Natur als Heiligtum – Natur im Heiligtum* Joannis Mylonopoulos Seule la nature est inspiratrice, est vraie, et peut-être le support de l’œuvre humaine. Mais ne faites pas la nature à la manière des paysagistes qui n’en montrent que l’aspect. Scrutez-en la cause, la forme, le développement vital et faites-en la synthèse en créant des ornements. Charles l’Eplattenier¹
Charles l’Eplattenier, der Lehrer Le Corbusiers, bezieht sich in der zitieren Passage auf die Natur als Quelle der Inspiration für das Erschaffen von Architektur und nicht als Prototyp, den es zu imitieren und sklavisch „à la manière des paysagistes“ zu reproduzieren gilt. Natur sollte in architektonischen Formen symbolhaft, ornamental umgewandelt werden. Solche Lehren kombiniert mit einer profunden Kenntnis der antiken griechischen Architektur und Philosophie haben Le Corbusier, für den Natur eine elementare Basis des architektonischen Schaffens bilden sollte, geprägt.² Natur wurde von Le Corbusier nicht nur als Rahmen, sondern vielmehr als Material, geometrische Form, mathematische Gesetzmäßigkeit und lineare Abstraktion verstanden und so in Architektur transformiert bzw. mit Architektur harmonisch kombiniert. Eine solche Vorstellung von den Interaktionsmöglichkeiten zwischen gebauter Wirklichkeit und Natur darf für die antike Welt nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden.³ Auch wenn die Anleihen *
Eine frühere Version dieses Beitrags wurde im Mai unter dem Titel „Imitation und Integration landschaftlicher Elemente in griechischen Heiligtümern“ in Stuttgart im Rahmen des . Historisch-Geographischen Kolloquiums „Die Landschaft und die Religion“ vorgetragen. Ich möchte mich sehr herzlich bei dem Organisator der Tagung, Eckart Olshausen, und den Teilnehmern für die wertvollen Diskussionsbeiträge bedanken. Mein Dank gilt auch Fernande und Tonio Hölscher, die mich eingeladen haben, meine Gedanken zu diesem Thema in dem vorliegenden Sammelband zu veröffentlichen. Le Corbusier, L’Art décoratif d’aujourd’hui () . Siehe allgemein hierzu S. Menin – F. Samuel, Nature and Space: Aalto and Le Corbusier (). Zum Thema ‚Natur‘ in der griechischen Welt siehe zuletzt A. L. Giesecke, The Epic City. Urbanism, Utopia, and the Garden in Ancient Greece and Rome () -; P. Horden – N. Purcell, The Corrupting Sea. A Study of the Mediterranean History () - bieten eine allgemeine und doch provozierende Sicht auf das Thema ‚Landschaft und Religion‘.
DOI 10.1515/ARG.2008.004
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aus der Natur in der Formung und künstlerischen Ausprägung des korinthischen Kapitells – wodurch l’Eplatteniers Aufruf nach dem Beitrag der Natur „en créant des ornements“ bereits in der Antike wahr geworden wäre – offensichtlich sind und keiner eingehenden Diskussion bedürfen, hatte das Zusammenspiel zwischen Architektur und Natur in der antiken griechischen Welt noch nicht eine solche Ebene der Abstraktion und der vollständigen Abstimmung von natürlichen und von Menschen kreierten Elementen erreicht. Im antiken Griechenland war die natürliche Umgebung primär und aus guten Gründen eine großartige Kulisse für architektonisches Schaffen. Dass hierbei mit Architektur in erster Linie Tempelarchitektur gemeint ist, sollte besonders betont werden. Kein Altertumswissenschaftler wird der Aussage Walter Burkerts widersprechen können, dass die griechische Welt eindeutig als Tempelkultur charakterisiert werden sollte.⁴ Der Tempel des Poseidon auf dem Kap Sounion und die Heiligtümer des Apollon im Ptoon und in Delphi – um lediglich drei der bekanntesten Beispiele zu nennen – zeugen von der bewussten Wahl einer Örtlichkeit für die Gründung einer Kultstätte und der eindrucksvollen Verbindung von Architektur und Natur zum Zweck der Betonung und Erhöhung der sakralen Aura eines heiligen, von Menschen beeinflussten Ortes (Abb. 1).⁵ Die enge Verknüpfung zwischen landschaftlicher Umgebung und Religion wird noch heute jedem, der den heiligen Berg Athos besucht, aufs eindrucksvollste bewusst. Zu den imposantesten Bauten auf dem Athos gehört mit Sicherheit das Kloster Simonos Petra, das der Legende nach um die Mitte des 14. Jhs. n. Chr. gegründet wurde, nachdem der Asket Simon ein Licht auf dem Felsen erblickte, auf dem später das Kloster errich-
W. Burkert, „The Meaning and Function of the Temple in Classical Greece“, in: M. V. Fox (Hg.), Temple in Society () . Jedes dieser drei Heiligtümer demonstriert auf eine leicht unterschiedliche Art, wie sakrale Architektur Natur als erhöhenden Rahmen optimal nutzt und dadurch selbst zu einem optischen, künstlich erschaffenen Referenzpunkt in der natürlichen Umgebung wird: Der Tempel des Poseidon auf Sounion thront majestätisch auf dem Kap; es wundert nicht weiter, dass die allerersten Worte des Periegeten Pausanias (I, , ) dem Kap Sounion und seinem Tempel gewidmet sind (von Pausanias mit dem Tempel der Athena Sounias identifiziert): Τῆς ἠπείρου τῆς Ἑλληνικῆς κατὰ νήσους τὰς Κυκλάδας καὶ πέλαγος τὸ
Αἰγαῖον ἄκρα Σούνιον πρόκειται γῆς τῆς Ἀττικῆς· καὶ λιμήν τε παραπλεύσαντι τὴν ἄκραν ἐστὶ καὶ ναὸς Ἀθηνᾶς Σουνιάδος ἐπὶ κορυφῇ τῆς ἄκρας. Das Apollonheiligtum im Ptoon befindet sich auf einem Berg und bietet einen atemberaubenden Blick auf den Kopais-See und die sich davor erstreckende Ebene. Das Apollonheiligtum in Delphi – die vielleicht landschaftlich imposanteste Kultstätte der antiken griechischen Welt – schmiegt sich wie eine Theateranlage an die zerklüftete, fast senkrecht abfallende südliche Seite des Parnassos, direkt unterhalb der Phädriaden, und präsentierte sich in der Antike in mehreren Ebenen sowohl den Besuchern, die von Osten die Landstraße nehmend kamen, als auch denen, die auf dem Seeweg und über Kirrha das Heiligtum erreichten.
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Abb. 1: Oben: Blick auf das Poseidonheiligtum auf Kap Sounion; Mitte: Blick vom Apollonheiligtum im Ptoon; unten: Blick auf das Apollonheiligtum in Delphi.
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tet werden sollte.⁶ In der antiken griechischen Tradition würde man von einer Kratophanie, vergleichbar mit den Zeus’schen Blitzeinschlägen, sprechen, welche die Örtlichkeit geheiligt hat. Dieselbe Verknüpfung zwischen Natur und Religion lässt sich in Le Corbusiers fast surrealistischer Kirche Notre Dame du Haut im französischen Ronchamp ablesen. Im Sinne antiker Vorstellungen befindet sich die nicht besonders große Kirche erhöht auf einem Hügel mit freiem Blick in alle vier Himmelsrichtungen.⁷ Allerdings steht im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags nicht die Positionierung von Heiligtümern in einem räumlichen Kontext, sondern die Frage nach der Funktion von landschaftlichen Elementen als eigenständigen Kultplätzen, weiterhin nach ihrer Integration in einen größeren Komplex und schließlich nach ihrer mehr abstrakten, symbolhaften als genauen Imitation im Kontext eines architektonisch definierten und definierbaren Heiligtums.
Natur als Heiligtum Eine wertvolle Innenansicht zum antiken Verständnis der Verbindung zwischen Landschaft und Religion erlaubt uns Seneca in einem seiner Briefe an Lucilius: Kommst Du in einen Hain, dicht bestanden mit alten Bäumen, die das gewöhnliche Höhenmaß überschreiten, wird dir der Anblick des Himmels entzogen durch das Gewirr mächtiger, einander verdeckender Zweige, dann wird die Erhabenheit des Waldes, das Geheimnisvolle des Ortes und das Staunen über das dichte, ununterbrochene Schattendach unter freiem Himmel in dir den Glauben an die Gottheit wachrufen. Findest du eine Grotte, die durch zerklüftete, ausgefressene Felsen den Berg bis tief hinein unterhöhlt hat, nicht von Menschenhand geschaffen, sondern durch Naturkräfte in solcher Größe ausgearbeitet, dann wird die Ahnung einer göttlichen Kraft deine Seele erfüllen. Wir verehren die Quellen großer Flüsse als heilige Stätten. Die plötzliche Entstehung eines
F. Spunda, Der heilige Berg Athos. Landschaft und Legende () f.: „Simonos Petra aber geht über unsere Vorstellungskraft hinaus durch das Wuchern seiner Steilheits-Idee; es ist ein Zerbrechen aller räumlichen Baubegriffe, fast schon ein Frevel […] Von unten, von der gestaffelten Bucht […] erscheint das Kloster wie eine gemalte Kulisse […] Vor mir aber flammt Simonos Petras Steilwand wie weißglühendes Eisen“. Trotz der romantisierenden Beschreibung kommt man nicht umhin, bereits im Vorfeld die Planung einer zu erzielenden Wirkung solch sakraler Gebäude in einer dermaßen imposanten natürlichen Umgebung anzunehmen. H. Hertzberger, Space and the Architect () : „Whether or not you find it beautiful, you may wonder if that is the way to crown the top of a hill, like an untamed species of Parthenon. You can advocate or vilify it but it is impossible to ignore it.“ Hertzberger spricht mit diesen zwei kurzen Sätzen Aspekte wie die Positionierung der Kirche sowie die Anspielung auf die antike griechische sakrale Architektur und ihre kommunikative Interaktion mit der natürlichen Umgebung an.
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gewaltigen Stromes, aus dem Unbekannten heraus, läßt uns Altäre gründen. Verehrung finden die heißen Quellen, und manchem stehenden Gewässer hat die schattige Lage oder die unergründliche Tiefe Weihe verliehen (E. Glaser-Gerhard).⁸
Senecas Text ist in vielerlei Hinsicht außerordentlich interessant: Der Leser wird in einer ersten, relativ direkten Ebene über die Mannigfaltigkeit potentieller heiliger Naturräume informiert; es handelt sich um Haine, Grotten, die Quellen von Flüssen, Wasserströme, Quellen und Seen. Und doch erläutert Seneca in einer weiteren, quasi exegetischen Ebene die besonderen Charakteristika, die aus einem Ort der Natur einen Sitz des Heiligen machen können. Die Bäume solcher Haine bilden eine undurchdringbare, fast unheimlich wirkende Trennung zwischen Erde und Himmel; Grotten reichen tief und in wilden Felsformationen bis in die Unterwelt, aber vor allem sind sie nicht von Menschen geschaffen; Flüsse und Wasserströme sind in ihrer Größe imposant; die Quellen sind heiß und stellen hierdurch eine Ausnahme von der Regel kühlender Wasserquellen dar, während Seen dunkel wirken und unergründlich tief sein sollen. Das Unerwartete, das Außergewöhnliche, das Unheimliche, die Abwesenheit menschlichen Wirkens in der Entstehungsgeschichte dieser Naturerscheinungen lässt in Senecas Worten die Seelen der Sterblichen von göttlicher Kraft erfüllt werden. Die Übertragung von Informationen, die man dem Werk eines lateinischen Autors entnehmen kann, auf die antike griechische Realität könnte zumindest methodisch als problematisch angesehen werden. Und doch gibt es einige, wenn auch nicht so ausführliche griechische Texte, die eindeutig in dieselbe Richtung weisen und das Besondere, das ‚Heilige‘ einer Landschaft oder eines speziellen landschaftlichen Elements preisen. Der platonische Dialog Phaedrus findet unter einer Platane in der Nähe einer Quelle statt, und Sokrates verherrlicht die Schönheit und die Höhe des Schatten spendenden Baums, den Duft der Blüten, die erfrischende Wirkung des kalten Wassers der Quelle, die angenehme Luft, die ‚Musik‘ der Zikaden und das wunderbar anmutende Gras. Der einzige Eingriff des Menschen scheinen Votive zu sein, die Sokrates dazu verleiten, in dem offensichtlich sonst unberührten Ort eine Kultstätte des Acheloos und der Musen zu vermuten.⁹
Seneca, Epistulae morales , : Si tibi occurrerit vetustis arboribus et solitam altitudinem egressis frequens lucus et conspectum caeli ramorum aliorum alios protegentium summovens obtentu, illa proceritas silvae et secretum loci et admiratio umbrae in aperto tam densae atque continuae fidem tibi numinis faciet. Si quis specus saxis penitus exesis montem suspenderit, non manu factus, sed naturalibus causis in tantam laxitatem excavatus, animum tuum quadam religionis suspicione percutiet. Magnorum fluminum capita veneramur; subita ex abdito vasti amnis eruptio aras habet; coluntur aquarum calentium fontes, et stagna quaedam vel opacitas vel inmensa altitudo sacravit. Plato, Phaedrus b-c: Νὴ τὴν Ἥραν, καλή γε ἡ καταγωγή. ἥ τε γὰρ πλάτανος αὕτη μάλ’ ἀμφιλαφής τε καὶ ὑψηλή, τοῦ τε ἄγνου τὸ ὕψος καὶ τὸ σύσκιον πάγκαλον, καὶ ὡς
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Wie Mircea Eliade treffend bemerkte, kann der Mensch, „welche Spannung nun auch zwischen dem heiligen und dem profanen Raum bestehe, nicht ohne einen solchen heiligen Raum leben“.¹⁰ Aber was macht eine Örtlichkeit heilig und lässt eine andere ‚profan‘ bleiben? Sind bestimmte Orte oder Naturerscheinungen per se heilig oder werden sie von Menschen entdeckt, als heilig erklärt und durch rituelle Handlungen geheiligt? Eliade, der sich intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt hatte, war der Auffassung, dass ein Ort allein durch seine natürliche Erscheinung heilig sein kann; es gäbe eine absolute Idee des „Heiligen Ortes“, dessen physische Manifestationen erst durch das Eingreifen des Menschen zu geheiligten Orten werden.¹¹ In einfachen Worten: Eine geheimnisvolle Grotte, eine natürliche Quelle, ein Hain sind durch ihre Erscheinung per se im Sinne Senecas heilige Orte. In der Tat aber ist es die menschliche Aktivität an solchen Orten, die sie zu geheiligten Plätzen, zu Kultstätten macht. Nicht jede Grotte oder Quelle wird zum Bestandteil einer Kultstätte, wie auch Senecas Text impliziert, aber sie haben das Potential dazu. Im Folgenden soll auf verschiedene Elemente der natürlichen Umgebung des Menschen kurz eingegangen werden, die mehr oder weniger in ihrer Eigenständigkeit als Kultstätten verstanden und verwendet wurden.
