Kösel Sachbuch Redaktion: Hermann Hemminger
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lackner, Stephan: Die fried...
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Kösel Sachbuch Redaktion: Hermann Hemminger
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lackner, Stephan: Die friedfertige Natur : Symbiose statt Kampf / Stephan Lackner. - München : Kösel. 1982. (Kösel-Sachbuch) ISBN 3-466-11022-X © 1982 Kösel-Verlag GmbH & Co., München Alle Rechte vorbehalten Bearbeitung: Hubert Stadier Umschlag: Design Team, München Gesamtherstellung: Kösel, Kempten Printed in Germany ISBN3-466-11022-X
Inhalt
Die friedfertige Natur Erstes Kapitel - Wert und Unwert des Lebens ..............................
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Das Leben, manchmal strahlend, manchmal elend, kann ohne Kooperation nicht funktionieren: der Rasen braucht Regenwürmer zum Auflockern, unser Darm braucht Verdauungsbakterien. Zweites Kapitel — Sinn der biologischen Entwicklung ...............
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Die Karriere vieler Lebewesen zielt auf Verfeinerung und Verschönerung hin. Die Zuchtwahl wird nicht bloß durch Konkurrenz bestimmt, sondern ebenso durch liebevolle Partnerwahl.
Drittes Kapitel — Unsinn der Geschichte
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Die Triebkräfte der Geschichte sind nicht abstrakt zweckbedingt, sie sind beschränkte Lebensfunktionen. Hackordnung, territoriale Herrschsucht und Tabus können durchschaut und überwunden werden. Viertes Kapitel — Menschsein: ein Balanceakt..............................
Der Urmensch, sich aufrichtend, entdeckte den Stab als Verlängerung des zu kurz gebliebenen Arms. Trotz unbeschränkter Erweiterung seiner Einflußsphäre bleibt der Mensch labil, ungleichgewichtig, gefährdet.
99
Fünftes Kapitel — Möglicher Sinn, sinnvolle Möglichkeiten . . . . 131
Todesfurcht - Weltekel - Fatalismus: diese drei Hauptfeinde des frischen, frohen Lebensgefühls lassen sich durch die Vernunft überwinden. Das Ziel ist klar: der menschlichere Mensch. Zusammenfassung - Optimistisches Manifest ................................167
Die friedfertige Natur
Der Mensch ist nicht am Ende. Herausgefordert durch tödliche Gefahren, beginnt er sich erst jetzt voll zu entfalten.
(Robert Jungk, Der Jahrtausendmensch)
Die ungeheure Dringlichkeit der menschlichen Friedensbestrebungen wird durch das bisherige biologische Denken keineswegs unterstützt. Der Neo-Darwinismus behauptet, daß Kampf in der Natur nicht nur allgegenwärtig, sondern für die Entwicklung der Arten sogar heilsam sei. Die gewaltsame Auswahl der Geeignetsten durch und für den Lebenskampf: das ist die Prämisse des biologischen Denkens seit mehr als hundert Jahren. Aus diesem grausamen Dogma wird alles Wesentliche hergeleitet: die Höherentwicklung der Arten, die Rangordnung zwischen nicht miteinander verwandten Lebensformen, schließlich auch der industrielle Fortschritt, ja der Zweck des Lebens. Wenn der Biologe in die goldgrün webende, friedliche Natur hinausschaut, hat er fast ein schlechtes Gewissen, weil er gerade nicht die - natürlich vorhandenen — Kampfhandlungen aufspürt. Daß riesige Flamingoscharen ohne Feinde leben und doch nicht degenerieren, daß jede raubtierlose Inselfauna tadellos durch Jahrtausende gedeiht, das wird als zu belächelndes Ausnahmephänomen hingestellt. Das Eigentliche ist - für den Biologen - die harte Zuchtwahl durch Beseitigung der Schwächeren und Deformierten. Man will nicht zur Kenntnis nehmen, daß beispielsweise Bienen kaum todbringende Feinde haben, daß sie ganz überwiegend an Altersschwäche sterben; sie töten auch kaum andere Kreaturen. Sind sie deshalb etwa untüchtig? Die Natur ist unendlich vielfältiger, als man nach dem Prinzip des survival of the fittest (des Überlebens der Geeignetsten) annehmen dürfte. Die Natur hat von jeher sozusagen spielerisch zahllose neue, stabile Formen hervorgebracht. Liebe, Kooperation und Symbiose waren hierbei ebenso am Werk wie Konkurrenz. Wären die darwinistischen Zuchtwahlprinzipien wirklich allgültig, so müßte die Erde nur von tarnfarbenen, stachligen, übelschmeckenden oder gar giftigen Wesen bevölkert sein. Das ist nicht der Fall: mit
Blütenpracht und Vogelsang, mit Pfauen und Pfauenaugen breitet sich Schönheit in der Biosphäre aus. Also muß ein Prinzip in der Natur wirken, das der Verkrampfung des Lebens im »Kampf ums Dasein« entgegenarbeitet. Manche Biologen behaupten, daß der natürliche Tod eigentlich unnatürlich genannt werden sollte. Dies stimmt nachweislich nicht. In langjährigen Studien und Beobachtungen bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß etwa 95 Prozent aller Wesen ein friedfertiges Leben führen und ihre Daseinsfrist einer innerlich ablaufenden Uhr entsprechend ausnützen. Dies gilt allerdings bloß dann, wenn die Raub- und Tötungssucht des Menschen nicht eingreift! Sicher, Grausamkeit und Gewalt spielen eine Rolle in der Biosphäre und haben die Evolution mitbestimmt; das kann man ruhig konstatieren, ohne es deshalb zu verherrlichen. Eine friedfertig orientierte Biologie gäbe auch dem Menschen neue Gründe zum Optimismus. Sie könnte zeigen, daß überall die Wesen das Leben als etwas Wünschenswertes empfinden und nicht als Vorspiel zu einer Katastrophe. Die meisten Jungtiere spielen offensichtlich lebensfroh miteinander, die Blüte wendet sich der Sonne zu, und der Schmetterling genießt ihren Honig. Wenn nun das Leben als solches ein erstrebenswertes Gut ist, braucht man nicht nach außerweltlichen, transzendenten oder sonstwie übergeordneten Lebenszwecken zu suchen. Dann kann man um des Lebens willen leben. Man kann sich dann an eine Weisheit halten, die bei vielen Denkern zu vielen Zeiten anklingt; so schreibt etwa Heinrich Heine an Karl Gutzkow (am 28. August 1838): »Kunst ist der Zweck der Kunst, wie Liebe der Zweck der Liebe und gar das Leben selbst der Zweck des Lebens ist.« Da die biologischen Fachwissenschaften ihre weltanschaulichen Grundlagen wohl kaum sehr bald revidieren werden, ist es an der Zeit, eine neue Weltansicht zu etablieren. »Biosophie«, also Lebensweisheit, will dem trostlosen Fatalismus der Existentialisten und Behavioristen einen begründeten Optimismus entgegenstellen. Das Leben ist nicht »Kampf aller gegen alle«. Eine biosophische Bestandsaufnahme und Zielsetzung hat Auswirkungen auf vielen Wissensgebieten, von der Paläontologie über die Geschichtswissenschaft bis zur Futurologie und zur praktischen Lebenshilfe. Die Biosophie zeigt, daß der Mensch nicht »natürlich« handelt, wenn er den Krieg als Grundgesetz des Daseins proklamiert, sondern daß er sich damit gegen die - größtenteils friedfertige — Natur vergeht. 10
Die Biosophie soll die Forschungsresultate der gründlichen biologischen Detailarbeit mit dem Verallgemeinerungswillen der Philosophie verbinden. Mit diesem Terminus ist keine Sektiererei beabsichtigt; es soll nur eine gewisse Tendenz unter einen einprägsamen, schlagwortartigen Begriff gebracht werden, um die Zusammenfassung schon vielfach bemerkbarer Bestrebungen zu erleichtern. Seit ich als amerikanischer Soldat im Zweiten Weltkrieg die Sinnlosigkeit des menschlichen Zerstörungswillens in blutiger Nähe erfuhr, hat mich die Problematik aggressiven Verhaltens nicht mehr losgelassen. Und diese Gefahr wird von Jahr zu Jahr rasanter. Wie das Stockholmer Friedensinstitut festgestellt hat, waren im Ersten Weltkrieg 20 Prozent, im Zweiten Weltkrieg über die Hälfte und im Vietnamkrieg etwa 90 Prozent der Opfer Zivilisten. Man soll ja nicht linear in die Zukunft hinaus projizieren, aber... In einem berühmt-berüchtigten Interview, das der »Vater der Neutronenbombe«, Samuel T. Cohen, 1981 dem holländischen Fernsehen gab, wurde gefragt: »Denken Sie, daß es Krieg geben wird?« — Doktor Cohens Antwort: »Ja, es ist fürchterlich zu sagen. Ja, ich denke schon. Ich denke, daß es einfach in der Natur des Menschen liegt, das Kämpfen. Es hat immer Kriege gegeben...« Die These, daß der Aggressionstrieb in der Erbmasse des Menschen vorgegeben sei, wird jedoch durch zahlreiche neuere Forschungsergebnisse widerlegt. Das Beispiel der friedlichen Hunsa ist weithin bekannt geworden. Auch der kleine Stamm der Semai in Malaysia kennt keine Angriffslust. Kinder werden dort niemals körperlich bestraft, sie sehen keine Gewaltanwendung und können deshalb kein aggressives Verhaltensmodell imitieren. Mord ist daher bei den Semai unbekannt. — Selbst ein einziges solches Beispiel genügt, das alte fatalistische Einverständnis mit dem »natürlichen« Krieg grundlos zu machen. Immerhin hoffe ich, daß dieses Buch es der aktuellen Friedensbewegung ermöglichen wird, sich selbst nicht mehr als schwer durchsetzbare Ausnahme zu empfinden. Der Mensch muß sich endlich der - meistens friedfertigen - Natur einordnen und seine eigene, tatsächlich unnatürliche Aggression eindämmen. Santa Barbara, im Januar 1982
Stephan Lackner
Erstes Kapitel Wert und Unwert des Lebens
»Es wird dunkel«, sagte die Eintagsfliege, »der einzige Tag der Welt geht zu Ende.«
Schließlich und endlich, wir müßten doch herausfinden können, was unser Leben ist! Ist es ein sinnleerer Ablauf von Stoffwechselprozessen? Hat es absoluten Wert? Haben die zahlreichen Selbstmörder recht, die das Leben als solches verwerfen? Oder haben die Herzchirurgen recht, die es mit ungeheurer Mühe verlängern? Beide zugleich können nicht recht haben, jedenfalls nicht in ihrer Haltung zu dem eigentlichen Gegenstand Leben. Ist die grenzenlose Angst einer liebenden Mutter um ihr sterbendes Kind »richtiger« als das achselzuckende Jobgefühl des Piloten, der seine Bombenlast durch Hebeldruck auf Tausende entlädt? Rätsel, unabsehbare Rätsel. Und doch: das Leben ist hier! Es handelt sich nicht um einen Spiralnebel in unerreichbarer Ferne, nicht um das Erdinnere, von dem unsere Sinneswahrnehmungen ausgeschlossen sind. Du und ich, wir sind ganz ausgefüllt mit Leben. Man sollte es ergreifen, begreifen können. Manchmal sagen wir so obenhin von einem Bekannten: Was für ein unmöglicher Mensch. Vielleicht haben wir unseren Planeten bereits so denaturiert, daß der Mensch tatsächlich unmöglich geworden ist? Unser Leben lang befinden wir uns mitten drin im Spiel und Widerspiel der lebendigen Kräfte ringsum, auch haben wir die beste Innenansicht vom Leben; sollen wir dann doch am Ende fragen: Was war das eigentlich, das Leben? Es ist vorübergeflirrt, bunt oder grau, manchmal berauschend schön, manchmal überwältigend gräßlich - einzig das Unsere - aber was war es eigentlich? Kann ein Philosoph viel mehr sagen als ein Schankwirt, der seinen deprimierten Gast tröstet: So ist das Leben eben - ?
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Wir müssen das Leben nach seinen eigenen Bedingungen akzeptieren. Es gibt keine anderen, jedenfalls keine, die für uns in Betracht kämen. Wir müssen von »gut« und »schlecht« reden, auch wenn uns die Relativität solcher Wertsetzungen völlig bewußt ist. »Gut für wen?« — so haben wir stets zu fragen, bevor wir Entscheidungen fällen. Je allgemeiner sich dieses »gut« auswirken kann, desto wünschenswerter. Die ansteigende Stufenleiter immer positiverer Werte stellt sich demnach etwa so dar: Gut für mich selbst - für meine Familie — für meine Gemeinde, meinen Verein, meine weltanschauliche oder religiöse Gruppe - für meine Nation - für die Menschheit; erst bei der allgemeinsten Zielsetzung »gut für das Leben« hebt sich die Relativität dann auf, und wir können ruhig ein allgemeinverbindliches Gut ins Auge fassen. Geradeso müssen wir von »groß« und »klein« sprechen, als ob das einen wohldefinierten, allgemeinverbindlichen Sinn ergäbe; es heißt aber nur: groß oder klein im Verhältnis zu meiner eignen Größe von nicht ganz zwei Metern. »Klein« bedeutet nie einflußlos oder minderwertig, die innere Struktur einer Zelle ist genauso perfekt wie der ganze Mensch, es fehlt da nichts infolge ihrer sogenannten Kleinheit. Für die Antike galt der Satz des Protagoras: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge.« Ein gesundes Selbstbewußtsein ging damit einher. Erst nach der kopernikanischen Umstülpung des Weltbildes bekam der Mensch einen Minderwertigkeitskomplex. 1686 berichtet Bernard de Fontenelle den Ausruf einer Dame, die von der damals hypermodernen Naturwissenschaft verstört war: »Dieses Universum ist zu groß, ich verliere mich darin. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Ich bin nichts mehr. Die Erde ist so erschreckend klein!« Noch 1973 machte Max Horkheimer eine gefühlsmäßig ganz ähnlich bedingte Aussage: »Die Wissenschaft macht nicht nur den einzelnen, sondern im Grunde die ganze Menschheit zu etwas Vergänglichem, ich möchte fast sagen - angesichts der zahllosen Milchstraßen - zu einem Nichts. Daraus erwächst nun, daß das Leben heute nicht mehr von einem Sinn durchdrungen ist...« Jedoch ist der Mensch keinesfalls deshalb zu verachten, weil der Planet, auf dem er zu Hause ist, im Vergleich zum Kosmos nur als ein Stäubchen erscheinen könnte. Sonst müßte es auch umgekehrt gelten: »Der Mensch untersucht die subatomaren Partikelchen und fühlt sich unendlich wichtig.« Wieso sagt das niemand? Weil der Mensch sein eigenes Maß ist! Groß ist ein Organismus, der größer als das Durchschnittslebewesen in unserer Alltagsumgebung ist. Riesig 16
im Wahrnehmungsbild ist der Blauwal, er erregt in uns den Schauer der Riesenhaftigkeit. Aber damit hört es eben auf, genau wie ein Kolibri nun mal sichtlich winzig ist. Der Mensch ist — normal. Nur keine Bescheidenheit am falschen Platz! Wir haben genug andere Fehler, die uns bescheiden stimmen können. Blaise Pascal erkannte dies deutlich im 17. Jahrhundert: »Was ist letztenendes der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All.« Überraschend wurde diese intuitive Standortbestimmung im 20. Jahrhundert von Arthur Eddington aufs genaueste bestätigt: »Ungefähr in mittlerer Größenordnung zwischen dem Atom und dem Stern befindet sich ein nicht weniger bewundernswertes Gebilde — der menschliche Körper. Etwa 1027 Atome bilden diesen Körper; ungefähr 1028 Menschenleiber würden genug Materie liefern, um einen durchschnittlichen Stern zu bilden.« Die Ziffer zehn, gefolgt von 26 Nullen nach innen, von 27 Nullen nach außen: diese Symmetrie ist erstaunlich, und die Mitte zu bilden wäre eine geradezu kosmische Aufgabe für den Menschen. Vergessen wir jedoch nicht eine andere Ortung für den Menschen, die von Montaigne (1533—1592) stammt und sehr ernüchternd wirkt: »Auf den höchsten Thron der Welt erhoben, sitzen wir doch noch immer auf unserem eigenen Hintern.«
Alles in allem: Das Leben ist ein wunderbares Abenteuer! Muß man diesen Satz mit schlechtem Gewissen aussprechen, angesichts von Kriegen und Schikanen, angesichts von Entbehrung und Entmutigung ringsum? Ist die Liebe zum Leben heute etwas, dessen man sich zu schämen hätte? Entspringt sie einem unmodern gewordenen, naiven Optimismus? Ich glaube nicht. Ich bin überzeugt, daß dies die korrekte Beschreibung eines Tatbestandes ist: Das Leben ist ein begehrenswertes Gut. Die menschliche Seele ist nämlich flexibel genug, sich Auswege aus jeder Misere zu schaffen. Der Mensch ist nicht so geartet, daß er volle 24 Stunden des Tages unglücklich sein kann. Wir besitzen die Fähigkeit, Glücksgefühle in uns selbst zu erzeugen. Ich sage absichtlich nicht: Glück zu empfinden. Denn das Glücksgefühl ist keine Sinneswahrnehmung wie »grün« oder »warm«. Das heißt, die Beziehung »immer wenn, dann« besteht nicht für das Vorkommen 17
des Glücks. Jemand kann den Geschmack von Schokolade als Glück schlechthin empfinden, sich überfressen und plötzlich denselben Geschmackseindruck widerlich finden. Es herrscht da keine mechanistische Kausalverbindung. Nicht einmal der Geschlechtsakt gibt die Garantie für einen »Lustgewinn«. Das Glück wird tief in uns selbst erzeugt. Die Dichter beschreiben, daß einem »die Brust zerspringen will« vor Wonne. Physiologischer Nonsens? Gewiß; aber phänomenologisch eine gute Darstellung der Ausweitung des Ichs, die durch das Glücksgefühl zustande kommt. Jemand hat ein glückliches Temperament und kann Zufriedenheit spüren, wenn der Abendstern in sein Zellenfenster leuchtet. Ein anderer muß ein offizielles Bankett mit Kaviar und Sekt absolvieren und ist angeödet. Ein dritter ist humoristisch veranlagt und sieht komische Karikaturen in solchen Gesichtern von Mitmenschen, die einem vierten als furchterregende Fratzen erscheinen. Es gibt da keine Norm, das Glückspotential ist in jedem Menschen verschieden. Aber jeder kennt das Glück. Jeder besitzt ein anderes Glück. Das Merkwürdige ist nun, daß Glück trotzdem oft ansteckend wirkt. Ein Glücklicher kann - durch Suggestion, Erklärung oder Beispiel — die Möglichkeit der Lust (oder wenigstens der Freude) in seinem Nächsten hervorrufen. Als Junge verließ ich einmal mit meiner Mutter ein Haus; es hatte gerade geregnet, und die Straße stand voll unerwarteter Pfützen. »So ein häßlicher Dreck!« schimpfte meine Mutter. Ich widersprach: »Schau nur, wie hübsch sich die Wolken in den Pfützen spiegeln!« Ihr Gesicht hellte sich auf, und sie ließ sich von mir über die Wasserlachen helfen. »Das ist gerade, als ob wir durch den Himmel hüpften!« sagte sie ganz vergnügt. Unsere Glücksfähigkeit ist etwas Kostbares. Wir sollten sie bewußter kultivieren, nicht nur um unserer selbst willen, sondern damit die Erde ein freundlicherer Aufenthalt wird. Selbstverständlich kann keiner mit Bestimmtheit wissen, was in einem ändern Ich vorgeht. Deine Lustempfindung kann völlig verschieden von der meinigen sein. Jedoch - Analogieschlüsse sind verführerisch. Gefühlsmäßig erscheint mir der Maulwurf als mißgelauntes Wesen. Aber vielleicht ist er sehr zufrieden da unten im Dunkeln - und manchmal sogar selig? »Wollust ward dem Wurm gegeben«, sagte Schiller. Woher kam ihm diese Kenntnis? War er selbst einmal ein Wurm? Kennt der Dichter den Wurm besser als der Wurm sich selbst? 18
Auf das Risiko hin, daß ich nur meine eigene Veranlagung auf andere projiziere, behaupte ich: Jedes höher entwickelte Lebewesen verspürt, für Augenblicke wenigstens, reine Lust. Ich glaube, jede Menschenseele ist von den äußeren Daseinsbedingungen so unabhängig, daß sie zwischendurch doch ein fast unbegründetes, ganz irrationales Jauchzen ausstößt. Der Grund mag im Überfließen einer endokrinen Drüse liegen; das ist egal. Wie herrlich ist es doch manchmal, sich lebendig zu fühlen, da zu sein! Es ist schon wie im amerikanischen Sprichwort, the best things in life are free; für die besten Momente im Leben braucht man nicht zu bezahlen, weder mit Geld noch mit einem Katzenjammer.
Das Vorwärtskommen im mechanischen Sinn ist unserem Dasein nicht gemäß. Theoretisch ließe sich ja denken, daß ein Kind schon einen ganz bestimmten Lebenszweck für sich erkennt oder wählt und dann unbeirrbar auf die Erfüllung zueilt. Praktisch ist dies nie der Fall. Es wäre auch angesichts der Vielfalt unserer Erlebnismöglichkeiten durchaus nicht wünschenswert. Gradlinig ist das Leben eines Schweines von den Zitzen der Muttersau bis zum Räucherofen. Da ist es vergleichsweise schon vorzuziehen, daß wir uns bisweilen sinnlos fühlen. Nur dürfen wir dieses subjektive Gefühl nicht objektivieren wollen. Das taedium vitae (der Lebensüberdruß) der spätrömischen Antike, die existentielle nausee (der Ekel) müssen uns als zeitgebunden, als überwindbar gelten. Sogar jeder Tagesverlauf gibt uns ein paar Zeitspannen der Erfüllung oder der Hoffnung. Kein Menschenleben bildet die kürzeste, also gerade Verbindung zwischen dem Punkt der Geburt und dem Abschlußpunkt. Aber auch kein Fluß bietet sich auf der Landkarte als Gerade dar, und doch fließt das Wasser auf dem kürzesten Wege bergab. Wie mutwillig und launenhaft erscheint jeder Fluß auf dem flachen Papier. Windungen und Schlingen sind Anzeichen nicht für Launen des Stromes, sondern für Hindernisse, Verlockungen der Täler, Abkürzungen, Abnutzung im Zeitverlauf. Man muß nur die Tiefendimension hinzurechnen, dann ist allerlei erklärt. Vom Flugzeugfenster aus »oberflächlich« beobachtet, sieht der Verlauf in der Fläche willkürlich und sinnlos aus. Vielleicht fehlt uns nur der Blick für eine gewisse Tief endimension, um das menschliche Leben und die Weltgeschichte zu verstehen? 19
Einigen von uns erscheint das Leben »tief«, mit Bedeutungen und aufregenden Stimmungen durchwoben. Die Probleme sind vielschichtig, Sinn ist wichtiger als funktionierende Mechanik, ein Streichquartett von Beethoven vermittelt mehr Ahnung vom Geist in der Welt, ein Gedicht von Hölderlin offenbart mehr vom Urgrund des Seins als alle Statistiken und Analysen. Aber seltsamerweise läßt sich die »Tiefe« der Welt nicht propagieren. Versuche nur mal einem Philister zu erklären, daß ungeheure Bedeutsamkeiten in unserem Erleben vorkommen - er wird sie einfach nicht erkennen und nicht anerkennen. Widerlegt das die Existenz der menschlichen Tiefe? Ist das Leben deshalb vielleicht flach und bedeutungslos ? Nein, der Philister kann mir das nicht einreden — so wenig wie ich ihm die Tiefe. Wer weiß, vielleicht gibt es Lösungen für die wichtigsten Probleme auf den vorhandenen Millionen und Abermillionen Seiten bedruckten Papiers, und sie sind nur nicht beachtet worden? Allerdings sieht ein Satz, als schwarzweißes Muster betrachtet, genauso aus wie ein anderer. Das erschwert unsere Suche. Die prätentiösesten Sätze, vom Autor selbst hervorgehoben, mögen lange nicht so aufschlußreich sein wie eine obskure Nebenbemerkung. Goethes Diktum »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen«, als Gipfel des herrlichen Faust-Dramas hingestellt, ist, genau betrachtet, doch ziemlich sinnleer: Wo sind wirklich Engel - was heißt Erlösung - hat Faust sich etwa tatsächlich immer strebend bemüht, etwa in Gretchens Schlafkammer? — Dagegen ist Goethes wichtigster Satz ganz unauffällig in einem Brief niedergeschrieben, den er am 8. Februar 1792 an Heinrich Meyer richtete. In bescheidenem Gewände bietet dieser Grundsatz, obgleich er nicht einmal von einem Berufsphilosophen stammt, die Summe aller menschlichen Weisheit. »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst — und wenn wir nach innen das Unsrige getan haben, so wird sich das nach außen von selbst geben.« Das ist unübertrefflich. Im Goetheschen Sinne läßt sich der Leitsatz aufstellen: Leben um des Lebens willen. Mit Obertönen und Nebenbedeutungen dürfte dieser Satz alles umfassen, was unsereinem als Ziel vorschwebt. Auch mit dem basso ostinato des Todes darunter, der nicht unserem Willen entspricht, der aber das Leben nicht ungültig machen kann. 20
Mit Lust und Schmerz, mit heißem Begehren und kühlem Entsagen, mit schillernden Überraschungen und zähflüssiger Langeweile, mit Schuld und Vergessen, mit Grausen und Herrlichkeit: es ist dein Leben, dein einziges Leben, und darum für dich von unabdingbarer Bedeutung. Wir wollen, wir können um des Lebens willen leben!
Leben für das Leben selbst: diese Forderung hat nur Sinn, wenn das Leben wünschenswert, zielgerichtet und ganz allgemein biosophisch vertretbar ist. Sonst wäre sie wie der sagenhafte Skorpion, der sich mit dem eigenen Stachel ersticht. Wenn der Satz stimmte: »Das Leben ist Kampf aller gegen alle« - implicite also auch gegen uns selber - so wäre es kaum der Mühe wert, um eines solchen trüben Daseins willen große Anstrengungen zu machen und Opfer zu bringen. Unterdrückung der Schwächeren in unerbittlicher Hackordnung zur Durchsetzung hierarchischer Strukturen: für einen solchen Lebensbegriff könnten wir uns heute gefühlsmäßig nicht einsetzen. Aber ist das Leben denn nicht so geartet? Hören wir nicht immer wieder, sogar von Goethe: »Du mußt Amboß oder Hammer sein - « ? Lassen wir uns nicht durch ein unterbelichtetes Weltbild die Lebensfreude verderben! Das Leben umgibt den Erdball als ein funktionales Gewebe. Es besteht ebenso aus Zusammenarbeit wie aus Wettbewerb. Nicht gegen die Natur, sondern im großen Teppich natürlicher Phänomene und Tendenzen können wir unsere menschlichsten Ideen fassen und zu verwirklichen suchen. Kooperation ist in der Natur mindestens so häufig und entscheidend wie Konkurrenz. Um diesen Blickpunkt zu gewinnen, müssen wir nur die übergeordneten Einheiten des Lebens zu sehen lernen. Die Pflanzendecke eines Gebietes ist bestrebt, sich auszubreiten und gesund zu erhalten, sie heilt ihre Wunden, sie ist ein ganzheitlicher Organismus. Eine solche Zusammenschau, die wissenschaftlich vertretbar ist, führt zu hoffnungsvolleren Zielbildern als die frühdarwinistische Vorstellung, das Leben sei unablässiger Krieg. Ein Teich ist nicht nur ein äußerlicher Raumzeitausschnitt, das weiß heute jeder an Ökologie Interessierte. Vergiftungen beeinflussen den ganzen Tümpel, Zufuhr von Nährstoffen und Frischwasser kommen der Ganzheit des Ökosystems zugute, Raub und Symbiose sind im Gleichgewicht. Es gibt kranke und gesunde Gewässer, 21
ähnlich wie es sieche und vitale Individuen gibt. Der Teich ist fast ein Lebewesen; er ist den in ihm heimischen Wesen übergeordnet, ohne von ihnen prinzipiell verschieden zu sein. Ebenso ist der Wald ein Beispiel für naturgegebene Kooperation. Ein gesundes, unbeschädigtes Gehölz schützt und stützt seine Einzelglieder. Der Waldrand mit seinen dichtverwobenen, bis zum Boden hinunter belaubten Ästen, die er der Außenseite zukehrt, ist ein Organ, genauso wie die Haut eines Tieres ein Organ ist. Dieser Mantel ist grundsätzlich anders konstruiert als das hohle, kahlstämmige Waldesinnere, das dem Knochengerüst vergleichbar ist. Zusammen bilden sie einen großen Organismus, dem sein übergeordnetes Leben wichtiger zu sein scheint als die Erhaltung seiner Einzelglieder. Dem Wohlergehen dieses Überwesens werden unzählige Samen und Keimlinge geopfert, die im schattigen Waldesinnenraum nicht zur Entfaltung kommen können: dies entspricht dem Opfer der Millionen Spermien eines Tieres, von denen nur eins ein Ovum erreicht und befruchtet. Es entspricht nicht einer Ausrottungskampagne oder einem Völkermord. Wenn alle Keimlinge emporschießen dürften, würde der ganze Wald ersticken; und der Wald ist erhaltenswerter als ein Samenkorn. Waldrand und Blätterdach bilden gemeinsam eine Schutzhülle, die die Feuchtigkeit im Innern zurückhält, schädigende Stürme abwehrt und-vielleicht die wichtigste Aufgabe! - Übervölkerung verhindert. Durch diese strenge Auswahl wird das Fortbestehen des Waldes als Ganzheit gesichert. Die Menschheit könnte allmählich lernen, sich ähnlich als funktionelles Ganzes zu empfinden und zu verhalten. Genauso besteht das Getreidefeld aus sinnfällig gewordenen Hilfeleistungen: kein Mitglied dieser Bruderschaft könnte sich einzeln gegen Wind und Wetter verteidigen. Der zielbewußt züchtende Mensch hat dies begünstigt. Ein Getreidehalm muß sich darauf verlassen können, daß sein Nachbar ihn stützt. Wenn er seine eigene individuelle Standhaftigkeit in jedem Regen und Hagelsturm beweisen müßte, hätte er nicht genug Lebensenergie, um noch dicke, fruchtbare Körner hervorzubringen: all seine Vitalität ginge auf die Aufgabe drauf, seine Standfestigkeit mit immer mehr Zellulose und Kieselsäure zu erhöhen. Nicht der »Tüchtigste« im darwinisch-individualistischen Sinne überlebt, sondern der Kooperativste. Die Botaniker bringen an Wunder grenzende Manipulationen veredelter Getreidesorten hervor, zweckmäßige Umzüchtungen, die der hungrigen Menschheit und damit auch wiederum dem Getreide selbst zugutekommen, das so eben in ständig riesigeren Mengen ins 22
Leben eintritt. Menschenzüchtung in diesem Sinne ist nicht möglich, denn wir können uns nicht einigen, welche Erbeigenschaften wir begünstigen wollen. Es gab dergleichen Veredelungsversuche, von denen die Lebensborne der SS noch am deutlichsten ihres Zieles bewußt waren; das jus primae noctis des aristokratischen Herren und das Recht des Plantagenbesitzers auf seine Negersklavinnen entsprangen ähnlichem Hochmut. - Wünschenswert wäre jedoch, daß unsere Erzieher und Philosophen einen Menschentyp stärken und zur Vorherrschaft bringen könnten, der sich auf seine Nachbarn stützen und verlassen kann und damit mehr vitale Energie in nützliche, fruchtbringende und erfreuliche Tätigkeiten abzweigen dürfte, in wesentliche Tätigkeiten. Kooperation ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel in der Natur. Ohne übergeordnete Ökosysteme ist kein Einzelleben möglich. Jede Rasendecke ist organisch in sich verwoben: sie wächst in die Breite, sie regeneriert ihre Verletzungen, genau wie ein Körper Schäden ausheilt. Aus welchen Pflanzen ein Bodenbewuchs auch im einzelnen bestehen mag, seine Gesamtheitsgesetze sind dem Einzelschicksal jeder Pflanze übergeordnet. Sobald man einmal anfängt, Wälder und Wiesen als übergeordnete Lebewesen zu empfinden, erwirbt man eine innerliche Bereitschaft, sich über die Grausamkeiten des Auswahlprinzips hinwegzutrösten. Brutkontrolle stellt das ökologische Gleichgewicht her. Geburtenregelung erscheint heute als das Natürliche, nicht als ein willkürlicher Eingriff. Ohne Zusammenarbeit kein Leben. Ohne die Regenwürmer und Ameisen, die den ganzen Untergrund immer wieder durchverdauen und auflockern, gäbe es keine Rasendecke. Ohne Verdauungsbakterien gäbe es keine höher ausgebildeten Tierformen. Fortpflanzung und Kadaverbeseitigung (also Anfang und Ende) finden selbstverständlich stets kooperativ statt. Und noch die tote Meerschnecke muß mit dem Einsiedlerkrebs zusammenwirken. Strikt gesprochen gibt es gar keinen einsiedelnden Krebs.
Das Auswahlprinzip als unerbittlich grausames Gesetz, das in seiner Schrecklichkeit der indischen Todesgöttin Kali vergleichbar wäre, nahm in den Köpfen der Wissenschaftler und Laien ziemlich unvermittelt um die Mitte des 19. Jahrhunderts Gestalt und überragende Bedeutung an. Während vorher die Natur als romanti23
sche Idylle empfunden wurde, trat damals, unter dem Einfluß der industriellen Revolution und des »Manchestertums«, der schrankenlose Wettbewerb in das Bewußtsein der Europäer ein. Alles war erlaubt, was dem Vorwärtskommen der »Tüchtigsten« diente. Daß das liebliche England schwarz von Kohlenstaub und Ruß wurde, gehörte zur Erfüllung des neuen Gesetzes. Charles Darwin war ein milder, hochkultivierter Gentleman, aber seinem Zeitstil konnte er nicht entkommen. Sein entscheidendes Beispiel für die »Auswahl der Tüchtigsten« als übergeordnetes Naturprinzip war ein Stückchen Boden, drei Fuß lang und zwei Fuß breit, das er selber umgegraben und von aller Vegetation befreit hatte. Er kennzeichnete alle Keimlinge von einheimischem Unkraut, die dort zu sprießen begannen: von 357 Keimen wurden nicht weniger als 295 zerstört, hauptsächlich durch Nacktschnecken und Insekten. Dieses Experiment machte ihm einen unauslöschlichen Eindruck. Wäre Darwin zufällig in den kalifornischen Redwoods aufgewachsen, so hätte er gezählt, daß von den tausendjährigen Nadelbäumen vielleicht in jedem Jahrzehnt ein Exemplar an Altersschwäche einginge. Das Bild einer Natur, die sich selbst auffrißt, wäre ihm dann nicht in den Sinn gekommen. Solche Ideen lagen jedoch in der Luft. Alfred Tennyson erdichtete im Jahre 1850, also neun Jahre vor Darwins grundlegenden Formulierungen, das Schreckgespenst einer Allmutter, deren Zähne und Klauen von Blut trieften: Nature, red in tooth and claw. Nicht Darwin selbst, aber manche seiner Nachfolger müssen damals eine rote Brille aufgesetzt haben. Die Natur ist nicht blutrot, sondern hoffnungsgrün! Vulgärdarwinistische und pseudonietzscheanische Vorstellungen prägten das hochkapitalistische Weltbild der Gründerzeit und gipfelten in Mussolinis und Hitlers lebensgefährlichen Chimären. Überleben der Tüchtigsten - Zuchtwahl der Besten in Stahlgewittern — schrankenloses Recht des Herrenmenschen: es war ein Hexensabbat von Wahnideen. Wir müssen behutsam vorgehen und spezifizieren. Die Nachkommenschaft eines Fischpaares wird oft zu 99 Prozent gefressen, die eines Elefantenpaares zu null Prozent. Diese divergierenden Phänomene, erforscht und statistisch erfaßt, können den Unterschied ausmachen, ob wir das Leben pessimistisch oder optimistisch zu betrachten haben. Leider liest man aber in den modernen Biologiebüchern solche Verallgemeinerungen: »Die Auswahl durch das Gefressenwerden 24
vernichtet schwächer werdende Individuen, lange bevor sie durch Altersschwäche sterben können.« Dabei wissen die Verfasser dieser Bücher, daß zum Beispiel sämtliche Eintagsfliegen ungefressen in ihren sanften Tod hinsinken und daß viele Insekten infolge ihrer Winzigkeit keine lohnenden Happen für Vogelschnäbel abgeben. Dennoch wird tatsächlich behauptet: »Der natürliche Tod ist eigentlich unnatürlich« (Garrett Hardin, Naturgesetz und Menschenschicksal, Stuttgart 1959). Als ich Professor Hardin einmal vorhielt, daß ja etwa die riesigen Ameisenvölker allergrößtenteils nicht gefressen werden, sondern ihr Leben aus Altersschwäche beschließen, meinte er freundlich: »Ach, daran habe ich gar nicht gedacht.« In der Tat fallen die paar Feinde der Ameisen (Echidna, Ameisenbär, Libellenlarven und vor allem kriegerische Ameisen unterschiedlicher Arten) bezüglich einer Bevölkerungsreduzierung kaum ins Gewicht. Wir haben hier Tiere vor uns, die zu beinah hundert Prozent eines innerlich, nicht äußerlich bedingten Todes sterben: nicht durch Katastrophen, sondern weil ihr biologisches Uhrwerk abgelaufen ist. Und die Zahl der Ameisen auf der Erdoberfläche übersteigt die Gesamtzahl der übrigen Landtiere. Welcher Prozentsatz einer Population von lebenstüchtigen, schmackhaften Pflanzenfressern wird nun tatsächlich gefressen? Man hat dies für einige Gebiete Ostafrikas genauer festgestellt. Im Wildschutzgebiet Tarangire kommt ein Löwe auf 260 Huftiere; im Kagerapark ist das Verhältnis eins zu 300; und im Albertpark erhalten sich 350 Antilopen, Zebras, Büffel usw. angesichts eines Löwen, wobei die unverletzlichen Elefanten und Flußpferde nicht mitgezählt werden. Durchschnittlich tötet ein Löwe 20 bis 36,5 Beutetiere im Jahr. Das könnte einen Darwinisten dazu verleiten, eine Tötungsquote von zehn Prozent anzunehmen. Jedoch sind in dieser Verhältniszahl die Löwen jungen, die von der Löwin miternährt werden, nicht Inbegriffen. Ein von Löwen gerissenes Gnu dient außerdem vielleicht einem Dutzend Hyänen und 20 Geiern zur Nahrung, von Ameisen, Aasfliegen und Fliegenlarven, Fäulnisbakterien und schließlich Pflanzen nicht zu reden. Das Zahlenverhältnis von Fressern zu Gefressenen ist im Fall des Löwen also minimal. Nur ganz wenige Tötungen sind nötig, um das ökologische Gleichgewicht zu erhalten. Die Boa constrictor, eine urtümlich schreckenerregende Riesenschlange, liebt es, ein Schwein ganz zu verschlingen. Danach aber frißt sie fast ein Jahr lang nichts mehr. Für die Bevölkerungszahl der Wildschweine ist sie nur ein verschwindend geringer Faktor. 25
Unsere Überbetonung der Grausamkeiten in der Natur liegt daran, daß Kriege und Verbrechen mehr »Nachrichtenwert« haben als der Alltagsschlendrian. Ameisenkriege mit geknackten Panzern und abgezwickten Beinen sind fotogener als die Sammeltätigkeit der friedfertigen Ameisenarten, die Weizenkörner aufspeichern, Blattläuse und Pilze züchten und pflegen. Die Ameisenheere der Dorylinae, die wirklich alles Tierleben auf ihrem Pfad vernichten, sind eindrucksvoller zu filmen als die vielen vegetarischen Arten. Bei den Gebietsschlachten etwa der Arten Tetramorium caespitum und Acanthomyops bleiben Tausende auf der Walstatt, was dem Beobachter gräßlich erscheint; aber die Populationen zählen ja Hunderttausende oder Millionen, so daß der vernichtete Prozentsatz leicht verkraftet werden kann. Darwin sprach manchmal von war of nature, manchmal von struggle for survival, als ob der Krieg und das Ringen um die Existenz identische Phänomene wären. Aber führt eine Pflanze am Wüstenrand, die überleben will, einen Krieg, so wie Darwin theoretisierte? Gewiß, eine halbe Milliarde Austerneier resultieren schließlich in einer einzigen erwachsenen Auster: dies ist wohl der extremste Fall von Brutvernichtung. Vergessen wir jedoch nicht die zahlreichen Arten, deren Brut fast niemals (vor dem Eingreifen des Menschen) gewaltsam reduziert wurde: Delphin und Wal, Rhinozeros, Bär und Tiger, Schwalbe, Adler und Pinguin, Känguruh und Strauß, viele Seehund- und Affenarten. Trotzdem behauptete Darwin: »Nicht die Verfügbarkeit von Nahrung, sondern daß sie anderen Tieren als Beute dienen, bestimmt die durchschnittliche Anzahl einer Gattung.« Die unstatthafte Verallgemeinerung, der gewaltsame Tod sei eben als das Naturgegebene zu akzeptieren, verfälscht seit über hundert Jahren unser Weltbild. Und daher nehmen unsere Politiker es gelassen hin, daß die aufgespeicherten Kernwaffen ein Explosiväquivalent von fünfzehn Tonnen Dynamit für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind bereithalten. Natürlich ist es das Natürliche, eines natürlichen Todes zu sterben!
In gewissen Epochen beschließt die Menschheit, daß sie mit grausamsten Zwangshandlungen weiterexistieren kann. Ein Bruchteil der Art kommt um, die Fortpflanzung gleicht den Ausfall aus, alles ist im Gleichgewicht. 26
Aber wie furchtbar muß der Gleichmut des Schicksals doch für die betroffenen Individuen sein! Wer auf dem aztekischen Blutaltar geopfert wird mit herausgerissenem Herzen; wer unter dem Anspruch von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Guillotine besteigt; wer in sibirischen Arbeitslagern schmachtet, weil das Endprodukt einer klassenlosen Gesellschaft heraufgeführt werden soll; wer wegen mangelnder Demokratie mit Napalm überschüttet und verbrannt wird: der glaubt wohl nicht, daß der geringe Prozentsatz der Vernichteten ein tröstlicher Faktor sei.
Die großen Ideen sind nicht dazu geeignet, ein Menschenleben auszufüllen. Man kann nicht 24 Stunden des Tages meditieren, man kann sich nicht ständig in der Höhenluft der reinen Erkenntnis aufhalten. Die anima, die anderen Zeiten und Kulturen in ihren Forderungen unabdingbar erschien, wird meistens während des Tageslaufs durch die Mechanik des Lebenserhaltungstriebes überlagert und sogar ersetzt. Die Bedürfnisse siegen über das Erkennen. Unser Trost für dieses Ungenügen liegt darin, daß auch die sublimsten Ideen einer physiologischen Begründung nicht entraten können. Tod! Was für ein schauerliches Wort, würdig der tiefsten Versenkung in transzendentes Grübeln! Und doch war Todesfurcht einfach biologisch notwendig, um das Aussterben einer Rasse zu verhindern. Denn nur solche Exemplare konnten weiterexistieren und sich vermehren, die sich gegen Gefahren zu schützen begehrten. Und die ungeheuer bildhafte, evidente, suggestive Todesangst ist nur ein Trick der Natur, nichts kosmisch Vorgegebenes. Ohne die »schreckliche«, nämlich vom Zerfall abschreckende psychische Komponente hätte das Sterben gar nichts Negatives an sich. Ein Erdkloß zerfällt ohne Schmerz und Trauer. Ähnliches gilt für die Liebe. Wie erhaben, himmlisch schön und erfüllend ist das Liebeserlebnis! Aber was steckt dahinter? Der angeborene, in den Zellen programmierte, durch natürliche Zuchtwahl immer mehr verstärkte Trieb, das Aussterben hinauszuschieben. Wer unter den Lebewesen keine Fortpflanzungslust besäße, würde nach der ersten Generation aus der Vielfalt der Arten ausscheiden. Mechanik also? Irrtum der Innenansicht? Ja und nein. Hier wird etwas wirksam, was Schopenhauer die List der Vernunft nannte. Zugegeben, wir sind Fleischklumpen. Für uns 27
gibt es nichts Befriedigenderes, nichts Richtigeres, als den paar Trieben zur Dauer und zur Höherentwicklung zu folgen. Nur so ist unser Dasein gerechtfertigt: im Einklang mit der eingegebenen Sendung des Lebens, über die Jahrmillionen hinweg. Das Plasmaklümpchen und der lyrische Dichter verfolgen die gleichen Strebungen. Diese Einsicht ist unsere Rechtfertigung.
Schönheit ist »nur« eine Funktion des Lebens; deshalb kann sie nicht absolut sein. Wo immer Farben, Formen, Töne, Düfte dazu dienen, ein anderes Lebewesen anzuziehen, muß man vermuten, daß dort Schönheit empfunden wird. Dies mag eine kreisförmige Definition sein, aber wir haben es nun einmal mit dem Kreislauf des Lebens zu tun. Die Relativität des Schönheitsbegriffes macht diesen nicht unbrauchbar; ganz im Gegenteil, sie ordnet ihn in Relationen ein, verankert ihn im Leben. Wir sollten nachgerade daran gewöhnt sein, daß im modernen Weltbild die zwei gegensätzlichen Begriffe »absolut« und »relativ« ihre Rollen vertauscht haben. Die neue Bedeutung entspricht ja auch besser ihrer wörtlichen Verdeutschung. Relativ heißt: bezogen — also: im Gewebe der Erscheinungen begründet. Absolut heißt: losgelöst - also: unbegründet. Wir kommen nicht mehr darum herum, die Relativität auf allen möglichen Gebieten zu bejahen und sie zu neuen Erkenntnissen auszunützen. Die Relativisten haben in den verschiedensten Wissenschaftszweigen gesiegt. Die Physik der kleinsten wie der größten Bereiche kann ohne Einsteins Weltsicht nicht mehr auskommen. Ästhestik und Theologie haben ein normatives Dogma nach dem ändern aufgeben müssen. Die Ethik, einst ein System allgemein verbindlicher Sätze, die man mit geometrischer Exaktheit darlegen zu können meinte, ist völlig aufgespalten und relativiert: exotische und primitive Verhaltenssysteme lassen sich mit den abendländischen Gebräuchen kaum zur Kongruenz bringen. Die Relativierung war ein durchgehender Triumph der vorsichtigen und nachsichtigen Vernunft. Aber nun, nach diesem großen Sieg, müßten auch die Relativisten wieder menschlicher werden. Menschlichkeit, Menschenwürde, Nächstenliebe, Qualität des Lebens: dies sind keine exakt definierbaren Begriffe, und trotzdem können sie als Regulative wieder zu stärkerer Geltung kommen. »Leben um des Lebens willen«: dieser Satz kann die Konstante 28
bilden, um die herum ein neues Koordinatengefüge praktischer Werte zu errichten wäre. Es gibt allzuviele Variabeln, als daß wir auf diesen Rückhalt verzichten könnten. Das konkrete, vielfältige Leben mit all seinen törichten und weisen Strebungen, mit egoistischen Bedürfnissen und altruistischem Opferwillen muß unser Bezugssystem sein. Anders werden wir die unheimlichen Probleme schon der nächsten Zukunft nicht bewältigen können. Leben um des Lebens willen: dieser Leitsatz umfaßt Albert Schweitzers »Ehrfurcht vor dem Leben« ebenso wie Goethes Credo: »Leben bringt Lebendiges hervor«. Das Leben bezieht sich auf sich selbst, es ist seine eigene, in einem bestimmten Sinne absolute Wertsetzung. Alles, was das Leben fördert, ist eben dadurch gut: denn der Begriff »gut« existiert nur für Lebendiges. Güte also, menschliche Güte: um des Lebens willen sollten wir erproben, wohin dieser Zielbegriff uns führen könnte. »Das gute Leben«: aus dieser fraglos positiv bewerteten Vorstellung ergeben sich weiter solche lebendigen Regulative wie Friedfertigkeit, Gerechtigkeit, Wohlwollen - lauter Begriffe, die in ihrem scheinbar naiven Idealismus den Fachwissenschaften (der Soziologie, Jurisprudenz, Anthropologie, Politologie und wie sie alle sich nennen) heute nicht mehr gemäß zu sein scheinen, sondern nur der Biosophie, also der Lebensweisheit. So werden wir versuchen, uns eine Sinngebung zu biosophieren - um des Lebens willen.
Zweites Kapitel Sinn der biologischen Entwicklung
»Ein voreingenommener Richter!« zeterte die Brennessel, als ich sie im Gärtchen ausriß und die Petersilie daneben stehen ließ.
