische. Gleichzeitig ergibt sich aus der Professionalisierung der Akteure ein ambivalentes Verhältnis zwischen Offenheit und Spezialisierung: „Das sind alles Spezialisten, die sind wirklich offen für ihr Ding natürlich“ (Frank). Es ist kein Widerspruch, wenn Akteure in ihrer Tätigkeit ebenso ausgebildet wie unabgeschlossen bleiben, ebenso qualifiziert wie fragmentarisch. Jemand kann sein Ding beherrschen und dennoch offen dafür sein! Wie wir bereits an anderer Stelle gesehen haben, heißt immanente Praxis immer auch, neue und unbearbeitete Räume zu erschließen, „Duty-Free-Zone des Gedankenaustausches“ (Milan), in denen zunächst ungewiss bleibt, was dabei rauskommt oder wohin das führt (5.3.3). Umgekehrt ergibt sich erst aus diesem Voranschreiten auf unentdecktem und ungesichertem Terrain die Relevanz des Handelns.
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Gewiss, aus dem Anspruch, Kunst müsse relevant bleiben, lassen sich durchaus auch ein selbstauferlegter Bildungsauftrag oder eine gesellschaftspolitische Mission ableiten (6.3.1), welche die Kulturschaffenden an ihr Publikum oder an die Konsumenten herantragen. Dabei kann die Generierung von Vielfalt oft zur Zumutung werden, insofern sie vom Publikum radikale Offenheit, Neugierde und Toleranz abverlangt. So war es denn auch in den Anfangszeiten der p.m.k für viele Akteure nicht verwunderlich, wenn das Publikum die stilistische Mannigfaltigkeit des Programms wie überhaupt die dahinterstehende Struktur nicht immer leicht nachvollziehen konnte. Ursula: Also am Anfang war das einmal total konfus für die Leute. Weil wir nicht eine Schiene waren, sondern ganz viele verschiedene Schienen. Das waren die Leute nicht gewöhnt. (…) Aber das hat sich mittlerweile eingeschliffen. (…) Und das ist eigentlich eine erzieherische Maßnahme gewesen, dass die Leute sich auch viel mehr mit Musik auseinandersetzen und dann draufkommen, mir taugt jetzt eigentlich Hip-Hop und Punk taugt mir nicht und ich bin mehr der Elektronikmensch. (…) Ich hab viel gelernt, was es da für Untergruppen gibt bei den Jungen.
Die programmatische Vielfalt geht auch auf sozialer Ebene auf, insofern sie das Publikum dazu anhält, sich seiner eigenen Differenzen und Distinktionen bewusst zu werden. Der Anspruch, Menschen mit Ungewohntem zu konfrontieren, um über sich selbst nachzudenken, um eigene Interessen kritischer zu wählen und gewählter zu artikulieren, um also in Auseinandersetzung mit sich selbst zu kommen, enthält zweifelsohne eine nachhaltige pädagogische Komponente. Gleichzeitig haben sich damit einzelne Szenen stärker profilieren oder überhaupt erst bilden können. Die Kulturschaffenden erarbeiteten sich je spezifische Szenen, so wie innovative Unternehmen erst einen Markt und einen Bedarf für ihr Produkt schaffen müssen (Spinosa et al. 1997: 47). Nicht nur als Beobachter, sondern auch als regelmäßiger Besucher der p.m.k durfte ich mich von dieser Ausgestaltung unterschiedlicher Szenen immer wieder überzeugen, die sich allein in der offensichtlichen Vielfalt der dargebotenen Lebensstile niederschlägt. So kann es sein, dass an mehreren aneinanderfolgenden Tagen innerhalb einer Woche verschiedenste Musikrichtungen von Hip-Hop und Elektronik, Punk und Metal bis hin zu Rock und Folk veranstaltet werden und dann die p.m.k jeweils mit ganz anderen Sorten von Publikum bevölkert ist. Angefangen von abweichenden Dress-Codes, Getränkeangeboten und Musiklautstärkenpegel bis hin zu unterschiedlichen Gruppenbildungen und Kommunikationsverhalten erlebt man in kurzer Zeit mehrere Welten in einer. Fassen wir kurz zusammen: Die Vielfalt des kulturellen Schaffens wäre nicht möglich ohne einen Raum, in dem sie sich stets aufs Neue konstituieren kann. Sie wäre nicht möglich ohne Ort, an dem sie sich materialisieren, ohne
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Netzwerke, in denen sie sich aktualisieren, ohne soziale Zusammenkünfte, in denen sie erfahren werden kann. All diese Dimensionen sind Quellen kollektiver Macht, die der Formation und Organisation bedürfen, um sich übergreifend zu manifestieren. Nichtsdestotrotz folgt die Generierung von Vielfalt dem Prinzip der Immanenz. In der p.m.k passiert nichts auf Anordnung von oben, alles Schaffen ist von den Affekten und Leidenschaften der Akteure getragen. Anders gesagt: Es geschieht nur, was in der Macht der Akteure steht – und nicht in einer anderen Macht.
6.2.2 Die Integration aller Kräfte Man sieht, es gefällt dem Publikum und einem selber auch. Ja, das sind so die schönsten Momente eigentlich irgendwie. Ein Akteur (Christoph) über die schönen Momente in seiner Praxis.
Eine weitere Dimension kollektiver Macht stellt die Öffentlichkeit dar, die aus der Vielfalt des kulturellen Schaffens generiert wird. Es wäre verkürzt, diese Öffentlichkeit ausschließlich als Publikum zu bezeichnen, da damit eine konfrontative Begegnung zwischen Kulturarbeitern und Besuchern suggeriert würde, die aufzuheben gerade ein strategisches Ziel der p.m.k ist (6.3.2). Wir müssen daher von den Öffentlichkeiten im Plural sprechen, um die unterschiedlichen Bezüge zu erfassen, die zwischen den Besuchern und dem Praxiskollektiv bestehen und von denen das Publikum nur eine spezifische Ausprägung darstellt. Erst dann lässt sich ferner beschreiben, wie diese Öffentlichkeiten als integraler Akteur der Praxis zur Machtentfaltung des Gefüges beitragen. So heterogen die Struktur der p.m.k und so vielfältig deren Praxis, so sehr unterscheiden sich auch die Intentionen und Motivationen der Besucher, die das Lokal frequentieren.99 Zum einen gibt es ein täglich wechselndes Laufpublikum, von dem die p.m.k im Wesentlichen als Veranstaltungslokal wahrgenommen wird, in dem regelmäßig Konzerte aller möglichen Stilrichtungen stattfinden. Für sie ist die p.m.k weniger ein Kulturverein, sondern mehr ein Abendlokal wie viele andere auch. Und auch wenn sich manche wundern mögen, warum die Bierpreise oft wechseln oder warum am Eintritt immer andere Menschen stehen, die Struktur der p.m.k ist ihnen wohl nur selten bewusst. Auf der anderen Seite 99
Die folgenden Darstellungen und Charakterisierungen der unterschiedlichen Öffentlichkeiten beziehen sich neben eigenen Beobachtungen vor allem auf Aussagen von interviewten Personen. Die Fragen nach der Außenwahrnehmung der p.m.k und nach der Homogenität des Publikums waren in jedem Gespräch ein (von meiner Seite eingebrachtes) Thema.
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gibt es ein Stammpublikum, das die p.m.k unabhängig davon besucht, ob es eine bestimmte Veranstaltung sehen oder ein ausgewähltes Konzert hören möchte. Hier sind die Interessenslagen vielfältiger. Georg: Ich sehe das so, dass manche Leute vom Publikum – also ich rede jetzt vom Publikum als den Leuten, die nie irgendwie in irgendwas von der p.m.k involviert sind. Die weder DJs sind, die weder Veranstalter sind noch sonst irgendwas. Da gibt’s doch immer wieder Leute, die einfach dem Ganzen näher stehen, die sich damit auseinandersetzen, die es interessiert. (…) Ich glaube, dass es schon ein Stammpublikum gibt, das jetzt nicht ganz genau weiß, um was es geht, weil das wissen ja manche der Vereine nicht. Aber die einfach so das Gefühl haben, dass es ein Zusammenschluss von verschiedenen Kulturschaffenden ist.
Auch bei regelmäßigen Besuchern kann nicht generell unterstellt werden, dass sie über Sinn und Zweck der p.m.k Bescheid wissen (das gilt nach Ansicht mehrerer Befragter auch für einzelne Vereinsakteure). Dennoch kommen sie, sei es, weil sie den Ort, seine Atmosphäre oder das vielfältige Programm mögen, sei es, weil sie Anhänger bestimmter Vereine und deren Veranstaltungen sind, sei es, weil sie Teil eines freundschaftlichen oder beruflichen Netzwerkes sind, das konstant in der p.m.k verkehrt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es so etwas wie eine p.m.k-Szene geben kann. Die Kategorie Stammpublikum bringt uns hier nur bedingt weiter. Da viele Vereine „ihre Leute“ noch aus der Zeit vor der p.m.k „mitgenommen“ haben, gibt es eine hohe Diversifikation unterschiedlicher Formen von Stammpublikum. Ein weiterer Aspekt für die Heterogenität des Stammpublikums ist die Ausdifferenzierung von Musikstilen, wie sie vor allem seit den 1990er Jahren zugenommen hat und sich auch in der Programmvielfalt der p.m.k niederschlägt. Insofern hat die p.m.k alles andere als eine einheitliche Szene oder ein homogenes Milieu. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen Gruppen herstellen. Frank: Aber es gibt auf jeden Fall sowas wie eine p.m.k-Szene, sag ich einmal, im Publikum, die einfach auch ein bisschen dahinterblicken und viel dabei sind und sich viel anschauen.
Wenn wir also von einer p.m.k-Szene sprechen wollen, dann nicht aufgrund ästhetischer Kategorien, sondern aufgrund einer ethischen Haltung. Die Menschen verbindet eine virtuelle Nähe zum Raum, zu seinen Akteuren und zu seiner Praxis. Sie fühlen sich wohl an dem Ort, interessieren sich für das kulturelle Schaffen, setzen sich damit kritisch auseinander oder lassen sich gerne davon begeistern. Diese Haltung geht über das spezifische Angebot hinweg, vielmehr zeichnet sie sich durch jene Offenheit und Neugierde aus, die auch die immanente Praxis der Akteure kennzeichnet. Es geht dann nicht mehr um die bloße Konsu-
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mation eines Ereignisses, sondern um die Hingabe gegenüber einer bestimmten Form von Kulturarbeit. Das Interesse geht über einzelne Musikrichtungen hinaus und gilt dem kulturellen Schaffen als solchem sowie den Menschen, die darin involviert sind. All das mag zunächst noch eine allgemeine Form der Toleranz sein: Eine Toleranz, die sich allein schon aus dem Nebeneinander der Vereine unter dem Dach der p.m.k ergibt, das nicht nur strukturell begründet ist, sondern durch die gemeinsame Nutzung des Kollektivraumes tagtäglich praktiziert wird. Diese Toleranz bekommt aber eine andere Qualität, insofern sie ein aktiver Akt des Respekts sein kann. Sich mit Unbekanntem auseinanderzusetzen, sich konfrontieren zu lassen, offener und zugleich kritischer zu werden innerhalb des vielfältigen Kulturangebots, Klischees und Vorurteile abzubauen, aber auch individuelle Distinktionen zu entwickeln und eigene Präferenzen bewusst zu erkennen, sich mit Gründen zu verorten und aus Wahl zu entscheiden – all das sind virtuelle Kontexte, die sich nicht immer erfüllen müssen, die aber doch dazu beitragen, dass sich eine spezifische Haltung im Publikum herausbildet. Charakteristische Praktiken hierfür sind das Mitgehen und das Mitziehen: sich begeistern zu lassen, einzulassen auf was auch immer da kommen möge, einen Vertrauensvorschuss zu geben, der Kunst, den Akteuren, der p.m.k. Ein Effekt dieser Haltung ist die Hinwegsetzung über traditionelle Grenzen von Hochkultur und Alternativkultur. Durch ihre Praxis entfalten die Akteure einen noch nicht etablierten Raum des kulturellen Schaffens, in dem jene Inklusions- und Exklusionsmechanismen, die in klassisch besetzten Kunst- und Kulturorten wirksam sind, nicht zum Tragen kommen. Allerdings sollten dabei nicht nur neue, ungewohnte und unbeanspruchte Artikulationsformen möglich werden, sondern auch traditionelle Kunstformen, die sich im offenen Raum der p.m.k bewegen, ohne die Besucher mit einer vordefinierten Kommunikationssituation zu konfrontieren. Damit eröffnet die p.m.k einen Raum der Auseinandersetzung, der unabhängig von sozio-ökonomischen Zugehörigkeiten funktioniert. Die Unterscheidung von Hochkultur und Alternativkultur wird folglich nicht bloß theoretisch widerlegt, sondern aus der Praxis heraus hinfällig. Sebastian: Die Kultur, die wir fördern, ist so unetabliert in gewisser Weise, dass es diese endgültige Kulturschichtenzuweisung noch nicht gibt. Das Spannende ist – also mein Spezialgebiet ist elektronische Musik (…) – und das ist etwas, das kann sich von der gelangweilten Zahnarztgattin, sag ich immer, als mein Lieblingspolitangriffsklischee über den Fünf-Tage-die-Woche-Hackler über den BWL- und Jus-, über den Pädagogikstudenten, einfach jeder anhören. Weil das eine noch nicht gesellschaftlich vergebene Kulturform ist. Dasselbe gilt für Medienkunst. Wenn ich ein Ding hab, das nicht in einer Galerie steht, wo ich einfach nicht reingehe, weil ich nicht zu der Art von Leuten gehöre, die in Galerien gehen – sondern wenn das bei
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uns präsentiert wird, dann ist das plötzlich für alle wahrnehmbar und öffnet dieser Kunst wieder neue Entwicklungsmöglichkeiten. Wir haben zum Beispiel ein Objekt von T.F. [Künstlername anonymisiert, M.V.] in unserer Fassade (…). Das ist eigentlich etwas, das normalerweise nur in Galerien – also Galerien – in Kunsträumen, sage ich jetzt einmal, steht. (…) Und mir hat’s sehr gut gefallen, dass das jetzt plötzlich da steht und in einer Kommunikationssituation ist, wo die Leute sagen: Das finden sie jetzt voll super, weil –. Das finden sie jetzt nicht so super, weil –. Und das bricht aus diesem toten Bildungsbürgerkontext heraus. Und das ist eine Möglichkeit, die die p.m.k auch der Kunst, die bereits etabliert ist, bietet. Sich wieder in einem Publikum zu bewegen und nicht gegenüber einer Gesellschaftsschicht zu stehen.
So sehr sich aus der spezifischen Haltung der p.m.k-Szene eine emanzipatorische Mission herauslesen lässt (6.3.1), die eng mit dem Selbstverständnis der freien Kulturszene zusammenhängt, so sehr sind sich einzelne Akteure auch bewusst, dass es dabei nicht um einseitige Bevormundungen gehen kann, sondern um interaktive Austauschprozesse auf gleicher Augenhöhe. Sich ein Kernpublikum zu erarbeiten bedarf ebenso einer profilierten Ausrichtung des eigenen Schaffens wie einer Sensibilität und Aufnahmebereitschaft für die Bedingungen und Möglichkeiten derjenigen, die man damit ansprechen will. Es sind deshalb nicht nur Fragen nach der Integrität und Kohärenz des eigenen Handelns, sondern auch die Eigendynamiken und Potentiale des Publikums, welche den konstitutiven Austauschprozess durchdringen. Wie tritt man in der Öffentlichkeit auf? Bleibt man seiner eigenen Ausrichtung treu? Kann man für sein Tun Glaubwürdigkeit beanspruchen? Wie sehr geht das Publikum mit? Wo liegen die Grenzen zwischen Bedienen und Überfordern? Welche Kompromisse ist man bereit, einzugehen? Georg: Es gibt natürlich immer – wenn man zuviel macht in zu kurzer Zeit, dann überreizt man einfach das Potenzial an Publikum, das man hat. Und die sind dann auch nicht mehr so dabei. Da muss sich jeder Veranstalter um die Frequenz seiner Veranstaltungen Gedanken machen und auch, wie er es bewirbt. (…) Wenn man jedes Mal will, dass die Hütte voll ist, und deswegen bei jedem Act, den man hat, den so bewirbt, als ob es das Beste und das Lässigste und das Geilste auf der ganzen Welt wäre, so wie es einfach gemeinhin in der Veranstalterbranche ist, ich glaube, dann verliert man erstens einmal die Glaubwürdigkeit. Dann kommen die Leute nicht mehr. Und zweitens schürt man Erwartungshaltungen, die einfach für Leute, die sich nicht wirklich Tag und Nacht mit Musik auseinandersetzen, irgendwo nicht zu erfüllen sind.
Die p.m.k-Szene ist also mitnichten eine hermetische Formation, die, einmal etabliert, dauerhaft und unbewegt im Raume steht. Vielmehr ist sie durchzogen von Intensitäten und Dynamiken, die abhängig sind von den Konstellationen und Relationen aller Beteiligten. Diese wiederum sind Ursache wie Effekt der hohen Netzwerkdichte in der p.m.k. Kernpublikum zu sein heißt deshalb in den meisten
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Fällen, Teil eines Netzwerkes zu sein. Aus dem Anspruch, kein traditionelles Veranstaltungskonzept in dem Sinne zu verfolgen, dass dabei ein Publikum mit einer Aufführung konfrontiert würde, ergeben sich intensive Austauschbeziehungen zwischen Veranstaltern, Musikern und Besuchern, die häufig in neue Projekte oder Kooperationen münden. So gesehen ist das Publikum, diesmal allgemein gesprochen, immer schon virtuelle Macht. Eine Macht, zu deren Aktualisierung es aber den Raum braucht, um Relationen herstellen zu können. Die daraus hervorgehenden Kommunikationspraktiken wirken sich nicht nur auf die Freude der Veranstalter aus, sondern auch auf die Künstler, die die p.m.k als besonderen Ort in Erinnerung behalten, schließlich auf die Besucher, die Teil eines persönlich erlebten und erfahrenen Ereignisses werden. Ein weiterer Aspekt der p.m.k-Szene, mitunter vielleicht der charakteristischste, ist ihre Selbstgenerierung. Die p.m.k ist sich selbst das Publikum, die Produzenten sind zugleich ihre eigenen Konsumenten, oder, noch einmal anders gefasst: die Akteure sind sich selbst genug.100 Das liegt zum einen an der Motivation, Dinge und Sachen zu veranstalten, die man selbst erleben will. Es sind dies dann jene Momente, in denen die Akteure als Konsumenten aufgehen. Christoph: Ja, prinzipiell schon eigentlich dann das Konzert, wo ich dastehe und sage: Wow. Das hat man nicht mehr so oft. Also es kommt eine Band, ein Musiker, irgendwas. Und ich stehe im Raum und die Musik fängt mich voll ein, der Raum bietet die Hülle dafür, der Bass, der Klang ist gut, die Umgebung ist angenehm, man sieht, es gefällt dem Publikum und einem selber auch. Ja, das sind so die schönsten Momente eigentlich irgendwie.
