Eckhard Rohrmann Mythen und Realitäten des Anders-Seins
Eckhard Rohrmann
Mythen und Realitäten des Anders-Seins Gese...
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Eckhard Rohrmann Mythen und Realitäten des Anders-Seins
Eckhard Rohrmann
Mythen und Realitäten des Anders-Seins Gesellschaftliche Konstruktionen seit der frühen Neuzeit 2., überarbeitete und erweiterte Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2007 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16825-8
5
Inhalt
Inhalt
I 1 2
Vorbemerkung..............................................................................................................9 Anliegen und Aufbau der Untersuchung ......................................................................10 Erkenntnistheoretische Aspekte ...................................................................................12
II 1
Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins.......................15 Theoretische Grundlagen und Prämissen der Theologie und Dämonologie des Anders-Seins ..........................................................................................................16 Gottes Engel und Luzifers Dämonen ...........................................................................17 Satanische Wollust: Über Erbsünde, Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft ....................22 Die Frau als Teufel in Menschengestalt und die heilige Jungfrau: Dämonologisch-theologischer Sexismus......................................................................28 Zur Phänomenologie und Ätiologie des Anders-Seins in theologisch-dämonologischer Sicht..............................................................................35 Hexen ...........................................................................................................................36 2.1.1 Ketzerei, Häresie und die Entstehung der Inquisition .......................................36 2.1.2 Die Verwissenschaftlichung des Hexenwesens ................................................39 2.1.3 „Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen“: Zur Praxis der Hexen-Inquisition..............................................................................................45 Besessene .....................................................................................................................50 2.2.1 Phänomenologie und Ätiologie.........................................................................51 2.2.2 Zum Umgang mit Besessenen: Der Exorzismus ...............................................53 Narren...........................................................................................................................58 2.3.1 Phänomenologie und Ätiologie.........................................................................58 2.3.2 Die Behandlung der Narren ..............................................................................61 Wechselbälger und Monstra.........................................................................................64 2.4.1 Phänomenologie und Ätiologie.........................................................................64 2.4.2 Naturwissenschaftliche Betrachtungen über Wechselbälger.............................65 2.4.3 Zur Praxis im Umgang mit Wechselbälgern und Monstra................................68
1.1 1.2 1.3 2 2.1
2.2 2.3 2.4
III Von der Dämonologisierung zur Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins ...............................................................................................................73 1 Begriffsbestimmung: Was ist ein Paradigma?..............................................................73 2 Der Paradigmenwechsel ...............................................................................................77 2.1 Von der Metaphysik zur Physik und vom Schöpfungsmythos zur Evolutionsbiologie .......................................................................................................77 2.2 Dialektik der Evolution und ihre Verkürzung in Biologismus, Sozialdarwinismus und Eugenik ..................................................................................82
6
Inhalt
3
Exkurs: Fortbestand und Bedeutung des überkommenen Paradigmas nach dem Paradigmenwechsel......................................................................................................90
IV 1 1.1 1.2
Mechanistisch-naturwissenschaftliche Erklärungsansätze des Anders-Seins.......93 Zur Fragmentierung der Menschheit nach Rassen .......................................................94 Von edlen Europäern und primitiven „Eingeborenen“.................................................97 Schmarotzer und ihr Wirtsvolk: Zum naturwissenschaftlich begründeten Antijudaismus ............................................................................................................106 Die kranke Rasse: Zur Pathologisierung der Juden....................................................108 Rassenkunde heute .....................................................................................................111 Das kranke und moralisch defekte Geschlecht: Geschlechterkonstruktionen und medizinisch-naturwissenschaftlicher Sexismus .........................................................114 Maschine Gehirn und die kranke Seele ......................................................................119 Das Gehirn als Seelenorgan .......................................................................................120 Von der Deszendenz zur Degeneration ......................................................................124 Von der biologischen Psychiatrie zur biologistischen Krankheitslehre .....................128 Von der Nosologie zur anosologischen Klassifikation...............................................135 Exkurs: Andere Ansichten von der Seele ...................................................................141 Das Psychische und seine Verbannung in die Black Box ..........................................143 Zur Konstruktion und Analyse des psychischen Apparats .........................................149 Ausgewählte Phänomenologien und Ätiologien seelischen Anders-Seins.................155 Schizophrenien und das Axiom der Unverstehbarkeit ...............................................156 Das Idiotengehirn als defekter Apparat (Eugen Bleuler): Oligophrenien oder Intelligenzminderungen..............................................................................................163 5.2.1 Zur Klassifikation der Oligophrenien .............................................................163 5.2.2 Zur Konstruktion und Messung von Intelligenz..............................................167 Moralische Oligophrenie: „Der geborene Verbrecher“..............................................171 Poriomanie oder der „Wandertrieb“...........................................................................174 Exkurs: Zwischen Kriminalisierung und Pathologisierung: Deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten .......................................................................................................177 „Der größte therapeutische Erfolg“: Pathologisierung und Entpathologisierung der Homosexualität ....................................................................................................179 „Erfundene“ Krankheiten ...........................................................................................181 Exkurs: Zur Pathologisierung der Dämonologisierung ..............................................184 Verrückt oder normal? ...............................................................................................186 5.9.1 Der Störfall als Normalfall..............................................................................186 5.9.2 Zur Validität psychiatrischer Diagnosen.........................................................189 Zur Praxis im Umgang mit den Andersartigen...........................................................196 Psychiatrische Erbgesundheitspflege und praktische Eugenik...................................196 Exkurs: Der wissenschaftliche Wert „lebensunwerter“ Menschen ............................204 Heil- und Sonderpädagogik........................................................................................209 6.3.1 Eine besondere Pädagogik für besondere Menschen?.....................................209 6.3.2 Die scheinbare und tatsächliche Evidenz sonderpädagogischer Diagnostik ...212 6.3.3 Heilpädagogik und der Wandertrieb ...............................................................214 Die therapeutische Zerstörung des Gehirns................................................................215
1.3 1.4 2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 4 4.1 4.2 5 5.1 5.2
5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9
6 6.1 6.2 6.3
6.4
Inhalt
7 V 1 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2
7 6.4.1 Somatische Therapieformen und Krampfbehandlungen .................................216 6.4.2 Psychochirurgie...............................................................................................220 6.4.3 Pharmakotherapie............................................................................................224 „Es kam auch vor, daß man ein besonderes Krankheitsbild konstruierte“ (Eugen Bleuler): Ein kritisches Fazit .........................................................................229 Kontinuitäten, die den Paradigmenwechsel überdauert haben ...........................237 Erkenntnistheoretische Kontinuitäten: Verdinglichung und Fragmentierungen der Menschheit ...........................................................................................................237 Zur Komplementarität der Paradigmen: Wechselseitige Ergänzung und praktische Allianz.......................................................................................................240 Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus...................................................................241 Vom religiös geprägten Judenhass zur rassistisch begründeten Judenfeindlichkeit...250 Homosexualität...........................................................................................................254 Praktische Kontinuitäten ............................................................................................256 Kriminalisierung, Marginalisierung, Asylierung........................................................256 Liquidierung...............................................................................................................258 Institutionelle Kontinuitäten.......................................................................................262 Institutionen und Individuen, die anders scheinen .....................................................262 Institutionelle Fragmentierungen................................................................................264
VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel......................................267 1 Ausgangslage: Krise des cartesianischen Naturverständnisses und kritischer Rationalismus .............................................................................................................267 2 Beispiele und Perspektiven theoretischer Dekonstruktion des Anders-Seins.............272 2.1 Entontologisierung und (Re-)Historisierung: Vom Sein zum Werden.......................272 2.2 Defragmentierungen und Diversifikation: „Es ist normal, verschieden zu sein“ (Richard von Weizsäcker 1993) .................................................................................277 2.3 Theologische Dekonstruktionen.................................................................................279 3 Perspektiven für eine De-Institutionalisierung ...........................................................291 3.1 Macht – Hilfe – Gewalt?: Die Verantwortung der Helfenden....................................291 3.2 Hilfe wider Willen......................................................................................................296 3.3 De-Institutionalisierung als Gebot der Menschenrechte.............................................298 VII Schlusswort: Allen Opfern ein bleibendes Andenken bewahren .........................303 Literatur............................................................................................................................307
8 Abb. 1:
I Vorbemerkung
Wider das wütten des hirns (aus: Gersdorff 1517: 21)
1 Anliegen und Aufbau der Untersuchung
9
I Vorbemerkung „Aller Irrtum besteht darin, daß wir unsere Art, Begriffe zu bestimmen oder abzuleiten oder einzuteilen, für Bedingungen der Sachen an sich selbst halten“ (Immanuel Kant [o. J. b] 546). „Irrtümer, nicht Lücken, hindern Wissenschaft am Fortschreiten. Zu den folgenschwersten Irrtümern gehört, daß man meint, etwas zu wissen, was man nicht weiß“ (Eugen Bleuler 1922: 14).
Im Jahr 1930 entdeckten Astronomen am Rande unseres Sonnensystems einen kleinen Planeten, etwas kleiner noch als der Erdmond, und nannten ihn Pluto. Seither besteht unser Sonnensystem aus neun Planeten. 2005 entdeckten sie einen Himmelskörper noch jenseits von Pluto, sogar etwas größer als dieser, und nannten ihn zunächst Xena, später Eris. Eris wurde allerdings nicht als weiteres Mitglied in die Familie der Sonnenplaneten aufgenommen, sondern löste eine Diskussion darüber aus, wann ein Trabant unserer Sonne ein Planet ist und wann nicht. Am 24. August 2006 setzte die Internationale Astronomische Union1 einen vorläufigen Schlussstrich unter diese Debatte und verabschiedete eine Definition von Planeten. Seitdem ist Pluto kein Planet mehr. Unser Sonnensystem hat durch die Entdeckung von Xena also keinen Planeten hinzugewonnen, sondern einen verloren. Dabei ist Pluto weder verschwunden noch hat er sich verändert. Geändert hat sich das wissenschaftliche Denken über Pluto. Deswegen besteht unser Sonnensystem jetzt nicht mehr aus neun, sondern nur noch aus acht Planeten. Es wurde durch einen neuen Lehrsatz, der hier im Detail nicht von Interesse ist, durch ein neues Dogma, welches die Klassifikation von Sonnentrabanten bestimmt, in der geschilderten Weise umkonstruiert. Nun kann es Himmelskörpern relativ egal sein, wie die Wissenschaften auf der Erde sie klassifizieren und definieren. Für sie hat das in der Regel keine nennenswerten Folgen2. Das trifft hingegen nicht für alle Objekte wissenschaftlicher Klassifikationen zu. Besonders folgenschwer ist es, wenn Menschen davon betroffen sind. Das hat oft erhebliche Konsequenzen für die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit ihnen und bestimmt entscheidend ihre Daseinsbedingungen, nicht selten über ihren individuellen Tod hinaus. Das gilt besonders dann, wenn sie als normabweichend, als anders als die Anderen oder gar als minderwertig, ja lebensunwert klassifiziert werden. Darum soll es in dieser Untersuchung gehen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf seelisches AndersSein gelegt. Menschen, die anderen Menschen anders erscheinen, haben wohl schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte die Phantasien ihrer Zeitgenossen beflügelt, Erklärungen für dieses vermeintliche Anders-Sein zu finden. Dominierten dabei anfangs eher mythologische Erklärungsansätze, wurden diese seit der Aufklärung des 16. und 17. Jahrhunderts vermehrt durch rationale wissenschaftliche Erklärungsansätze verdrängt. So jedenfalls die gemeinhin vorherrschende Auffassung, die jedoch, wie zu zeigen sein wird, so nicht zutrifft.
1 2
Die 1919 gegründete IAU ist die bedeutendste internationale Vereinigung von Astronomen. Vielleicht wäre Pluto der für 2015 vorgesehene Besuch der im Januar 2006 gestarteten Raumsonde „New Horizons“ erspart geblieben, wenn seine Herabstufung schon einige Monate früher erfolgt wäre.
E. Rohrmann, Mythen und Realitäten des Anders-Seins, DOI 10.1007/978-3-531-93239-2_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
10 1
I Vorbemerkung
Anliegen und Aufbau der Untersuchung
Das Buch wird sich zunächst mit der Dämonologisierung menschlichen Anders-Seins im Übergang zur frühen Neuzeit auseinandersetzen. Dazu werden die theoretischen Grundlagen ausgebreitet, anschließend die Phänomenologien und Ätiologien des Anders-Seins aus theo- bzw. dämonologischer Sicht dargestellt und schließlich die hieraus abgeleiteten Praxen im Umgang mit den betroffenen Menschen dokumentiert. Es folgen Ausführungen über den Paradigmenwechsel von der thomistischen Dämonologie zum cartesianischen naturwissenschaftlichen Mechanismus und damit von der Dämonologisierung zur Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins, an die sich eine Darstellung ausgewählter Beispiele naturwissenschaftlich-mechanistischer Erklärungsansätze, Phänomenologien und Ätiologien des Anders-Seins anschließt. Dabei konzentriert sich die Untersuchung vornehmlich auf den deutschsprachigen Raum. Auf Texte, die außerhalb entstanden sind, wird nur insoweit Bezug genommen, als ihre Rezeption dort für die weitere Entwicklung einschlägiger Fachdiskurse von Bedeutung gewesen ist. Diese Eingrenzung folgt pragmatischen Gesichtspunkten, sie ist aber auch inhaltlich begründet. Der deutsche Sprachraum stand nämlich nicht nur im Mittelpunkt dämonologischer Theorien und Praxen. Auch nach dem Paradigmenwechsel blieb Deutschland trotz politischer Zersplitterung in über 300 Souveränitäten bestimmend im Hinblick auf die Entwicklung von Theorien zum Verständnis von und Praxen im Umgang mit Anders-Sein. So spricht der amerikanische Medizinhistoriker Shorter z. B. im Zusammenhang mit der Entwicklung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert von einem „deutschen Jahrhundert“. „Wenn man einem Land oder einer Sprache in einer Weltgeschichte der Psychiatrie besondere Aufmerksamkeit schenken will, bedarf das einer Erklärung – sie lautet schlicht, daß die Deutschen dieses Gebiet absolut dominierten“ (Shorter 1999: 116). Die Wurzeln der Psychologie als akademischer Disziplin liegen ebenfalls in Deutschland und auch die Psychoanalyse als weitere Forschungsrichtung, die sich mit abweichend erscheinenden seelischen Phänomenen beschäftigt, nahm mit Sigmund Freud ihren Ausgang im deutschsprachigen Raum. Nirgends schließlich haben die Praxen im Umgang mit den vermeintlich Anderen so extreme Zuspitzungen gefunden wie in Deutschland zur Zeit der NS-Herrschaft. Grundlage der Untersuchung sind neben der vorliegenden Original- und Sekundärliteratur vor allem zeitgenössische Texte. Im Vordergrund der Ausführungen über die Dämonologisierung des Anders-Seins stehen das 1487 erstmals erschienene hexenwissenschaftliche Lehrbuch „Malleus maleficarum“, der sogenannte Hexenhammer, sowie theologische Autoren, auf welche dort zur theoretischen Begründung der Ausführungen Bezug genommen wird. Verfasser des Malleus ist der Theologieprofessor und Dominikanermönch Heinrich Kramer3 (um 1430 - um 1505)4. Dieses Buch blieb fast 200 Jahre lang das Standardwerk des Hexenwesens schlechthin und ist bis 1669 in insgesamt 29 Auflagen erschienen. Die Darstellungen der Konstruktionen von Anders-Sein nach der cartesianischen Wende orientieren sich vornehmlich an zeitgenössischen anthropologischen, medizinischen und heilpädagogischen Texten. Darunter werden neben dem Lehrbuch von Emil Kraepelin, in dem zwischen 1883 und 1927 in acht bzw. neun Auflagen die noch heute weitgehend anerkannte psychiatrische Krankheitslehre entwickelt worden ist, vor allem zwei Lehrbücher 3 4
Sein latinisierter Nachname lautet Institoris. Als Mitautor wurde außerdem meist der Dekan der theologischen Fakultät zu Köln, Jakob Sprenger, angegeben. Dessen Beteiligung wird heute in einschlägigen Forschungen allerdings zumeist bestritten.
1 Anliegen und Aufbau der Untersuchung
11
der Psychiatrie, die über mehrere Jahrzehnte hinweg in zahlreichen Auflagen erschienen sind, systematisch in ihrer Entwicklungsgeschichte untersucht werden. Dazu zählt in erster Linie das 1916 erstmals und bis 1983 in insgesamt 15 Auflagen erschienene Lehrbuch von Eugen Bleuler (1857-1939). Es wurde nach Eugen Bleulers Tod von Manfred Bleuler (1903-1994), seinem Sohn, Doktorand5 und Nachfolger als Direktor des psychiatrischen Krankenhauses Burghölzli in Zürich und Professor für Psychiatrie an der dortigen Universität, fortgeführt. Die Auswahl dieses Werks erfolgte nicht zufällig. Seine 1. Auflage erschien ein Jahr, nachdem der letzte Band der 8. Auflage des zwischenzeitlich auf vier Bände angewachsenen Psychiatrielehrbuches von Kraepelin erschienen war, die letzte zu Kraepelins Lebzeiten erschienene vollständige Auflage. Die Entwicklung der von Kraepelin vorgelegten Krankheitslehre war damit weitgehend zum Abschluss gekommen. Insofern war das Bleuler’sche Lehrbuch das erste, welchem in der Zeit nach Kraepelin das Kraepelin’sche Konzept zugrunde lag und es war wohl nicht nur deshalb eines der bedeutendsten Lehrbücher, wenn nicht das bedeutendste Lehrbuch seiner Zeit. Es wurde bewusst aber auch deswegen ausgewählt, weil es zwar im deutschsprachigen Raum, aber nicht in Deutschland erschienen ist. Damit kann dem immer wieder zu lesenden Einwand entgegengetreten werden, bestimmte inhaltliche Positionen des Faches, z. B. zu Eugenik und Rassenhygiene, die in den Jahren zwischen 1933 und 1945 keineswegs nur in Deutschland vertreten und nach 1939 in Deutschland in unerbittlicher Konsequenz auch in die Praxis umgesetzt wurden, seien nicht primär Ausdruck einschlägiger Lehrmeinungen gewesen, sondern müssten vor dem besonderen Hintergrund der politischen Verhältnisse in Deutschland während der NSDiktatur als Ausdruck der „Gleichschaltung“ der Wissenschaften verstanden werden. Bleuler konnte in diesem Sinne überhaupt nicht gleichgeschaltet werden, denn er lebte und lehrte zeitlebens in der stets politisch neutralen Schweiz. Das zweite Lehrbuch, das dieser Arbeit zugrunde liegt, wurde 1971 erstmals von Walter Schulte (1910-1972) und Rainer Tölle (*1932) vorgelegt und ab der 2. Auflage von Rainer Tölle allein fortgesetzt. Seit der 13. Auflage 2003 erscheint es in Co-Autorenschaft mit Klaus Windgassen (*1952). Beim Abschluss dieser Untersuchung war die 2009 erschienene 15. die aktuellste Auflage. Schließlich wird sporadisch auch auf das 1974 erstmals erschienene Lehrbuch von Gerd Huber zurückgegriffen, der in einigen Fragen eine deutlich von Tölle abweichende Position vertritt. Dieses Werk erschien vorerst letztmalig 2005 in der 7. Auflage. Während von einer grundlegenden Umarbeitung des Hexenhammers von der ersten bis zur letzten Auflage wohl nicht auszugehen ist, was hier allerdings nicht untersucht werden konnte, und auch die zugrunde liegende Dogmatik über die Jahre relativ stabil geblieben ist, erfuhren die Psychiatrielehrbücher von Auflage zu Auflage Überarbeitungen und Korrekturen, an denen sich Entwicklungslinien in den Konstruktionen von Anders-Sein aufzeigen lassen. Das vorliegende Buch versteht sich als historische Arbeit, allerdings nicht mit dem Anspruch, einen Beitrag zur historischen Forschung zu leisten. Historische Rekonstruktion ist nicht Gegenstand, sondern die Methode dieser Untersuchung. Ihr Gegenstand ist die soziale Konstruktion von und der gesellschaftliche Umgang mit menschlichem Anders-Sein in unterschiedlichen kulturhistorischen Kontexten, ihr Anliegen ist es, diese zu rekonstruieren und so einen Beitrag zu ihrer Dekonstruktion zu leisten sowie Perspektiven dafür aufzuzeigen. 5
Manfred Bleuler promovierte 1928 mit einer Dissertation zum Thema: „Der Rohrschachsche Formdeuteversuch bei Geschwistern“ bei seinem Vater.
12 2
I Vorbemerkung
Erkenntnistheoretische Aspekte
Menschen, die ihren Zeitgenossen anders erscheinen, müssen nicht deshalb auch anders sein. Ebenso wenig – oder aber genau in dem Sinne – wie Menschen, die früher für Besessene, Hexen, Narren oder Wechselbälger gehalten wurden, dies tatsächlich waren, kann unhinterfragt davon ausgegangen werden, dass Menschen, die uns heute z. B. als behindert, nichtsesshaft, verhaltensgestört, psychisch krank oder sonst wie anders erscheinen, dies in einem ontologischen Sinne wirklich sind. Der Hexenmythos ist weitgehend entzaubert, die vor allem thomistisch geprägte Dämonologie zwar nicht überwunden, doch als wissenschaftliches Leitparadigma durch den cartesianischen Mechanismus abgelöst. Der Dämonologisierung vermeintlichen Anders-Seins folgte dessen Biologisierung und Pathologisierung. Wenngleich damit ohne Zweifel erkenntnistheoretische Fortschritte verbunden waren, bedeutet das allerdings, wie schon betont, nicht, dass mit diesem Paradigmenwechsel unwissenschaftlicher irrationaler Wahn aufgeklärter rationaler Wissenschaftlichkeit gewichen sei. Der Überwindung des in Dogmen erstarrten religiös-theologischen Paradigmas folgte vielmehr ein naturwissenschaftlich fundiertes Paradigma, welches seinerseits zu weiten Teilen in zahlreichen Dogmen erstarrte. Verkündet wurden diese Dogmen vor dem Paradigmenwechsel zumeist von weißen europäischen Männern, die ihre Autorität und ihr Wahrheitsmonopol aus kirchlichen Weihen ableiteten, nach dem Paradigmenwechsel waren es zunächst ebenfalls weiße europäische Männer, die den Wahrheitsanspruch für ihre neuen Dogmen nunmehr aus akademischen Weihen ableiteten. Nur wenige der Inhaber dieser sogenannten „Lehrmeinungen“ blieben sich der Tatsache bewusst, dass die Wissenschaften, auch die Naturwissenschaften, die Wirklichkeit in ihrem Bestreben, sie zu verstehen, in ihrer Komplexität reduzieren müssen, um sie überhaupt gedanklich konstruieren zu können. Um den selbstgestellten Exaktheitsansprüchen entsprechen zu können, müsse sich, so etwa Albert Einstein (1879-1955) anlässlich seiner Rede zum 60. Geburtstag von Max Planck am 23. April 1918, gerade „der Physiker stofflich umso mehr bescheiden, indem er sich damit begnügen muß, die allereinfachsten Vorgänge abzubilden, die unserem Erleben zugänglich sind, während alle komplexeren Vorgänge nicht mit jener subtilen Genauigkeit und Konsequenz, wie sie der theoretische Physiker fordert, durch den menschlichen Geist nachkonstruiert werden können“ (Einstein 1986: 108).
In einem späteren Vortrag, der allerdings nicht mehr genau datiert werden kann, warnt der Träger des Nobelpreises für Physik des Jahres 1921: „Wenn ihr von den theoretischen Physikern etwas lernen wollt über die von ihnen benutzten Methoden, so schlage ich euch vor, am Grundsatz festzuhalten: Höret nicht auf ihre Worte, sondern haltet euch an ihre Taten! Wer da nämlich erfindet, dem erscheinen die Erzeugnisse seiner Phantasie so notwendig und naturgegeben, daß er sie nicht für Gebilde des Denkens, sondern für gegebene Realitäten ansieht und angesehen wissen möchte“ (a. a. O.: 113).
Die Frage, was uns die Sicherheit gibt, anzunehmen, unser heutiges Verständnis von AndersSein sei nicht ein Gebilde unseres Denkens, sondern objektiv gegebene Realität, das bis vor ca. 300 Jahren vorherrschende Verständnis hingegen Ausdruck einer oftmals gar als krankhaft hingestellten Phantasie, ist also auch nach dem Paradigmenwechsel keineswegs beantwortet. Es ist nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern eher sogar wahrscheinlich, dass unser
2 Erkenntnistheoretische Aspekte
13
gegenwärtiges Verständnis von und unser Umgang mit vermeintlichem Anders-Sein in einbis zweihundert Jahren ebenfalls als entzauberter Mythos, als Irrlehre gilt wie den meisten von uns heute der Hexenmythos. Künftige Zeitgenossen dürften über unseren heutigen „Behinderten“- oder „Irrenwahn“ und unsere Praxen der Ausgrenzung und der sozialen bis hin zur physischen Vernichtung dieser Menschen dann ebenso fassungslos den Kopf schütteln wie wir heute über den vermeintlichen „Hexenwahn“. Manche dem mechanistischnaturwissenschaftlichen bzw. dem biologistisch-medizinischen Paradigma verpflichtete Ansätze und die daraus resultierenden Praxen lösen ja heute schon weithin Unverständnis aus, z. B. die Fragmentierung der Menschheit in Rassen oder die massenhafte Ermordung vermeintlich Andersartiger als sog. Minderwertige oder Lebensunwerte in den dreißiger und vierziger Jahren in Deutschland. Indem wir bestimmte – teilweise durchaus feststellbare und klassifizierbare – Merkmale und Eigenschaften von Menschen zu Attributen dessen, was wir für Anders-Sein halten, erklären, wir sie also solcherart kognitiv hervorbringen, existieren sie als solche zunächst allein in unseren Köpfen und nicht notwendigerweise auch in der Realität, auch wenn wir sie für die Realität halten. Oft genug prägen sie allerdings unsere gesellschaftliche Praxis im Umgang mit diesen Menschen und können dadurch nachhaltig deren Lebensrealität beeinflussen, wobei zu zeigen sein wird, dass zentrale Grundmuster im Umgang mit Anders-Sein den Paradigmenwechsel unbeschadet überstanden haben. Vor diesem Hintergrund entwickelt der Band zum Abschluss Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel, der sich unter anderem an neueren Erkenntnissen von Naturwissenschaftlern wie Capra (1986, 1996, mit Vorbehalt auch 2000), Stenger & Prigogine (1977) oder Maturana & Varela (1987; Varela u. a. 1992) orientiert und versucht, den hier vollzogenen Perspektivenwechsel „vom Sein zum Werden“ und weg von bloßer Analyse hin zur Rekonstruktion von Systemen und Kontexten auf das Verständnis von Menschen, die uns anders erscheinen, fruchtbar zu machen. In diesem Sinne versteht sich der Band, wie schon erwähnt, auch als Beitrag zur Dekonstruktion vermeintlichen Anders-Seins, ohne allerdings den Anspruch zu erheben, diese damit bereits geleistet zu haben. Die hier vorliegende 2. Auflage dieses Bandes ist gegenüber der 2007 erschienenen 1. Auflage überarbeitet, teilweise erweitert und ergänzt worden. Manche Rückmeldungen zur 1. Auflage haben deutlich gemacht, dass die Ausführungen den Eindruck einer gewissen Religionsfeindlichkeit erweckt haben. Das entspricht nicht der eher agnostisch ausgerichteten Grundintention des Werkes. Sein Anliegen war und ist es vielmehr, die erkenntnisbehindernden Risiken und daraus erwachsenen Konsequenzen religiöser, aber ebenso auch wissenschaftlicher oder sonst wie begründeter, oftmals mit absolutem Wahrheitsanspruch einhergehenden Dogmen aufzuzeigen. Weder Religion und Theologie noch Wissenschaft müssen jedoch zwangsläufig in Dogmatismus verfallen. Dieser Aspekt wurde in der 1. Auflage im Hinblick auf Religion und Theologie offensichtlich nicht gebührend herausgestellt. Um dem dadurch teilweise entstandenen Eindruck entgegenzutreten, wurde im vorletzten Abschnitt unter anderem ein Kapitel mit Beispielen theologischer Dekonstruktionen aufgenommen. Damit ist in keiner Weise beabsichtigt, kritische Ausführungen über kirchliche Institutionen, ihre Hierarchien und ihre womöglich mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit verkündeten Dogmen sowie die daraus in Geschichte und Gegenwart resultierenden Praxen und Konsequenzen zu relativieren, sondern es soll im Gegenteil gezeigt werden, dass derartige Kritik durchaus auch theologisch zu begründen ist.
2 Erkenntnistheoretische Aspekte
15
II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
„Über die Jahrtausende haben Dämonenglauben und Dämonologien die menschlichen Bedürfnisse nach Einverständnis und Einsicht in die Welt und ihre Gesetze durch Reduktion der unüberschaubaren Komplexität der Wirklichkeit befriedigt“ (Weber 1999: 48). Phänomene oder Ereignisse, die sich die Menschen nicht erklären konnten, wurden auf das Wirken von Geistern zurückgeführt, auf die man durch geeignete Opfer, Gebete oder andere Rituale glaubte Einfluss nehmen zu können. Im Laufe der Menschheitsgeschichte bildeten sich zunehmend Spezialisten für die Durchführung solcher Zeremonien heraus. Diesen wurde ein enger Kontakt zu den Geistern und deswegen eine besondere Fähigkeit der Einflussnahme auf sie unterstellt. Schließlich entstand in vielen Religionen während der sog. Bronzezeit, deren Beginn für Europa am Ende des dritten Jahrtausends v. u. Z. angesetzt wird, ein Berufspriestertum. Die Kontaktpflege mit den Geistern wurde professionalisiert. Priester wurden Experten für die Geisterwelt, d. h., ihnen wurden entsprechende Kenntnisse über die Geister sowie spezifische Fähigkeiten und spirituelle Kompetenzen, sie gnädig oder ungnädig zu stimmen oder sonst wie ihr Verhalten zu beeinflussen, zugesprochen. Priester wurden so auch zu Fachleuten dafür, Erklärungen für bestimmte, den Zeitgenossen unerklärliche Phänomene zu finden. Zu diesen Phänomenen gehören neben anderen auch solche Existenzformen menschlichen Daseins, die den Zeitgenossen irgendwie andersartig, nicht „normal“ vorkamen. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die unterschiedlichen Erklärungsversuche des vermeintlichen Anders-Seins in den unterschiedlichen kultur- und religionshistorischen Kontexten miteinander zu vergleichen. Dies würde eine eigene und ohne Zweifel hochinteressante Studie erforderlich machen, die hier jedoch nicht geleistet werden kann. Die vorliegende Untersuchung wird sich darauf beschränken, die Inhalte derjenigen Theo- bzw. Dämonologien und ihre Spezifik darzustellen, die unseren Kulturkreis über Jahrhunderte geprägt haben und – wie noch zu zeigen sein wird – bis heute prägen, auch wenn sie heute nicht mehr in der Weise dominieren wie noch vor wenigen Jahrhunderten. Zwischen dem 4. und dem 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung verdrängte mit zum Teil unsäglicher Brutalität das institutionalisierte Christentum alle früheren Religionen in Europa (vgl. hierzu Deschner 1997). In nur wenigen Jahrhunderten war es von einer apokalyptischen jüdischen Heilslehre zur römischen Staatsreligion avanciert, welche von einer machtvollen, mit kompromisslosem religiösen Absolutheitsanspruch ausgestatteten und sich zunehmend pastoral hierarchisierenden totalitären Institution, der katholischen Kirche, repräsentiert wird, genauer: von deren Oberhirten, den Bischöfen, die es verstanden hatten, ihre Macht im Laufe der ersten drei Jahrhunderte kontinuierlich und umgekehrt proportional zu ihrer demokratischen Legitimierung durch das Kirchenvolk auszubauen. Die Bischöfe vor allem in den Zentren Alexandria, Antiochia, Konstantinopel und Rom bestimmten in zunehmendem Maße und meist in Konkurrenz untereinander die Inhalte der christlichen Doktrin in ihrem jeweiligen Machtbereich, bis sich im 5. Jahrhundert der Bischof von Rom
E. Rohrmann, Mythen und Realitäten des Anders-Seins, DOI 10.1007/978-3-531-93239-2_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
als „Pontifex Maximus“6 bzw. „Pastor Pastorum“7 durchsetzen konnte, dem die Bischöfe anderer Diözesen unterstellt waren. Auch wenn damit innerkirchlichen Machtkämpfen keineswegs das Ende bereitet wurde,8 diktiert seither mit dem Anspruch, Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein, vor allem der Bischof von Rom als Papst zusammen mit seinen Theologen zumindest im weströmischen Reich das katholisch-christliche Credo, welches die Kirche unerbittlich und in einer in vorchristlicher Zeit so nicht gekannten Intoleranz nicht nur ihren Untertanen, sondern, gestützt auf den Missionsbefehl9, der ganzen Menschheit verbindlich aufzuoktroyieren versucht.10 Wer die orthodoxe Lehre nicht kannte, galt – und gilt heute noch – als Heide, der – notfalls gewaltsam – zu bekehren sei, denn es war und ist ein zentraler Anspruch dieser Kirche, die ganze Menschheit zu missionieren, d. h. ihrem Machtbereich zu unterwerfen. Wer die kirchliche Lehre kannte, aber nicht anerkannte, galt als Häretiker, als Ketzer und wurde mindestens ebenso brutal verfolgt wie die Christen im Römischen Reich vor dem Konstantinschen Toleranzedikt im Jahr 311 unserer Zeitrechnung. „Die Geschichte des christlichen Dogmas ist somit leider auch eine Geschichte des Kampfes gegen meist von ihrer Meinung ehrlich überzeugte Andersdenkende, eine Geschichte von Intoleranz, die den Menschen auch mit unheilvollen Methoden zu seinem Heil zwingen wollte“,
so der Kirchenhistoriker Günter Stemberger (1994: 34). 1
Theoretische Grundlagen und Prämissen der Theologie und Dämonologie des Anders-Seins
Innerhalb der herrschenden christlichen Kirche entwickelte sich eine Gottes- und Dämonenlehre, die schließlich im 13. Jahrhundert von Thomas v. Aquin in eine für die katholische Kirche bis heute weitgehend verbindliche Systematik gebracht wurde. Während Dämonen, die als solche keineswegs nur eine Spezialität der christlichen Religion und „von Natur aus“, so der evangelische Theologe Hartwig Weber, „weder gut noch böse“ (Weber 1999: 47), sondern vielmehr wandelbar sind, ist die Geisterwelt des Christentums von dem für die drei monotheistischen Abrahamreligionen11 typischen schroffen Dualismus geprägt. Anders als noch in der vorchristlichen deutschen Götterlehre (vgl. Grimm 1835: 822) und anders als insbesondere in fernöstlichen Religionen, in denen Gegensätze wie „Yin“ und „Yang“ eher komplementär und aufeinander bezogen verstanden werden, spaltet die kirchenchristliche Theo- bzw. Dämonologie die Geisterwelt unüberbrückbar in gute bzw. heilige Geistwesen auf der einen und böse Dämonen auf der anderen Seite. Wer nicht auf der Seite des guten Gottes steht, steht gewissermaßen automatisch auf der Seite des Bösen. 6 7 8 9 10 11
V. u. Z. gebräuchliche Bezeichnung für die „Oberpriester“ im Römischen Reich, die im 5., spätestens im 6. Jahrhundert von den römischen Bischöfen aufgegriffen und als Amtsbezeichnung eingeführt wurde. Deutsch: „Hirte der Hirten“. Insbesondere die Patriarchen von Konstantinopel bestritten beharrlich den Führungsanspruch Roms, was immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen und schließlich im Jahr 1054 zum endgültigen Bruch zwischen der Ost- und der römischen Westkirche führte. Matthäus 28, 18-20. „Das Wort Orthodoxie ist dem heidnischen Griechisch kaum geläufig und stellt bis zu einem gewissen Grad einen Neologismus der christlichen Theologie dar“ (Beck 1993: 14). Christentum, Judentum und Islam.
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Dazwischen gibt es nichts. Dies soll nach der Überlieferung des Evangelisten Matthäus (12, 30) schon Jesus unmissverständlich klargestellt haben: „Wer nicht für mich ist“, so wird er dort zitiert, „der ist gegen mich“. 1.1 Gottes Engel und Luzifers Dämonen Unversöhnlich steht also nach kirchenchristlicher Auffassung der göttlichen Dreieinigkeit, d. h. der Einheit aus Gott, seinem Sohn und dem heiligen Geist mit einer streitbaren und streng hierarchisch gegliederten Heerschar guter Geister, sogenannter Engel, der Teufel gegenüber, welcher seinerseits über ein ebenso hierarchisch gestuftes Heer von Dämonen herrscht (Thomas: S. Th. I, q. 50-64, Bd. 4: 124 ff.). „Gottes Hofstaat sind Seine heiligen Engel, von denen jeder einzelne eine solche Kraft besitzt, dass er ganz allein Armeen niederschlagen kann und für deren Geist es keine unlösbaren Probleme gibt und deren Glanz alle Sonnen und Sterne übertrifft“ (Rodewyk 1999: 23)
lehrte – mit kirchlichem Imprimatur – der bekannte katholische Exorzistenpater12 Adolf Rodewyk, auf dessen Tätigkeit wir im Zusammenhang mit Besessenheit und Exorzismus noch näher eingehen werden. „Es gibt eine Stufenordnung in der Engelwelt, die einen stehen Gott näher als die anderen, und die niederen werden von den höheren geleitet. Es ist wie in einem Heer, in dem die Generale um den obersten Heerführer geschart sind, der ihnen seine Gedanken mitteilt, die sie dann an die unter ihnen stehenden Offiziere weiterleiten“ (a. a. O.: 24 f.).
Engel kannte schon das Judentum und auch der Islam. Sie sind von Gott geschaffene und mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattete körperlose Geister, „mächtiger als die Menschen, aber den Gottheiten untergeordnet“ (Weber 1992: 144). Eines Tages nun verspürte der ranghöchste dieser Engel mit Namen Satan oder Luzifer13 den hybriden Wunsch, mit Gott, dem Allmächtigen, auf einer Stufe zu stehen, was dieser als unbotmäßige Auflehnung gegen sich und seine uneingeschränkte Macht begriff und entsprechend reagierte. Mit diesem „Fall“ des Satans trat das Böse in die Welt, welches er, der Teufel, seither verkörpert und personifiziert14. „Es entspann sich nun im Himmel ein Kampf, eine Geisterschlacht von unvorstellbarer Heftigkeit. Die Engelwelt spaltete sich und zwei große Heere traten sich gegenüber. Führer des einen war Michael, Führer des anderen Luzifer“ (Rodewyk 2001: 9 f.).15
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Die Bild-Zeitung bezeichnete ihn am 8. April 1978 als „Deutschlands Exorzist Nr. 1“. Der lateinische Name bedeutet „Lichtbringer“. In der römischen Mythologie ist Lucifer der Morgenstern, Sohn der Göttin Aurora, der Morgenröte. Wir haben hier ein erstes Beispiel, dem noch weitere folgen werden, für die im Christentum (und auch in anderen Religionen) immer wieder anzutreffende Praxis, die Götter anderer Religionen nicht einfach zu leugnen, sondern zu diabolisieren. Wie der Katechismus ausdrücklich betont, „ist das Böse nicht etwas rein Gedankliches, sondern bezeichnet eine Person, Satan, den Bösen, den Engel, der sich Gott widersetzt“ (KKK 2005, Nr. 2854: 715). Vgl. hierzu auch Offenbarung 12, 7-12.
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
Die meisten Engel, Rodewyk (ebd.) sprach von etwa zwei Dritteln, blieben gut, d. h., sie hielten Gott die Treue (Thomas: S. Th. I, q. 63, Bd. 4: 344 ff.). Die böse gewordenen Geister wurden zur Strafe für ihre Abtrünnigkeit aus dem Himmel in die Hölle verbannt (a. a. O. q. 64, Bd. 4: 378 ff.). „Daneben“, so lehrte der Professor für katholische Theologie Raymund Erni (1948: 124), „können sie sich teilweise bis zum Weltgericht im Luftbereich aufhalten, soweit Gott das zulässt, um indirekt durch Erprobung der Auserwählten in ihrer Art der göttlichen Weltordnung zu dienen“. All diese Vorgänge, so vergegenwärtigt uns Rodewyk (2001: 10), sind „geschichtliche Tatsachen, die viele Millionen, wenn nicht viele Milliarden Jahre zurückliegen“. In der Literatur wie im allgemeinen Sprachgebrauch finden sich unterschiedliche Verwendungen des Begriffs Teufel. Ist die Rede von dem Teufel im Singular, ist in aller Regel der Antichrist, der Anführer der Dämonen, also Satan oder Luzifer, gemeint. Wird von den Teufeln im Plural gesprochen, wird der Begriff meist synonym mit dem Dämonenbegriff gebraucht. Dieser Sprachregelung folgen auch die vorliegenden Ausführungen. Es liegen übrigens exakte wissenschaftliche Berechnungen über die Anzahl der Dämonen vor, die allerdings noch frappierend weit auseinanderliegen. Zählte der 1566 verstorbene lutherische Theologe und Lemgoer Pfarrer Jodocus Hocker, ein Kritiker übrigens der Hexenverfolgung, noch zwei Billionen 665 Milliarden 866 Millionen 746 Tausend und 664 Dämonen (vgl. Roskoff 1869: 380; Röhner 2000: 14), kam 1988 der damalige Chefexorzist der Diözese Rom, Monsignore Corrado Balducci, mit einer Milliarde 758 Millionen 640 Tausend und 176 (vgl. Weber 1999: 14) nur noch auf gerade sieben Promille der von Hocker errechneten Zahl. Ob die eklatante Differenz auf einem Rechenfehler, den unterschiedlichen Konfessionen der beiden Theologen oder aber auf einem dramatischen Rückgang des Dämonenheeres in den zwischen beiden Berechnungen liegenden ca. 400 Jahren beruht16, mag hier dahingestellt bleiben. Ein Grund für die bemerkenswerte Abweichung könnte die in der Praxis immer wieder anzutreffende Schwierigkeit sein, gute und böse Geister voneinander zu unterscheiden. So unüberbrückbar nämlich auf der einen Seite der Gegensatz zwischen den Guten und den Bösen ist, so täuschend ähnlich sind sie sich auf der anderen Seite in ihren Erscheinungsformen und in dem, was sie tun. „Nicht selten lässt sich der teufel auffassen als parodie oder nachäffung des wahren gottes, als die linke, verkehrte seite (…) des göttlichen wesens“ (Grimm 1835: 823).
In beiden Fällen handelt es sich um körperlose Geistwesen, die unter anderem versuchen, die Menschen auf ihre Seite zu ziehen und gegen die jeweils andere Partei aufzuhetzen. Beide Arten von Geistern können ihre Anhänger als solche kennzeichnen17 und ihnen leibhaftig erscheinen, beide können in Menschen einfahren und von ihnen Besitz ergreifen18, beide können, wie wir noch sehen werden, menschliche Frauen schwängern und vieles mehr. Vor allem tun beide dies alles auch. Hier kann es leicht zu Verwechslungen kommen. 16 17 18
Dann wäre allerdings zu klären, wo denn die verschwundenen 2 664 108 106 488 Dämonen geblieben sind. Schließlich sind Dämonen unsterbliche Geistwesen. Diese Frage soll jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein. In dem einen Fall spricht man dann von Stigmata, wenn zum Beispiel bei Franz von Assisi die Wundmale Jesu sichtbar werden, im anderen Fall vom Teufelsmal. Dann spricht man beim heiligen Geist von Enthusiasmus oder Ergriffenheit, bei bösen Geistern von Besessenheit.
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Mehr als einmal in der Geschichte sind insbesondere Frauen in den Verdacht geraten, mit dem Teufel im Bunde zu sein, bei denen sich später herausgestellt hat, dass es doch nicht ein böser, sondern der heilige Geist war, der für ihr von den Zeitgenossen als abweichend wahrgenommenes und als Hexerei oder Häresie interpretiertes Verhalten verantwortlich war. Manche Frau, die als Hexe oder Ketzerin verbrannt worden war, wurde später selig oder sogar heilig gesprochen.19 Umgekehrt ist es mehrfach vorgekommen, „daß zu ihrer Zeit als Heilige verehrte Frauen heute als Ketzerinnen und Hexen betrachtet werden“ (Dinzelbacher 1995: 39). Dinzelbachers mentalitätshistorische Studie zeigt, „wie in der spätmittelalterlichen Kirche Ambivalenz in der Beurteilung charismatischer Gestalten herrschte, Ambivalenz zwischen der Deutung als Heilige oder der als Ketzerin oder Hexe“ (a. a. O.: 31).
Letztlich ist es allein eine Frage des subjektiven Standpunktes, welche Geister gut oder heilig und welche böse sind. So glaubten etwa laut biblischer Überlieferung die Pharisäer seinerzeit, Jesus sei vom Teufel besessen20, seine Angehörigen meinten, er sei „von Sinnen“21. Er selbst hingegen war überzeugt, vom heiligen Geist erfüllt zu sein. Die Beantwortung der Frage, welche der hier geäußerten Auffassungen zutrifft, hängt allein vom Standpunkt ab. Ein Außenstehender wird entweder allen Recht geben müssen, bezogen auf ihre jeweilige subjektive Weltsicht, oder aber niemandem. Seit der Reformation wurde es üblich, den Angehörigen der jeweils anderen Konfessionen zu unterstellen, mit dem Teufel im Bunde zu sein. So legt der altgläubige Theologe Thomas Murner, von Luther und seinen Anhängern selbst als „Murnarr“ (Luther 1521: 681) beschimpft, 1522 eine viel beachtete Streitschrift „Von dem großen Lutherischen Narren22“ vor (Abb. 2). Umgekehrt wurde der solcherart attackierte Reformator nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, Abb. 2: Titelholzschnitt aus Th. Murner: Von dem großen dass „der Papst und sein Haufe ein lauter Götzendiener Lutherischen Narren; Straßburg und Teufelsknecht mit all seinem Wesen und Leben“ 1522 (aus: Mezger 1991: 129) (Luther, Tischrede 6557, Bd. 6: 37) sei und die Kurie ein „Teufelsdreck“. Letzteres ließ er auch grafisch unzweideutig illustrieren (Abb. 3 und 4)23. „Zu einem papst gehort nicht ein frommer man, sondern ein schalck und boswicht, denn ein papst, der sich des regiments will annehmen, der muß der negste boswicht sein nach dem Teufl“ (Luther 1532, Tischrede 1686, Bd. 2: 181; fast wortgleich 1532, Tischrede 3244, Bd. 3: 233).
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Die wohl berühmteste dieser Frauen, Jeanne d’Arc, die von einem Inquisitionsgericht wegen Ketzerei verurteilt und am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz in Rouen lebendig verbrannt worden war, wurde 1456 rehabilitiert, 1909 durch Pius X. selig und im Mai 1920 durch Benedikt XV. schließlich heilig gesprochen. Matthäus 12, 24; Markus 3, 22; Lukas 11, 15. Markus 3, 21. Zur Diabolisierung des Narren vgl. die Ausführungen über Narren in diesem Band. Der Text „Wider das Papsttum (…)“ ohne Abbildungen findet sich unter Luther 1545: 195 ff.