Was ist des Lebens Wille ? Was will das Leben, wie wir es auf der Erde kennen? Auf Hunderte von Jahrmillionen zurückblickend, während derer das Leben Spuren hinterließ, können wir vier Tendenzen beobachten, die der organischen Materie innewohnen: Erhaltung, Ausbreitung, Befriedigung und Verfeinerung. Erstens: Das Leben will sich erhalten. Das Leben ist bestrebt, sich selber zu bewahren. Der Selbsterhaltungstrieb des Lebens ist — mit der unbelebten Welt ringsum verglichen — etwas ganz Außergewöhnliches. Zwar halten Sonnen und Planeten sich selbst durch Gravitation in Kugelform zusammen und überwinden die Fliehkraft, die sie zu sprengen droht. Und auch ein Wassertropfen, der vom Hahn durch die Luft fällt, läßt seine Teilchen nicht los, seine Kohäsion bewahrt all seine Moleküle in Tropfenform, er zerspritzt nicht. Aber sobald er dann in die Wasserschüssel gefallen ist, hat er sich unwiederbringlich verteilt, die gleichen Moleküle werden sich nie wieder zum gleichen Tropfen kombinieren, den Tropfen als Gebilde gibt es einfach nicht mehr. Ganz anders das Leben. Die gleiche chemische oder sonstige Verbindung, die vor vielleicht einer Milliarde von Jahren ein paar Moleküle bildete, ist immer noch in dir vorhanden, das Leben ist inzwischen niemals ausgestorben und aufs neue entstanden, ein Teilchen oder ein Prinzip in dir selbst ist tatsächlich eine Milliarde Jahre alt! Es kann einem schwindlig werden, wenn man versucht, so m die Zeitentiefe zu spähen. Das fragile, weiche, exponierte, aber von innen heraus aktivierte Protoplasma erscheint beständiger als der passiv verwitternde Fels und als das härteste, aber bald von Rost zerfressene Eisen. Um sich selber gegen die eisigen und feurigen Bedrohungen des Kosmos, gegen die Gleichgültigkeit, Trägheit und Katastrophennei-
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gung der irdischen Umgebung durchzusetzen, standen dem Leben zwei Triebkräfte zur Verfügung: der Hunger und die Liebe. Der Hunger zwang jede Lebenseinheit, ihre verbrauchte Materie durch die Aufnahme von frischem Material zu ersetzen und so das Vorhandensein von Treibstoff zu garantieren. Der Hunger, der schon dem einzelligen Wesen eingegeben war, sorgte für die Erhaltung des Individuums; und die Liebe gewährleistete die Erhaltung der Art. Obwohl wir uns immer komplexer erfahren, diese primitivsten Triebkräfte wirken immer noch unwiderstehlich in uns weiter. Zweitens: Das Leben will sich ausbreiten. Das Leben strebt danach, sich auszubreiten. Nie und nirgends zieht es sich freiwillig auf ein kleineres Gebiet zurück, niemals gibt es seine Herrschaft freiwillig ab, überall versucht es, mehr und mehr anorganische Materie in organische zu verwandeln. Als höhere Organismen sind wir auf diese Habgier angewiesen: wir ernähren uns von organischer, bereits mehrfach durchverdauter Materie; und je Öfter diese durchverdaut wurde, desto bekömmlicher ist sie uns. Kochsalz, Wasser und Spurenelemente sind die auffälligsten Ausnahmen von dieser Regel: diese Stoffe nehmen wir unverändert aus der unbelebten Erdkruste in uns auf. Infolge des Ausbreitungstriebes umfaßt die Biosphäre bereits fast die gesamte temperierte Oberfläche unseres Planeten; und der Mensch erobert dazu noch arktische Gebiete, Minenschächte und den Mond. Drittens: Das Leben will sich befriedigen. Dem eingeborenen Willen, sich zu befriedigen, sind die drei anderen Tendenzen des Lebens untergeordnet: Selbsterhaltung. Ausbreitung und Verfeinerung verbessern die Bedingungen, unter denen die weitestgehende Triebbefriedigung gewährleistet wird. Unsere vitalen, sagen wir ruhig: unsere primitiven Triebe wie Hunger, Durst, Sexuallust, Atemreflex, Schlafbedürfnis, Entleerungsdrang und so weiter — sie alle verlangen gebieterisch, daß das Leben ihnen diene; so sehr, daß sogar die Todesdrohung für die Chance der Trieberfüllung in Kauf genommen wird. Es geht aber nicht an, die nicht lebenswichtigen Triebe - wie das Verlangen nach Macht, die Gebietsbehauptung, sadistische und masochistische Lüste - unter diese primären Bestrebungen zu rechnen. Der Aggressionstrieb kann abgebogen, durch Ritualhandlungen ersetzt und unschädlich gemacht werden. Ein Wesen, das dem Machtstreben eines anderen unterliegt oder der Gebietseroberung 34
eines Nachbarn weichen muß, kann weiterleben. Dergleichen Triebversagungen sind nicht tödlich. Kulturschäden rufen zwar zumindest Unbehagen hervor, aber sie können ertragen werden, bis Reformen oder Revolutionen die Lebensumstände wieder freizügiger machen - oder bis man endgültig resigniert hat. Hunger und Durst jedoch verlangen, gestillt zu werden — auch unter Todesstrafe. Und Sexualnot läßt oft das Dasein sinnlos erscheinen. In seelischer Hinsicht ist das Liebesbedürfnis ebenso dringlich wie die direkteren Aneignungstriebe. Hier führt der Befriedigungswille des Lebens selbst gradeswegs in die höchsten Sphären der Vergeistigung. Viertens: Das Leben will sich verfeinern. Dieses Streben nach Verfeinerung ist vielleicht am wenigsten unmittelbar einleuchtend, und doch ist es ebenso wichtig und wesentlich wie die drei anderen Tendenzen auf der vierfältigen Lebensbahn. Was ist hier mit Feinheit gemeint? An heute bestehenden Beispielen gezeigt: der Unterschied zwischen dem Molch, der sich dick und unbeholfen durch den Schlamm tastet, und der zarten, aber fest umhäuteten, agilen und grazilen Eidechse; zwischen dem schuppigen, blütenlosen, jedes Schmuckes baren Schachtelhalm und der prunkenden, differenzierten Orchidee; zwischen dem schwartigen, phlegmatischen, seit 50 Millionen Jahren »konservativen« Tapir und dem nervösen, hochgemuten, immer »progressiven« Pferd; zwischen dem körperlich übermächtigen, zotteligen Gorilla und dem schneidigen, hochgeschulten Flugzeugpiloten. Verfeinerung heißt: Komplizierung, Spezialisierung, Verschönerung, Intelligenzsteigerung, Fortschritt. All dies fällt unter unseren Begriff Verfeinerung: eine ganze Reihe verschiedener und doch parallellaufender Veränderungen im Habitus. Einfach als Beschreibung eines Phänomens läßt sich die fortschreitende Verfeinerung der meisten Lebewesen in ihrer Stammesgeschichte nicht leugnen. Ist sie dem Leben als solchem immanent? Komplizierung, Fortschritt, Durchorganisierung, Verschönerung sind so durchgehend zu beobachten, daß sie Teil des Lebensprozesses selbst zu sein scheinen. Bevor meine biologisch geschulten Leser »Lamarckismus« oder »Vitalismus« seufzen und meine Ansicht vervorurteilen, will ich versichern, daß ich hier nichts Mystisches im Sinne habe. Wir wissen genau, daß der Mensch tatsächlich in der äußersten Vorfront einer einseitig gerichteten Entwicklung steht, die man als 35
Fortschritt oder, unter Ausschaltung jedes Werturteils, als Komplizierung bezeichnen kann. Diese phylogenetische Tendenz ist dem Wachsen des Individuums vergleichbar. Der Wachstumsprozeß eines individuellen Lebewesens hat nicht das geringste mit darwinistischer Zuchtwahl zu tun, er wohnt der lebenden Materie als solcher inne: denn Zellteilung und Konglomeration ist nicht vorteilhafter im sogenannten Lebenskampf als einzelliges Vegetieren. Ebenso ist die gestaltliche Vervielfältigung, Verkomplizierung, Verfeinerung der Arten nicht an Zuchtwahl gebunden, sondern sicherlich eine autonome Funktion lebendiger Materie. Ich will dies begründen.
In der unbelebten Welt sind Aufbau und Zerfall völlig gleichberechtigt. Ein Berg wird aufgeworfen und durch Verwitterung wieder abgetragen. Ein Gletscher wird, entsprechend dem Klima, immer massiver, dann schmilzt er ab und zieht sich zurück; es ist nicht statthaft, den einen dieser Vorgänge gut, den ändern schlecht zu nennen, wie wir das mit Geburt und Sterben zu tun pflegen. Eis auf einem See kann schnell oder langsam entstehen, schnell oder langsam tauen, es gibt da keine Regel. Im Gegensatz hierzu gibt es in der belebten Natur keinen graduellen Abbau, sondern nur Aufbau mit irgendwann erfolgender Katastrophe. (Die langsame Abnutzung der Zähne, eine der wenigen Ausnahmen, bestätigt nur das Gesetz: sie ist kein lebendiger Stoffwechselprozeß, sondern ein mechanischer Vorgang.) Im Bereich des Lebens herrscht Wachstum als Prinzip, ohne jede Ausnahme. Kein Baum schrumpft im Alter wieder zu einem Samenkörnchen zusammen, stattdessen wird er faul und hohl und stürzt schließlich ein. Nichts Lebendiges bleibt stationär. Wachstum ist wohl eine Grundtendenz organisierbarer Materie. Einer unbeschränkten Vergrößerung stehen jedoch gewisse Hemmnisse entgegen. Austausch ist bei allem tätigen und daher sich verbrauchendem Lebendigen nötig, Schlacken müssen ausgeschieden werden, Nahrung muß aufgenommen und an alle Organe verteilt werden. Für diese Mechanismen ist krude Vermassung unzweckmäßig : denn die Oberfläche einer wachsenden Kugel nimmt proportional viel langsamer zu als ihr Inhalt, und nur die Oberfläche kann ja den Austausch mit der Umwelt bewerkstelligen. Die Zellmembran, durch die der Stoffwechsel sich vollziehen muß, wird bei wachsendem Inhalt immer ungenügender. Deshalb teilen sich alle Zellen, einfach 36
aus dem innerlichen Bedürfnis heraus, mehr Oberflächen für den Austauschprozeß des Organismus zu erhalten. Auch das Teilungsprinzip genügt aber dem steigenden Zirkulationsbedürfnis nicht. Also entwickeln jene Wesen, die den Wachstumstrieb imprägniert erhalten haben, differenziertere Organe — immer noch aus dem reinen anfänglichen Wachstumstrieb. Bald vergrößern groteske Ausbuchtungen, Kerben und Lappen die Oberfläche, mit deren Hilfe die nährende Umwelt für das Wesen ausgenützt werden kann. Der lockere, lappige, durchlöcherte Schwamm ist hierfür das beste Beispiel. Die Insekten, die dem Prinzip der optimalen Zirkulation nie so ganz angepaßt wurden, konnten daher nie so groß werden wie die Wirbeltiere. Allein schon die Stützung durch den äußeren Panzer war ungünstiger als die innere Skelettstützung, weil sie den Austausch mit der Umwelt abschnitt. Die Kerbtiere empfangen ihre Sauerstoff zufuhr durch verzweigte Gänge direkt von außen; da jedoch keine innere Zirkulation den Weitertransport besorgt, müßten Insekten von Menschengröße ersticken. Das größte landbewohnende Kerbtier aller Zeiten, eine Libelle, erreichte nur eine Flügelspannweite von etwa 50 Zentimetern. Die Wirbeltiere haben den entscheidenden Vorsprung im wahrhaftig »atemberaubenden« Wettlauf des Fortschritts errungen. Ein ganz entscheidender Schritt in der Evolution wurde sicherlich durch Verfeinerung und nicht durch Erhöhung kruder Kampfesstärke bewirkt. Die Säugetiere führten einen komplizierteren Lebensmechanismus ein, der den bis dahin herrschenden Kaltblütern überlegen war: sie erhielten ihre Bluttemperatur gleichmäßig warm, unabhängig von der schwankenden Außentemperatur. Dies gestattete ihnen Wachsein und Beweglichkeit auch bei bitterer Kälte. Ich stelle mir den Sieg der Warmblütigen über die Saurier ganz konkret vor. Die Riesenechsen wurden nachts, während keine Sonne sie erwärmte, unbeweglich und hilflos. Die neuartigen, kleinen Wesen, die ihr Blut und Muskelfleisch von innen her erwärmten, konnten sich auch in den Nächten und Kälteperioden frei und agil bewegen. Wenn so ein kleines Säugetier nachts einen ungeheuren Fleischhaufen daliegen sah, dachte es sich wohl: Na siehst du, Tyrannosaurus, gar so furchterregend bist du also doch nicht. Und es fraß ihm stillvergnügt die Leber aus dem weichen Bauch heraus. Die veralteten Echsen waren nachts zu starr, sich zu wehren, und zu groß, sich zu verstecken. Die Wissenschaft versucht vergeblich, eine einleuchtende Erklä37
rung für das ziemlich plötzliche Aussterben sämtlicher Dinosaurier vor etwa 63 Millionen Jahren zu finden. Angeführt werden: Abkühlung der Atmosphäre durch vulkanischen Staub - Erhitzung der Luft - Sinken des Meeresspiegels am Ende der mesozoischen Epoche — Unterbrechung der Ernährungskette. Die neueste Theorie besagt, daß ein riesiger Meteor die Erde traf und mit Iridium überschüttete (Scientific American, Januar 1982). All diese Spekulationen sind unbefriedigend. Der Sieg der Warmblüter über die Saurier vollzog sich nach dem biosophischen Grundsatz der Verfeinerung. Also: Komplizierung bedeutete automatisch einen Vorteil für jedes Lebewesen, das wachsen und besonders aktiv sein mußte oder wollte. Intensivierter Stoffwechsel bot einen Gewinn und war nur durch Komplikation des Körperbaus zu erreichen. Braucht man eigentlich weitere Erklärungen? Sobald das Prinzip der vielgestaltigen Entfaltung als nützlicher Trieb dem Leben eingeprägt war, waren dieser Entwicklung zur Verfeinerung keine Grenzen mehr gesetzt. Diesen Trend verstärkend, sorgte der eingeborene Aneignungstrieb für Strebsamkeit der Wesen, besonders in kaltem Klima, das erhöhten Stoffwechsel erforderte. Dieses Aneignungsbedürfnis umfaßt Hunger, Durst, Sexualtrieb und Atemreflex. Das Atembedürfnis, im allgemeinen kaum beachtet, war für den biologischen Fortschritt ebenso wichtig wie etwa der Hunger. Deshalb, nota bene, ist die industrielle Luftverpestung so grundgefährlich: sie deprimiert die Lebensgeister. Falls wir einmal, in naher oder fernerer Zukunft, Algenkuchen und Petroleumsteaks verspeisen werden, die nichts kosten, wird der ökonomische Unterschied zwischen Luft, Wasser und Nahrung verschwunden sein. Die Ubiquitäten Speise, Trank und Atemluft werden gleich nötig und gleich allgemein verfügbar sein. Ob das dann unserer Strebsamkeit ein Ende setzen wird? Ganz im Gegenteil, glaube ich. Der Trieb zu vitaler Betätigung und Verfeinerung wird dann erst, von der Sklaverei des Brotverdienens erlöst, in frei gewählte Bestrebungen vorstoßen. Denn der Drang nach Betätigung, nach Vielfachwerdung ist dem gesunden Menschenleben von der Natur eingegeben. Doch das sind nicht sehr aktuelle Spekulationen — leider. Zur Komplizierung noch ein paar Bemerkungen. Darmwindungen von vielen Metern Länge erhöhten das Austausch- und Verdauungs38
potential des menschlichen Bauches, der, von außen betrachtet, relativ klein erscheint. Und Hirnwindungen, die die graue Hirnrinde effektiv auf ein Vielfaches der Hirnmasse erhöhten, steigerten die Denkkapazität. Diese Entwicklung entsprach gewiß der normalen Tendenz des Lebenswillens durch viele, viele Arten und Vorformen hin. Mag sein, daß Auswahl der Tüchtigsten im darwinistischen Sinne nachhalf. Aber an und für sich bietet Intelligenz doch keinen so entscheidenden Vorteil im sogenannten Kampf ums Dasein: immense Fruchtbarkeit, Dickfelligkeit, Schnelligkeit sind — während der Latenzzeit der sich entwickelnden Intelligenz — genau so nützliche Prinzipien. Übrigens bestehen die Dummen in der Natur ruhig neben den klügeren Wesen weiter, was ihre Eignung für ihr spezialisiertes Dasein genugsam darlegt. Teilhard de Chardin nannte den Menschen »den aufsteigenden Pfeil in der großen biologischen Synthese«. Wenn wir die fast unvorstellbare Vergrößerung der Reichweite und die Verfeinerung der Wahrnehmung des Menschenwesens in Betracht ziehen, so müssen wir dem zustimmen. Unsere Sinneswerkzeuge sind bis zu den Spiralnebeln verlängert, unsere Höchstgeschwindigkeit steigt ins Kosmische an. Was Komplikation und Ausdehnung unseres Einflusses anbelangt, könnten wir doch eigentlich stolz sein? — Zumindest: dieses Potential legt uns eine hohe Verpflichtung auf.
Der Artenwille zur Raffinierung und Komplikation der meisten lebendigen Formen dürfte prinzipiell in den Geschlechtszellen der Organismen nachweisbar werden, so wie die Biochemiker heute schon den Wachstumshormonen und den molekularen Vererbungsmechanismen auf die Spur kommen. Die Wissenschaft wird herausfinden, warum einzellige Wesen zwar wachsen und Zellteilung betreiben, warum diese gespaltenen Zellen aber nicht beieinanderbleiben und größere Lebewesen aufbauen. Vorläufig ist es noch rätselhaft, warum Einzeller genau wie zu Beginn des Biozeitalters weiterbestehen, warum jedoch andere Zellen den Trieb mitbekommen haben, Vielzeller zu werden. Auf jeder Stufe der Entwicklung des Lebens gibt es konservative Arten, die sich weigern, den allgemeinen Fortschritt mitzumachen. Die Amöbe, der Schachtelhalm, der Tapir, die Königskrabbe (Xiphosurus), der Haifisch und viele andere sind vorzeitliche Arten, die sich seit undenklichen Zeiten einfach nur fortpflanzen, ohne ihre 39
Formen jemals zu ändern. Sie lebende Fossilien zu nennen ist unstatthaft, denn sie sind so vital wie die modernen Arten. Nach streng mechanistischen Evolutionsanschauungen müßten diese primitiven Tiere längst durch besser ausgerüstete verdrängt worden sein. Stattdessen breitet sich das Opossum — das einzige amerikanische Beuteltier — sogar immer weiter aus: früher wurde es nur in den mittelatlantischen Staaten Nordamerikas beobachtet, dann fand man es in Neuengland, und heute ist es sogar in Kalifornien verbreitet. Neulich trippelte ein Opossum die Straße neben unserer Stadtbibliothek in Santa Barbara entlang, wie um mir zu zeigen, daß ich mich neben Büchern auch auf den Augenschein verlassen sollte. Ich nahm es in meinen Garten mit und fand bald bestätigt, daß es ein sehr dummes, einfallsloses Tierchen ist. Warum es sich so vermehrt und seine spezielle »Nische« verlassen hat, scheint niemand erklären zu können; vielleicht nur, um sich über die Biologie-Lehrbücher lustig zu machen? Möglicherweise werden die Fachbiologen mit Statistiken und Computern nachweisen, daß die Wahrscheinlichkeit zweckloser Mutationen zur Komplizierung zahlreicher Arten hinführt. Vielleicht aber finden sie eines Tages, so wie ein Wachstumshormon, auch eine Komplizierungssubstanz oder einen molekularen Fortschrittsmechanismus. Wir müssen das abwarten. Ich gestehe, gefühlsmäßig neige ich zur zweiten Ansicht: ein immanenter Verfeinerungstrieb des Lebens würde mir philosophisches Vergnügen bereiten. Ich will sogleich zugeben, daß dies kein objektiver, wissenschaftlicher Gesichtspunkt ist. Aber als Arbeitshypothese muß diese Gerichtetheit dennoch in Betracht gezogen werden.
Um hervorzuheben, wie sehr diese vier Tendenzen — Selbsterhaltung, Ausbreitung, Triebbefriedigung und Komplizierung — dem Leben selber innewohnen, möchte ich einmal die Fragestellung umdrehen: Was will das Leben nicht? Das Leben will nicht schmerzfrei sein. Obgleich jedes Individuum die Schmerzempfindung haßt und nach Möglichkeit vermeidet, wirkt sich das nicht auf den Artwillen aus. Die Zuchtwahl steht dem entgegen. Wenn ein Tier den Schmerzdruck in sich abschaffen oder erträglich machen kann, unterliegt es bald den Gefahren und Verletzungen und hinterläßt keine schmerzfreien Nachkommen. Das Leben akzeptiert Schmerz und Leid. 40
Fernerhin will das Leben keine hundertprozentige Sicherung. Wenn der Auerhahn balzt, achtet er nicht auf Gefahren, er denkt nur an seine Auserkorene, und der Jäger hat es leicht, sich heranzupirschen und das Liebeslied mit einer Kugel zu beenden. Es scheint sogar, daß das Aufsperren des balzenden Schnabels den Gehörgang des Auerhahns zusammenkneift, so daß er physisch unfähig ist, seine Aufmerksamkeit zu teilen: eine sehr unzweckmäßige Konstruktion. Nach Darwins Theorie müßte der Auerhahn ausgestorben sein. Er wird heute nicht durch darwinistische Gesetze, sondern durch menschliche geschützt. Der Impetus des Am-Leben-Seins berauscht die Wesen oft derart, daß sie ihre Sicherheit außer acht lassen. Dieser Überschwang hat im Theoriegespinst des »Überlebens der Tüchtigsten« keinen Platz. Ein Pfau will sein blinkendes Gefieder entfalten, selbst wenn er sich dadurch buchstäblich in eine Zielscheibe verwandelt. Ein Singvogel will sein Lied aus voller Kehle schmettern, auch wenn er dadurch eine Fahndungsanzeige an die Raubtiere aufgibt. Nach den Ausleseprinzipien, wie sie etwa von Spencer und Haeckel unterstellt wurden, müßte unsere schöne Erde doch von stachligen, graugrünen, übelriechenden und übelschmeckenden Lebewesen bevölkert sein. Dies ist nicht der Fall. Das Sicherheitsbedürfnis ist nicht immer und überall das oberste Gesetz. Temperament und Lebensfreude wollen sich nicht ständig unterdrücken lassen. Das Leben will sich gelegentlich als abenteuerlich empfinden. Ferner: Überraschenderweise will das Leben seine Dauer im Individuum nicht verlängern. Das Leben will nicht individuelle Langlebigkeit. Obgleich jedes Einzelwesen seinen eigenen Tod hinauszögern möchte, kommt dies in der Evolution der Arten nicht zur Auswirkung. Kein Warmblüter lebt so lang wie die — viel urtümlichere - Schildkröte Testudo sumeiri, die man 152 Jahre lang lebend beobachtet hat. Die natürliche Lebensdauer eines gesunden, unverletzten und wohlgenährten Neanderthalers war vielleicht nicht kürzer als die Existenzspanne eines gesundheitlich vergleichbaren modernen Menschen. Die Bestrebungen jedes Individuums addieren sich da nicht, obgleich sie durch die Jahrtausende hin immer wieder in die gleiche Richtung zielen. Hierfür liegt die Erklärung nun wirklich in der natürlichen Zuchtwahl. Es ist für die Erhaltung und Ausbreitung der Art kein Vorteil, wenn ein Einzelwesen sehr alt wird; die Auslese der Langlebigsten bleibt wirkungslos, weil sich die meisten Wirbeltiere schon im ersten Drittel ihres Lebenslaufes fortpflanzen. Die uralten 41
Exemplare, die nach dem Absterben ihrer Generationsgenossen übrigbleiben, sind zwar thefittest, die Lebenstüchtigsten; aber sexuell und daher genetisch sind sie lang vor ihrem individuellen Tode abgestorben, für das Artenbild unwirksam geworden. Der Greisenwille, am Leben zu bleiben, kann nicht mehr vererbt werden.
Hingegen vererbt und steigert sich der Wille zur Schönheit. Das Leben will schöner werden. Ein Schachtelhalm der Karbonzeit war nicht so schön wie eine neuzeitliche Orchidee; ein primitiver Wurm ist häßlicher als ein hochdifferenzierter, bunter Schmetterling; ein urtümlicher Hai ist ästhetisch nicht so ansprechend wie die juwelenglitzernden Korallenfische oder Makropoden; der ungeschlachte Coelacanth sieht abscheulich aus, verglichen mit seinen Nachfahren, den bunten Molchen und flinken, smaragdfunkelnden Eidechsen: Saltoposuchus, der echsenhafte Ahne der Vögel, war nicht so hübsch wie Stieglitz und Goldammer. Und: ein Lemur oder ein Gorilla sind nicht so schön wie der Homo sapiens. Dies sind nicht durchgehende, sondern spezialisierte Entwicklungsreihen. Es gibt selbstverständlich viele neuzeitliche Tiere und Pflanzen, die für uns keinerlei ästhetischen Reiz haben. Aber es gibt auch wunderschöne, zauberhafte Wesen — und diese gehören überwiegend der Neuzeit an. Die Verschönerung, als Komponente der allgemeinen Tendenz zur Verfeinerung, ist von höchster Wichtigkeit: sie hat unsere biologische Umwelt weitgehend umgestaltet. Nun sagte zwar schon der vorsokratische Philosoph Epicharmos: »Für den Esel ist die Eselin das Schönste.« Eine weitgehende Subjektivität ästhetischer Urteile gehört zur Vielfalt des Lebens dazu. Aber dies hindert nicht, daß subjektive Urteile kongruent werden, wo die betreffenden Subjekte in vielen Gewohnheiten, Funktionen und Präferenzen übereinstimmen. Der doch ganz offensichtliche Verschönerungsvektor bleibt in den üblichen Biologie-Lehrbüchern unerwähnt. Aber sogar mechanistisch eingestellte Biologen geben die Tendenz zur Ausschmückung so nebenbei zu, nämlich in Spezialfallen wie den folgenden: Der Paradiesvogel, der Argusfasan, der Pfau opferten ihre freie Beweglichkeit und nützliche Camouflage der Sucht, vor ihren Weibchen zu prunken. Das Weibchen, vor die Wahl zwischen mehreren Bewerbern gestellt, suchte sich den Gatten aus, der längere oder buntere Schwanzfedern vorzuweisen hatte als die anderen Männchen, und 42
dieses immer wieder bevorzugte Merkmal vererbte sich dann auf die Nachkommenschaft. Charles Darwin, der gewiß unverdächtig ist, einem sentimentalen Ästhetizismus nachzugeben, glaubte sogar, daß wir Männer unsere schönen Barte entwickelten, um den wählerischen Frauen zu gefallen. Ob unsere hohen intellektuellen Fähigkeiten durch diese Auslese entstanden, bezweifelte Darwin jedoch, denn der männliche Intellekt hat angeblich keinen geschlechtlichen Reiz für die Frauen. Die »sexuelle Selektion«, wie Darwin dieses Prinzip nannte, war für ihn fast so bedeutsam wie die »natürliche Selektion«, das Überleben der Tüchtigsten als treibende Tendenz der Evolution. Die neueren Biologen haben diesen, durch unbefangene Beobachtung doch genau feststellbaren, Trieb zur Verschönerung hin oft außer acht gelassen, einfach weil Schönheit nicht in Ziffern und Tabellen und chemischen Analysen erfaßbar ist. Und dennoch ist und bleibt sie einer der wichtigsten Faktoren in der Gestaltung der Lebensformen.
Der Titel von Darwins epochemachendem Werk wird fast immer abgekürzt: The Origin of Species (Der Ursprung der Arten). Der ungekürzte Originaltitel ist beträchtlich aufschlußreicher und gibt, in Kapselform sozusagen, Darwins Philosophie mitsamt der Zeitstimmung wieder: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Uff. Darwin war willens, die Wohlgeformten und Schöngefärbten als »bevorzugte Rassen« anzusehen. Seine Schüler hingegen griffen aus seinem Titel meistens nur den »Kampf ums Dasein« heraus.
Es sei gestattet, hier etwas ausführlicher die Anschauung eines anerkannten und auch schönheitsempfänglichen Vererbungsforschers zu zitieren. Theodosius Dobzhansky schreibt in Mankind Evolving (Yale 1962, S. 215): »Soweit wir dies verstehen können, ist die biologische Funktion all dieser Pracht von Form und Farbe nur eine praktische: bei Tieren dient sie als Kennzeichnung der jeweiligen Art für die geschlechtliche Vereinigung. Das wirkliche, ungelöste Problem ist, warum solche Prunkentfaltungen auch dem Menschen so herrlich erscheinen. Wir können nicht glauben, daß die Weibchen und 43
Männchen der Schmetterlinge Ornithoptera oder Morpho ihren gegenseitigen Anblick mehr genießen als weibliche und männliche Läuse, die wir abstoßend finden. Trotzdem fällt es uns in einigen Situationen wirklich schwer, Tieren nicht irgendeine Art von Ästhetik zuzugestehen. Die Vorführungen der Bower birds (der Laubenvögel aus der Familie Ptilorhynchidae), die in etwa 19 Arten in Australien und Neuguinea vorkommen, sind ganz außerordentlich. Wenn die Paarungszeit kommt, bauen die Männchen Vorführungsplätze, die aus unterschiedlichen Lauben und Maibäumen bestehen, wohin sie dann die Weibchen locken... Sie dekorieren eine Annäherungsallee mit solchen Dingen wie gebleichten Tierknochen, Steinen, Metallstücken und Silbermünzen, wenn sie sich diese verschaffen können. Andere Arten bereiten eine Moosfläche, auf welcher sie buntfarbige Früchte und Blumen verteilen, die nur zur Ansicht da sind und nicht gefressen werden. Wieder andere bemalen die Laubenwände mit Fruchtmark oder Holzkohle oder dürrem, mit Speichel vermischtem Gras. Manche ersetzen welkende Blumen und faulende Früchte durch frische ... Obgleich ihre Tätigkeiten instinktiv und automatisch erscheinen, läßt sich unmöglich leugnen, daß eine wohlgeschmückte Laube dem Vogel ein Vergnügen bereitet, das nur ästhetisch genannt werden kann.« Die Entfaltung der Schönheit muß mehr sein als nur das Kennzeichen, an dem die Tiere erkennen, daß sie zur gleichen Art gehören und als Geschlechtspartner füreinander in Frage kommen. Der Trieb zur Schönheit hat einen tieferen Sinn; Schönheit ist mehr als ein Sexsymbol, mehr als das grüne Licht einer Verkehrsampel, die den Weg zum Geschlechtsakt freigeben würde. Manche heutigen Naturwissenschaftler haben einen blinden Fleck statt des Schönheitssinnes. Einige erwähnen immerhin - wenn auch nur en passant — die Wichtigkeit der Auswahl durch den Geschlechtspartner. Isaac Asimov (in The Wellsprings of Life, New York 1960, S. 48) anerkennt die »Formierung der Arten, sei es durch natürliche Selektion oder durch deren Variante, die sexuelle Selektion«. Wieso Variante? Die individuelle Auswahl der begehrenswerten Partner ist durchaus keine Abwandlung des darwinistischen »Überlebens der Tüchtigsten«; die beiden Prozesse haben nichts miteinander gemein, sie sind zwei grundsätzlich verschiedene Prinzipien, die oft in genau entgegengesetzter Richtung wirksam werden. Sie sind in allem verschieden: im Material, das sie verwenden, im Mechanismus ihrer Wirksamkeit, in der Gerichtetheit der durch sie bewirkten Auswahl. 44
Die geschlechtsbedingte natürliche Zuchtwahl wird von der modernen Wissenschaft total unterschätzt. Ich möchte dieses Prinzip noch weiter verfolgen als seinerzeit Darwin. Ich glaube, daß beispielsweise die Entwicklung vom kleinen, vierzehigen Eohippus (dem Morgenrötepferdchen) zum einhufigen, geschwinden Pferd durch die Vorliebe der Stuten für rasche Hengste - und umgekehrt - mitbestimmt wurde. Die orthodoxe Vererbungslehre bestreitet, daß so etwas wie ein Artenwille hier am Werk gewesen sein kann. Ein bekannter Biologe beklagt sogar, daß populäre Naturkundebücher diese Entwicklung auf Tafeln so zeichnen, als sei sie zielgerichtet. Auf diesen Seriendarstellungen erscheint nämlich ganz links die älteste bekannte Form, von Terriergröße, mit relativ kurzen Beinen und vier Zehen an jedem Fuß; bei den Zwischenstufen rutschen die äußeren Zehen allmählich nach oben, berühren den Boden nicht mehr, verkümmern; all diese Stufen sind durch zahlreiche Knochenfunde belegt. Ganz rechts auf diesen Illustrationen erscheint stolz unser Equus. Eine zielstrebige Entwicklung! Trotzdem sollen wir glauben, daß rein zufällige Mutationen diese Einbahnstraße bauten: kaum bemerkbare, aber erbliche Veränderungen im genetischen Code der DNA-moleküle sollen sich so lange addiert haben, bis ein zweckmäßiges Resultat entstand. Als ob zufällige Abweichungen sich nicht nach beiden Seiten hin verstreuen und statistisch gegenseitig ausgleichen müßten! Als ob kleine, fünf- und vierzehige Tiere nicht massenweise die Erde noch heute bevölkerten und vergnügt ihre Lebensfähigkeit darlegten! Wer einmal junge Stuten und Hengste auf der Weide hat spielen sehen und das Erwachen der Liebe bei diesen graziösen Kreaturen beobachtet hat, weiß, daß die Stuten rasche, energische Pferdeherren bevorzugen. Diese Vorliebe mußte sich ja über die Jahrmillionen hin auch statistisch auswirken. Selbst ein so vorzüglicher, pragmatisch eingestellter Pferdekenner wie Franz Hancar (Das Pferd, Wien 1955, S. 536) glaubt, nicht ohne eine Verbeugung vor der gängigen Schulmeinung auskommen zu können. Er schildert die »Spezialentwicklung zum Lauftier der Eiszeitsteppe, das nicht nur zur Flucht vor Gefahr im allseits eingesehenen baumlosen Gelände, sondern auch zur Futtererreichung mit dem flüchtigen Fuß ... geschwindigkeitsbegabt ist«. Sind diese Argumente stichhaltig? Gras läuft nicht fort; die Futtererreichung braucht also nicht schnell zu geschehen. Die Gefahren in der Steppe, in Nordamerika besonders, waren minimal: das Pferd war dort durch keine geschwinden Raubkatzen bedroht wie 45
in Asien, Europa und Afrika. Der Wolf — ein wirklicher Feind des Pferdes — schnappt nur die Kranken, Alten und noch Unentwickelten, er bleibt stets an der Peripherie der Herde: also ist die Herde besser dran, wenn sie nicht zu rasch flieht und dadurch in Gefahr gerät, sich zerstreuen zu lassen. Eine Pferdemutter, die ihr unbeholfenes Fohlen schützen will, braucht hierzu am allerwenigsten die Geschwindigkeit: sie will ihrem Jungen doch nicht wegrennen! Nein, Schnellfüßigkeit in der Steppe bietet keine praktischen Vorteile, die das Aussterben der Langsamen erklären und rechtfertigen würden. Pferde laufen gern schnell; so sind sie psychisch und physisch veranlagt. Das Grasen allein befriedigt ihr Bedürfnis nach Muskelbetätigung nicht. Wenn zahme Pferde sich mit Mustangs zusammenscharen dürfen, sind sie sogleich wie verwandelt: in der Freiheit, besonders also in der Bewegungsfreiheit, blühen sie auf. Die Freude eines Rosses, das ein bißchen schneller zu laufen vermag als seine Artgenossen, färbt seinen ganzen Habitus, macht es aktiv, stolz und zeugungswillig. Ein Pferd hingegen, das oft von seinen Konkurrenten überrundet wird, wird ein Sonderling und hat bald keine vitale Lust mehr, keinen Energieüberschuß, der es zu sexuellen Eroberungen treiben könnte. Solche oder ähnlich komplizierte Gründe bringen dann das Vorwiegen der immer schnelleren und tüchtigeren Tiere in der Erbfolge zuwege. Es ist gar nicht nötig anzunehmen, daß die schwerer Beweglichen größeren Gefahren unterliegen und von den Stärkeren, von den fittest ausgerottet werden. Die gegenseitige Bewunderung der Männchen und Weibchen innerhalb einer Gattung treibt die Zuchtwahl auf ein neues, in Schönheit und Tüchtigkeit gesteigertes Modell zu. Liebe, nicht Kampf, erklärt die Aufwärtsentwicklung der Wesen. Dies ist eine ungemein wesentliche Unterscheidung, die, wenn sie von den Fachbiologen bestätigt werden sollte, unser ganzes Weltbild freundlicher gestalten könnte.
Die Bedeutung des harten Auswahlprinzips durch die Vertilgung der Schwächeren soll ja hier gar nicht geleugnet werden. Eine Kröte füllt ihren Magen viermal pro Sommertag mit Insekten an; man schätzt, daß sie in jeder warmen Jahreszeit zehntausend Insekten frißt. Aber ein Elefant, ein Rhinozeros, ein Flußpferd werden nie von anderen Tieren gejagt, und sie jagen auch nicht. Wo soll bei diesen Riesen der Selektionsdruck, die Auswahl der Tüchtigeren herkommen? 46
Wenn die Mutationen nur zufällig entstünden, gleichsam als Würfelspiel der Natur, dann müßten die kurzlebigen Pflanzen und Tiere in viel mehr Arten aufgespalten sein als die Langlebigen. Denn die Möglichkeit zum Würfelwurf wird viel öfter gegeben sein, wenn die Generationen einander in geschwinder Folge ablösen. Die berühmte Taufliege (Drosophila), die gerade ihrer kurzen Lebensdauer und ihrer häufigen Generationenfolge wegen für genetische Experimente so beliebt ist, müßte demnach in hunderttausendmal mehr Varianten auftreten als beispielsweise Schmetterlinge, die ein Jahr zu ihrer individuellen Entwicklung brauchen. Und es müßte viel verschiedenartigere Mäusearten geben als Katzenarten. Das ist keineswegs der Fall. Das Würfelspiel ist also nicht so automatisch und gleichförmig, wie die Genetiker dies wahrhaben möchten. Nein, die Evolution ist kein Roulettespiel.
Die mechanistische Vererbungslehre besagt, daß die langsameren, kleineren, dümmeren, schwächlicheren Exemplare nicht erfolgreich im Kampf ums Dasein seien, daß sie beim Nahrungserwerb und bei der Flucht vor Feinden den kürzeren ziehen. Darwins Gefolgsleute stellten sich wohl ganz simpel vor, daß alle Schwächlinge, Unbegabten, Rückschrittlichen verdrängt, getötet und gefressen werden. Nach dieser Doktrin fällt der Streit, nicht die Liebe alle maßgeblichen Entscheidungen. Aber so ausnahmslos grausam ist das Leben ja wirklich nicht. Wir beobachten ringsum, daß zarte, törichte, vornehm zurückhaltende Wesen ihr eigenes, eigenartiges Dasein in Frieden zu Ende führen. Für die »Ertüchtigung« des Rassenhabitus sorgt nicht so sehr der Streit als die Liebe. Die »gelungenen« Exemplare einer Gattung sind zeugungsfähiger und zeugungswilliger als ihre nicht so begünstigten Artgenossen. Kränkliche und mißgestaltete Individuen haben soviel mit ihren eigenen Problemen zu tun, daß sie sich selten zur Werbung, zur Einfühlung in die Psyche des in Aussicht genommenen Partners, zum Wettkampf aufraffen können. Sie haben nicht die übersprudelnde Energie zur Sexualbetätigung; häufig treten sie erst gar nicht in den Wettbewerb ein, brauchen also nicht mit Gewalt ausgeschaltet zu werden. Unter den gesunden, fortpflanzungsfähigen Exemplaren werden dann diejenigen siegen, die den Weibchen besser gefallen oder die ihre Konkurrenten ausstechen können und wollen. Die Tierpsyche verfügt durchaus über Motive, die die Zuchtwahl 47
beeinflussen können: Bewunderung und Neid, Schönheitssinn und Vertrauen, Eifersucht und unersättliche Geilheit. All diese Äußerungen des individuellen Willens werden die Zuchtwahl lenken, und der Artenwille wird in das Roulettespiel der Gene entscheidend eingreifen. Die Psychotherapie weiß, daß Minderwertigkeitskomplexe beim Menschen oft zur Impotenz führen. Warum sollen Tiere von dieser psychischen Verkettung verschont sein? Sie würde als Auswahlagens bei der Artenbildung zur Wirkung kommen. Kein »Kampf ums Dasein« ist da mehr nötig und möglich. Um noch einmal auf den Stammbaum des Pferdes zurückzukommen : Wir haben heute keine Möglichkeit mehr, die Verhaltensweisen des Eohippus und der übrigen, durch Knochenfunde so genau belegten, Stufen auf dem Weg zum Equus caballus hin zu studieren. Wir wissen aber, daß die neuzeitlichen Hengste gern einen Harem von Stuten um sich versammeln. Um diesen Harem unter Kontrolle zu halten, ist Geschwindigkeit allerdings ein Vorteil: es fiele dem Hengst schwer, mehrere Weibchen zu bewachen, einzukreisen und gegen jüngere Freier zu schützen, wenn er nicht rasch laufen könnte. Falls diese Haremspsychologie schon bei den Vorformen des Pferdes ausgebildet gewesen sein sollte, so könnte diese Annahme helfen, die Geschwindigkeitssteigerung bis zum einzeiligen modernen Modell des Pferdes hin zu erklären, und zwar, wenn man so will, durch darwinistisch erfaßbare Auswahl der Geeignetsten. Der schnellste Hengst wird Herr des Harems und zeugt viele schnelle Nachkommen. Selbstverständlich spielt Kampf bei der natürlichen Züchtung kräftiger und tüchtiger Rassen auch eine Rolle. Dies wird schon durch die Tatsache belegt, daß keine Fleischfresser, sondern nur Pflanzenfresser Hörner entwickelt haben: da sie keine hauptberuflichen Waffen, also keine Reißzähne zur Verteidigung besitzen, bietet die Zurschaustellung von bedrohlichen Gehörnen einen Überlebensvorteil. Es geht jedoch nicht an, wie etwa Konrad Lorenz dies unternimmt (Das sogenannte Böse, Wien 1963, S. 60), sogar in friedlichen Umweltsituationen Rivalenkämpfe innerhalb einer und derselben Art als das einzig wirksame Ertüchtigungsmittel anzunehmen. Lorenz erklärt, daß auch bei Pferden die Eifersuchtskämpfe zur Herauszüchtung besonders großer und wehrhafter Familien- und Herdenverteidiger führten. Kann dies die ganze Motivierung des biologischen Fortschritts sein? Lorenz kommt nie auf die Vermutung, daß Rassenentwicklungen - wie die vom Eohippus zum Equus - auf 48
der Selektion durch den Eros, nicht durch die Aggression, bewerkstelligt wurden. Ich möchte aufs bestimmteste vermuten, daß auch die Emporzüchtung des Neandertalers zum Homo sapiens durch ästhetische und erotische Präferenzen der auswählenden Geschlechtspartner gefördert oder gar entschieden wurden: Millionen Akte der freien Wahl summierten sich da zur großartigsten Zucht in der gesamten Biologie. Durch Äonen hin haben wählerische Jünglinge und Jungfrauen Partner mit hoher Stirn, aufrechter Haltung, wenig haariger Haut bevorzugt. Ist das denn eine so unwahrscheinliche Hypothese? Für so verschiedenartige Kreaturen wie bunte Schmetterlinge, langgefiederte Fasane und Rennpferde können wir als sicher annehmen, daß nicht das Aussterben der ein bißchen Benachteiligten die Entwicklung ihrer Formen bestimmt habe; die Partnerwahl nach erotischen und ästhetischen Gesichtspunkten hat diese Arten ausgeformt. Dies kann man nicht nur als den immanenten Entwicklungswillen einer Art bezeichnen: es ist der Entfaltungstrieb, der dem Leben innewohnt. Das Leben selbst will »vollblütiger«, prächtiger, kräftiger, farbenfreudiger werden. Viele exakte Naturwissenschaftler haben eine Heidenangst (oder vielmehr eine Atheistenangst) vor Anthropomorphismen: sie wollen vermeiden, der »tumben« Natur menschliche Zwecke und Strebungen unterzuschieben. Warum eigentlich? Sind wir denn nicht selber »verwandt allem Lebendigen«, wie Hölderlin meinte — »verständigt« mit den inneren Naturkräften, wie Rilke dies wünschte? Die Dichter haben manchmal tiefere Einsichten als die Fachwissenschaftler. Bisweilen können wir von ihnen lernen.
Es ist an der Zeit, einen neuen Begriff einzuführen, der von allen anerkannten Prinzipien der heutigen Schulbiologie abweicht: die ästhetische Zuchtwahl. Zur ästhetischen Selektion gehören solche Auswahltendenzen wie die Bevorzugung von Luxusformen und Prunkfarben durch die wählerischen Geschlechtspartner sowie auch die Förderung immer attraktiverer Blüten und Früchte durch tierische Konsumenten: ein sehr weit abgestecktes Funktionsfeld also. Das Wirkungsmittel der ästhetischen Zuchtwahl ist die Sinnlichkeit: Sinnlichkeit des Auges, des Gaumens, der Riechorgane, des Geschlechtsverlangens; sie funktioniert durch - primitive, aber unleugbare - Werturteile. 49
Es ist tatsächlich so, daß die Sinnenfreude dem Fortschritt dient: ein Gedanke, der dem viktorianischen Zeitalter Darwins zuwider, ja fast undenkbar war. Die ästhetische Zuchtwahl dient nicht der Ertüchtigung, sondern der Veredlung. Die sinnliche Auswahl unter den Lebewesen scheidet farblose, langweilige, temperamentlose, uninteressante Individuen aus. Hingegen sind die typischen Opfer des darwinschen Daseinskampfes im engeren Sinne oft allzu interessant: tolldreist, auffällig am falschen Platz, unangepaßt. Das ästhetische Auswahlprinzip steigert den Reiz und den Abwechslungsreichtum unserer irdischen Heimat. Sexuelle und ästhetische Selektion — die oft, aber durchaus nicht immer einander in die Hände arbeiten — produzieren Lichtsignale (etwa bei Glühwürmchen und Tief Seefischen), farbliche Prachtentfaltung, Tänze, Riten, Gesang, Darbietung von Hochzeitsgeschenken und attraktive Körperformen. Die ästhetische Zuchtwahl verursacht, daß Beeren rot werden, um Vögel anzulocken, die diese Beeren fressen und mit ihrem Kot zu neuem Keimen und zu weiterer Verbreitung transportieren. Sie veranlaßt, daß Blumen und Tiere anziehende Geruchssignale aussenden: die Rose und das Moschustier erzeugen sehr verschiedene, aber anziehende Düfte, wovon dann - in künstlicher Fortsetzung der natürlichen Zuchtwahl - unsere parfümierten Damen profitieren. Früchte müssen an und für sich nicht süß sein, um fruchtbar zu sein. Erst die Auswahl der schon ein bißchen süßen Früchte durch Tiere, die den Geschmack zu schätzen wußten und die Samen unverdaut in ihren Eingeweiden immer weiter transportierten, brachte diesen Selektionsdruck zuwege, und so wurden die Früchte, je süßer, desto erfolgreicher. Die lieblichen Farben der gleichen Früchte, die für ihre Genießbarkeit Reklame machen, um ihren Kernen ein weiteres Verbreitungsgebiet zu verschaffen, erhöhen das ästhetische Niveau der Natur. Bei diesen Vorgängen kann man unmöglich von sexueller Selektion reden: sie sind reine »Geschmacksangelegenheiten«. Sie entstehen nur durch ästhetische Zuchtwahl. Zu den seltsamsten »Auswüchsen« im wahren Wortsinn, die der ästhetische Wettbewerb hervorbrachte, gehören die Hörner und Geweihe vieler männlicher Wiederkäuer. Hier herrscht keinerlei Zweckmäßigkeit. Je ausschweifender, je absurder diese Knochenund Horngebilde sind, desto erfolgreicher sind sie. Die Weibchen lassen sich durch vielverzweigte Geweihe oder durch schwungvoll gedrehte Hornspiralen zur Bewunderung hinreißen. Den konkurrie50
renden Männchen imponiert das drohende Aussehen dieser Aufbauten oft zur Genüge, bevor es zum Ausscheidungskampf kommt. Die Reklame für die stolz strotzende Maskulinität bringt die gewünschte Wirkung hervor. Hier läßt sich nun in der Tat demonstrieren, daß nicht immer der Tüchtigste überlebt, daß nicht stets und überall nur zweckmäßige Formen herausgezüchtet werden. Es gibt gelegentlich Hirsche — der Waidmann nennt sie »Mörderhirsche« — denen durch zufällige Mutation oder vielleicht durch Spezialernährung die Zacken des Geweihs fehlen. Sie tragen scharfe, einfache Dolche auf der Stirn. Der Selektionsdruck im darwinistischen Verstande müßte diese Hirsche siegreich, fruchtbar, vorherrschend machen und in einigen Generationen die ganze Art, den gesamten Begriff »Hirsch« auf ein neues, mörderisches Modell hin verändern. Dies ist nicht eingetreten. Die ausgezackten Geweihe blieben eben psychologisch wirksamer, für rivalisierende Männchen respekteinflößender, für läufige Weibchen ästhetisch verführerischer. Wie Lorenz nachgewiesen hat, sind die Kämpfe vieler Männchen um die verfügbaren Weibchen weitgehend zum Ritual geworden: sie sollen gar nicht zum blutigen Ausscheidungskampf gesteigert werden. Anläßlich der »plakatfarbigen« Korallenfische, die mit ihrer Kriegsbemalung protzen, beschreibt Lorenz sehr hübsch, daß sie »die Kriegsflagge hissen«. Das Gleiche gilt für die Geweihe der Hirsche und für die ganz unzweckmäßig spiralig gewundenen Hörner des Kudu und anderer Antilopen. Zum Aufspießen der Gegner sind sie unbrauchbar. Wohin solcher Reklameaufwand führen kann, sieht man am irischen Riesenhirsch und am amerikanischen Riesenelch: sie starben aus. Ihr Geweih, nutzlos dem Rücken aufliegend, wog in den Endstadien so viel wie ihr ganzes übriges Skelett. Der Selektionsdruck durch »Imponiergehabe« und durch die ästhetische Gattenwahl der Weibchen entschied ihren »Kampf ums Dasein« im negativsten Sinne. Ich vermute, daß Mammut und Mastodon infolge der gleichen anti-zweckmäßigen Zuchtwahl lebensuntüchtig wurden und ausstarben. Paläontologie und Zoologie haben jedenfalls bisher keine physiologische Erklärung des Riesenwuchses von Tierkörpern, von übertrieben ornamentalen Zähnen, Hörnern und Geweihen geliefert. Vielleicht war die ästhetische Zuchtwahl hier entscheidend.