Die selbstgenerierte Szene liegt zum anderen darin begründet, dass viele der interessierten Menschen ohnehin bereits in p.m.k-Vereinen organisiert sind. In weiten Teilen unterhält die p.m.k also eine selbst geschaffene Szene, welche entweder schon vorher da war oder aber durch die Plattform mitgewachsen ist. Das Publikum tritt darin zugleich als aktiver Akteur in Szene, es kann nicht mehr als etwas Wesensfremdes betrachtet werden, ja – das Publikum im Sinne einer kommerzialisierenden Strategie ist nahezu unvereinbar mit dem Konzept der p.m.k. Vielmehr hat es als „ein Schwarm potenziell Interessierter“ (Paul) Anteil am Geschehen.101 Innerhalb dieses Integrationsprozesses fallen die Grenzen 100 Das kann durchaus dazu führen, dass an manchen Abenden das Publikum nur aus den Veranstaltern besteht und somit ein Konzert oder eine Filmvorführung den Charakter einer Privatveranstaltung annimmt. 101 Wenngleich der zitierte Auszug auf das Vereinsleben sowie die Motivation, sich als Verein zu organisieren, bezogen ist, kann diese Charakterisierung aus den genannten Gründen ebenso gut für das Publikum herangezogen werden.
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zwischen Produzent und Konsument ebenso wie zwischen aktiver und passiver Teilnahme. Als übergreifende Kategorie entstehen „Vernetzungstypen“ (Adi), die sich in einem Raum bewegen und dabei unterschiedliche Rollen an-, Relationen ein-, Transformationen durch- und Kanalisierungen vornehmen. Es gibt keine Konfrontation mehr, sondern Integration. Kennenlernen ist nicht mehr bloß ein sozialer Prozess, sondern Produktivität. Abschließend können wir festhalten, dass die kollektive Macht, die durch Öffentlichkeiten generiert wird, den Möglichkeitsraum von Praxis und Erfahrung in einer Weise steigert, welche über die Handlungsdimensionen des Individuums deutlich hinausgeht. Öffentlichkeiten fungieren als integraler Akteur einer Praxis, in der nichts definitiv ausgeschlossen ist, vielmehr alle Kräfte zueinander aufgeschlossen bleiben. Als Effekt ergibt sich daraus wiederum, dass die hervorgehende Vielfalt unüberschaubar bleibt. Niemand hat einen schrankenlosen Überblick über das, was alle tun, vielmehr erhalten und gewähren die Beteiligten perspektivische Einblicke in das, was sich tut.
6.2.3
Die Macht der Wirkung Durch die Tatsache, dass wir wollen und dass wir machen, haben wir uns ein Karma geschaffen. Ein Akteur (Sebastian) über den Wirkungsraum der p.m.k.
Die p.m.k ist ein Begegnungs- und Handlungsraum, in dem Akteure Möglichkeiten von Praxis etablieren, durch die sie selbstbestimmte Präsenz artikulieren. Wenn das Handeln immer schon ein Einschreiben in den jeweiligen Kontext ist, ein Aktivieren von Intertextualität (Hjorth 2003: 227), dann wird zunächst die Frage hinfällig, ob Akteure damit bewusst bestimmte Effekte anstreben. Denn egal, ob sie intentional etwas bewirken wollen oder nicht, als Handelnde wirken sie ohnehin. Ihr Bezug-Nehmen auf den Kontext produziert diesen zugleich. Insofern ist – ganz im Sinne von Hannah Arendt (2003) – alle Praxis politisch, weil sie am öffentlichen Leben teilnimmt, dieses mit gestaltet, formt, kritisiert, bestätigt. Und selbst ein hermetischer Rückzug gleich einem Eremiten wäre noch immer ein politisches Handeln, weil dadurch nicht nur Abwesenheit markiert, sondern auch die Öffentlichkeit sich selbst oder anderen Kräften als den eigenen überlassen würde. Anders gesagt: Man kann nicht nicht politisch sein. Demnach bleibt alle Praxis einer politischen Bedeutung ausgesetzt, unabhängig von den dahinterstehenden Motivationen und Intentionen. Eine andere Frage hingegen ist es, in welchem Ausmaß und mit welchen Mitteln man diese Bedeutung eigenwillig bestimmen und hervorheben, inwiefern man also der Bedeutung eine Aussage geben möchte. Eine solche Aktivierung von Aussagen macht die Praxis zu einem
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taktischen oder strategischen Machtventil, mit dem Präsenz inmitten eines vorherrschenden Ordnungsgefüges artikuliert wird. Dabei ist die Vielzahl der Artikulationsformen ebenso unbeschränkt wie die Mannigfaltigkeit der Praktiken. Egal, ob aktivistisch, opportunistisch, kritisch, zynisch, optimistisch, ironisch, enthusiastisch oder anarchistisch, um nur einige Möglichkeiten zu nennen – es geht daraus hervor, dass politisches Handeln keineswegs auf einen engen institutionellen oder parteipolitischen Rahmen begrenzt ist, um eine politische Aussage zu verfolgen. Milan: Also wir – ich würde uns nicht als klassische Aktivisten bezeichnen, aber sehr viel sind quasi augenzwinkernde Kommentare zu einer Mediengesellschaft, zu einer Gesellschaft – das heißt, wir sind auch nicht tagespolitisch, sondern eher kultur-, gesellschaftspolitisch. Aber es ist sicher in vielen Projekten eine gewisse Aussage mit drinnen. Vor allem dadurch, dass wir sehr viel von Konzerten, von Geschichten her arbeiten und da ist es dann meistens so, dass eine gewisse Aussage einfach immer mit drinnen ist oder ein gewisses Statement das Ganze ist. (…) Ja, wir versuchen nicht gezielt eine politische Aussage und vor allem nicht krampfhaft eine politische Aussage, aber dadurch, dass wir interessierte Menschen mit eigener Meinung sind, kommt das halt automatisch mit rein.
Da sich die Mehrheit der p.m.k-Akteure nicht in einer eindeutig strukturierten Welt verortet, richtet sie ihr Wirken nicht auf eine klar definierte Botschaft aus. Denn je konkreter die Botschaft, desto selektiver die Möglichkeit ihrer Aussage – und desto mehr ist der Aktions- und Bedeutungsrahmen vorgeschrieben, in dem sich die Praxis einfügt. Solche vorgezeichneten Rahmen können diskursiv, institutionell, historisch oder auch soziologisch bestimmt sein, sie grenzen jedenfalls den Wirkungsspielraum des Handelns ein. Stattdessen jedoch erfahren die meisten Akteure der p.m.k ihr Handeln als Ausdruck inmitten einer Pluralität von Lebenswelten mit je unterschiedlichen Aussagelogiken, zu denen sich ihre Praktiken verhalten wie Anregungen oder Kommentare, Anstöße, Würdigungen oder Einsprüche. Solche Formen von Praxis stellen Interpretationen zu den Texten der Gesellschaft (de Certeau 1988: 28) und ihren Realitäten dar, sie beanspruchen aber nicht, der Text selbst zu sein. Analog dazu ist auch das, was die Akteure tun, eingebettet in einen Organisationsmodus von vieldeutiger Projekt- oder Netzwerkarbeit, weil damit die Prägung ihres Handlungskontextes weniger vordefiniert ist als im vergleichsweise engen Modus von Berufs- oder Lohnarbeit. Gegenständliche Aussagen, seien es deutliche Botschaften oder konkrete Forderungen, tendieren dazu, durch ihren unmittelbaren Bezug auf eine spezifische Realität nicht nur Ort und Form der Praxis, sondern auch die Identität der Akteure vorab zu fixieren. Umgekehrt ermöglicht ein Wirken ohne fassbaren Wesenskern das Spiel mit Formen, Orten und Identitäten, dem es mehr um das
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Schaffen einer erfüllten Atmosphäre denn um die Etablierung einer ausgefüllten Sphäre geht. Sphären bezeichnen konzentrierte Wirkungskreise, die Grenzen um sich sowie Einschlüsse und Ausschlüsse nach sich ziehen. Atmosphären hingegen beschreiben weitläufige Dunstkreise, welche die Stimmungen eines Raumes wiedergeben. David: Was mir wichtig ist – wir haben uns von vornherein überlegt, wir wollen uns nicht ernst nehmen. Das soll nach außen auch kommen. Also wir wollen da nicht irgendwie ein Politikum aufziehen, wir wollen auch nicht irgendwelche Menschen bekehren, belehren oder sonst irgendwie was, sondern wir möchten nur irgendwas machen. Ob’s ihnen jetzt taugt oder nicht, aber wir möchten positiv nach außen hin wirken. Das war etwas Wichtiges – es ist überhaupt generell so, dass wir eigentlich versuchen, positiv nach außen hin zu wirken, (…) damit wir Leute ansprechen.
Das Wirken ist zunächst unabhängig von seiner Wirkung. Wie wir gesehen haben, verrichten die Akteure ihre Arbeit, weil sie getan werden muss – damit etwas los ist (5.2.1). Dinge werden um ihrer selbst willen getan und nicht, um persönliche Eitelkeiten, fremde Geschmäcker oder materielle Verlangen zu befriedigen. Die tatsächliche Wirkung hat damit zunächst noch nichts zu tun. Dass etwas zur Wirkung kommen soll, etwa weil es für den Akteur relevant oder unabdingbar sein mag, sagt noch nichts darüber, wie es wirkt, sprich: angenommen und aufgenommen wird. Wäre ihr Effekt bereits vorab im Code der Praxis angelegt, dann würde diese nicht immanent entstehen, sondern transzendent begründet. Salopp gesagt hieße das: Wer ökonomischen Erfolg haben will, richte sich nach der Logik des Marktes, wer beliebt sein will, nach den Gesetzen von Lob und Anerkennung, und wer bekannt werden möchte, handle im Namen der Popularität. Egal, welche übergeordneten Ziele für das Handeln vorweg festgelegt werden, sie bestimmen dessen Verlauf, Organisation und Ausrichtung und sind zugleich ein zweckmäßiger Maßstab für dessen Gelingen oder Scheitern. Allein, für immanente Praxis gibt es derlei Bilanzierungsregeln nicht, weder Soll-undHaben-Seiten noch aussagekräftige Kennzahlen. Resultat oder Reaktion sind nicht konstitutiv für ihr Entstehen. Dennoch können sie durchaus eine Relevanz haben für die Bedeutung, die sie annimmt. Musik, die niemand hört, macht wenig Sinn. Ebenso Konzerte, die niemand besucht, Filme, die niemand ansieht oder Vorträge, für die sich niemand interessiert. Kulturelle Produkte und Veranstaltungen, welcher Qualität und Sparte auch immer, gehen erst in ihrer Rezeption oder Konsumption vollends auf, erlangen erst dann ihre potentielle Bedeutung, wenn sie gewürdigt, genossen, kritisiert oder verworfen werden. Gewiss, auch das ist eine Form von Abhängigkeit, bloß ist sie phänomenologischer Natur, nicht ontologischer.
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Es ist also kein Widerspruch, wenn die Akteure in dem, was sie tun, konsequent ihren Weg zu gehen versuchen und ihre Praxis nicht nach fremdbestimmten Zwecken ausrichten, dennoch aber Freude und Erfüllung, Ambition und Motivation daraus beziehen, dass sie angenommen wird. Positives Feedback macht durchaus glücklich, aber noch nicht abhängig. Negatives Feedback hingegen wird anerkannt, nicht jedoch bis zum Grad der Selbstaufgabe beherzigt. Wenn das Wirken – im Guten wie im Schlechten – eine Resonanz erhält, die seinen eigenen Ansprüchen weitgehend gerecht wird, dann ist auch die Wirkung eine nicht unerhebliche Bereicherung für den Akteur. Sebastian: Wenn die Hütt’n voll ist, weiß ich, dass ich einen Weg gegangen bin, der für mich nicht nur privat in Ordnung ist, sondern der auch für ein Publikum so relevant ist, dass sie gern dabei sein möchten. Also wenn ich 200 Leute hab, bin ich total happy. (…) Wenn ich dann sehe, das ist was, da gehen Leute mit. Und das ist viel wert. (…) Sie haben sich amüsiert und haben trotzdem was Wertvolles konsumiert. Wertvoll ist jetzt ein zu starkes Wort, ich verwende immer eigentlich dieses Betriebswirtschaftswort Mehrwert – das verwende ich immer für Kultursachen, weil im Prinzip ist das, was ich anbiete, einfach ein Mehrwert. Du kannst zum 300. Mal ins Theresienbräu [ein Brauwirtshaus in Innsbruck, M.V.] gehen oder Du kannst Dir einen Musiker geben, den Du Dir merkst, an einem Abend, den Du Dir merkst. Das ist ein Mehrwert und den schafft Kulturarbeit.
Das Wirken wird nicht erst dadurch wertvoll, dass es Wirkung zeigt, aber diese verhilft ihm – quasi nachträglich – zu einem Mehrwert, den es erst inmitten eines gesellschaftlichen Gefüges entfalten kann. Dieser Mehrwert ist eine immaterielle Kategorie: ein schönes Erlebnis, ein toller Abend, eine interessante Begegnung, ein denkwürdiges Ereignis. Im Grunde liegt der Mehrwert aber bereits eine Stufe „davor“ oder „darunter“, darin nämlich, Menschen überhaupt so weit zu bringen, dass sie sich einlassen, dabei sind und mitgehen, sie also zu mobilisieren für eine Konfrontation, die sich womöglich als bemerkenswert herausstellt. Wir können daraus folgern, dass die Praxis der Multitude auch ohne konkrete Aussage bereits eine politische Aussage artikuliert, da sie ihr Wirken selbst in die Hand nehmen und keiner anderen Macht überlassen möchte. Das bloße Gestalten von Realität aktualisiert einen virtuellen Handlungshorizont, um am Lauf der Dinge aktiv teilzunehmen anstatt ihn lediglich passiv geschehen zu lassen. Es schafft Atmosphäre und Mehrwert, erlangt unter Umständen gar eine integrative Dimension innerhalb seines Kontextes, nicht jedoch um den Preis kollektiver Kohärenz und persönlicher Integrität. Unabhängig von seiner Wirkung verkörpert das Wirken in der Wirklichkeit bereits einen expliziten Machtanspruch auf Präsenz in dieser Welt, egal ob damit ein Ziel oder eine Vision verbunden ist.
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I: Irgendeine Vision, die Du für die p.m.k hast? Sebastian: Nein. Nur machen. I: Es läuft gut, so wie es läuft? Sebastian: Ja, aber da ist kein Zusammenhang zwischen den zwei Sachen. Ob etwas gut läuft oder nicht, ist kein Grund, eine Vision haben zu müssen – zu wollen – zu können oder wie. I: Aber hinter der p.m.k steht ja eine Vision, oder? Sebastian: Ja. I: Und die ist noch nicht erfüllt? Sebastian: Mit der p.m.k als Ganzes ist es so: Wir sind politisch vernetzt, wir sind parteipolitisch vernetzt, wir sind kulturszenemäßig vernetzt. Das heißt, durch die Tatsache, dass wir wollen und dass wir machen, haben wir uns – um das jetzt ganz esoterisch zu sagen – ein Karma geschaffen. Das heißt, die Visionen sind im Moment irrelevant. Es gibt im Moment nur eine Bahn, die wir gehen können. Wir können nicht einfach sagen, wir lassen’s jetzt. Wir können nicht sagen, wir machen genau dasselbe. Wir haben Bahnen von Möglichkeiten, die sich durch unsere bisherige Arbeit und unsere bisherige Positionierung ergeben haben. Und wenn wir eine Vision haben – müssen wir schauen, vielleicht können wir einmal springen. Aber so der Sprung von jetzt machen wir ein bisschen das, jetzt machen wir ein bisschen das – könnten wir nicht einmal mit einer Vision machen, das wäre verantwortungslos.
An dieser Stelle lassen sich mehrere frühere Schlussfolgerungen verknüpfen. Praxis, verstanden als kollektiver Handlungszusammenhang, ist als solche, durch ihr schieres Wirken in der Realität, bereits eine Form von Ermächtigung. Macht ist hier nicht mehr als individuelle Kategorie zu denken, das Wirken des Einzelnen ist sein Wirken durch die Multitude und umgekehrt. Dabei werden Bahnen eröffnet, die wiederum die Konstitution von Handlungsfreiräumen ermöglichen. Allerdings sind die Bewegungen auf diesen Territorien nie beliebig, autonom oder willkürlich – der Selbstbezug zur eigenen Praxis sowie die Verbundenheit und Angewiesenheit auf Andere machen sie zu einer wiederkehrenden Frage von Integrität und Kohärenz. Deshalb können die Kategorien Autonomie und Handlungsfreiheit nicht mehr getrennt von der Multitude betrachtet oder, umgekehrt, ausschließlich auf das Individuum reduziert werden. So sehr die Praxis auf die Verantwortung gegenüber das Selbst verweist, seinen eigenen Weg zu gehen, so sehr betrifft sie die Verantwortung gegenüber dem Kollektiv, den geschaffenen Handlungszusammenhang und Machtraum aufrechtzuerhalten. Schließlich wäre
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es nicht ein allfälliges Ziel oder eine Vision, die ansonsten bedroht wären, sondern die Bedingungen der Praxis schlechthin.
6.2.4
Die Transformation von Affekten zu Effekten Wenn es ansteckend ist. Ein Akteur (Paul) über den erwünschten Effekt der Praxis.