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Abb. 3: Martin Luther: „Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet“, Wittenberg 1545. Titelblatt (aus: Gloger & Zöllner 1983: 34)
Abb. 4: Der Teufelsdreck in Person: Herkunft des Papstes und seiner Kurie. Holzschnitt aus der gleichen Folge (aus: Obermann 1986: 165)
Den Juden warf Luther vor, sie würden den Messias diabolisieren und ihn für einen Narren oder Kielkropf halten. „Weiter liegen sie und lestern in und seine Mutter, das sie ich hab empfangen zur Unzeit. (…) Mose schreibt Levit. 20. [Levitikus 20, 18], das ein Weib, wenn sich die Mutter reiniget, sol sich vom Man, und der Man von ir thun, bey Verlust leibs und lebens, Denn was zur selbigen zeit der reinigung empfangen wird, wird auch ein untuechtige, gebrechliche Frucht, als Wanwitzige kinder, naturliche Narren, Kilkroppe, Wechselbelge und der gleichen Menschen, die zu rutt [zerrüttetes] gehirn ir lebenlang haben. Damit wollen nun die Jueden uns Christen also geschendet haben, das wir einen einen natuerlichen gebornen Narren von Mutterleib an oder einen rechten Kilkropp fur einen Messias ehren“ (Luther 1543a: 516 f.).
Ohne weiteres ließen sich auch die Geister, Fexe, Kobolde, Elfen, Hollen oder Feen der vom Christentum niedergeworfenen Religionen in die christliche Dämonologie integrieren. Sie wurden dabei allerdings ihres bis dahin meist freundlichen, gutmütigen und zuweilen auch schelmischen Charakters entkleidet und entsprechend dem christlichen Dualismus dämonologisiert, d. h. dem Reich des Bösen zugeordnet (vgl. Grimm 1835: 363 ff.,
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822 ff.)24, ein Vorgehen, das im Juden- ebenso, wie im Christentum Tradition hat. Schon im Alten Testament heißt es: „Alle Götter der Heiden sind nichtig“25. Auch Augustinus hatte „die Götter der Heiden als unsaubere Dämonen entlarvt“ (Augustinus: Civ. Dei VII, 33, Bd. 1: 405) und bereits Paulus hatte die Götter nichtchristlicher Religionen kurzerhand zu bösen Geistern, zu Dämonen erklärt. Die Gemeinde in Korinth warnte er vor Götzendienern und Götzenopfern, denn „was man dort opfert, opfert man nicht Gott, sondern den Dämonen. Ich will jedoch nicht, dass ihr euch mit Dämonen einlasst“ (1. Korinther 10, 20). Anders als in den Hochkulturen der Antike, aus der uns erstaunliche Kenntnisse und Fähigkeiten der Heilkunst überliefert sind (vgl. Ackerknecht & Murken 1992: 18-55), welche allerdings nach der christlichen Unterwerfung Europas zumeist als heidnisch zurückgewiesen und bekämpft wurden,26 wurden auch Krankheiten ebenso wie andere Formen menschlichen Daseins, die wir heute z. B. als Behinderungen bezeichnen, im katholischchristlichen Herrschaftsbereich als Folge dämonischen oder göttlichen Wirkens erklärt: als gehässige Untat eines bösen Dämons bzw. seiner menschlichen Verbündeten, vor allem der Hexen, oder aber als Werk Gottes, dann in der Regel als Strafe für Sünden, die der oder die Betroffene begangen hat27, manchmal auch die Eltern28. Allerdings lässt Gott nach der Überlieferung des Neuen Testaments gelegentlich auch Menschen mit Gebrechen auf die Welt kommen, um sie zu gegebener Zeit als Demonstrationsobjekte für seine übernatürlichen Kräfte zu benutzen.29 24
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Falsch ist allerdings die zuweilen vertretene Auffassung, der Dämonenglaube habe erst durch die vom Christentum unterworfenen und unterdrückten Religionen Eingang in die kirchenchristliche Orthodoxie gefunden. Seinen Ursprung nimmt er – auch wenn er im frühen und im Hochmittelalter bei Weitem nicht die Bedeutung gehabt hat wie zu Beginn der sogenannten Neuzeit – bereits im Neuen Testament, welches eine Fülle von Berichten enthält, in denen Jesus Menschen, die von bösen Dämonen besessen sind, von diesen befreit. „Die Zeit Jesu war eine Blütezeit der Dämonenbannung. Hellenistische Fromme und jüdische Rabbinen beschworen ebenso Dämonen, wie Jesus und die Apostel. Jesu dämonenaustreibende Kraft gehört zu seinen am besten abgesicherten geschichtlichen Zügen“ (Heiler 1961: 315). Psalm 96, 5, genauer: „Alle Götter der Heiden sind dämonisch.“ Im Lateinischen lautet der Text: „Omnes dii gentium daemonia.“ Dies mit verheerenden wissenschaftshistorischen Konsequenzen, wie Medizinhistoriker betonen: „Die Medizin kehrte in die Hände der Priester zurück. In dem allgemeinen Zusammenbruch der Zivilisation im Zuge der Völkerwanderung (4. bis 6. Jahrhundert n. Chr.) und der Verbauerung Westeuropas waren die Zeiger der Zeit um mehr als tausend Jahre zurückgedreht“ (Ackerknecht & Murken 1992: 56). Diese Auffassung wird zuweilen bis heute vertreten. Der Distriktobere des Distriktes Deutschland der Priesterbruderschaft Pius X. äußerte sich in der Sendung „Report Mainz“ am 9. Februar 2009, wenige Tage also nach Aufhebung der 1988 verfügten Exkommunikation der Bischöfe dieser Bruderschaft durch den Vatikan zum Thema AIDS: „Also ich möchte überhaupt nicht über alle AIDS-Kranken, nicht wahr, den Stab brechen. Da bin ich weit davon entfernt. Aber in dem einen oder anderen Fall ist das doch wirklich, sogar in vielen Fällen ist das doch wirklich eine Strafe Gottes“ (zit. nach dem Sendemanuskript). Schon im Alten Testament drohte der jüdisch-christliche Gott unmissverständlich all jenen, die ihm nicht bedingungslos folgen: „Der Herr heftet die Pest an dich, bis er dich ausgemerzt hat aus dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen. Der Herr schlägt dich mit Schwindsucht, Fieber und Brand, mit Glut und Trockenheit, Versengung und Vergilbung. Sie verfolgen dich, bis du ausgetilgt bist“ (Deuteronomium 28, 21-22). „Der Herr schlägt dich mit Wahnsinn, Blindheit und Irresein“ (Deuteronomium 28, 28). Und schließlich: „Der Herr schlägt dich mit bösen Geschwüren am Knie und am Schenkel, und keiner kann dich heilen. Von der Sohle bis zum Scheitel bist du krank“ (Deuteronomium 28, 35). „Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, sodass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“ (Johannes 9, 1-3). Dies erfolgte dann – pikanterweise an einem Sabbat – durch eine öffentlich zelebrierte Wunderheilung, bei der Jesus die Sehfähigkeit dieses Mannes durch Bestreichen der Augen mit einem Brei aus Erde und Speichel hervorbrachte.
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
Die Methoden der Heilung der Gebrechen richteten sich jeweils nach deren Ätiologie. Wurden sie für Strafen Gottes gehalten, konnten sie durch Vergebung der Sünden30 geheilt werden, steckte ein böser Dämon dahinter, erfolgte die Heilung durch Exorzismus, das heißt, durch Besiegen und Austreibung eben dieses Dämons31. Die Evangelien des Neuen Testaments sind voll von solchen Geschichten, in denen sich Jesus und später seine Jünger, wie übrigens zahlreiche andere ihrer Zeitgenossen auch, als erfolgreiche Exorzisten und Wunderheiler betätigten.32 1.2 Satanische Wollust: Über Erbsünde, Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft Ausformuliert und systematisiert wurde die christliche Dämonologie zunächst von dem zwischenzeitlich heilig gesprochenen Kirchenvater Aurelius Augustinus (354-430). Dieser in seiner Jugend recht lebensfrohe ehemalige römische Rhetorik-Professor bekannte sich seit 387 zum christlichen Glauben seiner Mutter Monica, von dem er sich zuvor bewusst abgewandt hatte, um sich stattdessen den Manichäern, einer von dem Perser Mani ins Leben gerufenen zeitgenössischen Glaubensrichtung, anzuschließen. Die Manichäer galten und gelten in der katholisch-christlichen Kirche als Ketzerbewegung und wurden auch von Augustinus nach seiner Bekehrung kompromisslos bekämpft. Im Jahr 395 wurde Augustinus Bischof von Hippo Regius in Nordafrika. Er gilt als einer der bedeutendsten Kirchenväter, ist Verfasser zahlreicher Schriften und Bücher und „hat das christliche Frömmigkeitsideal geprägt, wie kein anderer vor ihm und kein anderer nach ihm“ (Ranke-Heinemann 1998: 127). Sein bedeutendstes Werk „De Civitate Dei“33 ist um 420 entstanden. Es stellt den christlichen Dualismus auf eine theologische und von der katholischen Kirche bis heute anerkannte Grundlage. Augustinus entwickelte seine Lehre von den zwei Reichen, dem Gottes- und dem Teufelsstaat, den er auch Menschenstaat oder Weltstaat nannte, die ihren Ausgang mit der Geburt von „Kain (…), der dem Menschenstaat angehört“ (Augustinus: Civ. Dei XV, 1, Bd. 2: 217) und Abel, der Angehöriger des Gottesstaates ist, nahmen. Ursprünglich waren beide Staaten getrennt. „Der eine besteht aus den Menschen, die aus dem Fleisch, der andere aus denen, die nach dem Geist leben wollen“ (a. a. O. XIV, 1, Bd. 2: 159). Es kam zur Vermischung beider Staaten, denn „die Gottessöhne, von Liebe zu den Menschentöchtern ergriffen, die sie als Gattinnen genießen wollten, versanken in die Sittenlosigkeit der erdgeborenen Genossenschaft und ließen die Frömmigkeit fahren, die sie in der heiligen Genossenschaft bewahrt hatten“ (a. a. O. XV, 22, Bd. 2: 267)34.
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Zum Beispiel Matthäus 9, 1-8; Markus 2, 1-12; Lukas 5, 17-26. Zum Beispiel Matthäus 8, 16; Markus 1, 21-28; 1, 29-34; 9, 25; Lukas 4, 31-37; 4, 38-41. Zum Beispiel Matthäus 15, 30-31: „Da kamen viele Menschen und brachten Lahme, Krüppel, Blinde, Stumme und viele andere Kranke zu ihm; sie legten sie vor ihn hin, und er heilte sie. Als die Menschen sahen, dass Stumme plötzlich redeten, Krüppel gesund wurden, Lahme gehen und Blinde sehen konnten, waren sie erstaunt und priesen den Gott Israels.“ Zu einer Wunderheilung durch die Apostel nach Jesu Tod vgl. Apostelgeschichte 14, 8-10. Deutsch: „Über den Gottesstaat“. Augustinus bezieht sich hier auf Genesis 6, 1-4.
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Die nunmehr ineinander verflochtenen Staaten werden erst wieder am Ende der Zeiten nach dem jüngsten Gericht voneinander geschieden. Dann werden Gottesstaat und Kirche zu einer Einheit verschmelzen. Hintergrund dafür, dass es überhaupt zu diesem Sittenverfall im Gottesstaat kommen konnte, ist die sogenannte Erbsünde, die ihrerseits zurückgeht auf den hierzulande sattsam bekannten Genuss der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis, zu dem Eva, vom Teufel angestachelt, Adam verführt hat.35 Diese, wie Augustinus selbst einräumt (a. a. O. XIV, 12, Bd. 2: 186 f.), für Außenstehende eher harmlos anmutende Nascherei hat nach der Lehre des Augustinus nicht nur, wie im Alten Testament zu lesen, die unselige Fähigkeit zur Erkenntnis des Menschen, was gut und böse ist,36 und als Strafe dafür die Vertreibung aus dem Paradies37 nach sich gezogen, sondern auch und vor allem die Lust, die Libido beim Geschlechtsakt, „von der die Geschlechtsteile38 unseres Leibes erregt werden“ (a. a. O. XIV, 16, Bd. 2: 194).39 Das gab es in paradiesischer Zeit so noch nicht.40 Darin erblickte Augustinus, selbst viele Jahre ein von „unstillbarer Lustbegier“ (Augustinus 400, VI, 12: 291) getriebener „Sklave seiner Lüste“41 (Civ. Dei XII, 22, Bd. 2: 103), allerdings nicht, wie ich und vermutlich auch die meisten meiner Zeitgenossinnen und -genossen, eine höchst angenehme Bereicherung des menschlichen Lebens, sondern das größte Übel, das je über die Menschheit gekommen ist. Wäre es nicht zu diesem ärgerlichen Obstverzehr mit seinen verheerenden Konsequenzen gekommen, „würde (…) der Mann Nachkommenschaft erzeugt, das Weib sie empfangen und sich dazu der Zeugungsglieder bedient haben, die, wann und soweit nötig, durch den Willen bewegt, nicht durch Lust erregt worden wären“ (a. a. O. XIV, 24, Bd. 2: 207).
Damit ist es jetzt vorbei und nicht nur das. Nicht allein, dass die an der Zeugung beteiligten Körperorgane nicht mehr vernunft-, sondern lustgesteuert sind, es kommt hinzu, dass die sexuelle Lust auch noch
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Genesis 3, 1-6. Genesis 3, 5 und 7. Genesis 3, 17-24; für die Frau noch als Zusatzstrafe den Schmerz bei der Geburt sowie die Unterwerfung unter die Herrschaft des Mannes (Genesis 3, 16). Wörtlich: die unanständigen, obszönen Teile, lat.: „obscenae partes“. Davon steht allerdings in den Texten der Genesis nichts. Es war Paulus, der die Lehre von der Erbsünde in die Überlieferung eher hinein- als aus ihr herausinterpretierte und so die Notwendigkeit der Erlösung der Menschheit durch den Opfertod des von ihm zum Christus vergotteten Jesus (vgl. Lüdemann 2001) begründete: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten. (…) Ist durch die Übertretung des einen der Tod zur Herrschaft gekommen, durch diesen einen, so werden erst recht alle, denen die Gnade und die Gabe der Gerechtigkeit reichlich zuteil wurde, leben und herrschen durch den einen, Jesus Christus“ (Römerbrief 5, 12-17). Für die jüdische Auslegung der Schrift stellt der jüdische Theologe Pinchas Lapide (2004: 77) demgegenüber klar: „Wenn Paulus (…) behauptet, daß durch den Sündenfall Adams all seine Nachkommen der sogenannten Erbsünde verfallen seien, so ist das Judentum anderer Meinung. In der Tat, so gut wie alle Menschen sündigen wie Adam, aber nicht, weil Adam gesündigt hat. (…) Sünder sind wir Durchschnittsmenschen alle, müssten es aber nicht sein.“ Über die Frage, ob und inwieweit es im Paradies überhaupt zum Geschlechtsverkehr gekommen ist und wie dort gegebenenfalls Kinder gezeugt worden wären, wenn es denn vor der Vertreibung dazu gekommen wäre, gibt es lebhafte theologische Diskussionen, über deren Verlauf seit Augustinus bis ins 12. und 13. Jahrhundert und bis Thomas von Aquin zum Beispiel Müller (1954) einen Überblick gibt. Lat: „libidinis servus“.
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„fast alles Denken und Wachbewußtsein auslöscht. Wer aber, der ein Freund der Weisheit und der heiligen Wonnen ist und im Ehestand lebt, jedoch, eingedenk der Mahnung des Apostels, sein Gefäß in Heiligung und Ehren zu behalten weiß, nicht in der Brunst der Lust, wie die Heiden, möchte nicht lieber, wenn’s möglich wäre, ohne Wollust Kinder erzeugen, so dass auch bei diesem Akte die hierfür erschaffenen Glieder, ebenso wie die übrigen Glieder bei den verschiedenen Verrichtungen, für die sie bestimmt sind, dem Geist dienstbar wären und auf Willensgeheiß hin in Tätigkeit träten, aber nicht durch die Glut der Wollust angereizt würden“ (a. a. O. XIV, 16, Bd. 2: 194).
Durch den Sündenfall ist der Akt der Fortpflanzung auf eine animalische Stufe zurückgefallen, „denn nachdem der auf einen Ehrenplatz gestellte Mensch gesündigt, ward er dem Viehe gleich und zeugt nun auch wie das Vieh“ (a. a. O. XXII, 24, Bd. 2: 813).42
An all dem wird sich bis zur Scheidung der beiden Reiche nichts mehr ändern. Bis dahin sind auch der Teufel und seine Dämonen allgegenwärtig. Immer wieder werden sie die Menschen in Versuchung führen, d. h. versuchen, sich mit ihnen zu verbünden und zu paktieren. Augustinus nahm sogar an, dass Teufel und Dämonen mit den Menschen geschlechtlich verkehren (Teufelsbuhlschaft). Ihm wäre nämlich, so schreibt er, zu Ohren gekommen, „daß Silvane und Pane [= Waldgeister], die im Volksmund incubi [männlicher Beischläfer, wörtlich: Auflieger] heißen, Frauen belästigt und mit ihnen in Geschlechtsverkehr zu treten begehrt und es auch erreicht haben“ (a. a. O. XV, 23, Bd. 2: 268 f.).
Allerdings war Augustinus vorsichtig. Letztlich, so schrieb er, „wage ich nicht zu entscheiden, ob wirklich irgendwelche mit einem Luftleib bekleidete Geister (…) solche Leidenschaften hegen und sich irgendwie mit Frauen, so daß diese Empfindungen davon haben, verbinden können“ (a. a. O. XV, 23, Bd. II: 269).
Die Vermischung von Gottes- und Teufelsstaat wird, wie schon erwähnt, bis zum Ende der Zeiten fortbestehen. Erst dann werden die Mitglieder des Gottesstaates von der Strafe, die sie ja eigentlich schon allein für ihre ererbte Sünde verdient hätten, durch die Gnade Gottes erlöst und Zutritt erhalten zu dem dann von allen zwielichtigen Elementen des Teufelsstaates gesäuberten Gottesstaat. Mit dieser hier noch recht vage formulierten Vermutung über Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft hat Augustinus eine zentrale Grundlage für eine darauf aufbauende Dämonologie geschaffen, die allerdings erst 800 Jahre später im ausgehenden Mittelalter durch die 42
Dabei ist es gerade der Spaß am Sex und eben nicht primär die biologische Reproduktionsfunktion von Sexualität, was die Menschen vom Vieh und von den allermeisten Spezies unterscheidet. So sieht es jedenfalls der Evolutionsbiologe Jared Diamond (1994: 99 f.; vgl. auch Diamond 1998): „Der verborgene Eisprung, die permanente Empfänglichkeit und die kurze Phase der Fruchtbarkeit innerhalb des Menstruationszyklus sorgen dafür, dass der Koitus beim Menschen meist nicht zur richtigen Zeit stattfindet, um zur Empfängnis zu führen. (…) Welches auch immer die biologische Hauptfunktion des Geschlechtsakts beim Menschen sein mag, die Empfängnis ist es jedenfalls nicht – sie ist nur ein Nebenprodukt. Eine der schlimmsten Katastrophen in unserer Epoche der Überbevölkerung ist die Behauptung der katholischen Kirche, die Empfängnis sei der natürliche Zweck des Geschlechtsakts und die Rhythmusmethode sei die einzige zu rechtfertigende Form der Verhütung.“
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Hochscholastik präzisiert und in diejenige Fassung gebracht werden sollte, die im 15. Jahrhundert zur maßgeblichen theoretischen Grundlage für die wissenschaftliche und praktische Auseinandersetzung mit dem Hexenwesen, mit Besessenheit und anderen Erscheinungsformen vermeintlichen Anders-Seins wurde. Sie blieb dies bis in das 18. Jahrhundert hinein. Bis zum 13. Jahrhundert fand hingegen die augustinische Dämonenlehre noch nicht den Widerhall, der ihr später zuteil wurde. Im frühen und noch im Hochmittelalter galt innerhalb der zwischenzeitlich Mittel- und Westeuropa weitgehend beherrschenden katholischen Kirche der Glaube an Dämonen und Hexen sogar weithin als Relikt heidnischen Aberglaubens, das im Widerspruch zur christlichen Lehre stand und deswegen mit allen Mitteln zu bekämpfen war. Wir haben es hier also keineswegs mit einem Vorgang aus dem vermeintlich „finsteren Mittelalter“ zu tun, sondern mit einer vergleichsweise modernen Lehre, die ihre Wurzeln zwar schon bei Augustinus findet, ihren Ausgang jedoch erst am Ende des Mittelalters im 13. Jahrhunderts nimmt. Dies geschah vor dem Hintergrund des zunehmenden Verfalls der bis dahin weitgehend uneingeschränkt herrschenden katholischen Feudalmacht und des zunehmenden Einflusses der Scholastik auf die staats- und kirchenoffizielle christliche Lehre. Als ein, wenn nicht der „chief and master“43 unter den Gelehrten der Scholastik gilt Thomas von Aquin (1225-1274), der schon als Kind im Alter von fünf Jahren von seinen Eltern in die Obhut des Benediktiner-Ordens gegeben wurde, 1244 aber gegen den zunächst erbitterten Widerstand seiner Familie44 zum 1216 von Dominikus gestifteten Dominikaner-Orden wechselte, einem Bettelorden, dem Gregor IX. im Jahr 1231 die Aufgaben der seinerzeit ins Leben gerufenen Inquisition übertragen hatte. Der Aquinat war damals sechs oder sieben Jahre alt. Thomas, dessen Theologie bis heute maßgeblich das Credo der katholischen Kirche, wie es in ihrem Katechismus (KKK 2005) dargelegt ist, prägt, gilt auch heute noch als der größte Theologe aller Zeiten, obwohl er – da scheinen sich Kritiker und Anhänger einig zu sein – selbst eigentlich keinen originären eigenen Beitrag zu dieser Theologie geleistet hat, sondern „im Grunde nur systematisch zusammenfügt, was die Ansicht der Hochscholastiker insgesamt ist“ (Ranke-Heinemann 1998: 191), wie auch der Thomas freundlich gesonnene Würzburger Moraltheologe Michael Müller (1954: 255) bestätigt: „Seine [Thomas’] Lehre (…) enthält überraschenderweise im Stoff der einzelnen Fragen meistens fast nur eine Wiedergabe der üblichen Schulmeinung strengerer Richtung, unterbaut mit aristotelischen Lehrstücken.“
Anders als Augustinus, der, auch wenn er die platonische Götter- und Dämonenlehre natürlich als heidnisch ablehnte, stark von der neoplatonischen Philosophie geprägt war, war Thomas Anhänger der aristotelischen Naturphilosophie. Er verband die augustinischen Lehren von Erbsünde, Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft mit den naturphilosophischen Grundannahmen des Aristoteles, insbesondere mit deren misogynen biologischen Implikationen, welche die Scholastiker offensichtlich durchweg in höchstem Maße angesprochen haben. Thomas elaborierte sie zu einer differenzierten Dämonologie, die seither das katholisch-christliche Denken bestimmt.
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Enzyklika „Aeterni Patris“ vom 4. August 1879 von Leo XIII. URL: http://www.vatican.va/holy_father/ leo_xiii/encyclicals/documents/hf_l-xiii_enc_04081879_aeterni-patris_en.html (Zugriff: 01.11.2010). Vgl. hierzu Berger 2001: 67.
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
Hinsichtlich der Teufelsbuhlschaft war Thomas bei Weitem nicht so zurückhaltend wie Augustinus. Was dieser noch für zumindest möglich hielt, war für den Aquinaten längst erwiesene Tatsache. Ernsthaft, ausführlich und mit der für scholastische Abhandlungen typischen Spitzfindigkeit setzte sich der mit Ehrentiteln wie „doctor angelicus“45 oder „lumen ecclesiae“46 überhäufte Gelehrte unter anderem auch mit der brisanten Frage auseinander, ob und gegebenenfalls wie auf diese Weise auch Nachwuchs gezeugt werden könne und was für Kinder dabei entstehen würden. „Wenn jedoch gelegentlich aus dem Beischlaf böser Geister einige geboren werden, so stammt das nicht aus dem von ihnen oder von den angenommenen Leibern ausgeschiedenen Samen, sondern aus dem zu diesem Zweck erhaltenen Samen irgendeines Menschen. Und zwar so, daß der böse Geist beim Manne als Beischläferin [lat.: succubus], bei der Frau als Beischläfer [lat.: incubus] tätig ist; wie sie auch die Samen anderer Dinge zur Erzeugung mancher Dinge annehmen (Augustinus). Der so Geborene ist dann nicht ein Sohn des bösen Geistes, sondern jenes Menschen, von dem Samen erhalten wurde“ (S. Th. I, q. 51, art. 3, ad 6, Bd. 4: 157 f.).
Den Verfasser des Hexenhammers, der explizit an diese „Samenvermittlungstheorie“ (Ranke-Heinemann 1998: 243) des Aquinaten anknüpfte, trieb, wie manch andere Autoren vor und nach ihm auch (vgl. hierzu: Masters 1962: 78 ff.), im Anschluss daran die Frage um, wie es dem körperlosen Teufel wohl gelänge, das doch so leicht verderbliche Sperma haltbar zu machen. Er vermutete, „daß die Dämonen ihn irgendwo aufbewahren können zur Konservierung des Samens, so daß die Lebenswärme nicht erkalten kann“ (Kramer 1487: 92).
Dass Sperma auch tiefgefroren werden kann, war im 15. Jahrhundert noch unbekannt. Die Lehren von Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft sind die zentralen theoretischen Grundlagen der seinerzeitigen Ätiologien des vermeintlichen Anders-Sein. In der thomistischen Fassung erhielten diese Theorien zudem nun endgültig „den Charakter eines deutlich ausgesprochenen Lehrsatzes (…). Der ‚engelsgleiche Doktor’, der gefeierte Heilige und Gelehrte des Dominikanerordens, muß daher als derjenige bezeichnet werden, der am meisten zur Festsetzung dieses Wahnwitzes beigetragen hat“ (Riezler 1896: 42).47 Auch im Hinblick auf die Folgen der Erbsünde knüpft Thomas an Augustinus an. Er lehrt: „In der geschlechtlichen Zusammenkunft wird der Mensch insofern tierisch, als er Lust der geschlechtlichen Vereinigung und die Glut der Begierde mit seiner Vernunft nicht beherrschen kann“ (S. Th. I, q. 98, art. 2, ad 3, Bd. 7: 152). Wie Augustinus beklagt er, dass „die Bewegungen der Geschlechtsglieder dem Befehl der Vernunft nicht gehorchen wie die Bewegung der anderen äußeren Glieder“ (S. Th. II-II, q. 151, art. 4, Bd. 22: 13 f.).
Für Thomas war die Erbsünde ebenso wie für Augustinus und andere, deren Auffassungen Thomas in seinem Werk ebenfalls zusammengefasst und systematisiert hat, eine Art Infektionskrankheit, die durch den für die Zeugung in aller Regel unvermeidlichen lustgesteuer45 46 47
Engelsgleicher Gelehrter. Licht der Kirche. An dieser Stelle sei bereits erwähnt, dass der Beischlaf zwischen Teufel und Menschen auch noch für den Reformator Martin Luther eine Selbstverständlichkeit war. Darauf wird im Zusammenhang der Ausführungen über die Wechselbälger noch näher einzugehen sein.
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ten Geschlechtsverkehr48 an die Nachkommenschaft übertragen wird. Bis heute gilt als offizielle Lehre der katholischen Kirche: „Die Erbsünde (…) ist eine Sünde, die wir ‚miterhalten’ nicht aber ‚begangen’ haben. Sie ist ein Zustand von Geburt an, nicht eine persönliche Tat. Wegen der Einheit des Ursprungs aller Menschen überträgt sie sich auf die Nachkommen Adams mit der menschlichen Natur, ‚nicht durch Nachahmung, sondern durch Fortpflanzung’. Diese Weitergabe ist ein Geheimnis, das wir nicht völlig verstehen können“ (KKK-K 2005, Nr. 76: 51).
Nur ein- bzw. zweimal blieb in der nachparadiesischen Menschheitsgeschichte nach katholischer Lesart der biblischen Überlieferung ein Kind von der Erbsünde verschont: Jesus Christus. Seine Empfängnis, und – das konnten Augustinus und Thomas allerdings noch nicht wissen49 – neuerdings auch diejenige seiner Mutter durch Großmutter Anna, soll nämlich „unbefleckt“, das heißt ohne sündige Lust erfolgt sein. Thomas konnte sich übrigens durchaus vorstellen, dass irgendwann einmal wieder ein Mensch, er dachte dabei vermutlich eher an einen Mann als eine Frau, ohne Erbsünde zur Welt kommen könnte. „Da die Erbsünde durch die Bewegung des Werdens gerade von den Ersteltern her sich auf die Nachkommenschaft wälzt, so kann einer unmöglich sich die Erbsünde zuziehen, wenn er wunderbarerweise aus menschlichem Fleisch gebildet würde“ (S. Th. I-II, q. 81, art. 1; TBA Bd. 2: 411).
Ob Thomas da mehr an Frankenstein oder an das Wunder der In-vitro-Fertilisation gedacht hat, ist ungewiss. Halb jedenfalls entspricht die Befruchtung im Reagenzglas, so die weltweit erste je auf eine Professur für katholische Theologie berufene, 1987 allerdings mit kirchlichem Lehrverbot belegte Frau, Uta Ranke-Heinemann (*1927), Altersgenossin und ehemalige Studienkollegin von Joseph Ratzinger, seit 2005 Benedikt VXI., den Visionen der großen Kirchenlehrer vom Paradies: „Lustlose Empfängnis seitens der Mutter. Es stört nur noch der durch Masturbation gewonnene Same des lustvollen Vaters. Falls aber der Same des Mannes operativ gewonnen [oder synthetisch hergestellt50] wird, ist der paradiesische Zustand ungefähr erreicht und sind alle Forderungen und Bedingungen des Augustinus [und, so kann hier ergänzt werden, des Aquinaten] erfüllt“ (Ranke-Heinemann 1998: 98).
So haben sich die meisten von uns das Paradies vermutlich nicht vorgestellt.
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Das bedeutet allerdings nicht, „daß jener Akt [gemeint ist der in Zeugungsabsicht ausschließlich unter Eheleuten erfolgende Geschlechtsverkehr] Sünde sei, sondern nur, dass ihm eine aus der Ersten Sünde fließende Strafverhaftung innewohnt“ (S. Th. II-II, q. 153, art. 2, ad 3, Bd. 22: 45). Erst am 8. Dezember 1854 verkündete nämlich Pius IX. in der Bulle „Ineffabilis Deus“, „daß die allerseligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch ein einzigartiges Gnadenprivileg des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Jesu Christi, des Erlösers des menschlichen Geschlechtes, von aller Makel der Erbsünde bewahrt blieb“, als „von Gott geoffenbart(e)“ Tatsache. Nach Thomas wurde Maria hingegen erst durch die Empfängnis Christi „vom Zunder der bösen Begierte gereinigt“ (S. Th. III, q. 27, art. 3, ad 3, Bd. 26: 231; III, q. 27, art. 5, ad 2, Bd. 26: 239). Genetikern der Universität Göttingen ist es 2006 zumindest bei Mäusen gelungen, mit künstlich aus Stammzellen hergestelltem Sperma Nachwuchs zu zeugen (vgl. Nayernia u. a. 2006: 125 ff.).
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1.3 Die Frau als Teufel in Menschengestalt und die heilige Jungfrau: Dämonologischtheologischer Sexismus In der nachparadiesischen Zeit ist der Spaß am Sex das Einfallstor für den Teufel und seine dämonischen Heerscharen schlechthin. Besonders anfällig dafür sind vor allem die Frauen, weil sie sich so leicht verführen lassen. Das war schon im Paradies so. Mit Bedacht hat sich der Teufel deswegen nicht zuerst an Adam gewandt, sondern an Eva – Augustinus nannte sie den „schwächeren51 Teil des ersten Menschenpaars“ (Augustinus: Civ. Dei XIV, 11, Bd. 2: 185) –, denn „er [der Teufel] dachte, der Mann werde nicht so leichtgläubig sein, sich täuschen zu lassen, wohl aber durch Nachgiebigkeit dem Irrtum der Gefährtin erliegen“ (ebd.).
Zwar hätte Adam – als Mann, versteht sich – den Braten längst gerochen, trotzdem hat „dieser Mann seinem Weibe, der eine der einen, der Mensch dem Menschen, der Gatte der Gattin, vom Gefühl der engen Zusammengehörigkeit bestimmt52, nicht vom Glauben an ihre vermeintlich wahre Rede verführt, nachgegeben“ (ebd.).53
Adam, der Mann, „der durch das Weib in Sünde fiel, das aus ihm erschaffen ward, ehe es Sünde gab“ (a. a. O. XIII, 14, Bd. 2: 128), erscheint hier in seiner Nachgiebigkeit als bedauernswertes Opfer der Verführungskünste seiner Frau, die ihn – vom Teufel instrumentalisiert – in eine geradezu ausweglose Zwangslage trieb und mit ins Verderben zog. „Wurden auch nicht beide leichtgläubig hintergangen, so doch beide sündigend eingefangen und gerieten so in des Teufels Stricke“ (a. a. O. XIV, 11, Bd. 2: 186).
An der Vorstellung der erhöhten Anfälligkeit der Frauen gegenüber teuflischen Versuchungen hat sich auch in nachparadiesischer Zeit nichts geändert. Auch nicht daran, dass der Mann erst und vor allem durch die Frau von diabolischen Anfeindungen bedroht wird. Die Frau steht dem Teufel auf jeden Fall näher als der Mann und lässt sich vom Teufel oftmals willfährig zum Schaden des Mannes dienstbar machen. Frauen, jedenfalls normale Frauen, auf den Sonderfall Maria kommen wir sogleich zu sprechen, gelten in der kirchenchristlichen Lehre von Natur aus als anders-, ja abartige und infolgedessen als defektive und minderwertige Wesen, die sich den Männern, wie bereits Paulus den Frauen der Gemeinde in Ephesus54 und Tessalonki55 immer wieder ins Stamm51 52 53
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Genauer „minderwertigen“, lat.: inferiore. Genauer übersetzt: „der Notwendigkeit der Zusammengehörigkeit gehorchend“ („sociali necessitudine paruisse“). Augustinus und später auch Thomas (S. Th. II-II, q 163, art. 4, Bd. 22: 279 f.) beziehen sich in diesem Zusammenhang explizit auf Paulus, welcher ebenfalls lehrt: „Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot“ (1. Timotheus 2, 14). Die Frage, ob sich dieses Detail tatsächlich aus dem Text der Genesis herausinterpretieren lässt oder eher in ihn hineininterpretiert wurde, mag hier dahingestellt bleiben. Für den jüdischen Theologen Pinchas Lapide (1990: 91) ist jedenfalls „die Schuld des Adam, nach jüdischer Deutung (…) viel größer“, denn „er erweist sich (…) als passiver Mitläufer, der gar nicht verführt zu werden braucht, denn die Bibel schildert ihn als wortlosen, untätigen Mit-esser, der seiner Frau fraglos und blindlings folgt“. „Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren lassen. Dass eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, dass sie über ihren Mann herrscht; sie soll sich still verhalten. Dennn zuerst wurde Adam er-
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buch schrieb, in jeder Hinsicht unterzuordnen haben. Daraus resultiert ein vor allem im Katholizismus bis heute fortbestehender Sexismus, der eklatant gegen elementare Bürgerund Menschenrechte verstößt56 und sich auch keinesfalls durch den Hinweis auf die katholische Marienverehrung relativieren lässt, im Gegenteil. Mit Maria wird ja nicht die Frau als solche verehrt, sondern allein die völlig untypische, „immaculata“57 Maria, deren Geschlechtlichkeit allein auf das Austragen und die Geburt des ohne Geschlechtsakt gezeugten Gottessohnes reduziert wird. Auch nach Jesu Geburt hatte sie nach katholischer Dogmatik niemals Sex. Mehr noch: „Durch die Gnade Gottes ist Maria während ihres ganzen Lebens frei von jeder persönlichen Sünde geblieben“ (KKK 2005, Nr. 493: 156).
Geschwister von Jesus, von denen in der Bibel an mehreren Stellen die Rede ist,58 werden von der katholischen Theologie „mit einem päpstlichen Insektizid theologisch abgetrieben“ (Ranke-Heinemann 2005). Sie werden kurzerhand zu Stiefgeschwistern aus der ersten Ehe von Joseph, nach katholischer Lehre Jesu „Pflegevater“ (KKK 2005, Nr. 532: 166), umgedeutet oder zu Vettern und Cousinen Jesu. Dafür liefert der biblische Text selbst allerdings ebenso wenig einen Anhaltspunkt wie für die Jungfräulichkeit Marias überhaupt. „Das Wort ‚Jungfrau’ (…) bedeutet im israelitisch-jüdischen Verständnis auch zur Zeit Jesu eine junge, geschlechtsreife Frau in heiratsfähigen Alter – ist also eine Altersbezeichnung – ganz gleich, ob sie bereits geschlechtliche Erfahrungen hat oder nicht“ (Bellinger 1999: 378).
So der katholische Neutestamentler Gerhard Bellinger (*1931), der unter anderem bei Joseph Ratzinger in Münster studiert hat. Die katholische Jungfrauenlehre führt zu einer voll-
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schaffen, danach Eva. Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot“ (1. Timotheus 2, 11-14). Timotheus († um 97) soll erster Bischof von Ephesus gewesen und dort gesteinigt worden sein. „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn (Christus); denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist; er hat sie gerettet, denn sie ist sein Leib. Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, sollen sich die Frauen in allem den Männern unterordnen“ (Epheser 5, 22-24). „Eine Frau aber entehrt ihr Haupt, wenn sie betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht verhüllt. Sie unterscheidet sich dann in keiner Weise von einer Geschorenen. Wenn eine Frau kein Kopftuch trägt, soll sie sich doch gleich die Haare abschneiden lassen. Ist es aber für eine Frau eine Schande, sich die Haare abschneiden oder sich kahl scheren zu lassen, dann soll sie sich auch verhüllen [ein interessanter Beitrag zur aktuellen Diskussion des Verbots der Burka für islamische Frauen]. Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann. Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann. Deswegen soll die Frau mit Rücksicht auf die Engel das Zeichen ihrer Vollmacht auf dem Kopf tragen. (…) Lehrt euch nicht schon die Natur, dass es für den Mann eine Schande, für die Frau aber eine Ehre ist, lange Haare zu tragen? Denn der Frau ist das Haar als Hülle gegeben [dabei wird Jesus doch in der einschlägigen Ikonografie meistens als langhaarig und bärtig dargestellt]“ (1. Korinther 11, 5-15). Dieser an sich menschenrechtswidrige und seit 2006 eigentlich auch gegen das Antidiskriminierungsgesetz verstoßende Sexismus ist allerdings in Deutschland durch das Kirchenprivileg nach Art. 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung verfassungsrechtlich geschützt. Deutsch: unbefleckte. Zum Beispiel Matthäus 12, 46 f. und 13, 55 f; Markus 3, 32 und 6, 3; Johannes 2, 12 und 7, 3; Apostelgeschichte 1, 14. Unter Matthäus 13, 55 f. und Markus 6,3 werden sogar die Namen seiner vier Brüder genannt: Jakobus, Josef (bei Markus: Joses), Simon und Judas, außerdem ist noch von Schwestern die Rede, die aber nicht näher genannt werden.
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ständigen Entsexualisierung der Frau Maria, welche solcherart der sündigen Eva und mit ihr allen anderen Frauen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, deren Prototyp sie ja gewissermaßen verkörpert, als immer wieder unerreichbares Vorbild der „neuen Eva“ (KKK 2005, Nr. 511: 160; Nr. 2853: 715) gegenübergestellt wird. Selbst wenn sie es wollte, keine real existierende Frau wäre wohl in der Lage, ihre Geschlechtlichkeit auf Mutterschaft ohne „Befleckung“ durch Sex zu reduzieren. Maria hingegen ist „‚Jungfrau geblieben (…), als sie ihren Sohn empfing, Jungfrau, als sie ihn gebar, Jungfrau, als sie ihn an seiner Brust nährte, allzeit Jungfrau’ (hl. Augustinus, serm. 186, 159)“ (KKK 2005, Nr. 510: 160). Sie „ist Jungfrau und Mutter zugleich, weil sie das Inbild der Kirche und Kirche im Vollsinn ist“ (KKK 2005, Nr. 507: 160).
Dabei bleibt sie natürlich „nur“ Frau und wird, auch wenn sie als leibliche Mutter Gottes, „der dem Fleische nach wirklich ihr Sohn geworden ist“ (KKK 2005, Nr. 495: 157), verehrt wird, dadurch keineswegs göttlich, vielmehr ist und bleibt sie „mit ihrem ganzen Wesen ‚die Magd des Herrn’ (L[u]k[as]. 1,38)“ (KKK 2005, Nr. 510: 160). Ihr Dienst war das Austragen ihres und Gottes Sohnes und nicht zuletzt wohl auch dessen Erziehung, über die allerdings nur wenig überliefert ist. Der akademischen Theologie bereitet die Jungfrauenlehre und die daraus resultierende Konsequenz der Vorstellung einer biologischen Vaterschaft Gottes zuweilen durchaus Kopfzerbrechen. Nach Auffassung von Karl Rahner (1904-1984) „können (…) diese Berichte, innerhalb deren die Jungfrauengeburt ausgesagt wird, als Midrasch, als ausmalende, aktualisierende Predigt, als Lehr- und Erbauungserzählung (…), als Schöpfung der Theologie, die es innerhalb des Neuen Testaments selbstverständlich schon gibt und die sich gewisse theologische Fragen stellt und beantwortet“ (Rahner 1970: 124),
verstanden werden. Auch der damalige Professor für Katholische Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen, Joseph Ratzinger, setzte sich in seiner Einführung in das Christentum mit der Frage der Jungfräulichkeit Marias und der biologischen Gottessohnschaft Jesu auseinander. Ratzinger (1968: 224; 2007: 25860) weiß selbstverständlich, dass „der Mythos von der wunderbaren Geburt des Retterkindes (…) weltweit verbreitet“ und keineswegs eine Besonderheit nur des christlichen Credos ist. Er stellte die Vorstellung von einer biologisch verstandenen Empfängnis durch den heiligen Geist sogar in die Nähe heidnischer Irrlehren, von denen es gilt, die katholische Lehre abzugrenzen. Als zentralen Gegensatz der katholischen Lehre zu den nichtchristlichen Überlieferungen stellte er heraus, „daß in den heidnischen Texten fast immer die Gottheit als befruchtende, zeugende Macht, also unter einem mehr oder weniger geschlechtlichen Aspekt und von da aus in einem physischen Sinne als der ‚Vater’ des Retterkindes erscheint. Nichts davon ist (…) im Neuen Testament der
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Augustinus 411/12: 125. Die immerwährende Jungfräulichkeit Marias betont Augustinus in nahezu jeder seiner in diesem Band zusammengetragenen Weihnachtspredigten. Seit 2000 erscheint wieder eine Neuauflage des lange vergriffenen Werkes von 1968, versehen mit einem neuen Vorwort, ansonsten aber mit unverändertem Text, bis 2007 in der 9. Auflage, seit 2005 unter explizitem Hinweis auf das neue Kirchenamt des Autors (die zweite Seitenzahlangabe in den Zitaten bezieht sich jeweils auf die Neuauflage).
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Fall: Die Empfängnis Jesu ist Neuschöpfung, nicht Zeugung durch Gott. Gott wird dadurch nicht etwa zum biologischen Vater Jesu (…)“ (a. a. O.: 224 f.; 258). „Die Gottessohnschaft Jesu beruht nach kirchlichem Glauben nicht darauf, daß Jesus keinen menschlichen Vater hatte; die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre. Denn die Gottessohnschaft, von der der Glaube spricht, ist kein biologisches, sondern ein ontologisches Faktum; kein Vorgang in der Zeit, sondern in Gottes Ewigkeit“ (a. a. O.: 225; 258; vgl. auch Fn. 58). „Ohne Zweifel: die Formel von der ‚physischen’ Gottessohnschaft Jesu [die in den Schriften kirchlicher Theologie immer wieder zu finden ist] ist unglücklich und mißverständlich; sie zeigt, daß es der Theologie in fast zweitausend Jahren noch immer nicht gelungen ist, ihre Begriffssprache von den Eierschalen ihrer hellenistischen Herkunft zu befreien“ (a. a. O.: 225 f.; 259).
Dem protestantischen Neutestamentler Eduard Schweizer (1913-2006) warf Ratzinger „die stillschweigende Gleichsetzung von Biologie und Metaphysik [vor]. Die metaphysische (seinsmäßige) Gottessohnschaft wird allem Anschein nach als biologische Abstammung mißdeutet und damit in ihrem Sinn auf den Kopf gestellt: Sie ist (…) gerade die nachdrückliche Abwehr einer biologischen Auffassung der Herkunft Jesu von Gott. Es kann einen freilich etwas betrübt stimmen, daß man eigens sagen muß, daß die Ebene der Metaphysik nicht diejenige der Biologie ist“ (a. a. O.: 226; 260).
Während Ratzinger als akademischer Theologe 1968 noch die Grenzen seiner Disziplin respektierte, sich auf metaphysische Interpretationen beschränkte und die Bearbeitung biologischer Fragen der Biologie überließ, gab er als soeben ernannter Erzbischof von München und Freising diese Zurückhaltung auf. 1977 legte er ein Buch über den Marienglauben vor, in dem er mit theologischen Auffassungen, wie er sie als Hochschullehrer noch selbst vertreten hatte, hart ins Gericht ging, ohne allerdings seine mariologischen Ausführungen von 1968 im Grundsatz zurückzunehmen.61 „Nun aber weiß man, daß die Jungfrauengeburt als Faktum, als reale Tatsache der Geschichte, aufs schärfste bestritten und heute auch von katholischen Theologen weithin aufgegeben wird: 61
Lediglich in einer Fußnote räumte er ein, dass seine früheren Ausführungen, der zufolge Jesu Gottessohnschaft die Herkunft aus einer normalen Ehe nicht ausschlösse, zu Missverständnissen Anlass geben könnte, obwohl sie doch eigentlich recht unmissverständlich formuliert waren, keineswegs aus dem Zusammenhang gerissen wurden und auch von anderen Autoren, unabhängig davon, ob sie ihr widersprechen, wie Balthasar (1975: 43) auf dessen Kritik Ratzinger mit seiner Fußnote reagiert, oder zustimmen, wie unlängst Ott (2010: 102), bis heute so verstanden werden. Um das Missverständnis auszuräumen, führte er aus: „Ich wollte (...) klarmachen, daß die ontologischen Aussagen von Nikäa und Chalkedon als solche nicht mit den Aussagen über die jungfräuliche Empfängnis identisch sind. Daß zwischen beidem – der Personeinheit Jesu mit dem ewigen Sohn des ewigen Vaters und der irdischen Vaterlosigkeit des Menschen Jesus – bei aller Unterschiedenheit der Ebenen eine tiefe, ja unlösbare Entsprechung besteht, sollte nicht bestritten werden (Ratzinger 1977: 50, Fn 6). Zur Erläuterung: Nicäa und Chalkedon (auch: Chalcedon) waren Austragungsorte zweier Konzilien, in denen es vor allem um die Frage ging, ob Jesus und Gott wesensgleich (ۯȝȠȠȪıȚȠȢ) odernur wesensähnlich (ۯȝȠȚȠȪıȚȠȢ) sind. Beim Konzil von 325 in Nicäa entschied der römische Kaiser Konstantin, der, obwohl noch nicht getauft, das Konzil einberufen hatte und leitete, „aus welchen Gründen auch immer, gegen die Mehrheit der Bischöfe für die Lehre von der Wesensgleichheit“ (Wetzel 1994: 36, vgl. auch Schneider 1963: 468). Die Vertreter der anderen Glaubensauffassung um den Presbyter Arius (um 260-336) wurden anschließend verketzert, Arius vom Kaiser verbannt. Auf dieser Grundlage wurde ein erstes Glaubensbekenntnis verabschiedet, welches bereits die seither verbindliche Trinitätslehre, noch nicht allerdings das Bekenntnis zur Jungfräulichkeit Mariens enthielt. Die wurde erst 381 in Konstantinopel beschlossen, 451 in Chalkedon bestätigt und damit ebenfalls verbindlich.