Grotten Bereits in neolithischer Zeit werden in Griechenland Grotten von Menschen intensiv genutzt. In dieser Zeit dienen sie selten als Behausungen, vor allem dagegen als Grabstätten.¹² Eine religiöse Konnotation durch die Verbindung mit der Welt der Toten lässt sich also schon zu diesem frühen Zeitpunkt erkennen. Die Vorstellung von Grotten als transzendentalem Punkt zwischen Ober- und Unterwelt wird sich
ἀκμὴν ἔχει τῆς ἄνθης, ὡς ἂν εὐωδέστατον παρέχοι τὸν τόπον ἥ τε αὖ πηγὴ χαριεστάτη ὑπὸ τῆς πλατάνου ῥεῖ μάλα ψυχροῦ ὕδατος, ὥστε γε τῷ ποδὶ τεκμήρασθαι. Νυμφῶν τέ τινων καὶ Ἀχελῴου ἱερὸν ἀπὸ τῶν κορῶν τε καὶ ἀγαλμάτων ἔοικεν εἶναι. εἰ δ’ αὖ βούλει, τὸ εὔπνουν τοῦ τόπου ὡς ἀγαπητὸν καὶ σφόδρα ἡδύ· θερινόν τε καὶ λιγυρὸν ὑπηχεῖ τῷ τῶν τεττίγων χορῷ. πάντων δὲ κομψότατον τὸ τῆς πόας, ὅτι ἐν ἠρέμα προσάντει ἱκανὴ πέφυκε κατακλινέντι τὴν κεφαλὴν παγκάλως ἔχειν. M. Eliade, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte () . Ebenda : „Der Ort wird keinesfalls vom Menschen ‚gewählt‘, er wird nur von ihm ‚entdeckt‘; anders ausgedrückt, der sakrale Raum offenbart sich ihm auf die eine oder andere Weise.“ A. Zois, Κρήτη – Ἐποχή τοῦ Λίθου () sammelte zuletzt die Daten zur kultischen Nutzung kretischer Grotten in der Steinzeit (z. B. Agios Ioannis: ; Ellinospilios (?): ; Koumarospilios: ; Platyvola (?): ; Skaphidia: f.; Stravomiti: ).
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hartnäckig bis in die Spätantike erhalten.¹³ Zahlreiche Grotten wurden im Altertum als Pforten in das Reich des Hades angesehen;¹⁴ zwei der berühmtesten befanden sich im Heiligtum der Demeter in Eleusis¹⁵ und im Heiligtum des Poseidon Tainarios in Lakonien (Abb. 2);¹⁶ es handelt sich allerdings um prominente Beispiele für die Integration landschaftlicher Merkmale in eine Kultstätte und nicht um eigenständige Kult- Abb. 2: Der innere Bereich des Poseidonheiligtums am Kap Tainaron. grotten.¹⁷ Die bedeutendste Kultgrotte der Antike war mit Sicherheit die Idäische Zeusgrotte auf Kreta. Hier versteckte Rhea den kleinen Zeus vor seinem Vater Kronos.¹⁸ Nach einer anderen, weniger verbreiteten Variante des Mythos wurde Zeus in dieser Grotte nicht nur versteckt, sondern auch geboren.¹⁹ Berühmt sind unter den zahlreichen Funden die spätgeometrisch / archaischen Votivschilde
Vgl. bes. P. Faure, Fonctions des cavernes cretoises () -. Faure präsentiert eine Liste aller ihm bekannten Grotten auf Kreta, die als Grabstätten, Behausungen und Kultstätten zwischen der Neolithischen und der Kaiserzeit benutzt wurden. Siehe allgemein U. Egelhaaf-Gaiser – J. Rüpke, „Orte des Erscheinens – Orte des Verbergens. Höhlen in Kult und Theologie“, Orbis Terrarum () -, wobei der Gleichsetzung des Totenorakels am Acheron mit dem von Sotirios Dakaris ausgegrabenen Gebäude zu widersprechen wäre (s. u.). K. Clinton, Myth and Cult. The Iconography of the Eleusinian Mysteries () -. J. Mylonopoulos, Πελοπόννησος οἰκητήριον Ποσειδῶνος. Heiligtümer und Kulte des Poseidon auf der Peloponnes. Kernos, Suppl. () -. K. Sporn, „Höhlenheiligtümer in Griechenland“, in: Chr. Frevel – H. v. Hesberg (Hgg.), Kult und Kommunikation. Medien in Heiligtümern der Antike () - macht keine Unterscheidung zwischen Kulthöhlen als Teil eines größeren Komplexes und solchen, die eigenständig als Kultstätten benutzt wurden. Diodor , , -: δοῦναι λάθρᾳ τοῖς Κούρησιν ἐκθρέψαι τοῖς κατοικοῦσι πλησίον ὄρους τῆς Ἴδης. τούτους δ’ ἀπενέγκαντας εἴς τι ἄντρον παραδοῦναι ταῖς Νύμφαις, παρακελευσαμένους τὴν πᾶσαν ἐπιμέλειαν αὐτοῦ ποιεῖσθαι. Kallimachos, In Jovem , : Ζεῦ, σὲ μὲν Ἰδαίοισιν ἐν οὔρεσί φασι γενέσθαι. Ausführlicher zu den verschiedenen kretischen mythologischen Traditionen siehe H. Verbruggen, Le Zeus Cretois () -.
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aus Bronze, hergestellt teilweise auf Kreta teilweise im Orient.²⁰ Das reiche archäologische Material und die literarischen Quellen verraten uns, dass die Idäische Grotte eine internationale Pilgerstätte war, in der nach Hendrik Verbruggen unter anderem auch Initiationen kollektiven Charakters stattfanden.²¹ So groß war die Bedeutung und die Ausstrahlung dieser Kultgrotte, dass sie als Ort der religiösen Kultausübung bis in das 12. Jh. n. Chr. Erwähnung in den literarischen Quellen findet.²² Am häufigsten wird allerdings ein anderer Gott in Grotten verehrt: der theriomorphe Pan. Neben Arkadien war sein Kult besonders in Attika verbreitet. Mehrere Kultgrotten in dieser Landschaft waren Pan geweiht.²³ In der Landschaft Phokis deuten das archäologische Material sowie die Einrichtung eines Weges, der Delphi mit der Korykeischen Grotte verband, darauf hin, dass diese Grotte als eine der bedeutendsten Kultstätten des Pan und der Nymphen angesehen werden muss.²⁴ Nach Katja Sporns Überblick waren in der Tat die meisten Grotten Pan und den Nymphen geweiht,²⁵ während andere Gottheiten oft später dazu gesellt wur H. Matthäus, „Die idäische Zeus-Grotte auf Kreta. Griechenland und der Vordere Orient im frühen . Jahrtausend v. Chr.“, Archäologischer Anzeiger , - bes. . Jüngst interpretierte N. C. Stampolides, „Από την Ελεύθερνα και το Ιδαίον: μια απόπειρα ερμηνείας χαμένων τελετουργιών“, Eulimene - (-) - die Votivschilde aus der Idäischen Grotte auf der Basis ähnlicher Funde aus der Nekropole von Eleutherna als Deckel von Graburnen oder von Bronzekesseln. Da solche Objekte als multifunktional angesehen werden sollten – auch Bronzephialen wurden als Deckel von Grabamphoren verwendet –, schließen sich die zwei Deutungen nicht gegenseitig aus. Für die kunsthistorische Auswertung dieser Objekte bleibt E. Kunze, Kretische Bronzereliefs () die Referenzarbeit. Verbruggen, Zeus Cretois, a. O. (Anm. ) - bes. -. Riten initiatorischen Charakters werden auch für die Pan-Grotte in Vari angenommen, siehe G. Schörner – H. R. Goette, Die Pan-Grotte von Vari () . A. Chaniotis, „Μια άγνωστη πηγή για τη λατρεία στο Ιδαίο Άντρο στην ύστερη αρχαιότητα“, in: Πεπραγμένα του Στ΄ Διεθνούς Κρητολογικού Συνεδρίου () . Ph. Borgeaud, Recherches sur le dieu Pan (). Der Autor konzentriert sich fast ausschließlich auf den arkadischen Kult des Gottes; zu Pan in Athen S. -. Zum gemeinsamen Kult der Nymphen mit Pan in attischen Grotten siehe zuletzt J. Larson, Greek Nymphs. Myth, Cult, Lore () -. Die Grotte gehört darüber hinaus auch zu den besterforschten Kultgrotten Griechenlands, vgl. L’antre corycien I, Bulletin de correspondance hellénique, Suppl. () und L’antre corycien II, Bulletin de correspondance hellénique, Suppl. (). Sporn, „Höhlenheiligtümer“, a. O. (Anm. ) f. Allerdings ist keineswegs immer sicher, ob sich die verschiedenen Dedikationen auf Mitinhaber der Kultstätte beziehen oder ob solche Gottheiten von den Dedikanten einmalig und nur im Rahmen der eigenen individuellen Weihung erwähnt werden. Ein großes Heiligtum mit panhellenischer Wirkung wie das Asklepieion in Epidauros liefert ein gutes Beispiel für diese Haltung: Obwohl die ‚offi-
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den.²⁶ Von den Beispielen, die Sporn in Bezug auf andere individuell in Grotten verehrte Götter erwähnt, erscheinen vor allem die Grotte des Herakles Bouraïkos in Boura und die Grotte der Aphrodite in Naupaktos besonders interessant. Die Herakles-Grotte funktionierte als ein manteion, in dem Orakel mit Hilfe von Astragalen erteilt wurden,²⁷ während in Naupaktos Frauen und vor allem Witwen zur Aphrodite-Grotte gingen, um eine baldige Hochzeit zu erbitten.²⁸ Im Gegensatz zu Sporns Annahme erwähnt Pausanias keine Grotte in Bezug auf den Demeterkult auf dem megarischen Hügel Ikaria, sondern spricht ganz explizit von einem „gemachten“ megaron.²⁹ Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Kreta mit ihren unzähligen Kultgrotten eindeutig eine Ausnahme darstellt, sollte man sich die Frage stellen, ob Gottheiten außer Pan und den Nymphen, die in einer Grotte Verehrung fanden, in der lokalen Ausprägung ihres Kults außergewöhnliche Merkmale besaßen, wie die persönliche und sehr direkte Zukunftsbefragung vor der Statue des Herakles in Boura oder die erwähnenswerte Affinität der Witwen zum Aphroditekult in Naupaktos.³⁰
ziellen‘ Kultinhaber im epidaurischen Heiligtum Apollon Maleatas und Asklepios waren, sind unzählige Dedikationsinschriften überliefert, welche sich an die verschiedensten Gottheiten wenden. Das von Sporn angeführte Beispiel einer Dedikations-Felsinschrift aus dem . Jh. in Pharsalos ist in dieser Hinsicht problematisch, denn in einer älteren Felsinschrift wird eine Weihung ausschließlich an die Nymphen verewigt. Es ist vielleicht von Bedeutung, dass in der von Sporn zitierten Inschrift nur von Opfern an Pan die Rede ist, während die Existenz der Götter neben Pan und den Nymphen sehr poetisch durch ideelle Geschenke (Kraft, Gesundheit, Weisheit u. ä.) erklärt wird, die diese Götter Pantalkes, der Person der ersten Felsinschrift aus dem . Jh. gewährt hätten. Offensichtlich hielt der „Autor“ der zweiten Inschrift Pantalkes für den Gründer der Kultstätte; die zwei Inschriften stellen auf jeden Fall einen interessanten Fall von Intertextualität dar. Ausführlicher zu den zwei thessalischen Felsinschriften siehe J.-C. Decourt, Inscriptions de Thessalie I. Les cités de la vallée de l’Énipeus () -, Nr. . . Für die Pan-Grotte in Vari sind z. B. neben Pan und den Nymphen auch die Chariten, Apollon und ein Heros (?) namens Hersos überliefert, vgl. Schörner – Goette, Pan-Grotte, a. O. (Anm. ) -. Pausanias VII, , : Ἡρακλῆς οὐ μέγας ἐστὶν ἐν σπηλαίῳ· ἐπίκλησις μὲν καὶ τούτου Βουραϊκός, μαντείας δὲ ἐπὶ πίνακί τε καὶ ἀστραγάλοις ἔστι <λαβεῖν>. εὔχεται μὲν γὰρ πρὸ τοῦ ἀγάλματος ὁ τῷ θεῷ χρώμενος, ἐπὶ δὲ τῇ εὐχῇ λαβὼν ἀστραγάλους – οἱ δὲ ἄφθονοι παρὰ τῷ Ἡρακλεῖ κεῖνται – τέσσαρας ἀφίησιν ἐπὶ τῆς τραπέζης· ἐπὶ δὲ παντὶ ἀστραγάλου σχήματι γεγραμμένα ἐν πίνακι ἐπίτηδες ἐξήγησιν ἔχει τοῦ σχήματος. Pausanias X, , : Ἀφροδίτη δὲ ἔχει μὲν ἐν σπηλαίῳ τιμάς εὔχονται δὲ καὶ ἄλλων εἵνεκα καὶ αἱ γυναῖκες μάλιστα αἱ χῆραι γάμον αἰτοῦσι παρὰ τῆς θεοῦ. Sporn, „Höhlenheiligtümer“, a. O. (Anm. ) Anm. . Pausanias I, , : καὶ τῆς Δήμητρος τὸ καλούμενον μέγαρον· ποιῆσαι δὲ αὐτὸ βασιλεύοντα Κᾶρα ἔλεγον. Der Kult der Aphrodite in einer Grotte am libanesischen Mazraat el-Ouasta wird z. B. durch ihre Gleichsetzung mit Astarte erklärt, vgl. P.-L. Gatier, „Inscriptions grecques et