Von den vielfältigen immateriellen Wirkungen, in denen die Macht der Multitude aufgeht, kommt den Dimensionen Freude und Freundschaft eine ausnehmende Bedeutung zu. Aus der Rekonstruktion der kontextbezogenen Lebenswelten (5.2) und aus der Beschreibung des organisationalen Zusammenhangs der p.m.k (5.3) ist hervorgegangen, dass die Praxis der Akteure erst im Rahmen des Kollektivs ihren Sinn entfalten kann. Freude und Freundschaft sind dabei zwei wesentliche Momente, die das Kollektiv als kohärentes Gefüge prägen und gleichsam zentrale Bezugspunkte seiner Macht als Multitude darstellen. Freude ist bei Spinoza nicht nur eine affektive Kategorie unter anderen, sondern sie ist der Affekt, der die Macht unseres Handelns bestimmt: „Insoweit der Affekt der Freude das Tätigkeitsvermögen vergrößert, bestimmt er uns, alles zu begehren, uns einzubilden und zu machen, was in unserer Macht steht, um diese Freude und den Gegenstand , der sie uns gibt, zu erhalten“ (Deleuze 1993a: 212). Freude hat daher als Affekt eine andere Qualität wie etwa Liebe oder Begehren, abzulesen an folgendem Gleichnis: „Der Knecht erkennt sich in seinen traurigen Leidenschaften wieder und der freie Mensch in seinen Freuden“ (ebd.: 241). Deshalb kann Deleuze zum Schluss kommen, dass der Sinn der Freude als „der eigentlich ethische Sinn“ (ebd.) erscheint. Jedoch, so sehr die Freude auf praxisintrinsische Motivationen und Intentionen zurückgeht, so sehr verweist sie auf ein praxisextrinsisches Moment, das erst aus der sozialen Wirkung und Bedeutsamkeit des Handelns hervorgeht. Das heißt keineswegs, dass Individuen nur dann aktive Freude oder freudige Leidenschaft (2.5.2) an ihrem Tun verspüren können, wenn sie sich in einem sozialen Kontext bewegen, sehr wohl aber, dass diese Affekte nur über einen kollektiven Zusammenhang nach außen getragen, geteilt, weitergegeben oder verstärkt werden. Anders gesagt: Erst im Kollektiv wird der Affekt bedeutsam als Effekt. Die Multitude, so können wir folgern, bezeichnet einen kontinuierlichen Transformationsprozess von singulären Affekten hin zu machtvollen Effekten. Bleiben wir vorerst bei der praxisintrinsischen Dimension der Freude: Da immanente Praxis immer aus Affekten und Leidenschaften hervorgeht, entstehen Dinge nicht nach Vorgabe, sondern nach Begehr (5.2.1). Wo Begehren ist, da
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passiert etwas. Das Tun entspringt keinem Plan, sondern der Kontingenz: „Aber das ist nur das, was wir halt in dem Moment machen wollen“ (David). Begehren und Freude sind daher keine konstanten Antriebe – ob etwas getan wird oder passiert, hängt von den affektiven Anreizen der Akteure ab und könnte von vorgegebenen Strukturen nur schwer gesteuert werden: „Bei uns ist das halt immer so ein Auf und Ab mit motivierten Leuten“ (Adi). Konstant können Freude und Begehren dann werden, wenn ein über den Anreiz hinausgehender Bezug zur Praxis geschaffen ist, der eine nachhaltige Neigung begründet, vergleichbar mit der Vorliebe, sein ganz persönliches Steckenpferd zu reiten. Paul: Irgendwie kommt es vielleicht doch dann wieder auf das zurück, dass man halt sein Steckenpferd reitet und für das, dass man nur sein Steckenpferd reitet, ist es super. Aber man ist ja oft gar nicht so zufrieden [damit, nur sein Steckenpferd zu reiten, M.V.]. Man meint ja, mehr zu tun – man meint, da irgendwie in den gesellschaftlichen Prozess einzugreifen.
Da, wo das kulturelle Schaffen mehr ist als eine bloße Kultur der Affekte (5.2.4), wo es eintaucht in einen sozialen Diskussions- und Aushandlungsprozess, werden bereits die Effekte der Praxis wirksam – und damit Kategorien wie Sinn und Relevanz unvermeidbar. Es findet eine rekursive Sinngebung statt, welche weniger die Affekte der Praxis denn deren Effekte heranzieht. Freude erhält dabei den Status eines reflexiven Prädikats, ähnlich wie Erfüllung und Zufriedenheit. Paul: Doch, doch, das will man schon. Zufrieden sein. Allzu leicht will man sich’s wahrscheinlich aber auch nicht machen. Die ehrenamtliche Arbeit soll einfach Freude machen – das ist einmal das Erste. Damit fängt’s an, würde ich sagen. Und Sinn machen vielleicht auch, ja, warum nicht? Warum nicht Sinn?
Freude, so können wir daraus schließen, kann sowohl affektiv wie effektiv wirken, sie kann das Handeln bestimmen und zugleich die Macht, die daraus hervorgeht. In vielen Fällen ist jedoch ihre effektive Bedeutung stärker, denn wenn Arbeit Freude machen soll, dann kann es sich dabei wohl nur schwer um einen befohlenen Affekt handeln (was ein Widerspruch in sich wäre), vielmehr um eine reflexive Bereicherung, die angestrebt wird. Und auch der scheinbar banale Satz, wonach Praxis Sinn macht, muss daher wortwörtlich gelesen werden in dem Sinne, dass Praxis etwas schafft, das ohne sie nicht möglich wäre. Nun können sowohl Affekte wie Effekte individuell erfahren werden, ihre Machtentfaltung ist allerdings größer im Kollektiv. Affekte können darin leichter generiert, Effekte stärker intensiviert werden. Das Teilen von freudigen Leidenschaften erhöht nicht nur deren Genuss, sondern vereint auch die betroffenen Akteure in einer Weise, dass deren Handlungs- und Erfahrungsraum gesteigert
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wird. Die Freude am Erschaffen und aktiven Gestalten von Wirklichkeit, die wir bereits als Charakteristikum immanenter Praxis hervorgehoben haben (5.2.1, 6.2.3), gerät im Gefüge zur kollektiven Begeisterung. David: Also wir sind eigentlich alle durch die Bank Musikliebhaber, das vereint uns, dass wir einfach ein sehr großes privates Interesse an Musik haben. Aus dem Selbstzweck heraus, gute Konzerte zu sehen – die Bands zu sehen, die wir sehen wollen veranstalten wir. Und wir könnten jetzt genauso in eine andere Stadt fahren und uns das anschauen. Aber uns macht es großen Spaß, die Bands zu veranstalten, die wir selber mögen, und die dann auch kennen zu lernen.
Im Kollektiv erfahren individuelle Freude und Begeisterung eine potenzierte Mobilisierungskraft, die es möglich macht, sie in einer anderen, oftmals gesteigerten Qualität auszuleben. Diese Qualität ist keine Frage von Extensivität, sondern von Intensität. Egal, wie groß etwa die Menge der Betroffenen ist oder unter welchem organisatorischen Ausmaß ein Ereignis hervorgeht, wichtig sind nicht Anzahl und Umfang des Erlebens, sondern dessen Intensität. Erwin: Also mir ist es nicht wichtig, dass jedes Konzert quasi ausverkauft und proppenvoll ist. Mir ist einfach wichtig, dass die Leute, die beim Konzert sind, viel Spaß haben. Und dass die Band vor allem viel Spaß hat.
Entscheidend ist aber nicht nur die Begeisterung, die durch das Kollektiv ausgelöst wird, sondern auch das Potential, das darin vorhanden ist. Die Begeisterungsfähigkeit eines Praxiskollektivs hängt zusammen mit dem Ausmaß an Interesse, Respekt und Verständnis, das füreinander aufgebracht wird, sowie mit der Erfahrung des gemeinsamen (Er-)Schaffens. „By recognizing similar compositions or relationships among bodies, we have the criteria necessary for a first ethical selection of joy: We are able to favor compatible encounters (joyful passions) and avoid incompatible encounters (sad passions)“ (Hardt 2002: 96). Das Herstellen gemeinsamer Bezüge – die Konstitution von Gemeinbegriffen (2.5.3) – stellt somit eine elementare ethische Praxis dar, durch die praxisstiftende Begegnungen und Konstellationen organisiert und komponiert werden. Dadurch kann ein kollektiver Resonanzboden entstehen, der die Praxis der Akteure wie ein Stimulus belebt. „Und wenn es Leute gibt, die das interessiert, dann macht man ja gerne was“ (Adi). Je mehr etwas begriffen und nachvollzogen wird, desto mehr kann es auch mitgeteilt und miterlebt werden. Die Wertschätzung einer Praxis steigt also mit der Anteilnahme. Diesbezüglich heben einige Akteure den Vorzug der p.m.k gegenüber anderen Lokalitäten hervor, da hier ihr Schaffen nicht nur mit Begeisterung angenommen, sondern auch mit Hingabe und Neugierde aufgenommen
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wird. Ein solcher entgegenkommender Zugang ist gerade für Subkulturen elementar, weil sich ihre Praxis zumeist aus immateriellen Ressourcen nährt. Die Gründe dafür haben wir bereits erörtert: Zum einen fehlen die notwendigen materiellen Ressourcen (5.1), zum anderen begreifen die Akteure den Sinn ihrer Praxis gerade nicht in materiellen Kategorien wie Geld oder Eigentum (5.2). Wertschätzung und Anteilnahme können umgekehrt da zu kurz kommen, wo andere, äußere Ziele und Strukturen die Organisationskultur bestimmen. Dies ist oft der Fall bei privatwirtschaftlichen Lokalitäten und Kulturhäusern: Hier sind die Akteure mitunter „einfach ganz normale Mieter“ (Georg) oder gar „eine Art Bittsteller“ (Georg) für ihre Anliegen, und es besteht wenig bis gar kein Praxisbezug zu den jeweiligen Geschäftsführern. Nicht nur das Praxiskollektiv entfaltet sich dann anders, sondern auch die Praxis, insofern ihr eine andere Bedeutung und Wertschätzung zukommt. Die extrinsischen Handlungsdimensionen des Sinns und der Relevanz kommen also immer erst im Rahmen eines Kollektivs oder, allgemeiner, eines gesellschaftlichen Kontextes zur Entfaltung. Während die Freude an der Praxis sowohl als Affekt wie als Effekt wirken kann, geht ihre Bedeutung erst in einem sozialen Resonanzboden auf. Sie wird dann relevant, wenn sie irgendwo ankommt. Woran aber merkt man das? Paul: Wenn man sich freut, wenn man hingeht. Wenn man merkt, dass die Leute, die das quasi konsumieren, (…) die Reaktion von denen merkt man schon auch, ob das jetzt ankommt oder nicht.
Nun sind affektive Kategorien nicht nur für die Praxis im Kollektiv bedeutsam, sondern auch für dessen Relationen und Konnexionen. Die Begeisterung für das Erschaffen von Welt begrenzt sich nicht bloß auf die unterschiedlichen Formen immanenter Praxis, sie durchdringt auch die Begegnungen und Beziehungen mit anderen Menschen. Zwar ist es selbstredend, dass soziale Kontakte immer erst in einem sozialen Zusammenhang möglich sind, allerdings bleibt zunächst offen, inwiefern sie zugleich als Wert an sich und damit als Ausdruck einer bestimmten Haltung hervorgebracht werden. Wo das gegenseitige Kennenlernen nicht mehr bloß ein sozialer Prozess ist, sondern schiere Produktivität (6.2.2), da stellen Freundschaften einen wirksamen Modus kollektiver Machtgenerierung dar. Allerdings ist diese Dimension von Freundschaft als Macht der Multitude nicht gleichzusetzen mit jener anderen Dimension, in der sie als immaterielle Ressource des Praxiskollektivs dient (5.1.5, 5.2.5, 5.3.3). Freundschaft als Ressource entfaltet sich aus einem spezifischen Umgang mit Macht und drückt sich aus durch Vertrauen und Zuverlässigkeit, Wertschätzung und Hingabe, Verbundenheit und Angewiesenheit. Sie setzt noch nicht unbedingt gleiche Ideen und Gedanken, Meinungen und Überzeugungen unter den Akteuren voraus, sehr
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wohl aber eine verbindende Wellenlänge, eine ähnliche Art und Weise also, mit der Realitäten wahrgenommen und artikuliert werden. Dabei können einerseits vertiefte Spezialisierungscluster hervortreten (6.1.4), andererseits jedoch auch Konfliktlösungen problematisch werden (5.3.6, 6.1.3). Wissenschaftstheoretisch gesprochen können wir diese immaterielle Ressource der Freundschaft auch dadurch umschreiben, dass sie mehr auf methodologischen Grundannahmen basiert denn auf methodischen Ansätzen. Sie verweist mithin auf jene Familienähnlichkeit, die Wittgenstein (2000) in seinen philosophischen Untersuchungen in Bezug auf die Bedeutung von Wörtern herausgestrichen hat, ferner auf den Lebensstil, der Bourdieu (1999) zufolge soziale Distinktionsmerkmale markiert. Die Ressource Freundschaft spielt sich in einer Sphäre des Lebensstils ab, sie bezieht sich vor aller konkreten Sinngebung auf einen allgemeinen Bedeutungshorizont des Verständnisses. Im Zusammenhang mit der Multitude geht es aber weniger um die Ressource denn vielmehr um den ethischen Wert der Freundschaft. Verstanden als Selbstzweck sind Freundschaften dann immer schon eine sinnstiftende Praxis. Da werden neue Bekanntschaften geschlossen, spannende Gespräche geführt, gegenseitig Besuche abgestattet, Reisen und Ausflüge geplant, gemeinsame Feste gefeiert, schöne Abende in ungezwungener Stimmung verbracht – Ereignisse, die allesamt den Erlebens- und Erfahrungshorizont der Akteure erweitern, ohne schon in konkrete produktive Bahnen münden zu müssen. Oft erfolgt dies auch über den umgekehrten Weg, dass erst aus einem professionellen Verhältnis heraus eine Freundschaftsbeziehung entsteht. Adi: Ja, ich meine, der Sinn des Ganzen – es freut einen natürlich schon, wenn man jetzt mit irgendeiner Band sich gut verstanden hat, die eine Tour gespielt haben mit 20 Stopps und (…) nach ein paar Wochen kriegt man auf einmal ein Paket von der Band geschickt, wo dann irgendwas drinnen ist, worüber man geredet hat, noch mit einem handgeschriebenen Brief oder so. Das ist natürlich schon super. Und so gesehen – eben dass ich jetzt auch mit zwei Bands mit in Japan war oder dass ich eben zweimal in Montreal Leute besucht hab. Und auch (…) in zwei Wochen kommen einfach für vier Tage zwei Amerikaner vorbei, die halt auf Tour sind und gerade auf der Durchreise. (…) Zu Weihnachten waren auch zwei da, die inzwischen in Berlin wohnen. Die haben gesagt, sie kennen in Berlin nicht wirklich jemanden, aber bei uns war’s immer so nett und sie würden gern – ob’s okay ist, wenn sie für ein paar Tage kommen.
Natürlich, der Selbstzweck von Freundschaften kann im Endeffekt nie von der Ressource getrennt werden, weil sich das eine oftmals aus dem anderen ergibt und rekursive Wellenbewegungen mit unterschiedlichen Austauschintensitäten entstehen (5.3.3). Da zwischenmenschliche Begegnungen nie in luftleeren Räumen stattfinden, sind es immer auch äußere Umstände und Strukturen, die ein
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Zusammentreffen und dessen weiteren Verlauf bestimmen. So ist es wohl kein Zufall, wenn sich einzelne Akteure bereits bei ihrer erstmaligen Begegnung in der p.m.k schnell einig waren über Sinn und Möglichkeiten ihres Handelns. Sie weisen ein ähnliches Selbstverständnis als Kulturschaffende auf, zeigen ähnliche Motivationen und Qualitätsbezüge, positionieren sich ähnlich im Kultursektor, interpretieren gesellschaftliche Strukturen und Handlungsmöglichkeiten ähnlich. Aus all diesen phänomenologischen Familienähnlichkeiten ergeben sich in der Regel auch verwandte Lebensstile, weshalb ein gegenseitiger Austausch sowohl ideell wie instrumentell stattfindet. Freundschaft kann sodann nicht mehr differenziert werden in Mittel und Zweck, vielmehr spiegelt sie die Kohärenz des kollektiven Handlungszusammenhangs wider. Damit ist sie aber zugleich auch ein unwiderlegbarer Ausdruck der Macht der Multitude, welche diese Freundschaften erst hervorbringt.
6.2.5 Die Konstruktion kollektiver Identitäten Aber mich interessiert natürlich die Entwicklung, wo die p.m.k als Ganzes hingeht, natürlich absolut. Ein Akteur (Georg) über seinen Bezug zum Ganzen.
Entfaltet die Multitude als kollektives Machtsubjekt eine Identität? Wofür steht sie und wen vertritt sie? Welche Räume der Repräsentation öffnen sich und wie werden sie eingenommen? Wir wollen als letzte Dimension der Gestaltwerdung die unterschiedlichen Quellen untersuchen, aus denen die Multitude kollektive Identitäten generiert. Sie speisen sich zum einen aus den Selbst- und Fremdbildern der p.m.k, zum anderen aus ihren organisationalen, strukturellen und kulturellen Kontexten. Wie diese Identitätsangebote von den Akteuren gefaltet werden, zeigt sich an diversen ethischen Praktiken: sich betroffen fühlen, dahinter stehen, gemeinsam nach Lösungen suchen – all das sind zugleich machtvolle Artikulationen der Multitude. Die Konstruktion kollektiver Identitäten erfolgt als Prozess auf mehreren Ebenen (vgl. Clegg et al. 2007). Beginnen wir mit den diskursiven Zuschreibungen, welche die Akteure in den Wahrnehmungen von Außen vermuten. Warum gehen einige Menschen in die p.m.k und andere nicht? Welches Bild haben Außenstehende von ihr? Und in welchem Ruf steht sie? Wie wir bereits anhand der verschiedenen Öffentlichkeiten gesehen haben, gibt es mehrere Bezüge zwischen den Außenstehenden und dem Praxiskollektiv (6.2.2). Vielen mag die Organisationsstruktur des Hauses nicht bewusst sein, viele sehen es als reines Veranstaltungslokal und die p.m.k als konkreten Veranstalter (anstatt als Plattform). Für andere wiederum steht die gesamte „Bögenmeile“ unter einem eher anrüchigen
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Ruf – und damit auch die p.m.k als Teil von dieser. Aus diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen ein homogenes Bild abzuleiten, ist unmöglich. Es gibt die p.m.k und es gibt sie nicht. Milan: Wenn Du mit zehn Leuten redest, wirst Du mindestens acht verschiedene Meinungen hören, was die p.m.k ist – Leute von irgendwie außen, die nicht dort regelmäßig zu Gast sind.