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Nur auf den geistigen Sinn komme es an, so sagt man, das Biologische könne für die Theologie nicht wichtig sein und sei lediglich als symbolisches Ausdrucksmittel zu werten. Aber dieser Ausweg, so plausibel er scheint, führt in Wirklichkeit in eine Sackgasse; er erweist sich bei näherem Zusehen als Täuschung. Die großzügige Trennung von ‚Biologie’ und Theologie lässt nämlich genau den Menschen aus; sie ist an dieser Stelle ein Widerspruch in sich selber, denn der springende Punkt des Ganzen liegt doch gerade in der Aussage, dass im Humanen auch das Biologische human und erst recht im Theo-humanen nichts bloß ‚biologisch’ ist“ (a. a. O.: 51).62
Ratzinger war sich selbstverständlich darüber im Klaren, dass die Vorstellung von der biologischen Jungfrauengeburt im Widerspruch zu unserem heutigen naturwissenschaftlich geprägten Weltbild steht, doch „was die weltbildliche Vorgabe anbelangt, die uns psychologisch nötigen möchte, Jungfrauengeburt für unmöglich zu erklären, so ist klar, daß sie nicht aus Wissen, sondern aus Wertungen erfolgt. Jungfrauengeburt ist zwar heute wie damals das Unwahrscheinliche, aber keineswegs das schlechthin Unmögliche; es gibt keinen Beweis für ihre Unmöglichkeit, und kein ernster Naturwissenschaftler würde so etwas behaupten“ (a. a. O.: 56 f.).
Wir werden noch ausführlich zeigen, dass selbstverständlich auch Naturwissenschaften und ihr Weltbild nicht unfehlbar sind, auch wenn viele ihrer Vertreter daran ebenso glauben wie die Kirche an die Unfehlbarkeit ihrer Dogmen. Die apodiktische Behauptung der prinzipiellen Unmöglichkeit bestimmter Naturvorgänge ist, auch wenn es dafür (scheinbar) gute Argumente gibt, zumindest formallogisch tatsächlich nicht wissenschaftlich beweisbar, sondern dogmatisch. Plausibler wird das katholische Dogma dadurch allerdings nicht. Wesentlich einleuchtender erscheint, dass die in vielen religiösen Lehren, die Ratzinger als heidnisch abtut, vorfindlichen „verworrenen Hoffnungen der Menschheit auf die Jungfrauen-Mutter“ (Ratzinger 1968: 224; 257) auch Eingang in das Neue Testament gefunden haben63 und dann vor allem in die späteren kirchen-christlichen Dogmen. Dort wurden sie proportional zur zunehmend sexualfeindlichen und misogynen Ausrichtung der kirchlichen Lehre immer anschlussfähiger. Zusammenfassend lässt sich somit die „Marienverhimmelung [als] Ausdruck der Verteufelung der Frau“ (Deschner 1998: 215) charakterisieren. „Indes Maria (…) immerhin zur ‚Pforte des Himmels’ werden konnte, wurde jede andere Frau, zumal wenn sie nicht Nonne, nicht direkt Instrument des Klerus war, die ‚allzeit offene Höllenpforte’“ (a. a. O: 217).
Bis heute ist es undenkbar, dass eine Frau die Priesterweihe erhält, Bischöfin oder gar Päpstin64 wird. Das hat Johannes Paul II. in seinem apostolischen Schreiben „Ordinatio 62
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Die in Fn. 60 erwähnte Neuauflage (Ratzinger 2007) ist insofern bemerkenswert, als sich u. a. auch die Essener Theologin Uta Ranke-Heinemann, der 1987 die kirchliche Lehrbefugnis entzogen wurde, nachdem sie die Jungfräulichkeit Marias bestritten und die Gottessohnschaft Jesu theologisch und nicht biologisch verstanden wissen wollte, genau auf diese Ausführungen Ratzingers sowie auf Rahner, den Betreuer ihrer Habilitation, Bezug genommen hatte. Beides wurde jedoch damals von den Obristen der zuständigen Essener Diözese als Irrlehre zurückgewiesen. Heute macht Ratzinger als Papst Benedikt XVI. seinerzeit inkriminierte Irrlehren unverändert wieder öffentlich zugänglich. Das wird allerdings von Theologinnen und Theologen unterschiedlich interpretiert und kontrovers diskutiert. Es sei denn, sie gibt sich als Mann aus, wie Päpstin Johanna, die Überlieferungen zufolge, deren Echtheit allerdings umstritten sind, von 853 bis 855 zwischen Leo IV. und Benedikt III. als Johannes Anglicus das Pontifikat inne gehabt haben soll (hierzu: Gössmann 1994). In solchen Fällen ist die empfangene Weihe al-
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sacerdotalis“ vom 22. Mai 1994 unmissverständlich und bis zum Ende aller Zeiten (zumindest der katholischen Kirche)65 festgeschrieben: „Damit also jeder Zweifel bezüglich der bedeutenden Angelegenheit, die die göttliche Verfassung der Kirche selbst betrifft, beseitigt wird, erkläre ich kraft meines Amtes, die Brüder zu stärken (vgl. Lk 22,32)66, daß die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und daß sich alle Gläubigen endgültig an diese Entscheidung zu halten haben.“
Die versuchte Ordination einer Frau gilt in der katholischen Kirche als Kirchenstraftatbestand und wird entsprechend geahndet. Am 19. Dezember 200767 hat die Glaubenskongregation ein „Allgemeines Dekret in Bezug auf die Kirchenstraftat der versuchten Ordination einer Frau“ erlassen, welches „zum Schutz des Wesens und der Gültigkeit des Weihsakraments“ verfügt, dass „sich jeder, der einer Frau die heilige Weihe zu spenden, wie auch die Frau, welche die heilige Weihe zu empfangen versucht, die dem Apostolischen Stuhl vorbehaltene Exkommunikation latae sententiae68 zu(zieht)“.
Die sexistische Intoleranz gegenüber Frauen und anderen Personengruppen gehört übrigens, so Benedikt XVI. (2010: 72), zur kirchlichen Identität und müsse daher toleriert werden, ansonsten werde „im Namen der Toleranz die Toleranz abgeschafft“. „Wenn man beispielsweise im Namen der Nichtdiskriminierung die katholische Kirche zwingen will, ihre Position zur Homosexualität oder zur Frauenordination zu ändern, dann heißt das, dass sie nicht mehr ihre eigene Identität leben darf, und dass man stattdessen eine abstrakte Negativreligion zu einem tyrannischen Maßstab macht, dem jeder folgen muss“ (ebd.).
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lerdings ungültig, denn, wir hatten es schon in den Ausführungen über dämonologisch-theologischen Sexismus gezeigt, der Gott der katholischen Kirche will einfach keine Frauen als Geistliche haben. „‚Die heilige Weihe empfängt gültig nur ein getaufter Mann [vir]’ (CIC, can. 1024). (…) Die Kirche weiß sich durch diese Wahl, die der Herr selbst getroffen hat, gebunden. Darum ist es nicht möglich, Frauen zu weihen“ (KKK 2005, Nr. 1577: 425). Hier ist zu vergegenwärtigen, dass der Papst seit 1870 unfehlbar ist. Alles, was er seither kraft seines Lehramtes, nicht als Privatperson, verkündet, gilt als von Gott geoffenbarte, mithin unumstößliche, auch von späteren Päpsten nicht mehr revidierbare Wahrheit, denn Gott irrt nicht und unterliegt keinem Zeitgeist (vgl. Hasler 1979). Zwar wurde das Dekret nicht öffentlich „ex cathedra“, sondern diskreter verkündet, gleichwohl ist es – das stellt ein vom damaligen Papst genehmigtes und von seinem späteren Nachfolger Joseph Kardinal Ratzinger unterzeichnetes Schreiben der Kongregation für Glaubenslehre vom 28. Oktober 1995 noch einmal unmissverständlich klar – „vom ordentlichen und universalen Lehramt unfehlbar vorgetragen worden“ (veröffentlicht in: L’Osservatore Romano vom 24. November 1995) und damit als nicht mehr revidierbare Lehrmeinung (vgl. Mynarek 2005: 113 f.) auch für alle Zukunft verewigt. Auch der gegenwärtig amtierende Papst hält sich für unfehlbar, nicht in Alltagsfragen, aber in Grundsatzfragen, wenn er sie als Oberhirte verkündet (was er allerdings bislang noch nicht getan hat): „Der Papst kann selbstverständlich verkehrte Privatmeinungen haben. Aber wenn er (…) als oberster Hirte der Kirche im Bewusstsein seiner Verantwortung spricht, dann sagt er nicht mehr irgend etwas Eigenes, was ihm gerade eingefallen ist. Dann weiß er sich in dieser großen Verantwortung und zugleich auch unter dem Schutz des Herrn, dass er in einer solchen Entscheidung die Kirche nicht in die Irre führt“ (Benedikt XVI. 2010: 23). Dort sagt Jesus zu seinem Jünger Simon Petrus, nach katholischer Lehre dem ersten Papst, den Jesus selbst zu seinem Nachfolger ernannt haben soll: „Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder.“ Veröffentlicht im Amtsblatt des Apostolischen Stuhls L’Osservatore Romano vom 30. Mai 2008. Automatisch auf die Tat folgende Strafe.
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
Im Zusammenhang mit der Frage der Frauenordination sei, so der Papst weiter, die sexistische Intoleranz im Übrigen nicht kirchlichen, sondern göttlichen Ursprungs. „Es ist nicht so, dass wir sagen, wir mögen nicht, sondern: Wir können nicht. Der Herr hat der Kirche eine Gestalt gegeben mit den Zwölfen – und in deren Nachfolge dann mit den Bischöfen und den Presbytern, den Priestern. Diese Gestalt der Kirche haben nicht wir gemacht, sondern sie ist von Ihm her konstitutiv“ (a. a. O: 178).
Es ist also der Gott der katholischen Kirche selbst, der, anders als derjenige der evangelischen Kirchen, welcher auf eine solche Form der Frauendiskriminierung bekanntlich nicht besteht, den Zugang von Frauen zu Kirchenämtern nicht toleriert. „Dem zu folgen ist ein Akt des Gehorsams, eines in heutiger Situation vielleicht mühsamen Gehorsams. Aber gerade dies ist wichtig, dass die Kirche zeigt: Wir sind kein Willkürregime“ (ebd.).
Man stelle sich die öffentlichen Reaktionen vor, wenn ein Geistlicher einer nichtchristlichen Religion mit einer solchen Argumentation Toleranz für sexistische Diskriminierungen in seiner Religionsgemeinschaft fordern würde. Kommen wir noch einmal zurück zu Thomas. Bei der Lehre von der biologischen Minderwertigkeit der Frau orientierten sich er und andere Kirchenlehrer, wie schon erwähnt, unter anderem an der ansonsten als heidnisch abgelehnten Naturphilosophie des griechischen Naturphilosophen Aristoteles (384-322 v. u. Z.). Dieser lehrte: „Der Same des Männchen ist nun dadurch ausgezeichnet, daß er den Lebensquell in sich hat und zwar einen solchen, der in dem Geschöpf die Entwicklung einleiten und die letzte Nahrungsstufe reifen lassen kann, während der des Weibchens nur Stoff bietet. Wird der männliche Same mit diesem fertig, so zwingt er ihn in die eigene Form, wird er überwältigt, so schlägt er ins Gegenteil um. Das Gegenteil zum Männlichen ist aber das Weibliche, und weiblich ist etwas aus Mangel an reifender Kraft und durch Kälte der Blutnahrung“ (1959: 178).
Daran anknüpfend lehrte der 1931 von Pius XI. ebenfalls heilig gesprochene und zugleich zum Kirchenlehrer ernannte akademische Lehrer des Aquinaten Doctor universalis Albertus von Lauingen (1193-1280), dem die Nachwelt unter anderem den Beinamen „Magnus“ („der Große“) gegeben hat, in seinem Aristoteles-Kommentar, „daß die Frauen in stärkerem Maße lügnerisch und unbeständig, mißtrauisch, schamlos, gewandt in der Fertigkeit täuschender Rede sind, kurz: Die Frau ist nichts anderes als ein Teufel in Menschengestalt. (…) Dazu dies: Das weibliche Geschlecht neigt weniger zur Moralität als das männliche. Die Verfasstheit des weiblichen Geschlechts weist nämlich mehr Feuchtigkeit auf als die des männlichen, Merkmal des Feuchten aber ist es, leicht aufzunehmen und schlecht zu bewahren. Das Feuchte ist nämlich leicht beweglich, und deshalb sind die Frauen unbeständig und stets auf Neues aus. Wenn die Frau daher beim Liebensakt unter einem Manne liegt, läge sie, wenn es möglich wäre, zur selben Zeit gern unter einem anderen. Die Frau ist daher gänzlich unzuverlässig. Glaube mir: Wenn du ihr vertraust, wirst du betrogen werden! Glaube dem erfahrenen Lehrer! Ein Zeichen dafür ist auch, daß erfahrene Männer ihre Absichten und ihr Tun keinesfalls vor ihren Ehefrauen ausplaudern. Auch ist die Frau ein zufallsbedingter Mann und besitzt eine gegenüber dem männlichen Geschlecht mit Mangel und Beraubung behaftete Natur, deshalb ist sie der Natur gemäß ohne Selbstvertrauen: was sie deshalb nicht unmittelbar zu er-
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langen vermag, sucht sie durch Lügen und teuflische Betrügereien zu erlangen. Um mich kurz zu fassen: Man muß sich daher vor jeder Frau in acht nehmen wie vor einer giftigen Schlange und einem gehörnten Teufel; wenn es möglich wäre auszusprechen, was ich von den Frauen weiß, wäre die ganze Welt bestürzt“ (Albertus Magnus ca. 1260: 183).
Thomas hat seine Lektion gelernt. Auch für ihn „ist das Weib etwas Mangelhaftes und eine Zufallserscheinung69; denn die im männlichen Samen sich vorfindende wirkende Kraft zielt darauf ab, ein dem männlichen Geschlechte nach ihr vollkommen Ähnliches hervorzubringen. Die Zeugung des Weibes aber geschieht auf Grund einer Schwäche der wirkenden Kraft wegen schlechter Verfassung des Stoffes oder auch wegen einer von außen bewirkten Veränderung z. B. den feuchten Südwinden“ (S. Th. I, q. 92, art. 1, ad 1, Bd. 7: 38).70
Im Zusammenhang mit Überlegungen zu den Gründen falscher Zeugenaussagen gelangt Thomas zu dem bemerkenswerten Schluss, dass solche auch ohne Schuld möglich seien, dies unter anderen „wegen mangelnder Vernunft71, so bei Kindern, Geisteskranken und Frauen“ (S. Th. II-II, art. 3, Bd. 18: 271), die er hier in einem Atemzug nennt. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass sich jüdische Theologen durchaus von den misogynen Schriftauslegung der christlichen Kirchenväter und ihren Nachfolgern abgrenzen und zu ganz anderen Schlüssen gelangen: „Wenn die Schöpfung einen Aufwärtstrend zeigt, vom Regenwurm bis hin zum Menschen, so ist Eva als das letzte Stück im Grunde die Krone dieser Schöpfung“ (Lapide 1990: 80).
Auf Ansätze feministischer Theologien innerhalb christlicher Religion und Konfessionen werden wir noch in den Ausführungen über theologische Dekonstruktionen näher eingehen. 2
Zur Phänomenologie und Ätiologie des Anders-Seins in theologischdämonologischer Sicht
Maßstab des wesentlich von Thomas in seine verbindliche Form gebrachten dämono- bzw. theologisch geprägten Verständnisses des Anders-Seins war also – und ist in der offiziellen katholischen Lehre bis heute – der unversehrte, möglichst enthaltsam und im katholischchristlichen Sinne tugendhaft lebende Mann, der sich auch in seinem Denken bedingungslos dem herrschenden katholischen Dogma unterwirft. Alles, was davon abweicht, galt und gilt als anders, als abnorm, als minderwertig. Zu solchen Abnormitäten gehört z. B. Häresie, also ein von der herrschenden Lehre abweichendes Denken, ebenso wie das weibliche Geschlecht. Auch die Frau galt – wie gezeigt – als zufallsbedingter, missglückter Mann. 69 70
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„(…) femina est aliquid deficiens et occasionatum“. Zum besseren Verständnis sei erwähnt, dass die zeitgenössische Auffassung vom Zeugungsakt davon ausging, lebensspendend sei allein der Same des Mannes, die Gebärmutter der Frau lediglich Nährboden, in dem sich der Same entfalte. Die weibliche Eizelle und damit der Beitrag der Frau zur Zeugung wurde erst 1827 in Königsberg von Karl-Ernst von Baer (1792-1876) entdeckt (vgl. Beier 2002: 333 ff.). Die spannende Frage, wie wohl 325 das Konzil in Nicäa und die nachfolgenden Konzilien zur Frage der Gottessohnschaft entschieden hätten, wäre dies damals schon bekannt gewesen, kann hier nur aufgeworfen, aber nicht vertieft werden. Wörtlich: „ex defectu rationis“, deutsch: „wegen eines Defektes der Vernunft“.
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
Menschen, die ihren Zeitgenossen in diesem Sinne als normabweichend vorkamen, wurden je nach Erscheinungsform und angenommener Ätiologie des vermeintlichen Anders-Seins unterschiedlichen Personengruppen zugerechnet. Gegen Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts, also zu Beginn derjenigen Epoche, die wir gemeinhin als frühe Neuzeit bezeichnen, hat sich eine Typologie des Anders-Seins herausgebildet, die das herrschende öffentliche und wissenschaftliche Denken der folgenden 300 Jahre prägte und die phänomenologisch und ätiologisch zwischen unterschiedlichen Personengruppen differenzierte. Im Zusammenhang unserer Untersuchung interessieren dabei insbesondere
Hexen, Besessene, Narren sowie Wechselbälger und Monstra,
wobei in der zeitgenössischen und auch der späteren Literatur vor allem die Hexen und ihre Verfolgung Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses waren und nicht zuletzt aufgrund der daraus resultierenden Materiallage auch hier den größten Raum einnehmen. Auf zwei weitere marginalisierte Bevölkerungsgruppen zur Zeit der Dämonologisierung des AndersSeins, auf die Juden und auf Homosexuelle, soll nicht an dieser Stelle eingegangen werden, sondern im Zusammenhang der Ausführungen über Kontinuitäten beim Übergang des dämonologischen zum neuen Paradigma, welches das alte ablöst. 2.1 Hexen Da sich der Tatbestand der Hexerei historisch als eine spezifische Form der Häresie, des Ketzertums entwickelt hat, erscheint es zum Verständnis der seinerzeitigen Hexologie zunächst notwendig, in groben Zügen auf die Entstehungsgeschichte des Ketzerwesens, seiner zeitgenössischen Wahrnehmung und Behandlung sowie die Hintergründe dieser Entwicklungen einzugehen. 2.1.1 Ketzerei, Häresie und die Entstehung der Inquisition Während die römisch-katholische Kirche bis zum Ende des ersten Jahrtausends zwar die Abspaltung der oströmische Kirche hinnehmen musste, sich in ihrem Einflussbereich jedoch über die territorialen Souveränitäten hinaus die Vormachtstellung sichern und so als größte supranationale und -territoriale Feudalmacht etablieren konnte, begannen nach der Jahrtausendwende, insbesondere durch die Wiederbelebung des Handels, ökonomische Entwicklungen, die letztlich zur Überwindung der alten Feudalordnung führen sollten. Der Handel zog die Entwicklung von Geldwirtschaft nach sich. Eine Kaufmannselite, die die Produktion überschüssiger Erzeugnisse für den in diesem Zuge entstehenden Markt anregte, entstand als neues und zunehmend ernstzunehmendes ökonomisches Machtzentrum. Neben Grundbesitz wurde immer mehr auch Geldkapital zum bestimmenden Faktor ökonomischer Macht. Inmitten der alten naturwüchsigen Feudalwirtschaft entwickelte sich die rational berechenbare Ware-Geld-Beziehung als neue und die ökonomischen Verhältnisse
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in wachsendem Maße bestimmende Kraft. Die Produktivität der traditionellen feudalistischen Produktivkräfte war dem hierdurch wachsenden ökonomischen Druck, Überschüsse zu produzieren, immer weniger gewachsen. Alle Versuche, diesen Druck an die Fronbauern weiterzugeben, führten dazu, dass diese zunehmend in die gerade entstehenden mittelalterlichen Städte abwanderten. Diese Entwicklung beschleunigte sich und nahm im 12. Jahrhundert geradezu den Charakter einer Massenflucht vom Land zur Stadt an. Die sich zu dieser Zeit herausbildenden und auf Warenproduktion ausgerichteten Produktionsverhältnisse begünstigten den Bedeutungszuwachs des Siedlungstyps Stadt zusätzlich. Das dort ansässige, ökonomisch und politisch erstarkende Bürgertum, das sich vor allem aus Kaufleuten und selbständigen, sich zunehmend, wenngleich anfangs erst in bescheidenem Maße, auf Mehrwertproduktion ausrichtenden Handwerkern zusammensetzte, wurde mehr und mehr zu einer ernsthaften Konkurrenz der alten, auf agrarischer Subsistenzwirtschaft beruhenden Feudalordnung und ihrer Machthaber. Das waren in allererster Linie die römisch-katholische Kirche, die wohl über den weitaus größten Grundbesitz des Mittelalters verfügte, zum anderen die weltlichen Fürsten, die nicht selten zugleich Kirchenfürsten ihrer Diözesen waren, für die dies im Bereich der von ihnen beherrschten Souveränitäten in der Regel ebenfalls galt. In den nach politischer Unabhängigkeit von den feudalen Machthabern strebenden Städten konnten sich mehr und mehr oppositionelle sozialreligiöse Bewegungen entwickeln, die sich zum einen aus Kreisen des städtischen Bürgertums, zum anderen aber auch aus Angehörigen der bäuerlich-plebejischen Landbevölkerung rekrutierten und den bis dahin uneingeschränkten Machtanspruch vor allem der größten Feudalmacht des Mittelalters in Frage stellten. Begünstigt wurden diese Bewegungen durch weithin offenkundige Korruption, Verweltlichung und Doppelmoral des Klerus. Das ideologische Monopol der Kirche und damit deren Berechtigung, immer höhere fiskalische Abgaben einzufordern, wurden insbesondere in den Städten zunehmend in Frage gestellt. Bei allen Unterschieden einte die sich formierenden oppositionellen Bewegungen ihre entschieden antiklerikale Ausrichtung. Anknüpfend an urchristliche Traditionen, wie dem Armutsideal, strebten sie wieder ein unmittelbares Verhältnis der Menschen zu ihrem Gott an, welches der Vermittlung eines streng feudal-hierarchisch strukturierten, kirchenoffiziell geweihten Klerus nicht bedarf. Manche dieser Oppositionsbewegungen konnten von der herrschenden Kirche befriedet, in ihren Herrschaftsbereich integriert und z. B., wie etwa die Anhänger des mittlerweile heilig gesprochenen Oppositionellen Franz von Assisi, als neue Mönchsorden zugelassen werden. Andere, dazu gehören z. B. die Katharer bzw. Albigenser oder die Waldenser und eine Reihe regionaler Erweckungsbewegungen, waren jedoch solcherart nicht zu vereinnahmen. Sie blieben eine ernsthafte Bedrohung der von der katholischen Kirche als gottgegeben verkündeten mittelalterlichen Feudalordnung und damit des kirchlichen Herrschaftsanspruchs, was nicht ohne Gegenreaktionen der solcherart attackierten Feudalmacht bleiben sollte. Diese entwickelte gnadenlos rigorose Strategien zur Abwehr, besser: zur Ausrottung dieser Häresien – durch gewaltsame Bekehrung und vor allem durch Vernichtung der Häretiker. 1208 rief Innocenz III. zu einem Kreuzzug gegen die Albigenser auf, der am 12. April 1229 mit deren Unterwerfung unter die Oberherrschaft des päpstlichen Imperiums sein blutiges Ende fand. Eine weitere häretische Bewegung berief sich auf den Theologen Amalrich von Bena (†1206), der unter anderem gelehrt haben soll,
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
„dass Gott das innerste Wesen aller Geschöpfe (…), und (…) so auch (…) nur in seinen Geschöpfen sichtbar sei“ (Lea 1905, II: 363 f.). Dabei „könne Satan keine Ausnahme bilden und wenn später alle mit Gott wieder vereinigt würden, könnten Satan und seine Engel nicht zu ewigem Verderben verdammt sein“ (a. a. O.: 367).
Diese Lehre wurde von der Amtskirche als Teufelsverehrung verfolgt, die Amalricaner als „Luziferaner“ beschimpft. Teufelsverehrung erschien hier erstmalig als eine spezifische und besonders verabscheuenswürdige Form der Häresie. 1231/32 begründete Papst Gregor IX. die heilige Inquisition als eigenständige und papstunmittelbare Institution für die Ketzerverfolgung und berief zahlreiche Sonderbeauftragte, die überwiegend dem Orden der Dominikaner72, teilweise auch den Franziskanern angehörten, zu Inquisitoren. Seither oblag die Durchführung der katholischen Inquisition nicht mehr den Bischöfen und deren Inquisitoren, sondern unmittelbar dem Papst. Die Inquisitoren wurden so unabhängiger, da die örtlichen Bischöfe ihnen gegenüber nun keine Weisungsbefugnis mehr hatten. Trotz äußerster Brutalität und beachtlicher anfänglicher Erfolge gelang es letztlich nicht, den protestantischen Ketzereien dauerhaft Herr zu werden, welche mit dem Niedergang der die katholische Kirche stützenden und von ihr gestützten feudalistischen Herrschaftsstrukturen immer stärker wurden und sich im Gegensatz zu früheren Ketzereien als ideologische Entsprechungen der allmählich aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft neben der einst allmächtigen und allumfassenden Catholica dauerhaft durchzusetzen vermochten.73 „Die Unvertilgbarkeit der protestantischen Ketzerei entsprach der Unbesiegbarkeit des aufkommenden Bürgertums.“
So fasste zutreffend Friedrich Engels (1888: 304) diese Entwicklungen zusammen.74 In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kam es erneut zur Kirchenspaltung, und zwar dieses Mal nicht, wie bei dem Schisma zwischen West- und Ostkirche als territoriale Spaltung, sondern als Spaltung innerhalb des Verbreitungsgebietes der katholischen Kirche, die seither auch dort nicht mehr allgemein, sondern nurmehr eine Konfession neben anderen ist. Die Spaltung bedeutete allerdings keineswegs das Ende der Ketzerverfolgung, sondern lediglich den Auftakt für eine neue Phase. Fortan verfolgten nicht nur die katholischen Inquisitoren die Menschen, die von der katholischen Lehre abwichen, soweit sie ihrer habhaft werden konnten. Auch die Eiferer der neu entstandenen Protestantismen verfolgten dort, wo sie sich etablieren konnten, Andersdenkende und Andersgläubige ebenso brutal und unerbittlich als Ketzer wie ihre katholischen Widersacher. Ihre Opfer waren keineswegs nur Anhänger des 72 73
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Sie werden seither im Volksmund auch als „domini canes“, deutsch: Hunde des Herrn, bezeichnet. Für den Machtverlust der Kirche kam hinzu, dass sich mit dem aufstrebenden französischen Nationalstaat ein Machtzentrum in Europa entwickelte, das immer weniger bereit war, sich der Kurie unterzuordnen, sondern dem es im Gegenteil sogar gelang, Anfang des 14. Jahrhunderts die Kurie dazu zu bewegen, den Papstsitz nach Avignon zu verlegen und das Papsttum zeitweise in die sogenannte babylonische Gefangenschaft der Kirche (1309-1377) zu nehmen, welche 1378 mit einer Spaltung der Kurie endete, die bis 1409 fortdauern sollte, was letztlich den Einfluss der Kirche erheblich und nachhaltig schwächte. Freilich konnten sich nur diejenigen Strömungen der protestantischen Ketzereien durchsetzen und dauerhaft etablieren, die sich mit den weltlichen Machthabern in ihrem Territorium arrangierten, ihre Macht nicht infrage stellten und gegen solche protestantistischen Strömungen verteidigten, die an der Seite der für Freiheit kämpfenden Bauern gegen die territorialen Machthaber aufbegehrten (vgl. Engels 1850: 327 ff.).
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überkommenen Katholizismus, sondern ebenso auch Vertreter der jeweils anderen Protestantismen, soweit sie sich ein von demjenigen der jeweiligen Glaubenseiferer abweichendes Credo leisteten. Der Vorwurf der Ketzerei wurde auf immer mehr Tatbestände ausgeweitet. Zunehmend gerieten auch solche Menschen in Verdacht, die ihren Zeitgenossen aufgrund außergewöhnlicher und für übernatürlich gehaltener Fähigkeiten schon immer suspekt waren. Es lag nahe, die Ursache für diese Fähigkeiten in einer besonderen Beziehung zu bösen Geistern, zum Teufel, zu suchen und zu finden. Die theologischen Grundlagen für die Annahme eines Teufelspaktes oder einer Teufelsbuhlschaft finden wir ja, wie schon aufgezeigt, bereits in den einschlägigen Schriften der namhaftesten Kirchenväter und Kirchenlehrer. So setzte sich allmählich die Auffassung durch, dass auch der Teufelspakt eine spezifische Form der Ketzerei sei, und zwar eine ganz besonders verwerfliche, die mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Seit dem Ende des 13. und in großem Umfang im 16. Jahrhundert betrieb die Inquisition nun auch die Verfolgung vermeintlicher Hexen, um auch sie derjenigen Praxis zu unterwerfen, die man seinerzeit im Umgang mit Ketzern für geboten hielt. Hierauf werde ich noch an anderer Stelle näher eingehen. Als Hexen galten also Menschen, die sich freiwillig mit den bösen Geistern einließen, vor allem mit ihnen geschlechtlich verkehrten. Ihnen wurde außerdem die Fähigkeit unterstellt, durch die Luft zu fliegen. Auf diese Weise reisten sie zu z. B. während der Walpurgisnacht und anderen regelmäßig oder unregelmäßig stattfindenden nächtlichen Zusammenkünften, in der Regel auf Bergeshöhen, um sich dort mit dem Teufel und seinen Dämonen blasphemischen Ritualen, orgiastischer Promiskuität und anderen sündhaften Widerwärtigkeiten hinzugeben. Bei all diesen Vorstellungen handelte es sich keineswegs nur um „naiven“ Volksglauben. Zwar glaubten die meisten Menschen fest an die Wirksamkeit von Zauberei und Magie, auch gibt es eine lange Tradition vermeintlicher Zauberbräuche, welche, wie schon erwähnt, zu einem nicht geringen Teil auf tradiertem Wissen – vornehmlich unter Frauen – über die heilende oder berauschende Wirksamkeit von Kräutern und daraus resultierende Praktiken beruhen, „aber der Hexenglaube selbst ist ein Produkt der mittelalterlichen Kirche, systematisiert von den Klerikern der Renaissance und verbreitet von den Gebildeten der damaligen Zeit“ (Döbler 1977: 20), nach der Reformation gleichermaßen auch von den Protestanten. Auch Martin Luther war von der Existenz von Hexen fest überzeugt. „Item die hexen, das sind die boßen teuffelshuren, die da milch stelen, wetter machen, auff boeck und beßen reytten, auff mentel faren, die leutt schiessen75, lemen und vordurren, die kind ynn der wigen marttern, die ehlich glidmaß bezaubern unnd desgleychen“ (Luther 1522: 591).
2.1.2 Die Verwissenschaftlichung des Hexenwesens 1484 erließ Papst Innocenz VIII. auf Veranlassung des Priors eines Dominikanerklosters Heinrich Kramer die berühmte, maßgeblich von Kramer selbst verfasste Hexenbulle „Summis desiderantes“. Ihm sei, so heißt es dort,
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Dadurch soll es dann zu dem heute noch so bezeichneten Hexenschuss kommen.
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„zu Gehör gelangt, daß (…) ziemlich viele Personen beiderlei Geschlechts, ihr eigenes [Selen]heil mißachtend, und vom christlichen Glauben abweichend, mit Inkubus- und SukkubusDämonen Unzucht treiben“ (Kramer 1487: 102)
und mit ihren Zauberfähigkeiten große Schäden anrichteten, von denen er zahlreiche Beispiele nennt. Ausdrücklich beauftragte der Papst Kramer, der seit 1479 seinen Namen in der latinisierten Form „Institoris“ führte, mit der Durchführung der Inquisition vor allem bei diesen Personen und forderte weltliche und geistliche Obrigkeiten auf, ihn bei dieser Arbeit nach Kräften zu unterstützen. Drei Jahre später veröffentlichte Kramer unter dem Titel „Malleus maleficarum“ ein umfangreiches Lehr- und Handbuch des Hexenwesens. Vorangestellt ist eine Approbation der theologischen Fakultät der Universität Köln, deren Echtheit allerdings heute überwiegend bestritten wird, welche dem Werk bescheinigt, dass es „nichts enthält, was den Ansichten der Philosophen, soweit sie nicht irren, entgegen sei oder der Wahrheit des heiligen christlichen oder apostolischen Glaubens oder den Entscheidungen der von der heiligen Kirche anerkannten oder zugelassenen Gelehrten widersprechen“ (in Kramer 1487: 110).
Das Werk selbst lässt sich charakterisieren als hexenwissenschaftliches Kompendium, welches, wie es von einem wissenschaftlichen Lehrbuch zu erwarten ist, die seinerzeitigen Wissensbestände über Hexen und Hexerei zusammenträgt und systematisiert. „Was ‚Hexen’ im christlichen Europa gewesen sind, erfährt man am besten durch die Lektüre des Hexenhammers. Denn die darin aufgelisteten Vorwürfe entstammen der abendländischen, gelehrten theologischen Tradition, nicht den Phantasien der beiden Autoren76. Deren ‚Verdienst’ ist die handbuchartige Zusammenfassung dessen, was längst verfügbar war, eine Art HexenSumme, verfasst zu haben. Offenbar bestand ein Bedürfnis danach“ (Harmening 1995: 46).
Sehen wir uns den Hexenhammer also unter dieser Perspektive genauer an. Der erste Teil entwickelte nach Klärung der wichtigsten Begriffe wie „Zauberei“, „Hexerei“, „Hexenkunst“ sowie „Inkubus“ und „Sukkubus“ und neben einer Phänomenologie und Ätiologie des Hexenwesens die theoretischen Grundlagen der weiteren Ausführungen, wobei sich die Autoren im Wesentlichen an der thomistischen Dämono- bzw. Theologie sowie auch an anderen damals unbestrittenen kirchlichen Autoritäten und natürlich an Aussagen der Bibel orientierten. Ausführlich wurde die Rolle des Teufels und diejenige der „permissio Dei“77 für das Unwesen der Hexerei diskutiert. Das Buch ist in seinem Aufbau durch die typische scholastische Argumentationsführung gekennzeichnet, wie sie für wissenschaftliche Abhandlungen der damaligen Zeit charakteristisch ist. Der Inquisitor wies zunächst unter Berufung auf die Bibel und kirchliche Autoritäten, vor allem auf Thomas, nach, „daß die Behauptung rechtgläubig und nur zu wahr ist, daß es Zauberer gibt, die mit Hilfe der Dämonen wegen des mit ihnen geschlossenen Paktes tatsächliche Wirkungen mit der Zulassung Gottes wirkliche Hexenkünste erzielen können“ (Kramer 1487: 148). 76
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Auf den Titelblättern der meisten früheren Auflagen wird auch noch Kramers Ordensbruder Jakob Sprenger als Co-Autor angegeben. Dessen Mitautorenschaft ist jedoch umstritten und wird nach heutigem Forschungsstand meistens verneint (hierzu ausführlich: Behringer & Jerouschek 2000: 31 ff.). Daher ist in diesem Zitat von zwei Autoren die Rede. Zulassung Gottes.
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Es folgte der Nachweis, dass „die Behauptung, durch Inkubus- und Sukkubus-Dämonen könnten manchmal Menschen gezeugt werden, so sehr rechtgläubig (ist), daß die Behauptung des Gegenteils nicht bloß den Aussprüchen der Heiligen widerspricht, sondern auch der Überlieferung der Heiligen Schrift“ (a. a. O.: 182).
Während anfangs – entsprechend auch der Formulierung der Hexenbulle Innocenz’ – von Hexen und Hexern die Rede ist, konzentriert sich das Buch in den weiteren Ausführungen vor allem auf die Hexen. Schon im Titel benutzte der Autor die weibliche Form „maleficarum“ (= Übeltäterinnen) und nicht die männliche, die im Lateinischen, wie in den meisten Sprachen, beide Geschlechter umfasst. Kramer hat nämlich herausgefunden, dass „sich in dem so schwachen Geschlecht der Frauen mehr Hexen finden als unter den Männern“ (a. a. O.: 224 f.). Die Gründe dafür kennen wir schon von Albertus und dem Aquinaten: „Der erste, weil sie leichtgläubig sind. (…) Der zweite Grund ist, weil sie von Natur aus wegen der Unstetheit der körperlichen Verfassung zur Aufnahme von Separatsubstanzen leichter zu beeinflussen. (…) Der dritte Grund ist der, weil sie eine schlüpfrige Zunge haben“ (a. a. O.: 229). Hinzu kommt, dass das Weib „sündhafter auftritt als der Mann, wie es aus den vielen [fleischlichen] Unflätereien ersichtlich ist. Diese Mängel78 werden auch gekennzeichnet bei der Schaffung der ersten Frau, da sie aus einer krummen Rippe geformt wurde, d. h. aus einer Brustrippe, die gekrümmt und gleichsam dem Mann entgegen geneigt ist. Von diesem Mangel rührt auch, daß die Frau immer täuscht, da sie ja ein unvollkommenes Lebewesen79 ist“ (a. a. O.: 231).
Schließlich wird auch die Etymologie des lateinischen Wortes „femina“ (= Frau) bemüht, um die Minderwertigkeit der Frauen zu beweisen: „Es heißt nämlich femina [Frau] von fe80 und minus, weil sie immer geringeren Glauben hat und wahrt und zwar von Natur aus bezüglich des [der geringen] Glaubens[stärke]“ (a. a. O.: 231). Fazit: „Schlecht also ist die Frau von Natur aus, da sie schneller am Glauben zweifelt, auch schneller den Glauben ableugnet. Das ist die Grundlage für die Hexen“ (ebd.).
Besonders gefährlich waren in den Augen des Inquisitors heilkundige Frauen, die über ein meist seit vielen Generationen tradiertes Erfahrungswissen über heilende, schmerzlindernde oder auch berauschende Wirkungen pflanzlicher Essenzen oder Kräuter verfügten. Viele von ihnen betätigten sich als Heilpraktikerinnen, wie wir heute sagen würden. Da zum einen aber im christianisierten Europa Krankheiten und Schmerzen als Folge des unmittelbaren Wirkens oder zumindest der Zulassung Gottes galten und jedes Eingreifen in Gottes Plan als Gotteslästerung galt, zudem den meisten Zeitgenossen die biochemischen und medizinischen Zusammenhänge für die Wirkung etwa von Heilkräutern etc. nicht bekannt waren, galten die Fähigkeiten dieser heilkundigen „weisen“ Frauen einerseits als suspekt, als Zauberei, wurden aber andererseits bei Bedarf auch gerne in Anspruch genommen. Waren bis in das 13. Jahrhundert hinein alle kurativen Tätigkeiten und diesen entsprechende Fähigkeiten unbestritten Angelegenheit von Frauen, wobei einige dieser sogenannten weisen Frauen trotz aller medizinfeindlichen Skepsis ihres sozialen Umfelds zu hohem Ansehen gelangten, kam es mit Beginn der Renaissance nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden Kontaktes mit der arabischen Welt und deren Heilkunde – die meisten christlichen 78 79 80
Original: defectus. Animal imperfectum. Fe hier als Abkürzung von fides (Glauben) interpretiert.
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Herrscher hatten längst arabische, teilweise auch jüdische Leibärzte – zu einer Wiederbelebung der bislang als heidnisch unterdrückten wissenschaftlichen Disziplinen, so auch der Medizin81. An den seit dem 12. Jahrhundert entstandenen Universitäten etablierte sich die Medizin als eigenständige säkulare Disziplin, allerdings zunächst noch unter Leitung und strenger Kontrolle der Geistlichkeit. Inhaltlich stand sie in keiner Weise im Widerspruch zur herrschenden kirchlichen Doktrin. Diese Entwicklung führte zu einer Aufspaltung des bislang einheitlichen kurativen Tätigkeitsfeldes in die Bereiche Pflege (care) und Heilkunde (health). Während „care“ nach wie vor Sache der Frauen blieb, kam es zur akademischen Professionalisierung und dadurch zu einer erheblichen sozialen Aufwertung des „health“Bereichs. Es etablierte sich der Berufsstand des Arztes. Nur wer eine entsprechende Universitätsausbildung hatte, wurde unter strengen Auflagen der Obrig- und Geistlichkeit zur Ausübung dieses Berufs zugelassen. Auch die Berufsausübung wurde von nun an streng kontrolliert. Kein Arzt durfte ohne Einwilligung eines Geistlichen eine Behandlung vornehmen. Da Frauen zu einem Universitätsstudium keinen Zugang hatten, konnten sie logischerweise zum Arztberuf nicht zugelassen werden. Damit wurde ihnen jetzt der Zugang zu einer von ihnen jahrhundertelang gepflegten Domäne verwehrt. Sie konnten sich nur noch in der Illegalität weiterhin als Heilerinnen betätigen, denn wer ohne Zulassung und ohne Zustimmung der Geistlichkeit Heilkunde betrieb, machte sich strafbar. Wer dabei ohne Ausbildung und Zulassung auch noch Erfolge erzielte, geriet schnell in den Verdacht, übernatürliche Kräfte zu besitzen, und die konnten ja nur vom Teufel und seinen Dämonen verliehen sein. Insbesondere feministische Autorinnen verstehen vor diesem Hintergrund die Tatsache, dass gerade heilkundige Frauen als Hexen diagnostiziert und verfolgt wurden, als „einen politischen Kampf, Teil eines Klassenkampfs. Die Heilpraktikerinnen waren Volksärzte, und ihre Wissenschaft gehörte zur Subkultur des Volkes. (…) Die männlichen Ärzte dagegen dienten der herrschenden Klasse auf medizinischem wie politischem Gebiet“ (Ehrenreich & Englisch 1983: 7). „Um 140082 war der Feldzug der Ärzteschaft gegen die städtischen gebildeten Heilpraktikerinnen abgeschlossen. Dieser Sieg brachte den männlichen Ärzten die unumstrittene Alleinherrschaft über die medizinische Praxis bei der Oberschicht ein (…). Jetzt waren sie so weit, um eine Schlüsselposition bei der Ausschaltung der breiten Masse der Heilpraktikerinnen – ‚der Hexen’ – einnehmen zu können“ (a. a. O.: 26).
In der Tat waren Ärzte am Kampf gegen die Hexen unmittelbar beteiligt. Bei Hexenprozessen wurden sie häufig als Gutachter herangezogen, z. B., um zu klären, ob bestimmte Krankheiten angehext oder natürlichen Ursprunges waren (a. a. O.: 340 f.). „Die Zeit war (…) voller Widersprüche. Die Renaissance war nicht nur das Zeitalter glänzenden künstlerischen Schaffens und die Wiege der modernen Medizin. Sie war auch das Zeitalter extremen Schmutzes in den Städten und unter den Menschen, der weitesten Verbreitung von Krankheiten, intensiven Aberglaubens und einer der beschämendsten Episoden unserer Kultur – der Massenvernichtung der ‚Hexen’. Die Hexenjagd fand erst in und nach der Renaissance ihre weiteste Verbreitung. (…) Viele sonst aufgeklärte Persönlichkeiten wie die berühmten Ärzte Ambroise Paré (…) und Felix Platter (1536-1614), glaubten fest an die Existenz von Hexen“ (Ackerknecht & Murken 1992: 66). 81 82
Allerdings unter Ausklammerung der Chirurgie. Diese „wurde jetzt den Badern, Barbieren, Henkern, Kastrierern und Quacksalbern jeder Art überlassen“ (Ackerknecht & Murken 1992: 61). Diese Zeitangabe muss nach heutigen Erkenntnissen namentlich für die deutschen Länder auf etwa 100 Jahre später verlegt werden.
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Da allerdings die katholische Dogmatik den Männern den Anblick einer unbekleideten fremden Frau verbot, verblieb zunächst die Geburtshilfe noch im weiblichen Zuständigkeitsbereich, dies unter Einschluss auch derjenigen Bereiche, die erst im 17. Jahrhundert als Gynäkologie langsam dem männlich dominierten „health“-Sektor einverleibt wurden. Allein diese Tatsache setzte die damaligen Hebammen von vornherein einem schweren Verdacht aus, welchen die Untersuchungen des Inquisitors dann auch erwartungsgemäß bestätigten. Er gelangte zu der Erkenntnis, „daß die hexenden Hebammen die Empfängnis in der Gebärmutter auf verschiedene Arten verhindern, eine Fehlgeburt bewirken und, wenn sie es nicht tun, die Neugeborenen den Dämonen opfern“ (Kramer 1487: 286).
Ohne Zweifel gehörten zum seinerzeit lange tradierten Erfahrungswissen der heilkundigen Frauen, die sich auch als Hebammen betätigten, auch Kenntnisse über Empfängnisverhütung. Die meisten von ihnen waren zudem wohl auch in der Lage, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. So verfügten sie über durchaus wirksame Mittel zur Geburtenkontrolle. Dieser wichtige gesellschaftliche Bereich war fast vollständig der Kontrolle der geistlich und weltlich herrschenden Männer entzogen – für die Inquisitoren ein unhaltbarer Zustand: „Niemand schadet dem christlichen Glauben mehr als die Hebammen. Denn wenn sie die Kinder nicht töten, dann tragen sie, als wollten sie etwas besorgen, die Kinder aus der Kammer heraus und opfern sie, sie in die Luft hebend, den Dämonen“ (a. a. O.: 288).
Die besondere Konzentration der Hexenverfolger auf die Hebammen und ihre Fähigkeiten zur Geburtenkontrolle veranlasste Heinsohn & Steiger (1994) zu der – allerdings umstrittenen – Annahme, „daß die Vernichtung der weisen Frauen ausdrücklich in bevölkerungspolitischer Absicht zur Unterbindung der Geburtenkontrolle ins Werk gesetzt wurde“ (a. a. O.: 13). Von daher, so argumentierten sie, sei es nicht zufällig, dass sie zu einer Zeit einsetzte, als „die so genannte europäische Bevölkerungskatastrophe ihren Höhepunkt erreicht. (…) Schwere Ernterückschläge ab etwa 1300 und die große Pest von 1348-52 kosten in Europa ungefähr 25 Millionen Menschenleben bei einer Gesamtbevölkerung von lediglich 80 Millionen Einwohnern. Die um 1300 einsetzende Krisenzeit geht zugleich mit heftigen Erschütterungen der feudalen mittelalterlichen Wirtschaft einher. Die Leibeigenen (…) werden für ihre kirchlichen und weltlichen Herren (…) auf dramatische Weise knapp. Diese Knappheit soll durch die Ausrottung des Verhütungswissens überwunden werden. Die Frauen sollen die Mittel verlieren, mit denen sie ihre traditionell geringen Geburtenzahlen zu halten wissen“ (a. a. O.: 15 f.).