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Die Kräfte und Bestrebungen, die die lebendige Materie durchwalten, sind vielfältiger und erfreulicher, als die Propheten des »allgegenwärtigen Kampfes ums Dasein« sich dies vorstellen. Unleugbar hat die friedliche, beiderseits nutzbringende Abhängigkeit, die symbiotische Verschmelzung, die früheste Fortschrittsentwicklung im Pflanzenreich erst ermöglicht: damals fanden sich die primitivsten Algen und Pilze zur Bildung von Flechten zusammen. Fortschritt und Behagen durch Symbiose: dieses Arrangement durchzieht die gesamte Biosphäre, von unseren eigenen, uns unentbehrlichen Verdauungsbakterien bis zu den liebenswürdigen Vögeln, die auf den Rücken von gewaltigen Dickhäutern hausen und diese mit ihren Schnäbeln von Ungeziefer befreien. Die Symbiose sorgt dafür, daß zwei oder mehrere Arten sich ans Zusammenleben adaptieren, so daß für beide der größtmögliche Gewinn entsteht. Sie sieht dem Altruismus zum Verwechseln ähnlich. Das wichtigste Beispiel nutzbringender Symbiose ist unser menschliches Verhältnis zu gezähmten Tieren und veredelten Pflanzen. Obgleich wir meinen, völlig egoistisch zu handeln, obgleich wir unsere Schutzbefohlenen schlachten bzw. ernten und essen, ermöglichen wir ihnen doch zunächst einen friedlichen und befriedigenden Lebenslauf. Die Domestizierung ist ein wechselseitig vorteilhafter Vertrag, sie kommt beiden Kontrahenten zugute. Oder ist es etwa kein Fortschritt auch im biologischen Sinn, wenn Tiere ohne ständige Angst vor Verfolgern und Hunger leben dürfen und wenn Blüten immer schöner, Früchte immer süßer, saftiger und fruchtbarer werden? Die vom Menschen praktizierte künstliche Zuchtwahl gehört genauso in die Tendenz zur Verfeinerung wie die natürliche, wilde Zuchtwahl. Der Homo sapiens mit seinen Zielvorstellungen und gerichteten Handlungen ist ja schließlich noch immer ein integraler Teil der Biosphäre.
Der neue Begriff »ästhetische Zuchtwahl« erklärt so verschiedenartige Phänomene wie die Kirschblüte und den Pfau. Ob nun der sexuelle Appetit der Pfauhenne oder der Appetit der Biene für einen Honigtrunk angeregt werden sollen: freundliche Anziehung ist beabsichtigt. Die ästhetische Selektion ist selbst ein Produkt des biologischen Fortschritts. Einst in der Triaszeit brauchten die Windblütler noch keine lieblich bunten Blüten zu entwickeln, denn 52
dem Wind, der die Sporen von Farnen und Nadelbäumen befördert, ist die Farbe gleichgültig. Von der Tertiärzeit an aber mußten die Blüten stets verlockender werden, um möglichst viele Insekten auf sich zu locken. Dadurch wurde das Bild der Welt immer attraktiver, der bunte Schleier der Maja wurde immer verführerischer. Die aggressive, gewaltsame Methode der Zuchtwahl will dagegen kein Entgegenkommen provozieren. Sie will ihr Objekt fressen, vertreiben, abschrecken, vernichten. Auch sie ist ständig stärker, absoluter geworden, bis sie in der oft sinnlosen Ausrottung zahlreicher prachtvoller Wildtierrassen durch den Menschen kulminierte. Wenn wir diese zwei Selektionsfunktionen, die aggressive und die ästhetische, so kraß einander gegenüberstellen, besteht kein Zweifel mehr, welcher von den beiden wir, in die Zukunft hinauswirkend, unsere menschliche Unterstützung geben müssen.
Was es zu entwickeln gilt, ist eine »sanfte« Biologie. Es geht nicht an, daß die Wissenschaftler sich geradezu mit Scheuklappen gegen die freundlichen Kräfte in der Natur abschließen. Typisch für diese Gesichtsfeldeinengung ist folgende Behauptung (Hans-Heinrich Vogt, Verhaltensforschung, München 1970): »Nicht allein der organische Tod durch Krankheit ist der Richter über das Schicksal eines Tieres, sondern auch seine großen, sichtbaren Feinde sind an seinem schnellen Verschwinden interessiert. Darin liegt also der Grund, weshalb in der Vorstellung des Laien noch immer >das muntere Rehlein springt< und >der lustige Vogel singt<. Dies sind nur die Repräsentanten eines scheinbaren Glücks, das morgen schon zu Ende sein kann. Die Wirklichkeit sieht man selten: Das Tier, das sich im Dickicht des Waldes vor Schmerzen windet oder das mit zerfetzten Flanken die Beute des Fuchses wird.« Nun erkläre mir einmal jemand, warum das Glück eines singenden Vogels oder eines munteren Rehleins nur ein »scheinbares Glück« sein soll! Und warum der gewaltsame Tod »die Wirklichkeit« sein soll, verglichen mit dem springlebendigen Dasein desselben Rehes. Die Fachwissenschaft täte besser daran, statistisch festzustellen, welcher Prozentsatz von Wald-, Wiesen- und Wildnisbewohnern von anderen Tieren gejagt, getötet und gefressen wird. Nach meinen eigenen, notwendigerweise nur ganz vorläufigen, Beobachtungen und Schätzungen dürfte die Zahl letaler Begegnungen zwischen Tieren noch keine fünf Prozent aller Lebensläufe ausmachen. 53
Was brachte die Biologen eigentlich dazu, dem Vorurteil zu verfallen, daß ringsum in der freien Natur bloß Gewaltsamkeit bemerkenswert sei? Manche Philosophen, Eugeniker und Staatenlenker, besonders in Nietzsches Nachfolge, hielten es für unerläßlich, daß die »hochwertigen« Individuen einer Rasse ohne sentimentale Rücksichten die »minderwertigen« ausrotten, damit diese sich nicht fortpflanzen und das Erbgut der betreffenden Rasse schädigen könnten. Abgesehen davon, daß niemand allgemeinverbindlich definieren kann, wodurch Minderwertigkeit charakterisiert sein soll, führt solche Grausamkeit zu größeren Schädigungen als das Übel, das sie bekämpfen möchte. Die Ausrottung des Mitgefühls in den selbsternannten Züchtern und Züchtigern ist beträchtlich nachteiliger für die Rasse als die eventuelle Vererbung körperlicher oder geistiger Mißbildungen. Und Übermenschen haben die Blutopfer doch nicht hervorgebracht. Man ist jedoch nicht auf aggressive Selektion angewiesen, um die Fortpflanzung von Krüppelbildungen zu verhindern. Kranke und organische Benachteiligte werden der Erbfolge nicht nur durch frühen Tod entzogen, sondern, was mindestens so wichtig ist, auch durch geschmackliche Wahl. Sieche und mißgestaltete Männchen erscheinen den fortpflanzungsfähigen Weibchen nicht begehrenswert. Sie werden bei der Auswahl für die Vaterschaft übergangen. Hier setzt das ein, was ich ästhetische Zuchtwahl nenne. - Die eugenische Korrektur der erblichen Fehlschläge wird von der Art gewollt. Das Leben will sich verbessern.
Es ist eine schlechte Angewohnheit der Darwinisten, daß sie vom »Kampf ums Dasein« reden, auch wenn sie nur den friedlichen Wettbewerb meinen. So schreibt Konrad Lorenz: »Kampf ist in der Natur ein allgegenwärtiger Vorgang« (Das sogenannte Böse, S. 37). Mancher beeindruckbare Jugendliche muß sich da denken: Wenn die Natur grausam ist, warum soll ich friedlich sein? Es gab Jahrmillionen der Erdgeschichte, während derer keine gewaltsame Selektion durch Raubtiere stattfand, was aber den Fortschritt der Arten nicht hinderte. Das Paradies, in dem die Tierrassen ohne Kampf entstanden, mag zwar nur ein Wunschtraum der Menschheit sein, ist aber doch aufschlußreich für ein tiefes Sehnen nach einem friedlichen Zielbild. Wo Inseln ihre Fauna vor 54
Fleischfressern beschützten, entwickelten sich sogar vielfältigere und ästhetisch hochwertigere Formen als in verknappten Konkurrenzgebieten. Man muß sich bemühen, auch hier zu spezifizieren. Es ist ganz klar, daß in der Tiefsee ein uneingeschränktes Fressen und Gefressenwerden tierischen Lebens herrschen muß: da dort unten niemals Sonnenlicht hindringt, entwickeln sich keine grünen Pflanzen, und Vegetarier können nicht existieren. Solche für unser Empfinden wüsten Zustände — die sich auch in den für unseren Geschmack geradezu gräßlichen Körperformen und Gebissen vieler Tiefseebewohner ausdrücken - kann es in den flacheren Gewässern und auf der trockenen Erdoberfläche nicht geben: denn irgendwelche Tiere müssen ja erst einmal Blätter und Früchte fressen, damit überhaupt Fleisch entsteht. In den gemäßigten Zonen können Gebiete ausschließlich von Pflanzenfressern bevölkert sein. Die friedfertige Konkurrenz, soweit sie den Fortschritt fördert, wird dadurch nicht ausgeschaltet. Das Leben könnte jede gewaltsame Selektion durchaus entbehren und brauchte deshalb nicht in den Erbvorgängen geschädigt werden. Zumindest kann der Mensch, ohne in eugenischer Hinsicht ein schlechtes Gewissen zu haben und sich als Schwächling zu fühlen, die Auswüchse der Gewaltanwendung verhindern und verbieten.
Wenn man das Wirken der ästhetischen Zuchtwahl nicht begreift oder nicht anerkennen will, kann man viele Erscheinungen in der Biosphäre gar nicht erfassen. Manche Forscher sind so daran gewöhnt, nur die Gewalt als Selektionsfaktor zu sehen, daß sie die merkwürdigsten Hilfshypothesen erfinden müssen, um beispielsweise der Schallproduktion der Singvögel einen »unästhetischen« Zweck zu unterschieben. Welche Eiertänze an Argumentationen haben gewisse Zoologen nicht aufgeführt, um ein dem naiven Gemüt verständliches Phänomen wie den Vogelsang zu »zerklären«! Da wird erläutert, einsam eingesperrte Vögel sängen stundenlang, weil sie sich langweilen und ihre nutzlos aufgespeicherte Energie vermittels ihrer Kehle loswerden müssen. Könnte es nicht sein, daß der gefangene Vogel durch sein Lied mitfühlende Artgenossen oder ein Weibchen anzulocken hofft, daß dies ein Sehnsuchtslied wäre? Und erklärt Langeweile etwa das Singen der Vögel im freien Wald? 55
Meistens lautet die zoologische Begründung, ein Vogelmännchen singe nur deshalb ganze Nächte hindurch, um anzuzeigen, daß dort sein Gebiet sei und daß kein Rivale sich seinem Bezirk und seinem Weibchen nähern dürfe. Ich habe jedoch oft in Kalifornien die sehr musikalischen männlichen Mockingbirds, die Spottdrosseln, ihre Sitzplätze auf den Bäumen gegenseitig austauschen sehen, ohne daß sie während des Fliegens auch nur ihren herrlichen Gesang unterbrochen hätten. Gelegentlich im Vorfrühling genügen ihnen kurze, häßliche Drohschreie, um Nebenbuhler abzuschrecken. Wenn die gleichen Mockingbirds meine Katzen vertreiben oder wenigstens ärgern wollen, stehen ihnen Kreischlaute zu Gebot, die deutlich ein »Miau« imitieren. Das Geflöte ist also durchaus nicht der Laut, den sie zur Abschreckung verwenden müssen. Lorenz hat beobachtet, daß eingesperrte Singvögel sogar ausdauernder singen als freie. Wie verträgt sich das mit der Theorie, daß der Vogelsang ein Herrschaftsgebiet markieren solle? Kann ein Vogel im Käfig sich wirklich stärker von Eindringlingen bedroht fühlen als in Busch und Baum? Warum singen Nachtigallen und Mockingbirds die liebe lange Nacht, warum schwirrt die Lerche trillernd durch die Morgenluft, ohne auf das Gebiet zu achten, von dem sie emporflog? Erstens macht es den Vögeln ganz einfach Spaß, schöne Lieder hervorzubringen. Zweitens dürfte das Vogelmännchen mit dem wohllautendsten Gesang das Weibchen verführen und diese Begabung auf die Nachkommenschaft übertragen: ein Auswahlprozeß, der sich kumulativ fortsetzen muß. Wenn wir den Singvögeln noch ein paar Jahrmillionen auf der Erde gönnen, dürften ihre Lieder immer wohlklingender werden. Unausgesprochen steht hinter dem Ableugnen ästhetischer Betätigungen durch Tiere der Hochmut des Homo sapiens, nur er sei fähig, Schönheit zu produzieren und zu empfinden, und das Tier sei zu »dumm« für so erhabene seelische Funktionen. Dies ist eine irrige Ansicht. Kein Wesen, auch der Mensch nicht, produziert Schönheit als solche. Künstler machen Bilder, Statuen und Musik, Architekten errichten Gebäude, Handwerker stellen Stühle und Truhen her und hoffen, daß ihre Produkte andere Menschen anziehen. Ein Töpfer macht nicht Schönheit, sondern einen Topf. Die ästhetische Qualität erscheint zwar oft überwältigend real, sie existiert aber doch nur in der Relation des Subjekts zum Objekt. Sie ist eine Funktion des Lebens, also auf das Leben bezogen. Auch unbelebte Schönheit-wie 56
ein Sonnenuntergang, ein Regenbogen - entsteht erst, wenn jemand sie sieht. Schönheit ist ein fragiles Wunder. Daran ändert auch die Beobachtung nichts, daß Kunstwert manchmal der Allgemeinheit evident wird: dann halten ihn sogar prosaische Finanzleute für stabil genug, um ihn als Investitionsobjekt auszunutzen, und dann erst kann man plötzlich die Schönheit in Ziffern bemessen. Trotz aller Relativität des Schönheitsbegriffs können wir doch feststellen, daß die meisten langandauernden Lautproduktionen der Tiere auch von uns Menschen als attraktiv empfunden werden. Eine Krähe würde sich genieren, während all jener Stunden ununterbrochen zu krächzen, die nicht durch Nahrungssuche und Familienleben ausgefüllt sind. Sie empfindet kein ästhetisches Vergnügen beim Krächzen; zumindest dienen ihre ausdrucksvollen Laute anderen Zwecken als der ästhetischen Verlockung. Warn-, Streit- und Gierlaute klingen auch uns anders als Werberufe; da ist keine Verwechslung möglich. Vor dem Quaken eines männlichen Frosches hüpfen andere Froschmännchen entsetzt davon: das ist genau beobachtet worden. Das Amsellied aber will, völlig eindeutig, attraktiv und nicht aggressiv sein. Nach der Zwecktheorie, das Lied des Singvogels diene dazu, sein Gebiet abzustecken und Eindringlinge fernzuhalten, müßte das häßlichste und abschreckendste Lied am erfolgreichsten sein. Durch Zuchtwahl müßte der Gesang der eifersüchtigen und besitzerischen Vogelmännchen sich über Generationen hin in Fauchen, Schelten und Zischen verwandelt haben; denn solche Laute sind zur Abschreckung anderer Wesen wirksamer als Flötenmelodien. Es ist eine beachtliche und nicht von vornherein evidente Tatsache, daß viele spezifische Tierlaute ganz anderen Rassen, zum Beispiel uns, gefühlsmäßig einleuchten. Wie könnten sonst eine Schlange, eine Gans und ein Tiger zwecks Abschreckung zischen? Wenn meine Katze mir schmeicheln und mich um Milch bitten will, benutzt sie nicht ihr »Zisch«, sondern sie miaut schmeichelnd. Zur Aggression verwendet sie nicht das konziliante »Miau«, sondern sie faucht. Wenn die kalifornische Wachtel ihre Küken ruft, klingt es auch mir wie »komm komm komm«. Und wenn die Mockingbirds »schön« singen, so haben sie Schönheit und Lebenslust im Sinn. Ich kann sie zwar dazu nicht befragen, und bisweilen passieren da auch lebensgefährliche Verwechslungen und Entgleisungen, aber im allgemeinen ist die Einfühlung ein praktischer Wegweiser zum Verständnis. Es gibt kaum langandauernde häßliche Geräusche in der freien 57
Natur. Warnsignale und Zornesausbrüche währen zweckentsprechend nur kurz. Grillen mit ihren Marathongeräuschen dienen der Liebe und vielleicht dem eignen Vergnügen des kleinen Fiedlers, auch wenn sie uns nicht den reinsten Kunstgenuß vermitteln. Gelegentlich heult in den Los-Padres-Bergen ein Coyote stundenlang den Mond an; aber die angenehmen Vogellieder sind bei weitem überwiegend. Wo häßliche Geräusche in der Welt vorkommen, werden sie von Menschen erzeugt. Industriekrach, Verkehrsgetöse, Haßgesänge, Marschschritt und Kanonendonner: wir brauchen uns wahrhaftig nicht einzubilden, daß die Ästhetik des Gehörsinnes von den Menschen gepachtet wurde. »Das Lied, das aus der Kehle dringt, ist Lohn, der reichlich lohnet.« Wann immer die Lautproduktion eines Tieres in längere Gesänge übergeht, will der Sänger ästhetisch wirken. Eine Nachtigall weiß, daß sie lieblich singen kann, und nutzt diese Gabe mit großem Selbstgenuß aus. Und wir sollten uns der Schönheit freuen, ohne sie durch beschränkende und beschränkte Zwecktheorien zu verfälschen. Warum sollten wir zur chemischen auch noch die philosophische Verschmutzung hinzufügen? Die Formel survival of the fittest, Überleben der Geeignetsten, ist oft kritisiert worden. Von Herbert Spencer erfunden, von Darwin nur zögernd übernommen, hat sie mehr Verwirrung als Klärung hervorgerufen. Man hat öfters bemerkt, daß sie einen Zirkelschluß enthält: Wer überlebt? Der Geeignetste. Wer ist der Geeignetste? Der, der überlebt. Die Werturteile, auf welche diese Formulierung angewiesen wäre, um irgendwie normativ zu wirken, müßten absolut sein, und absolute Werturteile führen meistens zu Dogmen und zur Intoleranz. Als lockere Beschreibung von Tatbeständen in der Natur ist der Satz manchmal brauchbar, manchmal irreführend und oft einfach falsch. Statt verallgemeinernd von survival ofthe fittest zu reden, muß man sehr häufig survival of the fandest annehmen: die phantasievollsten Formbildungen und Farben haben sich in vielen Lebenslagen durchgesetzt. Das Überleben der Attraktivsten und Phantasievollsten ist in der Morphologie der Tertiär- und Quartärzeit zum ergänzenden Erbfolgegesetz geworden. Diese Phantasieentwicklung wirkt der sonst üblichen Entwicklung zur Mimikry hin diametral entgegen. 58
Wenn Nachtfalter die graubraune Farbe und borkige Struktur der Baumrinde imitieren, auf welcher sie tagsüber zu sitzen pflegen, werden sie nicht so leicht von gefräßigen Vögeln entdeckt; die bestangeglichenen Falter haben also einen Überlebensvorteil und zahlreiche Nachkommen, und ihre Schutzfärbungen werden über die Generationen hin immer vollkommener. Wie geschieht es dann, daß doch so viele auffallende und prächtige Falter, wie Pfauenauge und Schwalbenschwanz, durch unsere schöne Welt segeln? Daß die Tierwelt nicht grau in grau eingeebnet ist? Daß wir nicht sämtlich stachlige, in Khaki getarnte, giftige Stinktiere geworden sind? Weil es nicht so hart auf hart in der Natur zugeht. Nicht jedes bunte Tier wird sogleich automatisch angegriffen und gefressen. Die Symbiose ist oft wichtiger als der Hunger. Die Liebe ist in der Natur ebenso entscheidend wie die Angriffslust, Eros und Aggression halten sich ungefähr die Waage.
Die Evolution hat nur zwei Momente der Wirkungsmöglichkeit: bei der Zeugung und beim Tode, also beim Beginn und beim Ende der Individuation. Der unnatürlich verfrühte Tod trifft vorzugsweise die Untüchtigen, die Unzweckmäßigen, die Auffälligen, die allzu Schmackhaften, auch die Tollkühnen und die Vertrauensseligen: kurzum die Nichtangeglichenen. Die Grauen und Verkrochenen haben bei der gewaltsamen Selektion den Vorteil. Das genaue Gegenteil ist beim Beginn, beim Schaffen neuer Existenzen der Fall. Die Verführerischsten - und das heißt oft: die Kecksten, Buntesten, Wohlriechendsten, Musikalischsten, also die Auffälligsten haben die beste Chance, von einem oder auch von mehreren Geschlechtspartnern gewählt zu werden und ihre Eigenarten immer verstärkter zu vererben. Das Hirn und die Drüsen des verführbaren Weibchens reagieren überhaupt nicht nach Nützlichkeitsgesichtspunkten: deshalb spielt die Angepaßtheit an die Umgebung, Fitness und Mimikry, bei der Auswahl für den Geschlechtsverkehr selbst keinerlei Rolle. Hingegen ist Fitness beim Überleben in feindlichen Bereichen ausschlaggebend. Und zwar gilt dieser Grundsatz sowohl für das Empfangen wie für das Austeilen des tödlichen Auswahlbisses: für Beutetiere wie auch für Raubtiere. Ein Tiger, dessen Bild im gelbgestreiften 59
Bambusgestrüpp verschwimmt, kommt näher an die ausersehene Beute heran. Für die fliegenfressende Gottesanbeterin ist es ein entscheidender Vorteil, wie ein Bestandteil ihrer pflanzlichen Sitzgelegenheit auszusehen — den bedrohenden Vögeln wie auch den bedrohten Fliegen gegenüber. Aus diesem Grunde entwickeln mimikrygeschützte Fleischfresser die Geschwindigkeit des Freßaktes: die Gottesanbeterin die schnell zupackenden Arme, die Kröte die blitzartig vorschnellende, klebrige Zunge. Auffällige Räuber brauchen dergleichen nicht. Mimikry, Angleichung an die Umgebung, würde sich also unter allem Lebendigen viel weitgehender durchsetzen, wenn das Leben nicht außer aufs Fressen auch auf den Eros angewiesen wäre. Jedes höher organisierte Tier im fortpflanzungsfähigen Alter muß Duftwellen verbreiten, Lockrufe aussenden, Farbenorgien veranstalten: Versprechen künftigen Glücks - oder, nüchterner ausgedrückt, Signale attraktiver Art. Und wenn diese Propagandaemanationen auch uns Menschen nicht gerade stets schön erscheinen, für die Artgenossen ist die ästhetische Anziehung evident. Wann immer eine Kreatur eine andere braucht - und zwar lebendig braucht — so wie die Blüte den Falter, das Weibchen ein Männchen, muß sie Kommunikationsbotschaften in die Welt senden. Der Artenwille zur Symbiose wirkt dem Überhandnehmen der Mimikry aufs direkteste entgegen. So entsteht ein immer wieder verschobenes und immer aufs neue sich einpendelndes Gleichgewicht zwischen Nützlichkeit und Schönheit. Und so wird die Welt ständig aufs neue interessant und das Leben lebenswert. Graue Langeweile, Verstecken aus Furcht, endloser Kampf können nicht überhandnehmen — und bedauerlicherweise auch die Liebe nicht.
Im Reich der Blüten siegt nicht die praktischste Pollenfabrik über die Konkurrenz, sondern die attraktivste. An sich würde der sachlichste, reibungsloseste Transport von männlichem Pollen auf die weibliche Narbe völlig genügen. Die komplizierenden Mechanismen von Honigdarbietung, Duftverteilung, leuchtender Farbreklame haben, streng genommen, nichts mit der Funktion der Fortpflanzung selbst zu tun; sie sind autonome Auslöser. Der Honig dient als Belohnung für »richtiges« Verhalten der befruchtenden Insekten, so wie sie ein guter Dompteur austeilen würde. Und zwar ist die Belohnung jeweils zweifach. Die Blüte, die zunächst zufällig den meisten Honig 60
entwickelt, trainiert die Bienenvölker darauf, ihre Kennzeichen zu erlernen und anzupeilen. Durch die reichlicher vorhandene Nahrung entstehen dann mehr Nachkommen in denjenigen Gastvölkern, die die Signale gelernt haben, die Signale werden wiederum durch bevorzugende Auswahl verstärkt, und so steigert sich die beiderseitige Nützlichkeit zusammen mit dem ästhetischen Eindruck. Oft habe ich in meinem kalifornischen Garten beobachtet, daß die Kolibris sich die leuchtkräftigsten Hibiskusblüten aussuchen, um dort ihren Honigdurst zu stillen. Es erscheint mir durchaus möglich, daß hier ein Feedback stattfindet: die Weibchen, die geschult sind, farbenprächtige Blüten attraktiv und für den Besuch lohnend zu finden, suchen sich auch die glitzerndsten Männchen aus. Blütenähnliche, strahlende Falter bevorzugen einander, weil sie durch die leuchtenden Blüten auf bunte Signale abgerichtet sind. Durch diese natürliche Dressur entstanden dann immer prunkvollere Falter und Kolibris, und die Welt wurde wieder ein bißchen schöner.
»Wat dem eenen sin Uul, is dem annern sin Nachtigall,« pflegte meine Mutter auf Plattdeutsch zu sagen. Es ist noch niemandem gelungen, die seltsame, anregende Ausstrahlung »Schönheit« zu definieren; dazu sind die Geschmacksrichtungen verschiedenartiger »Empfänger« doch zu verschieden. Ein altfranzösisches Sprichwort, das ich lieber nicht übersetzen würde, besagt: Qui du cul d'un chien tombe amorose, U luiparait une rose. - Na ja, da nicht jeder Altfranzösisch versteht, will ich es doch verdeutschen: »Wer sich in einen Hundearsch verliebt, glaubt, daß es keine duftigere Rose gibt.« Zugegeben: eine Krähe findet das Gekrächze einer anderen Krähe anziehender als den Gesang der Nachtigall. Zugegeben auch: der Geruch und Geschmack eines Aases zieht gewisse Fliegen unwiderstehlich an, und zweifellos finden sie es ohne jede innere Überwindung wohlschmeckend. Eine afrikanische Blüte hat sogar »künstlichen« Aasgeruch entwickelt, um die Leichenbeseitigungsspezialisten unter den Insekten anzulocken. Ähnliches gilt für die dunkelbraun glänzende Stinkmorchel, die ihre Sporen unter Vorspiegelung falscher - für uns degoutierender - Tatsachen verbreiten will. Andererseits: die Substanz, die in der Natur am unverfälschtesten zur Anlockung vieler anderer Wesen hergestellt wird - nämlich der Honig -, erscheint auch unserer menschlichen Zunge als begehrens61
wert. Wenn ein Stoff, der nur zur Anziehung und zu keinem anderen Zweck von den Blüten »erfunden« wurde, so divergierenden Tieren wie der Biene, dem Bär, dem Kolibri und dem Menschen übereinstimmend gut schmeckt, so muß dieser Stoff eine objektive Vorzugsstellung auf der Geschmacksskala innehaben. Und die Mehrzahl der Singvögel, die viel Zeit mit Gesang verbringen, hat Lieder entwickelt, die nicht aus Krächzen und Husten bestehen, sondern aus flötenmäßigen Melodien. Es scheint also doch ein pragmatisches Einverständnis darüber zu herrschen, was ästhetisch hochwertig ist. Statistisch registriert: süß ist besser als bitter. In romantischen Zeiten waren solche Wertsetzungen evident. Der Grund, warum sie heute von der wissenschaftlichen Forschung möglichst außer acht gelassen werden, beruht sicherlich noch auf der puritanischen Zeitstimmung. Die protestantische Ethik wollte keine bunten Heiligenbilder in ihren Kirchen. Luxus galt ihr als sündhaft. Dieses Vorurteil war noch vor kurzem so stark, daß ein bekannter amerikanischer Millionär erst dann zum erstenmal in seinem Leben Austern aß, als sein Arzt ihm diese als gesundheitsfördernd verschrieb. Danach genoß er sie angeblich sehr. Manche Naturwissenschaftler scheinen tatsächlich von schlechtem Gewissen geplagt zu sein, wenn sie einmal im Verlauf der Untersuchung anderer Phänomene auf die Schönheit stoßen und diese zu ihrem Forschungsobjekt machen müssen. Lorenz zitiert die scherzhafte, aber auch irgendwie furchterregende Bemerkung seines Lehrers Oskar Heinroth: »Neben den Schwingen des Argusfasans ist das Arbeitstempo des westlichen Zivilisationsmenschen das dümmste Produkt intraspezifischer Selektion.« Wenn wir unvoreingenommen die herrlich blinkende Balzvorführung des Argusfasans mit seinem schirmförmigen Fächer und den etwa vierhundert völlig gleichmäßig angeordneten und gezeichneten, kunstvoll schattierten Augenflecken betrachten, können wir sie doch unmöglich als Fehlleistung oder auch nur als organisch minderwertig bezeichnen! Sie erfüllt ihren biologischen Zweck, das Weibchen zur ästhetischen Zuchtwahl anzuregen; genügt das denn nicht? Das Vorurteil gegen die Schönheit als Ziel muß tief eingewurzelt sein: auch Lorenz selbst zieht die Schwingen des Argusfasans als Beispiel eines Irrwegs der Entwicklung heran und bezeichnet sie als »eine der dümmsten Sackgassen der Evolution« (Das sogenannte Böse, S. 246). Ich protestiere! - Bioökonomisch ist die Verschwendungs- und Putzsucht schönheitsuchender Wesen nicht nur tragbar, sondern oft sogar lebenfördernd. 62
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Wir bewundern doch die Meisterleistungen orientalischer Goldfischzüchter, die ihren Schützlingen wallende Schwanzschleier anzaubern, und würden diese Züchter niemals unintelligent nennen. Warum sollen wir dann die ästhetische Zuchtwahl als abwegig verurteilen, die ausschweifende Fasanenschwänze hervorbringt? Die menschlichen Züchter von phantastisch gefiederten Tauben, absurden Hunderassen und überbordenden Rosen wissen genau, was sie wollen; um so erstaunlicher ist es, daß die Instinkte von Tiermännchen und -Weibchen oft in ähnliche Richtungen weisen. Herrliche Papageien, Goldammern, Reiher, bunt protzende Paviane, Zebras, Pfauen und Pfauenaugenfalter sind keine evolutionären Sackgassen, sondern integrale Bestandteile der Lebenskraft unseres Planeten. Kann die Wissenschaft sich vornehmen, die Menschen zu bessern und zu bekehren und die Explosivstoffe des »Kampfes aller gegen alle« wenigstens theoretisch zu entschärfen, wenn sie die Schönheit nicht als legitimes Entwicklungsziel anerkennt und fördert?
Der Mensch hat einen viel weiteren Spielraum des Geschmacks als die meisten anderen Wesen. Der Kolibri kann nur von Honig leben, sein Schnabel ist zu einem langen Saugröhrchen zusammengewachsen; wenn sich keine für ihn speziell zugängliche Blüte entwickeln würde, könnte er nicht existieren. Die Seidenraupe frißt nur Maulbeerblätter, auch wenn andere Pflanzen zur Verfügung stehen. Der Koalabär schmaust ausschließlich Eukalyptusblätter, der Ameisenbär nichts als Ameisen. Affen sind schon vielfältiger im Geschmack; Schimpansen fressen meistens Früchte und saftiges Grünzeug, aber sie bekommen periodisch alle paar Wochen ein unwiderstehliches Verlangen nach Fleisch. Plötzlich zerreißen sie dann ein überraschtes Pavianjunges und verteilen die Beute unter sich. Wir Menschen sind geschmacklich und der Verdauungsfähigkeit nach an keine ökologische Nische gebunden. Mexikaner können fast ausschließlich von Bohnen und Mais leben, Eskimos vermögen sich mit Robbenfleisch, Tran und Fischen komplett zu ernähren: größere Divergenzen in der Diät einer einzigen Spezies sind nicht vorstellbar. Und damit gehen divergierende Geschmacksrichtungen und kontradiktorische Wertsetzungen einher. Dem einen schmeckt Tran gut, dem anderen Bohnen; der eine verabscheut Schweinefleisch, der andere alles Fleisch schlechthin, der dritte mag keine pflanzliche 63
Rohkost. Diese Streuung wirkt sich auch auf unsere Schönheitsbegriffe aus. Wir sollten froh sein, daß unsere ästhetischen und ethischen Präferenzen doch so weitgehend übereinstimmen, und unsere Unterschiede lächelnd überbrücken. Einem vielfältigen Wesen wie dem Homo sapiens müßte Toleranz zur »zweiten Natur« werden - dies im wörtlichsten Sinne verstanden.
Das Erleben der Schönheit öffnet unsere Psyche für weitere, kühnere Erlebnisse; belebt, sehnen wir uns nach Liebeserfüllung, wir geben dem sanften Zug nach, wir wagen die Hingabe. Ohne wählerische Liebe gäbe es kaum einen Fortschritt der Sänftigung, der Verfeinerung und der ritterlichen, ritualisierten Lebensformen. Und dieser Fortschritt wirkt dann wieder auf die Liebe zurück. Die menschliche Erotik ist feinfühliger, komplizierter, auch geistig befriedigender als die Sexualität der Würmer, Fische und Frösche. Wir müssen, um mit einem gewissen rationalen Optimismus weiterleben zu können, unsere Hoffnung auf den Eros setzen, dem Sigmund Freud die rettende Rolle gegenüber dem Aggressionstrieb zuerkannte. Wir sind glücklicherweise Warmblütige, nicht zu kalt und nicht zu heiß, wir haben ein »warmes Herz«. Warmblüter kennen Formen des liebevollen Zusammenhaltens, die in früheren Epochen der Erdgeschichte unbekannt waren. Unerotische Liebkosungen kommen nur bei den Kontakttieren unter Vögeln und Säugern vor. Finken sitzen eng zusammengeschmiegt auf dem Zweig, Äffchen kuscheln sich aneinander, um eine geringere Oberfläche der kalten Außenwelt zuzukehren. Die Vereinigung findet auch bei Geschwistern statt, nicht nur bei Liebespaaren. Freundinnen gehen Arm in Arm zur Schule, und die Mutter hält ihr Kind im Schöße warm. Diesem Magnetismus wirkt der Selbständigkeitswille entgegen, die Lust des Individuums an freier Beweglichkeit. Der Trieb zum Territorialbesitz, den schon einige niedere Tiere aufweisen, führt zur Individualdistanz. Der kalifornische Kondor benötigt drei Quadratmeilen, um sich brutsicher zu fühlen. Für die Menschen gilt der Territorialimperativ nicht in derart exzessivem Maße, sie haben sich von jeher gern in Höhlen und Gemeinden zusammengedrängt, der Agglomerationswille hat zur Bildung von Städten, später von Nationen geführt, und vielleicht wird die Gesamtmenschheit die ökologischen Vorteile einsehen lernen, die durch die Nächstenliebe errungen werden können. 64
Wenn wir nun die Liebe als treibendes Motiv der Evolution erkennen, so erhebt sich die Frage: Wohin führt diese Evolution? — Zweifellos zu immer stärkerer friedlicher Kooperation. Wenn ein Prinzip sich als so nützlich erweist, so müßte die Natur selbst ja pervers sein, wollte sie diese Kraft ausgerechnet von heute an negieren, anstatt sie nach Möglichkeit zu steigern. Damit gäbe sie ihre jahrmillionenlang gezüchteten Errungenschaften auf. Sich selbst überlassen, wird die Natur sich weiter verfeinern, verschönen, die Symbiose steigern. Damit ergibt sich die doch überraschende Erkenntnis, daß moderne Bestrebungen wie Pazifismus, Vegetariertum, Schiedsgerichtsbarkeit, Weltgesundheitsorganisation, kooperative Ökonomie durchaus in die Richtung des allgemeinen biologischen Fortschritts weisen. Sollten wir nicht anerkennen, daß diese umfassende Naturentwicklung uns eine Verpflichtung auferlegt? So lange der Satz galt: »Leben ist Kampf« — so lange mußten sich Pazifisten unnatürlich vorkommen. »Leben ist auch Kooperation«: diese Feststellung erlaubt uns ein gutes Gewissen.
Der naiv-rationalistische Fortschrittsglaube, der das westliche Denken von der Aufklärungszeit bis zur Gründerzeit beherrschte, ist uns wohl vergangen. Zwei Weltkriege, Rassenverfolgungen, unmäßige Übervölkerung, Hungersnöte gleichzeitig mit Warenüberfluß haben uns den gradlinigen Verbesserungsglauben ausgetrieben. Der Fortschrittsbegriff selbst hat einen üblen Leumund bekommen; sehr merkwürdig im Zeitalter der rasantesten Steigerungen des menschlichen Potentials in Medizin, Kernphysik und Verkehr. Die schädlichen Nebenwirkungen technischer Neuerungen werden oft für die Hauptsache gehalten. Aber wieso wird der offensichtliche Fortschritt in der Evolution pflanzlicher und tierischer Lebensausprägungen kaum je als hoffnungsvolles, ja wunderbares Phänomen zur Kenntnis genommen? Die »wertfreie«, objektive Wissenschaft vermeidet nach Möglichkeit Begriffe wie Fortschritt, Schönheit, Wünschbarkeit, deren Definitionen nicht ohne subjektive Stellungnahmen aufgestellt und die nie ganz allgemein durchgesetzt werden können. Julian Huxley (in Evolution in Action, New York 1953, S. 63) beschreibt sehr eindrucksvoll die Entwicklung des Pferdes, die 65
Verbesserungen seines Gliederbaus, seiner Gehirnkapazität, des Mahlmechanismus seiner Zähne. »Indessen«, fährt er fort, »muß ich Sie warnen, daß >Verbesserung< noch kein allgemein anerkannter technischer Ausdruck in der Biologie ist. Tatsächlich würden viele meiner Biologiekollegen vor seiner Benutzung zurückschrecken, manche, weil er ideologisch klingt, andere, weil er Werturteile impliziert und weil Werturteile unwissenschaftlich seien. Trotzdem: Lebewesen werden im Lauf der Evolution verbessert, und wir benötigen diese Bezeichnung, um die Tatsachen darzustellen.« Ohne die Anerkennung von termini technici wie Schönheit, Verfeinerung, übersprudelnde Lebenslust kann man, meiner Ansicht nach, viele biologische Tatbestände überhaupt nicht einmal beschreiben, geschweige denn erklären. Jedenfalls vermeidet man durch die Ausschaltung des Fortschrittsbegriffs nicht Werturteile, man enthüllt damit nur seine eigenen negativen Werturteile.
Als kleines Kind während des Ersten Weltkriegs hörte ich aufgeregte Erwachsene vom »Kriegsschauplatz« reden. Schauplatz, Schauspiel — ich stellte mir da so etwas wie eine Arena mit Zuschauertribünen vor. Ich dachte damals schon, es sei merkwürdig, daß man den blutigen Krieg so beobachten wolle. Später fand ich heraus, daß ich mir eine falsche Vorstellung vom Kriegsschauplatz gemacht hatte, daß aber in gar nicht so weit zurückliegender Zeit Galgen und Guillotine mitsamt ihren Menschenopfern als Schaustellungen dienten und daß das Lynchen eine beliebte Volksbelustigung war. All das ist uns vergangen. Außer im Kino, wo Blut nicht naß ist, mögen wir Gewalt nicht mehr. Es ist eine Frage des veränderten Geschmacks. Ästhetische Bestrebungen, früher oft als verweichlichend verlacht, werden uns lebenswichtig. Trifft es sich da nicht ausgezeichnet, daß sie mit der übergeordneten biologischen Entwicklung übereinstimmen?
Denken wir die darwinistische Mechanik bis zur letzten, bitteren Konsequenz durch. Das Dasein ist Krieg aller gegen alle. Die Erde ist von graugrün getarnten, mit Panzern und Stacheln bewehrten, 66
übelriechenden und giftigen Ungeheuern überlaufen. Kein Wesen vertraut dem ändern. Sogar der Schlaf wird durch unerbittliche Zuchtwahl abgeschafft, da schlaflose Geschöpfe einen Erbvorteil besitzen. Spaß am Leben gibt es nicht mehr. Nur noch unerbittlichen Angriff, Verteidigung ohne Unterlaß, Verstecken, Verhungern, Verzweiflung. Wir brauchen wohl nicht zu betonen, daß dies kein wahres Porträt unserer funkelnd geschmückten Allmutter Natur sei. Wenn wir uns nur umschauen, sehen wir prachtvolle, fragile, unbekümmerte Geschöpfe, herausfordernd bunte Blüten und Insekten, Vögel und Fische in attraktiven Hochzeitsgewändern. Die Fortentwicklung des Lebens zeigt eine gewisse Launigkeit, ein sozusagen augenzwinkerndes Spielen mit allen möglichen Gestaltungen. Schönheit ist offensichtlich kein Nachteil, der ihr Überleben durch Generationen hindurch ausschalten würde; im Gegenteil. Blumen und Falter erhöhen durch Äonen hindurch ihren Reiz infolge der ästhetischen Selektion. Die Amsel singt vermutlich schöner als der Archäopteryx. Das Leben hat einen immanenten Hang zur Verschönerung. Nur der Mensch hat sich diesem Verschönerungsverein noch nicht als ständiges Mitglied verpflichtet. Manchmal scheint es, er allein wolle die gesteigerte Schönheitsentfaltung der Biosphäre umkehren. Wir stellen Fabriken und schäbige Wohnkästen in die Landschaft, wir denaturieren sie mit Rauch, chemischer Vergiftung, Abfallbergen und kriegerischer Zerstörung. Haben wir dafür das höchstwertige Gehirn entwickelt? Viele warmherzige und weitblickende Menschen stemmen sich diesem Verfall entgegen. Der Dichter William Blake verlangte schon im Jahre 1802, daß wir die dark satanic mills, die finsteren, satanischen Fabriken, durch ein neues Jerusalem ersetzen sollten. Der Visionär muß heute als Praktiker anerkannt werden. Wir müssen den Fortschritt, der in der biologischen Entwicklung so augenfällig war, in die Zukunft hinüberretten - um des Lebens willen.
Drittes Kapitel Unsinn der Geschichte
»Alle Wege führen nach Rom«, sagte der Römer und zog prompt in alle anderen Himmelsrichtungen. Ins Blaue und ins Blutigrote.
Die schwerste Strafe, die die griechischen Götter sich für den aufsässigen Sisyphus ausdenken konnten, war die Nutzlosigkeit: die ewige Wiederholung einer Zwangshandlung unter Ausschaltung jeder Möglichkeit zum Fortschritt. Immer wieder mußte Sisyphus seinen Felsbrocken einen steilen Hang hinaufrollen, und immer aufs neue entkam ihm der Stein, sobald er den Gipfel erreichte, und rollte zu Tal. Nur vergaßen die Götter, daß der Stein sich im Verlauf der Zeit abnutzen würde. Die scharfen Ecken, die des Sisyphus' Hände blutig schnitten, wetzten sich schon während des ersten Jahrhunderts der Strafzeit ab. Die unregelmäßigen Ausbuchtungen wurden in den nächsten fünf Jahrhunderten abgenutzt, so daß das mühselige Schieben zum stets leichteren Rollen wurde. Im nächsten Jahrtausend wurde der Fels immer kleiner, und die Fallbahn ebnete sich merklich aus. Schließlich konnte man kaum mehr von einem Felsbrocken reden, nur ein Kieselstein war übriggeblieben. Neulich kam Sisyphus auf den Einfall, den Kiesel in die Tasche zu stecken, wo er ihn mit seinen Kreditkarten, mit seinen Happypillen und Beruhigungsmitteln zusammen trug. Jetzt fährt er im Lift morgens in den achtundzwanzigsten Stock des Bürogebäudes, das auf der Strafstätte errichtet wurde, und abends wieder hinunter.
Das Rohmaterial des Lebens, das uns durch die biologische Entwicklung geliefert wurde, hat erstaunliche Qualitäten. Der Aufwärtstrieb — wir können ihn nüchtern Komplizierungsstreben nennen — hat innerhalb von 500 Millionen Jahren Algen und Amöben in Apfelbäume und Affen verzaubert. Durch eine halbe Milliarde von Jahren hindurch hat sich das Leben erhalten, ausgebreitet, befriedigt und verfeinert. Es hat seinen Willen durchgesetzt. 71
Trotz vieler Rückschläge und Sackgassen erschließt sich dem rückwärtsforschenden Blick eine ungeheure, durchgehende Verbesserung. Die biologische Entwicklung war in der Tat die faszinierendste success story. Erst im letzten Hundertstel dieser Fortschrittssaga traten gewisse Schwierigkeiten ein. War ein unbefangener Beobachter, der etwa vom Sirius herabgeflogen wäre, bis dahin zur optimistischen Beurteilung der irdischen Lebensaussichten berechtigt, so trübte sich nun das Bild - sehr allmählich, aber doch merklich. Vor vielleicht einer halben Million von Jahren stellte sich einer unserer Ahnen auf die Hinterbeine und begann zu fragen: Warum soll ich eigentlich den Willen des Lebens erfüllen — warum soll das Leben sich nicht gelegentlich auch meinem Willen unterordnen? Wir wissen, was aus dieser Aufsässigkeit entstand: Keulen und Faustkeile, Feuer und steinerne Pfeilspitzen, Jagd und Krieg. Ganz gewiß auch eine erfolgreiche Karriere für eine bestimmte Erscheinungsform des Lebens, eine immer beschleunigte, immer atemlosere Laufbahn. Die rapide Aufwärtsentwicklung seiner Fähigkeiten ermöglichte es dem Menschen, sich die Biosphäre weitgehend zunutze zu machen und viele seiner Mitbewohner auf dem Erdball zu versklaven, Unwillige auszurotten und Unterwürfige zu fördern. Ganz wie es ihm beliebte. Seit wohl fünf Jahrtausenden verdient diese Spezialentwicklung den Namen Geschichte: ihre einzelnen Stationen und Ereignisse sind aufgezählt und erzählt worden. Ist diese menschliche Geschichte noch eine Fortsetzung der ursprünglichen biologischen Aufwärtsbewegung? Ist der Unterschied ein prinzipieller oder nur ein gradueller?