Ein weiterer Aspekt neben diesen Fremdbildern ist die spezifische p.m.k-Szene, die wie jede Szene bestimmte Inklusions- und Exklusionsmechanismen nach außen hin entfaltet. Schließlich sind es aber auch mediale Zuschreibungen von außen oder gar Anfeindungen wie die „Nazi-Übergriffe“ (6.1.3), die auf das Ganze zurückwirken und damit dieses stärker konturieren. Gerade die Abgrenzung zu solchen Fremdbildern ist es, aus der heraus sich das Selbstverständnis vieler Akteure generiert. Die Bilder, die sie dabei von sich und der p.m.k entwerfen, stellen daher oft eine vermeintliche Korrektur oder Neutralisierung dar. Sebastian: Dass die p.m.k eigentlich wirklich nur eine Hütte ist, wo die Leute drinnen was machen wollen, ist nicht so sehr im Bewusstsein der Leute.
Zum anderen resultiert das Selbstbild aus den unterschiedlichen Subjektivierungsweisen der Akteure, die aus ihrer Praxis hervorgehen (5.2.4). Doch auch hier entsteht alles andere als ein homogenes Bild. Die Heterogenität der Akteure und ihrer Praktiken führt zu jeweils unterschiedlichen Auffassungen darüber, inwiefern diese sich als Teil des Praxiskollektivs sehen und was umgekehrt das Ganze ist. Die einen fühlen sich in der p.m.k wie zu Hause, die anderen mehr als Gast; für die einen stellt die Arbeit dort eine interessante Nebenbeschäftigung dar, für die anderen steht ihr volles Engagement für alles rund ums Haus außer Frage; manche sehen ihre Praxis als lehrreiche Erfahrung, andere im Sinne einer Professionalisierung; für die einen haben Zusammenkünfte in der p.m.k Stammtischcharakter, für andere ist es ein spannender Austausch unter Gleichgesinnten. Diese teils stark variierenden Auffassungen verkörpern sich nicht zuletzt durch das unterschiedliche Ausmaß an Präsenz, mit dem die Akteure vor Ort sind. Neben den Selbst- und Fremdbildern sind es auch die Strukturen der p.m.k, die kollektive Identitäten generieren. Dabei haben wir auf die zentrale Funktion des Beirats schon mehrfach hingewiesen (5.3.6, 6.1.1, 6.1.3). Als Informations-, Diskussions- und Entscheidungsplattform ist dieses Gremium Demokratiebasis, Therapiecouch, Identitätsgenerator und Konfliktzone in einem. Die Geschäftsführerin hebt besonders seine identitätsstiftende Funktion hervor, wenn sie sagt, dass der Beirat „mehr so eine psychologische Funktion [hat], dass die Leute sich als Teil der p.m.k empfinden“ (Ursula). Abgesehen von solchen Strukturen sind
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es aber auch Ereignisse, aus denen das Kollektiv Bilder und Begriffe über sich selbst bezieht. Das mögen einzelne, herausragende Konzerte sein, übergreifende Kooperationsprojekte, anlassbezogene Feste und Feiern oder singuläre Veranstaltungen wie etwa ein Luftgitarrenwettbewerb: Ursula: Das war ziemlich eine Hetz. Das war zum Beispiel irgendwie so eine intern verbindende Geschichte, da sind ganz viele Vereine einfach als Publikum da. Wie andere halt Weihnachtsfeier haben oder so.
Fremd- und Selbstbilder, Strukturen und Ereignisse generieren Identitäten für etwas, was nur über seine Akteure agiert, dennoch aber als Gefüge funktioniert. „Weil die p.m.k an sich existiert ja eigentlich nicht, sondern die p.m.k ist eigentlich die Summe der einzelnen Mitglieder“ (Christoph). Deshalb steht das Eigene der Akteure in steter Relation und Proportion zur Kohärenz des Ganzen (5.3.4). Indes fragt sich, ob es auch einer Manifestation bedarf, die diesen kollektiven Zusammenhang – diese „gemeinsame Klammer“ (Christoph) – explizit werden lässt, etwa in Form eines schriftlich formulierten Leitbildes. Diesbezüglich haben einzelne Ereignisse und deren Auswirkungen auf die Praxis des Kollektivs (6.1.4) einen anhaltenden Diskussionsprozess ausgelöst, mitunter auch Unstimmigkeiten zwischen den diversen politischen und kulturellen Ausrichtungen (6.1.5). Die Frage nach einer ausformulierten Gesamtidentität führte schließlich zum Vorschlag einer schriftlichen Präambel, einer Art gemeinsam geteilter Verfassung, die das Selbstverständnis des Kollektivs festhalten sollte. Dass darin nicht nur eine schwierige, sondern auch eine problematische Aufgabe liegt, sind sich die diskussionsführenden Akteure bewusst – „weil es auch passen muss sozusagen“ (Christoph). Die Geschäftsführerin betrachtet das Vorhaben dennoch als möglich und notwendig, um für den Fall, dass das Kollektiv als solches agieren oder reagieren sollte, handlungsfähig zu sein und „einen Schnellschuss, eine Einzelsonderaktion, die dann extrem der ganzen p.m.k schadet“ (Ursula), zu verhindern. Auch der Programmkoordinator zeigt sich zuversichtlich hinsichtlich des Vorhabens, gerade weil er einen gemeinsamen „Bogen“ mit vielen „Schnittpunkten“ sieht: Christoph: Aber wie gesagt, dieses noch nicht schriftlich festgelegte Selbstverständnis gibt’s natürlich schon. Das schaut natürlich in den einzelnen Köpfen unterschiedlich aus. Es ist ja auch ein divergentes Programm irgendwie. Es ist inhaltlich sehr vielfältig, aber ich finde doch, dass es insgesamt einen Bogen spannt um einen kulturellen Bereich, der einfach Schnittpunkte hat untereinander. (…) also es ist ein Kosmos sozusagen, der durchaus auch in einer Klammer eine Einheit bilden kann.
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Eine gemeinsame Klammer, ein umspannender Bogen mit Schnittpunkten, ein Kosmos für sich – solche Bezeichnungen umschreiben den kollektiven Praxishorizont, der die Akteure verbindet und zusammenhält (5.2). An dieser Stelle können wir die Familienmetapher noch einmal aufgreifen, die wir bereits an anderer Stelle erörtert haben (5.3.6). Wenngleich wir feststellen mussten, dass dafür verbindliche materielle Bezüge fehlen, so können wir doch von einem körperlosen Familienbund sprechen, der sich aus den gemeinsamen Praxis- und Bedeutungshorizonten ergibt. Er materialisiert sich in den unterschiedlichen Organisationspraktiken des Gefüges, in seinen Austauschbeziehungen und Machtverhältnissen. Zugleich offenbart er sich in der Angewiesenheit und Verbundenheit der Akteure, woraus nicht nur ihre Bereitschaft erwächst, hinter dem Kollektiv zu stehen, sondern auch dafür einzustehen. Veranschaulichen lässt sich diese Bereitschaft etwa anhand der Kontroversen, die ein Cd-Cover mit provokantem Sujet ausgelöst hat. Hier war die p.m.k-Familie (vor allem in Person der Geschäftsführerin, also der Mama) eine wesentliche Stütze für die Betroffenen, hilfreich und beschützend zugleich. Ein Akteur erinnert sich: David: Da haben wir mit der Polizei Stress gekriegt und mit der Stadt, glaube ich. Und da war zum Beispiel die p.m.k Gott sei Dank da und Ursula hat dann nach außen hin schon gesprochen. Das war schon sehr gut, weil wir untereinander nicht einstimmig waren, was wir überhaupt nach außen hin sagen.
Der körperlose Familienbund formiert sich gerade dann umso stärker, wenn Zuschreibungen oder Angriffe von außen erfolgen, die im Gefüge eine kollektive Betroffenheit erzeugen. Noch einmal sei auf die „Nazi-Übergriffe“ verwiesen, die die Verbundenheit der Akteure gefestigt und zugleich einen umfassenden Reflexionsprozess ausgelöst haben. Sich gemeinsam betroffen zu fühlen, verlangt von den einzelnen Akteuren, sich zu fragen, was sie etwas angeht und was nicht. Ein Akteur reflektiert über seine subjektiven Schlussfolgerungen aus den rechtsextremen Anschlägen: Matthias: Mittlerweile bin ich persönlich soweit, dass ich sagen kann, ich glaube, dass jetzt alle sich selbst auch als potenzielles Ziel ansehen. Irgendwo. Also eine freie Kultur einfach oder eine freie Szene, das ist einfach ein Angriffspunkt.
Umgekehrt kann die gemeinsame Betroffenheit wieder neue interne Differenzen hervorrufen, wenn es dabei zu gegenseitigen Schuldzuweisungen und Unterstellungen kommt, die den Gebrauch oder Missbrauch des Kollektivraums betreffen. Diese Spannungen sind noch größer, wenn sie entlang der unterschiedlichen politischen und kulturellen Ausrichtungen verlaufen, die mitunter zu verfestigten Frontenbildungen führen (6.1.5). Allerdings überwiegt selbst bei polarisierenden
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Ereignissen immer noch eine kollektive Anteilnahme am Geschehen rund um die p.m.k, die sich aus der ethischen Haltung der Akteure erklärt (5.2.2). Sie drückt sich besonders deutlich in der Wertschätzung aus, die die Akteure für ihre Praxis wechselseitig aufbringen. Voraussetzung dafür ist noch nicht der gleiche Geschmack im Speziellen, sondern ein ähnlicher Anspruch im Allgemeinen. Armin: Es hat eigentlich noch nie was gegeben, wo ich gesagt hab, da kann ich jetzt nicht dahinterstehen. Also es ist schon immer – finde ich – in der p.m.k von dem, was geboten wird, immer ein hohes und anspruchsvolles Niveau eigentlich.
Nicht nur Wertschätzung und Anteilnahme, auch die zum Teil sehr engen Freundschaften erklären schließlich ein vereintes Bemühen nach gemeinsamen Lösungen. Diese Suche nach gemeinsamen Auswegen geht über einen rein pragmatischen Bedarf hinaus, vielmehr drückt sie ein ethisches Bedürfnis aus, einander entgegenzukommen. Man will gemeinsame Lösungen finden, nicht weil es so sein muss, sondern weil es so sein sollte. Auch dahinter steht wieder die spezifische Haltung der Akteure, die sie aufgrund ihrer Nähe zum Raum, zu seinen Akteuren und zu seiner Praxis verbindet. Ein Akteur kommentiert seine Haltung gegenüber kollektiven Problemsituationen: Georg: Das tangiert mich natürlich total, weil ich nicht nur Veranstalter dort bin, sondern auch unglaublich gern hingeh. Also ich sehe das von beiden Seiten. Und [weil] ich einfach die Leute drin wertschätze und einfach sag, man muss da einfach eine gemeinsame Lösung finden, weil ich denke mir, es hat vielleicht jeder von uns irgendeine Idee zu dem Thema. Ich sehe das schon als Gemeinschaftsprojekt nach wie vor, die ganze p.m.k.
Bleibt abschließend die Frage der Repräsentation nach außen: Da der körperlose Familienbund nie als solcher sprechen kann, sondern immer nur in Vertretung, spielen die Elternfiguren, Mama und Papa, eine zentrale Rolle für diverse Repräsentationszwecke – seien dies politische, institutionelle oder formelle Angelegenheiten. Dabei kommen gerade ihre Professionalität, ihre Erfahrungen und Kompetenzen zum Tragen, die ihrem Auftreten nach außen eine authentische Autorität verleihen. Adi: Wenn’s auch darum geht, jetzt Förderungen (…) zu kriegen, ist es einfach viel viel einfacher, wenn das jetzt jemand macht, der nicht 25 ist und noch mitten in seinem Studium steckt, sondern wenn das einfach jemand ist, der sagt: Okay, ich bin abgeschlossene Juristin, ich hab die Kunsthalle geleitet, ich hab das gemacht, ich hab das gemacht. Dann wird das einfach ernster genommen. Auch wenn jetzt die Person das Gleiche sagt wie dieser fiktive 25-Jährige.
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Fassen wir kurz zusammen: Da die kollektiven Identitäten der Multitude aus heterogenen Bezügen entstehen, können sie weder nach innen noch nach außen ein homogenes Bild abgeben. Dennoch konstituieren die Praktiken des Gefüges eine Vielzahl von Verknüpfungen und Verklammerungen, die die Akteure in einem körperlosen Familienbund zusammenhalten. Letztlich bleibt aber die Familienmetapher ähnlich problematisch wie die Kategorie der Identität, insofern beide ein essentialistisches Denken des Seins suggerieren und epistemologisch wie ontologisch die Prozesshaftigkeit des Werdens zu untergraben drohen. Derrida (2002: 74) hat die schöne Denkfigur einer „Gemeinschaft ohne Gemeinschaft“ entworfen, um auf die Unmöglichkeit der Schließung eines Begriffes hinzuweisen. Die Gemeinschaft kann nie zu sich selbst kommen, weil sie immer auf ein abwesendes Außen bezogen ist. Sie konstituiert sich, ähnlich wie die Freundschaft, in jedem Gefüge jeweils neu, kann daher nie Gleichheit sein, weil sie immer aus der Einzigartigkeit hervorgeht. Diese Denkfigur können wir auf den körperlosen Familienbund übertragen, der nicht die Identität des Seins, vielmehr einen Modus des Werdens bezeichnet. Damit ist er der organlosen Organisation ähnlich, die wir mit Referenz auf Deleuze vorgestellt haben (2.3.2). Sie wird bestimmt von einem immanenten Werden, nicht von einem transzendenten Sein. Dieses Werden verleiht ihr eine elementare ethische Dimension, insofern sie sich im Medium radikaler Offenheit auf ihre Umwelt nicht nur einlässt, sondern sie auch zu gestalten versucht. Im körperlosen Familienbund sind dies ethische Dimensionen wie Betroffenheit, Wertschätzung, Anteilnahme und Entgegenkommen. Sie münden in eine spezifische Haltung, aus der heraus sich zugleich die kollektive Macht der Multitude artikuliert.
6.3
Strategien des Kollektivs
Wie bereits bei der Erschließung der Lebenswelten der Akteure (5.2) rekonstruieren wir auch in diesem abschließenden Kapitel die Sinnhorizonte und Bedeutungszusammenhänge der Praxis, allerdings fragen wir nicht mehr, warum Subjekte tun, was sie tun, sondern wofür ihr Handeln steht, welche Formen von Repräsentativität es beansprucht. Wenden sich Akteure mit ihrem Tun für oder gegen etwas? Gibt es Momente einer Mission und welche Motivationen stehen dahinter? Identifizieren sich die Akteure mit den Kollektiven, aus denen ihre Praxis hervorgeht? Welche „repräsentative Praktiken“ (Hjorth 2003: 28) kommen dabei zum Vorschein? Solche Fragen verweisen nicht nur auf die Bedingungen, unter denen die p.m.k als einheitliches Subjekt auftritt oder agiert, sondern auch darauf, wann von Strategien des Kollektivs gesprochen werden kann.
Strategien des Kollektivs
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Dabei setzen wir ein Verständnis von Strategie voraus, wie es mit Bezug auf de Certeau vorgestellt wurde (2.2.4). Strategien implizieren einen Herrschaftsanspruch, insofern sie mit der Eroberung oder Aufrechterhaltung eines Ortes verbunden sind, der „als Basis für die Organisierung seiner Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt“ (de Certeau 1988: 23) dient. Wie wir sehen werden, gestaltet sich dieses Organisieren von Beziehungen stets als ambivalenter Prozess, scheint es doch schon ein Widerspruch in sich zu sein, wenn die p.m.k eine Plattform für mobile Kulturinitiativen sein möchte, durch ihr physisches Territorium aber gleichsam die Logik eines Eigenen etabliert. Kraftlinien und Fluchtlinien, Reterritorialisierung und Deterritorialisierung, gekerbter Raum und glatter Raum, Ordnung und Komposition – all diese Dimensionen beschreiben Dynamiken und Relationen des Kräftefelds, in dem sich die p.m.k bewegt. Es gibt darin keine eindeutigen und dauerhaften Festsetzungen, vielmehr ein stetes Oszillieren zwischen Linien und Gefügen, Strategien und Taktiken, zwischen Ort und Raum, Aneignung und Durchdringung. So ist die p.m.k kein autonomer „Mitspieler“ im gesellschaftlichen Umfeld, jedoch auch nie ausschließlich dessen Spielball. Aufgrund dieser Offenheit und Unentscheidbarkeit ihres „Status“ haben wir die strategischen Dimensionen mit einem Fragezeichen versehen.
6.3.1
Momente einer Mission? Und dass man kontinuierlich wächst, ja. Eine Akteurin (Ursula) über eine ihrer Visionen.