Zwar erscheint es in der Tat abwegig, die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit monokausal allein auf diesen oder auch irgendeinen anderen einzigen Aspekt zurückzuführen – schließlich waren nicht nur nicht alle, sondern nur ein geringerer Anteil derer, die als Hexen verfolgt wurden, tatsächlich Hebammen –, die These als bloße „Spekulation, die zur Erklärung des Hexenwesens nichts beitrage“ (Wolf 1995: 37), oder gar als „Erdichtung der weisen Männer“ (Schwerhoff 1995: 391) abzutun, erscheint jedoch übertrieben. Jedenfalls ist sie, wenn man sie nicht absolut setzt, plausibler als die in der Erforschung des Hexenwesens immer wieder anzutreffenden hilflosen Versuche, die Inquisitoren zu pathologisieren oder zu psychologisieren und für wahnsinnig zu erklären. Es mag ja sein, dass sie an
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„pathologischem Hass auf alles, was weiblich ist“, gelitten und „mit theologischem Scharfsinn und wirrer Gelehrsamkeit (…) offenbar zölibatäre Defekte überkompensiert“ (Döbler 1977: 170)
haben, doch das erklärt bestenfalls bestimmte Passagen des Hexenhammers oder anderer einschlägiger Texte, aber weder deren überwältigende Erfolge83 noch die Tatsache, dass ansonsten sich auch nach heutigem Maßstab durchaus modern und vorausschauend und ganz im Geist der Aufklärung denkende Zeitgenossen an den Hexenverfolgungen beteiligt haben. Zu denken ist z. B. an den Politiker und Staatstheoretiker Jean Bodin, der sich etwa für Religionsfreiheit und Toleranz gegenüber den Hugenotten in Frankreich eingesetzt und nicht nur politik- und staatsrechtswissenschaftliche Werke verfasst hat, die heute noch Anerkennung finden, sondern auch eine „geradezu mordgierige Hetzschrift“ (Baschwitz 1963: 124) über Dämonen und Hexen (Bodin 1591). Nach Masters (1962: 272) war dieser Mann „sogar für einen Hexenrichter äußerst blutrünstig und räumte fast nie die Möglichkeit ein, daß eine angeklagte Person unschuldig sein könnte“. Zurück zum Hexenhammer. Dessen zweiter Teil ist „der Hauptteil dieses Werkes, weil er von der Vorgehensweise der Zauberer und Hexen bei der Verübung von Schadenszauber handelt“ (Kramer 1487: 347). Er enthält zunächst eine Typologie der Hexen und ihrer Untaten. Hier wird unter anderem untersucht, „wie sie [die Hexen] sich den Inkubus-Dämonen unterwerfen“ (a. a. O.: 396), „wie (…) die Hexen mit den Inkubus-Dämonen fleischliche Handlungen ausführen und wie sie durch diese vermehrt werden“ (a. a. O.: 401), „wie sie die Zeugungskraft hemmen“ (a. a. O.: 417), „wie sie die männlichen Glieder entfernen“ (a. a. O.: 421), „wie sie jede Art von Krankheiten zufügen können“ (a. a. O.: 455) und „wie die hexenden Hebammen noch größere Schäden tun, indem sie Kinder töten oder unter Verfluchungen den Dämonen opfern“ (a. a. O.: 472).
Nach dieser mit zahlreichen Kasuistiken erläuterten Typologie des Hexenwesens folgen Hinweise, wie „Schadenszauber aufzuheben und zu heilen“ (a. a. O.: 510) sei. Als Heilmittel z. B. „für jene, die an der Zeugungskraft behext sind“ (a. a. O.: 537), können folgende fünf „erlaubterweise angewendet werden (…), nämlich die erlaubte Pilgerfahrt zu irgendwelchen Heiligen und eben dort die wahre Beichte seiner Sünden samt Zerknirschung, Vermehrung des Kreuzschlagens und des frommen Gebetes, durch erlaubte Austreibung mit lauteren Worten (…) und wohlbedachte Aufhebung des Schadenszaubers“ (a. a. O.: 542).
Es wurden weiterhin „Mittel für mit ungezügelter Liebe oder Haß Behexte“ (ebd.) vorgeschlagen, „Mittel für Menschen, denen durch Blendwerk die männlichen Glieder weggenommen werden oder die in Tiergestalt verwandelt werden“ (a. a. O.: 549), außerdem „Mit83
Das gilt ebenso für diejenigen Kirchenväter und -lehrer, auf deren Lehren sich der Hexenhammer explizit stützt. Gerade Augustinus lädt mit seinen Confessiones (Bekenntnissen) geradezu ein, die psychologischen Beweggründe seiner Theologie zu erforschen und sie in seinem gestörten Verhältnis zu Frauen zu suchen, das ohne Zweifel in engem Zusammenhang steht mit seiner für Psychoanalytiker sicher hochinteressanten Beziehung zu seiner Mutter Monica und deren Konkurrenz zu Augustinus’ Lebensgefährtin, von der sie ihn schließlich trennen kann. Doch welche Diagnose im Sinne unseres heutigen Verständnisses von Anders-Sein man für seinen Geistes- und Gemütszustand immer auch finden mag, zur Erklärung, warum dieser Heilige und viele andere auch, die bis heute als Kirchenväter hoch verehrt werden, über Jahrhunderte den Einfluss haben konnten, den sie hatten und noch haben, wird sie nicht beitragen können. Deswegen richtet sich das Interesse dieser Untersuchung nicht primär auf Augustinus oder Thomas, sondern auf den Augustinismus und vor allem auf den Thomismus, nicht auf einzelne Inquisitoren, sondern auf die Inquisition.
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tel für durch Schadenszauber Besessene“ (a. a. O.: 553) und weitere Mittel gegen andere Folgen des Schadenszaubers. 2.1.3 „Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen“84: Zur Praxis der Hexen-Inquisition Der dritte, man könnte sagen, klinische Teil des Hexenhammers versteht sich als KriminalKodex. Er handelt von den „Arten der Ausrottung oder zumindest Bestrafung durch die zuständige Justiz vor dem geistlichen oder weltlichen Gericht“ (a. a. O.: 601). Ein Inquisitionsprozess konnte auf dreierlei Weise zustande kommen: 1.
2. 3.
Durch einen Ankläger, der „sich erbietet, jenes zu beweisen und sich zur Strafe der Talionsstrafe85 verschreibt, falls er es nicht beweist“ (a. a. O.: 628), in der Praxis eine eher seltene Variante, die auch Kramer eher ablehnt, „weil sie für den Ankläger wegen der Talionsstrafe sehr gefährlich ist“ (ebd.), durch Denunziation und schließlich, „durch Inquisition, d. h., wenn kein Ankläger oder Denunziant vorhanden ist, sondern das Gerücht in einer Stadt oder einem Orte umgeht, (zu erzählen), dass es da Hexen gebe. Und dann hat der Richter nicht auf Betreiben einer Partei, sondern sogar von Amts wegen vorzugehen“ (ebd.).
Die dritte Art ist wohl „die gewöhnliche und gebräuchliche Form“ (a. a. O.: 632) und den Inquisitoren vermutlich auch die angenehmste. Der eigentliche Prozess wurde in aller Regel vor einem weltlichen Gericht geführt, da das maleficium in aller Regel mit dem Tode bestraft wurde. Ohnehin war es für Kramer das „Hauptanliegen in diesem Werke (…), uns Inquisitoren der Länder Oberdeutschlands von der Inquisition der Hexen, soweit es mit Gott geschehen kann, zu entlasten, indem wir sie ihren [weltlichen] Richtern zur Bestrafung überlassen, und zwar wegen der Beschwerlichkeit des Geschäftes“ (a. a. O.: 607).
Der Prozess begann, wenn der oder meist die Angeklagte nicht sofort geständig war, mit der Befragung von Zeugen, deren Namen die Angeklagten jedoch nicht erfahren dürfen, auch nicht ihre Verteidiger. Wenn nun die Betroffenen von den Zeugen der Hexerei bezichtigt wurden, die Angeklagten jedoch auf ihrer Unschuld beharrten, kam es zu der sogenannten peinlichen Befragung, dem Kernelement des Inquisitionsprozesses. Zunächst wurden die Angeklagten entkleidet, bei Männern war dies Aufgabe der Gerichtsdiener, „wenn es eine Frau ist, soll sie bevor sie in den Kerker geführt wird, von anderen sittsamen Frauen von gutem Rufe entkleidet werden, aus dem Grunde, damit [entdeckt werde], ob vielleicht irgend ein [Schweige]zauber in die Kleider eingenäht ist, den sie häufig auf die Unterweisung der Dämonen hin aus den Gliedern eines ungetauften Knaben herstellen“ (a. a. O.: 674). Es müssen außerdem „die Haare von jedem Teil des Körpers geschoren werden. Und dabei gilt derselbe Grund, wie oben für das Ausziehen der Kleider. Sie haben nämlich zuweilen für den Schweigezauber irgend welche abergläubische Amulette von gewissen Dingen, sei es in den 84 85
Exodus 22, 17. Strafe der Wiedervergeltung.
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Kleidern, sei es in den Haaren des Körpers und bisweilen an den geheimsten, nicht zu benennenden Orten“ (a. a. O.: 681 f.).
Als nächster Schritt wurde die peinliche Befragung, d. h. die Befragung zunächst unter Androhung und im nächsten Schritt unter Anwendung von Folter, durchgeführt. Dabei kamen regional unterschiedliche Fragenkataloge zum Einsatz, die sich im Kern jedoch nicht wesentlich unterschieden. Ein noch heute als Handschrift im Kehlheimer Stadtarchiv erhaltener Katalog ist der sogenannte Kehlheimer Hexenhammer. Er ist als illustrierte FaksimileAusgabe von Mundigl (1966, außerdem dokumentiert in Grössing 1998: 157 ff.) herausgegeben worden und soll an dieser Stelle in vollem Umfang dokumentiert werden, um einen möglichst authentischen Einblick in das damalige Hexenverständnis zu vermitteln. Absoluta generalia circa Confessionem veneficarum, Fragstuckh auf alle Articul, in welchen die Hexen vnd vnholden auf das allerbequemist möge Examinirt werden.
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
1. 2. 3. 4. 1. 2. 3.
I. Absoluta generalia circa Confessionem veneficarum Warumben Sie vermain, das sie hierher gefireth worden? Wie lang es dann her sey, das sie in dieses hochverdambte Laster der Hexerey geraten? Was sie dazu bewegt habe? In was gestalten anfangs der leidige Teifel zu ihr khumen war, Item zu Morgen, Mitags, abents oder nachts? Was er mit ihr geredt, bey ihr gethan vnd mit ihr verricht habe? Was er hernachen an sie begert vnd warumben sie eingewilligt habe? Was ihr der Teifel versprochen vnd was er ihr geben? Item an was geberden sie ihn erkhendt habe? Warumben er ihr diese Sachen geben vnd sie damit thuen solte? Ob sie schreiben vnd lesen khinde, Vnd ob sie sich dem Teifel verschrieben habe, mit wehme? vnd ob er ihr mit die Hand gefireth und welche? Was sie geschrieben vnd was die Dinten für ein Farb gehabt, wo sie solche genommen, vnd wer die Handschrifft habe? Ob er sie anderst gedaufft vnd wer sonsten darbey gewesen, wie sie ihren pueldeifel vnd herentgegen sie gehaissen habe? Was der Teifel über sie abgossen vnd wo ers genommen? Ob er ihr nit an der Stürrn vmbgangen, vnd sich erzaigt, alß ob er ihr waß wollte außkhrazen? II. Circa punctum malefactorum Was Sie mit ihren Teiflischen Pulver vnd Salben für leith vnd vieh vmgebracht, wie lang diß her seye vnd warumben sie es gethan? Wer darzue geholfen? Wo sie diese übel stifftung begangen? Waß leithen vnd vieh für krankheiten zuegefiegt, wo, wie lang es sey, warumben vnd wer darzu geholfen? III. Circa Sacrilegia Wie offt sie im Jahr gebeicht, was für einem Priester vnd zu was Zeiten in dem Jahr? Ob sie allezeit communicirt vnd in welcher khürchen? Was sie der heiligen hostien für vnehr angethann vnd wie offt dieselben aus dem Mund genommen?
2 Zur Phänomenologie und Ätiologie des Anders-Seins in theologisch-dämonologischer Sicht
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4.
Wohin sie diese getragen, wie vnd wo sie solche entvnehret vnd was dariber ervolgt, ob sie auch nit erschrockhen vnd wo ihr pueldeifel inzwischen gewesen sey? 5. Wohin sie solche heilige hostien gelegt, gethann, geworfen oder sonsten vertragen habe? 6. Was sie vnserem lieben Herrn, der heiligen hochgelobten Jungfrauen Maria vnd andern Heiligen Gottes für spötische nachnamen geben, vnd aus was vrsachen? 7. Was sie anstatt des Gebetes für gewise wort gepeppert? 8. Ob sie glaubt, daß die hl. Himmelskönigin vnd junckhfrau Maria auch andere auserwälte Gottes für sie bitten vnd fürsprecher sein khönden? 9. Was sie vf die pilder in der khirchen gehalten, vnd vom Weichpronn? 10. Ob sie glaubt, wann der priester in dem Ambt der heiligen Meß die hl. hostien vnd den Kelch vfhebt, das es der wahre Leib vnd das Blut Jesu Christi sey? Ob sie dieses Laster gebeicht?
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24.
1. 2. 3.
IV. Circa punctum: Ausfahren Wie offt sie ausgefahren? Vf wenn, vnd durch was sie hinauskhommen? Zue was Zeiten, Item obs sie vorn oder hinden gesessen? Was sie vor dem ausfahren für wort gesprochen? Ob es balt oder langsam von statten gegangen? Wan es finster gewesen, wie sie sich in der Luft erkhennen mögen, wo sie seye? An welche örther sie khommen, wie sie haissen? Was sie draußen für sachen gesechen? Was für speisen vor der handt gewesen? Ob sie auch broth vnd Salz gesechen? Was sie zu trinkhen gehabt, vnd auß wem sie getrunkhen vnd in weme man es herfihre? Waß sie vnder der Malzeiten mit einander geredt vnd wie man beisammensitze vnd für Rath Schlag mache, wer draußen am besen daran? Was sie für leichter gehabt, vnd ob nit etliche vf eine sonderbare Manier leichten miessen, ob sie auch geleicht? Wie lang die Malzeit wehre vnd wie vil leith vorhanden seyn, sonderlich bei einer großen Zusammenkhunft? Was man nach der Malzeit thue vnd „ob sie viel golten?“ Wenn ein Tanz gewesen, was sie für spilleith gehabt? Ob man auch in der Ordnung herumtanze? Ob nit bißweillen baar vnd par vf die seithen wischen vnd was sie bisweillen zu thuen pflegen? Mit wenne ein yedes Tannze vnd, mit weme sie getannzt habe? Ob nit ainer vor der handt seye, deine man ehrerbiettung erweisen miesse, vnd was gestalten? Item ob er sitze oder stehe, vnd wie er beklaidt, auch wer er seye? Wie lang dieser Tannz wehre, vnd waß man alsdann anfange? Wie sie gewüsst, daß sie wiederumben haimb Marschiren miesse? Ob sie von Essennden speisen niehmalen was eingeschoben vnd was? Item, wie ihr die Speisen draußen geschmeckht haben, ob sie in den claidern oder nackhend ausgefahren? Wie sie die sachen angangen, daß ihr ehemann inzwischen nicht erwacht ist? V. Circa puncta: Keller, Cammer vnd stell fahren Wie offt sie in die kheller gefahren vnd weine solche kheller zugehört haben: Item obs wein, pier oder Methkeller gewesen, wie lang es das erstemal her sey? Was für persohnen droben gewesen vnd wie lang Sie mit einander getrunkhen? Auß was für einem geschirr Sie getrunkhen haben, wehr ihnen eingeschenkth und das geschirr mitgebracht habe?
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4. 5. 6. 7. 8.
Ob man auß allen Vässern Trinkhen khonde vnd warumben nitt? Wo entzwischen Ir pueldeifel gewesen, oder ob er auch mit getrunkhen habe? Wann sie einander eins zugebracht, was sie für Worth geredet haben? Ob nit die Ungebühr im Keller vorgeloffen, vnd wie offt? Wie oft sie in die Cämmer gefahren, vnd was sie für Personen gedruckht, vnd wie sie dieses truckhen angestellt habe? 9. Warumben sie es getruckt, wie lang vnd ob entzwischen dieMenschen haben reden khinden? 10. Wo entzwischen ihr Pueldelfel gewesen? 11. Ob sie alle Menschen habe Truckhen khönen vnd warumb nit? 12. Item in was stelle sie nächtlicherweil fahrendt khommen vnd weme sie vnd was für Vieh abgematet habe vnd warumben? Item auf was für weise?
1. 2. 3. 4. 5. 6.
1. 2. 3. 4.
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
1. 2. 3.
Vl. Circa punctum: khinder ausgraben Wie offt sie zur nachts vnd auf was freithofen khumen vnd khinder ausgraben helfen? Wer dazue geholfen, weme die khinder zuegehört vnd mit weme sie es ausgraben habe, wie lang es herr ist? Wer das khindlein aus dem greblein gehebt, vnd wer es alsdann hinweckh getragen vnd wohin? Was sie mit diesem khindt gethan, ob sie es kocht, was gestalten, gesoten oder gebraten, vnd wo sie es verzährt haben, wer den verzehren beigewohnt, ob es ihnen wohlgeschmeckht habe? Was sie mit dem vberbliebenen fleisch und painern angefangen oder darauß gemacht haben? Zue wehme sie darauß gemachte Materialia gebraucht vnd verwendt haben? VII. Circa puncta: wetter, reiffen, vnd Nebel machen Wie viel sie wether gemacht, wo sie es gemacht, vnd wehr darzue geholfen? Was sie darzu gebraucht, vnd vber was sie gemacht haben? Ob balt dergleichen weter ervolgt vnd was für schäden ervolgt seyen? Item warumben sie es gemacht vnd gestifft? Ingleichen, wieviel sie Reifen und nebel gemacht, was sie darzue gebraucht vnd was schaden ervolgt seye? VIII. Circa Complices Was sie dann für leith bei solchen Teiflischen Zusammenkhünfften gesechen, wie sie heißen? Wie offt sie es gesechen vnd an welchen orthen? Wo Sy's das erste, vnd Letztmal: Item wo entzwischen gesechen habe? Wie lang es hero sey? Waß diese Persohnen darausen gethonn vnd verybet haben? Wie sye in ihren claidern vfgezogen; Item mit weine, sie khundtschaft gehabt habe? Wie ihr poueldelfel vfgezogen? Ob sie ihr darauf alß einer rechten wahrheit getraue zue leben vnd zue sterben? Ob sie ein solches, wann es vonnöthen wehre, diesen Persohnen wollte in das Gesicht sagen? Ob sie darauf beichten vnd das hochwürdige Sakrament empfangen wölle, daß sie ihr vnd diesen Personen mit unrecht gethan habe? IX. Adoratio Diaboli Wie oft der Teifel ausser den Hexen-Tänzen dahaimb oder anderer orthen zu ihr khommen? Um welche Zeit im Jahre? Ob er gesessen oder gestanden, wie sie den Teifel angebetet vnd wie sie ihn erkhennt?
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4. 5. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
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Ob sie ihne für ihren Gott angebetet, vnd wann sie sonsten gebetet, weme sie solches Gebet zuegeeignet? Ob sie mit ihme damahlen vnfug getrieben vnd aber solche nach oder vor dem Gebeth sey fürvbergangen? X. mixtura carnalis Wie oft der Teifel im Jahr ausser den hexen Tänzen mit ihr vnzucht getrieben, an welchem Orth, im Haus oder sonnsten? Ob zur nachts oder beim Tag geschehen? Wie sie ihne empfunden, vnd ih (…). [unleserlich]. Ob er stüll oder lauth geredt? Wie sie ihne erkhandt? Wie er claidt oder wie er sonsten ausgesehen?
Xl. (…) morbi incurabiles Wie sie leithen Krankheiten zugesiegt, das sie nit wiederumben gesund sondern noch Krankher vnd ihnen nimand helfen khönde? XII. discordia inter conjuges Und in wieviel eheleithen sie vnainigkheit gemacht, das sie einander geraufft vnd geschlagen oder gar nit mehr beysammen bleiben khonden?
Alle diese und ähnliche Fragen stellten die Inquisitoren, meist akademisch ausgebildete Theologen und Juristen, ihren Opfern offensichtlich mit großem Ernst und Nachdruck. Der Hexenhammer empfiehlt, die Folterqualen stufenweise solange zu steigern, bis die Angeklagten schließlich das gewünschte Geständnis ablegten. Die sogenannte Urgicht, das Geständnis unter Folter, musste anschließend noch einmal ohne Folter wiederholt werden, „damit [der Richter ihr Geständnis] von neuem vernehme und [wisse], daß er es nicht nur mittels der Macht der Folter vernommen habe“ (a. a. O.: 676). Allerdings mussten die Opfer im Falle des Widerrufs ihres Geständnisses mit erneuten Folterungen rechnen, genauer: mit der Fortsetzung der Folter, denn die Wiederholung der Tortur war nach den damals geltenden Strafprozessordnungen, welche Karl V. 1532 mit der Carolina, der Peinlichen Halsgerichtsordnung des Heiligen Römischen Reichs vereinheitlich hatte, nicht zulässig. „Die Tortur war die eigentliche Seele des Prozeßverfahrens. Ohne sie würde es gar nicht möglich geworden sein, die Massen von Hexen aufzuspüren, die man allerorten prozessiert und justifiziert hat. Ohne die Folter wäre der Hexenprozeß niemals das geworden, als was er in der Geschichte der Menschheit dasteht“ (Soldan & Heppe 1912: 339 f.).
Da im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die Einzelheiten der Folter nur von untergeordnetem Interesse sind, seien sie hier nicht weiter vertieft. Wer hier nähere Details vermisst, sollte bei Gelegenheit z. B. das Kriminalmuseum in Rothenburg ob der Tauber besuchen (vgl. Mittelalterliches Kriminalmuseum 1989). Fast immer kam es nach einem durch die Folter erpressten Geständnis zum Todesurteil, in den meisten Fällen erfolgte die Hinrichtung der Opfer durch Verbrennen. Diese Verbrennungen wurden in der Regel durch weltliche Scharfrichter als schaurig abschreckende Volksbelustigung inszeniert. Die Inquisitoren pressten ihren Opfern während der Verhöre nicht nur die gewünschten Geständnisse ab. Sie wollten zudem noch die Namen weiterer Mittäterinnen und Mittä-
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ter wissen. So kam es zu weiteren Beschuldigungen, die weitere Prozesse nach sich zogen, in denen wiederum weitere Menschen beschuldigt wurden. Die Inquisition rekrutierte sich auf diese Weise beständig selbst neue Opfer und damit immer wieder neue Legitimationen für ihr Tun. Es ist schwer zu sagen, wie viele Menschen der Hexenverfolgung zum Opfer gefallen sind. Eine Reihe von Hexenbränden ist genau registriert. Über viele Hinrichtungen existieren hingegen heute keine Unterlagen mehr. Schätzungen gehen davon aus, dass in Europa ca. 50 000 Menschen wegen des Verbrechens der Hexerei hingerichtet wurden (Behringer 2005: 75), von denen 75-80 % Frauen waren (a. a. O.: 67), wobei der Anteil der verurteilten Männer in Nordeuropa weit höher lag als in Mittel- und Südeuropa. Bei diesen Zahlen ist allerdings zu bedenken, dass Europa seinerzeit noch relativ dünn besiedelt war. Um 1300 lebten in ganz Europa ca. 55 Millionen Menschen, aufgrund von Ressourcenverknappung und Pestepidemien waren es um 1400 nur noch ca. 37 Millionen Menschen. Die heutige Europäische Union zählt mehr als zehnmal so viele Einwohner.86 Ihren Höhepunkt erreichte die Hexenverfolgung in der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Auch sie überdauerte, wie schon erwähnt, unbeschadet die Reformation. Auf Luthers Auffassungen über Hexen wurde bereits hingewiesen. In einer Predigt über Exodus 22, 1887 verkündigte der Reformator: „Es ist ein höchst gerechtes Gesetz, dass die Hexen getötet werden, weil sie viel Schaden anrichten (…), sie können nämlich Milch, Butter und alles aus einem Haus stehlen (…). Sie können ein Kind verzaubern, dass es fortwährend schreit, nicht isst und nicht schläft“ (Luther 1526: 551). (…) „Die Hexen sollen getötet werden, weil sie Diebe sind, Ehebrecher, Räuber, Mörderinnen (…). Sie schaden auf vielfältige Weise, also sollen sie getötet werden, nicht allein weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben“ (a. a. O.: 552).
Eine der letzten Frauen, die in Europa wegen des Deliktes des Schadenszaubers als Hexe zum Tode verurteilt wurde, war die damals 47-jährige Dienstmagd Anna Göldin. Sie wurde auf Betreiben ihres Dienstherrn, dem Glarner Arzt, Ratsherrn, Richter und Regierungsrat Johann Jakob Tschudi, am 13. Juli 1782 im protestantischen Kanton Glarus in der Schweiz hingerichtet. Die letzte bekannt gewordene Hexenverbrennung in Europa hat nach den vorliegenden Quellen 1792 oder 1793 in Posen stattgefunden. 2.2 Besessene Anders als Hexen, denen in der Regel unterstellt wurde, sie würden freiwillig mit den bösen Geistern verkehren, galten als Besessene solche Menschen, von denen der Dämon oder meistens mehrere Dämonen gegen deren Willen Besitz ergriffen hat bzw. haben.
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Dort lebten nach der zweiten Osterweiterung am 01.01.2006 ca. 493 Millionen Menschen (Europäische Kommission 2007). In der 1545 erschienen Luther-Übersetzung der Bibel ist der in der Einheitsbibel als Vers 17 nummerierte Text, ebenso wie z. B. in der lateinischen Bibelübersetzung „Vulgata“, Vers 18.
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2.2.1 Phänomenologie und Ätiologie „Der Teufel kann dem Menschen aber auch leibhaftig innewohnen, wie sich bei den Besessenen zeigt. Und weil sich dies, wie sich herausstellen wird, mehr auf die Erwägung der Strafe als die der Schuld erstreckt, und die körperlichen Strafen nicht immer der Schuld folgen, sondern bald den Sündigen, bald den nicht Sündigen treffen, deswegen können sie [die Dämonen] auch den in und außerhalb der Gnade Stehenden nach der Tiefe der unerforschlichen Ratschlüsse Gottes leibhaftig innewohnen“ (Kramer 1487: 444).
Das Neue Testament (Lukas 8, 26-31; Matthäus 8, 28-34; Markus 5, 1-20) sieht die Ursache für Besessenheit unter anderem darin, dass gefallene Engel sich Wohnungen im Menschen suchen, um nicht in die Hölle fahren zu müssen. Der Glaube daran, dass ein oder mehrere Geister von einem Menschen Besitz ergreifen können, ist keine Besonderheit der christlichen Religion. In vielen Religionen wird eine solche Besitzergreifung sogar gezielt durch Zelebrieren bestimmter Riten, teilweise auch durch Einnahme psychoreaktiver Substanzen88 bewusst herbeigeführt. Aus der Schamanismus-Forschung ist bekannt, „daß der Schamane im Gegensatz zu der üblichen Vorstellung, daß die Sterblichen darauf warten müssen, ob die Geister der Natur oder der Toten mit ihnen in Kontakt treten werden (…), den Kontakt selbst initiiert, indem er sich direkt in die Welt der Geistwesen begibt“ (Cowan 2000: 65).
Es sind also nicht immer nur böse Geister, die von einem Menschen Besitz ergreifen, es können ebenso gute Geister sein. Auch in der christlichen Tradition begegnet uns Besessenheit vom heiligen Geist, z. B. im Pfingstwunder (Apostelgeschichte 2, 1-13), wenngleich der Begriff in den Evangelien eher mit bösen Geistern in Verbindung gebracht und im Zusammenhang mit dem heiligen Geist von Ergriffenheit gesprochen wird. Die katholische, später ebenfalls von den Protestantismen übernommene Lehre meint mit Besessenheit die unfreiwillige Inbesitznahme durch böse Geister. Es werden drei Grade von Besessenheit unterschieden, allerdings werden die beiden ersten Formen häufig auch synonym genannt: 1. 2.
88
Die Umsessenheit (Circumsessio) ist gewissermaßen die Vorstufe zur eigentlichen Besessenheit. Hier werden die Betroffenen von einem oder mehreren Dämonen umlagert und noch von außen in ihrem Handeln beeinflusst. Die Obsession. Hier sind die Dämonen bereits in die Betroffenen eingefahren, haben Besitz von ihnen ergriffen, quälen sie und benutzen sie z. B. als Sprachrohr für ihre Botschaften. Zuweilen verleihen sie ihren Opfern auch übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten.
„Don Juan benutzte, getrennt und zu verschiedenen Gelegenheiten, drei halluzinogene Pflanzen: Peyote (Lophophora williamsii), Jimson weed (Datura inoxia sys. D. metoloides) und einen Pilz (möglicherweise Psylocybe mexicana). Noch vor ihrem Kontakt mit den Europäern haben die Indianer die halluzinogenen Eigenschaften dieser drei Pflanzen gekannt. Dieser Eigenschaft halber war die Verwendung jener Pflanzen weithin verbreitet, zur Heilung, zur Hexerei und zur Erreichung eines Zustandes der Ekstase. Im spezifischen Kontext seiner Lehren brachte Don Juan den Gebrauch von Datura inoxia und Psylocybe mexicana mit dem Erreichen von Macht in Zusammenhang, einer Macht, die er einen ‚Verbündeten’ nennt“ (Castaneda 1973: 17).
52 3.
II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
Die Possession ist die höchste Eskalationsstufe der Besessenheit. Hier hat der Dämon oder haben die Dämonen vollends Besitz von ihren Opfern ergriffen, die ihnen nunmehr vollständig und willenlos ausgeliefert sind.
Der Hexenhammer nennt unterschiedliche Gründe für die Besessenheit im Einzelfall: „(…) [1]manchmal ist jemand besessen wegen seines größeren Verdienstes, [2] manchmal wegen eines fremden leichten Vergehens, [3] manchmal wegen seiner eigenen läßlichen Sünde, [4] manchmal wegen einer schweren fremden Sünde, [5]manchmal wegen einer eigenen schwerwiegenden Missetat. Und aus allen diesen Gründen besteht bei keinem ein Zweifel, dass Gott erlaubt, daß bisweilen auch auf Drängen der Hexen durch die Dämonen ähnliches geschieht“ (Kramer 1487: 445).
Besessenheiten treten auf unterschiedliche Weise und auch nicht notwendigerweise kontinuierlich in Erscheinung. Der Hexenhammer berichtet von einem Priester, der klagt: „Ich werde des Gebrauches des Verstandes nur beraubt, wenn ich mich mit göttlichen Dingen befasse oder heilige Orte aufsuchen will“ (a. a. O.: 449). Statt beim Anblick der heiligen Jungfrau auf die Knie zu fallen, „streckte der Teufel seine Zunge lang aus dem Mund heraus“ und befragt, „ob er sich dessen nicht enthalten könne, antwortete er: ‚Ich vermag das durchaus nicht zu tun, denn so gebraucht er alle meine Glieder und Organe, Hals, Zunge, Lunge zum Sprechen oder Heulen, wenn es ihm gefällt’“ (ebd.). Andere Dämonen bewirken, dass „die Sinne der Männer so sehr zu unerlaubten Neigungen entflammen, daß sie zwangsläufig auch zur Nachtzeit zu ihren Geliebten über weite Entfernungen zu eilen haben, da sie im Flechtwerk der fleischlichen Liebe über Gebühr verstrickt sind“ (a. a. O.: S. 452). Die meisten Besessenen werden von den Dämonen, die sie peinigen, allerdings „ohne Unterbrechung heimgesucht (…), wie es sich im Evangelium zeigt“ (a. a. O.: 454).
Es kam auch vor, dass die Dämonen als Inkubi und Sukkubi mit bestimmten Menschen geschlechtlich verkehren wollten, und zwar anders als bei den Hexen, die sich ja freiwillig mit ihnen einlassen, gegen den Willen der Betroffenen. Es versteht sich von selbst, dass man „bezüglich der Sukkubi bei Männern eine freiwillige Ausführung nicht in dem Maße findet, da sie infolge der natürlichen Kraft der Vernunft, um welche die Männer die Frauen übertreffen, vor solchen Dingen mehr zurückschrecken“ (a. a. O.: 529).
Zur Abwehr solch diabolischer Anfeindungen wurden unter anderem „sakramentale Beichte und heilige Übung beim Schlagen des Kreuzeszeichen“ [oder der] „Engelsgruß“ empfohlen, ferner die „Anwendung von Exorzismen (…) gewisse Ortsveränderungen und (…) vorsichtige Bannung seitens der Heiligen“ (a. a. O.: 532).
Schon damals wurde bei bestimmten Symptomen nicht immer Besessenheit angenommen, sondern wurden durchaus auch natürliche Ursachen in Erwägung gezogen. Die Erkenntnisse der frühneuzeitlichen Medizin standen ja – wie deutlich geworden ist – keineswegs im Widerspruch zur herrschenden Dämonenlehre. Wie die Inquisitoren hatten auch die Exorzisten gegenüber den Medizinern ihrer Zeit keinerlei Berührungsängste.
2 Zur Phänomenologie und Ätiologie des Anders-Seins in theologisch-dämonologischer Sicht
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„Die Deutung eines Zustandes als Besessenheit kam zustande, wenn andere Erklärungsversuche unbefriedigend, ungünstig oder einfach nicht einleuchtend waren“ (Weber 1999: 152).
Auch die 1614 von Papst Paul V. in Kraft gesetzte und in immer wieder überarbeiteter Fassung vorgelegte verbindliche Richtlinie für die Durchführung der katholischen Variante des Exorzismus, das Rituale Romanum, wies den Exorzisten an, er dürfe „nicht leichtfertig glauben, jemand sei von einem Dämon besessen, der an einer anderen, insbesondere an einer psychischen Krankheit, leide“ (Rituale Romanum 2005: 11).
Als Anzeichen für echte Besessenheit zählen unter anderem: „Über ein unbekanntes Thema wortreich zu sprechen oder den Sprechenden zu erkennen; Entferntes oder Verborgenes aufzudecken; Kräfte, die über das Alter und die natürliche Kondition hinausgehen, zeigen“ (a. a. O.: 12).
Allerdings soll der Exorzist auch in umgekehrter Hinsicht vorsichtig sein. „[Der Exorzist] achte ebenso darauf, dass er nicht getäuscht werde durch Künste und Betrügereien, die der Teufel anwendet, um Menschen irrezuleiten, z. B. den Besessenen zu überreden, sich nicht dem Exorzismus zu unterziehen, seine Krankheit sei natürlich und hänge von der medizinischen Kunst ab“ (a. a. O.: 11).
2.2.2 Zum Umgang mit Besessenen: Der Exorzismus Ist Besessenheit erwiesen, kann den Betroffenen nur noch auf dem Wege einer fachkundig vorgenommenen Teufelsaustreibung, dem Exorzismus, geholfen werden. Laut biblischer Überlieferung hat Jesus selbst zu Lebzeiten zahlreiche Exorzismen durchgeführt89 und auch seine zwölf Jünger bevollmächtigt und aufgefordert, dies zu tun90. „Der Exorzismus ist ein im Namen Gottes bzw. Jesu an den Teufel gerichteter Befehl, Menschen oder Gegenstände zu verlassen beziehungsweise sie in Ruhe zu lassen“ (Siegmund 1989: 10).
Der Exorzismus nach dem Rituale Romanum In der alten Kirche konnte den Exorzismus jeder vornehmen, der sich dazu berufen fühlte. Mit der Herausbildung der pastoralen Struktur der Kirche – auf der einen Seite die Schafe, die Gemeinde der Laien, auf der anderen Seite in hierarchischer Rangfolge die Hirten und Oberhirten91 – jedoch beanspruchten die von den jeweils ranghöheren geweihten Hirten die Durchführung dieser und anderer ritueller Handlungen zunehmend für sich. 1614 schließlich gab Paul V. das sogenannte „rituale romanum“ heraus, welches die Durchführung des 89 90 91
Zum Beispiel Matthäus 8, 16; 12, 45; Markus 1, 27; 5, 13. „Dann rief er seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen die Vollmacht, die unreinen Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen“ (Matthäus 10, 1; vgl. auch Markus 6, 7). „Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!“ (Matthäus 10, 8). Latein: Pastor = deutsch: Hirte.
54
II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
Exorzismus in einer für die katholische Kirche seither und bis heute verbindlichen Form kodifiziert. Ab nun durfte und darf bis heute offiziell nur noch ein ordinierter Priester, „der mit Pflichtgefühl, Weisheit, Klugheit und integrem Lebenswandel begabt und auf diese Aufgabe speziell vorbereitet ist“ (Rituale Romanum 2005: 11),
den Exorzismus durchführen und dies auch nur mit ausdrücklicher Vollmacht des zuständigen Ortsbischofs. 1890 führte Papst Leo III. den sogenannten kleinen Exorzismus ein, den auch Laien durchführen konnten. Er legalisierte damit eine Praxis sogenannter „wilder Exorzismen“, die sich offensichtlich nicht ohne weiteres unterbinden ließ und lässt. 1929 wurde der kleine Exorzismus unter Pius XI. wieder verboten. Vor der Durchführung des Exorzismus, nach dem 1954 revidierten und in dieser Fassung bis 1999 gültigen Rituale Romanum, sollte der vom Ortsbischof beauftragte Priester „vorerst beichten oder wenigstens seine Sünden von Herzen bereuen. Auch soll er, womöglich, vorher das heilige Messopfer dargebracht und Gott um Hilfe angefleht haben. Mit Chorrock und violetter Stola bekleidet stelle er sich vor den Besessenen hin, den man, wenn Gefahr besteht, anbinden soll. Er mache das Kreuzzeichen über ihn, über sich und über die Umstehenden und besprenge alle mit Weihwasser“ (Ecclesia Catholica 1989: 27).
Kniend betete er anschließend als Vorbeter die Allerheiligenlitanei, die Umstehenden sollen antworten. Danach wurde ein Antiphon92 und das Vaterunser, anschließend der 54. Psalm gebetet. Es folgte das Eröffnungsgebet. „Dann befielt er [der Exorzist] dem Teufel wie folgt: Ich befehle dir, unreiner Geist, wer immer du bist und deinem ganzen Anhang, die ihr diesen Diener (diese Dienerin) Gottes in Gewalt habt: wegen der Geheimnisse der Menschwerdung, des Leidens, der Auferstehung (…): gib mir deinen Namen, den Tag und die Stunde deines Fortganges mit irgend einem Zeichen kund! Gehorche in allem mir, Gottes unwürdigem Diener! Füge diesem Geschöpfe Gottes, den Anwesenden oder ihrem Hab und Gut keinen Schaden zu. Hierauf wird über den Besessenen wenigstens einer der folgenden Evangelienabschnitte gelesen93“ (a. a. O.: 31). Nach einem Gebet folgt der erste von drei Exorzismen: „Im Namen unseres Herrn Jesus +94 Christus, beschwöre ich dich, unreiner Geist, jede feindliche Macht, jedes Gespenst: reisse dich los und weiche von diesem Geschöpf Gottes +. Er selbst befiehlt es dir, auf dessen Wort du von den Höhen des Himmels in die Hölle gestürzt wurdest. Er selbst befiehlt es dir, der dem Meer, den Winden und Stürmen gebot. Höre es also und fürchte dich, Satan, du Glaubensfeind, du Widersacher des Menschengeschlechts, du Mörder und Räuber des Lebens, du Verächter der Gerechtigkeit, du Wurzel aller Uebel, du Herd aller Laster, du Verführer der Menschheit, du Verräter der Völker, du Aufwiegler zum Neid, du Ursprung des Geizes, du Urdache der Zwietracht, du Erreger von Leid und Leiden. Warum verweilst du und widerstehst du? Du weißt ja, dass Christus, der Herr, deine Wege ins Verderben führt. Ihn sollst du fürchten, der in Isaak geopfert, in Joseph verkauft, als Lamm geschlachtet, als Mensch gekreuzigt wurde und die Hölle überwunden hat. (Die nun folgenden Kreuzzeichen werden auf die Stirn des Besessenen gemacht.) Weiche also im Namen des Va + ters und des Soh + nes und des Heiligen + Geistes. Mach Platz 92 93 94
Griechisch: Wechselgesang. Hier beten der Exorzist und die anderen Anwesenden im Wechsel. Zur Auswahl standen: Johannes 1, 1-14; Markus 16, 15-18; Lukas 10, 17-20, wobei die Abschnitte mit Ausnahme desjenigen bei Johannes alle über Jesus als Dämonenaustreiber handeln. An diesen Stellen soll der Exorzist jeweils ein Kreuzzeichen ausführen.
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dem Heiligen Geist durch dieses Zeichen des heiligen + Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, der mit dem Vater und dem Heiligen Geiste lebt und herrscht, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (a. a. O.: 40 f.; Hervorhebung im Original).
Es folgte ein Gebet, mit dem Gott um Unterstützung bei der weiteren Durchführung des Exorzismus gebeten wird. Daran schloss sich ein zweiter Exorzismus, länger als der erste, an, ebenfalls eine Mischung aus wüsten Beschimpfungen des Dämons und Beschwörungen im Namen Gottes, den Besessenen oder die Besessene wieder freizugeben. Einem weiteren Gebet folgte schließlich ein dritter Exorzismus. Es wurden folgende Hinweise zur Durchführung gegeben: „Diese Beschwörungsformeln können nach Notwendigkeit wiederholt werden, bis der Besessene völlig befreit ist. (…) Außerdem ist es sehr nützlich, über den Besessenen öfters das Vaterunser, das Ave Maria und das Glaubensbekenntnis zu wiederholen und das, was folgt, andächtig zu beten“ (a. a. O.: 51).
Es folgten zwei Abschnitte aus dem Lukas-Evangelium95, das athanasische Glaubensbekenntnis96 sowie eine Reihe von Psalmen, die wahlweise gebetet wurden. Der erfolgreiche Exorzismus endete mit einem Gebet um dauerhafte Befreiung von dem ausgetriebenen Geist. Wie schon erwähnt, ist das Rituale Romanum 1999 novelliert worden. Einen Vergleich der früheren und der aktuellen Fassung haben Probst & Richter (2002) vorgelegt. Dort findet sich auch eine erste, bislang nicht autorisierte Übersetzung der Neufassung (a. a. O.: 75 ff.). Da jedes neugeborene Kind durch die Erbsünde befleckt vom bösen Geist besessen zur Welt kommt, muss es zunächst davon befreit werden. Deswegen „wird in einfacher Form (…) der Exorzismus bei der Feier der Taufe vollzogen“ (KKK 2005, Nr. 1673: 447 f.), im Katholizismus ebenso wie in den Protestantismen. Auch für Luther ist der Taufritus ein Exorzismus: Deswegen „der teuffer blasse dem kind drey mal unter die Augen und spreche: Far aus, dur unreyner geyst, und gib raum dem heiligen geyst“ (Luther 1523b: 42).
Außerdem soll, so Luther, der Geistliche während der Taufe das rechte Ohr des Täuflings mit Speichel bestreichen und dabei sagen: „Ephathah, das ist, thu dich auff.“ Zur Nase und zum linken Ohr soll er sprechen: „Du teuffel aber fleuch, denn gotis gericht kompt herbey“ (a. a. O.: 45). Der Exorzismus von Klingenberg Exorzismen können bei hartnäckigen Dämonen sehr langwierig sein und zahlreiche Widerholungssitzungen erfordern. Sie können auch tödlich ausgehen. Das ist in Deutschland zuletzt am 1. Juli 1976 im fränkischen Klingenberg in der Diözese Würzburg vorgekommen (hierzu ausführlich: Wolff 1999). 95 96
Lukas 1, 47-55; Lukas 1, 68-79. Neben dem apostolischen und den nicäanischen eines der drei klassischen Glaubensbekenntnisse.
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
Opfer war die 1952 geborene Lehramtsstudentin Anneliese Michel. Bis zu ihrem 16. Lebensjahr ist sie so aufgewachsen, wie dies für Mädchen in einem streng katholischen fränkischen Milieu üblich ist: Regelmäßige Messebesuche, Rosenkranzgebete, Beichte etc. Mit 16 Jahren erlitt sie erstmals einen epileptischen Anfall. Zwei Jahre später hat sie erstmals Erscheinungen, sie sah Fratzen, die ihr insbesondere dann erschienen, wenn sie religiösen Pflichten wie Rosenkranzgebeten nachkam. Diese Fratzen verfolgten sie auch im Laufe der weiteren Jahre. 1973 schöpfte der zuständige Ortspfarrer den Verdacht auf dämonische Besessenheit. Der Jesuitenpater Adolf Rodewyk, ein ausgewiesener Dämonologe und Exorzist, den wir bereits im Zusammenhang mit den theoretischen Grundlagen des theo- bzw. dämonologischen Verständnisses von Anders-Sein kennengelernt haben, wurde hinzugezogen. Er bestätigte diesen Verdacht. Aufgrund seines Gutachtens beauftragte schließlich, so wie vom Kirchenrecht vorgeschrieben, der Würzburger Diözesanbischof Dr. h. c. Josef Stangl mit Schreiben vom 16. September 1975 den Salvatorianer-Pater Wilhelm Renz, den Exorzismus an der jungen Frau, die mittlerweile Pädagogik und katholische Theologie studiert, vorzunehmen.97 Die erste Exorzismus-Sitzung fand am 24. September 1975 statt, wenige Tage nach Anneliese Michels 23. Geburtstag. Pater Renz erstellte nach der Sitzung ein Protokoll, welches das Setting bei der Durchführung des Exorzismus zumindest erahnen lässt: „24.9.1975. 16.00 angekommen. Mit dem Exorzismus begonnen nach Vorschrift. Anneliese bzw. die Dämonen verhalten sich zunächst ziemlich ruhig. Anneliese wird geschüttelt, immer stärker. Am stärksten reagiert Anneliese bzw. die Dämonen auf das Weihwasser. Sie fängt an zu brüllen und zu toben. (…) Anneliese wird von (…) drei Männern (…) gehalten (damit sie weder sich noch andere verletze). Anneliese will beissen, nach rechts und nach links. Sie schlägt mit dem Fuss gegen mich. Manchmal schlägt sie einfach vorwärts. … Von Zeit zu Zeit brüllt sie, besonders bei Weihwasser. Manchmal jault sie wie ein Hund. Wiederholt sagt sie: ‚Hört auf mit dem Dreckzeug!’ – ‚Sie Scheisskerl!’ – ‚Sie Drecksau’ – ‚Weg mit dem Dreckzeug!’ (Weihwasser) – ‚Hört auf mit dem Dreckszeug!’ (Exorzismus). Ansonsten spricht sie sehr wenig. Auch mit Schimpfworten ist sie sparsam. Gegen Schluss wird sie ganz wütend beim ‚Gloria Patri’, das wir gemeinsam beten, wiederholt beten. Das Ganze dauert von 16.00 bis 21.30. Am Schluss, das heisst, hernach, sagte sie: ‚Jetzt hätte man weitermachen sollen.’ Sie hat anscheinend gespürt, dass es den Dämonen an den Kragen geht. Beim Abschied war sie eigentlich recht munter. Das Ganze muss für sie sehr anstrengend gewesen sein. Sie verbraucht viel Kraft, da sie von drei Männern gehalten wird und doch immer dagegen ankämpft“ (zit. nach Goodman 1993: 128).