Alles, was wir tun, hat nur Sinn in bezug auf unser Lebendigsein, auf unsere biologischen Eigenheiten und Bedürfnisse. »Natur erhält das Getriebe durch Hunger und durch Liebe.« Es fällt oft schwer, uns darüber im klaren zu bleiben, daß all unsere Motivierungen ohne unser körperbedingtes Dasein und Sosein einfach nicht vorhanden wären. Nach außen hin die Weltkörper, nach innen hin die subatomare Welt: sie kennen keine Liebe, keinen Haß, keinen Schmerz und keine Lust und demzufolge keine Komödien und Tragödien. »Die« Sonne und »der« Mond haben keine Geschlechtsorgane oder -hormone; die antike Vorstellung einer belebten 72
Dingwelt war schlechterdings falsch. Wir stehen allein mit unserer Eifersucht, mit edelster Liebe zu gewissen Mitgeschöpfen, mit teuflischer Zerstörungswut, mit unserem hyperbolischen Ehrgeiz. Alles nur Nerven- und Drüsenfunktionen! Ein verbrennender Meteor kennt und empfindet keinen Schmerz, erweckt also auch niemandes Mitgefühl. Heiter lächelnd kann der Normalmensch eine Blüte abpflücken und sie seiner Geliebten überreichen: er nimmt an, daß die Pflanze keine Schmerzempfindungen hat. Und der westliche Botaniker ist sicher, daß die Tanne, die ihre Sporen dem Wind überantwortet, bei diesem Geschlechtsakt keine Lust verspürt. Lustund Trauerspiele sind für die Menschenwelt charakteristisch. Wenn man sich dies klargemacht hat, betrachtet man die Weltgeschichte detachierter, nämlich nur als Menschengeschichte. Der sogenannte Weltensturm der Eroberungskriege Alexanders des Großen ist, als physikalische Bewegung, unbedeutender als ein mittelgroßer Vulkanausbruch. Die tollsten, »welterschütternden« Empfindungen - was sind sie, in mechanistischer Betrachtungsweise? Nervenzuckungen, Gehirnschwingungen, etwa zwanzig Watt stark in jedem Individuum. Himmlische Seligkeit und ewige Trauer: Gleichnisse, weiter nichts. Haß und Liebesglut, Scham und Mordlust, die Überhebung des Herrschers und der Jammer des Sklaven, kurz, alles Material unseres Innenlebens hat Gültigkeit in bezug auf die beschränkte Menschennatur. Selbst wenn wir Marmor und Pergament zu unseren Zeugen machen, gibt es ohne den Menschen keine Kunst, kein Recht, keine Weisheit. Unsere Welt ist durch und durch »in der Wolle gefärbt« von unserem Menschsein, und wir können uns nichts Außermenschliches ausmalen, ohne in unserem Denken auf sinnliche Modelle zurückzugreifen. Selbst wenn wir Mathematik und Computertechnik zuziehen, bleiben wir unserer Sinnenwelt verhaftet. Eine Kugel stellt sich unserem inneren Auge als Kreis dar, auch wenn sie sich dreht und wir sehen, daß kein Kreis auf diesem Kugelkörper angebracht ist. Der Weitblick ist für uns mit einer Horizontlinie abgeschlossen, selbst wenn wir uns hinzudenken, daß sich da draußen in der Landschaft keine Linie befindet. Und wenn wir zwei Felsen aufeinanderprallen sehen, regt sich tief in uns ein Schmerzzucken. Gedanklich schalten wir das sofort wieder aus; die Empfindung aber bleibt. Da das beschränkt Menschliche nun einmal unser Lebenselement ist, darf es uns nicht verwundern, daß unsere Geschichte kein erhabenes, logisches, gesetzmäßiges Geschehen ist. Die Historie hat all unsere Unvollkommenheiten, Gier und Hilfsbereitschaft, Dumm73
heit und Eitelkeit und unsere vielleicht lächerliche, vielleicht sogar großartige Bemühung um unerreichbare Ziele.
Wenn man die Menschengeschichte so kühl und überlegen zu betrachten sucht, wie man einen Hühnerhof oder ein Aquarium studiert, entdeckt man vielleicht noch am meisten Gesetzmäßigkeit in dem wirbelnden Geschehen. Mit anderen Worten: wenn man die geschichtlichen Phänomene als unvernünftige Manifestationen des Lebens ansieht, wirken sie noch am vernünftigsten! Da gelten beispielsweise die zwanghaften Bestrebungen, eine Hackordnung festzulegen: der Hahn hackt die älteste oder stärkste Henne, die sich kopfschüttelnd mit seiner Autorität abfindet. Diese wiederum hackt eine schwächere Schwester, jene steckt die Beleidigung ohne Protest ein und lädt ihr Ressentiment auf die nächst schwächere ab, bis ein armes, häßliches, zerrupftes Tierchen, das sich ängstlich und hungrig in die Ecken drückt, als unterstes Glied der sozialen Stufenleiter definiert ist. Neu ins Gehege gebrachte Individuen bekommen sehr bald ihren Platz in der Rangordnung angewiesen, den sie dann kaum je wieder anzweifeln. Revolten und Umschichtungen werden erst möglich, wenn durch äußerliche Veränderungen das Milieu aufgelockert und fraglich geworden ist. Eine ähnliche, rein biologisch zu betrachtende Triebkraft ist das Territorialempfinden. Viele verschiedene Tierarten werden durch Instinkt oder Gewohnheit dazu getrieben, ein verfügbares größeres Gebiet in Territorien aufzuteilen, die dann von den älteren Männchen unerbittlich gegen Eindringlinge und Konkurrenten verteidigt werden - ganz so, als ob sie unsere menschliche Grundbesitzjustiz kennten. Immerhin wird bei den Tieren so die gleichmäßige Ernährung vieler Mitglieder eines Stammes gewährleistet. Wenn Menschen die gleichen primitiven Bestrebungen haben, verbrämen sie sie mit »gottgegebenem Recht« und ähnlichen hochtrabenden Redensarten. Man glaubt dann sogar, daß ein Stück Erdoberfläche auf mystische Weise mit einem Nationalcharakter getränkt sei. Eigentumsrechte an Grund und Boden werden von der Gattung Homo sapiens viel stärker verabsolutiert als manche, in unserer modernen Situation wichtigeren Ansprüche und Bedürfnisse. Den obersten Individuen der menschlichen Hackordnung verleiht ihre Einbildungskraft blaues Blut oder Gottesgnadentum — Eigen74
schatten, die niemals objektiv nachweisbar sind, die aber jahrhundertelang von erschreckend realer Wirksamkeit bleiben können. Solche Querverbindungen zwischen Biologie und Geschichte sind außerordentlich aufklärend und jedenfalls sinnvoller als die Motive, die die Akteure auf der historischen Bühne selber für wirksam halten. Die menschlichen Beweggründe, wie sie für historische Aktionen laut und vordergründig proklamiert werden, sind oft von unüberbietbarer Absurdität. Da wird etwa eine Wotanseiche von einem kühnen Mönch gefällt, und weil kein Blitz den Täter erschlägt, tritt ein ganzer Volksstamm zum Christentum über. Das gegenteilige Kontrollexperiment - ob zum Beispiel das Durchstechen der geweihten Hostie wirklich Blutstropfen hervorzaubert, wie der fromme Aberglaube dies behauptet - wird hingegen vorsichtshalber vermieden. Völker und Religionen lassen sich über so hochwichtige Fragen entzweien, ob Freitag, Samstag oder Sonntag der geheiligte Ruhetag der Woche sei. Die Schlagzeile Ceterum censeo Carthaginem esse delendam, von einem mürrischen Senator am Schluß jeder Debatte ohne jede logische Begründung wiederholt, rottete den orientalischen Zweig der antiken Mittelmeerkultur aus. Es klingt zwar gelehrt, den Hunnen- oder den Kreuzzügen wirtschaftliche Beweggründe zu unterschieben; aber ohne den männlichen Charakter mit seinem Eroberungstrieb wären sie unterblieben. Die gute oder üble Laune eines Fürsten oder Papstes hat allzuoft weltweite Veränderungen bewirkt. Tuchfetzen in verschiedenen Farben sind Völkerstürmen vorangeflattert, die grüne Fahne des Propheten Mohammed, das kreuzförmige Schwert, das Hakenkreuz wurden als hypnotische Symbole durch die Welt getragen - über Leichenhaufen hin. Spitzfindige theologische Fragen ohne lebensechte Bedeutung — ob die Hostie der Leib Christi ist oder ihn bedeutet, ob die Kuh heilig oder eßbar ist — spalteten Volksmassen; Wappen wie die rote und die weiße Rose, Familienanhänglichkeiten, gefälschte Erbansprüche verursachten Kriege und Bürgerkriege. Irgend jemand fühlte sich verpflichtet, Rache zu nehmen für irgendeine Tat, wie sie vordem schon hundertfach ohne jede Folge vorgekommen war; und aus solcher Rachelaune heraus wurden dann Nationen vernichtet. Jede politische Bewegung befindet sich stets nur im labilen Gleichgewicht, wie ein Fahrrad, wenn es nicht getreten wird, hilflos umfällt; nur die Vorwärtsbewegung gibt die Stabilität. So lange ein vitaler Antrieb hinter einer Bestrebung wirksam ist, kommt sie den darin Befangenen als der absolute Sinn der Welt vor: die Erde dem 75
Papst oder Sultan oder Kaiser oder der Diktatur des Proletariats zu unterwerfen; die Natur zu technisieren oder kommerziell auszunützen; eine Rangordnung unter den Rassen durchzusetzen; die Sünde aus der Welt zu verjagen. Dem nicht davon Hypnotisierten kommen dergleichen Sinngebungen und Heilsrezepte unwirksam und unwirklich vor.
Als naturwidrigste Betätigung in der Geschichte werden bisweilen die Gastmähler spätrömischer Patrizier angesehen: die Schlemmer unterbrachen ihre Fresserei nur, um sich von Sklaven mit einer Feder im Hals kitzeln zu lassen, worauf sich ihre Mägen in verkehrter Richtung entleerten und Raum für neuerliche Nahrungs- und Trankesmengen schufen. Die Natur bietet jedoch einige Beispiele von Völlerei, die uns noch widerwärtiger vorkommen. Wenn Katzenhaie in Heringsschwärme geraten, so fressen sie und fressen, bis sie Tausende von getöteten Heringen erbrechen, um dann weiterfressen zu können. Jedoch ist die Nahrungsbeschaffung der meisten Tiere so zeitraubend und schwierig, daß die Gefahr ungesunder Völlerei kaum besteht und daß Arten mit solchen perversen Neigungen leicht aussterben. Eine gewisse Libellenlarve ist ein hemmungsloserer Vielfraß als irgendein Mensch. Am Teichgrund, kaum ausgekrochen, frißt sie ihre schwächeren Schwestern und alles erreichbare tierische Leben. Langsam frißt sie sich in die Höhe, denn auch sie empfindet den Trieb zum Höheren. Über der Wasserfläche platzt sie, entfaltet ihre Flügel und gönnt sich keine Ruhepause im Fressen. Man hat diese liebliche Wasserjungfrau zweiundvierzig Fliegen in zwei Stunden verzehren sehen, ohne daß ihr Hunger deshalb nachgelassen hätte. Wenn man ihren eigenen Schwanz vor ihr Maul hält, frißt sie sich selber auf; und das ist dann allerdings das Ende ihres Schmauses.
Über Alexander den Großen berichtet Plutarch: »Alexander weinte, als er von Anaxarchus vernahm, daß es eine unbegrenzte Anzahl von Welten gebe. Er erklärte: Ist es nicht beklagenswert, daß, wenn es eine solche Menge Welten gibt, wir noch nicht eine erobert haben?«
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Manche unserer frühgeschichtlichen Wahnideen — oder sagen wir mit moderner Toleranz: manche unserer überkommenen Illusionen - sind auch heute noch wirksam. So könnte es beispielsweise sein, daß das traditionelle Widerstreben der katholischen Kirche gegen Geburtenbeschränkung auf die phantastische Vorstellung zurückgeht, die Seelen im Himmel müßten irgendwann den Endkampf gegen Satans Heerscharen ausfechten. Je mehr gerettete Seelen für diesen Krieg zur Verfügung stünden, desto gesicherter sei dann der Sieg über das böse Prinzip. Diese fast manichäische Frühvorstellung ist sicherlich nicht mehr bewußt wirksam; aber da die Begünstigung einer maß- und ziellosen Übervölkerung schlechterdings nicht rational begründet werden kann, dürfte jenes irrationale Motiv noch immer wirksam sein. Mit Logik hat diese Bevölkerungspolitik jedenfalls nichts zu tun; sonst könnte sie nicht, innerhalb der gleichen Weltanschauung, mit der negativsten Zuchtwahl kombiniert sein, die die Welt je erlebt hat. Mönche und Nonnen, also die friedlichsten und geistigsten Menschen, durften ihre hochwertigen Eigenschaften keinen Nachkommen vererben. Bischöfe, Kardinale, Päpste, ihrem Rang nach als die Besten definiert, durften offiziell keine Kinder zeugen. Der wichtigste Einwand gegen das Zölibat der Priester ist nicht die Einbuße an persönlichem Liebesglück - hierfür gibt es anderweitige Kompensationen und Sublimierungen, und diese Entsagung ist schließlich eine Privatangelegenheit; der wichtigste Einwand ist der, daß der menschlichen Erbmasse so viele gute Genien und Gene entzogen wurden. Über Jahrhunderte hin pflanzten sich die Träger des Geistes nicht fort. Die Friedfertigen, die Buchgelehrten, die materiell Genügsamen entzogen der menschlichen Gesellschaft gerade die besten Möglichkeiten zur Vererbung unserer höchsten Werte.
Ganze Kulturen konnten früher auf falschen Voraussetzungen errichtet werden, kein Zweifel. Das Opfer der Erstgeburt, die Hinschlachtung der jeweiligen ersten Nachkommen zur Versöhnung phantasierter höherer Wesen: traurig, aber nicht katastrophal, viele fruchtbare Gemeinden überlebten historisch den Aderlaß. Manche Stämme bringen ihre neugeborenen Zwillinge um: Zwillinge bedeuten angeblich Unglück. Auch diese krude Geburtenkontrolle ließ sich von einem gesunden Volk verkraften. Schmerzhafte Beschnei77
düngen und Tätowierungen, riesenhohe Halskrausen, Lippenpflökke, Keuschheitsgürtel aus Metall oder eiserner Ethik, erstarrte Monogamie, Mord aller am Ufer angespülten Schiffbrüchigen — das Individuum litt, aber der Staat wurde durch die Unterwerfung seiner Mitglieder nur um so stabiler. Wenn jedoch schließlich der Mensch für das Brauchtum da war und nicht die Gebräuche für den Menschen, dann wurde das Gemeinwesen verletzlich. Der Mensch existiert nicht für den Sabbat, sondern der Sabbat für den Menschen.
Wir haben keineswegs irgendeine Garantie, daß unsere Vorfahren und wir selber unsere besten Ideen richtig einsetzten. Die alten Chinesen benutzten das Schießpulver, das sie lang vor der westlichen Welt erfunden hatten, für lustige Raketenfeste. Hätten sie Kriegsraketen oder Kanonen gebaut, so würden wir alle heute vielleicht Laotse verehren - und das wäre hinwiederum nicht so schlecht. Keine höhere Stelle schreibt uns vor, wie wir unseren »Fortschritt« auszurichten haben; der Weltgeist hat keine Weichenstellerhäuschen auf der Erde. Die Verantwortung für unsere Bestrebungen und Taten fällt auf uns selber, sogar wenn letzten Endes der Zufall entscheidet. Wie war das zum Beispiel mit der Erfindung des Rades in Mexiko? Drei Jahrtausende vor Christi Geburt wurden Wagen in Babylon gebaut. Verbesserte Modelle brachten abwechselnd den Ägyptern, Indo-Iraniern und Griechen Machtzuwachs und Kulturvorteile. Aber die gleiche Erfindung, unabhängig im antiken Mexiko gemacht, half den Azteken in keiner Weise. Diego Rivera (1886-1957) hat auf einem großartigen Fresko den antiken Marktplatz von Tlatelolco dargestellt. Im Hintergrund ist ein Tempel, davor die Stände der Kräuterhändler und Hundemetzger, die Medizinmänner und die tätowierten Huren. Ganz im Vordergrund, zwischen zerkauten Früchten und Abfall, sehen wir ein kleines Spielzeug: ein aus Lehm gebranntes Hündchen mit Rädern. Und das war, wie Ausgrabungen gezeigt haben, tatsächlich die einzige Verwendung, die jene komplizierte Zivilisation für die Erfindung des Rades erdenken konnte! Kein Irrtum ist möglich: zwei Achsen gingen durch die vier Beine, und außen steckten vier Räder dran; also nicht bewegliche Walzen oder verschiebbare Lastenhebel, sondern echte Räder, wie wir sie unter unseren Autos haben. Vielleicht waren diese Völker so weise, daß sie unsere Luftverpe78
stung durch Auspuffgase vorhersahen und deshalb für ihre eigene Kultur den Gebrauch des Rades untersagten?
Ist die hochnäsige Bezeichnung Homo »sapiens« eigentlich gerechtfertigt? Durch die Jahrtausende hin jagten die Menschen Chimären nach. Ungeheure Energien, die sie auf die Verbesserung ihrer Lebensumstände verwenden konnten, verschwendeten sie im Dienst von Illusionen. Sie errichteten Tabus, deren Befolgung weder Schönheit noch Güte in ihr Dasein brachte, von Wahrheit ganz zu schweigen. Die Aufrichtung und Durchsetzung solcher Tabus muß herkulische Kräfte verschlungen haben. Ich meine hier nicht so sehr regionale Verbote - ein Stamm ißt kein Rindfleisch, ein anderer kein Schweinefleisch, und deshalb verachten sie einander. Ein paar Tabus wurden so generell auf dem ganzen Erdball durchgeführt, daß ihre Befolgung heute geradezu als identisch mit dem Zustand des Zivilisiertseins empfunden wird. Das Verbot des Geschlechtsverkehrs zwischen nahen Blutsverwandten und die Ausmerzung der Menschenfresserei sind die rigorosesten Tabus dieser Reihe. Das Inzestverbot gehört seit Jahrtausenden zu den Spielregeln des Homo sapiens. Schon das Wort »Blutschande« zeigt an, daß hier stärkste Affekte am Werk sind: weder Blut noch Schande sind ja in einer biologischen Definition des Inzestvorganges am Platze. Die eugenischen Vorteile dieses absoluten Tabus sind zweifelhaft; eine Geschwisterehe als Abwechslung in einem langen Stammbaum wäre sicher nicht schädlich. Die Pharaonen, die ihre Töchter und Schwestern heirateten, haben keine minderwertigeren Nachkommen gehabt als die Eroberer und Vergewaltiger fremdester Volksstämme. Sämtliche Vollblutpferde gehen in direkter Linie auf nur drei Hengste zurück! Objektiv betrachtet, ist der Horror fast jeder Zivilisation vor dem Inzest ziemlich unbegründet. Die Verhütung von Kannibalismus und Inzest führt uns klar vor Augen, daß der Mensch unglaubliche Anstrengungen zur Absolutheit machen kann: er kann die - vermeintlich unwandelbare - Menschennatur ändern! Die Sozialgewohnheiten, ja vielleicht sogar die Triebe des Homo sapiens können gewandelt werden! Wenn wir die kriegerische Aggression oder die Raffgier mit solcher geistiger Hochspannung und energischer Zielbewußtheit ausmerzen würden, wäre uns besser gedient. 79
Bestimmt war es ein welthistorischer Fehler, den Kannibalismus abzuschaffen. Wir würden keine Weltkriege veranstalten, wenn wir durch die Sitte dazu gezwungen wären, die entstehenden riesigen Leichenhaufen zu verspeisen. Ein völlig unzweckmäßiges Tabu! Ist es vielleicht nobler, den Feind zu töten und die immerhin nahrhaften Fleischstücke einzugraben - als diese mit Genuß zu verzehren im Bewußtsein, einen handfesten Grund zur Tötung gehabt zu haben? Was ist so human an dem gräßlichen Schauspiel hungernder Heere zwischen verfaulenden Feindesleichen? Nein, da war der alte Menschenfresser auf Borneo doch humaner, der den Anthropologen Bronislaw Malinowski (1884—1942) bat, ihm den zivilisierten Ersten Weltkrieg zu erklären. Der Alte verstand nicht, wie die Europäer die ungeheuren Mengen von Menschenfleisch, die da anfielen, essen könnten. Als Malinowski ihm berichtete, daß die Weißen ihre gefallenen Feinde begraben, schüttelte der Kannibale den Kopf: »Ihr seid doch wirklich Barbaren, ohne Grund zu töten!« Völlig absurd wird dieses angeblich humanisierende Tabu aber im Zeitalter der Atombombe. Wären wir als Gattung Mensch noch Kannibalen geblieben, so würden wir uns hüten, unsere Nahrungsquelle durch Giftgase, Todesstrahlen, Brand und Verschüttung unbrauchbar zu machen. Die Beibehaltung des Kannibalismus wäre ein Segen für die kriegerische Menschheit gewesen.
Die Menschheit kann - nachweisbar! - einige ihrer schlechtesten Angewohnheiten ablegen. Das klarste Beispiel hierfür — das nun wirklich einen tiefgreifenden Optimismus rechtfertigt - ist die Geschichte des Duells. Die große Literatur von Shakespeare bis zu den russischen und französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts ist angefüllt mit Duellszenen, deren schicksalhafte Unausweichlichkeit uns noch heute den kalten Schauder über den Rücken jagt. Trotzdem: wer sich heute auf eine Ohrfeige hin zu duellieren wünschte, würde ausgelacht. Und dieses Problem war kein nebensächliches. Nicht nur Gecken, sondern einige der gescheitesten Schriftsteller und Staatsmänner opferten ihrer Ehre im Zweikampf das Leben. Schopenhauer wetterte erbost gegen diese falsche Auffassung von »Ehre«: »Die Beklemmung sollte den höheren Ständen von der Brust genommen werden, welche daraus entsteht, daß jeder, jeden Augenblick, mit 80
Leib und Leben verantwortlich werden kann für die Rohheit, Grobheit, Dummheit oder Bosheit irgendeines Ändern, dem es gefällt, solche gegen ihn auszulassen. Daß, wenn zwei junge, unerfahrene Hitzköpfe mit Worten aneinander geraten, sie dies mit ihrem Blut, ihrer Gesundheit oder ihrem Leben büßen sollen, ist himmelschreiend, ist schändlich.« Heutzutage erfordert eine Beleidigung kein Blut mehr: eine Veränderung der allgemeinen Usancen, die Schopenhauer kaum zu erhoffen gewagt hätte. Wird weniger geohrfeigt? Vielleicht. Wird seltener die Ehe gebrochen? Bestimmt nicht. Nur haben sich die Reaktionsweisen in westlichen Kulturen geändert. Auch die Verbrechen — der Definition und der Ausführung nach - unterliegen Modeströmungen. Heute sind verbrecherische Unternehmungen an der Tagesordnung, von denen unsere Großeltern noch keine Ahnung haben konnten, Luftpiraterie beispielsweise. Wir sind also nicht durchgehend gütiger oder altruistischer geworden. Doch ist die Wandlungsmöglichkeit des menschlichen Verhaltens jetzt bewiesen und kann nie wieder angezweifelt werden. Der Mensch ist kein Pavlovscher Hund mit bedingten Reflexen, der automatisch jedesmal in gleicher Weise reagiert, wenn ein Glöckchen bimmelt.
Beim Menschen funktionieren die Auslösemechanismen instinktiver Handlungsabfolgen nicht so starr wie bei den Tieren. Denn wir besitzen ein Organ, dessen Hauptfunktion es ist, Affekte und Instinkte zu modifizieren: unser Großhirn hat die Aufgabe, unsere urtümlichen Triebe in Schach zu halten. Es ziemt dem Homo sapiens, gezügelt zu leben. Ist diese Bestrebung »unnatürlich« ? Seit Freuds Tagen haben viele Erzieher und Psychologen die (manchmal uneingestandene) Furcht, daß die Verhinderung instinktiven Auslebens zu schädlichen Hemmungen, Komplexen und Neurosen führen könnte, die sich später in viel destruktiverer Art Geltung verschaffen. Daran mag vieles wahr sein, aber die Weltlage ist heute so, daß wir gewisse Hemmungen aufs dringendste benötigen, Hemmungen gegen den Gebrauch der Atombombe zum Beispiel. Ein paar frustrierte Generäle müssen wir dafür in Kauf nehmen. Vor allem aber: das intelligente Großhirn wurde ja genauso von der Natur entwickelt wie die primitiveren Schichten unserer Persönlichkeit. Das Großhirn ist kein kaltes Laboratoriumsprodukt, sondern ein lebendiges, gewachsenes Organ. 81
Dionysische Rauschzustände haben ihren Platz im Menschenleben. Liebe, die sich vorbehaltlos hingibt, braucht um Amors willen nicht intelligent zu sein! Von der sublimsten künstlerischen Inspiration bis zum banalsten Karneval gibt es immer wieder Situationen, die den Intellekt ausschalten dürfen und sollen. Aber wer will schon das ganze Jahr hindurch Karneval feiern? Orphische Mysterien und orgiastische Feste waren stets an Daten gebunden, was ihren irrationalen, unbeherrschbaren Ausbruch doch recht zweifelhaft erscheinen läßt. Wenn wir die Liebesfeste so regulieren konnten, warum sollten wir nicht die Haßfeste der Kriege eindämmen können?
Wenn man selber eine ziemlich dicke Scheibe von der Wurst der Geschichte hat schlucken müssen, fragt man sich wohl: Hat es viel Zweck, weitere Kostproben zu nehmen? Hilft es zum Verständnis der Gegenwart und des eigenen Daseins, die historisch festgelegte Vergangenheit zu studieren? Die Meinungen über den Wert der Geschichte gehen erstaunlich weit auseinander. Die entschiedenste Negation vertrat Goethe (was einen bei dem Verfasser des Götz und Egmont wundern muß). Ihm erschien das Studium der Geschichte als solches sinnlos. »Ich bin nicht so alt geworden,« sagte er zum Kanzler von Müller, »um mich um die Weltgeschichte zu bekümmern, die das Absurdeste ist, was es gibt«. Nachdem er vier Bände einer Geschichte der Hohenstaufen durchgelesen hatte, meinte er, er habe »nichts gewonnen als die Überzeugung, daß es damals noch schlechter als jetzt hergegangen. Die Weltgeschichte ist für jeden höheren Denker eigentlich nur ein Gewebe von Unsinn und wenig aus ihr zu lernen.« Andererseits gab es viele und sehr verschiedenartige Denker, die in der Weltgeschichte den Schlüssel zum Verständnis des Menschen zu finden glaubten. Jakob Burckhardt etwa muß einen intensiven Genuß beim Studium der Geschichte empfunden haben, der wiederum seinem Schreiben über historische Gegenstände Glanz verleiht. Für Burckhardt war es »ein wunderbares Schauspiel, dem Geist der Menschheit erkennend nachzugehen, der, über all diesen Erscheinungen schwebend und doch mit allen verflochten, sich eine neue Wohnung baut«.
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Vielleicht ist dieser Widerspruch aufzulösen. Betrachtet man die Geschichte als Aufreihung von Usurpatoren und Dynastien, von Gebietseroberungen und Gruppenspaltungen, von Staatsverträgen und Vertragsbrüchen, von Aufstieg und Dekadenz der Herrscherkasten, so ist sie allerdings nur ein ziemlich sinnloses Umherwogen widerstreitender Kräfte, die einander ausgleichen, ohne einen permanenten Effekt hervorzurufen. Wenn man hingegen die Zeitstimmungen, die sich entwickelnden Werteskalen, die Sinngebungen verschiedener Zeitalter einbezieht, so werden die Daten und Schlachten zu Vordergrunderscheinungen. Und wenn man gar die Kulturgeschichte mit einrechnet, wird eine deutliche Gerichtetheit erkennbar. Reichsgründungen addieren sich nicht; Verbesserungen der Gesundheitspflege bauen aufeinander auf. Astronomie, Weltverkehr, Chemie werden, ganz objektiv betrachtet, immer wirksamer: nach ihren eigenen Maßstäben und Zielen beurteilt, zeigen sie einen unleugbaren, phänomenalen Fortschritt. Wir müssen die Hoffnung hegen, daß diese Gerichtetheit der Kulturgeschichte in den nächsten Jahrhunderten auch auf die bislang so widersinnige politische Geschichte übergreifen werde.
Einer der hauptsächlichen Einwände gegen die Historie, wie sie in unseren traditionellen Geschichtsbüchern erscheint, ist das Gefühl der Unlogik, das sie in uns auslöst. Jeder Hintertreppenroman ist in seinen Motiven und Verkettungen schlüssiger und einleuchtender als das dynastische, politische und wirtschaftliche Geschehen der vergangenen fünf Jahrtausende. Der Hauptgrund hierfür ist die eigentümlich zweideutige Kausalverkettung historischer Ereignisse. Manchmal erfolgen gewaltige Umwälzungen aus lächerlich unbedeutenden Ursachen; manchmal haben große Ursachen große Wirkungen; und oft haben auffällige Mißstände und Ungleichgewichtigkeiten, die nach Reformen schreien, überhaupt keine Wirkung. Viele Historiker umgehen diese gefühlsmäßige Schwierigkeit, indem sie zwischen Ursache und Anlaß einer Entwicklung unterscheiden. Dies ist kaum mehr als eine Ausflucht, ein Notbehelf. Der »Anlaß«, der nur lokal und persönlich ist, erfüllt das Kausalgesetz nicht weniger als die »Ursache«. Wir lesen, daß die »Ursachen« des Ersten Weltkriegs Frankreichs Revanchegelüste, Rußlands Pansla83
wismus, Englands und Deutschlands imperialistischer Expansionsdrang gewesen seien; die »Veranlassung« aber sei die Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares durch einen jungen Serben gewesen. - Offensichtlich war die letztere, fest umrissene Tat genauso eine »Ursache« der nachfolgenden Mordorgien wie die umfassenderen, lange schwelenden Konflikte. Diese Unterscheidung ist nur Definitionssache; sie kann das Problem der geschichtlichen Wirksamkeit nicht lösen. Der größte Fehler, den man bei der Geschichtsbetrachtung begehen kann, ist der, nur bedeutende Ursachen für bedeutende Wirkungen zu unterstellen. Sicherlich spielten Freiheitswille und gekränktes Rechtsgefühl oft eine gewaltige Rolle bei sozialen und ökonomischen Umwälzungen; aber genauso oft blieben die hohen Ideale wirkungslos. Entscheidender war häufig die Beleidigtheit eines mittelhohen Beamten, der die Hebel der Macht zu betätigen wußte. Das zufällige Aussterben eines Fürstengeschlechts mit unklarer Erbfolge war vielleicht der üblichste Grund für blutige Wirren. Wirtschaftliche Entwicklungen, philosophische Trends, geistige Umschichtungen konnten wohl, aber mußten nicht die Ursachen politischer Geschehnisse bilden. Geschichtsschreiber haben's nicht leicht! Warum fünf Ursachen und nicht deren hundert aufzählen? Wie kann, ganz prinzipiell, das unendlich vielfältige Geflecht einer bestimmten Zeitlage vom doch nicht allwissenden Historiker nachgezeichnet werden? Wenn einmal die Ganzheitsentwicklung einer Epoche zum Krieg trieb, wozu dann einzelne Ursachen herausschälen? Manchesmal widerstanden Völker stärksten Provokationen und erhielten den Frieden, manchmal genügte ein Funke im Pulverfaß. Heinrich von Kleist, der durchaus wußte, wie man gewaltige Motive zu hochdramatischen Aktionen auf die Bühne bringen kann, erkannte doch auch die Wirksamkeit kleinster und nebensächlichster Ursachen an. Er beschreibt einmal, wie der französische König Ludwig XVI. einen Zeremonienmeister zu den versammelten Ständen schickt und ihnen befehlen läßt, nach Hause zu gehen. »Vielleicht, daß es das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte. Man liest, daß Mirabeau, sobald der Zeremonienmeister sich entfernt hatte, aufstand und vorschlug, sich sogleich als Nationalversammlung, und als unverletzlich, zu konstituieren.« 84
Kleist war ein großer Dichter, Man sieht es leibhaftig, wie das verlegene, impotente Zupfen an der Spitzenmanschette die Lawine der Revolution auslöst. Eines steht fest: dem Kosmos ist unsere Menschengeschichte gleichgültig. Frühere Jahrhunderte waren anderer Ansicht, sie glaubten, ein irdischer Herrscher regiere nicht nur über menschliche Angelegenheiten, sondern sei von übernatürlichen Mächten beauftragt, beschützt oder bedroht. So schreibt der Biograph Karls des Großen, Einhard: »Sehr viele Vorzeichen kündigten sein nahendes Ende an, eine Tatsache, die er selbst so wie andere anerkannte. Sonnen- und Mondfinsternisse waren während seiner drei letzten Lebensjahre sehr häufig, und ein schwarzer Sonnenfleck war sieben Tage lang sichtbar.« Ein Feuerball sauste über den Himmel und erschreckte Karls Pferd so. daß es ihn abwarf; Erdbeben und Blitzschläge zeigten die Bedeutung des bevorstehenden Unheils an. Im neunten Jahrhundert nahm man solche kosmischen Sympathieund Antipathiekundgebungen wörtlich. Spätere Ependichter und Hofmaler meinten es nur allegorisch, wenn sie ihre Fürsten von geflügelten Wesen bewacht und in ihren hohen Aufgaben gefördert zeigten; trotzdem, der Geist der Geschichte wurde bis in die Neuzeit hinein als übernatürlich beurteilt. Noch Hitler verließ sich auf eine speziell für ihn wirksame Vorsehung. Wir sind bescheidener geworden, wir stellen keine göttlichen und teuflischen Einflüsse mehr in Rechnung, wenn wir die Geschichte beurteilen wollen. Der Historiker lebt vorwärts und denkt rückwärts; unwiederbringlich versinken die Schollen seines Materials hinter seinem Rücken im strudelnden Strom der Vergangenheit. Zweifellos sind entscheidende Anstöße zu geschichtlichen Entwicklungen nicht überliefert worden, weil sie ihrer zeitgenössischen Welt unwichtig erschienen. Wir wissen nicht, wer erstmals eine Trense ins Maul eines Pferdes legte; bis dahin lenkte man Reitpferde, indem man ihren Hals links oder rechts mit einer Rute kitzelte. Bestimmt brachte der Erfinder der Trense seinen Stamm zur Vorherrschaft über Nachbarstämme; aber wir werden nie erfahren, wie er hieß, wo und wann er wirkte, ob er letztlich Umstürze in kontinentalem Maßstab verursachte. Ist nur das historisch, was uns schriftlich, mündlich, durch Scherben oder durch Architektur überliefert wurde? Ist ein einfluß85
reiches Geschehen, das vergessen wurde, nicht Teil der Geschichte? Wenn wir (notgedrungen) die Geschichte als das uns bekannte relevante Menschengeschehen definieren, bleibt sie prinzipiell unvollständig und nicht sehr einleuchtend. Auch die uns genau überlieferten Gründe und Anstöße für überwältigende Völkerstürme sind oft geradezu lächerlich bedeutungslos; sie haben selten jene Aura, jene hochtrabende Konfiguration, die die Historienmaler vom 16. bis zum 19. Jahrhundert hochschätzten. So wird von Mohammed erzählt, er habe eine zahme Taube besessen, die sich auf seine Schulter setzte und ihm göttliche Sprüche ins Ohr flüsterte. Es war ein billiger Taschenspielertrick: er versteckte Weizenkörner in seinem Ohr, und wenn das Tier hungrig wurde, steckte es den Schnabel in Mohammeds Gehörgang. Wenn die Araber damals nicht durch jenes vermeintliche Wunder zum Glauben an die göttliche Inspiration ihres Propheten bekehrt worden wären, so wäre Ägypten nicht arabisch geworden, und 13 Jahrhunderte später hätten die israelisch-arabischen Kriege nicht stattgefunden. Nicht das Schicksal, sondern menschlich-allzumenschliche Einfalle treiben oft das Geschehen an. Jede Ursache muß vorher mehrere Ursachen gehabt haben; das ist es, was die Verherrlicher historischer Persönlichkeiten und Taten außer acht lassen. Ich hörte neulich den Vortrag eines Historikers, der den Zweiten Weltkrieg darauf zurückführte, daß ein mittelalterlicher Papst den Kreuzrittern, die in Palästina nichts erreichten, auftrug, die heidnischen Preußen zu christianisieren. Da diese Ritter es eilig hatten, ließen sie Westpreußen slawisch und stießen weiter nach Osten vor. Daher polnischer Korridor, Danzig, Hitler. Es scheint einleuchtend. Aber was war die Ursache des Mißerfolges jener christlichen Krieger im Heiligen Land? Und die Ursachen dieser Ursache? Zahllose Fragen, ohne deren Beantwortung nichts endgültig kausal erklärt werden kann. Alle paar Jahrzehnte bekommen im Rückblick Ereignisse eine gesteigerte Wichtigkeit, die sie bislang nicht besessen hatten. Daher muß Geschichte immer neu geschrieben werden. Und: neu gemacht. Denn auf unsere bisherige Produktion von Menschengeschichte können wir nicht gerade stolz sein.
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Ein unbefangener Besucher von einem anderen Stern, der durch Europas Hauptstädte spazierte, wäre zweifellos vom Altruismus der Nationalismen beeindruckt. In Paris würde er zahlreiche mitteleuropäische Ortsnamen lesen: Rue d'Ulm, Place d'Iena, Eylau, Wagram; deutsche Orte werden als Straßennamen und Inschriften auf Triumphbögen geehrt. Stutzig würde unser intergalaktischer Reisender erst, wenn er die Gare d'Austerlitz in Paris und die Waterloo Station in London entdeckte. Er käme darauf, daß solche Lokalitäten nicht wegen landschaftlicher Schönheiten oder freundlicher Erinnerungen hier verewigt sind, sondern weil dort irgendwann Armeen aufeinanderprallten und den Boden mit Menschenblut düngten. - Und er wäre enttäuscht. Den Verherrlichern jener Ortsnamen ist es noch nicht aufgefallen, daß Austerlitz und Waterloo einander längst gegenseitig aufhoben und ihren Glorienschein durch Interferenz vernichteten. Wie war's, wenn die Völker all dieses verschollene Triumphgebrüll auslöschten? Berlin könnte zu Paris sagen: Ich gebe dir meinen Pariser Platz, wenn du mir dagegen deine Avenue d'Iena schenkst.
Männer machen die Geschichte, wird gesagt. Sicherlich, in vielen Fällen. Aber was wiederum macht diese Männer? Sie fallen ja nicht fertig ausgebildet vom Himmel. Irgendwo im Lauf des geschichtlichen Stromes mit seinen Verästelungen, seinen Dürreperioden und Hochfluten konzentriert sich das geschichtsbildende Fluidum in ein paar außerordentlich wirksamen Individuen. Ihre Eigenarten, ihre Gelegenheiten, ihr Mitschwingen mit der Melodie der Zeit sind zunächst abhängig von den schon existierenden Gegebenheiten. Plötzlich liefern sie die entscheidenden Impulse, und ihre Wirkung wird unentbehrlich, ihr Wille wird autonom. Diese wechselweisen Einflüsse sind tief rätselhaft und nur schwer nachzuzeichnen. Wir wissen, was Lenins Charakter formte, nämlich die Ermordung seines älteren Bruders durch zaristische Unterdrücker. Was wissen wir jedoch über die Beweggründe Dschinghis-Khans oder Timurs? Viele Historiker glauben, daß sie ausführlich genug über Hitlers Laufbahn informiert seien. Aber auf den lausenden faktengefüllten Seiten, die ich über den Führer las, fand ich keine eindeutige Erklärung seiner Judenfeindschaft. Hitler sagte einmal so nebenbei auf der Höhe seines Erfolges: »Die Juden haben auch einmal über 87
mich gelacht. Ob sie wohl jetzt noch lachen?« Was für ein Erlebnis steckte da eiternd und unvergebbar dahinter? Hat ein jüdischer Kunsthändler Hitlers Aquarelle belacht? Oder ein Pfandleiher seine schäbigen Habseligkeiten? Oder ein jüdischer Politiker seine Pläne? Jenes Gelächter ist verschollen, vom Zeitendonner übertönt und ausgelöscht, und daher kann kein Historiker annehmen, daß wir das Phänomen Hitler hinreichend durchleuchtet und ganz durchschaut hätten.
Selbstverständlich soll hier nicht geleugnet werden, daß es großartige Bestrebungen und Taten in der Geschichte gab. Zahllose Beispiele — wie die Abfassung und Durchsetzung der amerikanischen Verfassung, die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes, UNICEF und viele unauffälligere Verbesserungen des Menschenloses - sind geeignet, den Betrachter der Geschichte optimistischer zu stimmen. Der Mensch hat die Möglichkeit und Fähigkeit, das Leben auf diesem Planeten lebenswert zu gestalten. Daß er Gelegenheiten hierzu so oft ungenutzt verstreichen läßt, bildet gerade unser Problem. Warum wählen so viele Leute unerfreuliche Verhaltensweisen, wenn ihnen erfreuliche offenstünden? Warum gibt es so viele Vorkommnisse von Hilfsbereitschaft, Opferwillen, Klugheit und Mut und sogar von Feindesliebe — und so erschreckend zahlreiche Beispiele satanischer Lust, den Mitmenschen zu schädigen? Wenn man einen begründeten Optimismus in der Lebensführung und Zukunftsplanung anstrebt, wäre es völlig verfehlt, die Schattenseiten unserer menschlichen Natur nicht ins Auge fassen zu wollen. Wir müssen klar und unerbittlich feststellen, daß es einfach keine Grenze dafür gibt, was Menschen einander Böses antun können. Und dies war an keine Klasse, Rasse oder Weltanschauung gebunden. Im dritten Jahrhundert haben die Römer an die tausend Christen getötet. Jeder fromm Erzogene weiß, daß damals unschuldige Menschen ans Kreuz geschlagen, geröstet, von Pfeilen durchbohrt und von Löwen zerrissen wurden. Was die christliche Propaganda aber völlig verschweigt, ist die Tatsache, daß in den folgenden zwei Jahrhunderten die liebevollen Christen nicht nur alle erreichbaren Heiden, sondern etwa hunderttausend Mitchristen ermordeten, weil sie mit irgendeiner Definition der Dreieinigkeit nicht einverstanden waren. Bei der Tätigkeit des Folterns und Tötens existiert, für gewisse
Menschen in gewissen Situationen, keinerlei Hemmung, das Äußerste an Schmerzerzeugung anzustreben. Dies sich völlig klarzumachen ist nötig, wenn man sich über die Zukunft des Menschengeschlechts Gedanken macht. Der Wohlmeinendste muß leider diese Kapazität zur unbedingten Grausamkeit in Rechnung stellen. Hier als Beispiele ein paar der schlimmsten Scheußlichkeiten. In der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden jährlich hunderte von englischen protestantischen »Ketzern« verbrannt und zu Tode gefoltert. Für Bischof John Hoopers Scheiterhaufen wurde absichtlich grünes Holz zusammengetragen, um die Qual zu verlängern. John Foxe beschreibt dies sehr plastisch: »Er wurde schwarz in seinem Munde, seine Zunge schwoll so an, daß er nicht mehr sprechen konnte, seine Lippen schrumpften und klebten am Zahnfleisch; und er schlug seine Brust mit den Händen, bis einer seiner Arme abfiel; vorher war Fett, Wasser und Blut aus seinen Fingerspitzen gespritzt.« Die Verbrennung der Perrotine Massey beschreibt Foxe folgendermaßen: »Da sie hochschwanger war, fiel sie im Feuer auf ihre Seite, wo der Bauch der Frau platzte. Das Kind fiel ins Feuer, und nachdem es herausgeholt wurde, wurde es dem Gerichtsbeamten gebracht, welcher verfügte, daß es wieder in die Flammen gelegt werde.« Diese bildstarken Beschreibungen sind wirksamer als Statistiken. Wenn man liest, daß während des Dreißigjährigen Krieges die Bevölkerung Zentraleuropas von achtzehn auf sechs Millionen zurückging, so findet man dies zwar schlimm, es ist aber mit dem Firnis der »objektiven« Geschichtsschreibung gegen Gefühle isoliert. Bartolome de Las Casas schrieb einen Bericht über die Ausrottung von zwölf bis fünfzehn Millionen - manche sagen zwanzig Millionen - Indianern durch die Spanier; 1552 veröffentlicht, erregt diese grandiose Verurteilung der angeblich christlichen Konquistadoren noch heute die Gemüter spanischer und südamerikanischer Historiker. Eine natürliche, aber unerwünschte Reaktion auf dergleichen Berichte ist schiere Verzweiflung am Menschengeschlecht, Verdammung des Menschen schlechthin. Eine nützlichere Reaktion wäre es, dafür zu sorgen, daß so prachtvolle Menschen wie Fra Bartolome de Las Casas endlich in die Geschichtsbücher kommen und ihren Platz unter den wahren Helden einnehmen. Jeder Schulbub lernt die Namen der Eroberer Cortez und Pizarro. Las Casas aber, der von Karl dem Fünften zum »Beschützer aller Indianer« ernannt wurde 89
und dessen zahllose Predigten, Eingaben, Reisen und politische Manöver es erreichten, daß das Hinschlachten der Indianer langsam aufhörte - dieser große Mann bleibt in den Schulbüchern unerwähnt.
Daß Mit-leiden (im strengsten Sinn) für Chirurgen und Feldherrn unzweckmäßig wäre, dürfte einleuchten. Der Chirurg wird dennoch jeden Fortschritt in der Anästhesie im Interesse reibungsloserer Operationen begrüßen. Aber wird der Feldherr, im gleichen Interesse, Möglichkeiten ausnutzen, um den Frieden zu halten oder wiederherzustellen? Kaum. Es wird berichtet, daß Napoleons Generalstab, den Brand Moskaus betrachtend, immerhin Mitgefühl hatte. »Die armen Menschen,« sagte einer, »bei dieser Kälte ohne Dach zu sein.« Ein anderer bemerkte: »Ein schrecklicher Anblick.« Napoleon widersprach völlig kühl: jeder zerstörte Feind sei für ihn ein erfreulicher Anblick. »Der Geruch einer Feindesleiche ist immer süß!« Der Berichterstatter fügt hinzu, daß seine Haare bei dieser Seelenkälte des Kaisers zu Berge gestanden hätten. Der »Normalmensch« empfindet bei Beschreibungen oder Abbildungen von Greueltaten Abscheu; und zweifellos gab es ganze Epochen, Völker oder wenigstens Bevölkerungsschichten, die der Grausamkeit abhold waren und sie vermieden. So lange die Motive für die Verfolgung gewisser Mitmenschen stark und dringlich erschienen — also so lange die religiösen, nationalistischen, rassischen Beweggründe lebendig waren - wurden Folterung und Tötung ziemlich gleichmütig hingenommen. Um das Entsetzliche möglichst als reinen Befund darzustellen, wähle ich schließlich aus der unabsehbaren Menge ähnlicher Vorkommnisse eine Greueltat, mit deren Motiven wir uns nicht identifizieren können und bei der wir weder für die eine noch für die andere Seite Partei ergreifen können - da uns beide Parteien gleich zuwider sind. 1959 wurde der Diktatorder Dominikanischen Republik, Trujillo, ermordet. Seine Anhänger im Militärischen Geheimen Nachrichtendienst verhafteten daraufhin seinen Schwager, den General Rene Roman Fernandez, den sie der Mitschuld an der Ermordung verdächtigten. Sie nähten seine Augenlider an den Augenbrauen fest und ließen ihn vier Tage lang so liegen. Dann prügelten sie ihn, übergössen ihn mit Säure, ließen beißende Ameisenschwärme über 90
ihn kriechen, verabfolgten ihm elektrische Schläge in Trujillos privatem elektrischen Stuhl und schössen schließlich 56 Kugeln in seinen Leib. »Der Mensch ist eben schlecht -« Wie? Nein, eben nicht. Solche Handlungen werden ganz allgemein als »unmenschlich« die Majorität empfindet sie als nicht typisch für den Menschen. Verallgemeinerungen bringen uns nicht weiter. Homo hominis lupus, der Mensch ist dem Mitmenschen ein Wolf — das stimmt nun doch nicht. Ebensowenig stimmt aber auch die entgegengesetzte, optimistische Lehre des Plato: »Sei sicher, daß nichts Böses einem guten Menschen zustoßen kann, weder im Leben noch nach dem Tode.« Dieses Axiom ist unhaltbar: millionenfach unterliegen gute, gerechte, hilfreiche, produktive, ja unersetzlich geniale Menschen dem Hunger, der Vereinsamung, der Verachtung, der Folter und dem Mord. Wir haben erlebt, daß das menschliche Gewissen maßlose Greueltaten nicht verhinderte. Es gibt Gewissensakrobaten, die alle zehn Gebote wie Hürdenläufer überspringen. Lassen wir jedoch die Tatsache nicht außer acht, daß die westliche Menschheit diese zehn Hürden zuerst einmal aufgerichtet hat! Mag sein, daß das »moralische Gesetz in mir«, welches Kant ebenso wie den gestirnten Himmel bewunderte, nicht gar so unabänderlich und absolut ist; es hat vielleicht nur statistische Gültigkeit; aber sogar viele physikalische Naturgesetze werden ja heute nur als Durchschnittsregeln angesehen, als statistische Wahrscheinlichkeiten. Und doch sind sie gültig.