Geht die Macht der Multitude auf in einer Mission? Steht hinter der Praxis der Akteure eine Vision, etwa ein emanzipatorischer oder erzieherischer Auftrag oder ein gesellschaftspolitisches Ziel? Was setzen solche Strategien voraus und wie artikulieren sie sich? Welche Formen der Kritik können dabei ausgemacht werden? Die Kategorie der Mission, die an dieser Stelle verwendet wird, geht nur selten auf bewusst formulierte Intentionen zurück, vielmehr erschließt sie sich aus dem Handlungskontext. Weniger das, was die Akteure explizit sagen, vielmehr das, was sie tun, gibt uns Aufschluss darüber, was sie bewirken wollen (6.2.3). Die im Kollektiv entfaltete Bedeutung der Praxis lässt sich daher nicht auf einen sprachlichen Aussagegehalt reduzieren. Wie wir im Folgenden zeigen, kann eine Mission bereits in den Möglichkeiten ausgemacht werden, die die Praxis eröffnet. Da, wo Orte belebt, Leute zusammengebracht und Kräfte vernetzt werden, kommen unterschiedliche Ambitionen zum Vorschein, die in ihrer relativen Permanenz über den konkreten Handlungsvollzug hinausgehen. In ihnen drückt sich eine spezifische Haltung aus, die einmal einen erzieherischen
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oder emanzipatorischen, einmal einen kritischen oder affirmativen Anspruch verfolgt.102 Zugleich treten darin Ambivalenzen und Widersprüche zutage, welche die Legitimität von Missionen immer wieder in Frage stellen. Ein erstes Moment einer Mission liegt bereits im Selbstverständnis der Akteure, insofern sie als Teil der freien Szene einen offenen Kulturbegriff vertreten, der Kulturarbeit als engagierten Eingriff in die gesellschaftlichen Verhältnisse versteht (4.2.1). Ihre ethische Haltung ist daher nicht zu trennen von ihrer Praxis und kann auch in ihrer Wirkung nicht auf das Praxiskollektiv beschränkt werden, da dieses eine möglichst umfassende Integration aller Kräfte anstrebt anstatt sozio-strukturelle Grenzen zu etablieren (6.2.2). Aus diesem Praxis- wie Selbstverständnis leitet sich die affektive Motivation ab, Welt zu erschaffen, etwas Eigenes zu verwirklichen, das es zuvor noch nicht gab (5.2.1). Ihre konkrete Ausrichtung bezieht diese Motivation vor dem Hintergrund des sozialen Kontextes – ein Umfeld, in dem sich nichts tut, sollte belebt werden, damit etwas los ist (5.1.2). Etwas Neues, Unbekanntes hervorzubringen, heißt indes noch nicht, dass es in seiner Gestalt absehbar wäre. Wie wir gesehen haben, kommt immanente Praxis erst durch Prozesse des Herauskristallisierens zur Entfaltung (5.2.3). Die antreibende Kraft dahinter kann affirmativ sein und sich in der Intention ausdrücken, Räume zu schaffen, in denen man „ungezwungen kreativ“ (Matthias) sein kann, Orte der Begegnung, in denen kein struktureller oder finanzieller Druck herrscht. Als belebte Orte sollten diese Räume sich aus einem „organischen Wachsen“ (Christoph) heraus entwickeln und ihr Leben nach außen tragen, was für einige Akteure impliziert, dass sich der Raum auch als physisches Territorium erweitert. Die antreibende Kraft immanenter Praxis kann aber auch reaktiv sein, als sie sich nicht mit dem abgibt, was besteht. Mitunter liegt darin auch eine Hingabe zum Minoritären und Sprachlosen, zu dem, was virtuell gegeben ist, aber keine Räume der Aktualisierung vorfindet. Damit ist ein Bereich des subkulturellen Schaffens angesprochen, dessen Etablierung für manche Akteure ein originäres Ziel der p.m.k darstellt, das jedoch durch die zunehmende Vergrößerung ihrer räumlichen und programmatischen Möglichkeiten gleichsam bedroht ist. Das führt zu dem durchaus paradoxen Befund, dass, je „größer“ die Praxisform wird, desto mehr sie sich selbst in Frage stellt. Wenn Subkultur einerseits aus einer anonymen, marginalen und peripheren Position hervorgeht, dann kann sie, so102 Auf inhaltlicher Ebene ist die „Mission“ durchaus mit der „pragmatischen Utopie“ zu vergleichen, die Schmid im Rahmen der Politik der Lebenskunst charakterisiert als „nicht abhängig von einem hyperpolitischen, auf Weltrevolution geeichten Bewusstsein, sondern von der Vorstellung veränderter Verhältnisse, an deren Realisierung die Individuen alltäglich mit pragmatischer Autonomie selbst arbeiten können“ (Schmid 1998: 155).
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bald diese Position größer und stärker geworden ist, etwa durch mehr öffentliche Aufmerksamkeit oder bessere finanzielle Möglichkeiten, nicht mehr Subkultur genannt werden. Räumlich gesprochen: Subkultur verliert sich auf dem Weg vom Keller ins Konzerthaus. Dieser Widerspruch einer gleichzeitig ermöglichenden wie verhindernden Entwicklung setzt sich als zwiespältiges Spannungsmoment im Praxishorizont des Gefüges fest und hält ein anhaltendes Potential der Selbstkritik offen. Camilla: Nein. Ich glaube, die p.m.k so, wie sie ist, ist schon okay im Großen und Ganzen. Das Eigentliche, was es braucht, ist noch – quasi diesen Keller zusätzlich. Also dieses Kleine, wirklich Subkulturelle.
Sobald die p.m.k „größer“ wird, verändern sich auch ihre Möglichkeiten. Mit der Frage „Wo beginnt Subkultur und wo endet sie?“ ist deshalb eines der wesentlichen Konfliktpotentiale unter den Akteuren angegeben, das durch die wechselseitige Transformation von Form und Inhalt eine ständige Verhandlung und Neuausrichtung ihrer Ziele erfordert. Ähnliches wie über die Subkultur kann über zeitgenössische Kulturarbeit generell gesagt werden. Auch deren Förderung und Etablierung ist ein selbstgesetztes Ziel der p.m.k (4.2.1). Diese Mission muss inhaltlich unbestimmt bleiben, da Praxis nur relevant sein kann, wenn ihre Räume offen bleiben für Einflüsse von außen (6.2.1). Die p.m.k versucht, alle Kräfte der freien Kultur zur Entfaltung zu bringen, ohne künstlerische oder normative Vorgaben zu machen. Sie verpflichtet sich dem Zeitgenössischen ohne Bedingung und lehnt dogmatische Ein- und Aufteilungen des Kultursektors ab. Darin liegt einerseits ein Moment der Institutionskritik, insofern stark vordefinierte Formen und Orte der Kultur nur wenige Entfaltungsmöglichkeiten geben und damit auch gesellschaftliche Auseinandersetzungen verhindern. Andererseits bedeutet es aber auch eine latente Selbstkritik, wenn etwa das Subkulturelle erhalten, gleichzeitig aber rigide Abgrenzungen zwischen Hoch-, Alternativ- und Subkultur fallengelassen werden sollten. Auch hier ist also ein beständiges Konfliktpotential zwischen unterschiedlichen Ausrichtungen gegeben. Ein zweites Moment einer Mission ist in der kollektiven Machtentfaltung der Multitude auszumachen. Sie besteht zunächst schlicht darin, „Leute zusammenzubringen“ (Ursula), und kann als assoziative Motivation bezeichnet werden – im Sinne einer Steigerung von Möglichkeiten durch Vernetzung. Christoph: Mein Anliegen oder meine Freude an dem Ganzen war es halt auch, immer verschiedenste Gruppen, Inhalte irgendwie auch zusammenzubringen und Möglichkeiten zu schaffen und Netzwerke zu bilden. Von dem her kenne ich halt viele Leute oder mich kennen viele Leute.
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In dieser verbindenden Vernetzung liegt sehr wohl auch ein bestärkendes wie erzieherisches Moment. Die Akteure werden durch das Gefüge nicht nur beständig in ihrem Tun motiviert, sondern auch dazu angehalten, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen zu erweitern. Ursula: Die Leute, mit denen ich da arbeite (…) da sind unsere schon ganz anders motiviert und lernen natürlich auch viel bei uns, veranstalten, Verantwortung übernehmen, organisieren, verlässlich sein – alles solche Sachen.
Das erzieherische Moment steigert sich bei einzelnen Akteuren zu einem emanzipatorischen Anspruch gegenüber dem Publikum, welches sich seiner eigenen Differenzen und Distinktionen bewusst werden sollte. Das fängt dabei an, dass sich die Besucher mehr über einzelne Musikrichtungen und Stile informieren sollten und geht bis zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Songtexten oder politischen Inhalten. Diese angestrebte Mündigkeit wird durch die programmatische Vielfalt nahezu herausgefordert (6.2.1). Georg: Unsere Aufhänger sind, dass wir diese Alles-zu-jeder-Zeit-Verfügbarkeit und dieses ganze – wenn die Leute alles quasi hintragen – dass wir das nicht mitmachen. Wir wollen die Leute einfach ein bisschen mit unseren Veranstaltungen, auch mit unserer Werbung und so weiter dazu anhalten, dass sie sich selber um die Sachen kümmern. Das zum Beispiel ist so ein Ding, wo ich sage, wir machen’s sicher nicht mit, dass wir einfach wirklich wie eine Großraumdisco die Leute so platt wie’s geht irgendwie zutexten, wie es einfach ständig passiert. Dass einfach keiner mehr irgendwas machen muss, dass die Leute einfach quasi zu Hause hocken und informiert werden. Wir wollen, dass sich die Leute selber informieren, selber interessieren. Wir wollen auch nicht, dass jeder zu unseren Veranstaltungen kommt. Einfach aus dem Grund, dass die Leute kommen, ihnen ein bisschen vielleicht auch das Gefühl geben, sie sind bei irgendwas Speziellem jetzt dabei. Und es rentiert sich, ein bisschen die Augen offen zu halten und ein bisschen die Stadt zu erforschen.
Das Publikum sollte nicht bedient werden, sondern in Auseinandersetzung mit künstlerischen Inhalten treten. Ein solcher Anspruch bringt seine eigenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen hervor, insofern er statt passivem Konsum ein aktives Interesse verlangt. Zugleich schafft er eine Atmosphäre der Exklusivität, welche die p.m.k als Ort ausweist, in dem besondere Erlebnisse und persönliche Begegnungen möglich sind (5.1.6). Die Akteure sehen sich dabei als Vermittler von Erfahrungsmöglichkeiten, die über die p.m.k hinaus das Interesse an Kultur steigern sollten. Das zeigt einerseits, dass ihre Mission weit über den Rahmen des konkreten Praxiskollektivs hinausgeht. Andererseits unterstreicht es die Bedeutung der p.m.k als exklusiven Ort, an dem Leute zusammenkommen und besondere Ereignisse stattfinden (6.3.2). Schließlich ist damit auf eine weite-
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re Strategie des Kollektivs verwiesen, das durch seinen Einfluss auf das Umfeld ein Bewusstsein für den immateriellen Mehrwert der Kultur schaffen und damit eine produktive Form der Gesellschaftskritik artikulieren möchte (6.2.3, 6.3.3). All diese missionarischen Momente und ihre affektiven wie assoziativen Motivationen werden aber auch immer wieder konterkariert durch Routinisierung und Ernüchterung. Zum einen ist es schlicht eine Frage der körperlichen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen, die Akteure bereit sind, zu investieren und die im Laufe der Zeit auch zu Ermüdungserscheinungen führen können. Nicht nur die Routine in dem, was man macht, auch die ständige Prekarität, die Ungewissheit und stets aufs Neue die Anstrengung um finanzielle Mittel – all das zehrt an Kräften. Zum anderen ist es auch eine Ernüchterung der ideellen Energien, die etwa durch fehlende Wertschätzung oder ein zu wenig aufgeschlossenes Publikum einhergehen kann. Leon: Zugleich hat natürlich die Motivation nachgelassen, was Neues zu machen, weil man auch gemerkt hat, für wen macht man das jetzt eigentlich. Schlussendlich für zum Teil Gäste, mit denen man sich herumstreiten muss beim Eintritt, dass es zuviel kostet. Und man trotzdem selber dann fast schon aus der eigenen Tasche das zahlen hat müssen.
Abschließend ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Kategorie der Mission nie unproblematisch ist. Sie wird hier denn auch nicht als bewusst verfolgte Strategie verstanden, sondern als Bedeutungsdimension kollektiver Praxis. Auch geht die Macht der Multitude nie gänzlich darin auf, vielmehr artikuliert sie sich über verschiedene Momente, in denen die affektiven und assoziativen Motivationen der Akteure ebenso sichtbar werden wie die Formen an Selbstkritik, Institutionskritik und Gesellschaftskritik, die sie mit ihrer Praxis ausdrücken.
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284 6.3.2 Mehrwert durch Ereignisse?
Die Leute sollen irgendwie mitkriegen, irgendwie fühlen, dass wir uns da wirklich – dass da unser Herzblut drinsteckt. Ein Akteur (David) über den Sinn der Veranstaltungen seines Vereines.
Das Live-Ereignis ist die elementare Form, in der Momente einer kollektiven Mission der p.m.k aufgehen.103 Sie beschreibt die Strategien der Inklusion und Exklusivität, mit denen das Praxiskollektiv auftritt. Wenngleich wir diese Strategien bereits im Zuge der Kommerzialisierung und Homogenisierung des Kultursektors diskutiert haben (5.1.6), geht es an dieser Stelle um die konkreten Praktiken, die aus dem Gefüge hervorgehen, um seinen Handlungsort zu strukturieren. Zunächst ist festzuhalten, dass die Entwicklungen im Musikbusiness und in der Musikindustrie die Bedeutung von Live-Ereignissen in den letzten Jahren mehr und mehr in den Vordergrund gerückt haben (vgl. Die Zeit, Nr. 19/2008). Vorangetrieben wurde dieser Prozess durch die Globalisierung von Kommunikationskanälen wie myspace und youtube, die das Präsentieren des eigenen Schaffens auf der einen Seite so einfach wie noch nie gemacht haben, andererseits daraus eine Anonymisierung des Angebots und eine Homogenisierung der Konsummuster hervorgehen ließen, die gerade das persönliche Erlebnis eines Konzertes wieder zum Besonderen machen. Live-Konzerte sind heute mehr als bloß eine direkte Aufführung von Musik, sie sind quasi-spirituelle Ereignisse zur persönlichen Bereicherung ebenso wie zur kollektiven Erfahrung von Sinn. Die p.m.k steht symptomatisch für diese Entwicklung. Hier werden nicht einfach Konzerte veranstaltet, sondern singuläre Ereignisse in Szene gesetzt – jedes Konzert von einem anderen Veranstalter und mit einem je eigenen Publikum. Dabei treten Veranstalter nicht mehr als anonyme Agentur auf, sondern als konkrete Akteure, eingebettet in einen unmittelbaren sozialen Kontext. Bereits ihre persönlichen Motivationen machen Live-Ereignisse in der p.m.k zu exklusiven Veranstaltungen. Gerade aus der Abneigung gegen oftmals anonyme GroßEvents der Musikindustrie organisieren sie Konzerte eigenständig, um den Rahmen mitbestimmen, den Zugang sowohl zur Musik als auch zu den Musikern mitgestalten zu können – auch auf die Gefahr eines finanziellen Verlustes (5.2.5). Live-Ereignisse sollten demnach nicht konfrontativ ablaufen, sondern Begegnungen ermöglichen. Ein Austausch sollte stattfinden können, ein unmittelbarer Austausch von Erfahrungen und Emotionen, Gedanken und Ideen. Mu103 Der Ereignisbegriff, den wir hier verwenden, ist deskriptiv und enthält nicht jene ontologische Dimension, die wir bei der Entfaltung immanenter Praxis herausgearbeitet haben (5.2.1).
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sik erhält so einen Mehrwert, sie ist nicht mehr ausschließlich Kulturgut, sondern auch Quelle persönlicher Erfahrung (6.2.3). Bedingung für die Möglichkeit solcher exklusiven Veranstaltungen ist mitunter die Größenordnung des jeweiligen Ereignisses. Ab einer gewissen Anzahl an Publikum ist eine intime Konzertatmosphäre nur mehr schwer möglich. Gleichzeitig sind viele Musiker ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad so durchorganisiert, teilweise auch persönlich unnahbar, dass, wenngleich das Konzert gut sein mag, eine persönliche Begegnung ausbleibt. Adi: Bei den bekannteren Bands ist es dann so, dass die kommen mit ihrem tollen Tourbus, dann wollen sie ins Hotel, dann holt man sie ab, dann geht’s zum Soundcheck, dann wollen sie wieder ins Hotel, dann wollen sie essen, dann spielen sie das Konzert. Danach kommt man vielleicht noch eine halbe Stunde zum Reden und dann gehen sie wieder ins Hotel und fahren am nächsten Tag in der Früh wieder weg. Auch auf gut Deutsch: Du hast zwar ein nettes Konzert gemacht und es war vielleicht super, aber Du weißt über die Leute, die die Musik machen, die Dir gefällt, weißt Du danach absolut nicht mehr als davor.
Unmittelbare zwischenmenschliche Begegnungen ermöglichen also einen Mehrwert der Musik, der im Ereignis aufgeht. Dieses wird zur exklusiven Veranstaltung, charakterisiert durch persönliche Rahmung und intime Atmosphäre. Dass die Exklusivität auch für die auftretenden Musiker und Bands erfahrbar wird, liegt nicht zuletzt an den sozio-strukturellen Gegebenheiten der Stadt Innsbruck und ihrer Kulturszene, die im Vergleich zu Großstädten einen nahezu „familiären“ (David) Rahmen aufweisen. David: Innsbruck ist für viele Bands, die wir machen, der kleinste Auftritt auf der ganzen Tour. Und da fühlen sie sich dann irgendwie ein bisschen familiärer, sodass sie auch wirklich unterm Publikum herumgehen nach der Show. Ich glaube, dass kann man in Wien zum Beispiel nicht mehr so wirklich erleben. Sobald da 500 im Publikum sind, ist es mit der Band ganz anders. Und das macht’s bei uns auch aus.