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Haine Trotz der Bedeutung und der internationalen Ausstrahlung einer Kultstätte wie der Idäischen Grotte sowie der häufigen Verehrung Pans in Grotten, spielen Haine als heilige Orte in der Antike eine weitaus wichtigere Rolle, da sie in kaum einem griechischen Heiligtum gefehlt haben. Was macht aber die Heiligkeit von Bäumen aus? In der spätgeometrischen und orientalisierenden Epoche finden wir häufig auf Gefäßen die Darstellung des sog. Lebensbaumes.³¹ Der Begriff „Lebensbaum“ ist in der Tat nicht zufällig gewählt, denn hier liegt die Erklärung für die Heiligkeit der Bäume: Sie sind eng mit dem Lebenszyklus verbunden, sie manifestieren die kontinuierliche Erneuerung der Natur.³² Wegen der heiligen Aura der Bäume eigneten sich Haine vorzüglich als Orte der Götterverehrung. Der in der Antike geläufige griechische Begriff für die Bezeichnung eines bewaldeten Landstücks mit eindeutig sakraler Nutzung war alsos. Allerdings konnte Darice Elisabeth Birge demonstrieren, dass der Begriff alsos doch mehrdeutig sein kann.³³ Bereits in den homerischen Epen wird dieser Begriff benutzt, und obwohl seine Bedeutung im Laufe der Zeit erweitert wird, bleibt die enge Verbindung zu einem aus Bäumen bestehenden sakralen Raum bestehen. Eine Stelle bei Lukian spricht von Hainen als dem anfänglichen Haus der Götter: Zuerst haben sie (die Menschen) für die Götter Haine abgesondert, Höhen geweiht, Vögel geheiligt und jeder Gottheit eine besondere Pflanze beigelegt; und dann habe jedes Volk für sich eine Gottheit verehrt und sie als bei sich wohnend betrachtet […]. Zuletzt endlich habe man den Göttern erst Tempel errichtet, damit sie nicht ohne Haus und ohne Herd sind, sowie Bilder, welche die Götter darstellten.³⁴
Die Forschung des 19. Jahrhunderts hat die heiligen Haine in Anlehnung an Lukian und weitere griechische und lateinische Autoren als eine frühe, vielleicht
latines du Proche-Orient: Questions de provenance“, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik () . P. J. Russell, „Tracing the routes of the tree of life from the Near East to Greece in the Iron Age“, in: Πρακτικά του Δεύτερου Κυπριολογικού Συνεδρίου, Λευκωσία 20-25 Απριλίου 1982, Band () -. Siehe allgemein die kulturvergleichende Studie von E. O. James, The Tree of Life (). D. E. Birge, Sacred Groves in the Ancient Greek World, Diss. UC Berkeley (). In einem hilfreichen Appendix liefert die Autorin die relevanten epigraphischen und literarischen Zeugnisse; siehe auch D. E. Birge, „Trees in the Landscape of Pausanias’ ‚Periegesis’“, in: S. E. Alcock – R. Osborne (Hgg.), Placing the Gods. Sanctuaries and the Sacred Space in Ancient Greece () -. Lukian, De sacrificiis -: καὶ πρῶτον μὲν ὕλας ἀπετέμοντο καὶ ὄρη ἀνέθεσαν καὶ ὄρνεα καθιέρωσαν καὶ φυτὰ ἐπεφήμισαν ἑκάστῳ θεῷ. μετὰ δὲ νειμάμενοι κατὰ ἔθνη σέβουσι καὶ πολίτας αὐτῶν ἀποφαίνουσιν […] Ἔπειτα δὲ ναοὺς ἐγείραντες ἵνα αὐτοῖς μὴ ἄοικοι μηδὲ ἀνέστιοι δῆθεν ὦσιν, εἰκόνας αὐτοῖς ἀπεικάζουσιν.
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sogar die ursprüngliche Form des sakralen Raumes angesehen.³⁵ Man wird jedoch in den heiligen Hainen lediglich eine der mannigfaltigen Formen des Sakralraums und keine frühe Entwicklungsstufe des griechischen Heiligtums im Sinne eines linearen Prozesses erkennen können. Ein Hain kann in manchen Fällen die eigentliche Kultstätte und in anderen wiederum einen wichtigen, aber doch nur einen manchmal sehr kleinen Teil eines Heiligtums darstellen. Viele der Sakralgesetze, die sich intensiv mit den verschiedenen Angelegenheiten einer Kultstätte auseinandersetzen, beschäftigen sich auch mit dem Schutz und der Nutzung der in den Heiligtümern vorhandenen Haine.³⁶ Zu den Gottheiten, die häufig in einem heiligen Hain verehrt werden oder Kultstätten besitzen, die einen Hain als wichtigen Bestandteil ihres Gesamtbildes aufweisen, gehören Artemis, Apollon, Demeter und Poseidon.³⁷ Die zwei berühmtesten heiligen Haine auf dem griechischen Festland waren die olympische Altis, die Teil eines größeren baulichen Zusammenhangs war und der Poseidonhain im böotischen Onchestos mit seinem berühmten rituellen Wagenrennen, der bereits in archaischer Zeit im homerischen Hymnus an Apollon eine wichtige Rolle spielt.³⁸ Im Gegensatz zu Olympia bestand die Kultstätte in Onchestos ausschließlich aus dem heiligen Hain. Archäologisch lassen sich heilige Haine äußerst schwer oder gar nicht nachweisen; die meisten uns bekannten Haine sind literarisch oder epigraphisch überliefert. Eine erfreuliche Ausnahme stellt in dieser Hinsicht der Poseidonhain beim korinthischen Penteskouphia dar. Hier wurden 1879 zahlreiche Votivpinakes des 7. und 6. Jhs. in einem tiefen Bachbett gefunden, die inzwischen in Berlin, Paris und Korinth aufbewahrt werden. In der Nähe des Fundortes konnten überhaupt keine architektonischen Reste entdeckt werden, so dass Adolf Furtwängler, der sich als erster mit den Pinakes auseinandergesetzt hat, die Vermutung äußerte, bei Penteskouphia sollte man einen Hain annehmen.³⁹ Allem Anschein nach wurde die Kultstätte vorwiegend von den Malern und Töpfern Korinths fre C. Boetticher, Der Baumkultus der Hellenen nach den gottesdienstlichen Gebräuchen und den überlieferten Bildwerken () -. M. P. J. Dillon, „The Ecology of the Greek Sanctuary“, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik () -; M. Horster, Landbesitz griechischer Heiligtümer in archaischer und klassischer Zeit () -; E. Lupu, Greek Sacred Law. A Collection of New Documents () f. Chr. Jacob, „Paysage et bois sacré dans la Périégèse de la Grèce de Pausanias“, in: O. de Cazanove – J. Scheid (Hgg.), Les bois sacrés. Actes du colloque international de Naples () -, bes. -; Horster, Landbesitz, a. O. (Anm. ) Anm. ; Mylonopoulos, Heiligtümer und Kulte des Poseidon, a. O. (Anm. ) -. G. Roux, „Sur deux passages de l’Hymne homérique à Apollon“, Revue des Études Grecques () -; A. Schachter, „Homeric Hymn to Apollo, lines - (the Onchestos episode). Another Interpretation“, Bulletin of the Institute of Classical Studies of the University of London () -. Mylonopoulos, Heiligtümer uund Kulte des Poseidon, a. O. (Anm. ) -.
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quentiert. Die große Mehrheit der Pinakes weist runde Löcher zum Durchziehen einer Schnur auf. Offensichtlich waren die Votivobjekte zum Aufhängen bestimmt, am wahrscheinlichsten an den Bäumen des Haines.⁴⁰ In der Antike scheint es eine bemerkenswerte Verbindung zwischen Hainen und Grabanlagen gegeben zu haben, die bereits von Carl Boetticher thematisiert und untersucht wurde, wobei in seiner Untersuchung keine strikte Unterscheidung zwischen Hainen für Heroen und den seltenen Beispielen für Sterbliche vorgenommen wird.⁴¹ In seinen Nomoi empfiehlt auch Platon die Anlegung von Hainen um ein Grab.⁴² Eine kleine Anzahl von weißgrundigen Grablekyhen liefert interessante visuelle Hinweise auf diese inhaltliche Verbindung zwischen Baum und Grab. Eine Lekythos des sog. Vogel-Malers im Athener Abb. 3: Weißgrundige Lekythos des sog. Nationalmuseum (Inv.-Nr. 19338, Abb. 3)⁴³ Vogel-Malers, 430-420 v. Chr., Athen, zeigt zwei weibliche Figuren in einer Szene, Nationalmuseum, Inv.-Nr. 19338. die strukturell eindeutig zu den bekannten Szenen des Grabbesuchs gehört: Beide Figuren sind mit kurz geschnittenen Haaren dargestellt – ein Zeichen der tiefen Trauer, bekannt aus der Welt der attischen Tragödie. Die eine Figur kniet auf dem Boden und rauft sich die Haare in einem Moment intensiver Emotionalität, während die zweite Frau kontemplativ stehend und mit einem Alabastron in der rechten Hand dargestellt wird. Was diese Szene von der Mehrheit solcher Grabbesuchsszenen⁴⁴ abhebt, ist die Tatsache, dass die Eine rotfigurige Oinochoe im Louvre (L ) ist eines der vielen Beispiele in der Vasenmalerei, die einen Baum mit an seinen Zweigen hängenden Pinakes als Chiffre für das Gesamtheiligtum verwenden, siehe z. B. Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum IV () Nr. b, Taf. s. v. „Darstellungen von Kultorten“ (A. Kossatz-Deissmann). Boetticher, Baumkultus, a. O. (Anm. ) -. Plato, Leges e: πέριξ δένδρων ἄλσος περιφυτεύσουσι πλὴν κώλου ἑνός. J. D. Beazley, Attic Red-Figure Vase Painters² () f. Nr. schrieb das Gefäss dem Vogel-Maler zu. D. C. Kurtz, Athenian White Lekythoi. Potters and Painters () versuchte – m. E. wenig überzeugend – die Lekythos mit dem sog. Schilf-Maler in Verbindung zu bringen. Zuletzt führte J. H. Oakley, Picturing Death in Classical Athens. The Evidence of the White Lekythoi () Nr. das Gefäss in einer Liste auf und schrieb es erneut dem Vogel-Maler zu, ohne allerdings im Text darauf näher einzugehen. Zu solchen Szenen siehe zuletzt Oakley, Picturing Death, a. O. (Anm. ) -. Es ist bemerkenswert, dass in dieser ersten, sehr detaillierten und reich bebilderten ikonogra-
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sog. Trauerrituale nicht vor einem Grabmonument, sondern vor einem Baum stattfinden, der auf einer niedrigen Erdanhäufung steht. Der einzelne Baum steht nicht nur als Bildchiffre für einen anzunehmenden Hain, sondern übernimmt vielmehr die eigentliche Rolle des Grabmonuments. Der Baum ist auf diesem und vergleichbaren Bildern vollständig an die Stelle des funerären Semas getreten; er wird ikonographisch durch die Bänder, die an seinen Zweigen hängen, explizit als „natürliche Grabstele“ aufgefasst. Das Anbinden von Bändern um das Grabmonument bzw. die bereits vom Grabmonument herabhängenden Bänder sind ein omnipräsentes Thema in Grabbesuchsszenen auf weißgrundigen Lekythen,⁴⁵ obwohl keine einzige Passage in den erhaltenen Tragödien diesen rituellen Akt dokumentiert.⁴⁶ Solche Bilder sind sicherlich keine realistischen Dokumente für die Verwendung einzelner Bäume als Grabmonumente, sondern verweisen bildlich auf Heroisierungsvorstellungen, da nach den schriftlichen Quellen Haine im funerären Kontext fast ausschließlich mit Heroengräbern in Verbindung stehen.⁴⁷
Berggipfel In den meisten antiken Kulturen symbolisiert der heilige Berg das Zentrum der Welt, die axis mundi, an der Himmel, Erde und Unterwelt aufeinander treffen. Tempel und königliche Residenzen werden häufig als symbolische Spitze eines heiligen Berges verstanden und übernehmen dadurch ebenfalls die Eigenschaften einer Mitte der Welt.⁴⁸ Im antiken Griechenland werden zwar Berge häufig als heilige, transzendierende Orte angesehen, aber nicht als Zentrum der Welt; nur vom Apollonheiligtum in Delphi berichten die antiken Quellen von dem Anspruch, Nabel der Welt zu sein, aber hier fehlt die Konzeption des heiligen Berges. Die enge Verbindung zwischen der Götterwelt und den Bergen manifestiert sich in
phischen Untersuchung der weißgrundigen Lekythen das Thema des Baumes als ‚Grabmonument‘ in einem einzigen Satz abgehandelt wird: „In other cases, a tree serves to mark the grave“ (S. ). Wegen der besonders auffälligen Zahl der Bänder um die dargestellte Grabstele stellt eine Lekythos des sog. Vouni-Malers im Metropolitan Museum in New York (Inv. Nr. ..) einen sehr anschaulichen Fall für einen solchen rituellen Akt dar. Siehe demnächst J. Mylonopoulos, „Remember the dead! Private post-burial rituals in the light of literary sources and white-ground lekythoi“, in: M. Gaifman – I. Rutherford (Hgg.), Perceptions of polis-religion: inside/outside. A symposium in memory of Christiane Sourvinou-Inwood. J. Fabricius, Die hellenistischen Totenmahlreliefs. Grabrepräsentation und Wertvorstellungen in ostgriechischen Städten () - bes. . Fabricius betont zu Recht die Verbindung zwischen Heroen und Bäumen bzw. alse, weist aber nicht auf die Verwendung des BaumMotivs bereits auf weißgrundigen Lekythen hin. Eliade, Religionen und das Heilige, a. O. (Anm. ) -.