Am Ende seines Lebens schrieb Heinrich Himmler an seinen schwedischen Masseur: »Die Ausrottungspolitik war eine Unvernunft.« Weiter nichts, wirklich? Eine Unvernunft?
Manche Machthaber sind wie von einem Dämon getrieben; es ist ihnen gleichgültig, ob ihre Handlungen im Koordinatensystem einer »normalen«, der Menge vertrauten Ethik als gut zu bezeichnen wären. Andere wissen genau, daß sie üble Taten vollbringen und tun 91
sie dennoch, ad majorem dei gloriam, für ihr Volk oder ihre Ideologie: deren Sieg bringt dann sowieso die Umwertung und Vergebung mit sich, glauben sie. Napoleon meinte, wenn man in seiner Jugend Macht erwerbe, wolle man diese zunächst ausnützen, um Gutes zu tun; aber später gewöhne man sich dergleichen Anwandlungen ab.
Ein altes chinesisches Sprichwort behauptet: Ein Narr ist dann am glücklichsten, wenn er eine Narrheit begeht. — Aber was sollen wir tun, wenn unsere Narrheiten uns nicht einmal mehr glücklich machen?
Hat die Natur, unsere tierisch ergebene Dienerin, dafür ihre innersten Geheimnisse enthüllen müssen, damit wir von jetzt an mit dem teuflischen Mephisto leben? Das also war des Pudels Kernwaffe?
Seit unserer Steinzeit haben wir Werkzeuge und Waffen gleichzeitig entwickelt. Dies ist vielleicht das grundlegende Unheil der Menschheit: der technologische Fortschritt hat sowohl die Instrumente des Friedens wie die des Krieges immer wirksamer gestaltet. Schwert und Pflugschar entstanden durch die gleichen Vorgänge, und nur selten wagte man dem Frieden so zu trauen, daß man Schwerter in Pflugscharen umschmiedete. Waffen und Werkzeuge bestehen nun einmal aus den gleichen harten Materialien: Knochen, Feuerstein, Bronze, Eisen, Stahl. Sie wirken durch die gleichen Eigenschaften: Schärfe, Schwergewicht, Hebelwirkung, Explosionskraft; deshalb ist auch ihre Struktur in vielen Fällen identisch. Sogar Bakterienkulturen, Gase, Chemikalien, Atomkraft dienen dem Krieg wie dem Frieden, sie werden zur Gesundheitspflege und Landwirtschaft wie auch zur Bedrohung und Abschreckung des vermeintlichen Feindes eingesetzt, und der Fortschritt in Laboratorium und Fabrik kann zum Guten wie zum Bösen führen. Heute wird es absolut nötig, daß die Herstellung von Werkzeugen und Waffen aufs strikteste getrennt wird. Die Verfahren, die Gesetze 92
und Gebräuche, die Materialien müssen immer mehr differenziert werden, so daß Frieden und Krieg nicht mehr fast zufällig ineinander umschlagen können.
Wenn ich mir in trüber Stimmung unsere Menschengeschichte vorstelle, sehe ich Heere über die halbdunkle Erde ziehen, verblendete, erblindete Menschenhaufen, von Kommandorufen, Trombengeschmetter, Radiogeschrille angetrieben, sie stürzen übereinander her — graue Meereswellen, die gegeneinander prallen, sich überschlagen und dann verebben. Verblutete Heere versinken im Humus, werden Dünger, Pflanzen decken sie mit grüner Gnade zu, blutrote Mohnfelder schwanken weithin wehend im fröstelnden Morgenschimmer. Und dann sehe ich die zwei Letzten sich erheben, Leichenwälle übersteigen, sich in einer Höhle zusammenkauern, um einander zu wärmen, sich zu vermehren. War die Geschichte nicht schon vorher einmal so? Traumfetzen überlagern einander wie die Doppelbelichtung einer schlechten Photographie. Eine Rotte Urmenschen hockt im Kreis. Sie wetzen ihre Steinkeile. Einer sitzt abseits, nachdenklich, tut einen Stein in eine Lederschlinge. Die bessere Waffe! Sie wird uns vor den Angreifern retten! Kühn tritt er vor, dem brüllenden Hauf en der Feinde entgegen; und bevor er in die Reichweite ihrer Keile gerät, schleudert er sein Geschoß, der Anführer drüben fällt, die Gegner fliehen. Endsieg! Von nun an werden wir die Geschichte bestimmen, wir werden ein für allemal festlegen, was gut und richtig ist! Die bessere Waffe hat soeben die Menschheit gerettet! Warum sehen das die neuen Feinde nicht ein, die sich dort seitlich hinter den Büschen heranschlängeln? Ein Katapult wird aufgefahren, gespannt, geladen - das Geschoß wirbelt in den Raum, eine augenzerreißende Lichtwolke steigt auf, Riesenpilze sprießen — Verwesungspilze - Die bessere Waffe! Immer wieder die unübertrefflich bessere Waffe.
Möglicherweise wird ja einmal aller Tage Abend sein. Über die Erde wird ein Abendrot ziehn, blutig in purpurnem Verglühen, wenn radioaktive Wolken die Sonne verhüllen. Früher konnten sterbende Geschlechter wenigstens glauben: Wir 93
werden zu Erde, aus der wir gemacht wurden, und in den kommenden Zeiten verwandeln wir uns in Dünger für Blumen und Kohlköpfe, die neuen Menschengenerationen Freude und Nahrung liefern, und so leben wir indirekt fort. - Was wird aber sein, wenn unsere Leichen im nächsten Atomkrieg zerstieben? - Nichts wird sein. Gut, wir werden keinen Unterschied zwischen unfruchtbarer Asche und fruchtbarer Erde merken; aber die Möglichkeit der Totalverschwendung verdirbt uns Schaffensfreude und Lebensgenuß. Was bleibt? Ein bitterer, dürrer Aschenvorgeschmack, der die Aussicht aufs »selige« Sterben keineswegs erleichtert. Man braucht die bildhafte, fast dichterische Schau, um sich die Gräßlichkeit dieser Zukunftsaussicht klarzumachen. Eine Nova, ein aufflammender Stern am Himmel, erregt in uns keine Abwehrkräfte. Statistiken bleiben statisch.
Das Wort »umsonst« hat einen seltsam traurigen Klang, der mich innerlich schaudern macht; etwas Dumpfes, Stumpfsinniges, Summendes wie verlorene, bewußtlose Insekten. »Umsonst ist nur der Tod«, sagt man: als ob man für das Privileg, sterben zu dürfen, nichts zu zahlen hätte! Man hat aber einfach alles dafür zu zahlen. Viel trüber und lähmender erscheint mir der Satz mancher schlechter Philosophen, die meinen, das Leben sei umsonst. Es liegt eine merkwürdige perverse, unterschwellige Hinterhältigkeit in der Gleichsetzung der beiden deutschen Vokabeln: umsonst als vergeblich verstanden — und umsonst als gratis. Woher nahm die Sprache diese zynische Gleichung? Bevorzugt sie damit nicht die Reichen? Ist die Fähigkeit zu zahlen denn so wichtig, daß sie dem Leben Sinn verleiht? Man kann lang darüber nachgrübeln, es bleibt doch - umsonst.
Die Sonne geht unter, sagte Ptolemäus. Falsch, erwiderte Kopernikus, nur dein Horizont geht auf, sozusagen. Aber nein, warf Einstein ein, weder Erde noch Sonne gehen unter, alle Körper bewegen sich relativ zueinander. Na da schau her, sagte ein Astronaut weit draußen im Weltraum im Jahre 2000, die Erde ist wirklich untergegangen. Schade. 94
Das Traurigste an der Selbstbedrohung der Menschheit durch Nuklearbomben ist, daß vielleicht niemand mehr da sein wird, der die Sixtinische Kapelle, Hamlet und die Neunte Symphonie als welterschütternde, welterhebende Phänomene empfinden wird. Selbst wenn Fische oder Kellerasseln das Brandopfer überleben werden, wird die »unschätzbare« Größe unserer Werke eben unschätzbar und ungeschätzt sein. Die Bilderstürmer, die den gotischen Heiligen die Köpfe abschlugen, waren zwar unverständig, aber doch wenigstens wütend gegen die Statuen: eine Form der Anerkennung, denn sie betrachteten diese als sinnvoll, als hassenswerte Symbole. Die türkischen Kalkbrenner hingegen, die viele Marmortrümmer der Akropolis für ihre Augenblickszwecke zerstörten, waren nicht bewußt kunstfeindlich; nur achtlos. Also: sogar innerhalb des Rahmens unserer »normalen« Geschichte war die Situation der Kultur stets äußerst prekär. Die Kultur muß gepflegt, umsorgt werden, sie setzt sich nicht automatisch als das höhere Gut durch. Die Zivilisation ist unserer dauernden Anstrengungen würdig und bedürftig. Wir müssen für unsere eigenen, menschlichen Werte mit äußerster Entschlossenheit eintreten, denn die ganze Welt ringsum ist unseren Wertsetzungen gegenüber erschreckend gleichgültig. Ein Hund, der sein Bein an einer klassischen Apollostatue höbe, hätte nicht »unrecht« im menschlichen Sinn, dieser Eckstein ist für ihn, wie jeder andere, ein Signalpfosten, eine Wandzeitung. Wir können die Signale der geselligen Hundemännchen nicht lesen —und umgekehrt sie nicht unsere. Wenn ein Besucher von einem anderen Stern die ausgestorbene Erde entdeckte, wäre ein Telefonbuch für ihn dasselbe wie Shakespeares Werke: schwarze Fleckchen auf vergilbtem Papier. All unsere sogenannten Ewigkeitswerte wären für ihn bestenfalls Kuriositäten. Aber wahrscheinlich käme sowieso gar kein posthumer Besucher: das ist der Posthumor an der Sache! Wir sollten unseren Urenkeln eine Chance geben, die Signale zu deuten.
Infantile Macht der Tautologie. Der Logiker macht drei Schritte, so wie ein Kind, das gerade erst gehen gelernt hat: »Alle Menschen sind sterblich — Cajus ist ein Mensch — also ist Cajus sterblich.« Die Kraft 95
dieses Deduktionsschlusses scheint unanfechtbar. — Wirklich? Vielleicht, vielleicht, wenn wir lang genug Gehübungen gemacht und mehr als drei Schritte zurückgelegt haben, wird einmal jemand unsterblich sein und doch menschlich. Die Mediziner und Chromosomenspengler könnten ja noch Tausende von Arbeitsjahren vor sich haben. Wäre dieses Ziel nicht der Mühe wert?
Bei unserer Betrachtung der biologischen Entwicklung fanden wir eine prachtvolle Gerichtetheit auf gesteigerte Lebenstüchtigkeit, auf Komplizierung und Verschönerung hin. Bei der Geschichtsbetrachtung fanden wir dagegen eine entmutigende Ziellosigkeit und Fühllosigkeit, die vielleicht zur Selbstvernichtung der Menschheit und der Biosphäre führte. Wie ist dieser erschreckende und unlogisch anmutende Gegensatz möglich? Erstens: Ich will gestehen, daß ich aus der Fülle biologischer Gegebenheiten die friedlichen und freundlichen bevorzugt habe, bei der Geschichtsbeurteilung aber die Greuel und Gefahrenzeichen. Nur so konnte ich warnend den Widerspruch herausarbeiten. Da ich jedoch die Menschenentwicklung als Fortsetzung der allgemeinen Laufbahn des Lebens ansehe, dürfte es klar sein, daß ich die Widersinnigkeit und Grausamkeit so vieler historischer Phänomene als temporär empfinde, ja als Selbstverleugnung unserer wahren »Natur«. Zweitens: Kriege, religiöse, dynastische, organisatorische und ähnliche unpersönliche Streitigkeiten sind, bei aller aufdringlichen Tragik, doch nur Vordergrunderscheinungen, die dem Beobachter oft den Blick auf die eigentliche, geistige Entwicklung des Menschengeschlechts verdecken. Und diese berechtigt schließlich zu einem bedingten Optimismus. Mancherlei Zwangshandlungen und Tabus, die sich einem wahren Fortschritt entgegenstemmten, sind bereits in Auflösung begriffen. Zum Beispiel: Kein Staatsmann erklärt es heute noch für sein Ziel, sich Kriegsruhm zu erwerben. Wer einst keine Schlachten schlug, konnte nicht in die Geschichtsbücher eingehen. Das ist vorbei: die Geschichtsschreiber und die Geschichtsmacher haben ihren Geschmack geändert. Die primitive Idee, man müsse seine Männlichkeit beweisen, indem man ein Dutzend Kinder in die Welt setzt und sonntags im 96
Wirtshaus durch Messerstechereien seinen Enttäuschungen Luft macht - diese gekoppelte Doppelentladung wird heute schon als provinziell und veraltet angesehen. Jene beiden Männlichkeitsbeweise — nämlich daß man fruchtbar und furchtbar sein müsse — ergaben insofern jahrtausendelang einen scheinbaren Sinn, als sie sich gegenseitig aufhoben und dadurch zwei krude Vergnügungen ermöglichten; sie vertrieben unseren Vorfahren die Langeweile. Heute haben wir Fernsehen, Fußball und Astronautenabenteuer. Wir sollten die beiden veralteten Gesellschaftsspiele, die Überproduktion von Säuglingen und von Feindesleichen, schleunigst abschaffen. Denn ihr Gleichgewicht regelt sich nicht mehr automatisch. Die Menschenwelt ist in Gefahr, ihre Balance zu verlieren. Vielleicht lernt es der Mensch, seine Aggression in größerem Ausmaß gegen die uralten, wirklichen Feinde der Menschheit zu richten: gegen Hunger, Krankheit und Not. Es ist ja erwiesen, daß der Homo sapiens seine als schädlich erkannten Triebe abbiegen, sublimieren und ritualisieren kann. Er kann neue Ziele angreifen - um des Lebens willen.
Viertes Kapitel Menschsein: ein Balanceakt
»Schau, ich fliege schneller als du!« sagte die Fliege zum Flugzeug, während sie durch dessen Bauch vorwärtssummte.
Was ist nun dieser Mensch, den wir in die Zukunft hinüberretten wollen? Um seine Chancen zu beurteilen, müssen wir seine Eigenarten kennen. Vielleicht hilft es uns, einige frühere Definitionen des Menschen Revue passieren zu lassen? Die allerhöchste Wertschätzung des Menschen stammt von Sophokles und lautet (in Hölderlins herrlicher Übersetzung): Vieles Gewaltige gibt's. Doch nichts Ist gewaltiger, als der Mensch. Denn er schweifet im grauen Meer, in stürmischer Südluft Umher in wogenumrauschten Geflügelten Wohnungen. Der Götter heilige Erde, sie, die Reine, die mühelose, Arbeitet er um ... Dem Nacken des Rosses wirft er das Joch Um die Mähne und dem wilden Ungezähmten Stier. Das muß uns wehmütig stimmen: so besang uns tatsächlich einmal jemand in der stolzen, hoffnungsvollsten Frühzeit unserer Zivilisation. Jedoch ging uns dann Verschiedenes schief, und der Kirchenvater Hieronymus konnte nur noch verzagt bekennen: Errare humanum est - Irren ist menschlich. Müssen wir dies als Definition umdrehen - Menschlich sein, heißt sich irren - ? Die antiken Kulturen versanken in Schutt; wir duckten uns, erkannten des Schicksals unerklärliche Grausamkeit als berechtigt an und belasteten uns selbst mit der Erbsünde. In der jüdisch-christlichen Weltsicht hat der Begriff Mensch nie wieder den goldenen 101
Schmelz erreicht, den er für die Griechen besaß. In den modernen Sprachen bekam »menschlich« etwas Bescheidenes, Verwundbares. He is only human, sagt man, wenn ein Hochgestellter danebenhaut: er ist auch nur ein Mensch; human frailties, menschliche Schwächen, werden als charakteristisch für die Spezies angenommen. Moliere läßt seinen Spötter Scapin ausrufen: II faut se laisser vaincre etavoir de l'humanite. Demnach wäre es menschlich, sich besiegen zu lassen: genau das Gegenteil vom sophokleischen Menschenbild. Rousseau glaubte, der Mensch sei ursprünglich sanft und gut; wogegen Oswald Spengler schwarzsah: »Denn der Mensch ist ein Raubtier.« Solche Widersprüche in der Bestimmung der Haupteigenschaften eines und desselben Objektes sind nicht nur unserer Logik widerwärtig, sondern praktisch gefahrbringend. Rousseaus Wunschbild »Zurück zur Natur« hat nur dann Vorteile, wenn es nicht bedeutet: Zurück zu unserer Neandertalermentalität. Auch Schiller war gelegentlich geneigt, den Menschen unter die Raubtiere einzureihen: »Gefährlich ist's, den Leu zu wecken,/ Verderblich ist des Tigers Zahn;/ Jedoch der schrecklichste der Schrecken,/ Das ist der Mensch in seinem Wahn.« Die Weiber, die zu Hyänen werden, zeugen nicht für Schillers Vertrauen auf die menschliche Natur. Seinen Idealismus getraute er sich nur in der Imperativform zu äußern: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.« Ist der Mensch ein Raubtier? Ist er ein künstlich gezähmtes, in Pavlovsche Reaktionen eingespanntes Haustier? Ist er vielleicht verkörperter Geist? Oder ist er ein ganz eigenartiges Wesen, das sich seine Zwecke und Ziele selbst aussuchen kann?
Das typischste Unterscheidungsmerkmal des Menschen ist wohl dieses: er ist das Wesen, das den längsten Anlauf nimmt. Und zwar ist diese Eigenart sowohl stammesgeschichtlich wie auch in jedem individuellen Lebenslauf aufzuzeigen. Rein als Beschreibung (nicht als Erklärung): die gesamte biologische Aufwärtsentwicklung führt auf den Homo sapiens zu. Dies ist keine subjektiv überhebliche, sondern eine objektiv perspektivische Beobachtung; und da wir aus der menschlichen Perspektive nicht so ohne weiteres herauskönnen - da all unsere Werte menschlich sind und bleiben - ist diese Zielgerichtetheit für unsere Betrachtung eben gültig. Im Einzelleben jedes Menschenwesens sind mehr Jahre zur Vorbereitung auf das Erwachsensein nötig, als dies bei irgendwelchen 102
Tierarten der Fall ist. Das bedeutet keinen Zeitverlust, denn ein längerer Anlauf führt, wie im Sport, zu gesteigerten Leistungen. Als politische Geschöpfe benehmen wir uns meistens noch so kindisch, daß wir vermuten müssen, unsere jugendliche Anlaufzeit sei keineswegs abgeschlossen. Der längste, umfassendste Anlauf also: man mag dieses Charakteristikum ursprünglich als Willen zur Überwindung körperlicher Mängel, in späteren Phasen schlicht als Strebsamkeit bezeichnen. Zuerst unbewußt, als Antwort auf die Herausforderungen einer unfreundlichen Umgebung, dann als bewußterer Wettkampf mit starken tierischen Mitgeschöpfen, schließlich als autonom gewordenes Streben zur hervorragenden Leistung: so stellt sich dieses Anlaufnehmen dem rückblickenden Betrachter dar. Und in welche ungeheuren Höhen es unsere Nachkommen noch führen kann, das vermag sich die utopische Phantasie kaum auszumalen. Diese lange Anlaufzeit — inklusive der oft gräßlichen, ziellosen, mörderischen Menschengeschichte — gehört zu einer merkwürdig typischen Ungleichgewichtigkeit, die ich als durchwegs charakteristisch für den Menschen empfinde. Der Zweibeiner ist im labilen Gleichgewicht, sein Schwerpunktszentrum liegt zu hoch über dem Unterstützungspunkt, als daß er je - in seiner ihm eignen aufrechten Haltung — zur Ruhe kommen könnte. Innerlich und äußerlich ist dieser Labile auf Fortbewegung, auf den Fortschritt angewiesen, um in sich das Gefühl einer temporären Stabilität zu erwecken.
Die Gerichtetheit unseres Anlaufs ist nicht umkehrbar, es gibt da kein Zurück. Die Zivilisation — Werkzeug, Feuer, Bildnerei, Schrift und Ziffer - ist so Teil von uns, wie die Staatsorganisation Teil der Ameise ist. Es wäre absurd, unter Ameisen zu agitieren: Zurück zum Individuum. Wir können nicht einmal mehr trinken wie alle Tiere: diese beugen ihren Kopf zur Wasserfläche herab, der Schnabel oder die schlappende Zunge berührt das Wasser, während die Augen gleichzeitig nach Feinden ausspähen können. Wenn wir von der Wasserfläche weg schlürfen wollten, so käme Wasser zuerst in die Nase, und wir würden ersticken. Gefäße sind uns unerläßlich, sie sind kein Luxus: sie dienen dem Zweck, den Flüssigkeitsspiegel in Mundhöhe zu bringen, ohne das vorstehende Kinn zu benetzen, das der Mensch zum Anhalt der Sprachmuskeln, also aus Kulturgründen, entwickelte. Die Hand, 103
wohl das ursprüngliche Gefäß, wurde bald zum Trankschöpfen ungenügend und von anderen Zwecken überbeansprucht - vom Waffentragen zum Beispiel. So sind wir also eine Rasse, die die natürlichste Beschäftigung, das Trinken, nicht mehr auf natürliche Weise bewältigen kann. Ohne Messer, ohne Feuer konnte oder wollte schon der Steinzeitmensch seine Speisen nicht genußfertig machen. Tierpelze und Pflanzengewebe wurden bald unerläßlich, wenn der Mensch sein Wohngebiet ins kältere Klima ausdehnen wollte. Heute bringen wir es nur noch in Ausnahmefällen und auf begrenzte Zeit fertig, im direkten Kontakt mit der »rohen« Natur zu leben. Uns von Beeren, Wurzeln und Vogeleiern zu ernähren, muß uns heutzutage eher unnatürlich vorkommen. Die Entscheidung gegen die unkultivierte Lebensweise haben unsere Ahnen unwiderruflich gefällt. Immer weiter führte der eingeschlagene Weg. Anstatt uns der Umgebung anzupassen, hatten wir die Frechheit, die Umgebung uns anzupassen, und da gab es kein Halten mehr. Gepflügte Felder und gepflasterte Städte, Eisenbahnen und Stauwerke, Öltürme und Flugplätze haben der Landschaft unser Siegel aufgedrückt: und damit besiegelten wir die Unterwerfung der Natur unter unseren Willen — und wir besiegelten unsere eigene Unterwerfung unter den ungeheuren, oft furchterregenden, überkomplizierten Zivilisationsmechanismus. Kein Wunder, daß einige phantasiebegabte Leute immer wieder aus den zwanghaften Zivilisationsriten ausbrechen wollten, von den Schäferspielen der Marie Antoinette bis zu den Kommunen der Hippies.
Der früheste Fund eines menschlichen Artifakts ist der Faustkeil des Pekingmenschen. Was von den Urmenschen übriggeblieben ist, sind hauptsächlich die Waffen: Steinkeile, Pfeilspitzen, Messer. Hieraus erschließt man oft das blutbefleckte Bild eines wüsten Fleischfressers. Zu Unrecht. Nicht nur im Mythos gab es neben Kain den Abel Vom vegetarischen Mahl des Urmenschen ist bloß allzuwenig übriggeblieben. Vielleicht war er relativ friedlich gesinnt ? Das erste Werkzeug war sicherlich einfach ein hölzerner Stock. Hätte der Vorzeitmensch den Gebrauch des Stabes nicht schon längst genau gekannt, so hätte er keine Speerspitze und keine Steinaxt damit verbinden können. 104
Den Stab aber brauchte er aus biologischen Gründen, nicht aus Charaktergründen. Der Homo erectus, der aufgerichtete Mensch, überkam nie ganz die Ungeschicklichkeiten, die der Übergang von der vierbeinigen Lebensweise zur Zweibeinigkeit ihm auferlegte. Sein Körper ist noch heute nicht völlig ans Aufrechtstehen adaptiert. Nur wenige Lebewesen entwickelten einen derart unausgeglichenen Körperbau wie der Mensch und bewährten sich trotzdem. Alle anderen Langbeine haben entweder einen langen Hals - wie Strauß, Storch und Giraffe - oder einen langen, muskulösen Schwanz, wie Iguanodon, Känguruh und Wüstenspringmaus, als drittes, stützendes Bein sozusagen; oder sie besitzen sehr lange Affenarme. Es scheint da ein morphologisches Gesetz zu geben, das die tierischen Körper einer kompositioneilen Gleichgewichtigkeit zutreibt. Nur der Mensch blieb physiologisch unausgeglichen: nach der Aufrichtung seines Rückgrats konnte er die kurzen Arme - aufrechtstehend - nicht zur Bewältigung der Bodenaufgaben benutzen. Statt an diesem Mangel einzugehen oder seinen Gliederbau entsprechend zu ändern, adoptierte er den Stock als Verlängerung seines Oberkörpers : als Stütze des Greises, Hacke, Waffe, Hirtenstab und schließlich als das Befehlssymbol, das heute noch (bei Marschällen, Dirigenten, Bischöfen und Polizisten) in Kraft ist. Verlängerung des allzu kurzen Armes: hier haben wir die Formel für das unersättlich sich erweiternde Maschinenwesen. Die Verlängerung des Willensimpulses über die »zu kurz gekommene« Reichweite hinaus war zu verlockend und dann, einmal eingeführt, auch prinzipiell unbegrenzt.
Die Erfindung der Waffe brachte ein unerwünschtes Nebenresultat: das Töten wurde unpersönlicher. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Tötung allein durch Körperkontakt stattgefunden, oft in der Form eines fairen Wettkampfes. Töten und Fressen waren meistens nicht zu unterscheiden. Die ganze Persönlichkeit des Töters im Tierreich wurde häufig in den Akt hineingeworfen. Das Würgen, das Zerreißen mit Zähnen und Klauen enthielt doch noch ein gewisses Risiko, während das Schleudern oder Abschießen eines toten Gegenstandes eine sehr einseitige Angelegenheit wurde. Da wir jedoch nackt und ohne Reißzähne in der Natur standen, wählten wir diesen Ausweg. Nur unser Nahkampf - Fechten, Ringen, Jiu Jitsu - blieb noch auf den Personenkontakt ausgerichtet, und in solchen Kampfarten 105
entwickelten wir durchaus folgerichtig Regeln, Riten und ritterliche Formalisierungen. Der Bombenabwurf ist offenbar an keine Ritterlichkeit mehr gebunden. Die Erfindung der Waffe führte dazu, daß wir uns das Opfer gar nicht mehr ansehen, ja nicht einmal mehr vorzustellen brauchen. Menschen verwandeln sich in militärische Ziele. Dies ist die große Ungleichgewichtigkeit, die der Homo sapiens in die Biosphäre einführte: die Unausgewogenheit seiner eigenen Körperform (mit dem zu kurz gekommenen Arm) projizierte er auf seine Stellung in der Natur hinaus, Werkzeug und Waffe verführten zur Hybris. Für das sich regelmäßig einspielende Gleichgewicht der Natur glaubte der Mensch keine Verwendung mehr zu haben.
Mit dem Erwerb und Gebrauch von Werkzeugen trat der Mensch aus der Sphäre der instinktgeleiteten Wesen weitgehend heraus, und zwar deshalb, weil Werkzeuge einsichtigeres Verhalten erfordern als der Gebrauch von Gliedern, die sowieso dem Körper verbunden und durch natürliche Scharniere funktionell gerichtet sind. Ein ungeschickt oder gedankenlos benutztes Glied verliert man nicht so leicht; Utensilien aber muß man einerseits festhalten, andererseits dem beabsichtigten Zweck physisch verbinden. Werkzeuge stellen also höhere Ansprüche an die Aufmerksamkeit. Ein Werkzeug ist eine dreiteilig komplizierte Brücke vom Gehirn über ein Glied zum Objekt. Diese Verbindung muß jedesmal von neuem hergestellt werden, und diese Verknüpfung so zu lernen, daß sie fast automatisch wird, bietet enorme praktische Vorteile. Hiermit tritt die Lernfunktion unwiderruflich in unser Dasein ein: der Intellekt wird so lebenswichtig wie jeder Instinkt. Die Rolle der Eltern und der älteren Sippengenossen wird dadurch ins Unentbehrliche gesteigert. Das Lernen ist aufs engste mit der »Kinderstube« verknüpft, es ist ohne den Zusammenhalt von Eltern und Kindern nicht möglich. Und hier haben die Warmblüter schon einen beträchtlichen Vorsprung. Zwar betreiben auch manche niederen Tiere Brutpflege. So verschiedenartige Kreaturen wie Skorpione und Wabenkröten »erfanden« die gleiche Lösung für die Probleme des Brutschutzes: sie tragen die Jungen auf dem Rücken mit sich umher. Der männliche Stichling versorgt seine Kinder aufs sorgfältigste in seiner Mundhöhle. Aber den weitaus meisten Kaltblütigen ist ihre Nachkommenschaft völlig 106
gleichgültig; gewöhnlich erzeugen sie sie in derart ungeheuren Mengen, daß die statistische Chance des Überlebens auch für unbeschützte, nicht umsorgte Eier und Jungtiere hinreicht, um die Bevölkerungsdichte zu erhalten. Die Funktion der Brutpflege ändert sich sofort radikal, wenn das Lernen lebenswichtig wird. Dann müssen die Eltern nämlich einen Großteil ihrer Zeit und Energie in ihren Kindergarten investieren. Und zwar ist es nicht so sehr das Lernen als das Lehren, was den entscheidenden Unterschied und Fortschritt ausmacht. Der Lernprozeß als solcher scheint bereits auf primitiven Stufen der tierischen Entwicklungsleiter aufzutreten. Man kann Würmer so trainieren, daß sie bestimmte Stellen in einem Irrgarten vermeiden, indem man ihnen dort regelmäßig elektrische Schläge verabreicht. Aber das eigentliche Lehren tritt erst bei Warmblütern auf, deren Junge von vornherein auf die engste Intimität mit ihren Eltern angewiesen sind: denn sie müssen ja lange durch Körperkontakt warmgehalten werden, bevor sie in die dickfellige Selbständigkeit entlassen werden können. Bei solcher Nähe ergibt sich dann zwanglos ein Lehr- und Lernverhältnis, Imitation führt zu Verständnis, Bewunderung, Nacheiferung und schließlich einheitlich aufgebauter Zivilisation. Noch sind die Verhaltensforscher sich nicht darüber einig, was bei der Ausbildung des Fliegens, des Jagens, der Feinderkennung und Fluchtreaktion vererbter Instinkt und was echtes individuelles Lernen ist. Ein Hasenjunges, das von der Muttermilch entwöhnt werden soll, nimmt die ersten Grashalme nur aus dem Maul der Mutter, es pflückt sie nie direkt von der Wiese. Wenn man solche reizenden Szenen beobachtet hat, ist man geneigt, an einen fast vernünftigen Lehr- und Lernvorgang bei warmblütigen Tieren zu glauben. Mit einem Rückschritt fängt die phantastische Entwicklung der menschlichen Klugheit und Geschicklichkeit an. Das Menschenjunge ist der typischste Nesthocker unter allen Geschöpfen. Ein neugeborenes Fohlen steht fast sofort auf und kann, wenn auch schwankend, laufen. Der neugeborene Mensch kann sich nicht einmal am Körper seiner Mutter festklammern, wie das Affenbaby dies automatisch sofort tut, er kann nicht kriechen wie die blinden Hündchen, er kann überhaupt nichts — außer die allgemeine Aufmerksamkeit durch gellendes Geschrei auf sich lenken; was nur dann sinnvoll ist, wenn hilfsbereite Erwachsene und keine Feinde in der Nähe sind. Auch daß er niedlich und rührend wirkt, ist nicht sein individuelles 107
Verdienst. Unter den Säugetieren (mit Ausnahme der primitiven Beuteltiere) ist das Menschenbaby bei weitem das törichteste und hilfloseste Jungtier. Jedoch ermöglicht gerade die anfängliche Dummheit dem Kleinkind, einen weiteren Anlauf zu nehmen. So wird es ihm möglich, das Lernen zu lernen.
Das Lernen hat viele Vorteile und einen einzigen Nachteil. Der Nachteil ist bekanntlich, daß Gelehrsamkeit als solche nicht erblich ist. Der Wissensstoff, den der Gelehrte in sich mit unendlicher Mühe aufgespeichert hat, stirbt mit seinem Gehirn. Das Studieren muß immer wieder in jedem Individuum ganz von vorn anfangen, sein Resultat geht nicht in die Erbmasse ein. Die Nachkommen eines Gelehrten empfangen keine Gedächtnis-imprints mit dem genetischen Code. Darum muß die Menschheit Jahr für Jahr gewaltige Summen für Schulung ausgeben, und darum muß ein Gelehrter einen Teil seiner kostbaren Zeit darauf verwenden, seine Resultate zu lehren: sie schriftlich und mündlich an Jüngere weiterzugeben und sie von außen her, durch Sinneswahrnehmungen, in neue Gehirne zu übertragen. Es wäre praktisch, wenn die Schüler eines Weisen sein ersterbendes Gehirn unter sich aufteilen und in ehrfürchtiger Zeremonie verzehren könnten, um die Weisheit intakt zu übernehmen. Dies scheint vorläufig noch nicht zu funktionieren, also muß jeder Schüler mit unsäglicher Mühe den Bestand an vorhandenen Kenntnissen durch Augen und Ohren in sein eigenes Gehirn einfiltern. In einer wohlorganisierten Gesellschaft geht erworbenes Wissen trotzdem fast zwangsläufig von einer Generation auf die nächste über: der Bedarf an geschulten Individuen ist groß und dringlich und zwingt die jungen Leute so oder so, im Schweiße ihres Angesichts zu studieren. Wenn die Belohnungen für die Lerntätigkeit die Mühe nicht aufwiegen, wenn die Kultur wacklig wird, wenn Unbildung nicht als Makel gilt - dann kann in kürzester Zeit viel Wissen und Können verlorengehen. Dann siegen die Bilderstürmer über die Gelehrten und Kultivierten. Dergleichen ist des öfteren in unserer Geschichte eingetreten. Dies also, die prinzipielle Isolierung des erworbenen Wissens in der Zeit, ist der Nachteil des Lernens. Was sind seine Vorteile, einmal ohne Werturteile und ganz objektiv betrachtet? 108
Jeder Mensch besitzt ererbte und erworbene Eigenschaften. Die Anzahl der ererbten Eigenheiten und Reaktionsweisen ist strikt begrenzt; die Anzahl erworbener Eigenschaften hingegen ist prinzipiell unbegrenzt. Sie haben also eine größere Zunahmemöglichkeit, ein viel weiteres Potential als die Erbeigenschaften. Wenn die Ansammlung und Mehrung erworbener Fähigkeiten und Kenntnisse durch den Lernprozeß erst einmal begonnen wurde, kann der Fortschritt asymptotisch ins Unendliche weiterführen, in den Weltenraum zum Beispiel. Oder in eine irdische Welt ohne Krieg und Mangel. Die ungeheure Wichtigkeit sogar eines einzigen Lehrers beruht auf der folgenden Feedbackfunktion. Innerhalb eines Charakterbildes tendieren die ererbten Eigenschaften zur Statik - sie haben ein verblüffendes Beharrungsvermögen -, während die erworbenen Charakteristika dynamisches Verhalten zulassen. Das heißt, daß die höhere Entwicklung des Lebens auf das Individuum zuläuft: je höher wir auf dem Stammbaum des Lebens klettern, desto mehr werden individuelle Verschiedenheiten begünstigt, und als Krönung tritt schließlich die persönliche Initiative auf. Das heißt: das belehrbare Einzelwesen kann die ganze Rasse besser vorwärtsbringen als die Rasse sich selber. Wenn wir zur Verbesserung auf den langwierigen Prozeß der natürlichen Zuchtwahl warten müßten, wäre der Fortschritt während unserer Lebenszeit überhaupt nicht bemerkbar. Als Lehrer und Vorbild aber kann eine einzige Persönlichkeit ganze Volker und Kulturen umgestalten. Das Lernen ist das Instrument für eine beschleunigte Adaptation an die nun einmal technisierte Welt, deren von uns verursachte Veränderungen jetzt auf die Natur zurückwirken. Das Lernen muß mehr als nur Datensammlung und Datenverarbeitung sein, es kann unseren Charakter wandeln. Auf diese Weise - durch Verfeinerung des Typus Mensch — setzt es zwanglos die Aufwärtsentwicklung fort, die im Tierreich seit über 500 Millionen Jahren herrscht und immer kompliziertere, tüchtigere, beweglichere, gescheitere und auch schönere Formen hervorbringt. Der Kultivierungsprozeß ist nicht unnatürlicher als die vorhergegangene Zuchtwahlentwicklung. Bis zum Auftreten des Menschen war die Evolution natürlich — wurde sie danach etwa naturwidrig? Wird der Intellektuelle vielleicht nicht von Hunger und Liebe regiert? Natur und Kultur sind keine gegensätzlichen Phänomene - sie sollten es wenigstens nicht sein -, sondern Teilstrecken eines einzigen, gerichteten Prozesses. 109
Um zusammenzufassen: Der »zu kurz gekommene«, ungleichgewichtige Mensch ist schon körperlich auch auf Kulturprodukte und zivilisiertes Denken angewiesen. Die Idee des nützlichen Dinges, des Werkzeugs also, war physiologisch bedingt - und das bedeutet: natürlich. Die Komplizierung des technisierten Daseins, die uns oft seufzen macht, ist nur eine Steigerung der Naturentwicklung, die auch mit einfachsten Formen begann. »Zurück zur Natur« ? - Wir sind mitten drin: auch die Natur wurde immer komplizierter. Die beiden Bestrebungen, in Einklang gebracht, eröffnen eine fast schrankenlose Fülle des Daseins.
Hier ist meine (preislich etwas herabgesetzte) Schöpfungsgeschichte, den Homo sapiens betreffend. Als der Schöpfer am sechsten Tag schließlich dazukam, den Adam herzustellen, war er von seiner Schöpfungstätigkeit schon recht ermüdet. Er hätte vielleicht besser daran getan, sich bereits am sechsten Tag auszuruhen und den Menschen am folgenden Montag mit frischen Kräften zu erfinden. Aus uns heute nicht mehr bekannten Gründen war er pressiert; vielleicht fürchtete er, daß ihm die Inspiration ausgehen könnte, und so eilte er sich. Alle Ideen, die eigentlich den ersten fünf Schöpfungstagen angehörten, schwirrten in seinem unausgeruhten Geist herum. Also mischte er allerlei Unzusammengehöriges in den armen Adam hinein: ein Stück Bestie, ein wenig Engelsmaterial, paradiesisches Genügen und chaotische Grenzenlosigkeit, ozeanische Hoffnungsweite und die Beschränktheit des Erdenkloßes. Kot und kosmische Strahlung.
Wir benötigen eine weitere, grundsätzliche Standortsbestimmung. Der Mensch sei ein Raubtier, wird behauptet, zur Rechtfertigung oder wenigstens zur Erklärung vieler seiner grausameren Betätigungen. Ist dies als Definition, als Klassifizierung akzeptabel? Ist der Mensch tatsächlich dem Habitus, der Lebensweise und den Bedürfnissen nach zu den Raubtieren zu zählen? Diese Bestimmung hätte weitreichende Folgen. Wenn sie korrekt wäre, so wäre die Mahnung, daß wir »zurück zur Natur« finden sollten, ein gefährlicher Ratschlag. Sogar unsere Anschlußsuche des technisierten Menschen an die vorangegangene Naturentwicklung hätte üble Konsequenzen. Ist es so, ist der Mensch ein Raubtier? 110
Zur Römerzeit war der Satz homo hominis lupus-der Mensch ist der Wolf seines Mitmenschen — die Beschreibung eines unerfreulichen, aber doch erträglichen Zustandes. Wolfsrudel tauchten überall auf, der Wolf war weit verbreitet. Aber heute -? Geben wir acht, daß es uns nicht demnächst so ergeht wie dem Wolf - daß unsere Überlebenden in einige entlegene Steppen und Schluchten verbannt ihr kärgliches Dasein fristen müssen.
Der Herr der Schöpfung hat angeblich das gottgegebene Recht, sich die natürlichen Vorteile anderer Tierarten anzueignen. Der Leopard hat ein schönes, warmes Fell? Gut, nehmen wir es ihm weg. Der Elefant besitzt Elfenbein - mit welchem Recht? Nur weil er es hergestellt hat? Her damit! Da lobe ich mir den ältlichen Herrn, dessen Gattin allzulang vor einem Pelzgeschäft stehen blieb und sehnsüchtig in die Auslage starrte. Er sagte: »Wenn der liebe Gott gewollt hätte, daß du einen Nerzpelz tragen solltest, hätte er dich als Nerz erschaffen.«
Auch wenn er sein Weibchen mit Pelzen behängt, auch wenn er sein Auto Jaguar oder Wildcat nennt, um sich Respekt zu verschaffen: zum Raubtier wird der Mensch dadurch doch nicht. Ich bin fest überzeugt, daß der bedeutende amerikanische Psychologe William James (1842-1910) unrecht hatte, als er schrieb: »Biologisch gesehen, ist der Mensch das furchtbarste aller Raubtiere.« Es ist das größte Glück für den Menschen, daß er, entgegen den Behauptungen Spenglers und gewisser faschistisch angekränkelter Schreiberlinge, kein Raubtier ist. Anatomisch ist der Homo sapiens ein Gemischtfresser wie das liebe Schwein; das mag nicht edel klingen, ist aber für die Erhaltung seiner Art wichtig. Sein Gebiß kann Pflanzen zermahlen, ebenso wie es Fleischstücke abschneiden kann. Seine Fuß- und Fingernägel sind lächerliche Rudimente von Klauen. Seine Triebkonstitution ist auf Bedachtsamkeit angelegt, nicht auf plötzliche, überraschende, überwältigende Verausgabung aller latenten Energie; die Raubtiere, von der Spinne bis zum Löwen, müssen zum einmaligen entscheidenden Sprung fähig sein, zum Vabanquespiel des Lebens. Der Mensch hingegen erreicht seine Zwecke besser durch Ausdauer, durch zähes Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten. 111
Zugegeben, die Raubtiere Aar und Panther wirken nobler als die Gemischtfresser Schwein und Affe. Und dennoch dürfen wir die tierischen Jäger nicht als Ideale aufstellen, wie Napoleon das tat, als er den traditionellen gallischen Hahn als Wappentier durch den Adler ersetzte. Der Korse fand, daß der Hahn auf dem Misthaufen unwürdig sei, das Symbol einer großen Nation darzustellen. Napoleon, einer der bedeutenderen Raubmörder der Geschichte, verstand nichts von Ökologie; so entvölkerte er Frankreich und verwüstete Europa. Seine Werke sind verweht, aber der Hahn scharrt immer noch auf dem Mist, ein freundliches Sinnbild des Naturkreislaufs. Biosophisch betrachtet haben Raubtiere einen gewaltigen Nachteil: sie sind überflüssig. Ist diese These überraschend? Sie entspringt nicht dem Wunschdenken eines Pazifisten, sondern sie läßt sich objektiv belegen. Zum Beispiel: Die nordamerikanische Prärie erhielt ihre Fauna Jahrtausende hindurch im Gleichgewicht ohne irgendwelche kapitalen Raubtiere. Den Büffelherden standen keine Fleischfresser der gleichen Größenordnung gegenüber. Ein Erdteil, der ausschließlich von friedlichen Pflanzenfressern bevölkert wäre, könnte durch ungezählte Generationen den Lebenskreislauf in Betrieb erhalten; dagegen würde ein von kriegerischen Fleischfressern wimmelndes Gebiet schon nach zwei oder drei Generationen veröden, die Fleischfresser wären sehr bald darauf angewiesen, einander zu vertilgen. Wo Raubkatzen ausgerottet wurden, werden Rehe oder Gazellen zunächst zu zahlreich, viele Büsche werden so gründlich abgefressen, daß sie eingehen, aber bald setzt der Hunger die Anzahl der Pflanzenfresser wieder herab, woraufhin sich die Stauden und Gräser aufs neue erholen. Ohne Raubtiere spielt sich also ein bioökonomisches Gleichgewicht ein, und keine Totalkatastrophe resultiert. Ohne Pflanzenfresser hingegen könnte die in den Pflanzen gespeicherte Sonnenenergie nicht in Tiermaterie überführt werden, und als Konsequenz verschwände das gesamte Tierreich. Gäbe es keine Hauskatze, so gäbe es wohl mehr »schädliche« Mäuse, aber auch mehr »nützliche« Singvögel. Plus und minus, vom Menschen her betrachtet, glichen sich aus. In ökologischer Hinsicht sind Fleischfresser nicht notwendig. Was für Aufgaben haben sie denn zu erfüllen? Was ist ihr Nutzen im »Gewebe des Lebens« (wie Darwin treffend die Biosphäre nannte)? Tiere, die eines natürlichen Todes sterben, bilden keine Gefahr für die Umwelt: die übelriechenden und infektiösen Kadaver werden, 112
auch ohne Mitwirkung von höher entwickelten Fleischvertilgern, rasch beseitigt. Die Natur braucht hierzu nicht einmal solche Raubtierähnliche wie Geier und Hyänen, denn Bakterien, Pilze, Würmer, Insekten und Pflanzen vollziehen die nötige Funktion der Aasbeseitigung gründlich und gewissenhaft. Nichts und niemand wird benachteiligt, wenn lebendiges Fleisch seine vorgesehene Frist erfüllt hat und danach in die Düngerschicht zurücksinkt. Nichts gegen die echten, naturgegebenen Raubtiere! Sie genießen ihr eigenes Dasein, auch wenn sie anderen Lebewesen oft unnötige Schmerzen verursachen. Aber - und dies ist mein großes Aber! - ein Pseudoraubtier, das andere Rassen ausrottet und seine Blutgelüste in periodischen Kriegen austobt: das ist wirklich überflüssig. Nietzsches »blonde Bestie« wird nicht benötigt. Eine neue Ethik wäre wohl in der Ökologie zu fundieren. Wenn das Menschendasein demnach kein Raubtierdasein ist, was ist es dann? - Was ist das Gegenteil von Raub? Nun, Tausch natürlich; Erzeugung und Handel; gerecht abgewogene Bezahlung; gegenseitige Hilfeleistung; Weltverkehr; freier Austausch von Gütern und Ideen. Eine offene Welt, in der Grenzen möglichst unwirksam werden, in der Gebiete und Entfernungen zusammenschmelzen. Klingt das zu prosaisch? Dann wollen wir bedenken, daß nur in einer solchen Welt Kants kategorischer Imperativ einige Aussicht auf Wirksamkeit hat. Kein Raubtier könnte jemals den Gedanken konzipieren: Was du nicht willst, daß man dir tu', das füg auch keinem ändern zu. So einfach uns dieser Leitsatz scheint: eine Raubtierpsyche wäre ihrer Konstitution nach unfähig, ihn zu erfinden oder zu empfinden.
Das Spinnennetz als Lebensform. Das Deprimierende an diesem Bild ist, daß die Besitzerin dieses Produktionsmittels genauso unentrinnbar daran gebunden ist wie die zu Konsumierenden. Die Räuberin hat sich lebenslang im eigenen Netz gefangen.
Vieles entgeht der Raubtierpsyche, was friedlicher konstituierten Erdbewohnern Lustgewinn verschafft. Freundschaftliches oder wenigstens tolerantes Zusammenleben unterschiedlicher Rassen zum Beispiel. Sogar die Liebe wird durch den aggressiven Charakter 113
häufig denaturiert. Ein Spinnenmännchen muß klein und zaghaft sich dem boshaften Weibsbild in ihrem Netz nähern, um nicht schon bei der ersten Annäherung verzehrt zu werden - ein Schicksal, dem es nach dem erfolgten Geschlechtsakt dann doch nicht immer entgeht. Die Mantisheuschrecke, die Gottesanbeterin, geht noch weiter: sie frißt das Vorderteil ihres Männchens schon auf, während der arme Trottel hinten sein Fortpflanzungsgeschäft vollendet. Das kann nicht sehr lustvoll sein. Man kann ein ständig lauerndes, aggressives Tier auch sehr unedel finden; es ist Geschmackssache. Die Raubtiere — oder sagen wir höflicher: die Fleischfresser — haben einen einzigen bedeutenden Gewinn vor den friedlichen Pflanzenfressern voraus: sie haben mehr Muße. Da sie hochwertigere, sozusagen bereits vorverdaute Nahrung aufnehmen, beansprucht ihre Freßtätigkeit nicht soviel Zeit. Eine Spinne, eine Schlange, ein Löwe müssen nur alle paar Tage oder Wochen etwas fressen, eine Kuh dagegen den lieben langen Tag. Und da Muße der Kultur förderlich ist, haben die Raubtiertypen unter den Menschen und Völkern diesbezüglich einen Vorsprung. Deshalb machen sich Diktatoren und Militärs gern über »Krämerseelen« lustig. Auch andere sogenannte adlige Qualitäten wie Mut, Unabhängigkeit, Schnelligkeit und Tatkraft werden angeblich durch die Raubtierlebensform gefördert. All dies geht auf subjektiv ästhetische Wertungen zurück. Und der grasfressende Stier ist tatkräftiger als die mörderische Pythonschlange.