Persönliche Begegnungen setzen einen von außen noch nicht vor- oder vollgeschriebenen Erfahrungsraum voraus, in dem sie sich frei entfalten können, ohne vorstrukturiert zu sein. Das ist mithin eine Bedingung für die Konstitution einer eigenen Szene (6.2.2). Sie geht aus den Relationen und Konnexionen der Akteure hervor, aus ihren gemeinsamen Praxis- und Bedeutungshorizonten, aus ihren selbstgenierten Qualitätsbezügen und verbindenden Haltungen, kurz: aus der Kohärenz des Gefüges, die notwendig ist für die kollektive Produktion von Sinn. Umgekehrt wäre es lediglich ein importierter Sinn, wenn sich Kulturschaffende in ihrer Praxis nach dem ausrichteten, was auf einer allgemeinen Diskursebene gerade angesagt und cool ist und wodurch sie einen Trend bloß nachahmen wür-
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den, anstatt ihn in Szene zu setzen. Das heißt aber auch, dass, solange eine Praxis noch nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert ist, solange eine Kulturform noch nicht vergeben ist, Kulturschaffende darauf angewiesen sind, sich interessierte Öffentlichkeiten zu erarbeiten (5.1.4). Sebastian: Wir haben’s uns jetzt erarbeitet, dass es wirklich gut funktioniert. Die Leute kommen, weil sie wissen, unser Verein „Strange Hero“ [Name des Vereins geändert, M.V.] macht was mit Qualität. Sie müssen gar nicht wissen, was der Artist jetzt kann, und sie kommen aufs [Konzert von] „Strange Hero“, sich das anschauen. Das war das Ziel, dass man eine Marke schafft, die für Qualität so garantiert, dass die Leute auch hingehen, wenn sie sich jetzt wegen einem bestimmten Einzelkünstler unsicher wären, ob sie Eintrittsgeld investieren würden, um den sehen zu können.
Ein weiteres Moment der Inklusionsmacht von Live-Ereignissen ist die gegenseitige Unterstützung der Akteure. Die immaterielle Ressource der Freundschaft (5.1.5, 5.2.5, 5.3.3) wird da wirksam, wo Musiker und Künstler, Bands und Veranstalter einander eine Bühne verschaffen, auf der sie auftreten können. Gerade im subkulturellen Bereich geschieht ein solches wechselseitiges Unter-die-ArmeGreifen nicht nur aus dem Prinzip der Selbsterhaltung, sondern macht es die Integrationskraft einer Szene aus. Wo gegenseitige Wertschätzung und Anteilnahme spürbar sind, belebt sich eine Szene aus sich selbst heraus (6.2.4). Das Ereignis ist dann keine konfrontative Veranstaltung mehr, die produziert und konsumiert wird, sondern eine Zusammenkunft von Freunden, die durch das Miteinander Begeisterung schafft. So gesehen stellen Konzerte verbindende Anlässe dar, durch die sich umfangreiche Bedeutungs- und Erfahrungshorizonte auftun. Es entstehen Möglichkeitsräume, die über die unmittelbare Darbietung hinausgehen und einen immateriellen Mehrwert offenhalten. David: Also das soll nicht nur ein Konzertbesuch sein, sondern dadurch, dass wir ja totale Musikfans sind, geht’s uns ja um mehr als nur um Musik. Sondern in welchem Verhältnis steht das Ganze.
Da sich dieser Anspruch normativen Vorgaben des Kulturkonsums entsagt, vielmehr die Unabsehbarkeit von Ereignissen hochhält (5.2.1), kann seine kollektive Entfaltung einer spirituellen Erfahrung gleichkommen. Das Begehren, Musik nicht nur zu hören, sondern auch zu leben, wird, kollektiv gesteigert, zu einer machtvollen Inspirationsquelle der Multitude.
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6.3.3 Mitspieler oder Spielball? Aber was macht denn eine Stadt noch aus, wenn es dann nur mehr Gasthäuser gibt und vielleicht noch ein Einkaufszentrum? Ist ja eine kulturelle Geschichte, eine Stadt. Zumindest auch. Ein Akteur (Matthias) über die Bedeutung von Kulturarbeit für eine Stadt.
Welche Rolle nimmt die p.m.k in ihrem sozialen Umfeld ein? Kann sie als eigenständiger Akteur auftreten und Einfluss auf andere ausüben? Was sind dabei ihre Ziele, was die Widerstände? Wie weit ist sie eingebunden in ein Netz von Abhängigkeiten und Relationen, das ihre Handlungsfähigkeit von außen bestimmt? Ist die freie Kulturszene am Ende gar unfrei (5.1.6)? Anders gefragt: Ist die p.m.k mehr Mitspieler oder Spielball innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges? Es war bereits ein programmatischer Gründungsgedanke der p.m.k, das kulturelle Umfeld nachhaltig zu beleben. Wo heterogene Interessen gebündelt auftreten, kann eine stärkere Position nach außen beansprucht werden. Eine Plattform mit knapp dreißig Vereinen ist ein wirksamer Knotenpunkt ebenso wie ein Multiplikator für die allgemeine Präsenz der Kulturarbeit in der Öffentlichkeit. Diesbezüglich hat sich in Innsbruck in den letzten Jahren das Spektrum an Möglichkeiten deutlich erweitert, wenngleich es verkürzt wäre, alle Entwicklungen ausschließlich auf den Einfluss der p.m.k zurückzuführen (5.1.5). Und dennoch, im Zuge der p.m.k-Gründung hat etwa die Lobby- und Netzwerkplattform TKI an Geltung gewonnen, nicht zuletzt durch die im Jahre 2002 initiierte Projektförderschiene TKI Open. Zudem konnte sich das Netzwerk der bættlegroup for art als starkes Sprachrohr für Kulturarbeiter etablieren. Aus jüngster Zeit ist das Projekt eines übergreifenden Kulturmediums zu erwähnen, das auf diskursiver Ebene eine höhere Repräsentanz sichern sollte (5.1.4). Solche Kooperationen wollen ein Bewusstsein in Politik und Öffentlichkeit dafür schaffen, dass Kultur ein allgemeines Gut ist (4.2.1), Kulturarbeit als relevantes Produktionsfeld wahrgenommen wird (5.1.3) und schließlich eine liberale Gesellschaftspolitik die Förderung von Kultur als wichtige Aufgabe wahrnehmen sollte. Kulturarbeit sollte als Mehrwert ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getragen werden, der von gesellschaftlichen Strukturen lebt, diese aber auch entscheidend prägt (6.2.3). Sebastian: Die Leute müssen ihr erarbeitetes Geld wieder in Form von einer kulturellen Lebensmöglichkeit zurückbekommen. Das gehört zu einem Wohlstand einer Gesellschaft – (…) dass man, wenn man zwischen 18 und 25 ist zum Beispiel, einen anderen Platz [hat], wo man hingehen kann, als ein Zeltfest. Das ist einfach ein Wohlstand, den gibt die Politik zurück aus dem, was die Leute erarbeiten. Und es ist halt ein Kampf, man muss halt sagen: Hallo, wir haben Hunderte Leute, die wünschen in einer Stadt zu leben, die dieses Gesicht hat, bitte hört’s uns zu, raufen wir uns zusammen. Jetzt ganz salopp formuliert.
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Umgekehrt verlaufen solche Öffnungsbewegungen nie eindimensional, sondern wirken immer auch auf die erwachsende Szene und ihre Akteure zurück. Wo Aufmerksamkeit und Interesse entgegengebracht werden, stärken sich der Zusammenhalt eines Praxiskollektivs sowie die Motivation seiner Akteure. Dass die Kontextbedingungen für eine integrative Milieubildung in einer Kleinstadt wie Innsbruck mehrheitlich positiv wahrgenommen werden, wurde bereits an anderer Stelle erwähnt (5.1.1). Das überschaubare Netz an Kulturschaffenden ermöglicht nicht nur intensive Austauschbeziehungen, sondern auch eine förderliche Atmosphäre des freundschaftlichen Nebeneinanders. Das Umfeld tritt weniger als Kontrahent denn als fruchtbarer Boden für eine möglichst breite Diversifizierung auf (5.1.2). Zum einen fehlt für eine unmittelbare Konkurrenz zur p.m.k ein vergleichbares Angebot: „Ich glaube, wir werden nicht als Konkurrenz wahrgenommen. Und wir fühlen uns auch nicht als Konkurrenz“ (Sebastian). Zum anderen sind es nicht zuletzt aufgrund der dichten Vernetzung auch Fragen des gegenseitigen Respekts und der Anerkennung, die eine Art stillschweigendes, fast schon selbstverständliches Übereinkommen unter den Kulturschaffenden bewirken: „Und ich glaube, es besteht so ein Grundkonsens, dass man sich auf jeden Fall gegenseitig nicht schadet“ (Ursula). Dazu kommt, dass Ausgangsmotive für kulturelles Schaffen nicht immer Unzufriedenheit oder Widerstand sein müssen, sondern Produktion und Transformation des Umfelds häufig im Sinne einer Bereicherung erfolgen. Auch das mag eine Erklärung für den übereinstimmenden Befund vieler Akteure sein, dass in Innsbruck ein lebendiges Klima und eine positive kulturelle Stimmung herrschen. Dennoch wird die darin enthaltende und anhaltende Aufbruchstimmung konterkariert durch wiederholte Kritik an hermetischen regionalen Strukturen, veralteten Förderrichtlinien oder fehlender zeitgenössischer Ausrichtung (5.1.5). Eine Praxis zu etablieren, die überregionale Relevanz hat, erfordert, hiesige Wertmaßstäbe in Frage zu stellen; erfordert ferner, feste Grenzziehungen aufzubrechen, um neue Räume, Konnexionen und Relationen zu ermöglichen. Damit in Innsbruck etwas passiert, das spannend ist, bedarf es nicht einmaliger Errungenschaften, sondern der ständigen Auseinandersetzung mit den gegebenen Verhältnissen: „Natürlich. Das ist aber eine Sache, das geht nicht mit einem Gespräch. Das ist eine Sache von kontinuierlicher Arbeit“ (Sebastian). Gerade diese kritische Auseinandersetzung ist aber mithin ein Grund, warum das Kollektiv nicht immer als strategischer Akteur auf das Umfeld einwirken kann. Oftmals muss es vielmehr darauf reagieren. So geschehen etwa bei den „NaziÜbergriffen“, die als Konsequenz eine gesellschaftspolitische Positionierung verlangten, welche aus dem Selbstverständnis der Akteure nicht unbedingt notwendig gewesen wäre (6.1.3).
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Sebastian: Warum sind wir für manche politische Gruppierungen ein Angriffsziel? Weil im Grunde – wir sind zwar gesellschaftlich wichtig, aber andererseits auch wieder harmlos, weil wir nicht angriffig auf Gruppierungen sind. Das ist auch nicht der Sinn, das soll ein Sozialverein machen, das muss ein Kulturhaus nicht machen.
Dass Kulturarbeit politisch ist, ist unvermeidbar (6.2.3). Ob sie aber auch politisch auftreten sollte, bleibt ein ständiges Konfliktpotential des Praxiskollektivs (6.1.5). Hier kommt die Differenz von Ausrichtung und Positionierung zum Tragen, die wir an anderer Stelle bereits durch den Gegensatz von Haltung und Standpunkt erläutert haben (5.1.6). Die p.m.k hat eine politische Ausrichtung, die aufgrund des Selbstverständnisses der Akteure und ihres offenen Kulturbegriffs als links bezeichnet werden kann. Die p.m.k verfolgt jedoch keine konkrete Positionierung, die sie abhängig machen würde von parteipolitischen Interessen. Zum einen bleibt damit die inhaltliche Offenheit gewahrt, die durch eine vorschnelle programmatische Fixierung verhindert würde. Zum anderen wollen sich die Kulturarbeiter nicht zum unmittelbaren „Spielball“ (Sebastian) politischer Entscheidungsprozesse machen. Da dies jedoch – zumindest mittelbar – aufgrund der öffentlichen Finanzierung immer bereits der Fall ist, die p.m.k also nie gänzlich unabhängig von stadt-, landes- oder bundespolitischen Zuwendungen bleibt, tut sich hier ein unabwendbares Spannungsfeld auf, das in der Frage des Spielball-Seins verschiedene Formen der Selbstkritik, Institutionskritik und Gesellschaftskritik kulminieren lässt. Es fragt sich, wie autonom Kulturarbeit gegenüber einem System sein kann, von dem sie gleichzeitig subventioniert wird. Welche Formen der Kritik an der Gesellschaft sind möglich, wenn diese die eigene Existenz überhaupt erst ermöglicht? Ab wann wirkt Praxis nicht mehr kritisch, sondern vielmehr systemerhaltend? Und umgekehrt, wie viel Systemintegration ist notwendig, um darin nachhaltig etwas verändern zu können? Diese Fragen verweisen auf die notwendige Ambivalenz freier Kulturarbeit. Für manche Akteure gibt es – wenn auch unwesentliche, so doch symptomatische – Anzeichen dafür, dass sich die p.m.k mit zunehmender Entwicklung vom System vereinnahmen lässt und damit das Radikale, Widerständische und Subkulturelle außen vor bleibt (6.3.1). Camilla: Es ist das, wo ich ziemlich schnell geahnt hab, dass es in diese Richtung geht. Also eben zuerst dieses Kleine und quasi eigenständig bleiben und auf Stadt und den ganzen Amtsterror da irgendwie scheißen – das ist jetzt einfach – das ist einfach nicht so. Es wird mit der Stadt kooperiert – es wird einfach alles getan, um quasi die Wogen zu glätten. Also keine Flaschen mehr – nicht mit den Flaschen rausgehen und einfach so Sachen, die ich vielleicht einfach nur total – die total unwichtig sind, aber so für mein persönliches Bild einfach total wichtig sind. Also quasi, es wird alles getan, damit es ja keine Probleme gibt, irgendwie so.
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Die Ambivalenz solcher Befunde liegt darin, dass sich die p.m.k einerseits zum Spielball machen lässt, indem sie Kooperationen eingeht, Zugeständnisse macht und dadurch letztlich die Radikalität ihrer Kritik nicht mehr glaubwürdig vertreten kann. Andererseits jedoch befähigt sie gerade diese integrative Ausrichtung, ihre Handlungsspielräume zu erweitern und das Umfeld in höherem Ausmaße mitgestalten zu können. Die ursprüngliche Vision einer kompromisslosen Außenseiterposition, die manche Akteure haben mochten, wird damit untergraben und auch für die Zukunft verbaut. Umgekehrt aber haben sich die Praxisfelder und Handlungsmöglichkeiten des Kollektivs erweitert und seine Stellung als zentraler Akteur des kulturellen Umfeldes konsolidiert. Mit anderen Worten: Der Duktus der Kritik mag sich gewandelt haben, die Möglichkeiten der Kritik bleiben hingegen bestehen. Sebastian: Und der Rest ist jetzt halt schauen, wie kommt man weiter, was gibt’s für Möglichkeiten in Zukunft. Für einen Immobilienwechsel ist es natürlich zu früh, weil jetzt haben wir einmal Geld gekriegt. Und das ist auch ein verständlicher Vorgang von der Politik her, jetzt müssen wir einmal ein paar Jahre gescheit was machen, man muss Vertrauen erwerben, man muss Kommunikationsnetze aufbauen, man muss einfach sagen: Hallo, wenn wir das machen, haut das schon hin. – Weil natürlich auch verständlich ist von der Politik aus, die sagt: Die wollen jetzt so und so viel Euro, wer sind denn die? – Und so Nachfolgedinger, die kommen, sobald wir die Ressourcen und die Kapazitäten haben.
Die Ambivalenz freier Kulturarbeit verdeutlicht noch einmal die aufgeworfene Differenz von Ausrichtung und Positionierung. Da, wo die p.m.k eine radikale Position einnehmen würde, blieben ihre Handlungsspielräume von Beginn an begrenzt. Abgesehen davon haben wir gesehen, dass allein aus der Vielfalt und Heterogenität ihrer Akteure eine solche klare Positionierung, in welcher Form auch immer, weder möglich noch adäquat wäre (6.1.3). Gerade dieser letzte Punkt, der uns auf die gemeinsamen Praxis- und Bedeutungsbezüge des Kollektivs verweist, ist es wiederum, der die Akteure trotz ambivalenter Ausrichtungen und Positionierungen wie eine gemeinsame Klammer in einem körperlosen Familienbund zusammenhält (6.2.5). In der Differenz von Ausrichtung und Positionierung zeigen sich schließlich auch die territorialen Dimensionen von Ort und Raum. Während die Positionierung einen Raum von Beginn an vorstrukturiert, einzelne Handlungsmöglichkeiten darin gar ausschließt, so dass er zum Austragungsort strategischer Interessen wird, so belässt die Ausrichtung den Raum offen gegenüber unterschiedlichen Formen der Aneignung. Freilich, so oder so bleibt der Raum durchdrungen von Macht, aber im einen Fall bietet er lediglich Möglichkeiten von Praxis, im anderen hingegen bewahrt er die Virtualität seiner Potenz.
Strategien des Kollektivs
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Fassen wir zusammen: Die p.m.k als Akteur der freien Kulturszene ist nie ganz frei. Sie ist abhängig von Öffentlichkeiten, Finanzgebern, politischen und gesellschaftlichen Strömungen, schließlich auch von demographischen Bedingungen und regionalen Netzwerken. Versuche, das kulturelle Umfeld zu beeinflussen, müssen deshalb immer aus dieser umfassenden Eingebundenheit heraus betrachtet werden. Wir haben aufgezeigt, wie die p.m.k als Akteur der Kulturszene versucht, öffentliches Bewusstsein für den Mehrwert der Kultur zu schaffen; wie sie interessierte Öffentlichkeiten und eine lebendige Szene hervorbringt; schließlich, dass sie das Umfeld weniger als Konkurrenz denn als Alternative bereichert, indes aber immer wieder von Innen wie von Außen herausgefordert wird, ihr Selbstverständnis zwischen widerstrebenden Ausrichtungen und Positionierungen zu verhandeln. Problematisch wird die Eingebundenheit in das ausgebreitete Netz von Relationen und Abhängigkeiten dann, wenn die p.m.k ihre Praxisfelder nicht mehr aus eigener Macht entfalten und bestimmen kann. Dann würde sie zum bloßen Spielball heteronomer Kräfte werden.
6.3.4
Praxis ohne Ort? Also ich würde gern mehr außerhalb der p.m.k wieder machen, auch als p.m.k. Ein Akteur (Adi) über das Verhältnis von Ort und Praxis.