Fünfeinhalb Stunden wurde die junge Frau, festgehalten von drei Männern, ihrem Vater, ihrem Verlobten und einem Nachbarn, Beschwörungen und Schimpftiraden gegen den Teufel und die angeblich in sie eingefahrenen Dämonen ausgesetzt, immer wieder unterbrochen durch Lesungen und Gebete, ehe die Sitzung schließlich ergebnislos abgebrochen und vertagt wurde. 67 weitere Sitzungen, in der Regel zwei pro Woche, bei denen Renz zum Teil durch den Ortspfarrer Ernst Alt unterstützt wurde, musste Anneliese Michel in den folgenden neun Monaten zum Teil in Fesseln über sich ergehen lassen. Dabei gaben sich insgesamt sechs Dämonen, die in sie eingefahren sind, zu erkennen: Luzifer, Judas, 97
Der Wortlaut des Schreibens ist dokumentiert in Goodman 1993: 121 f.
2 Zur Phänomenologie und Ätiologie des Anders-Seins in theologisch-dämonologischer Sicht
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Nero, Kain, Hitler und Pastor Fleischmann98. 42 der Sitzungen wurden auf Tonband aufgezeichnet. Bereits seit August 1975 nahm Anneliese kaum noch Nahrung zu sich. Später wurde vermutet, sie hätte an anorexia nervosa99 gelitten. Ab Mitte Oktober gesellten sich zu den bösen auch gute Geister, so die Jungfrau Maria und der Heiland persönlich. Anneliese notierte in ihr Tagebuch: „20.10.75 Heiland: ‚Du wirst eine große Heilige werden.’ (Ich wollte das […] nicht glauben, da liess mich der Heiland zum Beweis, dass ich richtig gehört hatte, Tränen weinen.) (…) 24.10.75 Heiland sagte: ‚Du wirst viel leiden und sühnen, schon jetzt. Deine Leiden, deine Traurigkeit und Trostlosigkeit dienen mir dazu, andere Seelen zu retten’“ (zit. nach Goodman 1993: 155).
Am 31. Oktober 1975 fuhren dann endlich die namentlich bekannten Dämonen aus. Es stellte sich jedoch heraus, dass Anneliese noch von einem weiteren bösen Geist besessen war, der sich bislang nicht zu erkennen gegeben, sein Unwesen im Verborgenen getrieben hatte und merklich schweigsamer war als die ausgefahrenen. Annelieses Exorzisten erklärten diesen neuen Zustand jetzt als „Sühnebesessenheit“, als mysterisches Martyrium, durch das Anneliese, wie vom Heiland prophezeit, andere Seelen retten soll. Auch Anneliese schien zunehmend davon überzeugt zu sein. „Der neue Dämon wurde immer schweigsamer und verstummte im Februar schließlich ganz, ebenso wie seine himmlischen Gegenspieler. Anneliese konnte nichts mehr essen, schlug sich blutig und verfiel in endlose Krämpfe und Schreianfälle, lehnte jedoch in ihren lichten Augenblicken beharrlich ab, irgendwelche ärztliche Hilfe anzunehmen“ (Goodmann 1997: 181).
Die Exorzisten hielten ärztliche Hilfe offensichtlich ebenfalls für unangebracht. Für sie war Annelieses Zustand dämonische Besessenheit, für die allein sie sich für fachlich zuständig hielten. So exorzierten sie unbeirrt so lange weiter, bis die junge Frau schließlich vor ihren Augen verhungert war. Bei ihrem Tod wog sie 31 Kilo. Den Eltern und den beiden Exorzisten wurde der Prozess gemacht. Sie erhielten Haftstrafen von je sechs Monaten auf Bewährung wegen unterlassener Hilfeleistung. Sie hielten sich jedoch für unschuldig und waren nach wie vor davon überzeugt, dass Anneliese Michel besessen war und sterben musste, weil sie wie Jesus dafür bestimmt war, durch ihr Leiden andere Menschen zu erlösen. Ihr Grab wurde zum Wallfahrtsort. Eine Kapelle wurde für sie erbaut. Eineinhalb Jahre nach ihrem Tod musste sogar ihr Leichnam exhumiert werden, um zu überprüfen, ob er ganz normal verwese. Die Anhänger von Anneliese Michel fordern, sie müsse heilig gesprochen 98
99
Valentin Fleischmann war von 1572 bis 1575 Priester in Ettleben, mithin ein Vorgänger von Ernst Alt. Alt berichtet: „Er wurde als ‚conkubinarius’ [= Beischläfer] ausgewiesen, war ‚vino addictus’ also ein Säufer auf deutsch gesagt, war ein ‚arger Schläger und hatte vier Kinder. Er habe an einem bestimmten Tag einen Mann im Pfarrhaus erschlagen. Außerdem habe er eine Frau so geschlagen, dass sie über Wochen beim Baader in Würzburg gelegen habe“ (zit. nach Goodman 1993: 144). „Wegen dieses Pfarrers Fleischmann gilt das Pfarrhaus in Ettleben als Spukhaus, in dem Poltergeister ihr Unwesen treiben sollen, und einige Besucher wollen sogar die schwarz gekleidete hohe Gestalt des Pfarrers Fleischmann im ersten Stock gesehen haben. Pfarrer Alt jedenfalls hat große Angst vor diesem lüsternen und trinkfreudigen Amtsbruder“ (Wolff 1999: 149). Magersucht.
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
werden. Der katholischen Kirche, jedenfalls in Deutschland, sind die Schlagzeilen, die der Fall ausgelöst hat, allerdings peinlich, zumal nicht zu bestreiten ist, dass dieser tödliche Exorzismus exakt nach den Regeln des Kirchenrechts, des kirchlichen Rituals und im Auftrag des zuständigen Diözesanbischofs vorgenommen wurde. Eine von der deutschen Bischofskonferenz eingesetzte Kommission gelangte mittlerweile zu der Einschätzung, Anneliese Michel sei nicht besessen gewesen. Dem Vatikan wurde nahegelegt, den Exorzismus abzuschaffen. 23 Jahre nach Anneliese Michels Tod, im Jahr 1999, reagierte der Vatikan – allerdings nicht mit der Abschaffung, sondern mit einer Reform des Exorzismusrituals. 2.3 Narren „Narr“ ist ein Sammelbegriff zur Bezeichnung von Menschen, deren Verhaltens- und Erscheinungsweisen von den Zeitgenossen aus unterschiedlichen Gründen als abweichend wahrgenommen wurden, wobei Mezger (1991: 26), der sich im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Studie über die Entstehung von Fastnachtsbräuchen mit dem mittelalterlichen Narrenverständnis beschäftigt hat, zu Recht beklagt hat, dass „bis heute praktisch keinerlei umfassende Untersuchung über die Figur des Narren und ihre jeweilige Bedeutung im Laufe der Jahrhunderte“ vorliegt. „Ja, es gibt noch nicht einmal eine exakte Beschreibung des Personenkreises, den man in früheren Jahrhunderten zu den Narren rechnete, geschweige denn eine wirklich befriedigende Definition des Begriffs ‚Narr’ selbst“ (ebd.). 2.3.1 Phänomenologie und Ätiologie Vor dem Hintergrund dieser Forschungslage rekonstruierte Mezger das mittelalterliche Narrenverständnis aufgrund einer Analyse von zeitgenössischen bildnerischen Narrendarstellungen. Dabei kam er zu auch für unsere Fragestellung recht aufschlussreichen Ergebnissen. Der Gruppe der Narren „wurden Leute zugerechnet, die noch als Erwachsene den Bewusstseinsstand von Kleinkindern hatten, weil sie mit Dummheit, Uneinsichtigkeit, intellektueller Beschränkung oder gar mit irgend einer Form von Geisteskrankheit behaftet waren“ (a. a. O.: 31). Zudem ist „mit dem Begriff ‚Narrheit’ stets auch noch der Aspekt des Bösartigen und Gefährlichen verbunden“ (ebd.).
Schließlich wies Mezger noch darauf hin, dass oftmals zwischen Narren und Menschen mit anderen Gebrechen wie Blindheit, Lepra, körperlichen Lähmungen oder Verkrüppelungen kaum differenziert, „zwischen Krüppeln und Narren sogar bis ins 17. Jahrhundert hinein kein Unterschied gemacht wurde“ (a. a. O.: 34), [denn] „Krüppel (waren) in ihrer physischen Abnormität dem Mittelalter genauso verdächtig (…) wie Narren mit ihren psychischen Störungen. Wenn nämlich Gott den Menschen – laut Gen 1, 27 – tatsächlich nach seinem Bilde geschaffen hat, dann konnten geistig Verwirrte wie körperlich Deformierte, streng theologisch betrachtet, unmöglich Ebenbilder des Schöpfers sein; im Gegenteil – man sagte ihnen sogar eine Verwandtschaft mit dem Teufel nach, der in der bildenden Kunst durchaus nicht von ungefähr als pferdefüßige Missgestalt mit fratzenhaftem Gesicht und gelegentlich sogar noch mit unverkennbaren Narrenattributen dargestellt wurde“ (ebd.).
2 Zur Phänomenologie und Ätiologie des Anders-Seins in theologisch-dämonologischer Sicht
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„Zum Kreis der Narren aber zählte man keineswegs nur Menschen mit körperlichen oder geistigen Gebrechen, sondern auch eine Gruppe von Leuten, die man aus ganz anderen Gründen für suspekt hielt“ (a. a. O.: 36).
Das zeigte Mezger anhand einer 1592 entstandenen Zeichnung des Schaffhausener Künstlers Daniel Lindtmayer, die vier Kopfstudien beinhaltet. „Im Vordergrund ein verliebtes Bürgerpaar und dahinter – in bewußtem Kontrast dazu – zwei Gestalten, welche die Idylle bedrohen: rechts der diabolisierte Narr und links, ihm gleichgestellt, der Jude. Diese fatale Zuordnung drängt sich nach der Logik mittelalterlicher Weltanschauung förmlich auf. Sowohl der Narr als auch der Jude hat nämlich keinen Platz innerhalb der Gemeinschaft christlicher Stände, beide waren Außenseiter. Dem Geistesgestörten blieb die Einsicht in den göttlichen Heilsplan aufgrund seiner mangelnden Vernunft verwehrt, der Jude stellte sich durch seine Weigerung, den christlichen Glauben anzunehmen, selbst ins Abseits. Und wem Christus gleichgültig war oder wer ihn gar leugnete, von dem ging – egal ob Jude oder Narr – zwangsläufig eine Bedrohung für die mittelalterliche Weltordnung aus“ (ebd.).
Genau in diesem Sinne äußerte sich auch Sebastian Brant im 11. Kapitel seines 1494 erstmals veröffentlichten Narrenschiffs. Er stellte darüber hinaus explizit einen Zusammenhang her zwischen Narrheit und körperlichen Gebrechen, hier Blindheit und Gehörlosigkeit. „Der ist ein Narr, der nit die Schrift / will glauben, die das Heil betrifft, /und meinet, dass er leben söll, / als ob kein Gott wär und kein Höll, / verachtend all Predigt und Lehr, / als ob er weder säh noch hör / (…) / Gott hat geschaffen, das ist wahr, / das hörend Ohr, das Auge klar. / Darum ist der blind und ertaubt / der nit hört Weisheit und ihr glaubt“ (Brant 1986: 51).
Nach Mezger galten „als Narren (…) spätestens seit dem 15. Jahrhundert alle, die aufgrund abweichender Verhaltensformen – bedingt durch geistige Defekte, durch körperliche Anomalien, insbesondere aber auch durch Gleichgültigkeit gegenüber dem christlichen Glauben – dem herrschenden Normsystem nicht entsprachen“ (Mezger 1991: 38).
Es wird deutlich, dass die Gruppe der Narren differenziert zu betrachten ist und mindestens zwei Gruppen zu unterscheiden sind: zum einen diejenigen, die aufgrund körperlicher oder geistiger Defekte für Narren gehalten wurden, und zum anderen die, die sich bewusst aus dem mittelalterlichen Normgefüge herausgestellt haben. Narrheit war also nicht nur eine physische und psychische, sondern auch eine weltanschaulich-moralische Kategorie zur Kennzeichnung einerseits eines von der herrschenden Norm abweichenden Geisteszustandes sowie andererseits eines normabweichenden Lebenswandels. Dieses Verständnis steht auch in der bereits zitierten Typologie des Narrenwesens von Sebastian Brant, dem Narrenschiff, im Vordergrund, wobei durchaus – wie dargelegt – körperliche Gebrechen mit moralischen Verfehlungen im Zusammenhang gesehen wurden. Auch Thomas von Aquin (S. Th. II, q. 46, art. 1, Bd. 3: 206) unterschied zwischen „stultitia“100, „welche Stumpfsinnigkeit und Herzensblödigkeit besagt (…) (und) der Gabe der Weisheit gerade entgegengesetzt (ist)“, auf der einen und „fatuitas“101, „die eine völlige Fehle 100 Dummheit im moralischen Sinne.
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
geistigen Sinns bezeichnet (und) ihr [der Weisheit] als bloßes Nichts (negative) gegenüber (steht)“,
auf der anderen Seite. Dementsprechend machte Thomas auch bei der moralischen Bewertung Unterschiede, je nachdem ob die Betroffenen für ihre Torheit persönlich Verantwortung tragen oder nicht. „Die Torheit, die eine Art natürlicher Besinnungslosigkeit ist, ist keineswegs Sünde: aber die fleischliche Torheit, mit der jemand sich so sehr in die irdischen Dinge versenkt, dass er untauglich wird, die göttlichen Dinge aufzunehmen, ist nicht frei von Sünde“ (S. Th. II, q. 46., art. 2, Bd. 3: 206). Als Ursachen der Torheit nennt Thomas: „Das Laster der Torheit entstammt zumeist gerade der Unkeuschheit und heißt mit Recht deren Sprössling“ (ebd.).
Spätestens im ausgehenden 15. Jahrhundert entstand neben den „natürlichen“ Narren, den sogenannten „Stocknarren“, auch ein „künstliches“ Narrentum, die „Schalksnarren“. Während natürliche Narren Menschen waren, „deren Nicht-Normalsein ein krankhafter Dauerzustand war und die unter irreparablen körperlichen oder geistigen Defekten litten“ (Mezger 1991: 45), waren künstliche Narren an sich in die gesellschaftliche Ordnung eingebunden, traten lediglich zeitweise aus dieser heraus, verkleideten und maskierten sich und schlüpften in die Rolle der gesellschaftlichen Außenseiter. Dabei wurde (und wird in bis heute lebendigen Fastnachtsbräuchen) nicht nur die Narrenfigur imitiert, sondern auch Figuren wie Hexen, Teufel, wilde Leute „Zigeuner, Mohren, Türken und Juden – Vertreter gesellschaftlicher Randgruppen, die dem christlichen Ordogedanken nicht entsprachen“ (a. a. O.: 23). Während der Fastnachtszeit durchbrachen diese künstlichen Narren – toleriert von Geistlich- und Obrigkeit – die ansonsten festen Regeln der mittelalterlichen Ordnung. Selbstverständlich „unterschied die Bevölkerung im Alltag sehr wohl zwischen den verschiedenen Narrentypen (…). Während man den künstlichen Narren wegen ihrer schauspielerischen Fähigkeiten stets ein gewisses Maß an Sympathie und Bewunderung entgegenbrachte, ging man zu den natürlichen Narren lieber auf Distanz“ (a. a. O. S. 45).
Natürliche Narren standen Gott fern und wurden dadurch zu Verbündeten des Teufels, wobei Mezger im Laufe des 16. Jahrhunderts eine „zunehmende Bedeutungsgleichheit der Figuren Narr und Teufel“ (a. a. O.: 103) beobachtet. Schließlich verwundert es bei der Gottferne des Narren nicht, „daß er – gewissermaßen per definitionem – keine Fähigkeit zur christlichen Nächstenliebe besitzen konnte, dafür aber um so intensiver den Begierden der fleischlichen Liebe verfallen war“ (a. a. O.: 135).
Die Gleichsetzung von (erotischer) Liebe und Narrheit finden wir ja noch im heutigen Sprachgebrauch, wenn etwa die Rede davon ist, jemand sei in eine andere Person „vernarrt“. In den Narrendarstellungen, die Mezger ausgewertet hat, werden Narren häufig zusammen mit Frauen, meist mit Buhlerinnen, gezeigt – beide, der Narr wie die Frau, neigen ja bekanntlich nach damaliger Auffassung zu übertriebener Fleischlichkeit – Darstellungen 101 Blödheit im physisch-psychischen Sinne.
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von Närrinnen hingegen sind selten. Bei einer Närrin muss also zu dem Merkmal der für Frauen ohnehin hohen Anfälligkeit für fleischliche Lustbarkeiten noch dasjenige des Narren hinzutreten. Vor diesem Hintergrund kann das Motiv des folgenden Bildes einer Närrin, das Ende des 15. Jahrhunderts entstanden ist, nicht weiter überraschen. Es zeigt eine langhaarige Frau mit Narrenkappe, die gierig in einen erigierten Penis beißt. Zwei weitere hält sie in der Hand, offensichtlich um sie anschließend ebenfalls zu verzehren (Abb. 5). Eine besondere Gruppe unter den Narren im ausgehenden Mittelalter sind die sogenannten Hofnarren, auf die im Zusammenhang mit der Praxis im Umgang mit den Narren noch einzugehen sein wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auch das zeitgenössische Verständnis von Narren davon geprägt war, dass man diesen eine besondere Gottferne und damit eine entsprechende Nähe zum Teufel unterstellte. Teilweise kommen sich Narr und Teufel derart nahe, dass sie gewissermaßen ineinander verschmelzen und der Narr zu einer Personifizierung des Teufels wird. 2.3.2 Die Behandlung der Narren Das skizzierte zeitgenössische Verständnis von Narren und der Ätiologie der Narreneigenschaft lässt erwarten, dass die vermeintlichen Narren in der mittelalterlichen Ständegesellschaft mindestens zu den sozialen Außenseitern gehörten. Mezger (1991: 44) ging sogar noch weiter. Er kam zu dem Ergebnis, „daß die Narren sich wirklich nicht mehr innerhalb, sondern jenseits der Ständeordnung bewegten. In der Geborgenheit des festgefügten Ordosystems, wie es das christliche Mittelalter über viele Generationen hinweg erdacht hatte, gab es für sie keinen Platz. Sie gehörten zu den sozial und geographisch Heimatlosen, die ohne Halt umherirrten und als ‚Unehrliche’ im Alltag rechtlos, verspottet, verachtet und gemieden wurden“.
Abb. 5: Zeichnung aus einer französischen Handschrift Ende de 15. Jahrhunderts, die insgesamt 170 Bilderrätsel, sog. Rebus, enthält; Paris, Bibliothèque nationale, ms. Fr. 1600 (aus: Mezger 1991: 173)
Das kommt in dem Kupferstich „die Ständetreppe“ (Abb. 6) von Gerhard Altenbach aus dem 17. Jahrhundert deutlich zum Ausdruck, welche die mittelalterliche Ständegesellschaft darstellt.
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
Abb. 6: Die Ständetreppe von Gerhard Altenbach, 17. Jahrhundert (aus: Mezger 1991: 32) Ganz oben thront der Papst als Herrscher der supranationalen katholischen Feudalmacht, dem die weltlichen Herrscher, Kaiser auf der linken und König auf der rechten Seite, untergeordnet sind. Es folgen in streng hierarchischer Reihenfolge die Angehörigen der niedrigeren Ränge von Adel und Klerus, der Bürger und schließlich ganz unten der Bauer (links) und der Soldat (rechts). Nicht unterhalb, sondern außerhalb der Treppe und damit außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stehen links das Kind und rechts der Narr, gekleidet in der typischen Narrentracht und mit einem Narrenstock, der als Frauenbüste gearbeitet ist. Während das Kind noch nicht in die Ständegesellschaft integriert ist, weil es noch nicht über die hinreichende Fähigkeit zur Gotteserkenntnis verfügt, bleibt dies dem Narren zeitlebens verschlossen102. Der Narr hatte also in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht einmal einen randständigen Status. Er gehörte schlichtweg nicht dazu. Sozial ausgegrenzt, blieben Narren zeitlebens ohne jede Chance, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Sofern sie nicht vertrieben wurden und in den Städten, in denen sie lebten, bleiben durften, waren sie in der Regel verpflichtet, sich auf bestimmte Weise zu kleiden oder Erkennungszeichen mitzufüh102 Sein Finger zeigt auf den Tod in der Mitte des Bildes. Ob damit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass ihn, der ja quasi schon in sozialer Hinsicht tot ist, nichts mehr erwartet als sein psychischer Tod (so Mezger 1991: 52 f.) oder ob er damit drohend gegenüber den höheren Ständen „seine Rolle als Mahner des Memento mori (…) erfüllen“ (Barwig & Schmitz 2001: 264) will, mag hier dahingestellt bleiben.
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ren, durch die ihr Narrenstatus sichtbar wurde. Im mittelalterlichen Köln war z. B. „für ‚Narren’ ein langes Gewand mit gezipfelten Schößen, die ‚Gugelkappe’ mit weit herunterhängenden Ohrlappen und ein Schellenstab vorgeschrieben“ (Müller 1996: 56). Mezger (1991: 218) mutmaßt, dass diese Schellen „möglicherweise (…) eine praktische Funktion hatten. Weil zumindest die mit geistigen Defekten behafteten natürlichen Narren mitunter recht aufsässige und wohl auch nicht ganz ungefährliche Zeitgenossen waren, könnte ihr Schellengeklingel nebenbei schlichtweg dazu gedient haben, die übrigen Menschen akustisch darauf aufmerksam zu machen, daß ein Narr nahte, ähnlich wie dies im Fall der Aussätzigen meist durch deren Klappern bewirkt wurde“.
Im Mittelalter hielten sich zahlreiche geistliche und weltliche Machthaber „Hofnarren“, welche „ebenso wie die Jagdhunde, Greifvögel, dressierte Tiere, Zwerge und Monstren aller Art zur königlichen Menagerie gehörten“ (Lever 1992: 84). Dabei „wurde der Narr weniger wegen einer körperlichen Mißbildung als wegen seines geistigen Schwachsinns ausgesucht. Hinkende und Verstümmelte waren eher Ausnahmeerscheinungen“ (ebd.). Immerhin waren Hofnarren existenziell abgesichert. Ihr Status muss trotz nur schwer vorstellbarer Erniedrigung in der damaligen Gesellschaft immerhin so attraktiv gewesen sein, dass zunehmend „künstliche“ Narren im Sinne Mezgers Typologie sich als Hofnarren engagieren ließen. Seit der Renaissance waren fast alle Hofnarren Schauspieler, deren Herren nun vor allem Schlagfertigkeit und Spitzfindigkeiten zu goutieren beliebten. Die meisten Narren, die nicht in den zweifelhaften Genuss des höfischen Lebens kamen, mussten ihren Lebensunterhalt durch Betteln bestreiten. Betteln galt bis zum Ende des 15. Jahrhunderts als zwar verachtete, doch akzeptierte Existenzform. Almosengeben war zu bestimmten Anlässen für die besitzende Bevölkerung religiöse Pflicht. Die Vergabe von Almosen erfolgte durch den direkten Kontakt zwischen Almosengebern und Almosennehmern. Jeder, der bettelte, galt als legitimer Empfänger von Almosen. Eine Bedürftigkeitsprüfung, Kernstück jeder bürgerlichen Fürsorgepolitik, war dem feudalistischen Almosenwesen unbekannt. Erst am Ende des 15. Jahrhunderts, als Betteln im Zuge des Übergangs von der feudalistischen zur kapitalistischen Produktionsweise zunehmend zu einem ernstzunehmenden Hindernis bei der aktiven Proletarisierung der expropriierten Landbevölkerung auf den gerade entstehenden Arbeitsmärkten wurde, entstanden in den Städten Almosenordnungen, die das Bettelwesen reglementierten und erstmals in der europäischen Sozialgeschichte nach dem Kriterium der Arbeitsfähigkeit zwischen bedürftigen und nicht bedürftigen Bettlern unterschieden. So bestimmte z. B. die zweite Nürnberger Bettelordnung von 1478: „Item die betler und betlerin, dem hie zu peteln erlaubt wird, die nit krüppel, lam oder blint sind, wollen an keinen wercktag vor den kirchen an der pettelstat müssig sitzen, sundern spynnen oder annder arbeit, die in ihrem vermuegen ver thun“ (zit. nach Sachße & Tennstedt 1983: 45).
Bis in die Neuzeit lebten Narren als marginalisierte gesellschaftliche Außenseiter von den Almosen der Besitzenden. Dabei waren sie immer bedroht, der Stadt verwiesen zu werden. „Manche Geisteskranke werden öffentlich ausgepeitscht und im Laufe einer Art Spiel dann in einem vorgetäuschten Wettlauf verfolgt und mit Rutenschlägen aus der Stadt getrieben. Es gibt so manche Zeichen, daß die Vertreibung der Irren zu einem der ritualen Exile geworden ist“ (Foucault 1969: 28).
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
Häufig wurden Narren auch mit sogenannten Narrenschiffen weit weg von ihren Herkunftsstädten deportiert, um zu verhindern, dass sie sich ständig vor der Stadtmauer aufhielten, oder sie wurden in „Narrentürmen“ bzw. „Narrenhäusern“ asyliert, denn es hat „in der Mehrzahl der europäischen Städte während des ganzen Mittelalters und der Renaissance einen Ort gegeben, der für die Einschließung der Geisteskranken bestimmt war“ (a. a. O.: 26). 2.4 Wechselbälger und Monstra Wechselbälger hielt man für dämonisch gezeugte Kinder, die Müttern anstelle deren eigener Kinder untergeschoben wurden, wobei unterschiedliche Auffassungen über das genaue Prozedere und die Frage, wer im biologischen Sinne diese Kinder gezeugt hat, bestehen. 2.4.1 Phänomenologie und Ätiologie Thomas betonte, wie bereits in den Ausführungen über die Hexen dargelegt, dass Geistwesen körperlos und deswegen selbst nicht in der Lage sind, Kinder zu zeugen. Kramer (1487: 386 f.) berichtete, daran anknüpfend, „die Auswechslungen von Knaben könnten in der Weise geschehen, dass mit Zulassung Gottes der Dämon eine Vertauschung des Knaben vornehmen oder auch ein Wegschaffen bewirken kann. Solche Knaben heulen auch immer ganz erbärmlich, und auch wenn vier oder fünf Mütter kaum zum Säugen ausreichen würden, so nehmen sie doch niemals zu, sondern sind außergewöhnlich schwer“ (a. a. O.: 387). „Es gibt noch eine andere, schreckliche Zulassung Gottes gegenüber den Menschen, indem bisweilen den Frauen die eigenen Kinder geraubt und von den Dämonen fremde untergeschoben werden. Und diese Kinder werden gewöhnlich als ‚campsores’, zu Deutsch ‚wechselkind’, bezeichnet und sind dreifach verschieden. Einige nämlich sind immer mager und heulen, während doch vier Frauen mit keinem [noch so großen] Milchreichtum hinreichen dürften, [auch nur] eines zu ernähren. Andere aber sind durch das Werk der Dämonen, der Inkubi, gezeugt. Sie sind jedoch nicht eigentlich deren Söhne, sondern des Menschen und Mannes, dessen Same sie – als Sukkubi oder indem sie die Männer in ihren Träumen beflecken – empfangen haben.103 Diese Kinder nämlich schieben sie bisweilen nach Wegnahme der eigenen Söhne mit göttlicher Zulassung unter. Es gibt auch noch eine dritte Art, wenn die Dämonen bisweilen in der Gestalt der Kleinen erscheinen und sich mit den Ammen zusammentun. Gemeinsam ist allen dreien, daß sie sehr schwer und mager sind, nicht wachsen und, wie schon erwähnt wurde, durch keinen Milchreichtum gestillt werden können. (…) Weshalb aber läßt die göttliche Liebe solches zu? Man kann sagen, aus einem zweifachen Grunde. Einmal, weil die Eltern die Kinder zu sehr lieben, weshalb zu ihrem Besten solche Dinge zugelassen werden. Zweitens, weil man annehmen muß, dass Frauen, denen solches zustößt, meistens abergläubisch sind und in vielen Fällen von den Dämonen verführt werden. (…) Und wenn ein eifernder Gatte die Anzeichen des Ehebruches nicht duldet, wie wird er dann [erst] be103 An anderer Stelle schreibt der Inquisitor dazu: „Die Menschen, die unter diesen [Konstellationen] empfangen werden, sind für immer durch Boshaftigkeit verdorben“ (Kramer 2000: 185).
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stürzt, wenn [die Frau] den Ehebruch begeht! Daher ist es nicht verwunderlich, wenn [solchen Frauen] die eigenen Söhne weggenommen und im Ehebruch erzeugte untergeschoben werden“ (a. a. O.: 593 f.).
Wie andere Grundüberzeugungen der thomistischen Dämonologie haben auch die Auffassungen über die Wechselbälger die protestantische Reformation unbehelligt, wenngleich mit Modifikationen überstanden. Wiederholt stellte der Reformator Martin Luther klar: „Das thut der Teufel, er kann sich in einer Frauen und Mannes Gestalt verkehren. Iam est Quaestio: Ob das rechte Weiber seien? und obs rechte Kinder seien? Davon sind das meine Gedanken, daß es nicht rechte Weiber sein können, sondern es sind Teufel. Und gehet also zu: Der Teufel macht ihnen die Geplärr für die Augen, und betreuget sie, daß die Leute meinen, sie schlafen bei einer rechten Frauen, und ist doch nichts. desgleichen geschiehts auch, wenns ein Mann ist. (…) Wie werden aber die Kinder gezeuget? Darauf sage ich also, daß diese Söhne sind auch Teufel gewesen, haben solch Leibe gehabt, wie die Mutter. Es ist wahrlich ein gräulich schreckliches Exempel, daß der Satan so kann die Leute plagen, daß er auch Kinder zeuget. Also ists auch mit dem Nixen im Wasser, der die Menschen zu ihm hinein zeucht, als Jungfrauen und Mägde, mit welchen er darnach zuhält und Teufelskinder zeuget. Denn sonst Kinder zeugen allein ein göttlich Werk ist, und da muß unser Herr Schöpfer sein, denn wir nennen ihn ja allzeit Vater, und muß auch die conceptio per constituta media et per homines in einem momento geschehen; denn er gebraucht zur Schöpfung der Menschen als ein Mittel, und durch dieselbige wirkt er allein, und nicht durch den Teufel. Darum so müssens gestohlene Kinder sein, wie denn der Teufel wol Kinder stehlen kann; wie man denn bisweilen wol Kinder in Sechswochen verleuret, oder müssen suppositii sein, Wechselkinder, die denn die Sachsen nennen Kielkropf“ (Luther, Tischrede 3676, aus den 1530er Jahren, Bd. 3: 517 f.). „Wechselkinder und Kilekröpfe legt der Satan an der rechten Kinder statt, damit die Leute geplaget werden. Etliche Mägde reißet er oftmals ins Wasser, schwängert sie und behält sie bei ihm, bis sie des Kindes genesen; und legt darnach dieselben Kinder in die Wiegen, nimmt die rechten Kinder draus und führet sie weg“ (Luther 1539, Tischrede 4513, Bd. 4: 357). „Solche Wechselbälge und Kielkröpfe supponit Satan in locum verorum filiorum104 und plaget die Leute darmit. Denn diese Gewalt hat der Teufel, daß er die Kinder auswechselt, und einem für sein Kind einen Teufel in die Wiegen legt, das denn nicht gedeiet, sondern nur frisset und säuget; aber man saget, daß solche Wechselbälge und Kielkröpfe über 18 und 19 Jahr nicht alt werden. Dies geschieht nun oft, daß den Sechswöchnerinnen die Kinder verwechselt werden, und die Teufel sich an ihrer Statt legen und sich garstiger machen mit Scheißen, Fressen und Schreien denn sonst andere zehn Kinder, daß die Aelteren fur solchen Unflätigkeiten keine Ruhe haben und die Mütter also ausgesogen werden, dass sie nicht mehr stillen können“ (a. a. O.: 358).
2.4.2 Naturwissenschaftliche Betrachtungen über Wechselbälger Im 17. Jahrhundert fanden Wechselbälger vermehrt das Interesse der sich an Universitäten als eigenständige Disziplinen etablierenden Naturwissenschaften. Bachmann (1985) dokumentiert drei zeitgenössische Abhandlungen zu dieser Thematik. Aus dem Jahr 1667 stammt eine „naturwissenschaftliche Untersuchung über untergeschobene Kinder“105 von Gottfried Voigt (a. a. O.: 14 ff.), Iohannes Gotthofredus Jahn legte 1671 einen „naturwissenschaftlichen Abriss über untergeschobene Kinder, genannt Wechselbälger“ (a. a. O.: 104 Deutsch: legt Satan an die Stelle der wirklichen Kinder. 105 Disputationem physicam de infantibus suppositiis.
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139)106 vor und 1678 erschien in Dresden als Replik auf Jahn eine „naturwissenschaftliche Untersuchung von untergeschobenen Kindern = Wechselbälgern und Nymphen = Wassernixen“107 von M. Joh. Valent. Merbitzio (a. a. O.: 47 ff.). Voigt (a. a. O.: 33) definierte Wechselbälger wie folgt: „Untergeschobene Kinder sind ein Foetus, eine einen Menschen darstellende Gestalt, die vom Teufel in der Gebärmutter der Zauberinnen aus Blut oder einer anderen Materie gestaltet und erzeugt worden sind und an die Stelle der richtigen Kinder untergeschoben wurden, die er selbst durch seine Gegenwart bewegt und lenkt, um mit den Menschen sein Spiel zu treiben“. Wechselbälger sind zwar menschenähnlich, aber keine Menschen. Es „fehlt nämlich dem Teufel die Fähigkeit, eine vernünftige Seele mit einem organischen Körper, mit einem Wort: einen wahren Menschen durch Zeugung herzustellen“ (a. a. O.: 35). Auch Merbitzio kam zu dem Ergebnis: „Aus solchem Beischlaf eines Dämonen kann kein Kind geboren werden, gleichwohl aber freilich ein gewisser entseelter Körper“ (a. a. O.: 107). Die Konsequenz: „Untergeschobene Kinder sind keine Menschen, sondern es ist der Teufel selbst, der entweder einen aus Samen und mütterlichem Blut gebildeten Körper bewegt, oder auch anderswoher von den Irdischen sich beilegt“ (a. a. O.: 111).
Anders als in der thomistischen Dämonologie und in ausdrücklicher Abgrenzung zum Autor des Hexenhammers (a. a. O.: 34), demzufolge der Teufel zunächst als Sukkubus männlichen Samen gewinnen muss, mit dem er dann als Inkubus ein Kind zeugt, das in biologischer Hinsicht jedoch das Kind des freiwilligen oder unfreiwilligen „Samenspenders“ und seiner Mutter ist, hielt es Merbitzio für ein „falsches Vorurteil (…), daß (…) der oben liegende Teufel zeugen und einen richtigen Menschen hervorbringen könne“ (a. a. O.: 114). Wechselbälger waren für Merbizio, wie auch für Voigt, selbst fleischgewordene Teufel, deren Inkarnation starke Analogien mit derjenigen Gottes aufweist, nur, dass hier natürlich nicht der heilige Geist, sondern ein böser Geist Auslöser der Schwangerschaft gewesen ist.108 Außerdem scheint die Fleischwerdung des Teufels häufiger vorzukommen, von Wechselbälgern war nämlich immer im Plural die Rede, während die Fleischwerdung Gottes den bisherigen Überlieferungen zufolge bislang wohl ein singuläres Ereignis geblieben ist.109 Nach Voigt (a. a. O.: 37) waren „die Attribute der untergeschobenen Kinder (…) 106 A. J. Schediasma physicum de infantibus suppositiis, vulgo Wechsel-Bälgen. 107 Biga disputationum physicarum quarum prima de infantibus uppositiis, vulgo Wechsel-Bälgen Altera de Nymphis, Germanis Wasser-Nixen. 108 Dabei ist zu berücksichtigen, dass man seinerzeit mit der hier schon dargelegten aristotelischen Naturphilosophie davon ausging, dass sich der Mensch allein aus dem männlichen Samen im weiblichen Körper entwickelt, ähnlich wie ein Samenkorn in der Erde. Der biologische Beitrag der Mutter zur Schwangerschaft war noch nicht bekannt. 109 Auch Äußerungen von Martin Luther scheinen in diese Richtung zu gehen, wenn er wie gezeigt davon ausgeht, dass der Teufel „anstelle der leiblichen Kinder der Eltern einen Teufel in die Wiegen legt“ (Luther 1539, Tischrede 4513, Bd. 4: 358). Neben den Wechselbälgern gibt es für Luther offensichtlich noch andere Erscheinungsformen diabolischer Inkarnation. Jedenfalls steht für ihn fest, „daß der Papst ein vermummeter leibhaftiger Teufel ist (…). Denn gleich wie Christus rechter natürlicher Mensch und Gott ist, also ist auch der Antichrist ein leibhaftiger Teufel. Darüm ist es wahr, wie man vom Papst sagt, er sei ein irdischer Gott, der weder purer Gott noch ein purer Mensch ist, sondern zwo Naturen vermischet; ein irdischer Gott, das ist, ein Gott dieser Welt“ (Luther 1539, Tischrede 4487: 339). Demgegenüber vertrat der katholische Theologe Ludovico Maria Sinistrari (1622-1701) die Auffassung, neben zahlreichen anderen bekannten Persönlichkeiten sei „auch der verdammte Ketzer Martin Luther“ (ogiginal: „Martino Luthero perditissimo Heresiarcha“) (Sinistrari 1879: 54 u. 56) aus der Paarung des Teufels mit einem Menschen (original: „ ex commixtione hominis cum Daemone“) (a. a. O.: 52) hervorgegangen.
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Außerordentliche Gefräßigkeit (…). Stentorhaftes Schreien (…) . Eine auffallende Verformung, die vor allem der monströse Kopf hervorbringt, weil er nämlich von solcher Dicke und Größe ist, daß, wenn er nicht darüber hinaus ginge, er dennoch leicht dem Kopf eines erwachsenen Menschen gliche. Schwierigkeiten beim Sprechen (…) . Leichtigkeit in der Freude (= Schadenfreude) über das Böse. Wenn nämlich Untaten begangen oder Schäden verursacht werden, pflegen einige Cambionen110 maßlos zu lachen oder sich zu freuen, wenn jedoch ein frommes Opfer dargebracht oder ein Gelübde erfüllt wird, empfinden sie Schmerz und sind traurig. Dieses Verhalten ist wahrhaft teuflisch“.
Merbitzio orientierte sich bei der Beschreibung der Phänomenologie des Wechselbalges ganz am Hexenhammer, auch wenn er dessen Ätiologie, wie gezeigt, nicht teilt: „Andauerndes Wimmern, Gefräßigkeit, unersättliches Jammern, Magerkeit obwohl sie vier Ammen aussaugten und kaum fünf Mütterbrüste für ein solches Kind genügen; Häßlichkeit; Gewichtigkeit; denn obschon die magersten, sind sie dennoch die gewichtigsten. Die kleinen Kinder sollen auch Bestand haben, aber nicht zu einer richtigern Statur aufwachsen. Immer lachen sie über Unglück, empfinden aber Schmerz über Glück, was sie mit übergroßem Geschrei und Weinen, zu aller – die es hören – einzigartigem Entsetzen, verfolgen. Sie erreichen nicht das neunzehnte Lebensjahr, weil sie innerhalb dieser Zeit sterben oder vergehen“ (a. a. O.: 114). Ausdrücklich mahnte er eine sorgfältige Diagnostik an. „Alles muß gut beobachtet werden, dass nicht ein wahres Kind für ein untergeschobenes gehalten wird, oder die Eltern ein untergeschobenes als wahres abküssen“ (a. a. O.: 115).
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Wechselbälger für vom Teufel untergeschobene Kinder gehalten wurden, hinsichtlich deren Ätiologie die Meinungen auseinandergingen. Ging der Verfasser des Hexenhammers mit Thomas davon aus, dass es sich um menschliche Wesen handele, setzte sich später die Auffassung von der Inkarnation des Teufels durch. Als Teufel unterliegen sie nicht dem jüdisch-christlichen Tötungsverbot. Die Ausführungen zeigen darüber hinaus, dass die weit verbreitete Auffassung falsch ist, der Glaube an Wechselbälger sei primär heidnischen Ursprunges. Zwar sind derartige Vorstellungen auch in vor- und außerchristlichen Religionen anzutreffen, spätestens seit Thomas von Aquin jedoch gehörten sie zum integralen Bestandteil der christlichen Theologie, seit der Konfessionalisierung der christlichen Religion konfessionsübergreifend. Allerdings wurden Kinder, die mit offensichtlichen Normabweichungen zur Welt kamen, nicht immer als Wechselbälger gedeutet. Nach Auffassung der israelischen Historikerin Shulamith Shahar (1991: 56) „glaubte man, allzu leidenschaftlicher Geschlechtsverkehr könne zur Geburt eines mißgebildeten oder schwächlichen Jungen oder eines Mädchens führen“, was beides in der Regel unerwünscht war, da ja auch ein Mädchen für abweichend und unvollkommen gehalten wurde. Irene Ewinkel machte in ihrer kunsthistorischen Dissertation zudem darauf aufmerksam, dass „in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (…) eine beträchtliche Anzahl von Flugblättern produziert (wurden), durch welche die Geburt von Monstra einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden sollte“ (Ewinkel 1995: 7),
110 Lateinischer Begriff für Wechselbälger.
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welche sie in einen Zusammenhang stellte mit anderen zeitgenössischen Publikationen über ungewöhnliche Naturphänomene, als deren Urheber „der erzürnte Gott – als Schöpfer und Lenker der ganzen Welt – gesehen wurde“ (ebd.). Schon Augustinus hatte sich mit der Frage nach dem Wesen solcher widernatürlich und wie Wunder anmutender Erscheinungen auseinandergesetzt und klargestellt: „Wunder sind also nicht wider die Natur, sondern nur wider die uns bekannte Natur“ (Civ. Dei XXI, 8, Bd. 2: 698). Dabei warnte er: „Die Ungläubigen sollen sich doch durch ihre Naturwissenschaft nicht den Blick vernebeln lassen, als sei es unmöglich, daß ein Ding durch göttliche Einwirkung anders werde, als sie es seiner Natur nach durch menschliche Erfahrung kennenlernten“ (a. a. O.: 699). Augustinus versteht „die dichtgesäte Menge von unheimlichen Vorzeichen, die man Monstra, Ostenta, Portenta, Prodigia nennt“ (a. a. O: 701) [als Botschaften Gottes]: „Monstra heißen sie von monstrare zeigen, Ostenta von ostendere hinweisen, Portenta von portendere ankündigen, also bevorstehend, Prodigia von porro dicere im voraus sagen, also die Zukunft voraussagen“ (ebd.). Der Inhalt dieser Botschaften: „Uns aber müssen solche scheinbar widernatürlichen und widernatürlich genannten Vorfälle (…) dies anzeigen, darauf hinweisen und es ankündigen und voraussagen, daß Gott sein prophetisches Wort betreffs der Menschenleiber wahr machen wird und zwar ohne Schwierigkeit und ohne jeden Widerstand durch ein Naturgesetz“ (a. a. O: 701 f.).111
In diesem Sinne verstand man in der Geburt eines Monstrums oder anderer Wundererscheinungen im 16. Jahrhundert eine warnende Botschaft Gottes an die Gläubigen. „Das Monstrum wurde selten als unmittelbare Strafe für einen Verstoß gegen ein Gebot gesehen. Allein bei der Geburt eines Monstrums, das sowohl menschliche als auch tierische Glieder aufwies, erörterten die Gelehrten des 16. Jahrhunderts die Frage, ob es ein Resultat und sichtbares Strafzeichen der Sodomie sei“ (Ewinkel: 1995: 71).
Ansonsten, so Ewinkel, anders als, wie ausgeführt, Shahar (1991), wandten sich die Deuter solcher Phänomene „meist energisch gegen eine solche Auslegung, die allein die Eltern verantwortlich machte und damit die Allgemeinheit von der Frage, ob sie am Entstehen der Monstra Schuld habe, entlastete“ (Ewinkel 1995: 71). Schließlich wurde das Auftreten der Monstra auch apokalyptisch gedeutet (a. a. O.: 84): „Die Monstra waren Zeichen der ungeordneten Natur, die die Unordnung in der Gesellschaft widerspiegelte; die ungeordnete Gesellschaft rief als Warnung Gleiches in der Natur hervor. Beide Formen der Unordnung konnten letztendlich als Zeichen des Weltendes gesehen werden.“
2.4.3 Zur Praxis im Umgang mit Wechselbälgern und Monstra Soweit Wechselbälger für ausgetauschte Kinder gehalten wurden, war die Praxis im Umgang mit ihnen darauf ausgerichtet, den Teufel oder wen immer man für den Austausch 111 Was Augustinus damit meint, hat er bereits ein Buch zuvor erläutert. Hier nimmt er Bezug auf Jesajas erstes Lied vom Gottesknecht, den Augustinus mit Jesus identifiziert und von dem der Prophet sagt: „Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht begründet hat“ (Jesaja 42, 4). Diese Aussage wiederum interpretiert Augustinus (Civ. Dei XX, 30, Bd. 2: 674) als Hinweis auf das jüngste Gericht.
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verantwortlich machte, dazu zu bewegen, den Tausch rückgängig zu machen. Davon zeugen unter anderem eine Reihe zeitgenössischer Erzählungen und Sagen, wie diese: „Im Jahre 1580 hat sich folgende wahrhaftige Geschichte begeben: Nahe bei Breslau wohnet ein namhaftiger Edelmann, der hat im Sommer viel Heu und Grummet aufzumachen, dazu ihm seine Untertanen frönen müssen. Unter diesen ward auch berufen eine Kindbetterin, so kaum acht Tage im Kindbett gelegen. Wie sie nun siehet, daß es der Junker haben wollte und sie sich nicht weigern kann, nimmt sie ihr Kind mit ihr hinaus, legt es auf ein Häuflein Gras, geht von ihm und wartet dem Heumachen ab. Als sie eine gute Weile gearbeitet und ihr Kindlein zu säugen gehet, siehet sie es an, schreiet heftig und schlägt die Hände überm Kopf zusammen und klaget männiglich, dies sei nicht ihr Kind, weil es geizig ihr die Milch entziehe und so unmenschlich heule, das sie an ihrem Kinde nicht gewohnt sei. Wie dem allen, so behielt sie es etliche Tag über, das hielt sich so ungebührlich, daß die gute Frau nahe zugrund gerichtet wäre. Solches klaget sie dem Junker, der sagt zu ihr: ‚Frau, wenn es Euch bedünket, daß dies nicht Euer Kind, so tut eins und tragt es auf die Wiese, da Ihr das vorige Kind hingeleget habt, und streicht es mit der Rute heftig, so werdet Ihr Wunder sehen.’ Die Frau folgte dem Junker, ging hinaus und strich das Wechselkind mit der Rute, daß es sehr geschrien hat; da brachte der Teufel ihr gestohlen Kind und sprach: ‚Da hast’s!’ und mit dem nahm er sein Kind hinweg. Diese Geschichte ist lautbar und beiden, Jung und Alten, in derselbigen Gegend um und in Breslau landkündig“(Grimm 1816: 141 f.).