Im Naturkundeunterricht lernten wir, zwischen schädlichen und nützlichen Tieren zu unterscheiden. Später fanden wir dann heraus, daß die Sachlage meistens komplizierter ist, daß Schaden für den einen Nutzen für den anderen bedeutet. Dennoch scheinen Biologen und Laien einig zu sein, daß die Singvögel zur Insektenkontrolle benötigt werden und daß die kleinen vierfüßigen Raubtiere unentbehrlich sind, um eine Übervölkerung mit Nagern zurückzudämmen. Katzen, Wiesel, Finken, Spinnen sind nützlich, Mäuse, Blattläuse, Raupen sind schädlich. Jedoch läßt sich auch dieses »pro-Raubtier«-Argument in sein Gegenteil umkehren. Die Nagetiere wurden durch den Selektionsdruck zuerst dazu gezwungen, überwältigend fruchtbar zu werden. Wenn es nie Wiesel, 114
Füchse und Katzen gegeben hätte, wären Ratten mit je zwei Jungen pro Jahr durchaus zufrieden gewesen. Raupen müssen in so übermäßigen Mengen erzeugt werden, weil sie so viele Feinde haben. Das funktioniert wie eine Wippe: mehr Fleischfresser auf der einen erfordern mehr Pflanzenfresser auf der anderen Seite. Gäbe es keine insektenfressenden Vögel, so bekämen die Insekten, die nur wenige Eier legen, genauso ihren fairen Anteil und würden nicht aussterben. Das Vorhandensein von Grünfutter würde die Anzahl dieser Kerbtiere genau regulieren, und die Gefahr der periodischen, epidemischen Plagen von Spinnen und Heuschreckenschwärmen würde nicht erst aufkommen: diese Arten würden ganz einfach nie in gefährliche Überproduktion verfallen, weil sie die Fähigkeit zur maßlosen Vervielfältigung nicht erst entwickelt hätten. Diese übermäßige Fruchtbarkeit bringt die Gefahr mit sich, daß der Ausfall eines einzigen kontrollierenden Faktors schon zur katastrophalen Vermehrung führt: dann müssen Hochfluten von unerwünschten Nachkommen um die verfügbare Nahrung konkurrieren und alle anderen Lebewesen der Region ins Elend stürzen. Kontrolle erzeugt oft erst das Potential für unkontrolliertes Verhalten; darum könnten wir mit gleichem Recht die Katzen und Schwalben unter die »schädlichen« Tiere einreihen. — Aber die ganze Argumentation ist schief. In der freien Natur gibt es keinen Schaden oder Nutzen, nur das vielfältige Gewebe des Lebens; und der Mensch muß einfach dafür sorgen, daß dieses Gewebe ihm als Gewand und nicht als Leichenhülle diene. Dies ist der entscheidende Punkt, an dem Darwin, meiner Ansicht nach, in Mythenschöpfung verfiel. »Jedes einzelne organische Wesen,« so schrieb er, »strebt aufs äußerste danach, seine Anzahl zu vermehren; jedes lebt durch Kampf zu irgendeiner Periode seines Daseins; schwerwiegende Vernichtung befällt entweder die Jungen oder die Alten während jeder Generation oder in regelmäßig wiederkehrenden Zeitspannen. Erleichtere irgendein Joch, mildere die Zerstörung nur ein kleines bißchen, und sogleich wird die Zahl der betreffenden Gattung ins Unbestimmte anwachsen.« Dies ist viel zu dogmatisch formuliert. Tiere, die nur wenige natürliche Feinde haben — etwa Elefant, Rhinozeros, Känguruh, Geier — neigen dazu, nur wenige Nachkommen zu erzeugen. Der Eisbär, der Kondor haben nur alle zwei Jahre ein einziges Junges. Die Begründung ist klar: ihre störungsfreien Umstände entfalten keinen Selektionsdruck, der die fruchtbareren Exemplare begünstigen würde. Deshalb ist unter diesen Rassen 115
keine Gefahr einer Übervölkerung zu bemerken, und zwar — dies ist das Wichtige — ohne das Eingreifen von Feinden! Der Mensch mußte sich, in seinen primitiveren Entfaltungsstadien, auf die Verteidigung der Spezies durch vermehrte Anzahl verlassen. Auf diese Weise bekam sein Vermögen, große Familien zu erzeugen, unheilvolle Nebenwirkungen, sobald die natürlichen Feinde - von Tigern bis zu Tuberkelbazillen - ausgeschaltet wurden. Ich liebe Katzen, obgleich ich gestehen muß, daß mir der Anblick auf die Nerven geht, wenn das nette Schmeichelkätzchen zwanzig Minuten lang mit einer unglücklichen Maus herumspielt, bevor es ihr den Gnadenbiß gibt. Ich bewundere Adler und Schlangen, Wölfe und Löwen (im Kino wenigstens), und ich wünsche von ganzem Herzen, daß sie in ihrer natürlichen Umgebung erhalten bleiben: sie sind ein bedeutungsvoller Bestandteil der Welt, die wir lieben. Zuwider hingegen sind mir die faschistoiden Verherrlichungen selbstgefälliger Räuberexistenzen. Auch habe ich etwas gegen das wissenschaftliche Vorurteil, das besagt, die Fauna auf raubtierlosen Inseln sei irgendwie minderwertig. Gewiß, vom Meer umhegte Landvögel wie der Kiwi und die Dronte verloren vor Zeiten ihre Flugbefähigung, weil sie nie vor Feinden fliehen mußten; aber war ihr Dasein deshalb weniger reichhaltig und abgerundet? Als im 17. Jahrhundert Matrosen auf der Insel Mauritius landeten, watschelten ihnen zutrauliche Dodobirds (Narrenvögel) entgegen, und die Männer fanden es vergnüglich, die harmlosen Tiere mit Keulen zu erschlagen und auszurotten. Waren diese Menschen vielleicht deshalb bewundernswertere Geschöpfe, weil sie the fittest, die Geeignetsten für den Lebenskampf waren? Die Stimulierung durch Gefahr holt manchmal ungeahnte Leistungen aus gewissen Lebewesen heraus; zugegeben. Andere Kreaturen wiederum werden durch ständige Gefährdung unscheinbar, einseitig, verkrüppelt, feige. Ein durchgehender Vorteil für die Existenz und das Wohlergehen von Organismen ist »das gefährliche Leben« bestimmt nicht. Eine Kooperationswelt mit Arbeitsteilung und flexibler Aufbesserung kann unbegrenzt bestehen bleiben, eine in sich geschlossene Kampfwelt müßte nach wenigen Generationen veröden und absterben. Der Kampf aller gegen alle, den Thomas Hobbes (1588-1679) in der Natur zu erkennen glaubte, ist nicht einmal ein Mythos; er ist schlechthin eine falsche Hypothese. 116
Tee aus Sri Lanka, Fisch aus Island, Kaffee aus Brasilien sind selbstverständliche Bestandteile unserer Lebenshaltung. Wir Menschen, als Gemischtfresser und Nutznießer der Produkte aller Erdteile und Meere, sind auf das Zusammenwirken der divergierendsten Lebenskräfte angewiesen, mehr als irgendein spezialisiertes Tier. So können wir es uns nicht leisten, einen beliebigen Teil der Welt, ein noch so entferntes Ökosystem durch chemische oder radioaktive Vergiftung aus der Verflechtung des Lebens auszuschalten; denn wir sind nicht fähig vorherzusehen, ob sich eine Schädigung nicht irgendwann unaufhaltsam in der Biosphäre ausbreiten würde. Unleugbar: es ist ein außerordentlich hoffnungsvolles Zeichen der Zeit, daß die unterschiedlichsten Menschen — Biologen, Bauern, Staatsmänner, Studenten - einen Abscheu vor der Denaturierung unserer Erde entwickelt haben. Innerhalb von wenigen Jahren hat sich die Einstellung zu Raubbau und Verschmutzung gewandelt. Ignoranz gilt heute schon nicht mehr als Entschuldigung für Pollutionsfrevel.
Das Raubtier ist unmodern geworden. Oft in der Erdgeschichte kam es vor, daß eine altbewährte Lebensform nicht mehr mit neuen Umständen in Einklang zu bringen war. Tyrannosaurus und Säbelzahntiger sind längst ausgestorben, und heute nähern sich eben alle großen, frei schweifenden Formen der fleischfressenden Warmblüter der Schwelle des Fossilseins. Wir haben die Raubtiere, die früher eine sehr konkrete, bedrohliche Konkurrenz für den Menschen bildeten, soweit zurückgedrängt und dezimiert, daß wir uns leisten können, die Überbleibsel großmütig zu behandeln und sie vor der Ausrottung zu schützen. Vermutlich ist die Gesamtzahl der Beutetiere auf der Erde nicht zurückgegangen, nur überwiegen jetzt Kühe, Schafe und Hühner anstatt vieler Wildarten. Theoretisch gäbe es genug Fraß für die Raubtiere. Aber die Regulierung, daß wir die Weidetiere domestiziert haben, daß wir ihr Fleisch, ihre Eier, ihre Milch und Häute monopolistisch verwalten, schließt die Löwen, Pumas und Tiger von ihren Nahrungsquellen aus. Wir erlauben ihnen, in Tierschutzgebieten eine rationierte Jagd- und Freßtätigkeit zu entfalten; aber der Luxus der Bewunderung oder Verniedlichung, den wir uns jetzt leisten können, wird nie so weit gehen, daß wir ihnen gestatten, 117
wieder periodisch ein paar Menschen zu fressen. Dieser Konflikt bleibt unlösbar und wird verhindern, daß die großen Fleischfresser jemals wieder schrankenlos beliebige Jagdreviere beherrschen dürfen. Einen geistigen Luxus leisten wir uns allerdings: wir betonen die sympathischen Eigenschaften der Raubtiere, ihr gefühlvolles Familienleben zum Beispiel. In Büchern und Filmen stellen wir sie oft so dar, als seien sie eigentlich fast harmlos und schlügen nur ab und zu mutwillig über die Stränge. Manche populären Tierschriftsteller haben behauptet, daß Raubtiere normalerweise nie mehr Beutetiere töten, als sie zur Stillung ihres Hungers benötigen. Dies entspricht denn doch nicht den Tatsachen. Mancher alte Bauer erinnert sich noch daran, wie ein Fuchs oder Marder sich nachts in den Hühnerstall stahl und zwanzig Hennen erwürgte, um eine davon zu fressen. Dies wurde neuerdings wissenschaftlich bestätigt. An der Küste von Cumberland zählten Forscher, daß Rotfüchse nachts tausende von Möwen töteten, jedoch nur drei Prozent von diesen fraßen. Ähnliches wurde in Ostafrika beobachtet, wo zweiundachtzig Gazellen in einer einzigen Neumondnacht von Hyänen getötet wurden, die aber nur wenige anfraßen. Wie schon Alfred Brehm (1829-1884) berichtete, haben Löwen, die in Haustierkrale einbrachen, manchmal ganze Herden umgebracht; sie schleppten dann bloß ein einziges Tier davon. Gar so ökologisch berechtigt kann man dieses Verhalten nicht nennen. Die unter gewissen Umständen hemmungslos werdende Mordlust der Raubtiere macht es klar, daß sie als Vorbilder nicht wünschenswert sind. Es ist nicht wahr, daß der Krieger eine erfrischende Initiative in die sonst allzu träge Bevölkerung hineinträgt. Es gibt genug sachliche Anregungen und Herausforderungen (challenges im Sinne Toynbees) auch ohne Aufstachelung periodischer Angriffslust und Mordsucht. Man mißverstehe mich nicht: ich wünsche keinem Raubtier übel. Jede Tierart, die weiterhin mutwillig ausgerottet wird, stellt einen unersetzlichen Verlust der Biosphäre dar. Ohne Adler und Tiger wäre die Erde ärmer, ein weiteres Quantum urtümlichen Stolzes wäre aus der Welt gewichen. Gerade weil wir keine Raubtiere sind, müssen wir die gedankenlose Abknallerei und Verdrängung von Mitgeschöpfen unterbinden. Imitieren brauchen wir sie deshalb nicht.
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Wir wissen, daß die Hauskatze, die mit uns aufs vertraulichste zusammenlebt, die sich streicheln läßt und uns schmeichelt, ein grundsätzlich anderes Weltbild hat als wir. Ihre Triebhandlungen werden durch andere Merkmale der Umgebung ausgelöst als die unseren. Wenn wir uns in ihren Kopf versetzten, so wäre ein Mauseloch, ein Vogelnest anziehender als eine Rose oder ein Apfel; und Katergejaule wäre ästhetisch hochwertiger als ein BeethovenQuartett. Wir wissen, daß die Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt einer Stubenfliege unvorstellbar verschieden von der unsrigen ist; da können wir nicht einmal mehr anthropomorphe Einfühlung versuchen. Wir wünschen nur, daß das Verhalten unserer Haustiere vorherzusagen sei; wir wollen keine unangenehmen Überraschungen erleben; aber wir legen keinen Wert darauf, daß das Tier so denke wie der Mensch. Es genügt uns, einen modus vivendi zu finden, nach dem die Zeiteinteilung des Zusammenlebens etwa mit Pferd, Kuh, Huhn und Hund geregelt wird. Einem Hund wollen wir unsere Sauberkeit ungefähr beibringen, einer Kuh nicht. Die Kontakte müssen funktionieren, das ist alles, was wir verlangen: das Tier erfüllt für uns gewisse Zwecke, wir wollen es nicht von der Richtigkeit unserer Weltauffassung überzeugen. Sind Ketzer eigentlich schlechter als Kätzchen? Laßt einmal einen Menschen von unseren liebgewonnenen Ansichten abweichen! Wie werden dann Gefängnisse und Scheiterhaufen zur Belehrung herangezogen! Wie wurden Homosexuelle verfolgt, auch wenn sie niemandem schadeten, wie wurden Atheisten vernichtet, Einsprengsel fremder Volksstämme liquidiert — im Namen von Ideen, die ein paar Jahrzehnte später jeweils als irrig anerkannt wurden und die jedenfalls die Opfer nicht wert waren. Sind wir toleranter geworden? Im Prinzip gewiß. Die Erbfeinde der Vergangenheit tolerieren wir. Aber wir scheinen es nicht fertigzubringen, den gerade aktuellen »Feind« unter die neue, theoretische Toleranz einzubeziehen. Wir schreien nicht mehr mit Gusto: »Hei, wie die Schwerter blitzen!« Den scheinbar so kleinen Schritt jedoch, der von selektiver Toleranz zum Verbot der Menschentötung unter allen Umständen führen würde, den scheinen wir nicht zustandezubringen. Noch nicht?
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Der Mensch ist vielfältiger als jede andere Spezies: weil er in einer offenen Welt lebt, über den Erdball hin verbreitet ist, weil er verschiedenste Entwicklungen versucht und wieder aufgegeben hat, weil er infolge von Völkerwanderungen und Sklavenverschleppungen gemischte Rassen in sein Artenbild aufgenommen hat. Der vielfältige Mensch mußte die Symbiose auf ein unerhörtes Maximum hinauftreiben, um allen Menschentypen gerecht zu werden: den Lammfrommen, den ameisenhaft Betriebsamen, den falterhaft Genießerischen, den Aalglatten wie den Bärbeißigen. Das ganze Tierreich der Fabel ist unter dem Menschengeschlecht vertreten!
Dies ist also eine der wichtigsten Ursachen der oft unbehaglichen, manchmal unheilschwangeren Unausgeglichenheit, der Ungleichgewichtigkeit des Menschen: Als wir vor etwa einer halben Million Jahren (vielleicht infolge von Klimaveränderungen, vielleicht nur aus Abenteuerlust) den schützenden und nährenden Urwald verließen, um unser Fortkommen auf grasbewachsenen Ebenen zu suchen, mußten wir uns aggressiver verhalten als unsere Ahnen. Diese brauchten nur die Hand auszustrecken, um eine Frucht, saftiges Grünzeug oder Insekten zu ernten. Wir mußten auch zu Jägern und Kriegern werden, ohne jedoch unsere Pflanzennahrung und unsere friedlichen Betätigungen aufzugeben. Unser Körperbau änderte sich aber nicht entsprechend — eine große Seltenheit in der Metamorphose der Arten zur Erfüllung neuer Zwecke -, die Zuchtwahl brauchte uns nicht mit Reißzähnen, schützendem Dickfell und scharfen Krallen zu versehen, denn unsere Erfindung der Waffen und Kleider verhinderte einen Selektionsdruck in Richtung Raubtier. Körperlich blieben wir Gemischtfresser, geistig und triebmäßig mußten wir zeitweise die Rolle des Räubers und Kriegers übernehmen. Dies war eine starke psychologische Belastung, es erforderte eine ständige Hochspannung, eine tägliche bewußte Umschaltung. Die Lage hat sich in der Neuzeit wieder geändert. Wir haben uns durchgesetzt und die Aufgaben der nur mäßig bewaldeten Ebene erfüllt. Unsere Kühe und Hühner zu jagen wäre überflüssig, ja lächerlich. Die Raubtiere sind verdrängt. Die Jagd ist ein Elitesport geworden, geregelt und ritualisiert. Der Blutdurst (den wir uns in den Notzeiten des Pleistozän anerziehen mußten) bleibt also heute fast ausschließlich auf intrahumane Streitigkeiten angewiesen. Eine gefahrbringende Konstellation! 120
Jetzt stellt es sich als ein Segen heraus, daß unser Körperbau die Verwandlung in ein Pseudoraubtier einfach nicht mitgemacht hat. Wir können demnach wieder zu der lebensfreudigeren, genügsamen, verspielten Triebkonstitution zurückfinden, wie sie unsere nächsten Verwandten, die Affen, sich bewahrt haben. Der evolutionäre Umweg, daß wir durch Zuchtwahl gefährliche Gebisse und Klauen ablegen müßten, bleibt uns erspart. Wir brauchen nur die künstlich erzeugten, temporär notwendig gewesenen Waffen niederzulegen, die sowieso nie fest mit unserem Leib verbunden waren. Unsere Physis ist friedliebend. Wir sollten das Raubtier nicht nur da draußen, sondern vor allem in uns selbst verdrängen.
Die allergefährlichste Unausgewogenheit des Menschen besteht zwischen seiner beschränkten Körperlichkeit und seinem maßlosen, unbeschränkten Geist. Der Falke späht aus höchster Höhe herab, ob er nicht da unten ein Nagetierchen finden kann. Nur der Mensch blickt sehnsüchtig nach oben. Der Menschengeist will sich das Universum aneignen. Wie kommt er eigentlich zu dieser Über-hebung? Der Geist — und das heißt heute: der Menschengeist — hat so an Macht zugenommen, daß er kraftvoller ist als alle ehemals gefürchteten und angebeteten Geister. Noch zu Goethes Zeiten glaubte man sich bescheiden zu müssen: »Ach! zu des Geistes Flügeln wird so leicht kein körperlicher Flügel sich gesellen.« Damals mußte Faust sich erst einmal dem Teufel verschreiben, um dessen Zaubermantel als Flugmaschine benutzen zu dürfen. Haftet dem Geist nicht noch immer ein Hauch von Pech und Schwefel an? Wir zögern nicht, solche Leistungen wissenschaftlichen Denkens wie die Wasserstoffbombe als teuflisch zu bezeichnen. Alle Fähigkeiten, die wir ehemals Zauberern und Hexen zuschrieben, sind uns selbst zugefallen. Der längst verstorbene Enrico Caruso singt für uns; das Drehen eines Knopfes ist der äußerlich einfach scheinende Zauberritus, der ihn zu unserer Unterhaltung aus dem Grabe herbeiruft. Wir plaudern mit Verwandten und Geschäftspartnern, die auf anderen Kontinenten wohnen. Ganz ohne altertümliches Hokuspokus, ohne Kristallkugel und Hexendünste, erscheinen fremde Gestalten in einem Kasten in unserem Wohnzimmer. Sobald diese Wesen uns nicht behagen, können wir sie durch Abknipsen einfach 121
verschwinden lassen. Äußerst bequem, aber doch etwas unheimlich, wie? Alles, was die früher erträumten Geister konnten, bringt der Geist fertig. Jeder Tag hat heute 24 Geisterstunden. Bald wird sogar für Science Fiction kaum mehr etwas unerhörtes zu erfinden bleiben. Wenn Menschen aus Fleisch und Blut auf dem Mond herumgehen, ist es nur noch ein gradueller Unterschied zur Milchstraßenfahrt. Sogar für die zeitliche Ermöglichung von intergalaktischen Reisen innerhalb einer menschlichen Lebenszeit hat der Menschengeist gesorgt: die kosmischen Expreßfahrgäste werden nicht so schnell altern wie die zurückgebliebenen Erdbewohner, denn Einstein befahl der Zeit, in sehr rasch bewegten Systemen langsamer abzulaufen. Alles in Ordnung. Dennoch wird uns nicht recht wohl bei dieser Überwältigung durch die Ratio. Wir zweifeln, ob die Gewalt unseres Verstandes echte Geisteskraft ist. Die Leute, die die atomzertrümmernde Kettenreaktion berechneten und zur Ausführung brachten, sind nicht so stark wie die Atombombe. Die Diskrepanz in der Größenordnung von Ursache und Wirkung ist heutzutage geradezu entsetzenerregend geworden. Psychologen erklären, daß Allmachtsphantasien für das kindliche und für das primitive Denken charakteristisch sind; und dennoch scheinen diese auch die Bestrebungen von manchen Staatsmännern zu lenken. Daher ist die Gefahr unübersehbar, daß wir nur Zauberlehrlinge sind, deren Schicksalsbestimmung von ihren eigenen Erzeugnissen übernommen wird. Worauf beruht die eigentümliche Maßlosigkeit des Menschengeistes? Das Gehirn arbeitet so wie ein Trickfilm. Ein Bildchen für Bildchen gezeichneter Film kann alles mögliche glaubwürdig darstellen; der Zeichner kann mit genau demselben Kraftaufwand eine zarte Blüte entfalten oder einen Eisenbahnzug in Bewegung setzen. Die Vorstellung eines Apfels ist so leicht herzustellen wie die einer massiven Pyramide, beide können erscheinen oder verschwinden, wie es dem Denker beliebt. Was würde geschehen, wenn Mickymaus plötzlich aus dem Rahmen der Leinwand heraushüpfte, sich in unserer normalen Umwelt heimisch machte und fortführe, absurde Wolkenkratzer aufzutürmen, im Flugzeug kindische Spiele zu treiben und ihre Feinde - puff! - in blauen Dunst aufzulösen? - Aber das ist ja genau das, was der menschliche Intellekt tut! Er transponiert seine 122
wildesten Einfalle in die Umwelt. Und wo es einen solchen Geist gibt, soll man sich nicht vor unzulänglichen Geisterbeschwörern fürchten? Was ist Geistesstärke? Sie läßt sich weder messen noch nachweisen. Das größte ausgemessene Gehirn gehörte einem Idioten; das zweitgrößte dem Schriftsteller Turgenjew. Waren die elektrischen, chemischen oder noch unbekannten Vorgänge in Lenins weltveränderndem Denkapparat kräftiger als die eines schlichten Fischers, eines subtilen Gelehrten oder eines Raufbolds? Uns fehlt da der Maßstab. Lenins Gehirn wurde in dünne Scheiben zerschnitten und mikroskopisch untersucht; man fand darin nichts Besonderes. Wir wissen nur, daß das Denken, als Agens, bisweilen von schrankenloser Wirksamkeit ist. Die meisten beschränkenden Naturgesetze gelten nicht für den Geist; die Erhaltung der Masse und Energie ist in der Denkwelt aufgehoben. Auch ist der Gedanke schneller als sogar die Bewegung elektromagnetischer Wellen: er kann im Bruchteil einer Sekunde von einem Spiralnebel zum anderen rasen und Entfernungen überbrücken, zu denen ein Lichtstrahl Millionen von Jahren braucht. Die Erklärung für diese unheimliche Eigenart ist natürlich fast zu simpel: die Reise eines Gedankens ist keine echte Bewegung von identischen Wellen oder Partikeln durch den Raum. Und dennoch hat der Menschengedanke die Fähigkeit, manchmal die Realität nach seinem eigenen Bilde zu gestalten, und das macht ihn zu einem Ausnahmephänomen. Die unglaubliche Macht des Intellekts entspricht noch am ehesten den Tricks der Projektion. Die Filmvorführung etwa eines Billardspiels zeigt drei Kugeln, die sich genau nach den Gesetzen schwerer Körper bewegen: sie prallen aneinander, stoßen sich in mechanisch berechenbaren Winkeln ab und verlangsamen ihre Rollbewegungen der Reibung entsprechend, als ob sie feste Kugeln wären. Dabei ist in dem Geflimmer auf der Leinwand keine Festigkeit, keine Schwere vorhanden, nur Licht und Schatten auf einer Ebene. Die Reproduktion folgt nicht den optischen Gesetzen der projizierten Lichtstrahlen, sondern den mechanischen Gesetzen der früher photographierten Gegenstände. Schiller konstatierte zwar ganz richtig: »Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Räume stoßen sich die Sachen.« Trotzdem: während der Physiker sich rollende Billardkugeln vorstellt, werden diese Phantome sich genau nach den mechanischen Druck- und Stoßgesetzen verhalten, obgleich sie nicht aus Elfenbein, 123
sondern aus winzigen Impulsen in seiner grauen Hirnrinde bestehen. Wenn sich Phantasie und Kenntnis verbinden, funktioniert das Modell. Aber gerade die innere Evidenz, die Überzeugungskraft der Gedanken für ihren Denker birgt ein Gefahrenmoment im Abenteuer unserer zivilisatorischen Entwicklung. Wenn ein antiker Forscher sich einbildete, die Erde sei wie eine Schildkröte gestaltet, so stand dieses Bild so eindrücklich vor seinem inneren Auge, daß er es für allgemein überzeugend halten konnte. Die Azteken wußten genau, daß der Sonnengott jeden Tag Menschenblut trinken mußte, damit er die Sonne aufs neue aufgehen ließe. Knochen und Kleider von Märtyrern üben eine unbezweifelbare Heilwirkung aus — allerdings jeweils nur die Reliquien der eigenen, niemals die einer fremden Religion. Erst in der Neuzeit kam die Überprüfung von Vorstellungen durch systematisches Experimentieren hinzu. Heute entscheidet das Experiment, die Praxis, zwischen mehreren vorgefaßten Meinungen. Wir erlauben uns, göttlichen oder priesterlichen Offenbarungen zu mißtrauen, wir akzeptieren nicht mehr gern von höherer Stelle anbefohlene Glaubenssätze. Cuius regio, eius religio (wessen Herrschaft, dessen Religion; der Untertan muß den Glauben des Herrschers annehmen) — diese Regel würden wir uns nicht mehr so ohne weiteres gefallen lassen. Und doch haben Stalin und Hitler bewiesen, daß man auch im zwanzigsten Jahrhundert doktrinäre Hirngespinste durch Befehl akzeptabel machen kann. Wenn der Menschengeist, wie ihn die Neuzeit gemodelt hat, echte innere Kraft besäße, würde er zuverlässiger funktionieren. Die beschränktere, aber gesicherte Instinktstärke eines Stieres, eines Löwen bewirkt, daß ein solches Tier stets nur »stark« reagieren und sich benehmen kann, auch wenn die Umstände Nachgiebigkeit oder Scheu als nützlicher empfehlen würden. Dies mag Nachteile haben. Aber die extreme Labilität des menschlichen Geistes, die sich in Widersprüche verrennt und mit unheimlichsten Fehlleistungen Ausflüchte aus Sackgassen sucht, ist gefährlicher. Unser Gehirn ist kein absolutes Erkenntnisinstrument, sondern ein vitales Organ, es ist das sehr spezielle Lebenswerkzeug eines zweibeinigen Säugetieres, Gemischtfressers, Höhlen- und Hausbewohners, Schnelläufers, zentrifugal veranlagten Herdenwesens. Es ist auf seltsame Art inkongruent mit der Realität, wie sie durch unsere eigene Wissenschaft etabliert wird. All unsere Bestrebungen, 124
selbst wenn sie strikt auf wissenschaftliche Erkenntnis, soziale Verbesserung, künstlerische Schöpfung eingestellt sind, werden durch unsere Trieberbschaft getönt. Wir setzen eine Zielvorstellung rascher, leichter und befriedigter in die Tat um, wenn sie dieser primitivistischen Erbschaft entspricht. Bereitwillig nennen wir die erfolgreichsten Beutesammler, Krieger und Jäger, Herdenführer, Medizinmänner, Räuber und Zauberer der Geschichte »groß«, nicht weil sie unserer mühselig aufrechterhaltenen, unsäglich komplizierten Kultur gedient hätten, sondern weil sie den Frühvorstellungen von Macht und Erfolg entsprechen und schmeicheln.
Der Trieb zur Selbsterhaltung, den schon jeder Wurm, jeder Fisch besitzt, verursacht eine weitere Ungleichgewichtigkeit in uns und in unserem Weltbild. Dieser Wille zum Fortleben ist so stark, daß er sogar dem Willen zur Erkenntnis durch Jahrtausende hin die tollsten Streiche gespielt hat. Der Wille zur Dauer schießt maßlos übers Ziel hinaus, will eine unsterbliche Seele, ein zeitloses Paradies, Seelenwanderung, ewige Gerechtigkeit und ewigen Sinn. Solche Wunschträume, die mit der Ratio in Widerspruch stehen, wirken dann als parteibildende Zwistursachen in die Realität zurück: das ist ihr größter Nachteil. Da sie nicht experimentell oder durch unparteiische Beobachtung verifiziert werden können, weichen sie - von einer Landschaft zur anderen, von einer Epoche zur nächsten - voneinander so weit ab, daß sie nicht in Einklang gebracht werden können. Und da sie mit Affekten überladen sind, schlagen sich die Leute um ihrer Seelenvorstellungen willen die Schädel ein. Der Wille zur Selbsterhaltung kam zeitlich vor der Ratio und ist daher mächtiger. So wie ein Wurm zappelt, um dem zuhackenden Vogelschnabel auszuweichen, so schlottert der von Angst überwältigte Mensch, um den Angreifer »doppelt sehen« zu lassen und dessen Treffsicherheit zu verwirren. Oder er schlägt in seiner Wut wahllos um sich. Der Lebenswille ist nicht intelligent. Zugegeben: ein unbedingter Wille zur distanzierten Erkenntnis ist nicht lebenswichtig. Ein Mensch mit fehlerhafter Leber stirbt; ein Mensch mit fehlerhafter Weltanschauung kann es weit bringen im praktischen Leben. Eine Person mit undichten Herzklappen leidet; jemand mit Gedankenkurzschlüssen fühlt sich (meistens) recht wohl. In seiner Unbedingtheit wirkt der Selbsterhaltungstrieb jahrtausendelang der kühlen, zersetzenden Selbsterkenntnis entgegen. Er 125
spiegelt uns vor, daß wir besser seien als die Mitglieder anderer Volksstämme, anderer Glaubenssysteme oder Kasten, anderer Berufe, und daß wir daher das Recht auf besondere Privilegien hätten. Hier zeigt sich noch am deutlichsten, daß wir unsere ursprünglichen Positionen auf der Erdkruste nicht als Erkenner und Weltverbesserer bezogen, sondern als beschränkte Rudel, die sich durchsetzen mußten. Deshalb ist säuerliche und säuberliche Skepsis den Instinkten der Meisten so zuwider. Selbstvertrauen gehört zur Lebenstüchtigkeit, ja zur Handlungsfähigkeit dazu; Selbstbezweiflung ist biologisch unzweckmäßig.
Aus diesem Grund läßt der Normalmensch kaum je den Verdacht in sich aufkommen, daß sein eigenes Weltbild unvollkommen sein könnte. Dabei ist es von Natur aus lückenhaft, so lückenhaft wie das irgendeines Tieres. All unsere Sinneswerkzeuge sind auf den Empfang spezifischer Reize ausgerichtet; für Röntgenstrahlen, für Ultraschall, für die Rückseite entfernter Gegenstände haben wir kein Organ. Nahe Dinge können wir betasten und dadurch ein ergänzendes Bild ihrer dreidimensionalen Gestalt gewinnen. Aber wie die Hinterseite eines Berges aussieht, bleibt uns verborgen, bis wir uns körperlich hinüberbewegen. Beunruhigt es uns, daß wir den Ausblick in die Ferne nur zur Hälfte mitbekommen - daß wir alle Objekte, die wir sehen, nur zur Hälfte wahrnehmen? Kein Sinnesorgan reichte hinter den Mond, bis wir ihn umkreisten. In solchen Fällen ist unser Erkenntnisstreben doch sehr mächtig. Oft jedoch genügt uns das Wissen, daß wir gelegentlich hinter jene Mauer dort drüben spähen könnten; und dabei lassen wir es im Alltag bewenden. Manche Insekten können Ultraviolett sehen, aber kein Rot. Sie kommen jedoch nie auf die Idee, daß ihr Gesichtsbild fehlerhaft sein könnte, so wie auch wir die Farbqualitäten ultraviolett und infrarot, die für unser Nervensystem nichtexistent sind, keineswegs beim Anblick der Welt vermissen. Die Blüten auf einer Wiese sind zu einem Drittel ultraviolett gefärbt, jede Biene sieht das; uns stört es normalerweise nicht, daß wir da farbenblind sind. Ein Grottenolm, der blind zur Welt kommt, führt sein Leben sehr gut ohne Gesichtseindrücke, er findet sich in seiner Unterwasserhöhle zurecht, frißt und pflanzt sich fort. Jede Tierrasse hat ihre eigene, spezialisierte Merkwelt. Auch der Mensch. 126
Jedes Wesen handelt in seiner eigenen Situation schlüssig, gerade als ob ihm alle relevanten Faktoren bekannt wären. Ein König, Priester, Krieger, Künstler braucht sich nicht darum zu scheren, ob die Welt, in die er hineinwirkt, eine reale Welt ist oder ob sie mit lauter Phantasien durchsetzt ist. Ein Kind fragt zwar; ein Erwachsener vertraut gern auf seine gesammelten Erfahrungen. Wenn er in zu abwegige Bahnen gerät, merkt er es am Mißlingen seiner Bestrebungen, erst dann wird er stutzig. Denn der Mißerfolg ist ein Kriterium der Illusion: das Denkmodell stimmt nicht mit den dinglichen Gegebenheiten überein. Mit Hilfe von ein paar Gedankensprüngen und Inkonsequenzen kann man sich normalerweise über Mißerfolge hinwegsetzen und sein illusorisches Weltbild retten. Ein Kolumbus, der wähnt, nach Indien zu segeln, kann doch triumphal ein lohnendes Ziel erreichen. Sein Erfolg beweist höchstens ihm selber, daß seine vorprogrammierte Vorstellung des Globus richtig war. Produktive Irrtümer sind in der Geschichte erstaunlich häufig. Die nüchterne Praxis der Epigonen korrigiert sie gewöhnlich. Daß die Wahrheit für das alltägliche Leben nicht unbedingt erforderlich ist: dies ist allerdings eine katastrophenträchtige Tatsache. Sie liefert die stärksten Motive und Versuchungen für Volksbeglücker mit riskanten Rezepten, für Propagandafachleute, Ideologen und einfach für Hetzer. Sie begünstigt Extremisten aller Schattierungen und ist unserer an sich schon gefährdeten Balance, unserem Willen zur Mitte, abträglich. Phototropische Motten, die es wünschenswert finden, in eine Kerzenflamme zu fliegen, erliegen stets aufs neue, unrettbar, ihrem fehlerhaften Weltbild. Vielleicht ist es ein Glück, daß einige Illusionen doch lebenzerstörend wirken: dies liefert einen Auslesefaktor, der die Erkennenden begünstigt.
Ein Blinder verbrachte einen angenehmen Abend im Haus eines Freundes. Beim Abschied bestand er darauf, allein nach Hause zu gehen, bat aber, daß man ihm eine Laterne mitgeben möge. »Wozu?« fragte der Freund, »mit der Laterne siehst du doch deinen Weg nicht besser?« Der Blinde erklärte: »Ich brauche die Laterne, damit die anderen Leute mich kommen sehen und mir ausweichen.« Er ging also, die Laterne schwenkend, die Straße entlang. Er stieß mit einem anderen Menschen zusammen und schalt: »Kannst du nicht aufpassen? Siehst du meine Laterne nicht?« 127
Der andere erwiderte höflich: »Leider nein, mein Herr, ich bin nämlich blind.«
Das Menschsein ist ein Balanceakt. Schon »von Kindesbeinen an«, wörtlich verstanden, sind wir auf Gleichgewichtssuche angewiesen. Das Kleinkind muß mühsam und mit Überlegung lernen, seinen Schwerpunkt hoch über den relativ kleinen Füßen zu balancieren, und völlig automatisch werden die hierfür erforderlichen Reflexbewegungen nie. Wir können nicht stehend schlafen wie viele gleichfalls zweibeinige Vögel; wir kohabitieren selten im Stehen wie zahlreiche andere Tiere. Das zweibeinige Stehen — doch charakteristisch für den Menschen - behält immer etwas von einem Ausnahmezustand. Wir sind und bleiben ungleichgewichtig, labil. Da wir mit Werkzeugen hantieren, die an Gewicht, Reichweite und Einfluß stets zunehmen, wird die Ausgewogenheit immer wieder in Frage gestellt und muß periodisch durch erneutes Lernen bewältigt werden. Die größte Belastung liegt nun darin, daß unser Geist selbst weitgehend zum Werkzeug geworden ist. Seine immense Hebelwirkung setzt uns gesteigerter Ungleichgewichtigkeit aus. Die inneratomare und die galaktische Welt sind kaum mehr anschaulich, sondern fast nur mathematisch zu verstehen. Der Geist vieler einflußreicher Personen ist heute näher dem Computer verbunden als den menschlichen Gefühlen. Weil wir so außerordentlich erfolgreich mit dem Werkzeug schlechthin waren, wehren wir uns nicht genügend dagegen, daß unser Intellekt in einen fühllosen, leblosen Hebel verwandelt wird. Die Unausgewogenheit, bei sehr kleiner biologischer und philosophischer Standfläche, wird bedrohlich. Unser seelisches Gleichgewicht erfordert, daß wir mehr Gewicht auf die wirklich menschlichen Qualitäten legen. Um innerhalb unseres Gleichnisses zu bleiben: der ins Ungesicherte emporragende Hebel muß das Gegengewicht der Tiefe erhalten. Die tiefsten Kräfte am Quellgrund der Psyche müssen aufgewertet werden. Unsere — an sich bewundernswerte - Ratio wäre überfordert, verlangte man, daß sie diese Tiefe definieren oder umschreiben sollte; das ist nicht ihr Gebiet. Leute mit irgendwelchen religiösen Überzeugungen haben es da leichter, sie können auf die Beschreibungen der Seele und ihrer Aufgaben in den traditionell geheiligten 128
Büchern zurückgreifen. Ein Atheist muß seine eigenen Schlußfolgerungen ziehen, auch wenn er Leitsätze der großen Philosophen und, in begrenzterem Maß, der religiösen Denker zuzieht. Was mich anbelangt, so kam mir die Erfahrung tieferer Seelenschichten von Gefühlserlebnissen her, besonders in meinen jugendlichen Jahren. Wenn ich auf einem windüberfegten Berggipfel stand und wilde Wolken mit großer Schnelligkeit über wogende Wipfel ins Weite streben sah, fühlte ich plötzlich mein Wesen mit der großen Bewegung der Natur verfließen. Oder wenn ich faul auf einer besonnten Wiese lag, wenn hohe Gräser mich vor Pflichten und Kontrollinstanzen verbargen, spürte ich mich mit allen Kreaturen ringsum vereinigt. Dies sind keine intelligenten Erkenntnisvorgänge, beileibe nicht! Doch bin ich sicher, daß die Gefühle solcher Augenblicke aufschlußreich und in einem höheren Sinne wahr sind. Wahrscheinlich haben zahlreiche Menschen wortlose Erleuchtungen. Wir sollten dergleichen Erfahrungen in der Erinnerung bereithalten, wenn wir die Welt und unser Dasein bedenken. Intellekt und Lebensgefühl sollten einander stets wechselseitig überwachen, so wie in einem guten Regierungssystem Präsident und Wähler, Gesetzgeber und »Gesetznehmer« einander die Waage halten. Der Lebenssinn ist nicht die Domäne des analysierenden Intellekts, der Sinn gehört dem Leben an. Hieraus folgt, unter vielem anderen: Nicht alles, was unsere technische Begabung produziert, ist wert durchgesetzt zu werden; nicht alles, was funktioniert, ist schon deshalb gut. Der richtunggebende Geist sollte sich des öfteren ganz bescheiden fragen: Ist diese und jene Bestrebung lebenfördernd? Versuchen wir doch, eine organischere, engere Synthese von Geist und Leben zu finden, Leben und Weisheit zu verbinden zur Biosophie - um des Lebens willen.
Fünftes Kapitel Möglicher Sinn, sinnvolle Möglichkeiten
»Kerls, wollt ihr denn ewig leben?« rief der König in der Schlacht seinen Soldaten zu. Nur ein kleiner Soldatenlehrling antwortete: »Jawohl, Majestät, eigentlich wäre ich lieber unsterblich.«
Ein Mann befindet sich allein in einem fremden, stockfinsteren Zimmer. Vage Angstvorstellungen umschwirren ihn, und er will sie durch Augenschein entkräften und vertreiben. Er weiß, daß irgendwo an einer Wand ein Lichtschalter sein muß, aber wo? Wenn Licht im Raum wäre, würde er den Knipser sofort finden können; aber dann brauchte er ihn ja nicht mehr. Vielleicht ist irgendwo in Reichweite der Lebenssinn im gleichen Raum mit uns; könnten wir ihn erkennen, so würde er sofort fast zu selbstverständlich.
Der gesunde, lohnend aktive, in einigermaßen sympathische Umstände eingeordnete Mensch kommt kaum auf die Idee, daß seine Existenz sinnlos sein könnte. Das normale, durchschnittsmäßig ablaufende Leben stellt sich nicht selbst in Frage. Familie und Beruf sind meistens ganz konkret »der Mühe wert«, sogar wenn sie sehr viel Mühe kosten. In Perioden äußeren Eingespanntseins gar wird der Lebenszweck niemals zum Problem. Wenn der Staat beispielsweise den Hitlerjungen versicherte: »Ihr seid geboren, für Deutschland zu sterben«, so gab es kein weiteres Fragen. In vielen historischen Situationen zählt das Individuum nur insofern, als es Teil einer polarisierten, ausgerichteten Menge ist, deren Ziele mit hochgespannter Dringlichkeit erfüllt werden sollen; und da eine größere Anzahl von Menschen wirksamer für die Durchsetzung solcher Vorhaben ist als ein kleines Trüppchen, ist es für den einzelnen schon Lebenszweck genug, seine Individualität einem Massengeist (oder Massenwahn) unterzuordnen. Immer wenn eine führungsbegabte Persönlichkeit sich einbildet, daß der Sieg notwendigerweise auf der Seite der größeren Bataillone liege, braucht der Einzelmensch keine individuelle Sinnschöpfung. 133
Wenn dann solche Überzwecke entweder erfüllt, diskreditiert oder besiegt wurden, muß das Einzelwesen sich auf seine eigenen Aufgaben besinnen und sich neue Zwecke schaffen. Diese Deflation bringt das größte Risiko für die Empfindung der »Fülle des Daseins«. Aber harte Forderungen der Außenwelt an das reduzierte Ich können über die innere Ausgeleertheit und Zwecklosigkeit des Existierens hinweghelfen. Zu anderen Zeiten ist es oft nur ein unreflektiertes, ja grundloses, naiv übersprudelndes Lebensgefühl, das in uns die subjektive Empfindung »sinnvoll« auslöst. Gerade resultatlose Gesellschaftsspiele können uns ganz ausfüllen. Kein Weiser kann die Aussage logisch entkräften: »Mein idealer Lebenszweck ist Borstenvieh und Schweinespeck.« Jedenfalls steht fest: die Gefühlsqualität »Das hier hat Sinn« ist fast etwas Organisches, sie hat wenig oder nichts mit philosophischer Selbstbesinnung zu tun. Unter den Erscheinungen und Ereignissen, die dem Gefühl des Lebenssinnes abträglich sind, scheinen mir drei besonders negative Verlockungen auszustrahlen. Diese drei Gegenkräfte in unserer eigenen Psyche gegen das selbstverständliche, also mit sich selbst verständigte Leben sind die folgenden. Erstens: das Bewußtsein des Todes — das Gefühl, daß alles im Leben belanglos sei, da es durch den Tod dann doch vernichtet werde. Zweitens: die Schalheit, die mangelnde Würze, der Überdruß, die Lähmung der Lebensgeister — das, was in der spätrömischen Zivilisation als taedium vitae grassierte. Drittens: das Gefühl der Unfreiheit — fatalistisches Sichgehenlassen, achselzuckendes Hinnehmen des Kismet, die Vorstellung, das Leben sei ein determiniertes, mechanisches Abschnurren ohne Willensfreiheit. Wenn wir diese drei Feinde des vollen Lebensgefühls - Tod, Überdruß und Determiniertheit - in ihrer Wirkung umschreiben und psychologisch entkräften können, würde die Möglichkeit, einfach für das Leben zu leben, beträchtlich einleuchtender. Wir wollen die Feinde einzeln ins Auge fassen.
»Der Tod geht mich nichts an,« meinte Epikur. »Wenn ich da bin, ist er nicht da, und wenn er da ist, bin ich nicht da.« Damit könnte man sich natürlich bescheiden. Kein Schachspieler würde die törichte Hoffnung hegen, daß sein König aus der 134
Mattsituation mit einem Rösselsprung entfliehen könnte. Aber viele Menschen spielen ihre Lebenspartie so, als gäbe es allerlei Ausflüchte vor dem endgültigen Schachmatt. Für eine vernünftige Lebensgestaltung wäre es nur günstig, wenn wir uns von Zeit zu Zeit bewußtmachten: Das Sterben gehört zu den Spielregeln. Der Tod ist beim Eintritt ins Leben bereits im Kontrakt inbegriffen. Er ist keine Überraschung, die dem Leben grundsätzlich fremd wäre. Das Ableben ist ein Bestandteil des Lebensprozesses, es gehört zum Leben dazu, es ist nicht völlig wild, unverständlich und unerwartet. Das Sterben kommt niemals vor, wo nicht erst das Leben war, es ist also eine Spätphase des Lebendigseins. Eine Statue stirbt nicht; wer möchte deshalb eine Statue sein? Der Tod negiert das Leben nicht, er macht es nicht im nachhinein ungültig; er rahmt das Dasein ein. Gut, rational sieht man das ein. Als Gefühlswesen aber ist einem doch zumut, als ob man in behaglichem Genuß eine Tasse Kaffee getrunken hat und dann im letzten Schluck am Boden eine ertrunkene Fliege entdeckt. Man kann sich dann nicht mehr vorstellen, daß einem der erste, zweite und dritte Schluck vortrefflich gemundet haben.
Ein Toter, besonders in fortgeschrittenem Zustand, ist unerfreulich für die Sinne. Fäulnis riecht und sieht ekelhaft aus. Daraus zieht der Überlebende den Schluß, dem Abgeschiedenen müsse es ekelhaft vorkommen, tot zu sein. Daß dies ein Fehlschluß ist, liegt auf der Hand.
Als Kind war ich entsetzlich schockiert, als ich erfuhr, daß es eine Fliegenart gibt, die ohne Mund aus dem Larvenzustand hervorgeht. Die erwachsenen Fliegen können nicht fressen! Selbst wenn sie sich entscheiden wollten, nach dem Geschlechtsakt, der ihr Lebenssinn ist, weiterzuleben, wäre es ihnen vom Schicksal unmöglich gemacht: sie sind vorne zu. Wenn man sich einmal im achten Lebens Jahrzehnt befindet, hat man notgedrungen die Tatsache zur Kenntnis genommen, daß jedes Individuum eine Einbahnstraße entlangreist, die gleichzeitig eine Sackgasse ist. In seinem Larvenstadium durfte das Kind sich noch von 135
der Vorstellung der Ewigkeit nähren, nun ist es erwachsen geworden und verdaut in sich den Begriff der Zeit. Und wenn die Zeit fertig verdaut ist, verdaut das Individuum seinen eigenen Magen. Es gibt keine Nachlieferung. Hingegen empfindet man es im steigenden Alter als tröstlich, wenn in Kindern und Ururenkeln eine Chromosomenanordnung weiterexistieren wird, die man selber verwirklicht hat.