Wenn wir von Strategien des Kollektivs sprechen, setzen wir einen Ort voraus, von dem aus ein mit Macht und Wille ausgestattetes Subjekt agiert (2.2.4). Nun besetzt die p.m.k einen relativ autonomen Ort, ein physisches Territorium, auf dem das Gesetz des Eigenen waltet, wenngleich es – deshalb relativ – großteils aus fremden Mitteln finanziert wird. Umgekehrt aber steht die Plattform auch für einen offen zugänglichen Raum, in dem weder spezifische Handlungs- noch Bewegungsmöglichkeiten vorgegeben sind. Ist es dann nicht ein Widerspruch, wenn durch die Plattform, wie der Eigenname suggeriert, mobile Kulturinitiativen an die Logik eines Ortes gebunden werden? Wenn Mobilität gerade Unabhängigkeit von einem Ort bedeutet, darf die p.m.k dann überhaupt einen Standort für sich behaupten? Und wenn ja, mit welchem Machtanspruch tut sie dies? Was kann das Eigene dieses Ortes sein? Schließlich, welches Verhältnis von Ort und Raum drückt sich darin aus? Die p.m.k besteht aus mobilen Kulturinitiativen. Unterschiedliche Akteure produzieren an unterschiedlichen Orten, was sie verbindet, ist ein gemeinsamer Ort der Präsentation und Vermittlung ihres Schaffens (4.3). Schon ihre Heterogenität bewirkt, dass viele Akteure in mehreren Netzwerken und Kulturhäusern tätig sind, wodurch es zu einer produktiven Überschneidung von Aktivitäten und
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Interessen kommt. Die Heterogenität allein bewirkt also schon Mobilität. Umgekehrt ist es diese Mobilität der Akteure, ihre hohe Fluktuation und Umtriebigkeit, die zur Folge hat, dass differente und divergente Orte praxisrelevant werden. Als Effekt ergeben sich eine konstante Durchlässigkeit verschiedener Räume und deren jeweils neue Aneignung durch variierende Konstellationen und Konnexionen. All das passiert keinesfalls beliebig, vielmehr kristallisieren sich bevorzugte Vernetzungs- und Anschlussmöglichkeiten heraus, abhängig von zwischenmenschlichen Beziehungen und inhaltlichen Ausrichtungen, ähnlich den Spezialisierungsclustern innerhalb der p.m.k (6.1.4). „Dann schaut man halt, dass die Kanäle einfach immer die gleichen Leute anzapfen, weil es einfach dann eine Kontinuität hat“ (Georg). Nicht alle Akteure haben die gleichen Drähte zueinander, nicht alle weisen die gleiche Verbundenheit zu einzelnen Orten auf. Nicht alle können mit allen gleich gut, aber fast jeder kann mit bestimmten besser. Dabei hängt es von den Tätigkeitsbereichen und Ausrichtungen eines Vereines ab, wie viele unterschiedliche Räume er für seine Praxis lukrieren kann. Es mag für Techno-Veranstalter aufgrund spezifischer Raumanforderungen (Musikanlage, Tanzfläche, Schalldämmung etc.) und anderer Öffnungszeiten wahrscheinlich weniger geeignete Orte geben als für Veranstalter von Rockkonzerten. Generell gilt aber, dass Akteure umso mobiler sind, umso vielfältiger ihre Praxis ist. Praxisausrichtung und Ortsunabhängigkeit stehen also in einem unmittelbaren Bezug zueinander. Je mehr Orte zur Verfügung stehen und je durchlässiger Räume werden, desto losgelöster ist die Praxis von einem einzigen Ort. Das gilt auch für die p.m.k: Sie ist für viele Vereine nur eine von mehreren Schaffensstätten, dennoch stellt sie einen weitreichenden Knotenpunkt, eine Basis dar (4.2.1). Die meisten Akteure sind zwar in unterschiedlichen Relationen und an verschiedenen Orten tätig, bezeichnen aber die p.m.k als eine Art Heimat (5.2.5). Als solche ist sie ein zentraler Begegnungsraum von Freunden und interessierten Menschen, ein Austauschraum von Ideen und Informationen, ein Anbahnungsraum für mögliche Projekte und Kooperationen – kurz: sie ist ein umfassender Praxisraum, selbst wenn die engere Arbeit, verstanden als Tätigkeit, zuweilen woanders stattfinden mag. Dabei ist es offensichtlich, dass diese Heimat als physischer Ort nicht mobil sein kann, sehr wohl aber die Idee, die sie verkörpert und die erst durch die umherschweifenden Produzenten in Umlauf kommt. Als ortsungebundene Idee kann die p.m.k eine Form von kollektiver Identität generieren, die nicht mehr an ein Territorium gebunden ist. Die Macht des Ortes wird allerdings dann problematisch, wenn sie die Mobilität seiner Akteure kontrolliert. Die p.m.k birgt die latente Gefahr in sich, eine zu dominante Eigenlogik auf ihrem Territorium zu etablieren, welche die Praxis vorstrukturieren, reduzieren oder gar institutionalisieren würde.
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Adi: Weil nur, weil es da jetzt einen Ort gibt und ein Büro, heißt das noch lange nicht, dass jetzt für alle 27 Vereine damit alles eitel Wonne ist.
Dem strategischen Risiko, wonach der Ort als sicheres Territorium seine Praxis zementieren könnte, entgehen die meisten Akteure dadurch, dass sie den Ort regelmäßig verlassen. „Mobil heißt, dass man überall auftreten kann“ (Adi). Damit ist wieder jene Mobilität angesprochen, die zwar im Eigennamen schon festgehalten ist, die aber durchaus nicht einheitlich wahrgenommen wird. Einzelne Akteure wünschen sich etwa, die p.m.k solle mehr außerhalb der p.m.k stattfinden und fordern eine intensivere Richtungsdiskussion über das Selbstverständnis der Plattform. Dies verweist uns auf weitere Dimensionen, in denen die Macht des Ortes wirksam wird. Neben der Mobilität sind das vor allem die Kategorien Identität und Professionalität. Einerseits bietet gerade der physische Ort viele Möglichkeiten, das eigene Profil, die eigene Identität allererst zu entfalten und zu schärfen (6.2.5). Andererseits geht mit der örtlichen Verbundenheit auch eine tendenzielle Professionalisierung einher – was nicht heißt, dass Professionalität stets einen konkreten Ortsbezug voraussetzt, sehr wohl aber, dass sie sich da leichter entwickeln kann, wo Sicherheit und Kontinuität in Bezug auf die Rahmenbedingungen der Praxis existieren (5.2.2). Schließlich kommt die Macht des Ortes auch bei den affektiven und assoziativen Motivationen zum Tragen, die wir im Lichte einer etwaigen Mission der p.m.k diskutiert haben (6.3.1). Die dabei auftretenden Ambivalenzen und Widersprüche hängen meist unmittelbar mit der Bedeutung des Territoriums zusammen. Ein größerer Ort, wie ihn sich einige Akteure wünschen, könnte zwar die Entfaltungsmöglichkeiten des Praxiskollektivs erweitern, wäre aber von einer stärkeren Reglementierung und Institutionalisierung bedroht. Die angesprochenen Dimensionen – Heterogenität, Mobilität, Identität, Professionalität, Territorialität – zeigen die Komplexität des Verhältnisses von Ort und Raum, das sich in der p.m.k widerspiegelt. Mit ihrem Ort hat die p.m.k ein Eigenes etabliert, das sie fortan organisiert und präsentiert. Dennoch schließt das nicht aus, dass dieses Eigene nicht auch an anderen Orten generiert wird. Der Ort der p.m.k definiert sich oftmals gerade durch jene Räume, die er öffnet. Er verflüchtigt sich in ihnen, diese wiederum verfestigen sich in ihm. Es herrscht also ein rekursives Verhältnis, in dem der Ort als Raum auftritt und die Räume den Ort konstituieren (4.4). Noch deutlicher wird dieses Verhältnis durch den Begriff der Initiative. Wenn es in der mobilen Kulturproduktion darum geht, Aktivitäten nicht nur zu setzen, sondern gerade zu ermöglichen, zu initiieren, dann bedarf es dafür eines unabgeschlossenen Raumes, der deren freie Entfaltung erlaubt. Etablieren sich diese Aktivitäten als dauerhafte Praxis, dann konstituieren sie umgekehrt die Eigenheiten des Ortes, in dem sie stattfinden. Das hat noch nicht not-
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wendig zur Folge, dass der Ort als physisches Territorium größer wird, denn nicht jeder Handlungsfreiraum bedarf bereits einer dauerhaften Materialisierung. Gleichzeitig aber stellen diese stets aufs Neue hervorgebrachten Handlungsfreiräume Fluchtlinien dar, welche verhindern, dass die Identität des Praxiskollektivs mit seinem unmittelbaren Ort gleichgesetzt wird.
6.3.5
Coda: Theorie ohne Praxis? Weil die Leute brauchst Du, es ist so. Ein Akteur (Georg) über die Bedingung seiner Praxis.
„Ohne Theorie keine Revolution“ – mit dieser leninistischen Leitdevise haben wir die Ausrichtung der p.m.k eingangs vorgestellt (4.4). Darin drückt sich nicht nur die Konstitutionsbedingung des Gefüges aus („Struktur ist Programm“), sondern auch die ontologische Interdependenz von Theorie und Praxis (2.5.3). Die Konstitution von Praxis, wie sie Deleuze und Spinoza entwerfen, setzt Gemeinbegriffe voraus, adäquate Ideen unter den Akteuren, durch die ihr kollektives Handeln Sinn entfaltet. Die Immanenz der Praxis manifestiert sich zugleich in der konstitutiven Macht des Praxiskollektivs, das als freies Kräftefeld entlang eines offenen Kompositionsprozesses organisiert wird und als kohärentes Gefüge Gestalt annimmt (2.5.4). So sehr jedoch kollektiv generierte Selbst- und Praxisverständnisse, Sinnund Bedeutungshorizonte einen theoretischen Bezugsrahmen bilden, so wenig ausreichend sind sie für die praktische Konstitution der Multitude. Dazu braucht es immer, so banal es klingen mag, der konkreten Menschen, durch die die Theorie lebendig und legitimiert wird. Ein gemeinsames Einverständnis oder ein gutes Konzept bringen, für sich genommen, noch keine praktische Konstitution hervor. Die besten Ideen helfen nichts, wenn es keine Menschen gibt, die dafür leben und dahinter stehen. Sebastian: Bei solchen Sachen wie TKI-Open, stadt_potentiale, bættle research ist es so, dass diese Konzepte alle sich zwischen sehr gescheit und ganz ideal bewegen. Und eine zweite Erfahrung aus 25 Jahren Politik und Kultur ist bei mir: Kein Konzept ist besser als die Leute, die es machen. Das heißt, alles, was man sich jetzt ausdenkt, was man jetzt konzeptioniert, was man jetzt hinstellt, ist so gut wie die Leute, die es dann ausführen. Das heißt, diese stadt_potentiale waren jetzt wirklich toll. Das war großartig. Das war aber großartig, weil die Jury so gut war. Drei Idioten in der Jury, die halt mehr wegen ihrem Namen drinnen sind als weil sie wirklich was drauf haben – das gibt’s nämlich in so einer propagandaabhängigen Szene wie der Kulturszene genauso – und die ganze Arbeit von bættle research über ein Jahr für dieses Ding wäre quasi umsonst gewesen.
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Es bedarf also der Menschen vor Ort, engagierter, professioneller, verbundener Menschen, die aus der theoretischen Fundierung etwas machen und sie mit Leben erfüllen. Dieses kollektive Ins-Leben-Rufen einer gemeinsamen Idee ist wiederum der originäre Antriebsmotor, warum sich Menschen überhaupt zusammentun und aus einem „Schwarm potenziell Interessierter“ (Paul) einen kooperativen Zusammenhang organisieren, der über die Einzelnen hinausgeht. Das Zusammenschließen und Vernetzen ist damit immer schon ein politisches Wirken, sobald Menschen kollektiv etwas bewirken wollen (6.2.3). Über welche Organisationsform dies geschieht, hängt vor allem von dem Feld ab, in dem sie arbeiten und von der Ausrichtung, die sie verfolgen. In der p.m.k haben wir dafür die Form des Vereins kennengelernt. Hier finden sich Menschen, um einander auszutauschen, zu unterstützen, gegenseitig weiterzubringen, füreinander da zu sein: „Und das ist das Vereinsleben eben, dass man eben mit dem, was man macht, nicht ganz alleine ist“ (Paul). Im Kollektiv treten die Menschen in ein Verhältnis, das sie mit und für sich selbst nicht einnehmen könnten. Sie treten in Spannung zueinander, um ihr Leben spannender zu gestalten. I: Gibt’s irgendeinen Wunsch oder irgendeine Vision, die ihr in eurer Tätigkeit mit dem Verein verfolgt? Oder ein Ziel? Paul: Jaja. Dass das Leben spannender ist. I: Spannender? Paul: Noch spannender. I: Aber dafür braucht’s den Verein wahrscheinlich nicht, oder? Paul: Doch. Doch. Aber sicher. I: Also er macht’s für Dich schon einmal spannend? Paul: Denke ich schon. Ich sehe das schon so, ja. Man ist da doch immer auch in einer Auseinandersetzung mit Menschen. Und sie helfen einem, denken manchmal mit und kommen auf Sachen drauf, auf die man selber nicht draufkommt. Sie sind ja nicht blöd, die Menschen. Das ist das Vereinsleben. Robert: Auch blöde Leute kommen auf Sachen, wo man sonst nie draufgekommen wäre. Paul: Man ist irgendwie natürlich schon – so eine gewisse Verwandtschaft ist schon da.
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Kollektive Praxis, so können wir schließen, braucht gemeinsame „theoretische“ Bezüge, auch wenn diese nicht immer als solche auftreten. Sie bedarf aber auch der praktischen Vollzüge, die sie mit Leben erfüllen. Und dafür braucht es der konkreten Menschen, die sich darauf einlassen. Einlassen auf das, was sie verbindet und auf das, was sie in Spannung bringt. Banal ist dieser Schluss, weil Menschen als soziale Wesen immer schon in gesellschaftliche Ordnungen und damit in kollektive Praxisgefüge eingelassen sind. Relevant ist er aber, insofern das Herstellen von sinnvollen Zusammenhängen nie selbsttätig erfolgt.