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der Tatsache, dass der thessalische Berg Olymp als der Sitz der Götter angesehen wurde. Und doch gab es in Griechenland im Gegensatz zu Flüssen oder Quellen keine Personifikationen von Bergen, die eine kultische Verehrung erfuhren.⁴⁹ Hier unterscheidet sich die griechische Kultur grundsätzlich von Kulturen des Vorderen Orients, wo Berge in menschlicher Gestalt dargestellt und verehrt werden.⁵⁰ Interessanterweise gehören Berggipfel außerhalb von Städten im Normalfall zum Machtbereich des Zeus. Obwohl er, unter anderem mit den Kultepitheta Polieus oder Agoraios, fast in jeder griechischen Polis anzutreffen ist, besitzt er sehr wichtige alte Kultplätze auf Bergen; hierzu gehören das Heiligtum des Zeus Hellanios auf der Insel Ägina,⁵¹ das Heiligtum auf dem attischen Berg Hymettos⁵² oder die Kultstätte auf dem arkadischen Lykaion, für die sogar Menschenopfer literarisch überliefert sind.⁵³ Zeus wird an solchen Kultorten als Wolkensammler und Regenspender verehrt. Häufig sind mit dieser Vorstellung eigenartige, altertümlich wirkende Rituale verbunden: Zu Ehren des Zeus Akraios in Thessalien begaben sich im Hochsommer Männer in frischen Widderfellen auf den höchsten Gipfel des Pelion, um von Zeus Regen zu erflehen.⁵⁴ Schriftliche Quellen überliefern auch die Tradition um das Opfer des Aiakos an Zeus Hellanios, wodurch Regen für ganz Griechenland erfleht wurde, offensichtlich ein mythisches pangriechisches Opfer.⁵⁵ Wie wichtig Berge für religiöse Vorstellungen sein können, zeigt sich häufig in den Fällen, in denen religiöse oder ethnische Gruppierungen außerhalb ihres sozialen Kontextes existieren müssen: Die Samariter, die auf Delos lebten, waren so eng mit dem heiligen Berg ihres Heimatlandes verbunden, dass sie sich selbst
M. Clarke, „Gods and mountains in Greek myth and poetry“, in: A. B. Lloyd (Hg.), What is a God? Studies in the Nature of Greek Divinity () -. S. Lloyd, Early Highland Peoples of Anatolia () ; V. Haas, Hethitische Berggötter und Hurritische Steindämonen () . H. R. Goette, Athen – Attika – Megaris () -; E. Walter-Karydi, How the Aiginetans Formed Their Identity () f. mit Anm. . M. K. Langdon, A Sanctuary of Zeus on Mount Hymettos. Hesperia, Suppl. (). N. Kreutz, Zeus und die griechischen Poleis. Topographische und religionsgeschichtliche Untersuchungen von archaischer bis in hellenistische Zeit () -; speziell zu den literarisch überlieferten Menschenopfern siehe zuletzt M. Jost, „The Religious System in Arcadia“, in: D. Ogden (Hg.), A Companion to Greek Religion () f. W. Burkert, Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen () f. Das Opfer des Aiakos wird unter anderem von Isokrates (Evagoras -), Diodor (, ) und Pausanias (II, , -) überliefert. Isokrates bezeichnet sogar das Heiligtum des Zeus auf Ägina als eine Kultstätte, die von allen Griechen gegründet war.
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relativ umständlich als „diejenigen, die auf dem Berg Argarizein opfern“ bezeichneten.⁵⁶
Quellen und Flüsse Im Gegensatz zu Grotten, Bäumen oder Bergen werden Quellen und Flüsse im antiken Griechenland häufig personifiziert, anthropomorph oder wie im Falle des Acheloos halbtheriomorph dargestellt und in manchen Fällen auch kultisch verehrt. Bereits Homer weiß über den Kult von Flüssen zu berichten. Die Trojaner opferten Skamandros, indem sie lebende Pferde in seine Fluten warfen,⁵⁷ ein Opferritual, das auf dem griechischen Festland und zwar in der Argolis auch mit Poseidon in Verbindung gebracht wird.⁵⁸ Die Tatsache, dass Peleus Schafe ausgerechnet an den Quellen des Spercheios opfert,⁵⁹ ist ein interessantes Detail, das an die anfangs zitierte Seneca-Passage erinnert. Kein anderer Fluss genoss einen solch verbreiteten Kult wie der Acheloos, wie sowohl literarische als auch archäologische Quellen beeindruckend belegen, so dass mit dem Wort Acheloos sogar sehr allgemein von Wasser gesprochen werden konnte.⁶⁰ Ein irritierendes Dokument aus dem Ende des 5. Jhs. bezeugt die einzige uns bekannte Kultstätte für den Fluss Kephisos in Athen. Es handelt sich um ein 1909 in der Nähe des antiken Flussbettes von Kephisos gefundenes und in seiner Ikonographie einzigartiges Weihrelief, das eine Götterversammlung zeigt, in derer Mitte eine Sterbliche ihr kleines Kind einem Gott, höchstwahrscheinlich dem personifizierten Kephisos selbst, präsentiert (Athen, Nationalmuseum Inv.-Nr. 2756).⁶¹ Die Situation wird dadurch verkompliziert, dass die Stifterin, eine Frau namens Xenokrateia, in der Begleitinschrift explizit schreiben ließ, dass sie das Heiligtum des Flusses Kephisos, das sich an der Fundstelle des Reliefs befand, selber gegründet hatte.⁶² Die Gründung eines Heiligtums durch eine Frau, die mit Sicherheit Ph. Bruneau, „Les Israélites de Délos et la juiverie délienne“, Bulletin de correspondance hellénique () -; Supplementum Epigraphicum Graecum XXXII : οἱ ἐν Δήλῳ Ἰσραελεῖται οἱ ἀ|παρχόμενοι εἰς ἱερὸν Ἀργα|ριζείν; Supplementum Epigraphicum Graecum XXXII : [οἱ ἐν Δήλῳ] | Ἰσραηλῖται οἱ ἀπαρχόμενοι εἰς ἱερὸν ἅγιον Ἀρ|γαριζείν. Homer, Ilias , : ζωοὺς δ’ ἐν δίνῃσι καθίετε μώνυχας ἵππους. Mylonopoulos, Heiligtümer und Kulte des Poseidon, a. O. (Anm. ) -. Homer, Ilias , f.: πεντήκοντα δ’ ἔνορχα παρ’ αὐτόθι μῆλ’ ἱερεύσειν ἐς πηγάς. H. P. Isler, Acheloos () -. G. Güntner, Göttervereine und Götterversammlungen auf attischen Weihreliefs () -; N. Kaltsas, Sculpture in the National Archaeological Museum, Athens () Nr. . Inscriptiones Graecae I³ : Ξενοκράτεια Κηφισοῦ ἱερ|ὸν ἱδρύσατο καὶ ἀνέθηκεν | ξυμβώμοις τε θεοῖς διδασκαλ|ίας τόδε δῶρον, Ξενιάδο θυγάτ|ηρ καὶ μήτηρ ἐκ Χολλειδῶν | θύεν τῶι βουλομένωι ἐπὶ | τελεστῶν ἀγαθῶν.
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die Bewilligung durch die männliche Bürgerschaft erhielt, bleibt für diese Zeit ein absolutes und wegen des Fehlens weiterer Quellen unerklärliches Unikum. In der Forschung wird die Einmaligkeit der Gründung des Kephisosheiligtums durch Xenokrateia entweder stillschweigend übergangen oder sogar die Gründung als Ganzes bestritten.⁶³ Es Abb. 4: Weißgrundige Lekythos des sog. Malers von München 2335, scheint allerdings, dass ein 430 v. Chr., New York, The Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr. gewisser Kephisodotos – 09.221.44 man beachte den Namen – an der Gründung beteiligt war,⁶⁴ denn eine in der Nähe gefundene Inschrift berichtet von seiner Stiftung eines Altars.⁶⁵ Der Text der Xenokrateia-Inschrift und die Ungewöhnlichkeit des Weihreliefs weisen m. E. eindeutig darauf hin, dass das Heiligtum von Xenokrateia gestiftet wurde; wenig später folgte die Stiftung des Kephisodotos. Im Altertum hatten Quellen und Flüsse für die Griechen eine liminale Bedeutung, da ihr Ursprung aus den Tiefen der Erde ihnen eine eindeutig chthonische Konnotation verlieh. Es ist in dieser Hinsicht besonders aussagekräftig, dass die Reise in die Welt der Toten durch die Reise über den Fluss Acheron symbolisiert wird. Hermes Psychopompos brachte die Toten bis zu den Ufern dieses Flusses, wo Charon mit seinem Boot wartete, um die Seele auf die andere Seite des Acheron zu bringen. Es verwundert daher nicht, dass die letzte Reise der menschlichen Seele zu den beliebtesten Themen gehört, die auf weißgrundigen Lekythen zu sehen sind (Abb. 4).⁶⁶ Flüsse markieren in der realen Welt häufig, wenn auch keineswegs aus R. Parker, Polytheism and Society at Athens () Anm. lehnt die Vorstellung ab, dass Xenokrateia das Heiligtum gegründet hat, weil seiner Meinung nach die Lesung des Anfangs der Inschrift falsch sei. L. Beschi, „Culti stranieri e fondazioni private nell’Attica classica: alcuni casi“, Annuario della Scuola Archeologica di Atene e delle Missioni Italiane in Oriente () - geht von einer gemeinsamen, zeitgleichen Stiftung des Kephisodotos und der Xenokrateia aus. Inscriptiones Graecae I³ A: Κηφισόδοτος Δεμογένος | Βουτάδες ἱδρύσατο | καὶ τὸν βωμόν. Chr. Sourvinou-Inwood, ‘Reading’ Greek Death to the End of the Classical Period () -; Oakley, Picturing Death, a. O. (Anm. ) -.
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schließlich Grenzpunkte; oft verlaufen die Grenzen einer Stadt oder einer Landschaft entlang eines Flusses.⁶⁷ Jede Überquerung eines größeren Wasserstroms war zugleich eine bedrohliche Handlung, die durch eine Opferung neutralisiert werden musste.⁶⁸ Der chthonische Charakter von Quellen und in einem weiteren Sinne von Brunnen manifestiert sich auch in der Tatsache, dass sie in der Antike beliebte Plätze für die Deponierung von defixiones waren.⁶⁹ Nach den antiken religiösen Vorstellungen sind solche Wünsche, die einem Feind Schaden zufügen sollten, durch die Deponierung an bzw. in einer Quelle schneller und direkter zu den Mächten der Unterwelt gebracht worden. In dieser Hinsicht lassen sich Quellen / Brunnen mit Gräbern vergleichen, die zumindest in klassischer Zeit der bei weitem beliebteste Ort für die Deponierung von Fluchtäfelchen gewesen sind.⁷⁰ Nach den Grotten und teilweise den Bäumen begegnet uns mit den Flüssen und Quellen ein weiteres landschaftliches Element, das einen potentiell unheimlichen Aspekt in sich zu tragen scheint.
Natur im Heiligtum Integration Obwohl landschaftliche Elemente offensichtlich ohne begleitende Architektur als Kultplätze fungieren konnten, begegnen uns Bäume, Grotten oder Quellen meistens als integraler Bestandteil eines größeren Heiligtums. Ein flüchtiger Blick in die Periegese des Pausanias offenbart, dass es kaum ein griechisches Heiligtum gegeben hat, dass nicht ein alsos einschloß. Prominent hierunter waren die Haine in den vier panhellenischen Heiligtümern, in denen das Kultgeschehen sich deutlich heiliger Bäume bediente: Die Kränze für die Sieger bei den dazugehörigen Agonen bestanden aus Zweigen von eben diesen Bäumen.⁷¹ Noch interessanter erscheinen vereinzelte Bäume innerhalb einer Kultstätte. Bedeutendste Beispiele Siehe vor allem R. von Scheliha, Die Wassergrenze im Altertum (). In der Ilias (, ) opfern die Pylier einen Stier an Alpheios beim Überqueren der Grenze zu Elis, die vom Fluss markiert wird. D. R. Jordan, „A survey of Greek defixiones not included in the special corpora“, Greek, Roman, and Byzantine Studies () -. Eine sehr große Zahl der attischen defixiones, die Jordan aufführt, stammt entweder aus dem Kerameikos (Nr. -) oder aus verschiedenen Brunnen auf der Agora (Nr. -). Siehe allgemeiner F. Graf, Gottesnähe und Schadenszauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike () mit Anm. . R. Wünsch, Defixionum tabellae (= Inscriptiones Graecae III.) (). Die Mehrzahl der attischen defixiones mit bekannter Provenienz wurde in Gräbern entdeckt. M. Blech, Studien zum Kranz bei den Griechen () -.