Warum erscheint uns ein pflanzenfressendes Tier friedlicher als ein Raubtier? Weil Pflanzen keinen blutigen, plötzlichen Tod erleiden. Ein abgeschnittener Weiden- oder Geranienzweig ist nicht so tot wie ein abgetrennter Kopf: stecke den Zweig in die Erde, und er treibt neue Wurzeln. Wann ist das Heu auf einer Wiese tot: wenn es geschnitten wurde — wenn es getrocknet ist - wenn es im Kuhmagen umgesetzt wird? Überhaupt ist der Tod nicht klar definierbar. Gestorbene Materie wird weiterhin von organischen Prozessen durchwaltet, sie ist und bleibt größtenteils Biomasse. Was einmal ins Leben eingetreten war, kann zwar durch Fäulnis und Zersetzung zerfallen und die Individuation rückgängig machen; aber es bleibt ein Reservoir des Lebens auf diesem Planeten. Durch Gärung, Photosynthese und Oxydationsprozesse binden organische Moleküle Bioenergie, und diese Kraft lassen sie auch beim Sterben nicht frei. Sogar fossile Lebewesen, in Form von Kohle und Erdöl weiterbestehend, werden in den Lebensprozeß zurückgeschaltet, sie werden Spender von Licht, Wärme und Bewegung. Als Biosoph könnte man also den individuellen Tod fast belanglos finden, in gewisser Hinsicht. Aber - in Ungewisser Hinsicht - mag ich meinen bevorstehenden Tod eigentlich doch nicht.
Dieser einmalige Augenblick: nie und nirgends in der Welt wird er wiederkehren, in Jahrmillionen nicht. Und doch: immer, in Jahrmillionen, gibt es stets nur den Augenblick. Manchmal erscheint es mir ganz willkürlich festgesetzt, daß heute heute ist. Wäre es nicht schön, frei über den Zeitozean hinzutanzen? Jetzt. Jetzt. Es ist immer nur jetzt. Wie langweilig das zuzeiten sein kann! Und manchmal wieder erscheint es mir höchst wundersam, daß man die Verbindung zu anderen Jetzts, zum Längstvergangenen 136
schlagen kann. Wundersam; denn die Vergangenheit ist ja nicht mehr da. Nur ihre Zeugnisse existieren, und die sind eben - jetzt. Steintafeln, Knochenfunde, Goldkronen, Bücher: sie sind jetzt, sonst wären sie nicht vorhanden. Sind wir um die Vergangenheit betrogen worden? Die Zeit vergeht - ja, was soll denn das heißen? Bin ich also irgendwann aus der Zeit herausgerutscht in die Unzeit? Bin ich jetzt nicht mehr im Jetzt? — Mit solcherlei Sophisterei kann man sich wohl amüsieren und sogar trösten: Für mich gilt der Zeitablauf nicht! Jedoch: die Zeit vergeht, und trotzdem bin ich stets im Mittelpunkt der Zeit. Denn das »Jetzt« ist der genaue Mittelpunkt des Zeitverlaufes, die geometrische Mitte zwischen der unabsehbaren Strecke »Vergangenheit« und der nur geahnt langen Strecke »Zukunft«. Ganz gleichgültig, wo ich dieses Jetzt ansetze, es ist theoretisch genau im Mittelpunkt. Und so wie früher in Kolonialgebieten für die Reisenden ein Wirtshaus zum Ausspannen der Nerven und der Pferde gebaut wurde - a halfway house, ein Halbwegshaus -, in dem es sich gut sein ließ zur Rast vor der Weiterfahrt: so wollen auch wir es uns im Jetztpunkt »halbwegs« Wohlsein lassen.
Du befürchtest, daß mit jedem vergehenden Tag dein Leben einen Tag kürzer wird? Nein, es ist umgekehrt: dein Leben ist wieder um einen Tag länger geworden. Gestern war es, beispielsweise, 29 Jahre lang, heute mißt es schon 29 Jahre und einen Tag. Vertraue darauf: es ist ein Zunehmen der Zeit im Zeitverlauf, kein Abnehmen. Goethes Leben war länger als Schillers, nicht wahr? Dein Leben wird immer länger, nicht kürzer! Eine irrige Definition der Zeit macht dir zur Zeit unberechtigte Angst.
»Jeder Tag bringt dich dem Tode näher,« sagt man wohl; dieser Satz ist jedoch nachweisbar unrichtig. Ein Schiffbrüchiger, der den letzten Tag vor der Landung seines Rettungsbootes übersteht, hat dadurch seine Lebenschancen vergrößert: dieser eine Tag hat ihn vom Tode beträchtlich entfernt. Ein zäher Kranker erlebt noch die Erfindung eines Heilmittels; ein Gefangener überlebt den Tod eines Tyrannen; ein Verfolgter überdauert das ihm feindliche Regime. In all diesen Fällen handelt es sich nicht um zufällige Ausnahmen von der 137
pessimistischen Regel, sondern um Widerlegungen der Regel selbst durch Fortschritt, durch Menschenliebe oder einfach durch das blinde Glück. Es ist nicht der Verlauf der abstrakten Zeit, sondern das Gewebe des konkreten Geschehens, das jeweils den Tod mit sich bringt. Der Versicherungsstatistiker lebt nicht von seinen Durchschnittswerten, sondern von den Abweichungen hiervon. Wer einen Tag ausnützt, um sein Dasein zu bereichern, braucht den Ablauf dieses Tages nicht zu bedauern. Zwar strahlt der Fatalismus der provisorischen Existenz eine düstere Faszination aus. Aber: das Leben gestalten heißt das große Argument des Todes entkräften. Ich persönlich würde mich jedenfalls sehr ärgern, wenn ich an einer sogenannten unheilbaren Krankheit stürbe und wenn kurz darauf ein Mittel gegen diese Krankheit erfunden würde.
Der stärkste Feind des Lebens ist nicht der klare, genaue Tod. sondern das vage Gefühl der Sinnleere, der Ziel- und Zwecklosigkeit. In dekadenten Zeiten, besonders wenn lange kein Umsturz in der sozialen Struktur stattgefunden hat, wird dieses taedium vitae eine modische, fast snobistische Attitüde: ungeschätzter Reichtum entwertet die Geschenke des Lebens. In innerlich stärkeren Kulturepochen führt dieser Weltekel oft zur Askese, zur Verneinung der Sinne. In romantischen Zeiten, beispielsweise vom Werther über den Tristan zu den französischen Symbolisten des fin de siede, tritt die Frustrierung als Weltschmerz in Erscheinung. Eine weitausgespreizte Skala der Lebensfeindschaft! Die Aussagen eines vom Weltüberdruß Angekränkelten haben keinen Wahrheitsgehalt; sie geben subjektive Empfindungen wieder, keine objektiven Erkenntnisse. Aber diese Phantasmen sind oft so überwältigend stark, daß sie dem Betroffenen als Abbildung der Umwelt und somit als unwiderleglich erscheinen. Wenn man in solchen Lagen nur ein paar Tage oder Wochen durchhalten könnte! Die Trübung verschwindet in vielen Fällen fast automatisch wieder, so wie ein Wellental notwendigerweise vom Wellenberg abgelöst wird. Hier hat die moderne Psychiatrie zahlreiche Hilfsmethoden entwickelt. Die Möglichkeit des Individuums, Lebensgenuß zu empfinden, ist nicht »richtiger« als der Überdruß. Das Erleben der Sinnlosigkeit ist weder logisch noch empirisch berechtigter als die häufigere und ebenso starke Vorstellung, das Leben sei sinnvoll und inhaltsreich. 138
Weder die negative noch die positive Einstellung lassen sich beweisen. Der Nihilist (im psychologischen, nicht im politischen Verstande) glaubt die Lebenswirren durchschaut zu haben und die Eitelkeit alles Strebens beweisen zu können. Er kommt aber nie über die affektbeladene Versicherung hinaus, das Dasein sei ihm verhaßt und eine Last. Und auch der Zufriedene oder Strebsame kann nicht nachweisen, daß er recht habe, daß seine Erkenntnis des Lebens tiefer reiche als beispielsweise die des Selbstmordkandidaten oder des fatalistischen Kriegers. Einer meiner Bekannten brachte allerdings einmal einen Lebensmüden von seinem selbstzerstörerischen Vorhaben durch reine Logik ab, indem er ihm sagte: »Wozu willst du dir jetzt diese Mühe machen, vielleicht wirst du nächste Woche sowieso von einem Auto überfahren.« Hierüber mußte der Selbstmordwillige doch so lange nachdenken, daß er dann seine Absicht nicht mehr ausführte.
Was meinen wir eigentlich mit dem Wort »Sinn«? Die evidente Ausfüllung unseres Daseins: eine unbezweifelbare und kurz definierbare Funktion des Lebensablaufes. Beispiele helfen hier: ein vom Spiel völlig absorbiertes Kind - ein Liebespaar in Werbung und erster Wunscherfüllung — eine junge Mutter, die ihr Baby stillt — ein gut arbeitender und gut verdienender Familienvater - ein Forscher, der der Lösung eines Problems auf die Spur gekommen ist. Sie empfinden sich als funktional eingeordnet und somit sinnvoll. Sinnlosigkeit, spleeniger Weltschmerz tritt erst auf, wenn das Leben nicht mehr gerichtet ist. Lebenssinn entsteht in zweierlei Situationen: erstens im naiven, aber nicht allzu zwanghaft strukturierten Eingespanntsein, zweitens im Abstandnehmen, in höherer Perspektive, als schöpferischer Akt: als Sinnschöpfung. Wo Sinn empfunden wird, kann er von Außenstehenden zwar bezweifelt und ironisch belächelt, aber er kann nicht widerlegt werden. Denn »der Sinn« hat Sinn in bezug auf das individuelle Leben. Der Sinn ist nicht irgendwo da draußen im kahlen Gerüst der »Dinge an sich«. Das Leben muß sich auf sich selbst beziehen.
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»Die Welt ist sinnvoll, da das Denken möglich ist.« Dieser alte philosophische Lehrsatz enthält drei Gedankenschritte. Zuerst die Voraussetzung: Das Denken, da es in unserem gescheiten Gehirn stattfindet, muß in sinnvoller Weise vor sich gehen. Zusätzliche Annahme: Dieses Denken ließe sich nicht auf die Welt da draußen anwenden, wenn dort nicht bereits Entsprechungen vorgebildet wären. Schlußfolgerung: Nur eine schon an und für sich sinnvolle Welt läßt sich durch unseren Verstand erfassen. Der Satz, so verführerisch er klingt, beruht auf einem zirkelhaften Fehlschluß. Falls wir uns einmal entschlossen haben, die Welt nicht als unser idealistisches Traumgebilde anzunehmen, sondern als unabhängige Realität — und dies ist tatsächlich Sache unseres Entschlusses -, müssen wir uns dazu bequemen, von der Welt zu lernen und unser Denken nach den Erfahrungen einzurichten. Diese Erfahrungen geben uns manchmal das Signal »sinnlos«, zu anderen Malen das Kennzeichen »sinnvoll«. Es obliegt dann unserem Denken, die Gründe für diese Diskrepanz herauszufinden und die für uns sinnvollen Situationen und Tätigkeiten zu bevorzugen und wenn möglich herbeizuführen. Der Sinn ist die Aufgabe jedes Menschen. Wie er damit fertig wird, ist seine Sache. In einem wohlgelebten Leben können die beiden inneren Signale »sinnvoll« und »sinnlos« zu einer Art Verkehrsampel werden.
Viele Angriffe sittenstrenger Theologen und Philosophen auf die Sinne entsprangen einem erstaunlichen Mißverständnis. Wir lesen in frommen Traktaten nur von Sinnenlust, Sinnenfreude, verderblicher Sinnlichkeit. Jene Weisen merkten offenbar nicht, daß auch der Schmerz eine sinnliche Angelegenheit ist, daß Häßlichkeit nur durch die Sinnesorgane übermittelt wird, daß Trauer, Scham, Ekel erst einmal durch Sinneseindrücke angeregt werden. Man müßte von Sinnenfreude und Sinnenleid reden, um diesen Erscheinungen gerecht zu werden. Damit kann man dann die Sinne voll bejahen: man kann Sinn in den Sinnen finden.
Die Leere des Lebens ist leider wieder einmal ein Hauptproblem der westlichen Zivilisation. Das taedium vitae des ausgehenden Römerreiches, die neurotischen Verödungsbestrebungen puritanischer Perioden zeigten ähnliche Bedrohungen. Prinzipiell anders aber ist 140
unsere Reaktion: statt Gerichtetheit anzustreben, wird die Organisation immer zirkelhafter, und das Individuum fühlt sich immer mehr eingekreist. Wir werden Nummern; was früher nur Häftlingen auferlegt war, das hat jeder amerikanische Bürger jetzt zu erfüllen: seine social security number, die Nummer, die ursprünglich nur das Altersversicherungsamt anging, wird auf jedem Formular verlangt, von Eingaben an die Regierung bis zu Versicherungspolicen und Kreditkarten. Der Mensch wird fast identisch mit seiner Ziffer, auch sein Wohnsitz wird mit einer Zahl identifiziert. Aber kann man sich in einer Postleitzahl zu Hause fühlen? Kann eine vollrunde Persönlichkeit in eine platte Lochkarte verwandelt werden ? Die zahlreichen und oft sehr phantasievollen Gegenbestrebungen gegen die Aushöhlung des Lebenssinnes wirken sich manchmal wohltätig, manchmal zerstörerisch aus. Jugendliche werden von Gangstergruppen an- und aufgesogen. Räubereien und Rauschgift liefern das attraktive Abenteuer, mit dessen Hilfe die jungen Menschen der Ausleerung entgehen wollen. An Erwachsene wenden sie sich nicht gern um Sinngebungen, und Berufsziele sind allzu abhängig von Konjunkturschwankungen. Eine Zwickmühle. Die größte Schwierigkeit der Erwachsenen, den jungen Leuten (und auch einander und sich selber) die Sinnleere auszureden, liegt darin, daß man diese eben nicht logisch widerlegen kann. Da man für das vielfältige Leben lebt, läuft es auf unendlich geduldige, praktische Kleinarbeit hinaus, wenn man Halbwüchsigen weiterhelfen will. Ich will nicht verfehlen, hier den durchaus veralteten, aber auch durchaus exzellenten Ernst von Feuchtersieben (1806-1849) zu empfehlen, der gegen die Hypochondrie zu Felde zieht: »Von dem Nichts kann man sich nur dadurch retten, daß man es ewig verneint; ein verneintes Nichts ist ein Dasein, und es gibt kein anderes Dasein als Tätigkeit, welche zugleich der reinste, eigentlich der einzige Genuß lebendiger Wesen ist.«
Blinde Kinder haben manchmal die schlechte Angewohnheit, ihre Augenhöhlen zu pressen oder zu schlagen. Nach einigem Schimpfen und Studieren fanden die betreuenden Personen heraus, daß die Kinder auf diese Weise Lichtempfindungen in ihren abgeschlossenen Gehirnen erzeugten. Die nie von außen her angeregten Sehnerven wurden durch Druck oder Schlag zu ihrer spezifischen Empfindung angeregt, die dem Gehirn eben Licht bedeutet. 141
Die jungen Leute, die leichtfertig halluzinogene Drogen konsumieren, ahnen gar nicht, wie ähnlich sie diesen schrecklich armen blinden Wesen sind, die Visionen nichtexistenten Lichtes pro jizieren. Bei einigen jener Kinder stellte sich übrigens später heraus, daß man ihr Augenlicht operativ hätte wiederherstellen können, wenn sie nicht ihre Augenbälle beschädigt hätten.
Neben der Adoleszenz, wenn die Zwecke sich noch nicht »für das Leben« stabilisiert haben, ist das Rentneralter das gefährdetste, da die gewohnten Lebenszwecke des Berufs unvermittelt versiegen. Mit 65 Jahren steht ein noch gesunder, relativ starker Mensch vor dem Tor seiner Fabrik oder seines Büros und weiß nicht recht, warum es ihm verschlossen ist. Amerikanische Statistiken zeigen, daß die Sterberate unter den Altersversorgten sprunghaft ansteigt und viel höher wird als unter den älteren Arbeitern; dies dauert ein Jahr, dann entspricht sie wieder dem Durchschnitt. Ein Jahr braucht der »veraltete« Mensch, um das Leben wieder der Mühe wert zu finden. Mit der technologisch verursachten Arbeitslosigkeit wird dieses Dilemma wohl immer größer werden. Die protestantische Ethik verlangte beinah, daß Arbeit ihre eigene Belohnung, ihr Selbstzweck sei; jedenfalls galt Muße nur als erholsame Vorbereitung für weitere Arbeit. Ein Drittel des Tageslaufs war von außen her zweckvoll; ein Drittel versank im Schlaf; nur für das restliche Drittel mußte man seine Begabung zur Sinnschöpfung entwickeln. Ist der »im besten Mannesalter« stehende Arbeitslose als solcher schon ein Problem? Früher betrachteten es die Adligen als ihr Privileg, daß sie keine körperliche Arbeit zu leisten hatten; Jagd, Kampf, Intrige, Erotik boten genügend Energieentladung. Ein freier Bürger der Antike und Renaissance war stolz und glücklich, nicht schwitzen zu müssen und Zeit für kulturelle Bestrebungen zu haben. Erst der westeuropäischen industriellen Revolution des neunzehnten Jahrhunderts galt alles Faulenzen als Schande. Heutzutage verdirbt das negative Wort »Arbeitslosigkeit« dem Müßigen den Geschmack an seinem alltäglichen Freizeitüberschuß. Daß aber die Muße nicht stets minderbewertet werden muß, kann man beobachten, wenn einer während seiner bezahlten Arbeitsstunden eine heimliche Ruhepause einlegt: diese Muße genießt er sehr. Doch wird der Verlust des regulären Arbeitsplatzes als schwer erträglich empfunden. Dabei dichtete noch Richard Dehmel
(1863-1920) erschütternd über die Bedrängnis der Arbeiter, denen nicht etwa »das bißchen Kleid« fehle, sondern »nur Zeit«. über die Nöte und Ängste der Arbeitslosen kann sich kein politisches System hinwegsetzen; um sie zu bekämpfen, genügt keine mechanistische Arbeitsbeschaffung. Die Zielsetzungen müssen auf das Leben bezogen sein. Lebensechte Aufgaben sollten doch in großer Anzahl vorhanden sein. Mag sein, daß die Probleme eben überlebensgroß sind, daß Umweltverschmutzung, Krankheit und Hunger nur organisatorisch in den Griff zu bekommen sind; dennoch: der Einzelinitiative bleibt genug zu tun übrig. Einsame alte Leute, minderbemittelte Kinder warten nur darauf, daß jemand sich Zeit für sie nimmt. Kranke sehnen sich nach ein bißchen Hilfe und Unterhaltung, Alkoholikern kann durch Ablenkung und freundliche Gesellschaft geholfen werden. Vom simpelsten Hobby bis zur ehrgeizigen Kunstproduktion stehen Betätigungen offen. Angesichts unserer relativ kurzen Lebensspanne kommt es mir ganz unwahrscheinlich vor, daß jemand zuviel Zeit haben sollte.
Die Menschheit hat meistens einen Kraftüberschuß. Wenn dieser nicht gerade durch Pest, Kriege und Hungersnöte abgezapft wird, verwenden ihn die Regierenden gern für Pyramidenbauten oder Kreuzzüge, für die uneinsichtige Bewegung riesiger Menschen- und Materialmassen. Das schlichte Sichausleben in bescheidenem Umfang produzierender und konsumierender Leute erscheint den willensstarken Führungsspezialisten als Vergeudung. Die Leiter und dann auch die Geleiteten halten ein Ziel für notwendig, das über den Alltag hinausweist. Zweifellos könnte man diesen Sinnvektor, diese Gerichtetheit menschlicher Bestrebungen besser ausnützen, um die Lebenshaltung und die Kultur zu fördern. Brauchen wir wirklich die oftmals hahnebüchenen Extravaganzen — Palastbauten, Weltausstellungen, Heldenempfänge -, um uns zu konzentrierten Kraftentfaltungen aufzuraffen? Könnten wir nicht die Begeisterung und Organisation aufbringen, um unsere Gerümpellandschaften zu reinigen, Barakkenlager, Slums und Favelas in menschenwürdige Wohnstätten zu verwandeln, Krankheit und Hunger zu besiegen? - Wenn man Sanierungsfeldzüge so gezielt ansetzen würde, wie man heute olympische Spiele aufzieht, mit genauer zeitlicher Begrenzung, mit 143
räumlich und finanziell einmaliger Planung, könnte man bestimmt auch nüchterne Alltagsziele in einem großen Begeisterungsrausch erreichen. Man darf nur keine uferlose, permanente Anstrengung in Aussicht stellen, bei welcher Wiederholungen und Kreisbewegungen unvermeidlich würden. Eine Regierung oder ein Ausschuß müßte so etwas wie ein Sanierungsfestival proklamieren: bis dann und dann wird der und der Stadtteil völlig renoviert, und danach könnt ihr dort wieder eure Ruhe haben, während eine andere Gegend saniert wird.
Da für die Psyche der Satz von der Erhaltung der Energie und Masse nicht gilt, so folgt, daß ein expansiver, freudiger Mensch sich nicht mehr verbraucht als ein vorsichtiger, griesgrämiger. Der Geist ist das, was aus dem öden Stoffwechselkreislauf hervorquillt, ohne durch Konstanzregelungen behindert zu sein. Es ist also lohnender, seinen Geist allseitig interessiert zu tummeln, als sich dumpf einzukapseln. Das Denken an sich — im doppelten Sinne - bringt nicht weiter.
Sind wir frei? Rousseau sagte: »Der Mensch ist frei geboren, überall liegt er in Ketten.« Das Wort Freiheit hat schon so etwas Berauschendes, Hinreißendes, daß man damit die Menschen zu größten Anstrengungen und Opfern aufrufen kann. Hiermit ist jedoch keine absolute, sondern eine praktische Freiheit gemeint: niemand verlangt die Freiheit, nach Belieben ein rotes Verkehrslicht zu überfahren oder in einem vollen Theater »Feuer« zu schreien. Man will spezielle Freiheiten: wirtschaftliche Freizügigkeit, politische Rede- und Versammlungsfreiheit, Selbstbestimmungsrecht eines Stammes. Hinter all diesen Teilfreiheiten lauert aber eine zutiefst bedrängende Frage: Ist der Mensch überhaupt fähig, frei zu wählen - ist nicht jede seiner vermeintlichen Entscheidungen schon durch vorgegebene Ursachen bestimmt? Falls die grundlegende Wahlfreiheit dem Menschengeschlecht nicht gegeben ist, was nützen dann liberale Konzessionen auf Einzelgebieten? Es läuft also letztenendes auf die unbequeme, jahrtausendelang diskutierte Frage der Willensfreiheit hinaus. Fatum, Kismet, Gnadenwahl: diese Zwangsvorstellungen werden heute allerdings weitgehend in das Gebiet des Aberglaubens 144
verwiesen. (Ich vermeide es, auf astrologische Vorbestimmung und okkultistische Beeinflussung unserer Handlungen einzugehen: trotz ihrer modischen Beliebtheit sind sie meiner Problemstellung zu fremd.) Jedoch erfolgt der theoretisch fundierteste Angriff auf das Freiheitsprinzip heute von der exakten Naturwissenschaft her. So schreibt etwa Dean E. Wooldridge (in Mechanical Man, 1968): »Der freie Wille bietet kein Problem - er existiert einfach nicht.« (Das englische free will müßte man wohl als »Willensfreiheit« übersetzen; man sollte sich hierbei nur der Tautologie bewußt sein: einen »unfreien Willen« kann es ja nicht geben. Wenn wir überhaupt einen Willen haben, dann sind wir eben frei.) Wooldridge erklärt: »Die rein physikalischen Eigenschaften unserer Neuronenstrukturen sind ausreichend, um ohne weitere Stimuli, außer den von der äußeren Umgebung gelieferten, automatisch solche intellektuellen Handlungen hervorzubringen wie diese: erwägen, entscheiden, leiten, berichtigen und auswählen.« Er nennt den Menschen folgerichtig eine Maschine. Mechanistische Einseitigkeit bestimmt viele Gedankengänge der modernen Soziobiologie. Edward O. Wilson beispielsweise beginnt sein Buch On Human Nature (1978) mit der Prämisse: »Wenn das Gehirn eine Maschine ist, die aus zehn Milliarden Nervenzellen besteht, und wenn der Geist irgendwie als die summierte Tätigkeit einer endlichen Anzahl von elektrischen und chemischen Reaktionen erklärt werden kann, so beschränken diese Grenzen die Aussichten des Menschen. Wir sind biologische Gebilde, und unsere Seelen können nicht frei fliegen.« Spinoza schrieb ehrlich und entsagend: »Freiheit ist die Anerkennung der Notwendigkeit.« Im Jahre 1748 formulierte David Hume: »Wie wir auch uns einbilden mögen, daß wir Freiheit in uns fühlen, so kann doch ein Beobachter im allgemeinen unsere Handlungen aus unseren Beweggründen und aus unserem Charakter vorhersagen; und sogar wo er das nicht kann, schließt er doch, daß er es könnte, wenn er völlige Kenntnis von jedem Umstand unserer Situation und unseres Temperamentes besäße und die geheimsten Triebfedern unserer Eigenheiten und unserer Neigungen kennte. Nun, dies ist die Quintessenz der Notwendigkeit.« Wenn wir versuchen, willkürlich unsere Handlungsweise zu ändern und bei der Wiederholung anders vorzugehen, so ist der »phantasievolle Wunsch, unsere Freiheit zu beweisen, hier der Beweggrund unserer Handlungen.« Also wiederum Unfreiheit - unentrinnbar? 145
Als Schutzheiliger der Deterministen thront seit altersher Buridans Esel über dieser Diskussion. Das gute Tier, wahrscheinlich von Jean Buridan zu Paris vor 1350 erfunden, steht noch immer genau in der Mitte zwischen zwei gleich attraktiven Bündeln Heu und verhungert dort entschlußlos. Ein unglaubwürdig eselhaftes Verhalten. Ergänzend schreibt Konrad Lorenz hierzu, daß eine radargesteuerte Rakete tatsächlich zwischen zwei Flugzeugen hindurchfliegt, wenn die beiden Ziele genau symmetrisch auftauchen. Er berichtet ferner - und dies verleiht Buridans sagenhaftem Esel eine etwas stärkere Glaubwürdigkeit — daß Goldfische weniger Wasserflöhe fangen, wenn ihnen zu viele gleichzeitig dargeboten werden: vor zu vielen Attraktionen versagt ihre Entschlußkraft. - Dies bedeutet aber nur, daß die Qual der Wahl existiert, und nicht, daß die Wahl nicht existiert. In Wirklichkeit ist es zweifellos so, daß Buridans Esel nicht verhungert, sondern wählt. Man hört jedenfalls nichts von dergestalt verhungerten Tieren oder Menschen. Eine Eisenkugel, an einen berechenbaren Punkt zwischen zwei Magneten gelegt, bleibt still liegen. Aber ein Tier ist nun einmal kein eiserner Gegenstand, es ist kein stabiles System. Seine Lebensvorgänge sind gerichtet. Buridans Esel entscheidet sich vielleicht für das rechte Heubündel, weil er »rechtsbeinig« ist oder weil er ein Bewegungsnachbild vom letzten Schritt an den Platz her in sich trägt. Selbst wenn all seine Impulse für ein paar Sekunden im Gleichgewicht sind, kommt aus seinem Inneren, aus seinem Blutkreislauf oder Nervensystem irgendwann ein neuer asymmetrischer Antrieb, der den Ausschlag gibt: er selber, der exemplarische Esel, hat dann gewählt, ohne jeden äußeren Anstoß. i Vielleicht entscheidet er sich für das rechte Heubündel, weil eine Blähung von rechts nach links seine Gedärme durchwandert und ihm links Unbehagen verursacht, von dem er sich wegwendet. Gehört diese Gasblase zu seinem Ich? Dann ist er es, der wählt, das ist klar. Aber kann Gas ein integraler Bestandteil eines Esels sein? Vielleicht doch nicht; also ist es eine äußerliche Ursache gewesen, die ihn für die Rechtswendung entscheiden ließ? Andererseits: sein Gedärm gehört doch zu ihm! Das Ich ist ja kein physikalischer Begriff, sein Aktionsumfang ist in verschiedenen Situationen verschieden weit; aber im Falle der erwähnten Entscheidung muß man doch das Motiv als zum Ich gehörend anerkennen. Ich habe absichtlich dieses allzuirdische Beispiel gewählt, um zu zeigen, aus welch rauhem Stoff manchmal die Motive unserer 146
Handlungen bestehen. Nicht immer; oft sind es sublime Triebe zur Verwirklichung des Wahren, Guten und Schönen, die unsere Handlungsweise bestimmen. Aber ebenso oft sind es ganz prosaische Ursachen. Napoleon verlor die Schlacht von Waterloo, weil ihn seine Hämorrhoiden plagten. Der englische Geschichtsschreiber Colin Cross berichtet, daß Napoleon am 16. Juni 1815 den Sieg in Greif weite vor sich hatte, nachdem er Wellington in eine unhaltbare Stellung gedrängt hatte. Aber in jener Nacht erlitt er eine Attacke von Hämorrhoidalentzündung und schob deshalb seine eigene Attacke gegen die Engländer auf, so daß Wellington seine Streitkräfte neu gruppieren konnte. Die Frage nun ist: Waren die Hämorrhoiden ein integraler Teil von Napoleons Person? Wenn nicht: dann verlor vielleicht nicht er die Schlacht, sondern ein äußeres Mißgeschick beraubte ihn des Sieges? Der Schmerz der Entzündung hingegen muß bestimmt zu seinem Ich gerechnet werden. Da er diesen Schmerz nicht besiegte, war es doch er selber, der verlor. Ich möchte nicht zuviel auf Buridans Esel herumreiten. Sogar der überzeugteste Kausalist muß doch wohl zugeben, daß in der Situation des labilen Gleichgewichts niemand wirklich vorhersagen kann, ob der Esel in der Mitte verharren, ob er das linke oder das rechte Heubündel vorziehen wird: dazu müßte man etwa Elektroden in seinen Schädel einführen, um seine »Gedanken«, seine Entschlußbildung zu lesen; und danach würde er vielleicht anders wählen als ohne Elektroden. Wenn das Beobachtungsfeld durch den Vorgang der Beobachtung unbestimmbar verändert wird, dann wird ein Experiment nicht als wissenschaftlich gültig angesehen. Prophezeiungen, die auf ihre Erfüllung Einfluß nehmen, sind gemogelt. David Hume (1711-1776) war überzeugt, daß man schlechthin alles Wichtige über das Verhalten der Menschen aus der Geschichtsbetrachtung erfahren könne. »Die gleichen Beweggründe bringen stets die gleichen Handlungen hervor. Gleiche Ereignisse folgen auf gleiche Ursachen. Ehrgeiz und Geiz, Eigenliebe, Eitelkeit, Freundschaft, Edelmut, Gemeinsinn: diese Leidenschaften, zu verschiedenen Graden vermischt und durch die ganze Gesellschaft verteilt, waren seit dem Anbeginn der Welt - und sind heute noch - die Quellen aller Handlungen und Unternehmungen, welche jemals beim Menschengeschlecht beobachtet worden sind.« 147
Humes Determinismus führte ihn zu unvorsichtigen Vorhersagen. »Sollte ein Reisender uns aus einem fernen Land einen Bericht bringen, in welchem Menschen völlig verschieden von solchen wären, mit denen wir jemals vertraut waren - Menschen, die keinen Geiz, keine Ehrsucht oder Rache kennen sollten, die nur das Vergnügen der Freundschaft, des Großmutes und des Allgemeinwohls anstrebten —, so würden wir ihn sofort als Lügner entlarven, und zwar mit der gleichen Sicherheit, als wenn er seinen Bericht mit Kentauren, Drachen und Wundern gespickt hätte.« Einen Bericht über das friedfertige, würdevolle asiatische Volk der Hunsa hätte der schottische Philosoph also a priori für unglaubwürdig erklärt. Auch die Semai in Malaya, die niemals ihre Kinder körperlich bestrafen und bei denen Mord unbekannt ist, hätte er in den Bereich der Fabel verwiesen. Hume dachte in seiner zitierten Betrachtung ja auch keineswegs kausal, sondern attributiv: ein Fehler, der unserem Denken allzuoft unterläuft. Wenn wir einem Lebewesen bestimmte Eigenschaften zuschreiben, so glauben wir, damit seinen Charakter und seine Verhaltensweise erklärt zu haben. Das heißt aber, den Karren vors Pferd zu spannen; oder vielmehr vor Buridans Esel. Dieser fehlerhafte Prozeß geht folgendermaßen vor sich: Wir beobachten und registrieren verschiedene Handlungen eines Individuums. Daraus formulieren wir seine Eigenschaften, die wir nun als ständige Attribute diesem Wesen zuschreiben; aus diesen statischen Eigenschaften, die angeblich ein unveränderlicher Bestandteil der betreffenden Persönlichkeit sind, glauben wir, mit Sicherheit künftige Handlungen vorhersagen zu können. Am täuschendsten wird dieser Eigenschaftskalkül, wenn er unsere Erwartungen bestätigt: dies ist aber oft nur ein Zeichen, daß das betreffende Individuum durch die Umwelt in das von ihm erwartete Verhalten hineingezwungen worden ist. Gänzlich unzuverlässig wird diese induktive Denkweise dann, wenn es sich um so unendlich komplizierte Gebilde wie Völker, Klassen, Religionsgruppen handelt. Nicht einmal solche klar erscheinenden Etiketten wie »weibliche Eigenschaften« lassen sich zur Voraussage weiblichen Verhaltens benutzen: es wird immer Frauen geben, deren Verhalten »aus dem Rahmen fällt« und männliche Beobachter und Kritiker in Bestürzung versetzt; worauf dann die gängigen Definitionen der Weiblichkeit neu formuliert, fixiert und wiederum mißbraucht werden. Die Deterministen bestehen darauf, daß die Starrheit unserer 148
Reaktionen Prophezeiungen über unser künftiges Verhalten ermöglicht. Hume war überzeugt, daß »ein Beobachter unsere Handlungen aus unseren Beweggründen und aus unserem Charakter vorhersagen« könne. Diese Behauptung wäre glaubhafter, wenn Hume, der den französischen Charakter genau studierte, daraus die Französische Revolution vorhergesagt hätte. Solche Voraussicht war ihm versagt - so wie allen Sterblichen.
Der Mainzer Biologe Rudolf Bilz erzählte mir von einer bedauernswerten Möwe, der man grüne Farbe aufs Gefieder tupfte und die — jetzt nicht mehr unter den Begriff der weißen Möwe fallend — von ihren Artgenossen totgehackt wurde. Wir Menschen haben das gegenteilige Verfahren entdeckt: um künstliche Gruppen zu erzeugen, ziehen wir unseren jungen Männern Uniformen an. Dies bringt dann »Eigenschaften« der verkleideten Individuen hervor, aus denen sich automatisch das Verhalten in immer neuen aggressiven und defensiven Situationen vorhersagen und erzwingen lassen soll. Welche im wörtlichen Sinne verdrehte Welt!
Der einflußreichste Angriff auf unsere Entscheidungsfreiheit erfolgt heute vom Behaviorismus her, besonders von B. F. Skinner. Auf der Basis erfolgreicher Dressuren von Ratten und Tauben schlägt Skinner vor, daß man auch Menschen durch operant conditioning zu ihrem eigenen Heil leiten kann und soll. Auf Freiheit und Menschenwürde soll hierbei ausdrücklich verzichtet werden. Daß bei Skinner der Wunsch der Vater des Gedankens ist - daß bei ihm der Drang, die Menschen zu manipulieren, den Vorrang vor der wissenschaftlichen Beobachtung hat -, geht aus einer Äußerung hervor, die er bereits 1953 machte, bevor seine Lehre weltberühmt wurde (in Science and Human Behavior): »Wenn wir wissenschaftliche Methoden auf dem Gebiet der menschlichen Belange anwenden wollen, so müssen wir annehmen, daß das Verhalten gesetzmäßig und determiniert ist. Wir müssen zu entdecken erwarten, daß das, was ein Mensch tut, das Resultat von spezifizierbaren Bedingungen ist, und daß, sobald diese Bedingungen entdeckt worden sind, wir seine Handlungen vorhersagen und in gewissem Ausmaß bestimmen können.« 149
Folgerichtig empfiehlt Skinner programmierte Erziehung, kontrollierte Umgebung, konditionierte Reaktionen in allen Lebenslagen. Eine trostlose Aussicht.
Die verschiedenen Lehrmeinungen, die zielgerichtete Entwicklungen in der Welt für möglich halten, werden unter dem Namen Teleologie zusammengefaßt. Heute werden alle ideologischen Vermutungen und Dogmen von der exakten Wissenschaft als mystisch verurteilt. Die Lehre, daß ein Ziel zeitlich vorauswirken und die Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft gestalten kann, wird verachtungsvoll negiert oder ignoriert. Insbesondere haben die Darwinisten allen Erklärungen von Formen durch deren Zweck den Krieg angesagt. Ein Auge ist nicht zum Sehen da, sondern es sieht, weil es zufällig da ist. Alfred North Whitehead machte sich schon 1929 auf elegante Weise über dergleichen Physiologen und Psychologen lustig: »Viele Wissenschaftler haben geduldig Experimente veranstaltet mit dem Zweck, ihren Glauben, daß tierische Handlungen keinen Zweck verfolgen, zu belegen. Sie haben Artikel verfaßt, die beweisen sollen, daß der Mensch hierin den anderen Tieren gleicht, so daß >Zweck< eine belanglose Kategorie für die Erklärung seiner Körperfunktionen ist - ihre eigene Tätigkeit Inbegriffen. Wissenschaftler, die von dem Zweck beseelt sind, ihre eigene Zwecklosigkeit zu beweisen. bilden ein interessantes Studienobjekt.« Inzwischen ist die »zweckfreie Wissenschaft« noch mächtiger geworden. Daß der Mensch ein Ideologisches Wesen ist, daß seine Gedanken und Bewegungen am besten verstanden werden können, wenn man sie nicht nur als kausal bedingt, sondern außerdem als zweckhaft ausgerichtet betrachtet, geht für mich aus der folgenden physiologischen Beobachtung hervor: Das menschliche Auge bewegt sich typischerweise nur rasch und ruckweise. Versucht man langsam in gleichmäßiger Bahn den Blick über den Himmel schweifen zu lassen, so entdeckt man bald, daß dies nicht funktioniert: die Blickbewegung wird zucken, in kurzen und längeren Abständen hängenbleiben. Führt man hingegen den Zeigefinger in ebenmäßiger Bewegung vor dem Himmel vorbei und fixiert mit dem Blick die Fingerspitze, so werden die Augen ihr völlig gleichmäßig in entsprechend langsamer Bewegung folgen. (Man kann das prüfen, indem man die Linie des 150
Nachbildes, wenn die Sonne neben dem Finger am Himmel steht, beobachtet: im ersteren Fall erscheint diese Einbrennung auf die Netzhaut ruckhaft, knotig, irregulär, im zweiten Fall als glatte Linie.) Wenn das Auge sich den Zweck setzt, einem fahrenden Auto zu folgen, bewegt es sich gleichmäßig; wenn es zwecklos durchs Zimmer schweift, bleibt der Blick an hundert Ecken und Enden hängen. Zwei sehr unterschiedliche Verhaltensweisen also. Hiermit ist dargelegt, daß das Auge nicht von den Augenmuskeln her dirigiert wird, sondern vom Sehen her, das heißt vom Objekt, von seinem Zweck her. Das Auge verhält sich zielgerichtet, also ideologisch! Das gleiche gilt für die arbeitenden Hände: die rechte und die linke Hand werden durch ganz verschiedene Muskelkontraktionen betätigt und erreichen doch, wenn gewünscht, ohne Zögern das gleiche Ziel. Der Zweck dirigiert die Tätigkeit, zweckhaftes Handeln hat andere Möglichkeiten und Gesetze als zweckfreies Existieren in den Zwischenpausen. Der Mensch kann sich erstaunlich sinnvoll verhalten. Dies trifft auch auf Tiere zu. Verhaltensforscher haben experimentell festgestellt, daß die Zielvorstellung einer andressierten Handlung ausschlaggebend ist. Man hat einer Ratte im Irrgarten beigebracht, Sackgassen und Umwege zu vermeiden und möglichst rasch zu einem Köder zu rennen. Später hat man den Irrgarten überschwemmt und die Ratte zu ihrem Ziel schwimmen lassen. Jede Einzelbewegung der Ratte mußte im Wasser anders werden als in der Luft, und doch erreichte sie ohne Zögern ihr Käseziel. Die Muskeln der Ratte waren also nicht auf Reflexbewegungen konditioniert. Sogar diese arme Ratte verhielt sich nicht kausal, sondern final. Nicht die Mechanik unserer Organe kommandiert unser Leben, sondern umgekehrt. Nach einem Schlaganfall schafft sich das Blut oft einen Umweg um die zerstörte Ader, es benutzt und erweitert Nebenadern. Man kann dies ursächlich beschreiben, sicherlich; die Beschreibung vom Zweck her ist jedoch der Natur entsprechender - natürlicher. Mit Entelechien oder göttlicher Vorsehung hat dies wohl nichts zu tun. Der Körper regeneriert sich um des Lebens willen. Wir leben um des Lebens willen.
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Teleologie und Kausalitätsglaube sind eben nicht unvereinbar. Die Entwicklung des Samenkorns zum Baum kann kausal beschrieben werden durch Erforschung aller biochemischen Vorgänge: eine sehr komplizierte, aber im Prinzip mögliche Beschreibungsart. Die gleiche Entwicklung kann gleichermaßen logisch durch die Zielvorstellung beschrieben werden, die das Samenkorn in sich trägt: es verwirklicht die vorgegebene Gestalt des erwachsenen Baums, es führt den in ihm schlummernden Entwurf aus. Ob die Wurzeln nun stellenweise Steine, Lehm, Hohlraum, Sand antreffen, sie tasten sich doch durch den Untergrund vorwärts, bis sie ungefähr die gleiche symmetrische Gestalt auf allen Seiten angenommen haben. Die Umwelteinflüsse sind dabei fast bedeutungslos und wirkungslos, verglichen mit dem von innen her vorgegebenen Streben. Beim Menschen ist dieses Feedback noch deutlicher als beim Baum: Die Zielvorstellung wird zur Ursache unseres Verhaltens. (Schon Aristoteles sprach ja von »finaler Ursache«.) Das »immer wenn, dann« gilt als Kennzeichen einer kausalen Verknüpfung. Stimmt das ? Immer wenn die Uhr acht schlägt, dann betritt Herr Direktor Schulze sein Büro. Anscheinend haben wir hier eine induktive Gesetzmäßigkeit vor uns. — Aber die physiologischen Ursachen von Schulzes Handlungen sind jeden Tag verschieden: einmal hat er ein Ei zum Frühstück gegessen, das seine Kraftreserven auffrischte, ein andermal hat ein Hering ihm den morgendlichen Impetus gegeben. Einmal ging er zu Fuß, ein andermal nahm er ein Taxi: zwei völlig verschiedene Kausalreihen. Die Zielvorstellung, der Wille, um acht Uhr früh im Büro anzukommen, war der Beweggrund seines Handelns. Die physikalisch-chemische Kausalkette war schließlich für das Resultat unwichtig. Ein vorgestelltes, wahrgenommenes oder sonstwie magnetisierendes Ziel kann die Ursache einer Handlung, einer Entwicklung werden: Kausalität und Finalität ergänzen einander. So entsteht ein vielfältiges, unerschöpflich faszinierendes Muster auf dem Webstuhl des Lebens: Die Kettfäden sind von der Vergangenheit heraufgespannt, sie sind die Gegebenheiten in der Zeitdimension. Aber der Schußfaden des Zweckes fährt quer hindurch und verbindet sie zu einem sinnvollen Gewebe.
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Man könnte hierüber, wie seit Jahrhunderten, weiter hin und her theoretisieren, wenn es nicht eine praktische Nutzanwendung gäbe, die dringlichst eine Stellungnahme erfordert: nämlich das Problem der Verantwortung. Der Justizbetrieb verlangt gebieterisch, daß ein Täter so rasch wie tunlich abgeurteilt werde, daß das Ausmaß seiner Schuld festgestellt und mit entsprechender Sühne bedacht werde. Hier übersetzt sich das vage Verantwortlichkeitsgefühl ins Zahlenmäßige : soundsoviel Geld, soundsoviel Zeit müssen vom Schuldigen eingefordert werden. Darum müssen ethische Grundsätze in soziale Regeln übersetzt werden. Die Justiz des 20. Jahrhunderts fragt fast in jedem Straff all: Hat der Verbrecher frei gehandelt oder unter Zwang? Wenn er in kühlem Vorbedacht die Tat geplant hat, ist es seine Tat. Wenn aber zum Beispiel eine Geistesverwirrung ihn dazu veranlaßt hat, soll er nicht ganz so verantwortlich und deshalb weniger strafbar sein. Diese Unterscheidung ist jedoch nicht logisch. Wenn man den Geistesgestörten einsperrt, so sperrt man ja damit auch seine Psychose ein, also wird der schuldige Teil bestraft. Aber die Logik darf hier nicht entscheidend sein, Menschlichkeit ist in jedem Fall wichtiger, die Möglichkeit der Heilung muß gewährleistet werden, die Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit und die Gefahr für die Mitmenschen müssen abgewogen werden. Die relativistische Wende in der Jurisprudenz wurde erstmals 1924 deutlich, anläßlich des Mordfalls Leopold und Loeb in Chicago. Zwei verwöhnte junge Männer, Richard Loeb und Nathan Leopold, hatten ohne jeden Grund, einfach aus Sensationslust, einen vierzehnjährigen Jungen umgebracht. Der berühmte Rechtsanwalt Clarence •Darrow unternahm es, die beiden vor dem elektrischen Stuhl zu retten, indem er auf Verantwortungslosigkeit als milderndem Umstand plädierte: »Was hat dieser Junge damit« (mit seiner eigenen Mordtat) »zu tun? Er war nicht sein eigener Vater; er war nicht seine eigene Mutter; er war nicht seine eigenen Großeltern. Er hat sich nicht gemacht. Und doch soll er gezwungen werden zu bezahlen.« Darrow gewann, die Verbrecher kamen mit lebenslangem Zuchthaus davon - was damals noch durchaus ungewöhnlich war -, und die Rechtsprechung hat seither das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit immer weiter einschränken müssen. Wenn Darrow recht hätte, daß kein Mensch für seine Taten verantwortlich gemacht werden kann, weil die Kausalbegründung einer Handlung sich bis vor die Geburt des Täters zurückverfolgen 'aßt, so dürfte auch keiner einen Nobelpreis erhalten, denn seine 153
Erbmasse und die Umstände, die seine Leistung ermöglichten, waren nicht sein Verdienst. Normalerweise aber hat ein erwachsener, durchschnittlich gesunder, in praktikabler Freiheit lebender Mensch genügend Möglichkeit zur Willensentfaltung, daß man ihn selbst, seine eigene Person, als Ursache seiner Aktionen einschalten kann und soll. All die juristischen Rezepte für die Menschenbehandlung — Belehrung, Zwang zur Wiedergutmachung, Abschreckung, Kur, Kastrierung, Folter, physische Ausschaltung — wurden und werden weiter von Fachleuten und Laien endlos abgewogen. Der Zeitgeist wird den Juristen jeweils verschiedene »Gerechtigkeiten« suggerieren. All dies sind praktische Probleme. Doch bleibt die Aufgabe, die Frage der Verursachung theoretisch weiter zu verfolgen. Wenn einer mit vorgehaltenem Revolver zu einer Untat gezwungen wird, betrachtet man ihn als nicht verantwortlich, obgleich seine Nachgiebigkeit gegen Drohungen wirklich sein Fehler gewesen sein mag. Wenn der Revolver gleichsam in ihm drinnen ist - nämlich als Fanatismus, Hurrapatriotismus, Gangstertum — so streitet man über seine Verantwortlichkeit. Wenn der Revolver sozusagen ein Teil seiner Persönlichkeit ist - also wenn er sich selbst als Berufsrevolutionär bezeichnet, wenn er ein gewerblicher Mörder oder ein Individuum ohne jeden Moralsinn ist - so isoliert oder vernichtet die Gesellschaft die Bedrohung mitsamt der Person. Das »Mördersein« ist also graduell verschieden, je nach dem inneren Zwang. Es ist nicht eine statische Eigenschaft, die einer ein für allemal hat oder nicht hat. Hier kommt zur Geltung, was man eine starke Persönlichkeit zu nennen pflegt. Michelangelo war die Ursache seiner Schöpfungen; wer könnte das bestreiten? Daß die Medici und Papst Julius der Zweite seine Werke bestellten, also im engsten Sinne verursachten, ist für die Verteilung des Verdienstes von sekundärer Bedeutung. Genau dies wird aber von den Behavioristen geleugnet. Ich sah einmal Professor Skinner während eines Fernsehinterviews, als er müde wurde und vielleicht Sätze durchschlüpfen ließ, die er beim ruhigen Schreiben zensuriert hätte. Die Frage wurde gestellt, ob irgendein beliebiger Mann, in die gleichen Umstände wie Michelangelo versetzt, auch diese Kunstwerke hervorgebracht hätte. »Ohne jeden Zweifel,« sprach Skinner und redete gleich über andere Dinge weiter. 154
Ich bin fest überzeugt, daß der Determinismus - der »Immer wenn, dann«-Komplex — für wichtige menschliche Entscheidungen keine wesentliche Rolle spielt. Zahlreiche alte und neue Bedenken gegen psychischen Determinismus lassen sich in drei grundsätzliche Einwände zusammenfassen. Erster Einwand: »Immer wenn, dann« - diese Kausalreihe ist beim Menschen unmöglich zu prüfen. Die Prüfung könnte nur durch Wiederholung erfolgen. Aber wenn eine Handlung wiederholt wird, ist der Handelnde ein wenig älter und vielleicht gleichgültiger geworden, die Engramme der ersten Ausführung in seinem Gehirn lassen sich nicht auslöschen, seine Absichten sind allein schon durch die Tatsache der Wiederholung umgefärbt; zuviele Ursachen und Anregungen wirken auf ihn ein, als daß man noch vom »gleichen Versuch« reden könnte (so wie in einer chemisch reinen Retorte oder im Rattenkäfig viele identische Versuche möglich sind). Man kann schlechterdings nicht behaupten, daß ein Mensch immer auf die gleichen Ursachen gleich reagiert, dies wäre eine wissenschaftlich unbeweisbare These. Das »immer wenn, dann« scheitert nicht an der Konklusion, sondern an der Prämisse: das »immer wenn« findet nicht statt. Der weise griechische Satz: »Du kannst nie zweimal in den gleichen Fluß steigen« betrifft nicht nur die Wandelbarkeit des Flusses; auch das Du ist nie zweimal das gleiche. Ergo: Es gibt keine hundertprozentig sichere Voraussage menschlichen Verhaltens.