Von derartigen Praxen erzählen allerdings nicht nur Sagen und Märchen. Auch z. B. der Völkerkundler Klaus E. Müller (1996: 47) berichtet in einer ethnologischen Studie: „Bauern in Deutschland (…) peitschten den Wechselbalg kräftig mit einer einjährigen Haselgerte – ein übliches Mittel zur Dämonenabwehr – durch und erhielten darauf, falls die Prozedur Erfolg gehabt und der schuldige Geist ein Einsehen gezeigt hatte, alsbald das eigene Kind wieder zurück – bzw. dessen Seele, denn die Prügelmale blieben weiterhin sichtbar.“ „An sich brauchte der Anlaß nicht einmal so gravierend zu sein. Es reichte schon der Verdacht, einen Wechselbalg in der Wiege zu haben. 1850 mißhandelte ein Bauer im westpreußischen Löblau auf offener Straße einen Knaben, der einen großen Kropf besaß und ihm daher als gefährlicher Teufelsbalg erschien. 1871 wurden in einer Ortschaft bei Posen aus demselben Argwohn heraus zwei kleine Kinder, das eine erst gerade ein Jahr alt, ‚auf grausamste Weise totgeschlagen’. In anderen Teilen Europas suchte man sich durch die apotropäische [= Unheil, Zauber abwehrende] und reinigende Kraft des Feuers zu schützen. Man setzte derartig verdächtige Kinder etwa – die Fälle sind ebenfalls allesamt aus dem 19. Jahrhundert belegt – nackt auf die erhitzte Herdplatte, drückte sie in die glimmende Asche, deponierte sie auf dem Rost über dem Feuer oder stieß ihnen eine glühende Feuerzange in den Hals“ (a. a. O.: 50).
Diese Praxen bestätigt auch Bachmann in seiner Monografie über Wechselbälger und Shulamith Sharar in ihrer Studie über Kindheit im Mittelalter: „Als Grundprinzip zielen dabei alle Bräuche oder Ratschläge darauf hin, den Wechselbalg möglichst grausam zu behandeln. Weit verbreitet ist der Brauch, die falschen Kinder bis aufs Blut zu schlagen. (…) Auch der Nahrungsentzug, die Kindesaussetzung wie die Tötung werden in dieser Hinsicht als wirksame Mittel angesehen“ (Bachmann 1985: 183). „Schwächliche Konstitution, Anfälligkeit für Krankheiten und anhaltendes Schreien galten als (…) charakteristische Merkmale von Wechselbälgern. Damit die Feen den Wechselbalg mitnahmen und den Eltern das rechtmäßige Kind wiederbrachten, sollte das untergeschobene Kind
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II Dämonologisch-theologische Erklärungsansätze des Anders-Seins
gequält, mit kochendem Wasser übergossen und eingeschüchtert werden, indem man vorgab, es zu verbrennen. (…) Darüber hinaus gab es noch andere Methoden, die fast ausnahmslos den Tod des Kindes zur Folge hatten“ (Sharar 1991: 156). Franciscus (1690: 984) berichtet: „Es ist bekandt / daß Etliche den Wechselbalg gleich auf den Misthauffen geworffen / und bald hernach wiederbekommen. Ob aber einer Mutter solches von der Obrigkeit wuerde gut gesprochen werden / steht dahin: weil die Umstaende haben oft sehr veraenderlich fallen. Darum das Sicherste ist / bey solchem Vorfall / verstaendige Theologos / nebst Goettlicher Anruffung / um Rath zu begruessen“. War mit dem Rücktausch nicht zu rechnen, wurden Wechselbälger meist umgebracht. „1654 verbrannte man im schlesischen Zuckermantel über hundert Menschen, darunter auch Säuglinge und Kinder, als deren Vater der Teufel galt“ (Dinzelbacher 1995: 190). Auch Luther empfahl die Tötung dieser Kinder. „Vor acht Jahren war zu Dessau eines, das ich Doctor Martinus Luther gesehen und angegriffen hab, welches zwölf Jahr alt war, seine Augen und alle Sinne hatte, daß man meinete, es wär ein recht Kind. Dasselbige thät nichts, denn daß es nur fraß und zwar so viel als irgends vier Bauern oder Drescher. Es fraß, schiß und seichte, und wenn mans angriff, so schrie es. Wenns übel im Haus zuging, daß Schaden geschah, so lachete es und war fröhlich; gings aber wol zu, so schrie es. Diese zwo Tugenden hatte es an sich. Da sagte ich zu dem Fürsten zu Anhalt: Wenn ich da Fürst oder Herr wäre, so wollte ich mit diesem Kinde in das Wasser, in die Molda, so bei Dessau fleußt, und wollte das homidicidum [= Menschentötung] dran wagen“ (Luther 1540, Tischrede 5207, Bd. 5: 9). Luther begründet seinen Vorschlag für diesen Kindesmord damit, „daß ers gänzlich dafür hielte, daß solche Wechselkinder nur ein Stück Fleisch, eine massa carnis sein, da keine Seele innen ist; denn solches könne der Teufel wol machen, wie er sonst die Menschen, so Vernunft, ja Leib und Seele haben, verderbt, wenn er sie leiblich besitzet, daß sie weder hören, sehen, noch etwas fühlen, er machet sie stumm, taub, blind“ (ebd.).
Noch Luther führt also Erscheinungsformen menschlichen Daseins, die wir heute als Behinderungen bezeichnen, auf das Wirken des Teufels zurück – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass der Fürst zu Anhalt Luthers Vorschlag abgelehnt und dafür gesorgt hat, dass das Kind am Leben blieb. Daraufhin empfahl Luther, täglich dafür zu beten, „daß der liebe Gott den Teufel wegnehme“ (ebd.), dies mit Erfolg: Nach einem Jahr schließlich verstarb das unglückliche, von Luther solcherart diabolisierte Kind. Luthers Forderung nach planmäßigem hominicidum an Menschen mit Schädigungen und Beeinträchtigungen, die für ihn massae carnis und Ausgeburten des Teufels waren, wurden erst etwa 400 Jahre später in Deutschland unter der Naziherrschaft in die Praxis umgesetzt, ebenso wie seine antijüdischen Forderungen, von denen noch die Rede sein wird. Besonders bitter war und ist es für die betroffenen Kinder nach katholischem Credo bis heute, wenn es dem Teufel gelingt, sie ungetauft in seine Gewalt zu bringen. Dann können sie nämlich, wie bereits in den Ausführungen über den Exorzismus dargelegt, nicht mehr von der Erbsünde erlöst werden. „Da die Kinder mit einer gefallenen und durch die Erbsünde befleckten Menschennatur zur Welt kommen, bedürfen auch sie der Wiedergeburt in der Taufe, um von der Macht der Finsternis befreit und in das Reich der Freiheit der Kinder Gottes versetzt zu werden, zu der alle Menschen berufen sind“ (KKK 2005, Nr. 1250: 348).
Deswegen ist der Teufel auch besonders an ungetauften Kindern interessiert, „denn der Teufel weiß, daß solche Kinder wegen der Strafe für den Verlust [der Taufe] bzw. der Erbsünde vom Eintritt in das himmlische Königreich ausgeschlossen werden“ (Kramer 1487:
2 Zur Phänomenologie und Ätiologie des Anders-Seins in theologisch-dämonologischer Sicht
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475). Diese Kinder kommen nach katholischer Lehre ebenso wie die ungetauft verstorbenen zwar nicht in die Hölle der Verdammten, doch ist ihnen die Auferstehung auf ewig verwehrt. Als Ort im Jenseits für diese Kinder hat sich im Laufe der katholischen Theologiegeschichte der sogenannte limbus puerorum herauskristallisiert, ein speziell für sie vorgesehener Vorhof zur Hölle. Dort müssen sie zwar keine Höllenqualen erleiden wie die verdammten und nicht erlösten Sünder, doch bleibt ihnen die sogenannte Gottesschau versagt. Sie bleiben von Gott getrennt.112 Besonders ärgerlich ist der Ausschluss von Auferstehung und Gottesschau für Menschen mit körperlichen Defekten und Anomalien, weil diese nämlich, so Augustinus, bei der Auferstehung auf wundersame Weise überwunden werden: „Was mißgestaltet geboren war (…), wird so wiederkehren, daß nur die Stofflichkeit erhalten bleibt, die Mißgestalt aber verschwindet“ (Civ. Dei XXII, 19, Bd. 2: 799). „Eine durch Unstimmigkeit der Teile hervorgerufene Verunstaltung kann also da nicht vorliegen, wo die Mißbildung korrigiert, oder das zu klein Geratene verlängert ist – der Schöpfer weiß schon wie – und das zu groß geratene verkürzt, während die Stoffmenge unverändert bleibt“ (a. a. O.: 800).
112 Über die Frage nach dem Schicksal der ungetauft, mithin von der Erbsünde unerlöst verstorbenen Kinder gibt es eine rege theologische Diskussion. Nach Augustinus ist ihnen die Auferstehung grundsätzlich verwehrt. Sie kommen in die Hölle, haben dort allerdings nur die poena mitissima (leichteste Strafe) zu erleiden. In der Scholastik wurde dann die Hölle räumlich weiter ausdifferenziert. Thomas von Aquin spricht von der „Hölle der Kinder“ (infernum puerorum), in der die Kinder „nicht mit körperlicher Pein wegen einer Tatsünde bestraft werden, sondern nur mit der Strafe des Verlustes [der Anschauung Gottes] wegen der Erbsünde“ (S. Th. III, q. 52, art. 2, ad 2; DTA, Bd. 28: 166). Nach dem Supplementum erleiden die Kinder „eine ewige [Strafe] im Ruheort der Kinder“ (limbus puerorum) (S. Th. Supp., q. 69, art. 6; DTA, Bd. 35: 28). Im Oktober 2004 beauftragte Johannes Paul II. eine 30-köpfige Theologenkommission, die Frage nach dem Schicksal ungetauft verstorbener Kinder noch einmal zu untersuchen. Zur von vielen Journalisten erwarteten Abschaffung des Limbus nach ihrer Zusammenkunft im Oktober 2006 kam es allerdings vorerst nicht. Die Sache ist kompliziert. Einerseits steht der Katholizismus in Konkurrenz zu anderen Weltreligionen, wie dem Islam, der lehrt, dass diese Kinder sofort ins Paradies kommen, auf der anderen Seite steht das Credo: „Der Herr sagt selbst, dass die Taufe heilsnotwendig ist“ (KKK 2005, Nr. 1257: 350). Ausweichend formuliert daher der Katechismus: „Was die ohne Taufe verstorbenen Kinder betrifft, kann die Kirche sie nur der Barmherzigkeit Gottes anvertrauen. (…) Das große Erbarmen Gottes und die zärtliche Liebe Jesu zu den Kindern, die ihn sagen lässt: ‚Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran!’ (Mk. 10, 14), berechtigen uns zu der Hoffnung, dass es für die ohne Taufe gestorbenen Kinder einen Heilsweg gibt“ (a. a. O., Nr. 1261: 351). Ausführlich setzt sich mit dieser Frage unter anderem Johannes Maria Schwarz (2006) in seiner unlängst erschienenen theologischen Dissertation auseinander.
1 Begriffsbestimmung: Was ist ein Paradigma?
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III Von der Dämonologisierung zur Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins
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Begriffsbestimmung: Was ist ein Paradigma?
Kuhn (1976: 10) definierte Paradigmen als „allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern“. Dabei steht dieser Begriff „einerseits (…) für die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden“ (a. a. O.: 186),
andererseits aber auch als Vorbild, Musterbeispiel oder explizite wissenschaftliche Regel. Paradigmen sind Grundannahmen, wie sie im jeweiligen kulturhistorischen Kontext von der Mehrheit der science community geteilt werden. „Ein Paradigma ist das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gemeinsam ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftliche Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen“ (a. a. O.: 187),
wobei zur gleichen Zeit wissenschaftliche Gemeinschaften unterschiedlicher disziplinärer Zuordnung mit unterschiedlichen Paradigmen existieren können. Kuhn weist darauf hin, dass auch der Zuschnitt wissenschaftlicher Disziplinen und ihre Gegenstandsbereiche historischen Wandlungen unterworfen sind. „Es gab beispielsweise vor der Mitte des 19. Jahrhunderts keine Gemeinschaft der Physiker; sie wurde dann durch die Verschmelzung von Teilen zweier vorher getrennter Gemeinschaften, Mathematik und Naturphilosophie (physique expérimentale), gebildet“ (a. a. O.: 191).
Die Entwicklung der Wissenschaften verläuft, wie Kuhn gezeigt hat, nicht immer nur linear, d. h. allmählich und kontinuierlich kumulativ, sondern auch, wie noch im Zusammenhang mit der hier zu vertiefenden Thematik zu zeigen sein wird, zuweilen in Sprüngen, die Kuhn als „wissenschaftliche Revolutionen“ bezeichnet hat und die am Ende in aller Regel zu einem Paradigmenwechsel führen, wie er sich auch in der Geschichte der wissenschaftlichen Erklärungsansätze des vermeintlichen Anders-Seins aufzeigen lässt. Soweit Kuhn allerdings den Eintritt solcher Revolutionen aus dem wissenschaftlichen Prozess selbst heraus erklärt hat, erscheint sein strukturalistischer Ansatz insofern verkürzt, als dieser Prozess nicht losgelöst von den jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Verhältnissen gesehen werden kann. Herrschende Paradigmen sind mithin immer auch darauf hin zu befragen, ob und inwieweit sie nicht auch Paradigmen der jeweils Herrschenden sind und zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse im jeweils gegebenen
E. Rohrmann, Mythen und Realitäten des Anders-Seins, DOI 10.1007/978-3-531-93239-2_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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III Von der Dämonologisierung zur Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins
historischen Kontext dienen. Wissenschaftliche Revolutionen sind außerdem auch in einem Zusammenhang mit ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen zu sehen. In diesem Punkt gibt sogar Joseph Ratzinger (1996: 190) „bis zu einem gewissen Punkt Karl Marx recht, dass die ideologische Verfassung einer Epoche immer auch Reflex ihrer ganzen ökonomischen und sozialen Struktur ist“.
Wir reagieren heute in aller Regel verständnis- und fassungslos auf die dämonologisch fundierten Vorstellungen des Anders-Seins und die ihnen entsprechenden Praxen. Der Hexenwahn, wie er vielfach (z. B. Diefenbach 1886, Heinemann 1998), m. E. zu Unrecht – denn es war kein Wahn – bezeichnet wird, widerspricht unserem vermeintlich aufgeklärten und rationalen Denken diametral, wenngleich auch dieses, wie noch zu zeigen sein wird, keineswegs notwendigerweise im Widerspruch zur Praxis der Marginalisierung, Internierung und auch Liquidierung vermeintlich andersartiger und deswegen für minderwertig gehaltener Menschen steht. Doch die meisten werden Siegmund von Riezler (1843-1927) zustimmen, wenn er den Hexenhammer als „das verruchteste und zugleich das läppischste, das verrückteste und dennoch unheilvollste Buch der Weltliteratur“ (Riezler 1896: 102) bezeichnete oder Joseph Hansen (1862-1943), der von „einem so unglaublichen Monstrum voll geistiger Sumpfluft, wie es dieser Hexenhammer darstellt“ (Hansen 1900: 461), sprach. Ich stimme diesen Einschätzungen nicht zu. Unheilvoll ist das Werk ohne Zweifel gewesen, dies über drei Jahrhunderte, doch ist es weder läppisch noch verrückt. Es ist, wie ich zu zeigen versucht habe, ein hexenwissenschaftliches Kompendium, das allen Kriterien eines wissenschaftlichen Handbuches der damaligen Zeit entsprach. Die in der Hexenforschung weit verbreitete Auffassung Riezlers, Hansens und vieler anderer „übersieht, daß der ‚Hexenhammer’ weithin in der gelehrten und theologischen Literatur des Abendlandes wurzelt und daß er das, was sonst in seiner Vereinzelung nicht besonders aufgefallen sein mag, durch seine thematisierende Bündelung nur sichtbar gemacht hat“ (Harmeling 1995: 95).
Man wird das Buch und seine historische Bedeutung kaum verstehen, wenn man es einfach als verrückt, als Werk von Wahnsinnigen abtut und allein auf die „Bosheit, Tumheit, Unbarmhertzigkeit, Heucheley, Arglistigkeit, Unreinigkeit, Fabelhafftigkeit“ (Hauber, zit. nach Schmidt 1982: VIII) seines Autors bzw. seiner Autoren zurückführt. Es ist auch in keiner Weise unwissenschaftlich. Die ungeheure Wirkung, die es entfaltet hat, liegt doch gerade darin, dass mit ihm „der Hexenwahn aus dem Halbdunkel verschämter Heimlichkeit in das volle Licht der Wissenschaft“ (Radbruch & Gwinner 1951: 158)
trat. Nur wenn wir es als wissenschaftliches Werk im Kontext seiner Zeit und der damals herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse begreifen und würdigen, können wir zu einem Verständnis dafür gelangen, warum dieses Buch – eines der ersten übrigens, das nach Erfindung des Buchdrucks überhaupt gedruckt wurde – so überaus erfolgreich war, 200 Jahre lang das Standardwerk des Hexenwesens schlechthin blieb und bis 1669 in 29 Auflagen erschien. Außerdem – und darin vor allem liegt die heutige Bedeutung des Werkes – können wir so auch einiges über unseren gegenwärtigen Umgang mit Menschen, die wir heute für anders halten, lernen.
1 Begriffsbestimmung: Was ist ein Paradigma?
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Noch weiter geht Paul Feyerabend (1924-1994), der das Vorgehen der Inquisitoren im Inquisitionsverfahren als durchweg vernunftgeleitet beschreibt: „Es gab auf vielen verschiedenen Gebieten eine große Menge merkwürdiger Erscheinungen (in der Geschichte, Soziologie, Psychologie, ja selbst in Astronomie und Physik), die auf den Einfluß nichtphysikalischer intelligenter Wesen hinzudeuten schienen. Schon im späten Altertum hat man diese Erscheinungen durch Geister erklärt. Jetzt konnte man Dinge verstehen, die vorher verwirrend und erschreckend waren. Dieses intellektuelle Verstehen, das sich auf höchst eindrucksvolles Beweismaterial stützen konnte, führte zu der Vorstellung von einem Kampf zwischen bösen Geistern und den Menschen und zu Maßnahmen, die zum Siege in diesem Kampf führen sollten. (…) Wenn das nun die richtige Darstellung der Verhältnisse ist (…), dann war der ‚Rationalismus’ außerstande, dem Hexenwahn ohne weitere Hilfe Einhalt zu gebieten. Dazu bedurfte es nicht der ‚Kritik’ oder der ‚Beobachtung’, sondern einer Veränderung des Bewusstseins, eines anderen Glaubens, und dieser Glauben mußte trotz widersprechender Beobachtungen, Gefühle und Vernunftgründe eingeführt und aufgebaut werden“ (Feyerabend 1986: 29 f.).
Im Lichte der Rationalität ihres kulturhistorischen Kontextes handelten die Inquisitoren durchaus vernünftig, auch wenn ihr Handeln nach den Maßstäben unserer, sich aufgeklärt wähnenden Rationalität unvernünftig, geradezu wahnhaft erscheint. Doch besteht keinerlei Veranlassung, davon auszugehen, dass unsere heutige Rationalität außerhalb der Bedingungen und Verhältnisse, unter denen sie sich entwickelt hat, steht und nun gewissermaßen über allen Dingen als unumstößlicher, ewiger Maßstab schwebt, auch wenn die meisten von uns davon ebenso überzeugt sind, wie es Augustinus, Thomas von Aquin und alle, die sich auf sie berufen, im Hinblick auf die von ihnen vertretenen Rationalitäten waren. Auch Rationalität ist offensichtlich nicht zeitlos, sondern ein Konstrukt des menschlichen Verstandes im jeweiligen kulturhistorischen Kontext. Was Feyerabend als Veränderung des Bewusstseins oder des Glaubens beschreibt, bezeichnet Thomas Kuhn (1922-1996) im Hinblick auf die Wissenschaftsgeschichte als Paradigmenwechsel. Ein solcher, weg von der thomistischen Dämonologie, hat zwischenzeitlich ohne Zweifel stattgefunden, doch durch einen Paradigmenwechsel werden „veraltete Theorien (…) nicht prinzipiell unwissenschaftlich, nur, weil sie ausrangiert wurden“ (Kuhn 1976: 17). Auch das neue Paradigma ist nicht allein deswegen „wissenschaftlicher“ als das alte, nur weil es neuer ist. „Wenn man die (…) veralteten Anschauungen Mythen nennen will, dann können Mythen durch Methoden derselben Art erzeugt und aus Gründen derselben Art geglaubt werden, wie sie heute zu wissenschaftlicher Erkenntnis führen. Wenn man sie hingegen Wissenschaft nennen will, dann hat die Wissenschaft Glaubenselemente eingeschlossen, die mit den heute vertretenen völlig unvereinbar sind“ (a. a. O.: 16 f.).
Ähnlich argumentiert auch Feyerabend (1986: 385): „Es gibt keinen klar formulierten Unterschied zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Die Wissenschaft ist eine der vielen Lebensformen, die die Menschen entwickelt haben, und nicht unbedingt die beste.“
„Normale Wissenschaft“, wie Kuhn sie nennt, hat nicht selten sogar erkenntnisbehindernde Tendenzen:
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III Von der Dämonologisierung zur Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins
„Die normale Wissenschaft unterdrückt z. B. oft fundamentale Neuerungen, weil diese notwendigerweise ihre Grundpositionen erschüttern“ (Kuhn 1976: 20). „Normalerweise erheben die Wissenschaftler auch gar nicht den Anspruch, neue Theorien zu finden, und oft genug sind sie intolerant gegenüber den von anderen gefundenen“ (a. a. O.: 38).
Selbst Karl Popper, der Begründer der Erkenntnistheorie des kritischen Rationalismus und Apologet einer vermeintlich wertfreien Wissenschaft, vertrat die Auffassung, dass wissenschaftliche Paradigmen einerseits und Glaubenssätze bzw. Mythen andererseits keineswegs Gegensätze darstellen, sondern durchaus wesensverwandt sind: „Meine These ist, dass sich das, was wir ‚Wissenschaft’ nennen, von den älteren Mythen nicht durch ein von einem Mythos abgrenzbares Wesensmerkmal unterscheidet, sondern dadurch, dass sie begleitet wird durch eine second-order-tradition – und zwar der kritischen Diskussion des Mythos“ (Popper 2005: 170).
Während allerdings Popper entsprechend seinem wissenschaftstheoretischen Verständnis einer stetig und linear anwachsenden Erkenntnisevolution113 davon ausging, „dass die naturwissenschaftlichen Theorien, historisch gesehen, oft aus der Metaphysik stammen, von der sie sich dadurch unterscheiden, dass sie deren falsifizierbare Niederschläge sind“ (Popper 1994: 149),
ohne allerdings näher darauf einzugehen, wann, wie und aufgrund welcher neuen Qualitäten der qualitative Umschlag von der Mythologie zur Theorie festzumachen ist, hat Kuhn in seiner bereits zitierten wissenschaftshistorischen Untersuchung nachgewiesen, dass „die Frage der Paradigmawahl niemals durch Logik und Experiment allein eindeutig entschieden werden kann“ (a. a. O.: 106 f.), sondern die Legitimation eines Paradigmas letztlich davon abhängt, ob es von der zeitgenössischen Gemeinschaft der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anerkannt – wenn man will: geglaubt – wird oder nicht. Dementsprechend vollziehen sich auch Paradigmenwechsel keineswegs stringent, konsequent und logisch, sondern in krisenhaften Übergängen, die Kuhn als Revolutionen bezeichnet, wobei er auch betont, dass zuweilen „beträchtliche Zeit zwischen dem ersten Bewußtwerden des Zusammenbruchs [des alten] und dem Auftauchen eines neuen Paradigmas“ (a. a. O.: 99) verstreichen kann. So verhält es sich auch in unserem Fall: Schon 1563 veröffentlichte der Arzt am Hofe der Herzöge von Berg zu Düsseldorf Johann Weyer (1515-1588) eine Schrift unter dem Titel „De Praestigiis Daemonum et incantationibus ac veneficiis“114, in der er die Aussagen der für Hexen gehaltenen Frauen der damaligen Zeit durchweg als Wahnvorstellungen charakterisierte und demzufolge für einen anderen Umgang mit ihnen plädierte. „Die Hexen haben keinen anderen Lehrmeister als ihre verrückte Phantasie“ (zit. nach Binz 1896:35), schrieb er, und weiter: „Was man Incubus heisst, ist nichts als der Zustand, den man hier zu Lande Mar nennt. Das rührt daher, dass Dämpfe aus dem Schleim und der Melancholie aufsteigen und das Gehirn umnebeln. (…) Weshalb sollen aber da melancholische Weiber (…) nicht zuweilen von dieser
113 Er spricht von einer „darwinistische(n) Theorie des Erkenntnisfortschritts“ (Popper 1974: 289). 114 Deutsch: „Über die Blendwerke des Teufels und die Zaubersprüche und Giftmischereien“.
2 Der Paradigmenwechsel
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Krankheit befallen werden und dann sich einbilden und es aussagen, ein unreiner Geist habe sie vergewaltigt?“ (a. a. O.: 43)115
Johann Weyer, den die Medizingeschichte gerne als „Vater der modernen Psychiatrie“ (Roback 1970: 186) und „sogar als den ersten klinischen Psychologen bezeichne(t)“ (a. a. O.: 187), war seiner Zeit weit voraus. Es sollte noch mehr als zwei Jahrhunderte dauern, bis sich der von ihm eingeleitete Paradigmenwechsel endlich vollzogen hatte und der Dämonologisierung des vermeintlichen Anders-Seins dessen Biologisierung und Pathologisierung folgte. Über Jahrzehnte hinweg prägten dabei sowohl das alte als auch das neue Paradigma gleichermaßen das wissenschaftliche Denken und „die Wissenschaftsrevolution fand genau im Zeitalter der Hexenprozesse statt“ (Behringer 2000: 8). Im Zuge zunehmend rationalistischer Orientierungen vor allem im absolutistischen Frankreich war es nun insbesondere die Unvernunft, die als Anders-Sein wahrgenommen und entsprechend behandelt wurde. „Es beginnt der säkulare Vorgang der ,Klinifizierung’ der Unvernunft der Irren“, den er unter anderem an der Entwicklung der „religiösen Form der Melancholie, der Dämonomanie“ aufweist: „Zuerst wurden die von ihr Besessenen als Hexen verfolgt, dann entlarvten die Aufklärer die sie bedingenden falschen religiösen Ideen als Priesterbetrug, jetzt gelten diese Erscheinungen ebenfalls als Krankheit“ (Dörner 1984: 162).
Dabei lehnte sich das nun vorherrschende Verständnis von Krankheit eng an den sich gleichzeitig in den Naturwissenschaften als neues Paradigma etablierenden cartesianischen Mechanismus an. 2
Der Paradigmenwechsel
An die Stelle des überkommenen dämonologischen trat nun ein mechanistisches Weltbild, das sich zunächst vor allem mit dem Namen René Descartes (1594-1650) oder lateinisch: Cartesius verbindet. Demnach bestimmen nicht mehr Gott und – mit seiner Zulassung – der Teufel die Geschicke dieser Welt. Vielmehr hat sich der Schöpfergott nach Vollendung seines Werkes aus der Welt zurückgezogen und seine Schöpfung gewissermaßen sich selbst überlassen. 2.1 Von der Metaphysik zur Physik und vom Schöpfungsmythos zur Evolutionsbiologie Die solcherart ein für alle Male geschaffene Welt erscheint nach diesem Verständnis als eine gigantische Maschine, als riesiges Uhrwerk, das – einmal in Gang gesetzt – unaufhörlich läuft. Um die Welt und ihre Abläufe zu verstehen, waren nun also nicht mehr übernatürliche Ursachen wie das vermeintliche Wirken Gottes und des Teufels zu erforschen, sondern vielmehr Gottes Schöpfungsplan, die Gesetzte der Schöpfung, der Natur zu entschlüsseln. Descartes’ (2001: 83) Anliegen war es deshalb herauszufinden, „welches die 115 Zwar bestand nach dem Paradigmenwechsel unter den Psychiatern weitgehend Einigkeit darüber, dass die als Hexen verfolgten Frauen psychisch krank waren. Uneinig war man sich aber über die Art der Krankheit. Während Weyer, wie gezeigt, Melancholie annimmt, hat es sich für Lombroso & Ferrero (1894: 215) „unzweifelhaft dabei immer um Erscheinungsformen der Hystero-Epilepsie gehandelt“.
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III Von der Dämonologisierung zur Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins
Gesetze der Natur sind“. Er zeigte auf, „dass, selbst wenn Gott mehrere Welten geschaffen hätte, es keine einzige geben könnte, wo sie [die Gesetze] nicht beobachtet würden“ (ebd.). Mit dem skizzierten Paradigmenwechsel verdrängten die klassischen Naturwissenschaften, Astronomie und insbesondere die Physik116 die Metaphysik bzw. Theologie als wissenschaftliche Leitdisziplin – mit Konsequenzen, die Séguin117 so beschrieb: „Seit Descartes, der so ein guter Christ war, und der die christliche Metaphysik tötete, gibt es keine Philosophie mehr, die auf eine Gewissheit gegründet wäre. Nicht, dass ich dem Wort Gewissheit eine größere Macht zuschreibe als recht ist. Ich weiß, dass die Gewissheiten abstrakte Dynastien sind, die durch Revolutionen gestürzt und durch Gegenwirkung wiederhergestellt werden können. Und in dieser Hinsicht ist R. Descartes letztlich nur der Robespierre des heiligen Thomas“ (Séguin 1846: 7 f.)118.
Nach den großen Erfolgen der klassischen Naturwissenschaften, denen es zunächst um die Erforschung der Gesetze vor allem der unbelebten Natur ging, gingen die biologischen Wissenschaften daran, ganz geprägt vom dualistischen Mechanismus des neuen Wissenschaftsverständnisses, die lebende Natur zu erforschen. Dabei ging es ihnen zunächst vor allem darum, Ordnung in die Erscheinungsformen der lebenden Natur zu bringen und sie zu klassifizieren, denn die Natur war durch die Entdeckung von immer mehr Lebewesen, vor allem auch auf mikroskopischer Ebene, immer unübersichtlicher geworden. Nach einer Reihe von Vorläuferversuchen, die sich nicht durchsetzen konnten, legte der schwedische Mediziner und Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) 1735 erstmals eine sogenannte binäre119 Nomenklatur zur Klassifikation zunächst aller bekannten Pflanzen- und später auch der Tierarten sowie der Mineralien vor, die sich erstmals einer relativ breiten Zustimmung in der zeitgenössischen science community erfreute. Während allerdings Linné entsprechend dem jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos davon ausging, dass alle von ihm systematisierten und klassifizierten Lebewesen, später klassifizierte er auch noch Mineralien, ein für alle Male erschaffen worden sind (Genesis 1, 1-31), wenn auch nicht in einem einzigen, sondern in mehreren Schöpfungsakten an verschiedenen Stellen der Erde, geriet dieses Credo als noch unüberwundenes Relikt des alten Paradigmas in den Folgejahren immer mehr in Zweifel. Man hatte nämlich zwischenzeitlich entdeckt, dass in unterschiedlichen Gesteinsschichten verschiedenartige Fossilien zu finden sind, und schloss daraus, dass zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Lebewesen gelebt haben müssen. Der Anatom Georges Cuvier (1769-1832), der als Begründer der wissenschaftlichen Paläontologie gilt und dem zumindest nachgesagt wird, wie Linné Anhänger der Schöpfungstheorie und mithin der Konstanz der Arten gewesen zu sein, hatte dieses Phänomen noch katastrophentheoretisch in der Weise erklärt, dass an manchen Stellen Lebewesen aufgrund von Naturkatastrophen ausgestorben und dafür andere Lebewesen aus anderen Teilen der Erde 116 Zunächst allerdings nur ein Teilgebiet der heutigen Physik, die Mechanik. Der Begriff „Physik“ taucht erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. 117 Edouard Séguin (1812-1880) ist ein Pionier der Behindertenbildung, der vor mehr als 150 Jahren die Bildungsfähigkeit von Menschen, die wir heute als geistig behindert bezeichnen, nachgewiesen und ein umfassendes Lehrbuch der Idiotenpädagogik veröffentlicht hat (vgl. Rohrmann 1996: 442 ff.). 118 Die Übersetzung aus dem Französischen besorgte Nicola Seling. 119 Das bedeutet, dass ein Artname grundsätzlich aus zwei Bestandteilen besteht: einem Substantiv, das die Gattung bezeichnet (z. B. „Homo“), und einem Adjektiv, das zusammen mit dem Gattungsnamen die Art bezeichnet (z. B. „sapiens“). Mit einem weiteren Adjektiv lässt sich noch die Unterart bezeichnen (z. B. „neanderthalensis“). Dann wird die Nomenklatur zur trinären.
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zugewandert seien. Diese Katastrophen- oder Kataklysmentheorien waren jedoch schon zu Cuviers Lebzeiten umstritten. Insbesondere der Geologe Charles Lyell (1797-1875) setzte das Kontinuitätsprinzip bzw. die Theorie vom graduellen Gleiten oder allmählichen Driften dagegen, die sich schließlich als wissenschaftliche Lehrmeinung durchsetzte. Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) wandte diese Theorie im Bereich der Biologie an. Er vertrat die Ansicht, ontogenetisch erworbene Eigenschaften z. B. durch den intensiven Gebrauch bestimmter Organe würden an die Nachkommen weitervererbt, und erklärte so die allmählichen Veränderungen im Sinne fortschreitender Optimierung der Anpassung an die jeweiligen Lebensräume in der Phylogenese der Lebewesen. Ihren Durchbruch erlangte die Biologie, als Charles Darwin120 (1809-1882) 1859 mit seinem Werk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ die Evolutionstheorie begründete, die, so Hüther (1999: 26), „eine zweite kopernikanische Wende in der Geschichte der Naturwissenschaften (bedeutete)“. Von nun an wurde für lange Zeit jede Möglichkeit katastrophischer Einflüsse auf erdgeschichtliche Entwicklungen kategorisch ausgeschlossen. Der Katastrophismus galt als Ausdruck noch nicht restlos überwundener religiöser Dogmen, insofern Katastrophen auch religiös gedeutet werden konnten, z. B. als punktuelles Eingreifen göttlicher oder dämonischer Mächte. In der Tat bildete der Katastrophismus für manche Naturwissenschaftler die Brücke zwischen ihrer religiösen Orientierung und ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Mit dieser Abkehr vom Katastrophismus allerdings entstand gewissermaßen ein neuer, antireligiös und streng naturwissenschaftlich gemeinter, letztlich aber ebenso erkenntnisbehindernder Dogmatismus, der allein allmähliche evolutionäre Übergänge für natur- und erdgeschichtliche Prozesse anerkannte. Die Kränkung des Menschen, nicht mehr Krone der Schöpfung, sondern lediglich Abkömmling eines prähistorischen Affen zu sein, wurde gewissermaßen dadurch kompensiert, dass für die Anthropogenese extrem lange Zeiträume angenommen wurden, sodass der Mensch nun gewissermaßen als Krone, ja Ziel der Evolution erscheint, welcher solcherart ihre Zufälligkeit genommen und gewissermaßen ein teleologischer Sinn unterlegt wird.121 Das zeigt sich unter anderem auch daran, dass man die 120 Bemerkenswert ist, dass Darwin, bis heute als einer der größten Biologen aller Zeiten gefeiert, Kutschera (2009: 317) nennt ihn „Mozart der Biologie“, niemals an einer Universität Biologie studiert hat und auch nie eine wissenschaftliche Anstellung innehatte. Seine Kenntnisse hat er sich autodidaktisch angeeignet, seine Studien betrieb er als freischaffender Autor. Ein Studium der Medizin hat er nach zwei Jahren abgebrochen. Es ist ein Treppenwitz der Wissenschaftsgeschichte, dass der einzige akademische Abschluss, den Darwin je erworben hat, ausgerechnet der eines theologischen Bachelor of Arts ist. Vielleicht ist aber gerade die Tatsache, dass Darwin nie in den zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb mit seinen Institutionen, Inaugurationsritualen und Zwängen involviert gewesen ist, seine große Chance gewesen. Als Autodidakt konnte er studieren, was ihn interessierte, und nicht das, worauf er aufgrund disziplinärer Grenzen festgelegt war. So konnte er sich zu einem universellen Generalisten entwickeln, allein seinem Interesse an wissenschaftlicher Erkenntnis verpflichtet. Er hatte es weder nötig, sich in irgendeiner Disziplin unter Beachtung der Disziplingrenzen auf irgendetwas zu spezialisieren, noch sich in Konkurrenz zu anderen Wissenschaftlern zu profilieren – und womöglich in Orientierung an politisch oder ökonomisch gesetzten Indikatoren der Forschungsförderung sog. „Leuchttürme“ der Forschung, wie es heute oft heißt, zu begründen und diese dann, wie es das Los vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Gegenwart ist, gewissermaßen als „Leuchtturmwärter“ zu verwalten. 121 In jüngerer Zeit scheint sich dagegen wieder die Auffassung durchzusetzen, dass der darwinsche Weg des graduellen Gleitens der Evolution immer wieder auch dramatisch unterbrochen, teilweise auch beschleunigt wurde durch katastrophische Einflüsse. Eine, allerdings singuläre, doch im Zusammenhang dieser Untersuchung zumindest erwähnenswerte Extremposition in dieser Debatte vertritt Gunnar Heinsohn (2000: 122), der einen Zeitraum von nur „5000 Jahren für die gesamte Geschichte der intelligenten Hominiden (Erectus, Neandertaler und Jetztmensch bis heute)“ annimmt. Stratigrafischen Befunden zufolge seien Neandertaler
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großen Menschenaffen, die Linné, wie wir noch sehen werden, noch der Familie „Homo“, teilweise sogar „Homo sapiens“ zugeordnet hatte, dort herausnahm und einer eigenen Familie, den Pongiden zuordnete, was Darwin übrigens scharf kritisiert hat.122 Es war vor allem der Göttinger Anatom und Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840), ebenfalls noch ein Anhänger der Schöpfungstheorie,123 der sich für eine klare klassifikatorische Trennung zwischen den Menschen und den übrigen Tieren aussprach. Zwar blieb der Mensch in der Klasse der Säugetiere, bekam dort aber eine eigene Ordnung: „Der Mensch wird durch so merkwürdige Eigenschaften des Geistes und des Körpers von der ganzen übrigen thierischen Schöpfung ausgezeichnet, daß er bey weitem nicht blos in einem eigenen Geschlecht, sondern allerdings in einer besonderen Ordnung, von ihr abgeschieden werden muß“ (Blumenbach 1779: 60).
Diese Zuordnung wurde bis Ende der 1980er Jahre vertreten. Dann ist sie erneut in die Kritik geraten, seit vor allem molekularbiologische Befunde zeigen, dass zum Beispiel der biologische Verwandtschaftsgrad zwischen Menschen und Schimpansen weit höher ist als derjenige der in der Gattung der Pongiden zusammengefassten Arten untereinander (vgl. z. B. Schrenk 1998: 21). Heute werden die Menschenaffen zumeist zusammen mit der Gattung Homo zur Familie der Hominiden gerechnet. Mit der Evolutionstheorie löste die Deszendenztheorie die Vorstellung von göttlichen Schöpfungsakten als Ursprung des Lebens, auch des menschlichen Lebens ab. Die Vielfalt der Arten des Lebens auf der Erde entspricht demnach nicht mehr einem göttlichen Schöpfungsplan, sondern ist eher durch Zufall entstanden, durch graduelle mutationsbedingte Variationen und natürliche Zuchtwahl im immerwährenden und unerbittlichen „Kampf ums Dasein“, bei dem nur die Fittesten überleben (Darwin 1859: 74 ff.). Darwins Buch war ein voller Erfolg. Schnell setzte sich seine hier geäußerte Auffassung in den biologischen Wissenschaften durch, der Darwinismus als sich wissenschaftlich fundiert verstehende Weltanschauung war geboren. Der „Kampf ums Dasein“ und „Überlenicht, wie in den paleoanthropologischen Wissenschaften in der Regel vertreten, ein Seitenarm der Hominiden, der sich vor etwa 800 000 Jahren von den Vorfahren des Jetztmenschen (Homo erectus) abgespalten, über einige Jahrtausende neben den Jetztmenschen gelebt habe und vor etwas weniger als 30 000 Jahren ausgestorben sei (vgl. zum Beispiel Schrenk 1998: 111 f.), sondern die unmittelbaren Vorfahren der Jetztmenschen und ihrerseits unmittelbare Nachkommen des Homo erectus. Auslöser für den dramatischen Wandel im Erbgut sei jedes Mal die Umkehr des irdischen Magnetfeldes gewesen. „Die plötzliche – kosmisch induzierte – Veränderung des elektrischen Milieus der Erde änderte simultan und global das Keimzellenpotential der weiblichen Neandertaler, die von nun an Jetztmensch-Säuglinge gebären. Die Keimzellen mit Neandertalererbinformationen sind damit nicht mehr existent. (…) Der Übergang zum Jetztmenschen vollzieht sich also in einer einzigen Generation“ (Heinsohn 2000: 66). Wir sind weder in der Lage noch haben wir die Absicht, hier Stellung zu beziehen. Historische Rekonstruktion ist, wie einleitend betont, nicht Gegenstand, sondern Methode der vorliegenden Untersuchung. Gleichwohl zeigt diese Debatte, dass auch den vermeintlich exakten Naturwissenschaften im Sinne des neuen Paradigmas unhinterfragte Dogmen zugrunde liegen, wie wir sie vom alten her kennen, der Übergang zwischen Glauben und Wissen auch in den Naturwissenschaften zumindest fließend ist. 122 „Wäre der Mensch nicht in der Lage gewesen, sich selbst zu classifizieren, so würde er niemals auf den Gedanken gekommen sein, eine besondere Ordnung seiner selbst zu errichten“ (Darwin 1871: 166). 123 „Daß Gott in seiner Schöpfung keine Lücke gelassen hat, daß dieses unermeßliche Uhrwerk nirgend stockt (…), davon liegt der Grund wohl schwerlich darinne, weil der Orangoutang den Übergang vom Menschen zum Affen machen (…), sondern weil jedes erschaffne Wesen seine Bestimmung und den zu seiner Bestimmung erforderlichen Körperbau hat; weil kein zwecklosen Geschöpf existirt, was nicht auch seinen Beytrag zur Vollkommenheit des Ganzen gäbe“ (Blumenbach 1779: 13).
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ben der Tüchtigsten“ waren die zentralen aber, wie noch zu zeigen sein wird, falsch verstandenen Botschaften aus Darwins Werk, die in der Folgezeit nicht nur die fachwissenschaftlichen Diskussionen beherrschten. Darwin hingegen, der die Ergebnisse seiner Forschungen eigentlich lieber noch vervollständigt und später veröffentlicht hätte, sich dann jedoch vor allem auf Drängen von Lyell doch zur Publikation entschlossen hat, war im Gegensatz zu den meisten seiner Anhänger trotz des großen Erfolges seines Werkes noch nicht so recht zufrieden. Zwölf Jahre nach Erscheinen vervollständigte er seine Evolutionstheorie durch ein weiteres Werk, in dem er zeigte, dass für die Evolution neben der natürlichen Zuchtwahl weitere Evolutionsprinzipien wirksam werden und insbesondere die Abstammung des Menschen auf ein weitaus bedeutsameres Prinzip zurückzuführen ist. Ihn irritierte neben der „Lückenhaftigkeit der geologischen Befunde“ und dem „Fehlen von Zwischenvarietäten in der Gegenwart“ (a. a. O.: 339) vor allem Beobachtungen, dass manche höhere Tiere deutliche Merkmale aufweisen, die ganz offensichtlich für den Kampf ums Dasein nicht nur überflüssig, sondern eher hinderlich sind, gleichwohl einen evolutionären Selektionsvorteil darzustellen scheinen, z. B. ein üppiges Federkleid bei manchen Vogelmännchen, das diese z. T. sogar erheblich bei der Fortbewegung behindert, oder ein gewaltiges Gehörn bei manchen Säugetieren. Dies erwähnte er zwar auch schon in „Entstehung der Arten“ (a. a. O.: 99 ff.), ohne allerdings schon die Konsequenzen daraus zu ziehen, die er zwölf Jahre später zog. Bei all diesen Merkmalen handelt es sich durchweg um sekundäre Geschlechtsmerkmale, d. h. um solche Merkmale, die typisch sind für das jeweilige Geschlecht der Spezies, „welche in keiner directen Verbindung mit dem Acte der Reproduktion stehen“ (Darwin 1871: 259). Da die Ausbildung solcher Merkmale nicht durch natürliche Zuchtwahl im Kampf ums Überleben erklärt werden kann, müssen sie eine andere Funktion im Zusammenhang evolutionärer Selektion erfüllen. Diese Funktion erfüllen sie dabei in der Weise, dass sie die Chance der einzelnen Individuen erhöhen, einen Sexualpartner oder eine -partnerin zu finden, mit dem oder mit der sie sich fortpflanzen können. Neben die von Darwin zunächst herausgearbeitete natürliche Zuchtwahl, die insbesondere für die Evolution niederer Lebewesen bestimmend ist, tritt – so Darwin – die geschlechtliche Zuchtwahl, welche mit dem phylogenetischen Entwicklungsniveau der jeweiligen Spezies zunehmend an Bedeutung gewinnt und insbesondere an der Menschwerdung wesentlichen Anteil hat. „Geschlechtliche Zuchtwahl hängt von dem Erfolge gewisser Individuen über andere desselben Geschlechts in Bezug auf die Erhaltung der Species ab, während natürliche Zuchtwahl von dem Erfolge beider Geschlechter auf allen Altersstufen in Bezug auf die allgemeinen Lebensbedingungen abhängt. Der geschlechtliche Kampf ist zweierlei Art. In der einen findet er zwischen den Individuen eines und des nämlichen Geschlechts und zwar allgemein des männlichen statt, um die Rivalen fortzutreiben oder zu tödten, wobei die Weibchen passiv bleiben, während in der anderen der Kampf zwar auch zwischen den Individuen des nämlichen Geschlechts stattfindet, um die des anderen Geschlechts zu reizen oder zu bezaubern, und zwar meist die Weibchen, wobei aber die letzteren nicht mehr passiv bleiben, sondern die ihnen angenehmeren Genossen sich wählen“ (a. a. O.: 696).
Hüther (1999) bezeichnet die von Darwin in seinem zweiten Werk beschriebene Entwicklung von der natürlichen zur geschlechtlichen Zuchtwahl auch als „Evolution der Liebe“.