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hierfür sind mit Sicherheit die lygos im samischen Heraion,⁷² der Olivenbaum auf der Athener Akropolis⁷³ oder die Eiche im Zeusheiligtum von Dodona.⁷⁴ Im Falle des dodonäischen Kultortes sind wir sogar in der Lage nachzuvollziehen, wie ein Naturheiligtum, bestehend ursprünglich aus einem einzigen Baum, im Laufe der Zeit zu einem der architektonisch imposantesten Kultplätze Griechenlands wird, da die „Steinwerdung“ des Kultes sehr spät einsetzt. Erst am Ende des 5. Jhs. entsteht neben der heiligen Eiche ein bescheidener Naiskos. In dieser Zeit dürfen wir lediglich von einer Koexistenz von Naturerscheinung und menschlichem Eingreifen sprechen. Erst mit der Errichtung einer niedrigen Temenosmauer in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. werden Kultbau und Baum zu einer Einheit. Die weitere Entwicklung der Zeusanlage zu einem Peristylheiligtum im 3. Jh. offenbart die immer deutlichere Integration der Eiche in einen größeren architektonischen Kontext. Der Peristylhof betont die Zusammengehörigkeit des Tempels und der Eiche und schirmt gleichzeitig beide vom restlichen erweiterten Heiligtum ab.⁷⁵ Abgesehen von den angesprochenen heiligen Bäumen sind Haine meistens ein landschaftliches Element, das die Sakralität des Ortes betont, eine Art heilige Kulisse.⁷⁶ In ihrer Berühmtheit als eigenständige Kultstätten sind der heilige Hain H. J. Kienast, „Zum heiligen Baum der Hera auf Samos“, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung () -; H. Kyrieleis, „The Heraion at Samos“, in: N. Marinatos – R. Hägg (Hgg.), Greek Sanctuaries. New Approaches () . Nicht nur die zentrale Positionierung des heiligen Olivenbaums im Westgiebel des Parthenon, sondern auch seine Darstellung auf Reliefs, die wichtige attische Urkunden krönten, betonen die Bedeutung des im oder am Erechtheion wachsenden Olivenbaums (Pausanias I, , -) für die attische Identität, vgl. C. L. Lawton, Attic Document Reliefs. Art and Politics in Ancient Athens () f. Taf. . Es ist m. E. von Bedeutung, dass antike AkropolisBesucher nach dem Durchschreiten der Propyläen mittels des parthenonischen Westgiebels mit dem Mythos um den heiligen Olivenbaum und den Beginn der ‚Beziehung‘ Athenas zu ihrer Stadt visuell konfrontiert wurden. P. R. Parke, „Das Taubenorakel zu Dodona und die Eiche als der heilige Baum des Zeus Naios“, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung () -. J. Mylonopoulos, „Das Zeusheiligtum in Dodona: Zwischen Orakel und venatio“, in: J. Mylonopoulos – H. Roeder (Hgg.), Archäologie und Ritual. Auf der Suche nach der rituellen Handlung in den antiken Kulturen Ägyptens und Griechenlands () - bes. -. Jüngst spekulierte P. Bonnechere, „The Place of the Sacred Grove (Alsos) in the Mantic Rituals of Greece: The Example of the Alsos of Trophonios at Lebadeia (Boeotia)“ in: M. Conan (Hg.), Sacred Gardens and Landscapes: Ritual and Agency () - bes. über die Funktion von alse und brachte sie schließlich mit Mysterien, Divination (siehe hierzu auch F. Graf, „Bois sacrés et oracles en Asie Mineure“, in: de Cazanove – Scheid [Hgg.], Les bois sacrés, a. O. [Anm. ] -) und Initiation in Verbindung. Das häufige Vorhandensein von heiligen Hainen in Heiligtümern solchen Charakters sagt m. E. sehr wenig über die Funktion von Hainen im Allgemeinen aus. Wie soll dieser Deutungsansatz
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des Poseidon in Onchestos mit dem paradox anmutenden Ritual der Durchquerung des Haines durch einen führerlosen diphros⁷⁷ oder der Eichenwald in der Nähe des böotischen Alalkomenai, der das Holz für die Erschaffung der Daidala für das gleichnamige platäische bzw. panböotische Fest lieferte,⁷⁸ eher die Ausnahmen. Und doch wird das Heiligtum des Trophonios in Lebadeia von Pausanias als alsos und nicht als hieron bezeichnet, obwohl der Perieget explizit den Tempel und die praxitelische Statue des Trophonios erwähnt.⁷⁹ Grotten bzw. Erdspalten werden ebenfalls sehr häufig zu einem integralen Bestandteil einer Kultstätte und spielen im rituellen Alltag in den meisten Fällen eine wichtigere Rolle als die heiligen Haine. Vor allem mit Totenorakeln werden Grotten in Verbindung gebracht. Von der Existenz einer Grotte, in der die Begegnung zwischen Lebenden und Toten stattzufinden hat, berichten literarische Quellen in Bezug auf die vier berühmtesten Totenorakel der Antike, bei dem See Avernus in der Nähe von Cumae, beim Acheron in Epirus, im Poseidonheiligtum auf dem Kap Tainaron und in Herakleia Pontike.⁸⁰ Relativ sichere archäologische Zeugnisse besitzen wir lediglich für Tainaron und Herakleia Pontike, da für das Orakel von Avernus nur literarische Quellen existieren,⁸¹ während die von Sotirios Dakaris vorgeschlagene Identifizierung eines Gebäudes in Ephyra mit dem Totenorakel des Acheron mehr als fraglich erscheint.⁸² Die von Wolfram Hoepfner mit dem Totenorakel von Herakleia Pontike identifizierte Grotte präsentiert sich im Sinne der kretischen Idäischen Grotte
Haine in Kultstätten für Ares, Asklepios, Athena, Hera oder Poseidon beleuchten? Solche Interpretationen, die mit der Überbetonung einzelner Aspekte eines Kultes einhergehen, können m. E. ein so allgemeines Phänomen wie die Existenz von Hainen in Heiligtümern nicht adäquat erklären. A. Teffeteller, „The Chariot Rite at Onchestos: Homeric Hymn to Apollo -“, Journal of Hellenic Studies () - argumentiert für einen mykenischen Ursprung des gefährlichen Rituals im Hain des Poseidon Gaiochos. A. Chaniotis, „Ritual Dynamics: The Boiotian Festival of the Daidala“, in: H. F. J. Horstmanshoff u. a. (Hgg.), Kykeon. Studies in Honour of H. S. Versnel () -. Pausanias IX, , : κεκόσμηται μὲν δὴ τὰ ἄλλα σφίσιν ἡ πόλις ὁμοίως τοῖς Ἑλλήνων μάλιστα εὐδαίμοσι, διείργει δὲ ἀπ’ αὐτῆς τὸ ἄλσος τοῦ Τροφωνίου. , , : τὰ δὲ ἐπιφανέστατα ἐν τῷ ἄλσει Τροφωνίου ναὸς καὶ ἄγαλμά ἐστιν, Ἀσκληπιῷ καὶ τοῦτο εἰκασμένον· Πραξιτέλης δὲ ἐποίησε τὸ ἄγαλμα. Der Perieget bezeichent auch das Heiligtum des Apollon Maleatas und des Asklepios in Epidauros als alsos (s. u.). Allgemein zu den vier wichtigsten Totenorakeln der griechisch-römischen Welt, siehe D. Ogden, Greek and Roman Necromancy () -. Die längste Beschreibung findet sich bei Strabo (, , ). S. I. Dakaris, „Das Taubenorakel von Dodona und das Totenorakel bei Ephyra“, in: Neue Ausgrabungen in Griechenland. Antike Kunst, Beih. () -; D. Baatz, „Hellenistische Katapulte aus Ephyra (Epirus)“, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung () -; ders., „Wehrhaftes Wohnen. Ein befestigter Adelssitz bei Ephyra (Nordgriechenland)“, Antike Welt () - zeigte völlig
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als eine eigenständige Kultstätte.⁸³ Die Grotte auf Tainaron wurde dagegen in eine größere Kultstätte integriert, denn das Heiligtum bestand nicht nur aus der Grotte, sondern aus einem lang gestreckten Gebäude (Abb. 2), einem kleinen späthellenistischen Naiskos und mehreren Nebengebäuden. Eine ähnliche Integration erfuhr allem Anschein nach eine kleine Höhle im Orakelheiligtum des Trophonios bei Lebadeia. Sowohl die Gestaltung der trophonischen Kultstätte als auch der Kultablauf lassen sich ausschließlich anhand der literarischen Quellen rekonstruieren.⁸⁴ Im Zentrum der Kultstätte befand sich der Eingang in die unterirdische Höhle des Trophonios, in der bemerkenswerterweise der Ratsuchende direkt mit dem Orakel gebenden Heros in Verbindung trat.⁸⁵ Außerhalb der Orakelkultstätten begegnen uns interessante Beispiele für die Integration von Grotten im Demeterheiligtum von Eleusis und im Poseidonheiligtum von Isthmia. In Eleusis wurde die Grotte nordöstlich des Telesterion traditionell als ein Kultplatz zu Ehren des Hades angesprochen;⁸⁶ hier befand sich einer der zahlreichen Eingänge in die Unterwelt. Kevin Clinton identifizierte allerdings diesen Platz mit der berühmten agelastos petra.⁸⁷ Es spricht einiges dafür, dass hier in einer Art mimetischer Kulthandlung die anodos der Kore in Begleitung des Eubuleus zu ihrer auf der agelastos petra sitzenden Mutter zelebriert wurde. So wurde die natürliche Grotte nicht nur in die mythische Tradition des Heiligtums, sondern auch in den rituellen Alltag integriert.⁸⁸ Eine Besonderheit liefert
überzeugend, dass es sich bei dem von Dakaris ausgegrabenen „nekyomanteion“ in Wirklichkeit um ein frühhellenistisches befestigtes Turmgehöft handelt. Unter den drei in der Gegend von Herakleia Pontike untersuchten Grotten identifizierte W. Hoepfner, „Topographische Forschungen“, in: D. Asheri – W. Hoepfner – A. Erichsen, Forschungen an der Nordküste Kleinasiens I () f. die Höhle II mit dem Totenorakel. In einem Vortrag am Seminar für Religionswissenschaft der Universität Erfurt hat Pauline Hanesworth (Exeter) aufgrund aller relevanten schriftlichen Quellen Hoepfners Identifizierung überzeugend abgelehnt. Wie so häufig ist die längste und an Details reichste antike Quelle der Bericht des Pausanias (IX, , – , ). Spätere Quellen berichten auch von der Existenz von Mysterien im Heiligtum des Trophonios, siehe dazu P. Bonnechere, „Trophonius of Lebadea. Mystery Aspects of an Oracular Cult in Boeotia“, in: M. B. Cosmopoulos (Hg.), Greek Mysteries. The Archaeology and Ritual of Ancient Greek Secret Cults () -. P. Bonnechere, Trophonios de Lébadée. Cultes et mythes d’une cité béotienne au miroir de la mentalité antique () -. F. Noack, Eleusis. Die baugeschichtliche Entwicklung des Heiligtums () -; G. E. Mylonas, Eleusis and the Eleusinian Mysteries () f. Clinton, Myth and Cult, a. O. (Anm. ) -. Zu den mimetischen Handlungen in Eleusis ohne eine topographische Verankerung siehe Chr. Sourvinou-Inwood, „Festival and Mysteries. Aspects of the Eleusinian Cult“, in: Cosmopoulos (Hg.), Greek Mysteries, a. O. (Anm. ) -. Dagegen vermutet I. Nielsen, Cultic Theatres and Ritual Drama () f., dass die eleusinischen rituellen dramata am theaterförmigen Platz südlich des Telesterion stattgefunden haben. Es ist m. E. sehr
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die Integration der Kultgrotten im isthmischen Heiligtum des Poseidon. Es handelt sich um natürliche Grotten, die allerdings mit aus dem Felsen gehauenen Klinen ausgestattet waren, wodurch sie zu einer Art von Banketträumen umgestaltet wurden. In der Forschung werden diese Grotten meistens mit Poseidon oder mit Melikertes / Palaimon in Verbindung gebracht.⁸⁹ In meiner Interpretation dienten sie dem gemeinsamen Mahl einer Kultgemeinschaft zu Ehren des heroisierten Kindes Melikertes / Palaimon und des Dionysos im 5. und 4. Jh. v. Chr.⁹⁰ Die rituelle Waschung vor dem Eintritt in eine Kultstätte machte die Existenz von Wasser in oder bei einem Heiligtum unabdingbar. Die Positionierung vieler Heiligtümer lässt sich sinnvoll durch Wasservorkommen in Form von Quellen oder Flüssen erklären. Die Gründung z. B. des Demeterheiligtums von Korinth an einem Ort, der für fast jeden Bau erhebliche Terrassierungsmaßnahmen erforderte, lässt sich sicherlich nicht nur durch die relative Abgeschiedenheit des Ortes, die für Demeterkultplätze so typisch erscheint,⁹¹ sondern auch durch die Existenz einer Quelle in der unmittelbaren Nähe erklären.⁹² Sucht man nach Gruppen von Heiligtümern, die in einer besonderen Art und Weise Quellen integrierten, begegnen einem vorwiegend Orakel und Heilkultstätten. Im Orakelheiligtum des Apollon im kleinasiatischen Klaros wurde neben einem heiligen Hain, in dem angeblich keine Schlangen, Skorpione oder sonstigen giftigen Tiere lebten, eine Grotte mit einer Quelle unterhalb des Tempels integriert. Der Prophetes musste hinabsteigen und vom Wasser der Quelle trinken, um weissagen zu können.⁹³ Quellen innerhalb der Kultstätte waren ebenfalls integraler Bestandteil der Orakelbefragung im lebadeischen Trophoneion: Vor der Begeg-
wahrscheinlich, dass verschiedene Teile der eleusinischen Mythenwelt an unterschiedlichen Orten innerhalb des Heiligtums mimetisch aufgeführt wurden. Für die anodos der Persephone aus der Unterwelt ist die Grotte bei den kleinen Propyläen weit geeigneter. E. R. Gebhard, „Caves and Cults at the Isthmian Sanctuary of Poseidon“, in: R. Hägg (Hg.), Peloponnesian Sanctuaries and Cults () - brachte neben Poseidon und Palaimon eine „hereditary group (phratry or tribe)“ und eine „society who worshipped a particular hero“ in die Diskussion. Mylonopoulos, Heiligtümer und Kulte des Poseidon, a. O. (Anm. ) -. S. G. Cole, „Demeter in the Ancient Greek City and its Countryside“, in: Alcock – Osborne (Hgg.), Placing the Gods, a. O. (Anm. ) -. N. Bookidis – R. S. Stroud, The Sanctuary of Demeter and Kore. Topography and Architecture, Corinth XVIII. () f. betonen zwar die Existenz einer Quelle nur bis m unterhalb des Heiligtums, aber bleiben wegen des relativ steilen Abhangs, der den Transport des Wassers ins Heiligtum erschwert hätte, skeptisch, ob die Quelle tatsächlich eine Rolle bei der Wahl des Platzes gespielt hat. Plinius, Naturalis historia , : Colophone in Apollinis Clarii specu lacuna est, cuius potu mira reddentur oracula, bibentium breviore vita. Tacitus, Annales . : tum in specum degressus, hausta fontis arcani aqua, ignarus plerumque litterarum et carminum edit responsa versibus compositis super rebus quas quis mente concepit.