Zweiter Einwand gegen den psychischen Determinismus: Das Ich ist flexibel. Das Ich saugt bei jeder Tat aufs neue verschiedene Ursachen in sich auf, es wird als Ganzes, inklusive vieler Ursachen, zum Täter. Wenn es später die Ursachen wieder ausscheiden will - wenn es etwa sagt, es habe nur auf höheren Befehl gehandelt - so ist dem entgegenzuhalten, daß zunächst die Empfänglichkeit für den Befehl ein effektiver Bestandteil seiner Ichstruktur gewesen sein muß: sonst hätte dieses Ich auf jenen Befehl schon nicht reagiert. Die Verantwortlichkeit als Aura des Ichs wechselt mit jeder Handlung, ist aber stets, größer oder kleiner, vorhanden und gehört daher jeweils zum Ich. Ergo: Der Mensch ist für seine (guten und schlechten) Taten verantwortlich. 155
Dritter Einwand gegen den psychischen Determinismus: Die Handlungen des Menschen sind nicht vorherbestimmt, obgleich das Kausalgesetz gilt (wenn nicht in galaktischen und inneratomaren Bereichen, so doch in der mittleren Sphäre unserer irdischen Belange). Denn Kausalität und Vorbestimmtsein sind keine identischen Prinzipien. Zum Vorausbestimmen gehört eine totale Abbildungsmöglichkeit, und diese gibt es nicht. Um einzelne Ereignisse vorhersagen zu können, genügt es keineswegs, allgemeine Gesetze zu kennen; es genügt auch nicht, die Begriffe zu kennen, unter welche sich einzelne Gegebenheiten subsumieren lassen. Man müßte sämtliche Tatsachen einzeln kennen, die irgendwann irgendwo Einfluß auf das Kausalgeflecht genommen haben und noch nehmen können. Dies hieße: eine komplette Duplizierung der Welt in einem einzigen Gehirn. Dergleichen ist offensichtlich unmöglich (außer für einen Weltgeist, und dieser wäre dann mit der Natur identisch, wie Spinoza das annahm). An dieser Stelle der Diskussion wird oft Werner Heisenbergs Unbestimmbarkeitsprinzip ins Feld geführt. Heisenberg hat nachgewiesen, daß wir innerhalb des Atoms nicht feststellen können, wo ein Elektron sich gerade befindet, wenn wir wissen, wie schnell es sich bewegt, und umgekehrt: wir können nur entweder seinen Ort oder seine Geschwindigkeit kennen. Die Physiker erkennen an, daß diese Unbestimmbarkeit kein Fehler der Beschreibung ist, sondern daß sie eine prinzipielle Unmöglichkeit darstellt. Wenn etwas prinzipiell nicht verifiziert werden kann, so kann es auch nicht das Objekt einer wissenschaftlichen Aussage sein. Genauso ist es unmöglich, den künftigen Verlauf eines Menschenlebens vorherzusagen, ganz gleichgültig, ob das Kausalgesetz menschliche Handlungen eigentlich, in der Welt der Dinge an sich, determiniert oder nicht. Was wir nicht verifizieren können, dürfen wir auch nicht behaupten. Sogar wenn wir kausal funktionieren, so funktionieren wir deshalb doch nicht auf vorhersagbarer oder auf vorherbestimmter Bahn. Ergo: Wir können nicht programmiert werden. Damit scheint mir die uralte Antinomie von Bedingheit versus Willensfreiheit aufgehoben, das Problem ist praktisch gelöst. Wir sind frei, uns über unsere Freiheit ganz maßlos zu freuen!
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Die theoretischen Angriffe auf unser persönliches, geliebtes Freiheitsgefühl unterliegen seltsamen - und einander widersprechenden - geistigen Modeströmungen. Früher war es der Glaube an Prädestination durch dämonische und göttliche Mächte: dieser Aberglaube wurde in zyklischer Wiederkehr anbefohlen und zerstört. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand man sich fast hypnotisch zu der Idee hingezogen, daß die Menschen erblich belastet seien, daß Charaktereigenschaften oder krankhafte Entartungen unserer Vorfahren unausweichlich unser Schicksal festlegen. Diese Leitidee gab etwa Zolas Romanserie eine packende Folgerichtigkeit; heute erscheint sie als geringes Problem. Danach wurde die Bestimmtheit durch ökonomische Verhältnisse als entscheidend angesehen, ihre Gesetze erschienen so zwingend wie Naturgesetze. (»Der Regen fällt immer nach unten, und du bist mein Klassenfeind.«) Auch diese Fixation dürfte im Abflauen begriffen sein. Ererbte Gene, vererbbare Krankheiten und Belastungen, erbliche Genialität: all diese beeinflussen jedes Individuum von innen her, und von außen her wirken wirtschaftliche, geistige, militärische Organisationen auf jede persönliche Entscheidung ein. Aber daß eines das andere ausschließen sollte, ist schlechterdings nicht zutreffend. Schließlich und endlich führen Einflüsse nur dann zu individuellen Entscheidungen, wenn der Mensch sich solchen Einwirkungen öffnet. Damit ist das Individuum selber wiederum in den Entscheidungsprozeß eingeschaltet. Falls man sich zu sehr darauf verläßt, daß die Leute in gleichen Situationen immer gleich handeln, kann es einem ergehen wie jenem österreichischen Monarchen, dem gemeldet wurde: »Majestät, die Bürger machen Revolution!« Worauf Majestät erwiderten: »Revolution? Jo derfen's denn das?« Es gibt keine scheußlichen oder edelmütigen Handlungen, zu denen sich im Verlauf unserer Geschichte nicht irgendwann einmal Menschen entschlossen haben. Wer sich in gewissen Zeiten zu absolut auf das angeborene Gute oder auf die Erbsündigkeit, auf Unterwürfigkeit oder auf Freiheitsliebe, auf ökonomische Bedingtheit oder wirtschaftliche Privatinitiative verläßt, muß zu seinem Schaden erkennen, daß das menschliche Verhalten vielleicht statistisch, nicht aber kausal vorhergesagt werden kann. Verunklärend kommt hinzu, daß jeder Mensch einen Fundus an tnergie in sich hat, der eine Handlung auslösen kann, so wie der Flintenhahn die Kugel auf den Weg schickt: nicht die Energie des Hahnes gibt der Kugel ihre Durchschlagskraft. Deshalb kann das 157
schwächste Motiv, am richtigen Punkt angreifend, gigantische Wirkungen auslösen; und ein offensichtliches, gradlinig zu verwirklichendes Interesse bleibt manchmal wirkungslos. Das Aufsaugen von Ursachen in das Ich, so daß die Ichstruktur selbst durch neue äußere Gegebenheiten verändert wird, ist möglicherweise das entscheidende Phänomen. Die Erfahrungen und Belehrungen, die das Individuum von außen erhält, werden ein integraler Teil seiner Person. Ein Physikstudent erhält Arbeitsmethoden, Ansichten und Hypothesen von einem älteren Professor; diese helfen ihm nur, wenn er sie absorbiert und in sein Ichgefüge aufnimmt; und wenn er dann zwanzig Jahre später den Nobelpreis erhält, hat eben nicht sein Lehrer, sondern sein eigenes Ich diese Anerkennung verdient. William James beschreibt, wie er an einem eiskalten Wintermorgen im Bett lag und sich nicht zum Aufstehen entschließen konnte; kein Motiv für seine Willensentfaltung war stark genug, aber im Prinzip wollte er sich doch erheben. Später entdeckte er, daß er aufgestanden war, und zwar gedankenlos, ohne zeitlich festlegbaren Willensimpuls. Durch James angeregt, habe ich in ähnlicher Lage ein bißchen Introspektion betrieben. Wenn ich mir abends vornahm, besonders früh am nächsten Morgen aufzuwachen, so fand ich, daß mein Ich die hierzu nötigen Anstöße von außen her aufsog. Ich hörte, noch im Schlafen, einen Hahn krähen; dann, im Halbschlaf, hörte ich Milchflaschen vor der Tür klappern usw. Ich hätte diese Störungen einfach überhört, wenn ich mir nicht den Willen zum Aufwachen abends eingeprägt hätte. Mein Wille benutzte diese Motive, mein Ich entschied. Trotz der äußeren Ursachen verhielt ich mich final, ich hatte die Wahl, die Motive zu akzeptieren. Ich war für mein frühes Aufstehen verantwortlich. Können wir wollen? Wollen wir wollen? Können wir wollen wollen? So läßt sich wie in einer Spiegelgalerie endlos der Punkt verfolgen, an dem der Wille einsetzt; man kann ihn immer weiter zeitlich rückwärts hinausschieben. Dies ist die Schwierigkeit, wenn man streng kausal denken will. Aber sobald man die Beobachtungsweise umdreht und final denkt — also wenn man die Reihe von psychischen Stadien vor der Handlung als gerichtet beurteilt -, löst sich die Schwierigkeit auf, und der individuelle Wille wird klar und einleuchtend. Ist dies ein philosophischer Taschenspielertrick ? Kaum; denn es ist unmöglich, durchs Kausalgeflecht zurückzudenken bis zu einer prima 158
causa hin. Einen Ansatzpunkt des Willens, dem keine Motive vorausgingen, gibt es nicht. Aber das Ich des Täters ist die Ursache der Tat, denn dieses Ich absorbiert und enthält die Motive. Der psychische Energiefundus, den ein Individuum schon als Kind zu erwerben beginnt, ist unbezweifelbar Teil seines Ichs, auch wenn er nicht manifest in Erscheinung tritt. Diesen Fundus von Charakterstärke, Wissen, Willensreserven kann das Individuum, wenn Entscheidungen gefordert werden, einsetzen und damit alle Berechnungen eines etwaigen Gegners zuschanden machen. Mehr noch: ein Erzieher oder Vorgesetzter kann diesen Fundus so aktivieren, daß die Reserven in ganz neuer Richtung wirken, die dem Individuum vorher kaum bekannt und bewußt gewesen sein mögen. Solche Möglichkeiten machen den Anhänger der Willensfreiheit menschenfreundlicher und optimistischer als den Fatalisten.
Von welch sinnlosen Zwangshandlungen die Menschheit geplagt wird! Ein Beispiel: Seit undenklichen Zeiten trat jeden Morgen im Park des Schlosses Zarskoye Selo ein Soldat an, um eine bestimmte Stelle zu bewachen. Durch die Jahrhunderte hindurch löste eine Wache die andere ab, und erst nach der Revolution erkundigte sich jemand, was denn an diesem leeren Rasenfleck so bewachenswert sei. Man ging der Sache nach und fand, daß Katharina die Große dort ein Veilchen gesehen und einem Gardisten befohlen hatte, das Blümchen zu schützen. Der Soldat war abgelöst worden und gestorben, niemand hatte Fragen gestellt, die zwanghafte Energieverschwendung war weitergegangen - und das Veilchen mag aus dem Veilchenhimmel kopfschüttelnd auf die törichte Menschenwelt herabgelächelt haben. Dies hübsche und harmlose Exempel zeigt, wie die Aufdeckung der Herkunft eines Brauches sofort das irrational Zwanghafte beseitigt und damit oft den Brauch auflöst. Wieviele unserer Sitten, Gesetze, Speise- und Anstandsregeln mögen auf solche längst verwesten »Veilchen der Kaiserin« zurückgehen? Wieviel Formelkram hindert uns an der Ausübung unseres freien Willens?
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Die Auseinandersetzung zwischen Wahlfreiheit und Determinismus mag angesichts der katastrophalen Zustände in gewissen Ländern zu gewissen Zeiten weltfremd erscheinen. Wo die Presse geknebelt und die Oppositionellen eingesperrt sind, wo der Hunger als Hebel des Konformismus angewandt wird, wo Reformen als Verrat bezeichnet werden: dort stellt man sich »die Freiheit« dinglicher und dringlicher vor. Dennoch: wenn die theoretischen Grundlagen nicht geklärt sind, werden oft auch praktische Verbesserungen behindert oder für unmöglich gehalten. Nur wenn wir uns als willensfrei ansehen dürfen, können wir auf die Einwirkung von Menschen rechnen, die guten Willens sind. Wir haben gefunden, daß die drei großen Feinde des Lebenssinnes — der Tod, der Überdruß und die Mechanik des Lebensablaufs — sich klar umschreiben und in ihre naturgegebenen Bereiche zurückweisen lassen. Sie sind keine überwältigenden Phantome, vor denen wir ohne Unterlaß in Furcht und Zittern existieren müßten.
Oft ist versucht worden, unsere Menschenwelt sub specie aeternitatis, unter dem Blickwinkel der Ewigkeit, oder wie ein Besucher von einem anderen Stern zu betrachten. Dies ist Selbstüberhebung. Möglicherweise kann der Output eines leidenschaftslosen Computers, wenn unser Denken ihn verarbeitet, uns die Illusion verschaffen, daß wir aus dem Kokon unseres Menschseins ausgeschlüpft seien. Aber irgendwann müssen sich unsere Gedanken doch wieder an anschaulichen Modellen orientieren. Wir können nicht heraus aus dem Menschentum. Der Mensch ist das Maß und die Mitte seiner Welt. Unsere gesamte Kulturgeschichte währte vielleicht Zwölftausend Jahre, also nur den fünftausendsten Teil der Tertiärzeit. Ist sie deshalb zu verachten? Keineswegs. Die Existenz gewisser radioaktiver Elemente wird in Tausendsteln einer Sekunde gemessen; vergleicht man diese Zeitabschnitte mit unserer Geschichte, so müßten unsere Belange fast unendlich wichtig erscheinen. Sie sind wichtig — für uns selber, unabhängig von der Dauer. Denn unsere Zeit ist unsere Zeit.
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Jeder Tag, den du erlebst, bringt ein Erwachen, Tätigkeiten, Enttäuschungen und Befriedigungen. Am Abend möchtest du vielleicht länger wachbleiben, noch Wichtiges erledigen oder Amüsantes aufnehmen. Du kämpfst gegen die Schläfrigkeit. Mit einiger Energie kannst du sie ein paar Stunden lang besiegen. Aber dann türmt sich die schwarze Wand immer näher vor dir empor und wird unübersteigbar. So rollst du dich schließlich zusammen und gibst dich zufrieden. Ein unbegrenztes Kontinuum des Wachseins ist uns nicht gestattet und wäre auch gar nicht wünschenswert. So ist das Leben ein Aufwachen zwischen zwei unendlich langen Schlafperioden. Nach unvorstellbar langem Schlummer öffnest du die Augen, gewöhnst dich erst langsam ans Wachsein, reißt Augen und Ohren auf vor Verwunderung über die bunte, zwitschernde, krachende, wehtuende, von sanfter Wärme zu Siedehitze und wieder zu grausamer Kälte wechselnde Welt. Du gewöhnst dich daran und glaubst fast, dieser Wachzustand sei das Übliche und könnte ja auch ewig dauern wie, rückblickend, der vorherige Schlaf. Diese Idee legst du bald ad acta und machst dich damit vertraut, daß du wieder in den Schlaf zurücksinken mußt; wann? Das weißt du nicht. Und dann lebst du Stunden, Tage, manchmal Jahre im dumpfen Halbschlummer dahin, die Zeit vertreibend - deine einzige Zeit. Könnten wir nur die Stunden des Wachseins richtig bis aufs äußerste ausnutzen, hellwach hinausschauen mit weitgeöffneten Augen, mit unerbittlicher Sinnenschärfe die eigene Tiefe ausloten, jede Gehirnzelle und jeden Muskel freudig und tätig zur Funktion bringen; könnten wir das Menschengewimmel um uns her als Bestandteil unseres übergeordneten Menschheitsorganismus auffassen und die Natur als Hilfe und Herrlichkeit suchen und genießen; könnten wir die Außenwelt als vollwertig anerkennen, die auf unsere Sinne angewiesen ist und deren Qualität wieder vergehen muß, sobald wir die Augen zum zweiten Schlaf schließen: ja, könnten wir nur einen Teil der Zeit überwach sein — dann wäre unser ganzes Leben der Mühe wert.
Was können wir also tun? Ich habe dargelegt, warum der projizierende Menschengeist eine fast unbeschränkte, eben eine geisterhafte Macht entfalten kann. Wenn wir ferner anerkennen, daß der Mensch sehr weitgehend zur freien Willensbildung fähig ist, so ergeben sich ungeheure Wirkungs161
möglichkeiten. Der Geist — und ich meine hier wirklich den kühl abwägenden Intellekt - der Geist muß die Entwicklungschancen unserer Spezies steigern, indem er die gefährliche Trieberbschaft aufarbeitet, die wir noch von unseren tierischen Vorfahren und vom Steinzeitmenschen her in uns mitschleppen. Zu dieser Erbschaft oder Belastung gehören, kurz zusammengefaßt: die Leithammelmentalität (zuzeiten auch Führerprinzip genannt); diese enthebt uns jeder wichtigen Entscheidung, gerade wenn wir den freien Sinn am nötigsten hätten. Ferner: die unflexible Hackordnung, die es Individuen schwer oder gar unmöglich macht, eine ihren Fähigkeiten gemäße Stellung im sozialen Gefüge einzunehmen. Hierher gehört auch die an eng begrenzte Landstriche gebundene, »hinterwäldlerische« Moralität; in ihrer provinziellen Beschränktheit macht sie es allzu leicht, alle Moralsysteme als örtlich und zeitlich bedingt zu entwerten, was wiederum den relativistischen Soziologen, Erziehern und Juristen ermöglicht, jeden absoluten Moralgrundsatz a priori abzulehnen. Wir sollten uns nachgerade entschließen, großzügige Moralgebote anzuerkennen, die der ganzen Menschheit gemein sind und die dem Leben dienen. Weitere Bestandteile der gefahrbringenden Tiererbschaft sind das Rudelverhalten und das exklusive Territorialgefühl. Dieser kurze Überblick zeigt schon die weite Verzweigtheit primitivistischer Normen und Verhaltensweisen in unserer anderweitig so fortgeschrittenen Gesellschaft. Am schädlichsten und bedrohlichsten sind wohl die fremdenfeindlichen Territorialansprüche. Eine Epoche, die Hochhäuser errichtet, darf nicht mehr in den Begriffen flacher Landstrecken denken. Wenn Menschen in dreistöckigen Häusern wohnen, ist die Bewohnbarkeit ihrer Siedlung um das Dreifache gesteigert. Da diese Multiplikation aber auf der Landkarte nicht ersichtlich wird, streiten Gruppen weiterhin um Gebietsfetzen. Das gleiche gilt für landwirtschaftliche Areale: der Ertrag eines kleinen, wohlgepflegten Ackers kann heute das Vielfache dessen betragen, was ein vernachlässigtes Gebiet erzeugt, aber auch dies kommt auf der Landkarte nicht zur Geltung. Es ist viel wichtiger, die Erdoberfläche intensiv auszuwerten, als extensive Ansprüche durchsetzen zu wollen. Nur weil der Neandertaler keine Düngemittel, keine Fahrstühle, keine Zentralheizung und keine Schnelltransportmittel hatte, dürfen unsere Territorialtriebe die technologische Umgestaltung nicht ignorieren. Das Großhirn muß dem Kleinhirn die Leviten lesen. Das klare, vorurteilslose Denken kann uns dahin bringen, daß wir 162
s in der Welt zu Hause fühlen. Schon einmal, im Römerreich mit seiner pax romana, war es den beweglicher gewordenen Bürgern möglich, überall im Mittelmeerbecken zu sagen: ubi bene, ibi patria - wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland. Die Kehrseite des Territorialsyndroms ist die Angst vor der Einkreisung. Eine Ratte, im Hinterhof in die Enge getrieben, verfällt in aggressive Panik; ein Spatz nicht, er pickt in der gleichen Distanz unbekümmert weiter und beäugt den Eindringling nur so nebenher. Seit ein Ballon 1871 aus dem belagerten Paris entkam, hat sich der bedrohliche Aspekt der Territorialgebundenheit weiter verflüchtigt; die Berliner Luftbrücke von 1949 hat diese dreidimensionale Befreiung endgültig unter Beweis gestellt. Vielleicht müssen wir all das als veraltet ansehen, was mit dem Urverhalten des Rudels zusammenhängt. Für Jäger, die das Mammut in die Falle locken wollten, war die Rudelorganisation unerläßlich. Die Mitgliederzahl der Jagdpartie war dadurch streng begrenzt, daß die Männer in Rufweite zusammenbleiben mußten, um kooperieren zu können. Infolge des Fernmeldewesens können heute beliebige Zusammenschlüsse gleich nützlich sein, sie brauchen bei der Größenordnung der Nation nicht stehenzubleiben. Die Gruppe könnte sich ohne weiteres zur Menschheit ausweiten, und ihre Wirkungskraft würde dadurch nur gesteigert. Das immer umfassendere Wirgefühl kann den Neandertaler in uns überwinden. Jäger mußten sich darauf verlassen können, daß die Mitglieder ihres Rudels in gleichen Situationen stets gleich reagierten. Sie mußten darauf vertrauen, daß Gefahren, Entbehrungen und Belohnungen nach einem bestimmten, als gerecht empfundenen Schlüssel verteilt wurden. Dies brachte wohl Übereinkünfte zuwege, die schon als Moral formulierbar waren. Später übertrug man die Moralgrundsätze auf einen Stamm, dann auf ein ganzes Volk, und die Kohäsion der überschaubaren Gruppe ermöglichte es, solche ethischen Vorschriften aufs strikteste durchzusetzen. Doch wurde auch mit der regionalen Ausweitung die Moral nicht absolut. In matriarchalischen Gesellschaften galt Vielmännerei als natürlich, in patriarchalisch organisierten Stämmen wurden Ehebrecherinnen gesteinigt. Der Kindermord war bei einigen Völkern ein notwendiges Ritual, bei anderen wurde er mit der Todesstrafe geahndet. Montaigne beklagte diese Wechselhaftigkeit der Bewertungen: »Was soll das Gute sein, dem man gestern Kredit gab, aber nicht mehr morgen, und das beim Überqueren eines Flusses zum Verbre163
chen wird? Was für eine Wahrheit ist das, die durch diese Gebirge begrenzt wird und die den Leuten jenseits der Berge als Irrtum gilt?« Im reiselustigen neunzehnten Jahrhundert sammelten die Völkerkundler genauere Beobachtungen über die Relativität von Bräuchen und Gesetzen, und diese Feststellungen führten viele Anthropologen und Philosophen dazu, eine verbindliche Moral überhaupt in Zweifel zu ziehen. Diese Skepsis gipfelte in unseren Tagen mit der sogenannten Situationsethik in dem Glauben, die Verhaltensregeln jedem Einzelfall anpassen zu sollen. Eine solche Aufweichung der Maßstäbe läßt keine Leitung der Jugend und keine Normen für Erwachsene mehr zu. Aber schließlich leugnen wir ja nicht die Erkenntnisse unserer Astronomen, nur weil wir wissen, daß die Systeme der Sternkundigen innerhalb weniger Jahrhunderte mehrmals umgeworfen wurden. Wir können schlechterdings nicht leugnen, daß die Moral, sogar wenn sie als relativ und wandelbar anzusehen ist, doch stets und überall vorhanden war. In jedem Kulturkreis, wann und wo auch immer, wird der einzelne, der die geltenden Sitten verletzt, als unmoralisch bestraft oder ausgestoßen. Vermeintlich gesetzlose Gangstergruppen sind sogar besonders rigoros in der Durchsetzung ihres eigenen pervertierten Ethiksystems. Thieves' honor, die Ehre unter Dieben, ist in ihrer Art verläßlicher als manche in alten Gesetzbüchern schimmelnde Statuten einer ehrbaren Bürgerschaft. Das Denken in immer mehr ausgeweiteten Gruppen führt überraschenderweise dazu, daß wir die Absolutheit vieler Bausteine eines Ethiksystems erkennen, anstreben und hoffentlich einmal durchsetzen können: einer Ethik, die den Dienst am Leben als letzte Instanz ansieht.
Mancherlei Modelle des Zukunftsmenschen werden feilgeboten. Vor noch nicht gar so langer Zeit propagierte man die eingleisige Steigerung zum Herrenmenschen; als Vorbild galt der Übermensch, der mit dem Hammer philosophiert, der das Mitleid in sich und die Untermenschen ringsum ausrottet. Heute wird oft der Homo technicus projiziert: eine Weiterbildung des Homo faber, des weltlich schaffenden Menschen. Dieser wurde als diametraler Gegensatz zum Homo contemplativus empfunden. In Wirklichkeit tragen wir alle wohl beide Zielbilder in uns, und zu verschiedenen Zeiten unseres Daseins kehren wir das eine oder das andere hervor. Doch darf der 164
Homo technicus nicht in das ausarten, was Mephisto »kristallisiertes Menschenvolk« nannte; und der kontemplative Mensch kann sich nicht in die künstlichen Paradiese von Rauschmitteln und Illusionen verabschieden, ohne der Menschenwelt Kräfte zu entziehen, die zu grundsätzlichen Reformen und auch schon zur Aufrechterhaltung des normalen, freundlichen Lebens benötigt werden. Welches Menschenmodell hätte Aussicht auf Verwirklichung ohne allzu gewaltsame Umwälzungen? Welches Zielbild erscheint den Meisten als natürlich und bequem realisierbar? Johann Gottfried Herder schrieb: »Der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als er selbst ist.« Das Ziel ist klar: Da wir nun einmal Menschen sind, wollen und sollen wir immer bewußter, immer ausgesprochener in unserer Menschlichkeit werden. Der Mensch als Aufgabe ist noch lange nicht erfüllt. Ist es nicht bedeutsam, daß in vielen Kultursprachen das Adjektiv »menschlich« gesteigert werden kann? Menschlicher, am menschlichsten - plus humain - the most humane. Dies ist nicht ohne weiteres selbstverständlich: froschiger, stubenfliegenhafter ergäbe keinen Sinn und keine mögliche Steigerung. Von allen widersprüchlichen Eigenschaften des Menschen hat die fast unbewußte Weisheit der Sprache die milderen als typisch herausgegriffen: Altruismus, Schonung, Friedfertigkeit, Mäßigung, Hilfsbereitschaft, Achtung vor dem Mitmenschen. Einzig bei diesem Charakterbild braucht der Mensch sich selber nur die kleine Nachsilbe »-lieh« anzuhängen. Welche Hoffnung liegt darin beschlossen! Unsere vorgezeichnete Steigerung ist, ganz schlicht und einfach, der menschlichere Mensch. Wir brauchen keine von außen her gesteckten Ziele und Zwecke, keine von Göttern, Priestern, Militärs verwalteten Imperative, um den Wert des Menschenlebens zu steigern. Alles, was vonnöten ist, ist die schrittweise Selbstverbesserung des Lebens - um des Lebens willen.
Zusammenfassung Optimistisches Manifest
»Drei Wünsche kann ich dir erfüllen,« sagte die Fee zum Kind. Die ersten zwei waren normale, beschränkte Wünsche. Dann aber äußerte das Wunschkind seine dritte Bitte: »Ich möchte drei Wünsche von dir erfüllt bekommen.« Und so fort, ins Unbegrenzte.
Von jeher schwankte der Mensch zwischen maßloser Selbstüberschätzung und depressiver Selbstverleugnung. Die Antike glaubte mit Protagoras, der Mensch sei das Maß aller Dinge; Kopernikus löste unsere Erde aus ihrer Mittelpunktsstellung heraus und versetzte unserem Egoismus einen tiefen Schock; Darwin gab unserem Selbstbewußtsein einen weiteren Nasenstüber, indem er unsere Spezialsteilung in der Schöpfung aufhob. So ist die bisweilen durchbrechende nihilistische Stimmung des modernen Menschen verständlich: er sieht keinerlei göttlich oder schicksalhaft angeordneten Zweck in seinen Aufgaben und Taten. Er schaut zu den Milchstraßen auf und fühlt sich als ein Stäubchen. - Aber mit genau dem gleichen Recht könnten wir uns auch mit den Atomen vergleichen und uns als göttergleiche Riesen empfinden! Realistischer ist die Ortung, die Pascal uns verschrieb: »Der Mensch ist eine Mitte zwischen Nichts und All.« Die Mitte zu bilden, das ist die uns gemäße natürliche Aufgabe. »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst,« schrieb Goethe. Aber war Goethes Leben nicht zweckvoller als das Dasein des Sisyphus? Wie, wenn jemand zufällig nicht Goethe ist? Könnte es jedem genügen, nur für das Leben zu leben, ohne sich für übergeordnete Ziele aufzuopfern? Wäre »Leben um des Lebens willen« nur ein endloser Zirkel? Nicht, wenn das Leben als solches ein begehrenswertes Gut ist; nicht, wenn es eine Gerichtetheit enthält. Da sich die früher jeweils als allgemeinverbindlich empfundenen und proklamierten Ziele mystischer, abergläubischer, provinzialpatriotischer Art sämtlich als enttäuschend herausgestellt haben, muß heute das Individuum seine eigenen Zwecke mit einer persönlichen Entscheidung akzeptieren. Kein Sinn ist von oben oder von außen her vorgegeben. Wenn eine konkrete Bestrebung als lebensfördernd erscheint, wird sie als sinnvoll empfunden. Aber ist das Leben so 169
geartet, daß man es als Hauptfaktor in der individuellen Sinngebung ansehen darf? Ist das Leben der Mühe wert? Was ist das Leben? Das Leben sei Kampf, lesen wir bei Demokrit, Spencer, Nietzsche, Darwin; dem Tüchtigsten gebührt der Sieg, die Untüchtigen werden ohne Bedauern vernichtet. Dies ist eine völlige Verfälschung unseres »menschlichen« Weltbildes, es stimmt ganz einfach nicht mit den beobachtbaren Tatsachen überein. Von den Eintagsfliegen, die am Abend sämtlich ungefressen in ihren sanften Tod hinsinken, bis zu den Elefanten, die feindlos ihre physiologisch gegebene Zeitspanne ausfüllen, gibt es unzählige Wesen, die niemals als Futter dienen und niemals andere Tiere verzehren. Die Ameisen, die mengenmäßig die überwiegende Erdbevölkerung bilden, werden selten getötet. Aber die Schwalbe? Sie saust den ganzen Tag durch den Luftraum und schnappt Tausende von lebenden, leidenden Insekten. Dies beruht darauf, daß es in der Luft keine Mimikry geben kann; deshalb müssen solche Insekten, die in der Luft leben wollen, durch ungeheure Fruchtbarkeit die Benachteiligung wettmachen. Damit ermöglichen sie erst die Schwalbe. Ein grausamer Vorgang? Bestimmt. Wo es ohne Fleischfressen nicht abgeht, macht die Natur durch Zuchtwahl den Fresser so tüchtig wie möglich. Jedoch betrifft die fleischverwendende Kreislaufmethode nur schätzungsweise ein Zwanzigstel aller Tiere. Man behauptet, Raubtiere seien nötig, um die Schwächlinge auszuscheiden und so die Arten zu verbessern. Auch dies ist nur bedingt wahr. Die Büffelherden Nordamerikas beispielsweise lebten äonenlang, ohne durch kapitale Raubtiere belästigt zu werden, und zeigten doch keine Degenerationserscheinungen. Die unbedrohte Fauna auf Inseln bringt die phantastischsten und schönsten Lebensformen hervor. Biosophisch gesehen sind Kooperation und Liebe unendlich wichtiger als Haß und Kampf. Schon die urtümlichsten Bakterien nahmen lebendige, einzellige, grüne Algen unverändert in ihren eigenen Organismus auf, um sich deren Fähigkeit zur Photosynthese, also zur Ausnützung der Sonnenenergie, zunutze zu machen. Symbiose ist in der Natur mindestens so häufig und so entscheidend wie Konkurrenz. Wir müssen nur die übergeordneten Einheiten des Lebens zu sehen lernen. Ein Wald schützt und stützt seine Einzelglieder; Blätterdach und Waldrand bilden zusammen ein Organ, das unserer Haut vergleichbar ist, diese Hülle hält zerstörerische Stürme vom Waldesinneren ab, sie schirmt den Waldkörper gegen zu krassen Temperaturwechsel und Austrocknung. Vor allem bewahrt dieser 170
Schutzmantel den Wald vor wildwuchernder Übervölkerung, damit der Baumbestand nicht erstickt: altruistische Geburtenkontrolle. Das Ried wird vom Sprachgebrauch als Einheit anerkannt, kein Halm könnte sich einzeln gegen Wind und Wetter verteidigen. Die Menschen haben sich dieses Prinzip in bewußter Züchtung zunutze macht: ein Getreidefeld besteht aus individuell hilflosen Pflanzen, aber jede kann im Vertrauen auf ihre Geschwister viel mehr Energie in nahrhafte Körner verwandeln, anstatt sie für harte, dicke Stengel zu verschwenden. Jede solche Landschaftseinheit besteht aus sinnfällig gewordenen Hilfeleistungen. Eine Wiese will sich ausbreiten und gesund erhalten, sie heilt ihre Wunden, sie ist ein ganzheitlicher Organismus. All das führt zu hoffnungsvolleren Zielbildern als die darwinistische Vorstellung, das Leben sei Kampf und sonst nichts. Wenn das Dasein nur Krieg aller gegen alle wäre, in dem Mimikry das Allheilmittel ist, so hätten sich sämtliche Wesen zu graugrün getarnten, stachligen, übelschmeckenden Gebilden entwickelt. Wieso sehen wir aber ringsum prachtvolle, herausfordernd bunte Blüten, Falter, Fische und Vögel ? Weil es in der Natur nicht so hart auf hart geht. Nicht alles Auffällige wird gleich gefressen. Der Satz eines Biologen, der natürliche Tod sei eigentlich unnatürlich zu nennen, stimmt nachweislich nicht mit den Tatsachen überein. Natürlich ist es das Natürliche, eines natürlichen Todes zu sterben. Die Fortentwicklung der Lebensformen zeigt eine gewisse Launigkeit, ein sozusagen augenzwinkerndes Spielen mit den Gestaltungen. Viele uns interessant oder hochwertig vorkommenden Eigenheiten haben keinen Erbvorteil, der ihre Selektion in einer Kampfwelt erzwingen würde; gerade die schönsten Formen - Argusfasan, Paradiesvogel — sind in keiner Weise durch survival of the fittest zu erklären, sie dienen der Liebe, nicht dem Kampf. Für die meisten Blüten und Schmetterlinge gelten nur die Gesetze der ästhetischen Selektion: die Schöneren bevorzugen einander und steigern ihren Reiz gegenseitig durch Zuchtwahl über ungezählte Generationen hin. Vogellieder dienen nicht der Abschreckung von Territorialkonkurrenten, sonst wären sie, gleichfalls durch Zuchtwahl, immer krächzender, fauchender, eben abschreckender geworden ; sie dienen der ehelichen Bindung des Weibchens und dem eigenen Genuß des Sängers. Das Leben hat einen immanenten Hang zur Verschönerung. spielerische Prachtentfaltung der Formen und Farben ist an keinen Erdteil gebunden: Papageien und Kolibris in Südamerika, Fasan und Auerhahn in Europa, der Leierschwanz in Australien, der 171
Pfau in Indien: unabhängig voneinander haben sie alle das Prinzip der schönen Zurschaustellung entwickelt. Nur der Mensch hat sich diesem Verschönerungsverein noch nicht mit bestem Gewissen angeschlossen. Manchmal sieht es so aus, als wolle er allein die gesteigerte Schönheitsentfaltung der Biosphäre umkehren. Wir stellen stillose Fabriken und schäbige Wohnkästen in die Landschaft und denaturieren sie mit Rauch, chemischer Vergiftung und Abfallbergen. Haben wir dafür das höchstwertige Gehirn entwickelt? Viele warmherzige und weitblickende Menschen stemmen sich diesem Verfall entgegen. Blake wollte schon im Jahre 1802, daß wir die dark satanic mills, die finsteren satanischen Fabriken, durch ein neues Jerusalem ersetzen. Zweifellos bahnt sich eine deutliche, sehr bewußte Änderung an: die Menschheit entwickelt ein Gewissen. Wir müssen den Fortschritt, der in der phylogenetischen Entwicklung so augenfällig war, in die Zukunft hinüberretten.
Wie paßt der Homo sapiens in unser optimistisches Zielbild? Seine Geschichte war bislang, über weite Zeitstrecken und große Gebiete hin, der Bezeichnung sapiens durchaus nicht würdig. Hinund Herwogen von einander feindlichen Stämmen und Dynastien, Völkerschlachten und Versklavung, Mißachtung und Quälerei des einzelnen lassen oft keinerlei Gerichtetheit in der gewaltigen Anstrengung erkennen. Aber erstens steht nirgends geschrieben, daß dies auf immerdar so bleiben muß. Zweitens kann man, von den blutigen Oberflächenerscheinungen abstrahierend, das Geistesleben ins Auge fassen. Und da erkennt man selbstverständlich eine Richtung. Die Vermehrung des Wissens und der Erkenntnisse, die technischen und medizinischen Glanzleistungen, die weitverbreitete Reproduktion von Kunst, Literatur und Musik: es ist schlechterdings unmöglich, all dies nicht als Fortschritt zu bezeichnen. Daß wir in politischer und sozialer Hinsicht noch keine Ideale verwirklichen konnten, darf uns nicht zum Pessimismus verleiten: immer mehr Menschen wissen doch wenigstens, was hier wünschenswert wäre. Mancherlei Zwangshandlungen, Hemmungen, Tabus, die sich einem wahren Fortschritt entgegenstemmten, sind bereits in Auflösung begriffen. Zum Beispiel: kein Staatsmann erklärt es heute noch für seinen Lebenszweck, sich Kriegsruhm zu erwerben. Wer einst keine Schlachten schlug, konnte nicht in die Geschichtsbücher eingehen. Das ist vorbei. 172
Die beiden Männlichkeitsbeweise - nämlich daß man fruchtbar und furchtbar sein müsse - hoben sich jahrtausendelang gegenseitig auf und ermöglichten dadurch zwei krude Vergnügungen. Heute müssen beide, die Überproduktion von Säuglingen und von Erschlagenen, abgeschafft werden, beide sind zu gefährliche Gesellschaftsspiele geworden. Der Mensch kann seine schädlichen Triebe abbiegen und auf neue Zielsetzungen richten. Hierzu ist ihm ein einzigartiges Instrument verliehen. Der Menschengeist hat eine absolute Sonderstellung in der Natur: er ist das einzige Agens, das sich mit Überlichtgeschwindigkeit von den Atomen zu den Spiralnebeln und zurück bewegen kann. Durch die Hebelwirkung der Projektion kann er unvergleichlich stärker auf die Dingwelt einwirken, als dies die relativ schwache, weiche, verwundbare Physis des Menschen zu gewährleisten scheint. Was die Physik als unechte Bewegungen bezeichnet - also etwa Wellenbewegungen, bei denen sich keine Teilchen mit der Schnelligkeit der Welle fortbewegen, oder ein Leuchtturmstrahl, der über den Horizont streicht —, diese Scheinbewegungen werden im Denken, im Planen, in der Reorganisierung der Weh völlig real. Infolgedessen sind der Wirksamkeit des Intellekts auf vielen Gebieten überhaupt keine Grenzen gesetzt. Warum ihn nicht endlich zur Verarbeitung unserer ererbten Neandertalertriebe einsetzen? Wir Menschen sind durchaus imstande, uns durch den Lernvorgang — der in unsere eigenen Hände gegeben ist - grundsätzlich zu ändern, zu unserem Vorteil und zum Vorteil der Biosphäre. Das Lernen ist das Instrument für eine beschleunigte Adaptation an die technisierte Welt, deren von uns verursachte Modifikationen jetzt auf die Natur zurückwirken. Das Lernen ist mehr als Datensammlung und Komplizierung, es wandelt unseren Charakter. Es setzt zwanglos die Aufwärtsentwicklung fort, die im Tierreich seit Millionen von Jahren herrscht und immer tüchtigere, gescheitere und auch schönere Formen hervorbringt. Das Leben als solches weist vier immanente Vektoren (oder, ein wenig zu anthropomorph ausgedrückt, Absichten) auf: Das Leben will sich selbst erhalten — es will sich ausbreiten — es will sich befriedigen - und es will sich verfeinern. Dieser vierfältige Pfad des Lebens hat die Erdoberfläche angenehmer gemacht. Es war durchaus keine gradlinige Fortentwicklung, wieder und wieder gab es Stagnationen und Rückfälle; aber es war ja genügend Zeit vorhanden. Das Resultat ist, daß die Biosphäre subtiler und schöner wurde. Aus Algen wurden Apfelbäume, aus 173
Würmern wurden Pfauen. Der Mensch, als integraler Bestandteil der Biosphäre, erbte eine Erde, die ständig bewohnbarer geworden war. Als Naturwesen — das er auch ist - trug der Mensch die vier Hauptbestrebungen als Erbgut in sich: Selbsterhaltung - Ausbreitung - Befriedigung — und Komplizierung. Wenn die Befriedigung zur Befriedung, die Komplizierung zur wahren Zivilisation wird. dann steht uns die Zukunft offen. Neben den ererbten Eigenschaften kann der Homo sapiens beliebig viele neue Eigenschaften erwerben, die er im Kulturprozeß von Generation zu Generation weitergibt: dies ist das Gelernte. Eine prekäre, aber unerläßliche Mitgift! Die Anzahl vererbter Eigenschaften ist beschränkt, die Anzahl gelernter Aktionen und Reaktionen ist hingegen völlig unbegrenzt und unbegrenzbar. Dies ist der hauptsächliche Vorteil, den das Lernen vor der rein biologischen Entwicklung besitzt. Der Kultivierungsprozeß ist aber nicht unnatürlicher als die vorhergegangene Zuchtwahlentwicklung. Die scharfe Trennung zwischen biologischer und kultureller Entwicklung hat die unerwünschte Wirkung, daß man versucht ist, Natur und Kultur als Gegensätze zu empfinden. Sie sind jedoch beide Teile eines einzigen, gerichteten Prozesses. Der Mensch ist schon körperlich auch auf Kulturprodukte und zivilisiertes Denken angewiesen. Im Gegensatz zu allen Tieren kann er sich nicht zur Wasserfläche hinunterbeugen und trinken, das Wasser würde ihn durch die Nase ersticken: er braucht also ein Gefäß. Als der Mensch vom Affenbaum herunterkletterte und aufrecht durch die Ebenen streifte, blieb seine Anatomie unausgeglichen : seine Arme sind zu kurz, als daß er sie - aufrechtstehend — zur Bewältigung der Bodenaufgaben benutzen könnte. Alle anderen Langbeine haben physiologische, kompositioneile Ausgleichshilfen entwickelt: Strauß, Storch und Giraffe den langen Hals, Iguanodon, Känguruh und Wüstenspringmaus den langen Schwanz als drittes, stützendes Bein. Nur der langbeinige Mensch blieb unausgewogen und mußte zwangsläufig den Stab adoptieren: zum Graben, zur Abwehr, als Stütze des Greises. Die Idee des nützlichen Dinges, des Werkzeugs also, war physiologisch bedingt — und das bedeutet: natürlich. Sicherlich wirkte die Benutzung der verschiedensten Werkzeuge dann auch wieder auf die Zuchtwahl zurück, wir brauchten einfach keine Reißzähne, keine Klauen, keine haarige Haut mehr. Die Kultur ist kein fremdartiger Überlagerungsprozeß, sie ist ein integraler Teil unseres Wesens. 174
Zurück zur Natur«? Dieses Ideal hat nur Sinn, wenn es nicht bedeutet: Zurück zur Neandertalermentalität. Die Komplizierung, die die Kultur mit sich bringt und die uns oft seufzen macht, ist keine Entwertung, sie ist eine Steigerung der Naturentwicklung, die auch mit einfachsten Formen begann und ihre Vielfalt über Jahrmillionen hin ausbreitete. Ferien von der Mechanisierung müßten allen Menschen ermöglicht werden. Kein unlösbares Problem. Um die Zukunft zu bewältigen, steht dem Menschen außer dem Geist die Willensfreiheit zur Verfügung. Es ist sicherlich falsch, den Menschen als im vorhinein programmierte Maschine aufzufassen. Wir können wählen. Jeden Tag fällen wir zahlreiche Entscheidungen. Es sind nicht die Motive, die eine Handlung verursachen, sondern es ist der Mensch, dessen Psyche diese Motive enthält. Geschlossene Systeme (gewisse Fabriken, Ozeandampfer) können automatisiert und von mechanischen Piloten gesteuert werden; aber ein Automobil, das dauernd auf unvorhersagbare Umwelteinflüsse reagieren muß, ist auf einen Menschen mit Entscheidungsgewalt angewiesen. Welchen Sinn hätte ein Lenker, wenn er keinen freien Willen hätte? Das Ich steht zwischen Zielvorstellungen und bringt diejenigen zur Geltung, die ihm einleuchten. Das alte Schulbeispiel von Buridans Esel, der unentschlossen zwischen zwei gleich attraktiven Heubündeln verhungert, ist einfach nicht realistisch. Kein Esel und kein Mensch läßt sich von einem scholastischen Dilemma lahmen. Nicht die äußeren Ursachen allein treffen die Wahl zwischen zwei möglichen Aktionsweisen. Der Mensch ist jedesmal eine eingeschaltete Ursache, und das bedeutet, daß er - mit all seinen Erfahrungen, Theorien, Urteilen, Geschmacksrichtungen und Motiven - die Entscheidung fällt. Also sind wir frei. Wir können aufatmen: unser Schicksal ist sehr weitgehend in unsere Hände gegeben. Wir haben daher »Ursache«, das Leben als begehrenswertes Gut anzusehen. So eröffnet sich uns eine geradezu unglaubliche Elastizität, eine fast schrankenlose Fülle des Daseins. Wir wissen nicht, wie lang das Leben auf der Erde schon existiert. Noch vor einigen Jahren begnügten sich die Wissenschaftler mit fünfhundert Jahrmillionen. Neuerdings schätzt man das Alter fossiler Algen auf mehr als drei Milliarden Jahre. Sicher wird der Rückblick sich klären. Wie steht es um die Voraussicht? Wie lang wird das Leben seinen Willen auf diesem Planeten durchsetzen? Wir können die Frage stellen, auch wenn wir wissen, daß es keine 175
Antwort gibt. Eines wissen wir aber: daß der Lebensfunke, der vor unausdenklichen Zeiten entstand, nie wieder zu glimmen aufgehört hat. Wie eine olympische Fackel wird er von Hand zu Hand weitergereicht. Legt uns dies nicht eine Verpflichtung auf? Es genügt aber nicht, daß wir die entscheidenden Geschlechtszellen in den unbekannten, dunklen Strom der Zukunft hinausschicken. Wir müssen auch den Lebenswillen vererben — in einer Zeit weitverbreiteter Entmutigung keine leichte Aufgabe. Diese Jahrzehnte sind vielleicht die gefährlichsten der Weltgeschichte, der Engpaß im Stundenglas. Wenn die Weisheit die uralten Kampfinstinkte zähmen kann, dann hat das Leben eine Chance, abermals wenn nicht Milliarden, so doch viele Tausende von Jahren anzudauern; wir wollen ja nicht unbescheiden sein. Dann kann das Leben wie von jeher sich weiter ausbreiten, sich verfeinern und verschönern und seine Befriedigungen suchen. Wir müssen den Engpaß durchmessen, den Funken umsorgen und schützen, das Leben erhalten — um des Lebens willen.