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2.2 Dialektik der Evolution und ihre Verkürzung in Biologismus, Sozialdarwinismus und Eugenik Leider fand dieser zweite, den ersten vervollständigende und für die Anthropogenese weit bedeutsamere Teil der darwinschen Evolutionstheorie bei weitem nicht den Widerhall in der einschlägigen science community wie der erste Teil, sodass die Evolutionstheorie bis heute weithin auf den für die Menschwerdung lediglich in ihren frühen Entwicklungsstadien relevanten Mechanismus der natürlichen Zuchtwahl reduziert rezipiert und der Darwinismus meistens lediglich mit dem Kampf ums Überleben und dem Überleben der Fittesten in Verbindung gebracht wird.124 Besonders folgenschwer wog der biologistische Reduktionismus, als man sich daran machte, dieses Prinzip kurzerhand auf die menschliche Gesellschaft zu übertragen. Zwar hat auch Darwin darauf hingewiesen, dass der Prozess der Zivilisation das Selektionsprinzip des Überlebens der Stärksten zunehmend außer Kraft gesetzt hat,125 doch betont er, wie soeben gezeigt, immer wieder, dass „von allen Unterschieden zwischen dem Menschen und den niederen Thieren das moralische Gefühl oder das Gewissen weitaus der bedeutungsvollste ist“ (a. a. O.: 106) und dass gerade die sozialen Instinkte von wesentlicher Bedeutung für die Evolution des Menschen gewesen sind. Deswegen stünde für Darwin die Preisgabe der beschriebenen Praxis zivilisierter Gesellschaften in einem diametralen Widerspruch zur menschlichen Natur. „Die Hülfe, welche wir dem Hülflosen zu widmen uns getrieben fühlen, ist hauptsächlich das Resultat des Instincts der Sympathie, welcher ursprünglich als ein Theil der socialen Instincte erlangt, aber später in der oben bezeichneten Art und Weise zarter gemacht und weiter verbreitet wurde. Auch könnten wir unsere Sympathie, wenn sie durch den Verstand hart bedrängt würde, nicht hemmen, ohne den edelsten Theil unserer Natur herabzusetzen. (…) Wir müssen daher die ganz zweifellos schlechte Wirkung des Lebenbleibens und der Vermehrung der Schwachen ertragen; doch scheint wenigstens ein Hindernis für die beständige Wirksamkeit dieses Moments zu existieren, in dem Umstande nämlich, daß die schwächeren und untergeordneten Glieder der Gesellschaft nicht so häufig wie die Gesunden heirathen“ (a. a. O.: 148). An anderer Stelle wird Darwin noch deutlicher: „So bedeutungsvoll der Kampf um die Existenz gewesen ist, so sind doch, soweit der höchste Theil der menschlichen Natur in Betracht kommt, andere Kräfte noch bedeutungsvoller: denn die moralischen Eigenschaften sind entweder direct oder indirect viel mehr durch die Wirkung der Gewohnheit, durch die Kraft der Überlegung, Unterricht, Religion u. s. w. fortgeschritten, als durch natürliche Zuchtwahl, obschon dieser letzteren Kraft die socialen Instincte, welche die Grundlage für die Entwicklung des moralischen Gefühls dargeboten haben, ruhig zugeschrieben werden können“ (a. a. O.: 700).
124 Altner (1981: 1) konstatiert sicherlich zu Recht: „Darwin war kein Darwinist im weltanschaulichen Sinne.“ Er war, wie wir gezeigt haben, auch kein Darwinist hinsichtlich der auf die natürliche Zuchtwahl reduzierten wissenschaftlichen Tradition. 125 „Bei den Wilden werden die an Geist und Körper schwachen bald beseitigt und die, welche leben bleiben, zeigen gewöhnlich einen Zustand kräftiger Gesundheit. Auf der anderen Seite thun wir civilisierte Menschen alles nur Mögliche, um den Process dieser Beseitigung aufzuhalten. Wir bauen Zufluchtsstätten für die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken; wir erlassen Armengesetze und unsere Ärzte strengen die größte Geschicklichkeit an, das Leben eines Jeden bis zum letzten zu erhalten. (…) Hierdurch geschieht es, daß auch die schwächeren Glieder der civilisierten Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand, welcher der Zucht domesticierter Thiere seine Aufmerksamkeit gewidmet hat, wird daran zweifeln, daß dies für die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich sein muß“ (Darwin 1871: 148).
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Darwin realisiert also im Gegensatz zu vielen seiner Anhänger und Gegner, dass im Zuge der Anthropogenese der Mensch als Naturwesen zum sozialen Kulturwesen geworden ist, welches sich nicht mehr phylogenetisch mittels der Mechanismen von Mutation und Selektion einer vorgefundenen ökologischen Nische optimal oder besser: hinreichend anpasst, sondern sich seine ökologische Nische selbst geschaffen hat und fortwährend schafft. „Das Tier benutzt die äußere Natur bloß und bringt Änderungen durch seine Anwesenheit zustande; der Mensch macht sie durch seine Änderungen seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie“ (Engels 1883: 452),
schreibt Friedrich Engels in seiner zwischen 1873 und 1883 entstandenen, leider nur Fragment gebliebenen Dialektik der Natur, in der er mehrfach auf Darwin Bezug nimmt, fügt dabei allerdings eine Warnung hinzu, die geradezu beklemmend aktuell erscheint: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder [Sieg] hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andere, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. (…) So werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können“ (a. a. O.: 452 f.).
Zugespitzt kann man sagen, dass nach Darwin im Zuge der Anthropogenese natürliche Zuchtwahl zwar die sozialen Instinkte und moralischen Eigenschaften als „höchsten Teil der menschlichen Natur“ hervorgebracht hat, dabei jedoch als evolutionäres Prinzip von diesen neuen Qualitäten aufgehoben wurde. Anders ausgedrückt: Die Evolution des Menschen war ihrerseits einer Evolution unterworfen, die sich wie folgt skizzieren lässt: Nach der hier nicht weiter darzulegenden kosmischen Evolution, der Evolution unbelebter und Herausbildung lebender Materie, kam es zur Evolution lebender Materie und in deren Verlauf zur Herausbildung verschiedener Evolutionsstufen:
Biologische Evolution: Diese entwickelt sich von der Stufe der natürlichen, zunehmend zur geschlechtlichen Zuchtwahl. í Natürliche Zuchtwahl ist das früheste biologische Evolutionsniveau, auf dem die am besten ihrer natürlichen Umwelt angepassten Individuen einer Spezies überlebten. í Geschlechtliche Zuchtwahl: Neben und mit fortschreitendem phylogenetischen Entwicklungsniveau zunehmend an die Stelle der natürlichen trat die geschlechtliche Zuchtwahl, die zwar das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl nicht außer Kraft setzte, aber mit der Zunahme des Komplexitätsniveaus der Lebewesen in den Hintergrund treten ließ und schließlich als dominierendes Prinzip aufhob. Es kam also zu einer, mit Hegel könnte man sagen, dialektischen Aufhebung126 der natürlichen durch die geschlechtliche Zuchtwahl.
126 Dabei hat „Aufheben (…) den gedoppelten Sinn, daß es so viel als Aufbewahren, erhalten bedeutet, und zugleich so viel als Aufhören lassen, ein Ende machen“ (Hegel, 1813: 120).
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Soziale und kulturelle Evolution: Aufgrund vermutlich dramatischer Habitatveränderungen vervollkommneten bestimmte Spezies die rudimentär vermutlich schon angelegte Fähigkeit zur Zweibeinigkeit und aufgrund der dadurch entstandenen Möglichkeit, ihre Hand für neue Funktionen und Aufgaben nutzen zu können, zur Werkzeugherstellung und damit zur Veränderung ihrer natürlichen Umwelt. Sie entwickelten fernerhin die Fähigkeit, Verhältnisse untereinander einzugehen und dabei die Formen der Kooperation untereinander in zunehmendem Maße selbst zu bestimmen, sie wurden gesellschaftlich. Sie verabredeten z. B. Formen des gemeinschaftlichen Jagens. So trat in zunehmendem Maße neben die biologische die soziale und kulturelle Evolution. Die biologische Evolution setzte sich fort, bis sich vor ca. 100 000 Jahren die biologische Gestalt unserer Spezies entwickelt hat, der wir dann die Bezeichnung des doppelt klugen Homo sapiens sapiens gegeben haben. Unsere Vorfahren hatten schon damals alle biologischen Voraussetzungen, um Fahrrad-, Auto- oder Rennfahrer, Astronautin, Herzchirurg, Computerspezialistin oder Kardinal der katholischen Kirche zu werden, doch sie konnten es nicht, weil die kulturelle Evolution noch nicht so weit fortgeschritten war, mithin die kulturellen Voraussetzungen fehlten.127 Sie konnten über Jahrtausende auch noch nicht lesen und schreiben, aber nicht deswegen, weil sie nicht über die dafür notwendigen biologischen Voraussetzungen verfügten, sondern weil sich die Schriftsprache im Zuge der kulturellen Evolution erst viel später entwickelt hat. Es bildete sich also allmählich, zunächst in rudimentären Anfängen, doch fortschreitend und zunächst innerhalb der biologischen, die soziale und kulturelle Evolution heraus, deren Zeugnisse uns z. B. bis heute in beeindruckenden Höhlenmalereien sowie in zahlreichen Werkzeugen aus Stein oder Knochen erhalten sind. Spätestens mit der von dem Archäologen Vere Gordon Childe (1892-1957) 1936 so genannten „neolithischen Revolution“ (Childe 1956: 66; hierzu ausführlich auch: Brock 2006: 221), die nach heutigen Erkenntnissen vor ca. 12 000 Jahren am Ende der letzten, der Würm-Eiszeit, vermutlich aber schon wesentlich früher,128 im Norden der Arabischen Halbinsel ihren Ausgang nahm und sich über einen Zeitraum von etwa 6 000 Jahren erstreckte, wird sie zum dominierenden Evolutionsprinzip. Damit kommt es erneut zu einer dialektischen Aufhebung in der Geschichte der Evolution des Menschen, bei der die biologische in der sozialen und kulturellen Evolution aufgehoben, der Mensch endgültig als Naturwesen, welches er selbstverständlich auch weiterhin bleibt, zum sozialen Kulturwesen wird, welches sich seine ökologische Nische in sozialer Kooperation durch Arbeit selbst schaffen kann und zum Überleben der Gattung auch muss. Die biologische Evolution hat also gewissermaßen die gesellschaftliche Natur des Menschen hervorgebracht und damit zugleich die Voraussetzung für ihre Aufhebung in der sozialen und kulturellen Evolution.
127 Wir wissen heute z. B. aus durchaus zweifelhaften Zirkusveranstaltungen, dass unsere nächsten biologischen Verwandten, die Schimpansen, Fahrrad und sogar Moped fahren lernen können. Das können sie indes nur dort, wo ihnen die kulturhistorischen „Errungenschaften“ der „zivilisierten“ Welt nahegebracht wurden, die sie sich unter Dressur auf diesem Niveau durchaus aneignen können. In ihrer eigenen Geschichte in freier Wildbahn spielen diese Fähigkeiten keine Rolle, dafür aber viele andere, die für ihr Überleben in ihrer Lebenswelt von Bedeutung sind. 128 Vermutlich stand dieser Dominanzwechsel in engem Zusammenhang mit der Evolution des menschlichen Bewusstseins und damit einhergehend der Sprachevolution. Leider sind diese Entwicklungen jedoch aufgrund weithin fehlender Evidenzbasis kaum valide rekonstruierbar. Im Zusammenhang dieser Untersuchung ist die Frage der genauen Terminierung jedoch unerheblich, es kommt an dieser Stelle nur darauf an, dass, nicht wann genau er stattgefunden hat.
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Daraus folgt, dass jeder Versuch, das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl in menschlichen Gesellschaften wieder wirksam werden zu lassen und damit die Prinzipien der sozialen und kulturellen Evolution wieder zurückzudrängen oder gar zu beseitigen, durchaus auch im Sinne der Darwin’schen Evolutionstheorie der Entmenschlichung des Menschen und seiner von ihm geschaffenen ökologischen Nische, der Gesellschaft, gleichkommt – mit Konsequenzen, wie sie insbesondere in der jüngeren deutschen Geschichte grausame Realität geworden sind. Evolutionstheoretisch bedeutet eine solche Entwicklung einen Rückfall auf das weit vormenschliche Evolutionsniveau der niederen Lebewesen noch unterhalb des Niveaus der geschlechtlichen Zuchtwahl. Darwin hat den wissenschaftlichen Blick auf die Natur im Allgemeinen und auf die Biologie im Besonderen historisiert, er hat gezeigt, dass auch die Natur eine Geschichte hat, darin liegt sein wissenschaftshistorisches Verdienst. Daraus den Schluss zu ziehen, umgekehrt sei die Geschichte des Menschen und seiner Gesellschaft gewissermaßen zu biologisieren, ist hingegen ein absurder und, wie ein historischer Rückblick zeigt, folgenschwerer Fehlschluss. Außerdem, darauf weisen Maturana & Varela (1987: 125) zu Recht hin, gilt auch für die natürliche Zuchtwahl: „Es gibt kein ‚Überleben des Angepaßteren [oder gar Angepaßtesten]’, sondern nur ein ‚Überleben des [hinreichend] Angepaßten’. Die Anpassung ist eine Frage notwendiger Bedingungen, die auf viele verschiedene Weise erfüllt werden können, wobei es keine ‚beste’ Weise gibt, einem Kriterium zu genügen, welches außerhalb des Überlebens zu suchen wäre. Die Unterschiede zwischen den Organismen offenbaren, daß es viele strukturelle Wege der Verwirklichung des Lebendigen gibt und nicht die Optimierung einer Beziehung oder eines Wertes.“
Inspiriert durch „Die Entstehung der Arten“, doch, wie gezeigt, im Gegensatz zu Darwin vertrat sein Vetter, der Anthropologe Francis Galton (1822-1911), die Auffassung, das Prinzip der natürlichen Auslese müsse auch wieder Eingang in die zivilisierten Gesellschaften halten, pervertierte den Darwinismus zum Sozialdarwinismus129 und prägte den Begriff der Eugenik, mit dem er eine sich naturwissenschaftlich verstehende Forschungsrichtung begründete, die vor allem der Frage nachgeht, wie der Anteil vermeintlich hochwertigen Erbgutes in der Gesellschaft zu vermehren sei, minderwertiges Erbgut130 hingegen an der Ausbreitung gehindert werde. Galtons Eugenik traf auch in Deutschland auf großen Widerhall, nachdem sie hier vor allem durch die beiden Mediziner Wilhelm Schallmayer (18571919) und Alfred Ploetz (1860-1940) Eingang gefunden hatte. Sie bezeichneten Eugenik auch als Rassenhygiene und verwenden beide Begriffe mehr oder weniger synonym. Ausgehend von diesem Ansatz stellten in Deutschland wie auch in anderen Ländern zahlreiche Naturwissenschaftler verschiedener Disziplinen vor allem seit Ende des 19. Jahrhunderts Erblichkeitsberechnungen an. Sie teilten die deutschen Familien in erbgesunde und erbkranke Familien auf, versuchten jeweils deren Fortpflanzungsraten zu ermitteln und kamen dabei zu durchweg düsteren Prognosen. 129 Es ist hoffentlich deutlich geworden, dass dieser Begriff mit Darwin nicht das Geringste zu tun hat, vielmehr in diametralem Gegensatz zu seinen Auffassungen steht. Leider hat dieser unselige und irreführende Begriff immer wieder dazu geführt, dass man Darwin für Entwicklungen verantwortlich gemacht hat, die zumindest seiner Intention deutlich widersprechen. 130 Dabei wird die Vorstellung von der „Minderwertigkeit“ des Erbgutes rasch verallgemeinert: Die Menschen selbst gelten als minderwertig, werden zunehmend den für minderwertig gehaltenen „Rassen“ gleichgestellt, ihr Lebenswert wird als geringer eingeschätzt als derjenige vermeintlich Erbgesunder und schließlich, wie noch zu zeigen sein wird, immer mehr zur Disposition gestellt.
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„Neuere Untersuchungen (…) lassen leider keinen Zweifel mehr zu, daß gerade jene Familien, die kraft ihrer erblichen Veranlagung einen sozialen Aufstieg erstreben, den geringsten Nachwuchs aufweisen, während die anderen wenigstens teilweise in erster Linie zur Volksvermehrung beizutragen scheinen. Der öfter ausgesprochene Satz, daß vielfach die Hilfsschulkinder die größte Zahl von Geschwistern haben, während in den sozial aufgestiegenen Schichten nicht so viel Nachwuchs vorhanden ist, um sich zu erhalten, sagt deutlich genug, wo der Kernpunkt der ganzen Frage liegt“ (Muckermann 1932: 8 f.),
so der Jesuitenpater und promovierte Theologe, Philologe und Biologe Hermann Muckermann (1877-1962), seit 1927 Professor und Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in Berlin, der von seinem Jesuitenorden eigens für seine erbbiologischen Forschungen freigestellt wurde. Beschwörend mahnte der Kirchenmann und Naturforscher, „daß die Gegenwart, die doch ohne Zweifel nicht den Untergang, sondern den Aufgang des Abendlandes will, nicht nur den eben beschriebenen Zustand erträgt, sondern sogar die Differenzierung der Fortpflanzung zu Ungunsten der erbgesunden Familie, ohne es zu ahnen, fördert. Die Liebe zu den Hilfsbedürftigen, die an sich die höchste Tugend in der Kultur ist, wird der Kultur zum Verhängnis“ (a. a. O.: 9).
Schon zehn Jahre zuvor hielt er es aus erbbiologischen Gründen für geboten, „daß der amtlich geforderte Austausch von Gesundheitszeugnissen, wenn nicht vor der Verlobung und Eheschließung, so doch wenigstens einige Zeit vor der Eheschließung Reichsgesetz würde“ (Muckermann 1922: 143),
um so Heiratswilligen die Grundlage für eine unter eugenischen Aspekten verantwortliche Gattenwahl an die Hand zu geben. Damit verbundene Eheverbote, wie sie 1935 durch das Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (RGBl. 1935, Bd. 1: 1246) in Deutschland eingeführt wurden, lehnte er allerdings ab. Allerdings stellte er unmissverständlich klar: „Ebenso wäre es unverantwortlich, an eine Verlobung zu denken, wenn eine durchaus minderwertige oder unausgeglichene Konstitution wesentlicher Organe, z. B. offensichtliche Dispositionen zu Lungentuberkulose, zu Herzfehlern schwerer Art, oder gar wenn ererbte Geisteskrankheit, besonders Affektpsychosen (Gemütskrankheiten) und aus der weitverbreiteten Schizophreniegruppe (…) den Stammbaum zerwühlen, und das um so mehr, wenn z. B. bei Verwandtschaft das Zusammentreffen verborgener Anlagen von beiden Seiten zu befürchten ist“ (a. a. O.: 144 f.).
Für ihn als Katholik darf eine verantwortungsvolle Rassenhygiene allerdings nicht dazu führen, „daß wir die Fürsorge für entartete Familien aufgeben. Selbst Hoffnungslose muß man auf menschenwürdige Art bis zu ihrem Tode aufbewahren“ (a. a. O.: 10),
mehr aber auch nicht. Daran hielt er unbeirrt auch nach der Befreiung Deutschlands, ein Jahr nach Beendigung der Massentötungen Behinderter, unter anderem durch systematische Vernachlässigung und Unterversorgung fest und sprach sich ausdrücklich dagegen aus,
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„schwer belastete Geisteskranke und Verbrecher mit größerem Aufwand unterzubringen als die menschenwürdige Aufbewahrung bis zu ihrem Tode notwendig macht und gleichzeitig gesunde Mütter vieler Kinder in Kellerlöchern verelenden zu lassen. Ebenso ist der Gedanke unerträglich, hoffnungslosen Nachwuchs aus schwachsinnigen Erbstämmen mit einer größeren Hingabe zu betreuen als die Nachkommen gesunder Eltern“ (Muckermann 1946: 118 f.).
Medizinische Eingriffe zur Unfruchtbarmachung von Trägern für minderwertig gehaltenen Erbgutes lehnte Muckermann unter Berufung auf die Enzyklika „Casti connubii“ von Pius XI. vom 30. Dezember 1930 „über die christliche Ehe im Hinblick auf die gegenwärtigen Lebensbedingungen und Bedürfnisse von Familie und Gesellschaft und auf die diesbezüglich bestehenden Irrtümer und Missbräuche“131 ab und appellierte an die Verantwortung der Betroffenen. Ansonsten betonte er immer wieder die eugenische Bedeutung der Anstaltsfürsorge und plädierte schon 1922 dafür, „daß Geisteskranke und psychopathische Verbrecher, die nicht mehr für die Ordnung zu gewinnen sind, in Anstalten der Liebe gesammelt werden, wo ihnen keine Möglichkeit mehr bleibt, Nachkommen mit gleichen Anlagen zu belasten“ (Muckermann 1922: 211).
Parallel zu den Erblichkeitsberechnungen wurden immer wieder auch Rentabilitätsberechnungen angestellt, die immer populärer wurden. 1911 schrieb die Frankfurter Zeitschrift „Umschau. Wochenschrift für die Fortschritte in Wissenschaft und Technik“ ein Preisausschreiben zum Thema „Was kosten die schlechten Rassenelemente den Staat und die Gesellschaft?“ aus. In dem Ausschreibungstext heißt es: „Der arbeitende, Wert schaffende Teil der Bevölkerung hat nicht allein sich selbst zu erhalten, sondern auch alle diejenigen, welche nicht arbeiten können oder wollen. Dadurch ist eine gewaltige Last auf seine Schultern gelegt. (…) Von einem sehr erheblichen Teil dieser Bürde könnten die Arbeitenden befreit werden. Denn nicht nur der Jugend und dem Alter müssen sie ihre Tätigkeit opfern, sondern auch der Erhaltung und Pflege der Kranken und Minderwertigen, welche zeitweilig oder dauernd zur Arbeit nicht befähigt oder nicht willig sind. Ungeheure Summen an Zeit, Geld und Arbeitskraft könnten erspart werden, wenn durch Verbesserungen des Milieus im weitesten Sinne (Tilgung der Ansteckungsgefahren, Beseitigung hygienischer Schädlichkeiten, 131 Diese erteilt allen eugenischen Bestrebungen eine Absage, „die in übertriebener Sorge um die ‚eugenischen’ Zwecke nicht nur heilsame Ratschläge zur Erzielung einer starken und gesunden Nachkommenschaft geben – was der gesunden Vernunft durchaus nicht zuwider ist –, sondern dem ‚eugenischen’ Zweck den Vorzug vor allen andern, selbst denen einer höheren Ordnung geben. Sie möchten daher von Staats wegen alle von der Ehe ausschließen, von denen nach den Gesetzen und Mutmaßungen ihrer Wissenschaft infolge von Vererbungen nur eine minderwertige Nachkommenschaft zu erwarten ist, auch wenn sie zur Eingehung einer Ehe an sich tauglich sind. Ja, sie gehen so weit, solche von Gesetzes wegen, auch gegen ihren Willen, durch ärztlichen Eingriff jener natürlichen Fähigkeit berauben zu lassen, und zwar nicht als Körperstrafe für begangene Verbrechen, noch auch um künftigen Vergehen solcher Schuldiger vorzubeugen, sondern indem sie gegen alles Recht und alle Gerechtigkeit für die weltliche Obrigkeit eine Gewalt in Anspruch nehmen, die sie nie gehabt haben und rechtmäßigerweise überhaupt nicht haben können. Sie vergessen zu Unrecht, daß die Familie höher steht als der Staat und daß die Menschen nicht an erster Stelle für die Zeit und die Erde, sondern für den Himmel und die Ewigkeit geboren werden. Und in der Tat, es ist nicht recht, Menschen, die an sich zur Eingehung einer Ehe fähig sind, aber trotz gewissenhaftester Sorge voraussichtlich nur einer minderwertigen Nachkommenschaft das Leben geben können, schon deshalb einer schweren Schuld zu zeihen, falls sie in die Ehe treten, wenn ihnen auch oft die Ehe zu widerraten ist. (…) Was nun die Obrigkeit angeht, so hat sie über die körperlichen Organe ihrer Untertanen keine direkte Gewalt. Wo keine Schuld und damit keine Ursache für körperliche Bestrafung vorliegt, kann sie die Unversehrtheit des Leibes weder aus eugenischen noch aus irgendwelchen Gründen direkt verletzen oder antasten.“
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sorgfältige Erziehung usw.) die Entstehung von Kranken, Krüppeln, Irren, Verbrechern, erwerbsunfähigen Armen usw. vorgebeugt wird. Aber alle Anstrengungen zur Verbesserung der Umwelt versagen gegenüber der angeborenen, ererbten Kränklichkeit und Minderwertigkeit, und eine volle Befreiung der Arbeitenden von vermeidbaren Lasten kann nur erreicht werden, wenn auch die Erzeugung von Kranken und Minderwertigen soviel als möglich verhindert wird. (…) Die Verminderung der Erzeugung von ‚Minusvarianten’ wird zu einer immer gebieterischeren Forderung unserer Zeit. (…) In allen Veröffentlichungen, welche sich mit der Verbesserung unserer Rasse beschäftigen, wird darauf hingewiesen, welche Unsummen der Staat, die Gemeinden und der Privatmann direkt oder indirekt für Personen ausgeben müssen, die besser nicht geboren wären; wie viele Tausende tüchtiger Bürger, statt nützlicher Arbeit nachgehen zu können, müssen sich diesen Personen als Wärter, Beamte, Ärzte usw. widmen“ (zit. nach Richter 1986, 32 f.)
1920 veröffentlichten Karl Binding132 (1841-1920) und Alfred Hoche133 (1865-1943) eine interdisziplinäre Schrift mit dem programmatischen Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, in der sie zusammenfassend zu dem Ergebnis gelangen, „daß die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt“ (Binding & Hoche 1920: 57). Sie meinten damit den Personenkreis der „unheilbar Blödsinnigen – einerlei ob sie so geboren oder etwa wie die Paralytiker im letzten Stadium ihres Leidens so geworden sind. Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte. Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für die Angehörigen wie für die Gesellschaft bilde sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke – außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder der treuen Pflegerin. Da sie großer Pflege bedürfen, geben sie Anlaß, daß ein Menschenberuf entsteht, der darin aufgeht, absolut lebensunwertes Leben für Jahre und Jahrzehnte zu fristen“ (a. a. O.: 31).
Auch Binding & Hoche argumentieren mit Wirtschaftlichkeitsaspekten. Hoche hat dazu eigens eine kleine Untersuchung durchgeführt. „Ich habe es mir angelegen sein lassen, durch eine Rundfrage bei sämtlichen deutschen in Frage kommenden Anstalten mir hierüber brauchbares Material zu verschaffen. Es ergibt sich daraus, daß der durchschnittliche Aufwand pro Kopf und Jahr für die Pflege der Idioten bisher 1300 M. betrug. Wenn wir die Zahl der in Deutschland zurzeit gleichzeitig vorhandenen, in Anstaltspflege befindlichen Idioten zusammenrechnen, so kommen wir schätzungsweise etwa auf eine Gesamtzahl von 20-30 000. Nehmen wir für den Einzelfall eine durchschnittliche Lebensdauer von 50 Jahren an, so ist leicht zu ermessen, welches ungeheure Kapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung, dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen wird. Dabei ist hiermit noch keineswegs die wirkliche Belastung ausgedrückt. Die Anstalten, die der Idiotenpflege dienen, werden anderen Zwecken entzogen; soweit es sich um Privatanstalten handelt, muß die Verzinsung berechnet werden; ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fördernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben 132 Dr. jur. et phil., Professor der Rechte an den Universitäten Basel, Freiburg, Straßburg und Leipzig. In Leipzig war er 1892/93 und 1908/09 Rektor der Universität. Die ihm 1909 verliehene Ehrenbürgerwürde der Stadt Leipzig wurde ihm wegen seiner Mitwirkung an o. g. Schrift 2010 wieder aberkannt. 133 Professor für Psychiatrie an der Universität Freiburg und Direktor der dortigen psychiatrischen Klinik.
2 Der Paradigmenwechsel
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diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden“ (a. a. O.: 54 f.).
Großherzig wollten sie immerhin „der Mutter, die trotz des Zustandes ihres Kindes sich die Liebe zu ihm nicht hat nehmen lassen“, ein Einspruchsrecht gegen die Tötung des Kindes einräumen, „falls sie die Pflege selbst übernimmt oder dafür aufkommt“ (a. a. O.: 32). Hauptsache, die erbgesunde Allgemeinheit bleibt von den Kosten verschont. Auch der Jesuit Muckermann rechnete vor: „Um die Ausgaben zu beurteilen, die wir aus Gründen schwerer erblich bedingter Leiden zu machen haben und die doch zuletzt von der erbgesunden Familie erarbeitet werden müssen, sei erwähnt, daß die Zahl der verpflegten Kranken in den Anstalten für Geisteskranke, Epileptiker, Idioten, Schwachsinnige und Nervenkranke in Deutschland im Jahr 1928 290.045 betrug. Die Zahl der Pflegetage war im gleichen Jahr 54.178.514. Wenn man überlegt, daß ein Pflegetag mindestens mit 3,43 RM anzusetzen ist (…), dann würde es sich in einem Jahr um 3,43 RM mal 54.178.514 handeln, das sind 185.832.303 RM“ (Muckermann 1932: 79).
Muckermann setzte die Anzahl der Pflegetage an allgemeinen Krankenhäusern ins Verhältnis zu den von ihm ermittelten Zahlen. „Sie ist (…) noch nicht einmal doppelt so groß wie die Ziffer, die sich auf Heil- und Pflegeanstalten bezieht, wo sich doch in erster Linie Menschen befinden, die man nicht mehr für Arbeit und Leben zurückgewinnen kann (…). [Dazu kämen noch die Kosten], die sich auf erblich bedingte Blindheit und Taubstummheit beziehen (…). Die ungeheuren Ausgaben für Lungentuberkulose, für Geschlechtskranke, für Alkoholiker und für die vielen, die der Fürsorgeerziehung zum großen Teil aus erblicher Belastung zu überweisen sind, will ich gar nicht erwähnen“ (a. a. O.: 80).
Es ist bekannt, dass Forderungen, wie sie hier von Binding & Hoche sowie von Muckermann und vielen anderen Naturwissenschaftlern dieser Zeit vorgetragen wurden, nach der Machtübernahme durch das NS-Regime umgesetzt worden sind. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass all diese Wissenschaftler auch begeisterte Anhänger dieses Regimes gewesen sind. Vielen Eugenikern und Rassenhygienikern bescherte das NS-Regime ohne Zweifel glänzende Karrieren, die in vielen Fällen auch nach der Befreiung Deutschlands bruchlos fortgesetzt werden konnten (vgl. Klee 1986). Eugenisches Denken jedoch war über Parteigrenzen, politische und weltanschauliche Lager hinweg weit verbreitet und fand auch innerhalb der sozialistischen Parteien und Organisationen weithin Zustimmung (hierzu ausführlich: Schwartz 1995). Für Muckermann und Hoche – Binding war schon 1920 verstorben – bedeutete der Beginn der NS-Herrschaft sogar das Ende ihrer wissenschaftlichen Karrieren. Muckermann, der neben anderen maßgeblich an dem Zustandekommen des 1934 in Kraft getretenen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses beteiligt war, wurde 1933 von seinem Amt suspendiert, Hoche kam dem zuvor. Er beantragte im Mai 1933, kurz vor Vollendung seines 68. Lebensjahres, seine Entlassung, nachdem er kurz zuvor in Straßburg die Jüdin Hedwig Goldschmidt geheiratet hatte und seither als „jüdisch versippt“ galt. Eugenik und Rassenhygiene waren also keineswegs genuine Elemente nationalsozialistischer Ideologie, sondern Programme, die lange vor Beginn der NS-Herrschaft von Vertretern des Mainstreams eigentlich aller einschlägigen Wissenschaftsdisziplinen mit zum Teil sehr unterschiedlichen politischen Orientierungen gefordert wurden. Das zweifelhafte Ver-
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III Von der Dämonologisierung zur Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins
dienst des NS-Regimes war, diese zu weiten Teilen wissenschaftlich begründeten und von führenden Vertretern der einschlägigen Disziplinen erhobenen Forderungen in die Praxis umgesetzt zu haben. Wir kommen darauf in unseren Ausführungen über die psychiatrische Erbgesundheitspflege noch zurück. 3
Exkurs: Fortbestand und Bedeutung des überkommenen Paradigmas nach dem Paradigmenwechsel
Mit dem Paradigmenwechsel hat das überkommene Paradigma zwar seine Stellung als wissenschaftliches Leitparadigma eingebüßt. Doch damit ist es keineswegs einfach verschwunden, wie in manchen Ausführungen bereits deutlich geworden ist. Insbesondere in der katholischen Theologie und im Bewusstsein zumindest vieler Anhänger des Katholizismus ist es auch heute noch präsent. Auch die katholische Kirche hat den Paradigmenwechsel und den ihn begleitenden Übergang von der feudalistischen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung bislang ganz gut überstanden, wenn auch nicht ohne gewisse Blessuren, zu deren schmerzlichsten vermutlich die in Europa weithin verbreitete Religionsfreiheit gehört. Die Protestantismen und ihre Kirchen sind in diesem Zuge entstanden. Die alten Institutionen gibt es ebenfalls noch. Mit dem Paradigmenwechsel von der Dämonologie zur Pathologie war zwar selbstverständlich auch eine Säkularisierung der institutionellen Zuständigkeiten verbunden, doch die „Heilige Kongregation der Römischen und Universalen Inquisition“ existierte noch bis 1908 als vatikanische Institution unter diesem Namen. Sie wurde dann umbenannt in „Heiliges Officium“ und firmiert seit 1965 bis heute unter der offiziellen Bezeichnung „Kongregation für Glaubenslehre“. Ihr Präfekt war von 1981 bis zu seiner Ernennung zum Papst 2005 der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger, der immer wieder unmissverständlich klarstellt: „Der Teufel existiert real und persönlich“ (Ratzinger 1985: 6).134 Auf den Fortbestand des zuletzt 1999 novellierten Exorzismusrituals wurde bereits an anderer Stelle eingegangen. 1958 schrieb der katholische Heilpädagoge und Theologe Linus Bopp (1887-1971) sein erstmals 1930 vorgelegtes Konzept einer neothomistischen Heilpädagogik (Bopp 1930) fort und formulierte als Zielsetzung von Heilerziehung den Versuch, „hauptsächlich auf erzieherischem Wege – jene Defekte, die wesentliche Wertmängel darstellen, aus(zu)gleichen in der Art, daß möglichst normale Wertfähigkeit und Wertwilligkeit miterreicht wird, daß im besonderen der Heilzögling in den Stand gesetzt wird, seinen Lebenssinn selbsttätig zu erstreben und zu erreichen“ (a. a. O.: 1).
134 Darauf angesprochen, dass die Enthüllung massenhaften sexuellen Missbrauchs von Kindern, nicht nur, aber in erster Linie durch katholische Geistliche, ausgerechnet in dem von ihm ausgerufenen Priesterjahr 2009/10 stattfanden, entgegnete der Papst in einem Interview: „Man könnte nun meinen, der Teufel konnte das Priesterjahr nicht leiden und hat uns daher den Schmutz ins Gesicht geworfen. Als hätte er der Welt zeigen wollen, wie viel Schmutz es gerade auch unter Priestern gibt“ (Benedikt XVI 2010: 52). Nicht der vermutlich seit Jahrhunderten betriebene Missbrauch von Kindern durch Priester und Ordensleute und die beharrliche Vertuschung dieses traditionsreichen Priesterwerks werden hier als Teufelswerk bezeichnet, sondern deren Enthüllung. Benedikt ist sich allerdings nicht sicher, ob sie nicht vielleicht auch Gotteswerk gewesen sein könnte: „Andererseits könnte man sagen, der Herr wollte uns prüfen und uns zu tieferer Reinigung rufen, so dass wir das Priesterjahr nicht triumphalistisch begehen, als Selbstrühmung, sondern als Jahr der Reinigung, der inneren Erneuerung, der Verwandlung und vor allem der Buße“ (ebd.).
3 Exkurs: Fortbestand und Bedeutung des überkommenen Paradigmas nach dem Paradigmenwechsel
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„Es handelt sich bei den Defekten, die der Heilerziehung bedürftig sind, um die Erscheinung, daß grundwesentliche Wertsinnsarten ausgefallen sind (a. a. O.: 2). Dazu gehören der Ausfall „soziale(r) Tugenden, wie Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Arbeitsamkeit, Berufstreue, (…) der Ausfall des Sinns für Reinlichkeit, Mangel an physiologischer Körperbeherrschung (Bettnässen), erst recht Sprachstörungen (Stottern, Stammeln, Lispeln) und Körperbehinderungen (Gebrechlichkeit) (…)“ und „auch Mindersinnige und Schwachsinnige sind, bei falscher Anfassung von klein an, in der Gefahr der Fehlentwicklung und können der Heilbehandlung bedürfen, wenn eine solche charakterliche Verbildung eingetreten ist“ (ebd.). Fehlentwicklungserscheinungen in diesem Sinne können bedingt sein durch „leibliches Defektsein“ oder durch “seelischcharakterliche Abwegigkeiten (…). Dazu treten die Milieugeschädigten“ (ebd.).
Auf dieser anthropologischen Grundlage entwickelte Bopp nun eine heilpädagogische Ziellehre. Hier reicht es nicht, sich „mit dem negativen Ziel, den Zögling nicht schuldig, nicht asozial, nicht antisozial, nicht gesellschaftsunnütz werden oder bleiben zu lassen“ (a. a. O.: 95), zufrieden zu geben, auch nicht, „den Fehlentwickelten, den Heilzögling zu sozialisieren, zu resozialisieren, gemeinschaftsfähig und gesellschaftstüchtig zu machen“ (a. a. O.: 95 f); denn „das alles täten und tun auch die Heiden, die Jesus Christus, seine Offenbarung, seine gnadenvolle Berufung zum ewigen Leben (…) nicht kennengelernt haben“ (a. a. O.: 96). Bopp betont, dass auch „die normale Erziehung (…) immer einen heilerzieherischen Einschlag notwendig (hat). Denn die erbsündlichen Folgen, vorzüglich die Erscheinungen der bösen Begierlichkeit, erfordern stets vorbeugende und vielmals heilende Maßregeln. Aber die Heilerziehung hat es mit Zöglingen und Bildlingen zu tun, deren Defekte, mögen sie noch vorerst Anlagen geblieben sein oder bereits zu Eigenschaften, die Fehlentwicklungen darstellen, sich verdichtet haben, so groß sind, daß sie ungemein planmäßigere, spezialisiertere Methoden erfordern, um so erzogen zu werden, daß sie ihr Leben im tiefsten Begriff sinnvoll gestalten können“ (a. a. O.: 4).
Für Bopp war der Glaube im katholischen Sinne die grundlegende heilpädagogische Kategorie. Mehr noch: Nach Bopps Auffassung „vermag der Glaube allein ätiologisch-retrospektiv den Grund aufzuzeigen für die Übel der Welt, auch jene Übel, welche die Heilerziehung zu bannen sucht“ (a. a. O.: 7).
Die Ursachen dessen, was er als Wertsinnsmängel bezeichnete, konkretisierte er an anderer Stelle: „Die übernatürliche Offenbarung Gottes führt alles menschliche Elend und Leid psychischer, sittlicher und geistiger Art auf die Ur- und Erbsünde zurück“ (a. a. O.: 63).
Zur Erbsünde treten dann noch die sogenannten eigenpersönlichen Sünden hinzu. Dennoch blieb Bopp optimistisch, ging er doch von der „Heilbarkeit der erb- und personsündlich verwundeten Natur“ (a. a. O.: 76) aus. Allerdings stellt das besondere Anforderungen an den Beruf der Heilpädagogen. Bopp stellte den „Heilerzieher als Neuverkörperung der Heilandsmysterien“ (a. a. O.: 101) dar. Zur Methode der Heilpädagogik schrieb er: „Bei manchen Heilzöglingen, bei denen der Erfolg von einer ‚Umsinnung‘ (metanoia), von einer Bekehrung abhängt, wird der Heilerzieher vielmals selber schon ganz oder teilweise durch persönliche Opfer stellvertretend Gott Sühne anbieten und so die Überfülle der Gnaden für ihn erringen“ (a. a. O.: 105).
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III Von der Dämonologisierung zur Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins
Mit Blick auf die Seligpreisungen der Bergpredigt135 stellt aber auch umgekehrt der „Heilzögling“ für Bopp eine Verkörperung Christi dar, an dem sich der Heilerzieher für sich ganz persönlich eschatologisches Heil erwirken kann: „Der Heilzögling, auch der Schwachsinnigste, gibt dem Heilerzieher mehr als umgekehrt. Denn er nimmt ihm gleichsam Schuld und Sünde ab. (…) Was wir ihm aushändigen an Gütern, das sieht Gott in Christus sich selbst gegeben an, und er gibt diesen Gaben bei sich Wertbeständigkeit und Zinszuwachs“ (a. a. O.: 113). Weiter zur Methodik: „Der Heilerzieher soll sich in methodischer Hinsicht als persönliches Organ, als personhaftes Instrument in der Hand Gottes fühlen. (…) So wird das Tun des Heilerziehers wie das des Seelenleiters in einem doppelten Sinne zu einem Gottesdienst. Der Bildling wird zum Opfer, der Bildner zum Priester, die Bildung zur Opferhandlung“ (a. a. O.: 116). Ausdrücklich betont Bopp „die heilpädagogische Bedeutung des Exorzismus. Heilpädagogisch bedeutsam ist der Exorzismus. Die Kirche führte frühzeitig ein eigenes Amt, den Exorzistat, ein. Seine Träger hatten die Katechumenen (Taufanwärter) zu exorzieren. Daneben gab es aber immer eine charismatische, von Amt und Weihe unabhängige Begabung bei Männern und Frauen, das Böse zu bannen und zu binden“ (a. a. O: 139).
Angesichts z. B. zahlreicher Behinderteneinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft kann die Bedeutung des Fortbestands des alten Paradigmas kaum zu gering geschätzt werden.
135 Matthäus 5, 3-12; Lukas 6, 20-23.
3 Exkurs: Fortbestand und Bedeutung des überkommenen Paradigmas nach dem Paradigmenwechsel
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IV Mechanistisch-naturwissenschaftliche Erklärungsansätze des Anders-Seins
Wir kehren nun wieder zum neuen Paradigma zurück. Mit dem Ende der Dämonologisierung des Anders-Seins hörte die systematische Hexenverfolgung auf. Dies erfolgte allerdings nicht aufgrund eines Gesetzes, Ediktes oder in Form eines anderen identifizierbaren historischen Ereignisses, die Praxis der Hexenverfolgung schlief allmählich einfach ein. Das letzte Todesurteil wegen Hexerei in Deutschland wurde 1775 in der damals unabhängigen Fürstabtei Kempten vollstreckt, das letzte in Europa 1782, diesmal von reformierten Hexenrichtern in der Schweiz. Das vermeintliche Anders-Sein von Menschen, die von den nunmehr herrschenden Normen abwichen, wurde zunehmend anders, nämlich im Lichte des neuen Paradigmas wahrgenommen und erklärt, die Betroffenen dementsprechend auch anders behandelt. So wie die ganze Welt erscheint nun auch der Organismus von Menschen und Tieren in dem neuen cartesianischen Paradigma. Der „Körper (wird) als eine Maschine angesehen (…), die, durch die Hände Gottes hergestellt, unvergleichlich besser konstruiert ist und bewunderungswürdigere Bewegungen in sich hat als irgendeine, die von den Menschen erfunden werden kann“ (Descartes 2001: 105).
Allerdings überwindet Descartes nicht den Dualismus des überkommenen Paradigmas, welcher sich für ihn vor allem als Leib-Seele-Dualismus darstellt. Das Wesen des Menschen nämlich resultiert für ihn gerade nicht aus dem Körperlichen und es lässt sich auch nicht darauf reduzieren, wie dies z. B. gut 100 Jahre später La Mettrie (2001) behauptet. Für Descartes (2001) ist „die Vernunft – oder der Verstand – (…) das Einzige, was uns zu Menschen macht und von den Tieren unterscheidet“. „Ich denke, also bin ich“ (a. a. O.: 65) ist Descartes’ berühmtes Diktum, das all seinen anthropologischen Überlegungen zugrunde liegt. Daraus schlussfolgert er, „dass ich eine Substanz sei, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur im Denken besteht, und die, um zu sein, keinen Ort benötigt, noch von irgendeinem materiellen Ding abhängt, sodass dieses Ich, d. h. die Seele, durch die ich bin, was ich bin, gänzlich vom Körper unterschieden ist“ (ebd.). Da die „Seele (…) keinesfalls aus dem Potential der Materie resultieren kann“, muss sie „ausdrücklich geschaffen werden“ (a. a. O.: 109).
Diese schroffen Trennung von Seele und Leib und der Leugnung jeder Bedeutung des Leibs für die Seele wirft allerdings ein Problem auf: Sie widerspricht ganz offensichtlich jeder Empirie. Das konnte selbstverständlich auch Descartes nicht verborgen bleiben: „Selbst der Geist hängt so stark von der Gemütsstimmung und der Einrichtung der Organe ab, dass ich, wenn es möglich wäre, ein Mittel zu finden, welches die Menschen ganz allgemein
E. Rohrmann, Mythen und Realitäten des Anders-Seins, DOI 10.1007/978-3-531-93239-2_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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IV Mechanistisch-naturwissenschaftliche Erklärungsansätze des Anders-Seins
weiser und geschickter werden ließe, als sie es bisher gewesen sind, glaube, man müsse es in der Medizin suchen“136 (a. a. O.: 117).
Das Verständnis des menschlichen Organismus als Maschine impliziert neue Ätiologien des Anders-Seins. Erscheinungsformen des Anders-Seins werden dieser neuen Sicht der Dinge entsprechend als „Maschinenschäden“, als Defekte des Organismus oder seiner Teile verstanden, die „repariert“, entfernt oder ausgetauscht werden müssen, wenn sie nicht für irreparabel gehalten werden. Dabei entwickelten sich unterschiedliche Fachdisziplinen mit manchen Überschneidungen, jedoch auch mit zum Teil sehr unterschiedlichen Perspektiven. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich als naturwissenschaftlich ausgerichtet verstehen und folglich versuchen, Anders-Sein als in der auf die skizzierte Weise mechanistisch verstandenen Natur der Betroffenen verankert zu erklären. Mit menschlichem Anders-Sein beschäftigen sich nach dem Paradigmenwechsel vor allem die Biologie und die Medizin. Die Zuständigkeit für die Seele, die jetzt allerdings zumeist mit dem griechischen Wort Psyche bezeichnet wird, geht auf Psychiatrie und Psychologie über, die nun versuchen, sich diesem Phänomen zunehmend naturwissenschaftlich zu nähern. Eine gewisse Sonderstellung nimmt dabei die Psychoanalyse als Psychologie des Unbewussten insofern ein, als sie sich zwar auch als Naturwissenschaft, gegenüber der Bewusstseinspsychologie sogar als die eigentlich naturwissenschaftliche Psychologie (Freud 1938: 80 f.) versteht, menschliches Anders-Sein jedoch nicht unmittelbar, sondern psychodynamisch aus der Natur des Menschen im Kontext seiner vor allem frühkindlichen Umwelt erklärt. 1
Zur Fragmentierung der Menschheit nach Rassen
Das auf Linné zurückgehende und seither vielfach abgewandelte und weiterentwickelte Klassifikationsschema der Lebewesen war, wie gezeigt, der Versuch, Ordnung zu bringen in die durch zahlreiche neue Entdeckungen immer unübersichtlicher werdende lebende Natur. Jedes Lebewesen wurde einem Reich zugeordnet. Ursprünglich wurde zwischen Tier- und Pflanzenreich unterschieden, später differenzierten sich Pilze und Bakterien als eigene Reiche heraus. Die nächste Hierarchieebene ist der Stamm (z. B. Wirbeltiere), es folgen die Klasse (z. B. Säugetiere), die Ordnung (z. B. Primaten, Linné sprach von Herrentieren), die Familie (z. B. die Pongiden oder die Hominiden), schließlich die Art (z. B. Homo sapiens) und bei einigen Arten auch die Unterart (z. B. Homo sapiens sapiens oder Homo sapiens neanderthalensis, so die heutige Klassifikation der menschlichen Unterarten), auf die wir im Zusammenhang mit der Konstruktion menschlicher Rassen noch zurückkommen werden. Es ist ersichtlich, dass die Zuordnungen keineswegs zwingend und auch nicht ausschließlich logisch abzuleiten sind. Wir haben zudem gezeigt, dass auch die heute gebräuchliche Klassifikation nicht stringent von einem einzigen Kriterium ausgeht, sondern von unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechenden, und dass sie z. B. im Bereich der familiären Zuordnung der Primaten auch nicht mehr dem aktuellen Stand wissen136 Descartes versuchte bekanntlich, den Widerspruch zwischen dem von ihm postulierten Dualismus und seinen alltäglichen Erfahrungen durch die Annahme zu überwinden, eine Drüse im Zwischenhirn, die sogenannte Zirbeldrüse oder Epiphyse, würde Körper und Geist bzw. Materie und Bewusstsein miteinander verbinden.