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nung mit dem Heros, aber auch danach musste das Wasser des Vergessens bzw. des Erinnerns getrunken werden.⁹⁴ Auch für Didyma überliefern die Gründungsmythen und die rituelle Praxis die enge Verbindung zwischen der apollinischen Kultstätte und einer Quelle.⁹⁵ Nach den Berichten einiger antiker Autoren spielte diese Quelle eine besondere Rolle bei der Erteilung von Orakeln: Das Einatmen des Dunstes aus der heiligen Quelle rief Ekstase hervor, die wiederum zur Weissagung führte.⁹⁶ Die Bedeutung des Wassers allgemein im didymäischen Heiligtum belegt auch die Bezeichnung der Priesterinnen der Artemis als Hydrophoren.⁹⁷ Innerhalb des Heiligtums hat es nachweislich auch ein hieron der Artemis gegeben, das allerdings nach den neuesten Untersuchungen von Helga Bumke nicht mit dem sog. Heiligtum auf der Felsbarre direkt an der Heiligen Straße von Milet nach Didyma zu identifizieren ist.⁹⁸ Ob die Hydrophoren der Artemis mit der apollinischen Hydromantik in Verbindung stehen, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Allerdings deutet unter anderem die Kultepiklese Pytheie für die didymäische Artemis doch darauf hin.⁹⁹ Auch für das berühmteste Orakelheiligtum der antiken Welt, für Delphi, sind mehrere Quellen namentlich überliefert, darunter zwei, die Kastalia und die Kassotis, die im rituellen Alltag Delphis eine wichtige Rolle spielten. Die meisten antiken Zeugnisse bringen die Quelle Kastalia,¹⁰⁰ die sich außerhalb des Temenos befindet, mit der Orakel gebenden Funktion des Heiligtums in Verbindung: Bereits Pindar spricht in seiner vierten pythischen Ode vom „Orakel bei der Kastalia“.¹⁰¹ Dagegen war laut Pausanias die Quelle Kassotis in der Nähe der nordöstlichen Pausanias IX, , -: τὸ ἐντεῦθεν ὑπὸ τῶν ἱερέων οὐκ αὐτίκα ἐπὶ τὸ μαντεῖον, ἐπὶ δὲ ὕδατος πηγὰς ἄγεται· αἱ δὲ ἐγγύτατά εἰσιν ἀλλήλων. ἐνταῦθα δὴ χρὴ πιεῖν αὐτὸν Λήθης τε ὕδωρ καλούμενον, ἵνα λήθη γένηταί οἱ πάντων ἃ τέως ἐφρόντιζε, καὶ ἐπὶ τῷδε ἄλλο αὖθις ὕδωρ πίνειν Μνημοσύνης· ἀπὸ τούτου τε μνημονεύει τὰ ὀφθέντα οἱ καταβάντι. W. Günther, Das Orakel von Didyma in hellenistischer Zeit. Eine Interpretation von SteinUrkunden. Istanbuler Mitteilungen, Beih. () mit Anm. . J. Fontenrose, Didyma. Apollo’s Oracle, Cult, and Companions () -. M. C. Marcellesi, „Les hydrophores d’Artémis Pythiè à Milet“, in: M.-F. Baslez (Hg.), Prosopographie et histoire religieuse () - bes. f. Die Autorin sieht die Funktion der Hydrophoren im Kontext von Mysterien, Opfern, Libationen und διανομαί. H. Bumke, „Die Schwester des Orakelgottes. Zum Artemiskult in Didyma“, in: Mylonopoulos – Roeder (Hgg.), Archäologie und Ritual, a. O. (Anm. ) -. Ebenda f. H. W. Parke, „Castalia“, Bulletin de correspondance hellénique () -. Zum archäologischen Befund der sog. Alten (fontaine archaïque) und Neuen (fontaine rupestre) Kastalia siehe P. Amandry, „Notes de topographie et d’architecture delphiques. VI. La fontaine Castalie“, in: Études Delphiques. Bulletin de correspondance hellénique, Suppl. () -; „Notes de topographie et d’architecture delphiques. VII. La fontaine Castalie (compléments)“, Bulletin de correspondance hellénique () -. Pindar, Pyth. , f.: μεμάντευμαι δ’ ἐπὶ Κασταλίᾳ, εἰ μετάλλατόν τι.
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Ecke des Tempels diejenige Quelle, die der Priesterin die Gabe der Weissagung verlieh, da nach dem antiken Periegeten ihr Wasser unterirdisch das Adyton des Tempels erreichte.¹⁰² Genauso divergierend sind auch die Forschungsmeinungen: Michael Maass bringt die Kastalia mit der Orakelfunktion in Verbindung;¹⁰³ Veit Rosenberger folgt dagegen dem Bericht des Pausanias und sieht in der Kassotis die delphische Orakelquelle, während nach ihm in Anlehnung an Euripides’ Ion das Wasser der Kastalia „zur kultischen Reinigung verwendet“ wurde.¹⁰⁴ Trotz dieser Problematik lässt sich festhalten, dass auch in Delphi eine Quelle eine eminente Bedeutung bei der wichtigsten Funktion der Kultstätte hatte. Die real und symbolisch reinigende oder heilende Wirkung des Wassers machte Quellen und ihre unmittelbare Umgebung zu hervorragenden Plätzen für die Gründung von Heilkultstätten.¹⁰⁵ Bekanntlich war Asklepios die wichtigste Heilgottheit des antiken Griechenland. Ein unabdingbares Element seiner Kultstätten war die Existenz von Wasser und von entsprechenden Anlagen.¹⁰⁶ In Epidauros, dem wohl berühmtesten Asklepieion der antiken Welt, befand sich ganz in der Nähe der Hallen, wo die Patienten den heilenden Schlaf vollzogen, eine Badanlage, während mindestens sechs Quell- und Brunnenhäuser sich über den gesamten Bereich des Heiligtums verteilten.¹⁰⁷ Der Kult des epidaurischen Asklepios wird im ausgehenden 5. Jh. in Athen eingeführt. Die berühmte Telemachosstele liefert wertvolle Informationen zur Gründung der Kultstätte am Südabhang der Akropolis.¹⁰⁸ In dem athenischen Asklepieion wurde kongenial die alte, seit archaischer Zeit benutzte heilige Quelle Hallirhotis im späten 5. Jh. allgemein in die Topogra Pausanias X, , : ἰοῦσι δὲ ὡς ἐπὶ τὸν ναὸν αὖθις μετὰ τοῦ λίθου τὴν θέαν ἐστὶν ἡ Κασσοτὶς καλουμένη πηγή· τεῖχος δὲ οὐ μέγα ἐπ’ αὐτῇ καὶ ἡ ἄνοδος διὰ τοῦ τείχους ἐστὶν ἐπὶ τὴν πηγήν. ταύτης τῆς Κασσοτίδος δύεσθαί τε κατὰ τῆς γῆς λέγουσι τὸ ὕδωρ καὶ ἐν τῷ ἀδύτῳ τοῦ θεοῦ τὰς γυναῖκας μαντικὰς ποιεῖν. M. Maass, Das antike Delphi. Orakel, Schätze und Monumente () -. V. Rosenberger, Griechische Orakel. Eine Kulturgeschichte () , . Euripides, Ion -: ἀλλ’ ἐκπαύσω γὰρ μόχθους δάφνας ὁλκοῖς, χρυσέων δ’ ἐκ τευχέων ῥίψω γαίας παγάν, ἃν ἀποχεύονται Κασταλίας δῖναι, νοτερὸν ὕδωρ βάλλων, ὅσιος ἀπ’ εὐνᾶς ὤν. Hinweise auf die kultisch reinigende Funktion der Kastalia gibt es auch in den Phoinissai -: ἔτι δὲ Κασταλίας ὕδωρ περιμένει με κόμας ἐμᾶς δεῦσαι παρθένιον χλιδὰν Φοιβείαισι λατρείαις. R. Ginouvès, „L’eau dans les sanctuaires médicaux“, in: R. Ginouvès u. a. (Hgg.), L’eau, la santé et la maladie dans le monde grec. Bulletin de correspondance hellénique, Suppl. () -. J. Riethmüller, Asklepios. Heiligtümer und Kulte (). V. Lambrinoudakis, „L’eau médicale à Épidaure“, in: Ginouvès u. a. (Hgg.), L’Eau, a. O. (Anm. ) -. L. Beschi, „Il monumento di Telemachos, fondatore dell’Asklepieion Ateniese“, Annuario della Scuola Archeologica di Atene e delle Missioni Italiane in Oriente / (/) ; K. Clinton, „The Epidauria and the Arrival of Aclepius in Athens“, in: R. Hägg (Hg.), Ancient Greek Cult Practice from the Epigraphical Evidence () -.
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phie der Kultstätte und im späten 4. Jh. ganz konkret in eine wichtige Architektur integriert: Im 5. Jh. war die Quelle offensichtlich ein selbstständiges Element des Heiligtums, vielleicht auch der Grund für die Errichtung der Kultstätte an diesem Platz. Bei der Errichtung der Abb. 5: Das Heiligtum des Asklepios in Athen. großen Inkubationshalle im späten 4. Jh. wurde die Quelle in diesen neuen Bau integriert und war nur noch über diese Halle zugänglich (Abb. 5). Die zwei wichtigsten Elemente des Heilungsprozesses, die rituelle Reinigung durch Wasser und der Schlaf, waren somit auch architektonisch eng miteinander verbunden.¹⁰⁹ Quellen scheinen viel eindeutiger als bei anderen Kulten ein konstitutives Element für den Asklepioskult gewesen zu sein, denn Ähnliches lässt sich unter anderem für die Asklepieia in Korinth, Troizen, Kos oder Pergamon nachweisen.¹¹⁰ In der Heilkultstätte des Amphiaraos in Oropos, an der Grenze zwischen Attika und Böotien,¹¹¹ begegnet uns eine unterschiedliche Nutzung einer heiligen Quelle. Obwohl auch in diesem Heiligtum eine rituelle Reinigung als Voraussetzung für die Heilung angesehen wurde, geschah dies seltsamerweise nicht durch ein Bad mit Wasser aus der heiligen Quelle, sondern durch ein Tieropfer an dem Altar. Altar und Quelle lagen dicht beieinander vor dem Tempel. Pausanias liefert uns die Erklärung dieser kleinen ‚Anomalie‘ im rituellen Geschehen: In Oropos ist aber auch eine Quelle in der Nähe des Tempels, die sie Amphiaraos-Quelle nennen; sie opfern ihr nichts und halten es nicht für erlaubt, sie für Reinigungen oder als Weihwasser zu benutzen. Wenn aber jemand aufgrund des Orakels von einer Krankheit
Riethmüller, Asklepios, a. O. (Anm. ) -, bes. zur Hallirhotis. In S. B. Aleshire, The Athenian Asklepieion. The People, their Dedications, and the Inventories () - findet sich ebenfalls eine Rekonstruktion der historischen Entwicklung des Heiligtums, allerdings ausschließlich auf der Basis der literarischen und inschriftlichen Zeugnisse. F. Graf, „Heiligtum und Ritual. Das Beispiel der griechisch-römischen Asklepieia“, in: A. Schachter – J. Bingen (Hgg.), Le sanctuaire grec () -. V. C. Petrakos, Ὁ Ὠρωπὸς καὶ τὸ ἱερὸν τοῦ Ἀμφιαράου (). Siehe allgemeiner zum Kult des Amphiaraos P. Sineux, Amphiaraos. Guerrier, devin et guérisseur ().
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genesen ist, wirft er ein silbernes oder goldenes Geldstück in die Quelle, denn hier soll Amphiaraos bereits als Gott aufgetaucht sein (Ernst Meyer).¹¹²
Die Quelle markierte also den Ort der ersten Epiphanie des verehrten Gottes, wodurch der gesamte Platz geheiligt wurde. Aus diesem Grund durfte auch das Wasser aus dieser Quelle nicht für praktische Zwecke verwendet werden. Die Quelle im Amphiareion als permanente visuelle Markierung der epiphanischen Präsenz des Kultinhabers lässt sich mit der Salzwasserquelle und dem Olivenbaum auf der Athener Akropolis sowie der Stelle des Einschlags von Zeus’ Blitz in Olympia vergleichen, obwohl im Amphiareion durch die Quelle eine Epiphanie und nicht nur eine Kratophanie zelebriert wurde.