7 Conclusio
Was heißt Freiheit? – so haben wir zu Beginn dieser Arbeit gefragt und dabei unser Augenmerk auf die Praktiken der Freiheit konzentriert. Es war nie das Ziel, Freiheit normativ zu definieren, vielmehr, sie exemplarisch zu beschreiben. Dabei haben wir einen theoretischen Zugang vorgestellt, der Freiheit als konstitutive Disposition des Subjekts versteht, die sich unter kontingenten Bedingungen, Konstellationen und Relationen praktisch entfaltet. Sie setzt eine produktive Macht frei, durch die sich Akteure strebend und widerstrebend inmitten konkreter Machtrelationen Handlungsfreiräume schaffen. Eine besondere Form der Freiheitspraxis haben wir mit dem Konzept der Nomadologie vorgestellt, in dem verschiedene Bewegungen wie Deterritorialisierung, Desubjektivierung oder Enthierarchisierung auf Praktiken verweisen, welche sich den Zuschreibungen von Ort und Eigentum entziehen. Sie entfalten sich entlang einer Kompositionslogik in glatten Räumen und mit offenem Ausgang und konstituieren damit schließlich eine Praxis, die aus sich heraus Gestalt annimmt und von Prinzipien wie Immanenz, Immaterialität und Intensität durchdrungen ist. Wurde diese Konzeption von Freiheit ihrer Praxis gerecht? Die Antwort darauf kann nicht verbindlich gegeben, nur interpretativ aus dem Kontext erschlossen werden. Die empirischen Befunde aus der Arbeitswelt der Kulturschaffenden haben gezeigt, dass sich Freiheitspraktiken in mannigfaltigen Konstellationen und Relationen, Formen und Gefügen entfalten. Dazu haben wir eine Reihe von Dimensionen und Kategorien entwickelt, die das Organisieren von Handlungsfreiräumen sowohl beschreiben wie erklären. Anhand der unterschiedlichen Logiken von Ort und Raum haben wir gezeigt, wie ein Territorium von der Macht des Eigenen oder von der Offenheit eines Ereignisses erfüllt werden kann. Freiräume, so hat sich herausgestellt, sind Orte mit einer eigenen Qualität, insofern sie sich ohne Vorschreibung und Handlungsdruck entfalten. Dadurch werden spannende Räume möglich, in denen etwas los ist; Räume, die Akteure ausfüllen und beleben, ohne sie zu besetzen; Räume, die nicht nur zweckfrei sind, sondern auch zwecklose Gedankenarbeit zulassen. Dieser spezifischen Qualität von Freiräumen entspricht eine spezifische Qualität des Handelns, charakterisiert durch die Abwesenheit des Irgend-etwastun-Müssens. Akteure erfahren die Freiheit, dass nichts passieren muss, als kostbaren Wert, den sie sich mitunter durch pragmatische Kompromisse über exis-
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Conclusio
tenzsichernde Erwerbstätigkeiten leisten. Umgekehrt jedoch korrelieren Praktiken des Freiräumens auch mit der immanenten Notwendigkeit, dass etwas getan werden muss. Wo Praxis als Selbstzweck fungiert und Dinge um ihrer selbst willen getan werden, kommt ein nahezu unpersönlicher Entfaltungsprozess zum Tragen, in dem sich die Bedeutung des Schaffens entlang affektiver Dimensionen und kollektiver Relationen herauskristallisiert. Das Herauskristallisieren umschreibt eine Ontologie des Werdens, in der das eine zum anderen führt, Dinge ihren Lauf nehmen, sich anbieten oder sich ergeben. Dementsprechend gestaltet sich auch der Lebensweg der Akteure nicht immer als persönlicher Werdegang, vielmehr als unpersönlicher Hergang der Dinge. So sehr Menschen ihren eigenen Weg gehen, so sehr ergeben sich einzelne Schritte von selbst, so dass am Ende weniger die Praxis aus dem Weg denn vielmehr der Weg aus der Praxis hervorgeht. All das muss nicht beliebig sein, vielmehr erlaubt es, die Lebensführung als ästhetische wie ethische Entfaltung von Kohärenz zu denken. Damit das Leben Gestalt annimmt, unternehmen Akteure verschiedene Schritte und Zwischenschritte – die Form ihres Gehens, ob schnell oder langsam, kontinuierlich oder abrupt, ist der ästhetische Gestaltwerdungsprozess ihres Lebens. Dabei können sie mitunter auch Umwege machen, „Seitensprünge des Denkens und der Existenz“ (Schmid 1998: 363), um neue Handlungs-, Möglichkeits- und Experimentierräume ihrer Selbstkonstitution zu erschließen. Nomadische Lebensläufe zeichnen sich gerade dadurch aus, dass das Individuum kein Reisender ist, dem ein Ziel vor Augen stünde, vielmehr ein Wanderer, der mit offener Perspektive dem Weg folgt, der sich vor ihm ausbreitet. Dies macht den Nomaden zu einer exemplarischen Gestalt des Nietzscheanischen freien Geistes, der „auf den Versuch hin“ lebt (Nietzsche 1999b: 18). Die ethische Dimension der Kohärenz wird aus dem spezifischen Verhältnis der Akteure zu ihrer Praxis ersichtlich, welches aus der immanenten Entfaltungslogik ihrer Lebensführung hervorgeht. Zum einen führen die Akteure, darin ganz sich selbst verantwortlich, ihre „Herzensprojekte“ und „Steckenpferde“ aus, zum anderen gehen sie dem nach, was sich als verfolgenswert zeigt und handeln damit verantwortlich im Sinne der Praxis. Verantwortung ist aber nicht nur dem Selbst und der Praxis geschuldet, sondern auch dem kollektiven Handlungsgefüge, das überhaupt erst die Bedingungen und Möglichkeiten des Schaffens hervorbringt. Das Gefüge der p.m.k funktioniert im Wesentlichen durch unterschiedliche Ausprägungen von Angewiesenheit und Verbundenheit. Die heterogenen Akteure teilen gemeinsame Praxishorizonte, aus denen sich übergreifende Bedeutungsund Sinnzusammenhänge ergeben. Dies zeigt sich etwa in den kollektiven Aushandlungsprozessen von Qualität und Professionalität, die spezifische Haltungen und Ausrichtungen des Praxiskollektivs hervorbringen. Dass eine Haltung noch kein Standpunkt, eine Ausrichtung noch keine Positionierung ist, zeigt sich in
Conclusio
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der Diskussionskultur, in der unterschiedliche Meinungen in einem leeren Raum des Dialogs – repräsentiert durch das Gremium des Beirats – eingebracht werden, ohne schon in eine gleiche Auffassung münden zu müssen. Vielmehr wird ein gemeinsamer Verstehenshorizont etabliert, in dem respektvolle Interaktion über Vertrauen, Aufrichtigkeit und Selbstachtung erfolgt, aber auch über die Notwendigkeiten des Nachfragens, Eintretens, Befürwortens, Erklärens und Behauptens. Wenngleich vielfältige Formen des Recht-Gebens, Recht-Habens und Recht-Nehmens Verständnis und Anteilnahme füreinander fördern, so kann dennoch nicht jedes Zur-Sprache-Bringen verhindern, dass Akteure aneinander vorbeireden. Gerade in solchen Fällen zeigt sich die Bedeutung von gleichen Wellenlängen, wenngleich diese noch nicht grundsätzlich und nicht immer notwendig sind, um gemeinsam etwas zu machen. Ist es aber der Fall, dass Akteure ähnlich ticken und entlang adäquater Ideen miteinander arbeiten, dann können wir Dynamiken eines eingespielten Teams erkennen, in dem Akteure von selbst wissen, was es braucht oder aber überhaupt die Dinge sich von selbst verstehen. Bezugnehmen und Bezuggeben, Dabeisein und Dahinterstehen, Mitmachen und Mitgehen, Teilhaben und Teilnehmen – all das sind Dimensionen, in denen sich die Kohärenz des Gefüges artikuliert, ohne es zugleich auf einen gemeinsamen Nenner zu reduzieren. Der Eigensinn der Akteure und der Gemeinsinn des Kollektivs stehen in einem produktiven Wechselverhältnis, das sich durch Praktiken des Einbringens und Rausziehens, Einräumens und Herausnehmens konstituiert. Insofern verweist die Kohärenz auch auf einen kollektiven Stil, durch den das Gefüge Form annimmt (Spinosa et al. 1997: 19); ein Stil, der weder als Eigenschaft der Akteure noch des Gefüges zu denken ist, sondern als Effekt ihrer Verbundenheit und Angewiesenheit; ein Stil also, der erst aus den Zwischenräumen des Organisierens hervorgeht und damit die organisationale Kreativität des Gefüges ausmacht (Styhre & Sundgren 2005: 183). Die Machtverhältnisse des Gefüges zeichnen sich aus durch Heterarchien und horizontale Machtverteilungen, in denen sehr wohl treibende und mittreibende Kräfte, Anführer und Schwerpunkte differenziert werden können. Spannungen treten auf, wo aus dem kooperativen Zuarbeiten ein konkurrierendes Entgegenarbeiten wird, wo Nutzung und Aneignung des gemeinsamen Raums zu strittigen Formen des Gebrauchs und Missbrauchs führen. In solchen Fällen bedarf es Formen des Einlenkens und Ausgleichens, die sich entlang von Bahnen und Schienen der Konfliktlösung ausbreiten. Hier tun sich Spielräume des Miteinander-Umgehens auf, in denen Akteure einander einbremsen und eingrenzen, sich ausreden und ausreden lassen, vermittelnd hineinfahren und wechselseitig klären. Es sind dies Momente der sozialen Kontrolle, in denen sowohl die Selbstdisziplinierung der Akteure gefordert als auch ihre Bindung zum Gefüge gefestigt oder gelockert wird. Für die Festigkeit oder Verletzbarkeit des organi-
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sationalen Zusammenhangs sind gerade die immateriellen Ressourcen des Kollektivs und die praktizierten Modi der zwischenmenschlichen Austauschbeziehungen entscheidend. Denn im gegenseitigen Umgang spiegelt sich ein Moment von Vertrautheit wider, in dem es nicht nur darum geht, dass Akteure einander vertrauen, sondern auch darum, dass sie darauf vertrauen, einander zu respektieren. Respekt und Anerkennung bilden somit die ethischen Voraussetzungen, dass Akteure sowohl hinter dem Kollektiv stehen als auch dafür einstehen; dass sie also kritisch wie schützend dahinter sind und wachsam bleiben. So erschließen sich auch die unterschiedlichen Dimensionen der „Demokratiefähigkeit“ der Akteure als Bindemittel des Gefüges: Respekt und Offenheit, Vertrauen und Verbundenheit, Neugierde und Dialogbereitschaft, Selbstdisziplinierung und Selbstachtung, Freundschaft und Aufrichtigkeit, Rücksicht und Entgegenkommen, Wertschätzung und Anteilnahme. Die Kohärenz des Gefüges lässt sich durch die Metapher des körperlosen Familienbunds veranschaulichen, in dem kollektive Begeisterung und Betroffenheit, ein gemeinsames Mitgehen und Übereinkommen, schließlich ein wechselseitiges Entgegenkommen und SichWiederfinden möglich werden. Hier genügt sich bereits der Sinn des Dabeiseins als Selbstzweck und wird laufend aktualisiert durch das kollektive Aufgehen in Ereignissen. Das führt uns zur Macht der Multitude, die allein schon aus der geteilten Freude und kollektiven Begeisterung erwächst. Freundschaften sind darin Ausdruck von konstitutiver Macht ebenso wie von sinnstiftender Praxis. Die „Ästhetik der Existenz“ (Foucault 2007), wie sie aus den Lebensentwürfen der Individuen hervorgeht, findet ihre Entsprechung auf kollektiver Ebene und kann durch die Macht der Multitude über sich hinausgehen. Das gemeinsame Ausleben von Affekten und Leidenschaften entfaltet eine Intensität von Ereignissen, die das unmittelbare Praxiskollektiv transzendiert und im Mitgehen und Mitziehen des Publikums ankommt. Praxis, verstanden als Artikulation von Präsenz, zeitigt eine Wirkungsmacht, die allein schon aus der Generierung von Vielfalt einen Raum bereichert. Die Hingabe zur Vielfalt enthält dabei auch ein strategisches Moment, insofern sich die Akteure nirgendwo reinstellen lassen. Im Entzug von Festschreibungen zeigen sich Fluchtlinien der Deterritorialisierung und Desubjektivierung, wodurch sich gleichzeitig virtuelle Passagen auftun und neue Handlungsräume kanalisiert werden. Deshalb beschränkt sich die Macht der Multitude nicht mehr auf die Realisierung dessen, was im Rahmen des Möglichen liegt; vielmehr bezieht sie sich auf die Aktualisierung jener Kräfte und Räume, die sich durch Heterogenität und Konnexion virtuell eröffnen. Wenngleich damit ein singuläres Moment von Heimat erfahrbar wird, das die ontologische Verbundenheit und Angewiesenheit zu einem Ort als Raum bezeichnet, so stellt das dahinterstehende Praxiskollektiv doch nicht mehr als eine „Gemeinschaft ohne Ge-
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meinschaft“ (Derrida 2002) dar. Nie mit sich selbst ident, bleibt das Gefüge angewiesen auf ein konstitutives Außen. Damit ist schließlich auf die Eingebettetheit der p.m.k in ihren soziostrukturellen Kontext hingewiesen, aus dem sie hervorgegangen ist. Bedürfnis und Bedarf nach Kultur, wie sie gerade zu Beginn des Konstitutionsprozesses dem umfassenden Vakuum eines Ortes, an dem nichts oder nicht das Richtige los ist, entgegengehalten wurden, sind nicht als ein- für allemal zu realisierende Bestimmungen zu verstehen, denen sich das Kollektiv verschrieben hat. Vielmehr enthüllen sie vielfältige Momente einer Mission, die sich durch die Schaffung eines „Mehrwerts“ von Kultur fortwährend aktualisieren. Die Produktion und Transformation des Umfelds findet im Sinne einer Bereicherung statt, die durch „relevante“ Kulturarbeit eine spannende und lebendige Atmosphäre schafft. Mag zwar die freie Kulturszene in Innsbruck aus struktureller Sicht nie gänzlich frei sein, so herrschen inzwischen doch ein lebendiges Klima und eine positive kulturelle Stimmung in der Stadt, durch die exklusive Ereignisse möglich geworden sind, ohne konkurrierende Ausschlussmechanismen von Hoch-, Populär- und Subkultur zu reproduzieren. Anders gesagt: Das Gefüge der p.m.k zeigt, dass für die Kulturschaffenden der freien Szene in Innsbruck ein Organisieren von Freiheit möglich geworden ist, durch das Ideen kollektiv ins Leben gerufen werden und Menschen zueinander in produktive Spannung treten. Gewiss, die hier vorgestellten „Ergebnisse“ haben, quantitativ gesehen, keine statistisch nennenswerte Repräsentativität. Da diese Befunde unmittelbar nicht für mehr Menschen stehen können als für die direkt in der Fallstudie befragten und beobachteten, kann empirische Generalisierbarkeit auch nicht der Anspruch von exemplarischer Erkenntnis sein. Allerdings ist diese begrenzte Repräsentativität weniger eine Not denn eine Tugend, geht es doch vor allem darum, ein konkretes Phänomen in seiner spezifischen Kontextgebundenheit und komplexen Gesamtheit umfassend zu beschreiben. Sehr wohl streben wir damit das Kriterium der Aussagekraft an, insofern die Bedeutung des Einzelfalls über diesen hinausgeht. Weniger in ihrer empirischen Realität, vielmehr in ihrer theoretischen Signifikanz sollte also die Übertragbarkeit der hier erzielten Erkenntnisse deren Relevanz begründen. Schließlich heißt Anwendbarkeit für qualitative Forschung nur selten Generalisierbarkeit, meist hingegen Übertragbarkeit. Aufgrund dieser methodologischen Charakteristika exemplarischer Erkenntnis müssen wir nach der theoretischen Generalisierbarkeit von Freiheitspraktiken, speziell von nomadischen Praktiken, sowie nach ihrem Erklärungspotential für andere Arbeits- und Organisationsfelder fragen, um die Implikationen solcher Ergebnisse adäquat einschätzen zu können. Es mag sein, dass Konzeptionen wie die Kompositionsebene des Organisierens, die Immanenz der Praxis, Deterritorialisierung oder Fluchtlinien eine anspruchsvolle Ontologie entwerfen,
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die eine Reihe emanzipatorischer Anklänge mit sich bringt. Allerdings ist es gerade der Begriff der Emanzipation, der zur Disposition steht, wenn wir Macht nicht als Synonym für Ordnung oder System diskutieren, sondern als relationalen Modus, der sich auf verschiedene Handlungsdimensionen und Kräftearrangements bezieht. Umgekehrt bedeutet ein solches prozessuales Machtverständnis mitnichten, real existierende Herrschaftsverhältnisse zu leugnen. In ihnen mag Macht tatsächlich als Eigenschaft oder Eigentum erscheinen, selbst wenn dies nur ihre Effekte sind. Demgegenüber kann ein prozessualer Ansatz wie der hier angewandte erklären, wie sich Macht durch Relationen und Konnexionen, durch unterschiedliche Formen von Praxis und Organisation entfaltet. Wie wir gesehen haben, verweist die Kompositionsebene im vorliegenden Fall auf eine spezifische Form von Praxiskollektiv. Die daraus erwachsende Handlungsplattform fußt nicht auf vorgegebenen Strukturen, vielmehr konstituiert sich die p.m.k aus ihrer immanenten Entfaltungslogik und wird als freies Kräftefeld entlang eines offenen Prozesses des Werdens organisiert. Nomadische Praktiken stellen in dieser Hinsicht womöglich jene Praxisform dar, deren Beschreibung und Erklärung an das heranführt, was Foucault (1993a: 10) einmal die „Praktiken der Freiheit“ genannt hat. Insofern geht die Bedeutung des hier vorgestellten Einzelfalls durchaus über diesen hinaus, da seine theoretische Aussage auf andere Fälle übertragen werden kann. Solche Fälle betreffen nicht nur ähnlich gelagerte Arbeits- und Organisationsfelder im Kultursektor, sondern generell alle sozialen Praxisfelder, insofern sie von Machtrelationen durchdrungen sind und damit die Möglichkeit von Freiheit voraussetzen. Wenn nomadische Praktiken nicht entlang materieller Mittel-Zweck-Relationen ausgerichtet sind, sondern entlang immaterieller Kategorien, die alle um die Dimensionen der Freiheit kreisen, dann drückt sich darin gleichfalls eine politische Gesinnung aus, die sich nicht über vorübergehendes Handeln, sondern über dauerhafte Praxis artikuliert. Die Konstitution kollektiver Sinnzusammenhänge findet nie ein Ende, denn, Hannah Arendt (2003: 184) folgend, ein Sinn muss „beständig sein, und er darf von seinem Charakter nichts verlieren, wenn er sich erfüllt, oder besser, wenn er dem Menschen in seinem Tun aufgeht oder sich ihm versagt und ihm entgeht“. Sinn erfüllt sich nicht ein- für allemal, vielmehr bleibt er eine stete Herausforderung – ethisch, ästhetisch und politisch. Aufgrund dieser allgemeinen Dimensionen von Freiheit, Sinn und Praxis beanspruchen die hier dargestellten Möglichkeiten individueller Selbstkonstitution wie kollektiver Selbstkomposition eine politische Relevanz, die über den häufig marginalisierten, häufig romantisierten oder gar heroisierten Kreis von Kulturschaffenden hinausgeht. Und dennoch – weiterführende Vergleiche müssen stets jener Einschränkung gewahr bleiben, dass die p.m.k eine außerordentliche Singularität darstellt. Umgekehrt macht allein diese Einzigartigkeit schon ihre Darstellung sinnvoll.
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Literatur
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Anhang
Alle Interviews wurden anonymisiert, weshalb die zitierten Akteure ebenso wie die adressierten Vereine nicht mit ihren richtigen, sondern mit fiktiven Namen Eingang in die Darstellung finden. Die vollständigen Interviewtranskriptionen sind auf Anfrage beim Autor erhältlich. Im Folgenden ein Index der zu Wort kommenden Akteure und adressierten Vereine:
Zitierte Akteure Adi: Vorstandsmitglied der p.m.k und Gründungsmitglied eines Vereins, der Konzerte mit den Schwerpunkten Hip-Hop und Electronic veranstaltet. Armin: Akteur eines Filmvereins, der Filmvorführungen veranstaltet und eine eigene Zeitschrift herausgibt. Barbara: Putzfrau in der p.m.k. Camilla: Akteur eines Vereins, der diverse Kulturprojekte mit den Schwerpunkten Gender, Feminismus und Antikapitalismus veranstaltet. Christoph: Programmkoordinator und Vorstandsmitglied der p.m.k. David: Akteur eines Vereins, der Konzerte mit den Schwerpunkten Stoner, Doom, Drone, Sludge und Noise Rock veranstaltet. Erwin: Akteur eines Vereins, der Konzerte mit den Schwerpunkten Punk, Garage, 60ties und Trash veranstaltet, zusätzlich eine Musikzeitschrift herausgibt. Frank: Techniker in der p.m.k. Georg: DJ und Akteur eines Vereins, der elektronische Konzerte mit den Schwerpunkten Drum ’n’ Bass und Dub Step veranstaltet. Harald: im selben Verein tätig wie David. Leon: im selben Verein tätig wie Adi. Matthias: DJ und Akteur bei „Strange Hero“. Milan: Akteur eines Vereins, der Projekte im Bereich der Medienkunst veranstaltet. Oliver: Akteur bei „El Gaucho“. Paul: Akteur eines Produktionsnetzwerkes, das Siebdrucke herstellt. Robert: im selben Netzwerk tätig wie Paul. Sebastian: Vorstandsmitglied der p.m.k und DJ, unter anderem gemeinsam mit Matthias bei „Strange Hero“. Ursula: Geschäftsführerin und Mitbegründerin der p.m.k.
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Anhang
Adressierte Vereine Arena Tirol: Verein, der Konzerte mit dem Schwerpunkten Metal, Death Metal, Grind Core und Gothic veranstaltet. El Gaucho: Filmverein, der Kurzfilme produziert, ein jährliches Filmfestival organisiert und mitunter auch Konzerte veranstaltet. Gürtellinie: Verein, der zum einen Konzerte mit den Schwerpunkten Punk und Hardcore, zum anderen Diskussions- und Informationsabende veranstaltet. Strange Hero: Verein, der einmal monatlich unter demselben Namen – aber mit wechselnden DJ’s – elektronische Konzerte veranstaltet. TKI: Tiroler Kulturinitiativen – Interessensvertretung für autonome Kulturarbeit in Tirol.