Imitation Die kurz gezeichneten Fallbeispiele zeigten die eigenständige kultische Nutzung von Landschaftselementen bzw. ihre Integration in eine Kultstätte. Kann aber Natur künstlich in dem sakralen Kontext eines Heiligtums hergestellt werden? Sind natürliche Elemente einer Kultstätte wie Haine, Quellen oder Grotten so eminent wichtig, dass, wenn ein Kulttransfer stattfindet, nicht nur die religiösen Vorstellungen und rituellen Praktiken verpflanzt, sondern auch der landschaftliche Kontext in irgendeiner Form transferiert wird? Falls Letzteres zutrifft, haben wir es mit einem wörtlichen Zitat oder eher mit einer symbolisch wirksamen Übertragung von landschaftlichen Elementen zu tun? Ein Blick zurück auf das athenische Asklepieion erlaubt eine ungefähre Vorstellung von den Mechanismen einer Filialgründung. Die Doppelnatur des epidaurischen Asklepios fand bekanntlich ihren Niederschlag in der Verehrung des Gottes Asklepios in dem Tempel und des Heros Asklepios in der Tholos. Diese Rezeption des Gottes wurde in dem athenischen Filialheiligtum sowohl in der rituellen Praxis als auch in der architektonischen Gestaltung der Kultstätte übernommen: Neben dem kleinen Tempel wurde der Heros Asklepios auf der sog. Bothrosterrasse verehrt (Abb. 5).¹¹³ Beinhaltete aber der Transfer des Asklepioskultes nach Pausanias I, , : ἔστι δὲ Ὠρωπίοις πηγὴ πλησίον τοῦ ναοῦ, ἣν Ἀμφιαράου καλοῦσιν, οὔτε θύοντες οὐδὲν ἐς αὐτὴν οὔτ’ ἐπὶ καθαρσίοις ἢ χέρνιβι χρῆσθαι νομίζοντες· νόσου δὲ ἀκεσθείσης ἀνδρὶ μαντεύματος γενομένου καθέστηκεν ἄργυρον ἀφεῖναι καὶ χρυσὸν ἐπίσημον ἐς τὴν πηγήν, ταύτῃ γὰρ ἀνελθεῖν τὸν Ἀμφιάραον λέγουσιν ἤδη θεόν. J. Riethmüller, „Bothros and Tetrastyle: The Heroon of Asclepius in Athens“, in: R. Hägg (Hgg.), Ancient Greek Hero Cult () -. A. Verbanck-Piérard, „Les héros guérisseurs: des dieux comme les autres! À propos des cultes médicaux dans l’Attique classique“, in: V. Pirenne-Delforge – E. Suárez de la Torre (Hgg.), Héros et héroïnes dans les mythes et les cultes grecs. Kernos, Suppl. () - lehnte die Thesen Riethmüllers ab; ihre
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Athen auch die Übernahme von landschaftlichen Elementen? Die bereits angesprochene Telemachosstele liefert vielleicht einen Hinweis hierauf: Im Jahre 413/12 v. Chr., unter dem Archon Kleokritos, sollten die Pflanzung eines Haines sowie weitere dekorative Maßnahmen erfolgen.¹¹⁴ Fritz Graf wies darauf hin, dass heilige Haine sehr wahrscheinlich konstitutive Elemente griechischer Asklepieia gewesen sein könnten;¹¹⁵ in Epidauros gab es sicherlich einen Hain, denn Pausanias verwendet häufig den Begriff alsos, um das gesamte Heiligtum zu umschreiben.¹¹⁶ Auch wenn es keine Belege für die Anlegung eines Haines im athenischen Asklepieion in Anlehnung an Epidauros gibt, deuten alle Indizien doch darauf hin, dass die bewusste Pflanzung des neuen Haines am Südabhang der Akropolis einen Akt der imitatio darstellt.¹¹⁷ Eine artifizielle Erschaffung eines Haines kann man archäologisch sehr gut am Beispiel des „Gartens“ um den Hephaistostempel an der Athener Agora nachweisen, der aller Wahrscheinlichkeit nach im frühen 3. Jh. angelegt wurde, und am heiligen Hain südöstlich des Zeustempels in Nemea, der im 5. und 4. Jh. entstand.¹¹⁸ Schwer erklärbar erscheint die sehr späte literarische Überlieferung über die Existenz einer Quelle namens Kastalia im oder beim Apollonheiligtum des syrischen Daphne bei Antiocheia. Die bloße Nennung der syrischen Quelle in der Suda¹¹⁹ erlaubt keinen Aufschluss darüber, ob zwischen dem delphischen und dem daphnischen Apollonheiligtum je eine Verbindung existiert hat. Die Berichte
Argumente sind m. E. wenig überzeugend. Ausführlicher hierzu in J. Mylonopoulos, „The Dynamics of Ritual Space in the Hellenistic and Roman East“, Kernos (). Inscriptiones Graecae II² : Κλε]όκριτος· ἐπ[ὶ τού] / [το] ἐφύτευσε καὶ [κατέσ] / τησε κοσμήσας τ[ὸ τέμε] / νος ἅπαν τέλει τῶι ἑαυ] / [τ]ô. Graf, „Heiligtum und Ritual“, a. O. (Anm. ) -. Pausanias II, , : τὸ δὲ ἱερὸν ἄλσος τοῦ Ἀσκληπιοῦ περιέχουσιν ὅροι πανταχόθεν. Siehe auch P. Kavvadias, Τὸ ἱερὸν τοῦ Ἀσκληπιοῦ ἐν Ἐπιδαύρῳ καὶ ἡ θεραπεία τῶν ἀσθενῶν () . Interessanterweise hat Riethmüller, Asklepios, a. O. (Anm. ) f. in seiner monumentalen Arbeit sowohl auf die Existenz und Bedeutung von Hainen in Asklepieia in Anlehnung an Fritz Graf hingewiesen als auch die enge architektonische und strukturelle Verbindung zwischen Athen und Epidauros vorbildlich herausgearbeitet. Und dennoch hat Riethmüller den Hain des Athener Asklepieion nicht im Kontext des Transfers gesehen. Athen: D. Burr Thompson, „The Garden of Hephaistos“, Hesperia () -. Ich halte den Begriff „Garten“ für problematisch, da er romantisierende, quasi „arkadische“ Assoziationen hervorruft. Es handelt sich m. E. um die künstliche Erschaffung eines kleinen heiligen Haines, der den vorhandenen Platz um den Tempel optimal zu nutzen scheint. Der Hain im Athener Asklepieion kann aus reinen Platzgründen auch nicht viel größer gewesen sein. Nemea: D. E. Birge – L. H. Kraynak – S. Miller, Nemea I: Topographical and Architectural Studies: The Sacred Square, the Xenon, and the Bath () -. Suda s. v. „Κασταλία“: πηγὴ ἦν ἐν τῇ καλουμένη Δάφνῃ ἐν ᾗ ἐλέγετο παρεδρεύειν τὸν Ἀπόλλωνα καὶ χρησμολογεῖν, αὔρας καὶ πνοῆς ἐκ τοῦ ὕδατος ἀναδιδομένης. ἐξ ὧν οἱ περὶ τὴν πηγὴν ἔλεγον, ἅπερ οἱ δαίμονες ἔλεγον.
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des Prokopios¹²⁰ und des Pseudo-Nonnos¹²¹ aus dem 5./6. Jh. n. Chr. muten wie eine literarische bricolage an, in der eine womöglich existierende Quelle mit rituellen Akten in Verbindung gebracht wurde, die traditionell für die zwei wichtigsten Apollonorakelheiligtümer der antiken Welt überliefert wurden. Man muss allerdings nicht, wie Herbert W. Parke, von einer „mental confusion“ der Autoren ausgehen.¹²² Es ist m. E. wahrscheinlicher, dass die mantische Quelle im Apollonheiligtum von Daphne bewusst mit der delphischen Kastalia onomastisch gleichgesetzt wurde. Die Verbindung der aus Didyma und Delphi bekannten Riten mit der Quelle in Daphne vervollständigte dann die symbolische lokale imitatio des berühmten Vorbilds. In diesem Fall wurde nicht, wie im athenischen Asklepieion, ein landschaftliches Element neu geschaffen, sondern vielmehr für ein bereits existierendes eine neue Tradition erfunden. Die überwiegende Mehrzahl der Heiligtümer der ägyptischen Gottheiten weisen Wassereinrichtugen auf,¹²³ und dies hängt sicherlich eng mit der ursprünglichen Bedeutung des Nils in der ägyptischen Religion zusammen.¹²⁴ Die relevanten literarischen Quellen bestätigen die antike religiöse Vorstellung, dass das Wasser in solchen Kultstätten tatsächlich als Nilwasser aufgefasst wurde.¹²⁵ Die virtuelle Präsenz des Nils zeigt sich am eindrucksvollsten am Beispiel des imposanten und in seiner architektonischen Konzeption einzigartigen Komplexes hadrianischer Zeit für die
Prokopios, Epist. : Σὺ μὲν ἔτι σιγᾷς, καὶ ταῦτα τὴν Δάφνην οἰκῶν, τὸ λάλον ὕδωρ ἐκεῖνο καὶ μαντικόν […] ἀλλ’ ἤδη που τάχα τὸ πρᾶγμα μαντεύομαι, μηδὲ τῆς ὑμετέρας Δάφνης πιών. Pseudo-Nonnos, Schol. myth. , : Ἑξκαιδεκάτη ἐστὶν ἱστορία ἡ περὶ τῆς Κασταλίας. ἔστι δὲ αὕτη. Πηγή ἐστιν ἐν Ἀντιοχείᾳ ἐν ᾗ λέγεται τὸν Ἀπόλλωνα παρεδρεύειν, καὶ μαντείας καὶ χρησμοὺς τοῖς ἐρχομένοις περὶ τὸ ὕδωρ λέγεσθαι. λέγεται δὲ ὅτι, ἡνίκα ἐμαντεύετό τις, αὔρας καὶ πνοὰς τὸ ὕδωρ ἀνεδίδου. καὶ ἀναδιδομένων τῶν τοιούτων πνευμάτων, οἱ ἱερεῖς οἱ περὶ τὴν πηγὴν ἔλεγον ἃ ἤθελεν ὁ δαίμων. , : Τεσσαρεσκαιδεκάτη ἐστὶν ἱστορία ἡ περὶ τῆς Κασταλίας. Ἔστι δὲ αὕτη πηγὴ περὶ τὴν Ἀντιόχειαν ἐν ᾗ ὁ Ἀπόλλων ἐφορεύει. ἐν ᾗ πηγῇ μαντεία τις ἐξεφέρετο κατὰ τὴν τοιάνδε ἐκροὴν τοῦ ὕδατος, οὐ κατὰ φωνήν. οὐ γὰρ φωνή τις ἐξηχεῖτο, ἀλλ’ ἁπλῶς ἤχου τινὸς καὶ πνεύματος ἀναδιδομένου καὶ ἐκροῆς, πρὸς ἅ τινες ἱστάμενοι καὶ νοοῦντες τὰ σύμβολα ταῦτα ἔλεγον τὰ μέλλοντα. Parke, „Castalia“, a. O. (Anm. ) . M. Bommas, Heiligtum und Mysterium. Griechenland und seine ägyptischen Gottheiten (). B. Gessler-Löhr, Die heiligen Seen ägyptischer Tempel: Ein Beitrag zur Deutung sakraler Baukunst im Alten Ägypten (); K. Lembke, „The Relevance of Water in Religious Worship of Ancient Egypt and the Middle East“, in: H.-D. Bienert – J. Häser (Hgg.), Men of Dikes and Canals. The Archaeology of Water in the Middle East () -. Der kleine Fluss Inopos, von dem das Wasserreservoir unter dem Serapeion A auf Delos gespeist wird, war nach einigen Autoren mit dem Nil direkt verbunden, siehe R. A. Wild, Water in the Cultic Worship of Isis and Sarapis () mit Anm .
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ägyptischen Götter in Pergamon (Abb. 6).¹²⁶ Neben ägyptisierenden Stützfiguren in den Seitenhöfen der Gesamtanlage offenbaren die wasserbezogenen Einrichtungen (Becken verschiedener Größe, Überbrückung des Selinous) den Versuch, eine nilotisch anmutende Umgebung zu schaffen.¹²⁷ Denkt Abb. 6: Das Heiligtum der ägyptischen Götter in Pergamon. man an die Funktion und Gestaltung des großen Isisheiligtums in Rom, als Heiligtum und zugleich als öffentlichen ägyptisierenden „Erholungspark“,¹²⁸ dürfte man auch für die sog. Rote Halle entsprechende Bepflanzung annehmen, die den Eindruck einer ägyptischen Umgebung erhöhen sollte. Das pergamenische Heiligtum für die ägyptischen Götter offenbart einen in der Tat architektonisch und symbolisch beeindruckenden Umgang mit der Natur. Durch die Eingliederung des Flusses Selinous in die architektonische Konzeption und die Erschaffung von Zisternen und Wasserbassins bedient man sich sowohl des Mittels der Integration als auch der Imitation. Besonders aufschlussreich für das Phänomen der Imitation und der künstlichen Erschaffung von landschaftlichen Elementen im religiösen Kontext sind die gebauten Grotten im Kult des Dionysos und des Mithras, wobei im Falle der Mithräen ein kurzer Ausflug in den römischen Kulturkreis unabdingbar erscheint. In diesem Zusammenhang sollten noch die gebauten Grotten unter dem Tempel des Apollon in Klaros wohl aus dem 3. Jh. v. Chr.¹²⁹ und dem jüngst in die flavische W. Radt, Pergamon. Geschichte und Bauten einer antiken Metropole () -. Die meisten Beiträge in A. Hoffmann (Hg.), Ägyptische Kulte und ihre Heiligtümer im Osten des römischen Reiches, Byzas () konzentrieren sich auf die sog. Rote Halle. U. Mania, „Neue Ausgrabungen – neue Aspekte in der Erforschung der Roten Halle“, in: Hoffmann (Hg.), Ägyptische Kulte, a. O. (Anm. ) -. K. Lembke, Das Iseum Campense in Rom. Studie über den Isiskult unter Domitian () : „Die Römer, die kein Interesse am Isiskult hatten, konnten die Anlage auf dem Marsfeld als Erholungspark genießen und die Exotik der Objekte bewundern; für die Isiaci waren die ägyptischen Objekte Teile der Heiligtümer des Mutterlandes“. L. Robert, Les fouilles de Claros () . Jüngst schlug Y. Ustinova, „Truth lies at the bottom of a cave: Apollo Pholeuterios, the pholarchs of the Eleats, and subterranean oracles“, La Parola del Passato () - vor, dass Apollon Pholeuterios in Histria in einer Grotte verehrt wurde, die als manteion diente. Auch ein Ärztekollegium um den Kult des
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Zeit datierten Tempel des Zeus in Aizanoi¹³⁰ erwähnt werden. Wie bereits angesprochen, war die klarische „Grotte“ in die Orakelbefragungsprozesse unmittelbar eingebunden, so dass ihre Existenz leicht erklärbar wäre. Dagegen erscheint mir die Verbindung des unterirdischen Raumes in Aizanoi mit dem Kult der Meter Steunene unhaltbar;¹³¹ diese Hypothese stützt sich auf eine weibliche Büste im Mittelakroter des Westgiebels, derer Deutung als Kybele mehr als problematisch ist.¹³² Die Gründe für die Einrichtung des unterirdischen Raumes müssen im Kult des Zeus (Mantik?) gesucht werden. Die Bedeutung natürlicher Grotten im dionysischen Kult ist bekannt und hängt natürlich eng mit dem mythischen „Lebenslauf“ des Gottes zusammen.¹³³ Epigraphische Zeugnisse belegen aber auch die Existenz künstlicher Grotten: Offensichtlich gab es in Kallatis bereits am Ende des 3. Jhs. v. Chr. eine artifizielle Grotte, die vom lokalen thiasos des Dionysos als naos angesprochen und verwendet wurde.¹³⁴ Verglichen allerdings mit der engen Verbindung der Nymphen und des Pan mit Höhlen, die auch im realen alltäglichen Kultgeschehen ihren Niederschlag findet, bleibt m. E. der Zusammenhang zwischen Dionysos und den Grotten viel deutlicher ein literarischer und mythologischer Topos denn eine archäologisch nachvollziehbare Realität. Unabhängig von der Frage nach dem Ursprung der Mithras-Mysterien, die nach der Publikation der Mithräen im kommagenischen Doliche durch Anke Schütte-Maischatz und Engelbert Winter in jedem Fall neu aufgerollt werden sollte,¹³⁵ ist die Tatsache besonders auffällig, dass
Apollon Oulios in Elea traf sich höchst wahrscheinlich in einem unterirdischen Raum (Supplementum Epigraphicum Graecum , ). R. Naumann, Der Zeustempel zu Aizanoi () f. Zur neuen Datierung siehe R. Posamentir – M. Wörrle, „Der Zeustempel von Aizanoi, ein Großbau flavischer Zeit“, Istanbuler Mitteilungen () -. Naumann, Zeustempel, a. O. (Anm. ) . K. Rheidt, „Ländlicher Kult und städtische Siedlung: Aizanoi in Phrygien“, in: E.-L. Schwandner – K. Rheidt (Hgg.), Stadt und Umland. Neue Ergebnisse der archäologischen Bau- und Siedlungsforschung () f. hat sich auf der Basis der „Entwicklung und Struktur der Stadt“ ebenfalls gegen eine Verbindung zwischen dem Zeustempel und dem Meterkult ausgesprochen. Naumann, Zeustempel, a. O. (Anm. ) Taf. a. Es gibt keinen einzigen sicheren ikonographischen Hinweis auf Kybele. P. Boyancé, „L’antre dans les mystères de Dionysos“, Rendiconti. Atti della Pontificia accademia romana di archeologia (-) -. A.-F. Jaccottet, Choisir Dionysos. Les associations dionysiaques ou la face cachée du dionysisme () -. Es handelt sich nicht um natürliche Höhlen, sondern um artifiziell zum Zwecke des Steinabbaus entstandene Stollen, die zu einem späteren Zeitpunkt in Mithräen umgewandelt wurden. A. Schütte-Maischatz – E. Winter, Doliche – Eine kommagenische Stadt und ihre Götter. Mithras und Iupiter Dolichenus () -. - datieren die zwei Komplexe in das . Jh. v. Chr. In seinem Rezensionsbeitrag lehnt R. Gordon, „Mithras in Dolichê: issues of date and origin“, Journal of Roman Archaeology () - diese Datietung
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bei der Gründung von Mithräen in landschaftlichen Kontexten, die keine geeigneten natürlichen Grotten aufzuweisen hatten, der Versuch unternommen wurde, eine solche räumliche Umgebung künstlich zu schaffen. Es lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten, ob die Schaffung einer Grotte ausschließlich auf religiöse Vorstellungen (Tötung des Stieres durch Mithras in einer Höhle) oder auch auf ein als „Prototyp“ wirkendes Mutterheiligtum zurückgeht. In jedem Falle betont Porphyrios im 3. Jh. n. Chr., daß die allererste Verehrung des Gottes in einer natürlichen Grotte stattgefunden habe, und fügt allerdings in derselben Passage hinzu, dass danach der Kult sowohl in natürlichen als auch in „von Händen geschaffenen“ Höhlen stattgefunden hat.¹³⁶ Wichtig für unsere Fragestellung ist, dass die Kultgemeinde in Porphyrios’ Sinne in der Tat entweder natürliche Höhlen gefunden, aus- bzw. umgebaut und schließlich als Mithräen benutzt hat (z. B. in Angera, Saarbrücken, Carnuntum oder Prilep), oder – und viel wichtiger – diese offensichtlich normative natürliche Umgebung zu imitieren und künstlich zu erschaffen gesucht hat (z. B. in Perge, Ostia, Capua oder Aigion).
Schlussbetrachtung In einem für ein solch umfangreiches Thema doch kurzen Beitrag kann aus offensichtlichen Gründen auf eine große Anzahl interessanter Aspekte nicht eingegangen werden. Die Präsenz landschaftlicher Elemente in der griechischen Bilderwelt wurde zwar kurz angesprochen, aber keineswegs ihrer Bedeutung entsprechend gewürdigt.¹³⁷ Es würde den Rahmen des vorliegenden Beitrages bei weitem sprenkomplett ab und vermutet stattdessen, dass die Mithräen erst im . Jh. n. Chr. entstanden sind. Die vorgelegten Grabungsbefunde offenbaren eine so stark gestörte Stratigraphie, dass weder für die frühe noch für die späte Datierung genügend Argumente vorhanden sind. Porphyrios, De antro nympharum : πρώτου μέν, ὡς ἔφη Εὔβουλος, Ζωροάστρου αὐτοφυὲς σπήλαιον ἐν τοῖς πλησίον ὄρεσι τῆς Περσίδος ἀνθηρὸν καὶ πηγὰς ἔχον ἀνιερώσαντος εἰς τιμὴν τοῦ πάντων ποιητοῦ καὶ πατρὸς Μίθρου, εἰκόνα φέροντος αὐτῷ τοῦ σπηλαίου τοῦ κόσμου, ὃν ὁ Μίθρας ἐδημιούργησε, τῶν δ’ ἐντὸς κατὰ συμμέτρους ἀποστάσεις σύμβολα φερόντων τῶν κοσμικῶν στοιχείων καὶ κλιμάτων· μετὰ δὲ τοῦτον τὸν Ζωροάστρην κρατήσαντος καὶ παρὰ τοῖς ἄλλοις, δι’ ἄντρων καὶ σπηλαίων εἴτ’ οὖν αὐτοφυῶν εἴτε χειροποιήτων τὰς τελετὰς ἀποδιδόναι. Überhaupt ist Porphyrios’ Text in seiner Gesamtheit sehr wichtig für die hier angesprochenen Phänomene. Zu diesem unerschöpflichen Thema siehe unter anderem S. Wegener, Funktion und Bedeutung landschaftlicher Elemente in der griechischen Reliefkunst archaischer bis hellenistischer Zeit (); mehrere Beiträge in G. Siebert (Hg.), Nature et paysage dans la pensée et l’environnement des civilisations antiques () widmen sich dem Thema „Kunst und Natur“.
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gen, wenn man die Naturphilosophie der Vorsokratiker¹³⁸ oder die Behandlung und symbolhafte Verwendung von Natur in den unterschiedlichen literarischen Gattungen¹³⁹ auch nur anzusprechen versucht hätte. Aber auch in dem hier untersuchten Kontext wurden interessante Fallbeispiele wie die rätselhafte Krypta unter dem Zeustempel in Nemea, die Grotte des Euripides auf Salamis, die genaue Verbindung zwischen dem heiligen Olivenbaum Athens und dem Erechtheion, die auffällige Konzentration von Nymphengrotten auf Kephallonia und Ithaka, die besondere Nutzung der Nymphengrotte im zyprischen Kafizin von Töpfern, die Rolle von unterirdischen Kammern in den katabaseis von Figuren wie Zalmoxis oder Pythagoras oder die visionäre Kommunikation zwischen Epimenides und den Göttern in der Diktäischen Grotte auf Kreta nicht thematisiert. Man muss sich nicht totemistischer oder animistischer Ansätze bedienen, um behaupten zu können, dass Grotten, Quellen, Flüsse, Berggipfel oder Haine die Aura des Heiligen umgab und dass dieser Umstand sich eindeutig nicht ausschließlich auf die griechisch-römische Antike beschränkt. Die Einbindung der Klöster auf dem Berg Athos in die sie umgebende Landschaft, die Bedeutung der Grotte des Apostels Johannes auf Patmos oder die transzendierende Funktion von Grotten in der Religion und Kultausübung in Tibet zeugen von der diachronen und universellen Interaktion zwischen Landschaft und Religion. Man muss allerdings nicht wie Sporn annehmen, „der Gott wurde durch den Naturraum verkörpert“.¹⁴⁰ Auch wenn im mythologischen Geschehen göttliche Transformationen in Pflanzen, Bäume oder Quellen eine wichtige Rolle spielten, handelte es sich im religiösen bzw. kultischen Kontext weniger um Verkörperung durch die Natur als vielmehr um die Evokation des Göttlichen durch das Unberührbare, Unheimliche, Andersartige der Natur im Sinne Senecas. Und dennoch wurde Natur in der Antike über das „Andere“ bzw. das „Fremde“ hinaus verstanden. Sie wurde nicht nur als natürliche, manchmal Gefahren bringende manchmal ökonomisch nutzbare Umgebung oder als Akkumulation einzelner, auffälliger landschaftlicher Komponenten gesehen, sondern vielmehr als ein geologisch, geographisch, klimatisch aber auch sozial und kulturell definiertes System von Interdependenzen zwischen Menschen und ihrem physischen Aktionskontext konzeptuell aufgefasst. Aus diesem Grund war es erst möglich, dass natürliche landschaftliche Elemente transformiert und in den von Menschen konzipierten sozialen Raum integriert werden konnten, ohne ihre religiöse bzw. kultische Relevanz einzubüssen. Die natürliche Unberührtheit einer Landschaft konnte bis zu einem gewissen Grad kulturell definiert und neu konstruiert werden; antike Quellen scheinen deshalb nicht immer strikt zwischen „artifiziell“ und „natürlich“ zu differenzieren, denn Siehe zuletzt J. Warren, Presocratics. Natural Philosophers before Sokrates (). Siehe z. B. W. Elliger, Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung (). Sporn, „Höhlenheiligtümer“, a. O. (Anm. ) .
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Archiv für Religionsgeschichte, 10. Band, 2008
Natur wurde definitiv nicht als eine statische und unveränderbare Größe konzeptualisiert. Naturräume konnten im antiken Griechenland auf zweierlei Arten kultisch genutzt werden: zum einen als unveränderte Naturerscheinung, in oder bei der die rituellen Abläufe stattfanden, und zum anderen als Kulisse für die Errichtung von Altären und Tempeln; im zweiten Fall darf der Begriff „Kulisse“ uns nicht in die Irre leiten, denn nur die physische Umgebung legitimierte und erklärte manchmal das menschliche, religiös konnotierte Eingreifen in das natürliche Landschaftsbild und übernahm demnach die Rolle eines den Kult konstituierenden Elements. Diese natürliche Umgebung bekommt manchmal eine solch wichtige Bedeutung, dass sie beim Transfer von Kulten in einen anderen geographischen und kulturellen Kontext imitiert bzw. konstruiert wird. Als mehr oder weniger naturbelassene Kultstätten treten vorwiegend Grotten und heilige Haine in Erscheinung. Diese landschaftlichen Elemente, aber auch Quellen werden am häufigsten in einen größeren baulich geformten Komplex integriert. Hierbei muss allerdings eine semantische Differenzierung vorgenommen werden: Während Grotten und Quellen in die rituellen Handlungen explizit eingebunden werden, man denke z. B. an die Totenorakel oder an die Asklepieia, dienen die heiligen Haine „unmittelbar der Verherrlichung einer Gottheit“, wie Marietta Horster es treffend formulierte.¹⁴¹ In Bezug auf die Imitation von landschaftlichen Elementen, wobei der Begriff „Imitation“ keineswegs als eine direkte Übertragung verstanden werden sollte, begegnen uns erneut vorwiegend Wassereinrichtungen und Grotten. Es handelte sich in diesen Fällen um Landschaftsmerkmale, die für das rituelle Leben offensichtlich eine fast normative Bedeutung hatten und durch ihre künstliche, bewusste Schaffung die enge Verbindung zwischen Natur und Religion am deutlichsten demonstrieren.
Prof. Joannis Mylonopoulos Greek Art and Archaeology Department of Art History and Archaeology Columbia University 903 Schermerhorm Hall 1190 Amsterdam Ave. New York, NY 10027 USA
[email protected]
Horster, Landbesitz griechischer Heiligtümer, a. O. (Anm. ) .
J. Mylonopoulos, Natur als Heiligtum – Natur im Heiligtum
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Abbildungsnachweis Abb. 1: Verf. Abb. 2: nach L. Moschou, „Τοπογραφικὰ Μάνης“, Ἀρχαιολογικὰ Ἀνάλεκτα ἐξ Ἀθηνῶν 8 (1975) 168, Abb. 5. Abb. 3: Verf. Abb. 4: Verf. Abb. 5: nach J. Riethmüller, Asklepios. Heiligtümer und Kulte, Bd. I (2005) 253, Abb. 36. Abb. 6: nach W. Radt, Pergamon. Geschichte und Bauten einer antiken Metropole (1999) 202, Abb. 144.