1 Zur Fragmentierung der Menschheit nach Rassen
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schaftlicher Erkenntnis entspricht, sondern einen deutlichen Anthropozentrismus aufweist. Mittels verschiedener, naturwissenschaftlich begründeter Verfahren versuchte man, die Klassifikationen zunehmend auch empirisch abzusichern und zu verfeinern. Zwar herrscht weitgehend Konsens darüber, dass alle heute noch lebenden Menschen einer einzigen Unterart, die sich Homo sapiens sapiens nennt, angehören, jedoch bestand das wissenschaftliche Bedürfnis, auch diese Unterart weiter zu unterteilen. Dazu wurden verschiedene Merkmale, wie Hautfarbe, Körperbau oder der Charakter zugrunde gelegt. Die Anthropometrie klassifizierte die Menschen nach Körperbau und besonderen typischen Körpermerkmalen, die Kraniometrie versuchte durch Schädelvermessung typische Schädelmerkmale herauszufinden, die von Franz Josef Gall (1758-1828) begründete Phrenologie schließlich versuchte Zusammenhänge zwischen Schädel- und Gehirnanatomie und Charaktereigenschaften herzustellen. All diese Verfahren führten zu einer zunehmenden Biologisierung und Pathologisierung menschlichen Anders-Seins. Dabei wird der Charakter der sozialen Konstruktion dieses Anders-Seins in der Regel nicht bewusst, aber faktisch dadurch verschleiert, dass der Vorgang der Klassifikation stets streng naturwissenschaftlich begründet und mit dem Anspruch verbunden wird, Naturwissenschaft werde gewissermaßen außerhalb des kulturhistorischen Kontextes betrieben und sei in der Lage, vom jeweiligen Zeitgeist unberührt, ewige und überzeitliche Wahrheiten zu verkünden.137 So werden mit dem geschilderten Paradigmenwechsel gewissermaßen religiöse durch wissenschaftliche Offenbarungen abgelöst. Dabei kam es unter anderem zur Einteilung der Menschheit nach Rassen und zur Begründung einer menschlichen Rassenlehre als Unterdisziplin der biologischen Anthropologie. Schon der Begründer der Klassifikation der Lebewesen, der Europäer Carl von Linné, unterschied zwischen vier Unterarten der Spezies Homo sapiens und wies ihnen vermeintlich typische Hautfarben, Temperamente und Charaktereigenschaften zu. Er unterschied zwischen dem „Homo (…)
Americanus, rot, cholerisch, aufrecht (…) von Gebräuchen (consuetudine) regiert, Europaeus, weiß, sanguinisch, muskulös (…) von Gesetzen (ritibus) regiert, Asiaticus, gelb, melancholisch, rigide (…) von Meinungen (opinionibus) regiert, Afer, schwarz, phlegmatisch, lax (…) von Willkür (arbitrio) regiert“ (Linné 1758: 20 ff.; deutsch: Linné 1773: 89),
wobei zutreffend hier eher nicht von Differenzierung, sondern von Homogenisierung gesprochen werden sollte, insofern alle in ihrer Erscheinung, Kultur und Lebensweise so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Menschheit vier Gruppen zugerechnet werden, wobei unterstellt wird, dass Herkunft, Hautfarbe, Charakter und andere Eigenschaften stets zusammenfallen. Bereits die Hautfarbe erweist sich als soziales Konstrukt. Die große Vielfalt der unterschiedlichen Hautfarben der Menschen wird auf vier reduziert und pauschal der gesamten Bewohnerschaft der jeweiligen Kontinente zugeschrieben. Bemerkenswert ist auch die Beschreibung der Hautfarbe der Europäer als weiß, obwohl die weiße Haut allenfalls nach dem Tode sichtbar wird, zu Lebzeiten jedoch fast immer in sehr verschiedenen Farbnuancen in Erscheinung tritt und stets von unterschiedlichen Farbkomponenten, wie 137 Marx (1894: 838) bezeichnet diesen Vorgang als „Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Vgl. hierzu auch die Ausführungen über erkenntnistheoretische Kontinuitäten zwischen dem alten und dem neuen Paradigma in diesem Band.
96
IV Mechanistisch-naturwissenschaftliche Erklärungsansätze des Anders-Seins
Rötungen oder zum Teil sogar gezielt herbeigeführten Bräunungen, überdeckt wird. Es fällt auf, dass diejenigen Menschen, und dies waren seinerzeit wie Linné durchweg europäische Männer, die ihre Haut für weiß hielten, welche die Menschen klassifizieren, sich selbst in der Regel für den Normalfall halten, dem sie in der Regel positive Eigenschaften zuschreiben, und den anderen, die ihnen fremd, anders- oder abartig vorkommen, eher negative. Der hier zum Ausdruck kommende Eurozentrismus tritt heute noch in Erscheinung, wenn wir, durchaus auch in der Absicht, diskriminierende rassistische Bezeichnungen zu vermeiden, alle Menschen, die nicht weiß sind, als „Farbige“ zu bezeichnen, so als sei weiß der Normalfall und alles, was davon abweicht, egal wie, farbig. Neben den genannten führte Linné zwei weitere Arten des Homo sapiens auf, zum einen den „Homo Sapiens Ferus“138, den er als „vierbeinig, sprachlos und behaart“ (a. a. O.: 20) charakterisierte, zum anderen den für die Fragestellung dieser Untersuchung besonders interessanten „Homo Sapiens Monstrosus“139, den er wie folgt unterteilte: „Monstrosus
allein (a) missgestaltet (b, c) a. Alpini140
klein, gewandt, furchtsam.
Patagonici141
groß, träge.
b. Monorchides142 daher weniger fruchtbar: Hottentotten. Junceae143
Mädchen mit magerem Unterleib: Europäer. 144
mit kegelförmigem Kopf: Chinesen.
145
mit vorne eingedrücktem Gesicht: Kanadier“ (aaO:22).
c. Macrocephali
Plagiocephali
Johann Friedrich Blumenbach, der, wie schon gezeigt, Linnés System modifiziert und dem Menschen eine eigene, exklusive Ordnung zugewiesen hatte, veränderte auch die Differenzierung innerhalb der Ordnung. Als Anhänger der Schöpfungstheorie stellt er zunächst klar: „Es giebt nur eine Gattung im Menschengeschlecht; und alle Menschen aller Zeiten und Himmelsstriche können von Adam abstammen. Die Verschiedenheiten in Bildung und Farbe der menschlichen Körper werden blos durch Clima, Nahrung, Lebensart u. s. w. bewirkt; da der Mensch kein Privilegium hat, warum er nicht auch, wie jeder andere organisirte Körper, (…) wie eine Taube oder wie eine Tulpe ausarten sollte? So brennt die Sonnenhitze die Mohren schwarz, und macht sie kraushaarig; so wie hingegen die Kälte in Nordischen Zonen weisse Farbe und kleine Statur hervorbringt. Alle diese Verschiedenheiten fliessen so unvermerkt zusammen, daß sich eigentlich keine bestimmte Grenzen zwischen ihnen festsetzen lassen; doch 138 Deutsch: wild, roh, brutal. Offensichtlich meint Linné damit einige derjenigen Arten, die später von Blumenbach aus der Familie „Homo“ verbannt und seither der für sie neu gegründeten Familie der Pongiden („Pan“) zugerechnet werden. Auch den Orang-Utan ordnet Linné der Familie „Homo“ zu, allerdings, im Gegensatz zum „Ferus“ nicht dem Homo sapiens. Er bezeichnet ihn als „Homo Troglodytes“ (zu Deutsch: Waldmensch). 139 Deutsch: widernatürlich, unnatürlich, scheußlich. 140 Alpenbewohner 141 Patagonici: wörtlich: Großfüße, gemeint sind die Eingeborenen Patagoniens, das im Süden des heutigen Argentiniens liegt, die von den spanischen Einwanderern als Riesen mit großen Füßen beschrieben wurden, tatsächlich im Durchschnitt eine Körpergröße von ca. 1,80 Metern aufweisen. 142 Männer mit nur einem Hoden. 143 Schlanke, Dürre. 144 Großköpfige. 145 Wörtlich: mit gestohlenen Köpfen.
1 Zur Fragmentierung der Menschheit nach Rassen
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haben wir das Menschengeschlecht am füglichsten unter folgende fünf Varietäten zu bringen geglaubt; 1. Die ursprünglichste und größte Race begreift erstens alle Europäer, (…) sodann die Asiaten, die disseits des Obi, des Caspischen Meeres, des Gebürges Imaus und des Ganges, wohnen: ferner die Nordafrikaner: und endlich die Grönländer und Eskimos, die gänzlich von den übrigen Amerikanern verschieden sind, und wahrscheinlich auch von den Finnen abstammen. Alle diese Völker sind mehrentheils von weisser Farbe, und nach unseren Begriffen von Schönheit die best gebildesten Menschen. 2. Die übrigen Asiaten, jenseits des Obi, Ganges etc. Sie sind meist gelbbraun, dünnbehaart, haben platte Gesichter und kleine Augen. 3. Die übrigen Afrikaner: von schwarzer Farbe mit wollichten Haar, stumpfen Nasen und aufgeworfenen Lippen. 4. Die übrigen Amerikaner: von kupferrother Farbe. 5. Die Australasiaten und Polynesen; oder die Südländer des fünften Welttheils; dazu man auch wol die Bewohner der Sundaischen Inseln, der Molucken, Philippinen u. s. w. zälen könnte. Sie sind meist schwarzbraun, breitnasig, und starkbehaart“ (Blumenbach 1779: 62 ff.).
Die Aufnahme einer Unterart Homo monstrosus lehnt Blumenbach ab, zum Teil, weil er sie für Entartungen der Natur und nicht für Produkte der göttlichen Schöpfung hält, zum Teil, weil er schlicht ihre Existenz bestreitet.146 „Die in Wildnis unter Thieren erwachsenen Kinder sind klägliche sittliche Monstra, die man eben so wenig, als die Cretins oder andere durch Zufall entstellte Menschen, zum Muster des Meisterstücks der Schöpfung anführen darf. Geschwänzte Völker, von Natur aus geschürzte Hottentottinnen, von Natur unbärtige Amerikaner, Syrenen, Centauren, und alle Fabeln von gleichem Schrot und Korn, verzeihn wir der Leichtgläubigkeit unsrer lieben Alten“ (a. a. O.: 64).
Für Hans F. R. Günther, mit dem wir uns später noch eingehender zu beschäftigen haben und der zur Zeit der NS-Herrschaft in Deutschland zu den bedeutendsten Rassentheoretikern zählte, war Blumenbach „der Erste (…), der eigentlich die neuzeitliche Menschenkunde mit seinen Werken begründete (…) . Mit ihm, vor allem mit seinen Darstellungen der Verschiedenheiten der Schädelformen, seinen Beschreibungen von Rassenschädeln, seinem Versuch einer Einteilung der Menschenrassen, war die Menschenkunde nahe daran, in die Reihe der neuzeitlichen Wissenschaften einzurücken. Doch hat erst Kant die Rassenkunde als eine selbständige Wissenschaft erkannt und ihre Stellung als eine eigenständige Wissenschaft begründet“ (Günther 1926: 17).
1.1 Von edlen Europäern und primitiven „Eingeborenen“ Günther beruft sich nicht zu Unrecht auf Immanuel Kant (1724-1804). Tatsächlich hat auch dieser große Philosoph der Aufklärung147 maßgeblich zur Grundlegung der Rassenlehre 146 Hier ist zu berücksichtigen, dass Linnés Klassifikation sich nicht nur, nicht einmal in erster Linie auf eigene Beobachtungen, sondern auch auf einschlägige Berichte, vor allem Reiseberichte stützt. 147 Spätestens mit Kant, weitere Beispiele aus seinem Werk werden dies zeigen, begann also der Vorgang, den Horkheimer & Adorno (1969) in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ als „rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung (a. a. O.: 1) durch „pragmatisierendes“ (a. a. O.: 3) und „fragmentierendes“ (Capra 1996: 332 f.) Denken bezeichnen, durch die sie in einen diametralen Widerspruch zu ihrer Grundintention geraten ist, welche Kant (1784: 35) als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ bezeichnet hat.
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und des Rassenbegriffs und dabei vor allem auch zur Abwertung der nicht-europäischen Rassen beigetragen (vgl. Kant 1785). Ja, die Rassenkunde und der daraus hervorgegangene Rassismus können durchaus als ein Projekt der Aufklärung verstanden werden. Kant war davon überzeugt: „Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume148 fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein Neger Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter den hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel empor schwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben. So wesentlich ist der Unterschied zwischen diesen zwei Menschengeschlechtern, und er scheint eben so groß in Ansehung der Gemüthsfähigkeiten, als der Farbe nach zu sein. Die unter ihnen weit ausgebreitete Religion der Fetische ist vielleicht eine Art von Götzendienst, welcher so tief ins Läppische sinkt, als es nur immer von der menschlichen Natur möglich zu sein scheint. (…) Die Schwarzen sind sehr eitel, aber auf Negerart und so plauderhaft, daß sie mit Prügeln müssen aus einander gejagt werden“ (Kant 1764: 253).
In zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Notizen seines handschriftlichen Nachlasses äußerte er sich noch unverblümter: „Der Neger kan disciplinirt und cultivirt, niemals aber ächt civilisirt werden. Er verfällt von selbst in die Wildheit. Alle racen werden ausgerottet werden (Amerikaner und Neger können sich nicht selbst regiren. Dienen also nur zu Sclaven), nur nicht die der Weissen. Hartnäckigkeit der Indianer bey ihren Gebräuchen ist Ursache, daß sie nicht in ein Volk mit den Weissen zusammen schmeltzen“ (Kant: o. J. a: 878).
Ausgehend von der Evolutionstheorie149 und der Erkenntnis des hohen Verwandtschaftsgrades von Affen und Menschen entwickeln sich im 19. und 20. Jahrhundert verschiedene Lehren von den menschlichen Rassen, zum Teil mit variierenden Anzahlen von Rassen, die bei allen Unterschieden, ganz in der Tradition Kants, den Abstand zwischen den weißen Europäern und den sogenannten primitiven, außerhalb Europas beheimateten Rassen immer größer und denjenigen zwischen den als primitiv bezeichneten Rassen und Tieren immer geringer werden lassen. In seinem Buch „Die Welträtsel“, in dem er sich unter anderem mit der Abstammungsgeschichte des Menschen befasst, schrieb der bekannte Mediziner und Anatom, seit 1905 Ehrenmitglied der im selben Jahr gegründeten Gesellschaft für Rassen148 Gemeint ist der Philosoph David Hume (1711-1776), der 1753 in einer Fußnote schrieb „Ich hege den Verdacht, daß die Neger und allgemein alle anderen Menschenrassen (denn es gibt vier oder fünf verschiedene Arten) den Weißen von Natur aus unterlegen sind. Es gab noch nie eine zivilisierte Nation von anderer Hautfarbe als der weißen oder auch einen einzelnen von Bedeutung in Tat oder Spekulation. Keine erfindungsreichen Manufakturen bei ihnen, keine Künste, keine Wissenschaften“ (Hume 1988:165, Fn. 13). 149 Soweit sich die Rassenlehren auf die Evolutionstheorie berufen, ist klarzustellen, dass sie sich damit zumindest in einen Gegensatz zu Darwin (1871: 194) setzen. Für ihn „(ist) das gewichtigste aller Argumente gegen die Betrachtung der Rassen des Menschen als distincter Species (…), daß sie gradweise in einander übergehen und zwar, so weit wir es beurtheilen können, in vielen Fällen unabhängig davon, ob sie sich miteinander gekreuzt haben oder nicht“. Deswegen, so fährt er fort „(ist) es kaum möglich (…), scharfe Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen [den menschlichen Rassen] aufzufinden“ (a. a. O.: 195).
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hygiene, Ernst Haeckel (1999: 60), der schon 1868 eine „natürliche Schöpfungsgeschichte“ vorgelegt hatte: „Der Unterschied zwischen der Vernunft eines Goethe, Kant, Lamarck, Darwin und derjenigen des niedersten Naturmenschen, eines Wedda, Akka, Australnegers und Patagoniers, ist viel größer als die graduelle Differenz zwischen der Vernunft dieser letzteren und der ‚vernünftigsten’ Säugethiere, der Menschenaffen (Anthropomorpha) und selbst der Papstaffen (Papiomorpha), der Hunde und Elephanten.“
Ein besonders prägnantes Beispiel einer abwertenden rassistischen Konstruktion von Anders-Sein, die sich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gehalten hat, sind die sogenannten Hottentotten, deren Klassifizierung den Rassenforschern bis in die 1990er Jahre immer wieder Schwierigkeiten bereitete. Hottentotten gibt es genauso wenig oder genau in dem Sinne wie z. B. Hexen. Unter dieser Bezeichnung wurden seinerzeit, zunächst von Reisenden und Kaufleuten, später von den eindringenden europäischen Siedlern, umstandslos und völlig willkürlich die Volksgruppen, die ursprünglich in Südwestafrika und in der Kapregion lebten, aufgrund letztlich belangloser äußerer Merkmale, die der europäischen Wahrnehmung besonders ins Auge fielen, fremd vorkamen und fortan für typisch für diese vermeintliche Rasse gehalten wurden, zusammengefasst und homogenisiert. Sie selbst nennen sich Khoi150. Die diffamierende und bis heute noch verbreitete Bezeichnung geht letztlich auf eine spezifische Besonderheit der unter diesen Bevölkerungsgruppen verbreiteten Sprachen zurück, wie dies ganz unbefangen der Rassenforscher Karl Saller noch 1969 lehrt: „Die Hottentotten haben ihren Namen, weil den Buren ihre Sprache mit Schnalzlauten wie Stottern erschien“ (Saller 1969: 77). Es liegt auf der Hand, dass die biologisch-naturwissenschaftlich begründeten sozialen Konstruktionen menschlicher Rassen mit unterschiedlicher Wertigkeit – ganz oben die, die klassifizieren, die sich aufgeklärt wähnenden Europäer und ganz unten, näher bei den Tieren als bei den Europäern, diejenigen, die man unterjochen, unterwerfen, ja ausrotten will – eine hervorragende legitimatorische Basis für die damalige imperialistische Eroberung außereuropäischer Kontinente durch die europäischen Imperialmächte waren. Die Praxis im Umgang mit den nicht europäischen menschlichen „Rassen“ entsprach folglich auch eher dem Umgang mit Tieren als demjenigen der Bewohner der europäischen Länder untereinander. Das betrifft nicht nur die Art und Weise der Eroberung der außereuropäischen Kolonien, bei der die dort lebenden Menschen durchweg nicht als rechtmäßige Einwohner ihrer Länder betrachtet wurden, sondern als „Wilde“, die ähnlich wie dort lebende Tiere, die die Einwanderer störten, vertrieben, notfalls auch, ja teilweise massenhaft, ermordet wurden. Viele wurden gefangen und galten fortan als rechtmäßiges Eigentum der Kolonialherren, die sie gefangen genommen hatten. Sie konnten wie Vieh als Sklaven verkauft werden und gehörten dann ihren Käufern, die mit ihnen nahezu machen konnten, was sie wollten. In den Vereinigten Staaten von Amerika wurde die Sklaverei 1641 auf eine gesetzliche Grundlage gestellt und erst 1865 unter Abraham Lincoln (1809-1865) wieder aufgehoben. Nach Amerika wurden afrikanische Sklaven geradezu massenhaft importiert und vor allem als Landarbeiter auf den Plantagen der Südstaaten zum Einsatz gebracht. Manche wurden auch für die Durchführung medizinischer Experimente benutzt.
150 Dabei ist zu betonen, dass „Khoi“ im Gegensatz zu „Hottentotten“ und auch zu dem Begriff „Khoisaniden“, mit dem die Rassenforschung zum Teil auch operiert, eine ethnische, keine rassische Bezeichnung darstellt.
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„1845 begann Sims151 seine inzwischen legendär gewordenen chirurgischen Versuche an Sklavinnen: Anarcha, Betsy und Lucy. Nachdem die ersten vierzig Versuche misslangen, arbeitete Sims hartnäckig an einer zufrieden stellenden Methode bei der Behandlung von Vesikovaginalfisteln152, die er dank drei Faktoren erreichte: 1. der Naht mit Silberfäden, 2. der wieder entdeckten Knieellenbogenlage und 3. dem Vaginalspekulum, dem später sein Name beigefügt wurde“ (Toellner 1992: 1285).
Ingeborg Dittmer (1983: 16) berichtet in ihrer Hommage zum 100. Todestag von Sims: „Diese Experimente verliefen über drei, ja sogar vier Jahre, und er behielt alle diese Negersklaven auf eigene Kosten. (…) Bald flüsterte man in der Gesellschaft, daß er Patienten für seine Versuche einer unbewiesenen Theorie benutzte. Die betroffenen Frauen selbst [Sklavinnen, wohlgemerkt] klagten und beschwerten sich nicht und ertrugen immer wieder jeden neuen Operationsversuch mit großer Ausdauer.“
Abb. 7: Sarah Baartmann (ca. 1789-1815), ausgestellt als „Hottentotten-Venus“ (zeitgenössisches Plakat)
Manche „Eingeborene“, wie man sie nannte, wurden auch nach Europa deportiert und dort in sogenannten Völkerschauen als „Wilde“ dem europäischen Publikum wie exotische Tiere auf Jahrmärkten, im Zirkus oder in zoologischen Gärten zur Schau gestellt. Manchmal wurden ganze Dörfer fremder Kulturen nachgestellt und mit „Originalbewohnern“ peubliert.153 Zu trauriger Berühmtheit gelangte in diesem Zusammenhang eine junge Frau, die 1810 von einem englischen Arzt aus Südafrika zuerst nach London, später nach Paris verschleppt wurde (Abb. 7; hierzu ausführlich: Badu 2001). Ihr Besitzer154 gab ihr, die in ihrer Sprache vermutlich den Namen Satchwe hatte, den bürgerlichen Namen Sarah Baartman und stellte sie als „Hottentotten-Venus“ dem zahlenden Publikum in einem Käfig zur Schau. Fünf Jahre nach ihrer Deportation nach Europa, im Dezember 1815, starb die Frau in Paris, vermutlich an einer Lungenentzündung. Ihre sterblichen Überreste beschaffte sich der Anatom Georges
151 „James Marion Sims (1813-1883) (…) wurde durch seine bahnbrechende Operationsmethode der Blasenscheidenfistel (…) zum Mitbegründer der modernen Gynäkologie, zugleich aber auch in Europa so anerkannt und berühmt wie wohl kaum ein anderer amerikanischer Arzt des vorigen [19.] Jahrhunderts“ (Dittmer 1983: 2). 152 Durchbruch zwischen Harnblase und Scheide. 153 Eine an den Exotismus der Völkerschauen des 19. Jahrhunderts erinnernde Veranstaltung fand übrigens zuletzt vom 9. bis zum 12. Juni 2005 im Augsburger Zoo unter der Bezeichnung „African Village“ statt. „Ein Zoobesuch mit Überraschung: Für vier Tage entsteht im Augsburger Tierpark ein afrikanisches Dorf. Um eine einmalige afrikanische Steppenlandschaft gruppieren sich Kunsthandwerker, Silberschmiede, Korbflechter, Zöpfchenflechter“ (zit. nach Frankfurter Rundschau vom 27.05.2005). So lautete der offizielle Werbeprospekt, als ließe sich die kulturelle Vielfalt des afrikanischen Kontinents anhand eines einzigen Dorfes darstellen, das für ganz Afrika typisch ist. Vier Tage lang konnten Zoobesucher neben WatussiRindern, Giraffen und Schimpansen auch original afrikanische Handwerker bei ihrer Arbeit besichtigen. 154 Formal lebte sie freiwillig in Europa, denn sowohl in Großbritannien als auch in Frankreich war seinerzeit die Sklaverei bereits verboten, erlaubt war sie allerdings in den britischen und französischen Kolonien.
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Cuvier, den wir bereits als gottesfürchtigen Mann und Begründer der Katastrophentheorie kennengelernt haben. Nachdem sie während der letzten fünf Jahre ihres Lebens als Objekt der Belustigung für das gemeine Volk gedient hatte, machte er ihre Leiche zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen. Wie schon das geifernde Publikum interessierte er sich insbesondere für den für europäische Maßstäbe ungewöhnlichen Körperbau der Frau, vor allem ihren sogenannten Hottentottensteiß, für die Anatomie ihres Gehirns sowie ihrer Genitalien. Nachdem er einen Gipsabdruck der Leiche hatte fertigen lassen, führte er eine Obduktion durch. Ihr Skelett wurde präpariert, ihr Gehirn und ihre Genitalien in Formaldehyd konserviert. Gipsabdruck, Skelett, Gehirn und Genitalien der Frau stellte er öffentlich zur Schau. Noch bis 1974 konnten diese Exponate im Pariser Musée de l’Homme besichtigt werden. Erst dann wurden die sterblichen Überreste der Frau, nicht jedoch der Gipsabdruck, aus der öffentlichen Ausstellung herausgenommen. Nach der Überwindung des Apartheid-Regimes in Südafrika hat sich die dortige Regierung um eine Überführung der sterblichen Überreste Sarah Baartmans bemüht. Am 10. August 2002 konnte sie endlich in dem südafrikanischen Ort Hankey begraben werden. An den Genitalien der Frau fanden Cuvier und seine zeitgenössischen Wissenschaftlerkollegen insbesondere die im Vergleich zu europäischen Frauen deutlich längeren kleinen Schamlippen bemerkenswert, was man für ein typisches Merkmal von Frauen, die man damals Hottentotten nannte, hielt. So fand dieses Phänomen, das erstmals von dem französischen Pathologen Jean Cruveilhier (1791-1874) beschrieben worden sein soll, Eingang in die zeitgenössische wissenschaftliche Literatur unter der Bezeichnung „Hottentottenschürze“, die uns auch noch an anderen Stellen begegnen wird.155 Noch bis zur 154.-184. Auflage des wohl am weitesten verbreiteten medizinischen Wörterbuchs Pschyrembel (1964: 371) fand sich der Eintrag „Hottentottenschürze: Schürzenart(ige) Verlängerung d(er) kleinen Schamlippen, häufig b(ei) Hottentottinnen“. Das 1956 in der DDR erschienenen Wörterbuch der Medizin (Zetkin 1956: 380) erläuterte unter diesem Stichwort: „Abnorme Vergrößerung der kleinen Schamlippen“. Auch der Anthropologe und Rassenbiologe Karl Saller (1902-1969), ein entschiedener Kritiker übrigens der Rassenlehre von Günther (1930, 1933, 1938)156, welche die wissenschaftliche Grundlage der Rassenpolitik während der NS-Herrschaft darstellte, stellte heraus: „Der Fettsteiß und die Verlängerung der kleinen Schamlippen sind bei den Hottentottenfrauen noch stärker ausgebildet als bei den Buschmann- und Akkafrauen. Der besonders auffällige Hottentottensteiß entwickelt sich schon bei jungen Mädchen, nimmt dann mit Eintritt der Geschlechtsreife beträchtlich zu und wird durch eine eintretende Schwangerschaft noch erheblich gesteigert. Es handelt sich also dabei bis zu einem gewissen Grad um ein sekundäres Geschlechtsmerkmal“ (Saller 1949: 83 f.).
Noch 1996 lehrte der Direktor des Instituts für Humanbiologie in Hamburg, Rainer Knußmann:
155 Schon Immanuel Kant (1802: 315) wusste übrigens: „Unter den Hottentotten haben viele Weiber, wie Kolbe [Völkerkundler, 1681-1746] berichtet, ein natürliches Leder am Schambeine, welches ihre Zeugungstheile zum Theil bedeckt, und das sie bisweilen abschneiden sollen.“ 156 Wegen seiner Kritik an Günther verlor Saller 1935 sogar seine Anstellung und Lehrbefugnis an der Universität Göttingen.
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„Die Buschmänner (Buschleute) lassen sich unter morphologischen und serogenetischen Gesichtspunkten mit den weniger spezialisierten Hottentotten zur Rassengruppe der Khoisaniden157 zusammenfassen. (…) Als Eigenheiten sind zu nennen: Tendenz zur Achselständigkeit der Brüste, insbesondere bei Frauen Steatopygie, d. h. starke Fettauflagerung in der Gesäßgegend (Fettsteiß)158 bei extrem starker Lendenlordose, besondere Größe der kleinen Schamlippen (‚Hottentottenschürze’, mitunter durch Manipulation verstärkt), kleiner, fast waagerecht stehender Penis, Hottentottenfalte am Auge“ (Knußmann 1996: 437).
Wir befinden uns hier bereits im Übergang zu der im folgenden Abschnitt abzuhandelnden Form biologistischer Konstruktion von Anders-Sein, nämlich dem Sexismus, von dem uns mit diesem Beispiel eine ganz besondere, rassistisch gefärbte Variante vorliegt. Mit der Entdeckung der Regeln der Vererbung durch Johann Gregor Mendel (18221884) in den 1860er Jahren und deren Bestätigung durch die Chromosomentheorie der Vererbung durch die Biologen Theodor Boveri (1862-1915) und Walter Stanborough Sutton (1877-1916) zu Beginn des 20. Jahrhunderts rückte die Frage nach den Rassenkreuzungen auch beim Menschen in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. 1913 legte der Mediziner und Anthropologe Eugen Fischer (1874-1967) die Ergebnisse einer groß angelegten und von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften unterstützten ethnografische Studie über „das Bastardisierungsproblem beim Menschen“159 vor, die sich intensiv mit einer abgegrenzten „Bastardpopulation“ im damaligen deutschen „Schutzgebiet“ Deutsch-Südwestafrika befasst. Infolge des ungleichen Geschlechterverhältnisses unter den niederländischen Buren, die im 19. Jahrhundert in die südafrikanische Kapregion eindrangen – es gab unter ihnen wesentlich mehr Männer als Frauen –, heirateten zahlreiche Buren Frauen aus der dort einheimischen Bevölkerung. Fischer zeigt dafür durchaus Verständnis, denn „sie haben in der Jugend oft wirklich hübsche Züge und Gestalten, so hässlich alte Hottentottinnen sind“ (Fischer 1913: 19). Kam der Sohn einer solchen Verbindung ins heiratsfähige Alter, stand er allerdings vor einem Problem: „Da er reinweiße Mädchen nicht bekam, nahm er lieber seinesgleichen, d. h. Bastardmädchen, als reine Hottentotten; der Sohn des mit einer Hottentottin lebenden Buren nahm die entsprechende Tochter des Nachbarn, es heiratete Bastard mit Bastard (zwei Bastarde I. Grades) und erzeugten eine neue Bastardgeneration (Bastarde II. Grades). Und eine große Fruchtbarkeit sorgte dafür, daß dieses Volk rasch wuchs“ (a. a. O.: 20 f.).
Ob möglicherweise die Töchter dieser Eltern ähnliche Probleme hatten, erörterte Fischer an dieser Stelle nicht. Jedenfalls entstand so eine „Bastardpopulation“, wie man sie nannte, gewissermaßen zwischen einerseits der angestammten Bevölkerung, von der sie sich abgrenzte, und den europäischen Siedlern, die ihrerseits die Mischlingsbevölkerung ablehnten und nicht als ihnen zugehörig anerkannten. Einer Gruppe von etwa 300 dieser Menschen gelang es schließlich, sich 1870 in Deutsch-Südwestafrika niederzulassen und in Rehoboth,
157 An dieser Stelle findet sich im Original eine Fußnote mit folgendem Wortlaut: „khoi = Eigenbenennung der Hottentotten; san = hottentottischer Name der Buschmänner“. 158 Knußmann als Biologe sollte eigentlich wissen, dass es sich hier nicht primär um Fett-, sondern um Muskelgewebe handelt. 159 So lautete der Untertitel.
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im heutigen Namibia, die „Nation der Bastards“ (a. a. O.: 29) zu begründen.160 Dort führte Fischer akribisch seine Untersuchungen durch. Es ist hier weder der Raum noch im Hinblick auf die Fragestellung dieser Untersuchung von Interesse, die einzelnen Ergebnisse darzustellen. Interessant hingegen sind die Schlussfolgerungen, die er zieht, insbesondere hinsichtlich der rassenmäßigen Zuordnung dieser Menschen. „Soll man diese Bastards, von denen viele über großes Vermögen verfügen, dauernd als Eingeborene betrachten? Meiner festen Überzeugung nach unbedingt: ja! (…) Das Bastardvolk ist zwar (…) wirtschaftlich (…) jedem Eingeborenenstamm überlegen. Aber dem Weißen gegenüber würde es keine Konkurrenz aushalten können“ (a. a. O.: 301). Entscheidender noch ist folgender Aspekt: „Wenn die Bastards irgendwie dem Weißen gleichgesetzt werden, kommt unweigerlich Hottentottenblut in die weiße Rasse. (…) Noch wissen wir nicht sehr viel über die Wirkung der Rassenmischung. Aber das wissen wir ganz sicher: Ausnahmslos jedes europäische Volk (einschließlich der Töchtervölker Europas), das Blut minderwertiger Rassen aufgenommen hat – und daß Neger, Hottentotten und viele andere minderwertig sind, können nur Schwärmer leugnen –, hat diese Aufnahme minderwertiger Elemente durch geistigen, kulturellen Niedergang eingebüßt“ (a. a. O.: 302).
Zwar seien nach den Mendel’schen Gesetzen auch „hochwertige“ Mischlinge zu erwarten, „aber ebenso ganz wertlose Individuen sind zu erwarten und das Gros als minderwertig. (…) Wenn auch nur (…) die bloße Möglichkeit bestände, daß Bastardblut unsere Rasse schädigt (…), muß jede Aufnahme verhindert werden. Ich halte diese Sachlage für so absolut klar, daß ich einen anderen Standpunkt eben nur als den vollkommenster biologischer Unkenntnis ansehen kann. Auf die ethische Seite, auf die rechtliche Seite der Frage wie das im einzelnen zu regeln ist, brauche ich hier nicht einzugehen – hier handelt es sich geradezu um den Bestand – ich sage das in vollem Bewußtsein – unserer Rasse, das muß in jeder Beziehung der oberste Gesichtspunkt sein, da haben sich eben ethische und rechtliche Normen darnach zu richten – oder aber – falls man das als Unrecht gegen die farbige Bevölkerung empfindet – weg mit der ganzen Kolonisation, denn die ist natürlich von einem ewigen Friedens- und Gleichheitsstandpunkt Unrecht, glücklicherweise herrscht nicht dieser, sondern eine gesunde Expansionskraft des Stärkeren“ (a. a. O.: 303). Fast sentimental bekannte Fischer, es könne „kaum jemanden geben, dem unser Bastardvölkchen so ans Herz gewachsen ist, wie (ihm) (…). Trotzdem das ausgesprochene Votum: es sind Eingeborene und müssen solche bleiben und nie sollte einer oder eine aufgenommen werden in unsere Rasse“ (a. a. O.: 304).161
Die hier zitierte Studie war die wissenschaftliche Grundlage und Legitimation für um die Jahrhundertwende einsetzende rassenhygienische Maßnahmen und eine posthume Rechtfertigung für das schon einige Jahre vor ihrem Erscheinen in Deutsch-Südwestafrika erlassene Verbot sogenannter Mischehen. Rassenhygiene in enger Kooperation mit der noch später abzuhandelnden Eugenik prägten seit der Jahrhundertwende die rassenbiologischen und 160 Diese existiert noch heute, von 1979 bis zur Unabhängigkeit Namibias 1990 mit dem Status eines Homelands. Seither kämpfen die „basters“, wie sie sich selbstbewusst nennen, für die Unabhängigkeit des von ihnen besiedelten Gebiets. Sie betreiben eine Internetpräsenz unter http://www.rehobothbasters.org/. 161 Noch 1996 findet sich in dem anthropologischen Lehrbuch von Rainer Knußmann (1996: 437) der Eintrag: „Im zentralen Namibia weitgehend homogenisierte Mischlingspopulation der ‚Rehobother Bastards’ (zurückgehend auf Hottentotten-Frauen und Buren-Männer)“.
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anthropologischen Diskurse, welche zunehmend Einfluss auf rassenpolitische Zielsetzungen gewinnen konnten, wobei neben die Sorge um die Vermischung mit fremdrassischem Erbgut diejenige um die Zunahme minderwertigen Erbgutes in der eigenen Rasse trat. Die Rassenlehren differenzierten immer mehr Subgruppen heraus, wobei sich schließlich nach 1933 mit massiver Unterstützung der NS-Regierung die Auffassung des schon erwähnten Friedrich Karl Günther (1891-1968), seit 1930 Professor für Sozialanthropologie an der Universität Jena,162 durchsetzte, die in der Folgezeit auch Eingang in alle einschlägigen Biologie-Bücher für den Schulunterricht fand. Entsprechend wurde auch das 1904 erstmalig von Otto Schmeil (1860-1943), dem bekannten Autor biologischer Unterrichtswerke – die auch noch nach der Befreiung Deutschlands lange weit verbreitet waren – verfasste Werk „Der Mensch“ in der Reihe „Schmeils Naturwissenschaftliches Unterrichtswerk“ mit dem Untertitel „Grundzüge der Menschenkunde und Gesundheitslehre“ überarbeitet. Für die 85. Auflage „(fand sich) auf die Bitte des Verlages und der Herausgeber hin (…) Herr Studienrat Dr. Eichler (…) freundlichst bereit, die Fortführung des ‚Menschen’ zu übernehmen“ (Schmeil 1936: IV). Die Neuauflage „bringt außer der vollständigen Überarbeitung vor allem die Eingliederung der für den menschenkundlichen Unterricht ganz besonders wichtigen Lehrgegenstände Vererbungslehre, Rassenhygiene, Familienkunde und Bevölkerungspolitik. Über ihre Bedeutung im Dienst der nationalsozialistischen Erziehung braucht an dieser Stelle nichts gesagt zu werden“ (Eichler 1936: V).
Angefügt wurde ein Kapitel unter der Überschrift: „Der Mensch als Glied seines Volkes“. Dort heißt es in dem Unterkapitel: „Rassenkunde des Menschen“: „Zwischen Europäern, Mongolen und Negern bestehen schon in der äußeren Erscheinung (z. B. Hautfarbe, Haarform und Gesichtsschnitt so auffallenden Unterschiede, daß man sie sofort als Angehörige der großen Rassenkreise der Menschheit erkennt, die man als weiße oder ‚europäide’ als gelbe oder ‚mongoloide’ oder als schwarze oder ‚nigritische’ Rasse bezeichnen kann“ (Schmeil & Eichler 1936: 158). Innerhalb dieser Rassenkreise finden sich „gewisse Bevölkerungsgruppen, die sich durch bestimmte körperliche und geistige Merkmale von anderen Gruppen unterscheiden und diese Merkmale auf ihre Nachkommen vererben. Solche Gruppen eines Kreises nennt man Rassen. Die Rasseneinteilung ist also ein biologischer Begriff ähnlich den aus der Pflanzen- und Tierkunde bekannten ‚Rassen’, ‚Arten’, ‚Gattungen’, ‚Familien’, ‚Ordnungen’ usw. (a. a. O.: 158 f.).
Er zitierte Günther (1938: 11)163: „‚Eine Rasse ist also eine in sich erbgleiche Menschengruppe’ (Günther)“ (a. a. O.: 159). Die Entstehung der Rassen erklären Schmeil & Eichler unter Berufung auf, aber, wie dargelegt, im Gegensatz zu Darwin mit dem Prinzip der natürlichen Zuchtwahl aufgrund von Habitatanpassungen (ebd.). Als Merkmale zur Unterscheidung der Rassen dienten vor allem Hautfarbe, Haarform und die Form des Schädels.
162 Günther, von 1935-1940 Professor für Rassenkunde und Völkerbiologie in Berlin und von 1940-1945 in Freiburg, galt in den USA auch nach dem Krieg noch als gefragter Rassenspezialist, dessen Rassenlehren u. a. zur Legitimierung der dort bis Ende der 1960er Jahre gesetzlich verankerten Rassentrennung dienten. 1953 wurde er korrespondierendes Mitglied der 1948 gegründeten „American Society of Human Genetics“. Zur Geschichte der Begriffe „Rasse“ und „Ethnizität“ in der amerikanischen Soziologie vgl. Bös 2005. 163 Er muss natürlich aus einer früheren Ausgabe dieses erstmals 1929 erschienenen Bandes zitiert haben (ähnlich schon Günther 1926: 14; 1930: 12; 1933: 14).
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„Um vergleichbare Werte zu erhalten, mißt man mit Zirkeln besonderer Bauart (…) die größte Länge und die größte Breite des Schädels (bzw. Kopfes) und drückt diese in Prozenten der größten Länge aus. Den Wert größte Breite X 100 größte Länge nennt man den Längen-Breiten-Index“ (a. a. O.: 161). In gleicher Weise wird auch das Verhältnis von Gesichtsbreite und Höhe vermessen. Allerdings, schränken die Autoren ein, dürfe „die Zuordnung eines Menschen zu einer Rasse nicht nach einigen wenigen Merkmalen erfolgen (etwa gar allein nach den oben genannten Indices!)“ (a. a. O.: 163).
Letztlich gibt es nur ein Kriterium, das zuverlässig die Unterscheidung von verschiedenen Rassen erlaubt: „Sicherstes Kennzeichen einer Rasse ist die charakterlich-seelische Haltung und die geistigkulturelle Leistung ihrer Angehörigen! (…) Das deutsche Volk setzt sich hauptsächlich aus 6 Rassen zusammen, die man als nordische, fälische, westische, dinarische, ostische und ostbaltische Rasse bezeichnet“ (ebd.),
und für die jeweils bestimmte, in der Tendenz eher positive Charaktereigenschaften typisch sind und unter denen die nordische Rasse die bedeutsamste und wertvollste ist.164 In Reinform treten diese Rassen allerdings nur noch selten auf, was allerdings eher von Vor-, als von Nachteil ist, denn „die in den einzelnen Rassenbestandteilen unseres Volkes vorhandenen Erbwerte ergänzen sich vielfach in der günstigen Weise und bedingen dadurch die Vielseitigkeit und Höhe der Leistungen, durch die das deutsche Volk sich auszeichnet“ (a. a. O.: 165 f.).
Anders sieht es dagegen aus, wenn sich „Rassen und Rassenkreise, die einander wesensfremd sind“ (a. a. O.: 166) miteinander vermischen. Dann kommt es zu Nachkommen, zu Mischlingen mit durchweg minderwertigen Erbanlagen. „Durch Eroberungszüge fremder Völker (…) und durch Kriege, die (…) deutschen Boden zum Tummelplatz fremder und vielfach auch fremdrassiger Söldner machten, sind unserem Volkskörper mancherlei fremde Rasseneinschläge zugeflossen“ (ebd.).
Dazu kommt, darauf machte Günther (1936: 126) aufmerksam, aufgrund einer Reihe von Faktoren, vor allem aufgrund einer unterdurchschnittlichen Geburtenrate, „daß die nordische Rasse im deutschen Volke schließlich im Kampf ums Dasein unterlegen ist“. Günther (a. a. O.: 125) sprach von einer „Entnordung des deutschen Volkes“, auf die er auch schon früher (z. B. 1926: 297) immer wieder hingewiesen hat und der durch geeignete rassenpolitische Maßnahmen entgegenzusteuern sei.
164 Den seinerzeit gebräuchlichen und die herrschende Rassenpolitik prägenden Begriff „arische Rasse“ lehnen Schmeil & Eichler (1936: 145) ebenso wie Günther (1933: 358 f.) als unwissenschaftlich ab.
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1.2 Schmarotzer und ihr Wirtsvolk: Zum naturwissenschaftlich begründeten Antijudaismus Auch der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant, für F. K. Günther, wie gezeigt, der Begründer der wissenschaftlichen Rassenkunde, trat immer wieder mit judenfeindlichen Äußerungen in Erscheinung. „Die unter uns lebenden Palästiner sind durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil, auch was die größte Menge betrifft, in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges gekommen. Es scheint nun zwar befremdlich, sich eine Nation von Betrügern zu denken; aber eben so befremdlich ist es doch auch, eine Nation von lauter Kaufleuten zu denken, deren bei weitem größter Theil, durch einen alten, von dem Staat, darin sie leben, anerkannten Aberglauben verbunden, keine bürgerliche Ehre sucht, sondern dieser ihren Verlust durch die Vortheile der Überlistung des Volks, unter dem sie Schutz finden, und selbst ihrer untereinander ersetzen wollen“ (Kant 1798: 205 f.).
Auch Kant erstrebte ausdrücklich die Überwindung – er spricht von Euthanasie – des Judentums. „Die wahre Religion, so fern sie zugleich als Offenbahrung erkannt wird, heißt Christenthum so fern sie nicht als solche anerkannt wird natürliche Religion. Ein Offenbahrungsglaube ohne jene Religion wäre Heydenthum. Wenn also die Juden außer der Offenbahrung vom Berge Sinai welche sie nur zu einem Volke von besonderer politischer (nämlich theokratischer) Verfassung machen sollte nicht noch eine besondere doch öffentliche blos moralische Religionsunterweisung hatten (wovon wir zwar keine Nachricht haben was wir aber doch aus christlicher Liebe annehmen wollen) so war ihr Glaube nicht einmal natürliche Religion sondern Heidenthum (…). Er bedarf also keiner neuen Zusammenberufung desselben zum Sinai um diese abzuschaffen und zur wahren obzwar blos natürlichen Religion überzugehen (…), so daß die Euthanasie des Judenthums165 der Übergang desselben zur natürlichen Religion seyn würde. Da diese sich aber ohne irgend kirchliche Form und Statuten nicht als öffentliche Lehre erhalten kan, so würde sich die Verschwisterung mit dem Christenthum so fern die letztere ihre kirchliche Verfassung von lästigen Observanzen gereinigt und diese ihren wahren Werth bestimmt hat anschließen“ (Kant, o. J. c: S. 441 f., vgl. auch: 443).
Spätestens seit den 1930er Jahren galten die Juden als größte rassenhygienische Belastung für das deutsche Volk: „Vor allem aber sind durch die Angehörigen des jüdischen Volkes, das in der Hauptsache aus der Vermischung zweier Rassen, der vorderasiatischen und der orientalischen hervorgegangen ist, fremde Rassenbestandteile in den deutschen Volkskörper eingegangen“ (Schmeil & Eichler 1936: 166).
Bewusst sprachen Schmeil & Eichler hier nicht von der jüdischen Rasse, sondern vom jüdischen Volk. Sie folgten auch darin den Ausführungen Günthers (1936: 12), der klarstellt: „Die Juden (…) können (…) nicht als Rasse angesehen werden, sondern stellen ein rassengemischtes Volk dar“, mit allen Konsequenzen solcher Rassenmischungen. „Aus dieser Mischung“ erklärt der Arzt und seinerzeitige Schriftleiter der Zeitschrift Kosmos, Dr. med. et phil. Gerhard Venzmer (1893-1986), 165 Um Missverständnissen vorzubeugen: Kant spricht von Euthanasie des Judentums als religiöser Lehre, nicht der Juden.
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„die hervorstechendsten jüdischen Charaktereigenschaften. Der Händlergeist, das Einfühlungsvermögen und die erstaunliche Fähigkeit, den Menschen auszubeuten, findet sich am stärksten in der vorderasiatischen Rasse; er verbindet sich durch die Jahrtausende hindurch behauptenden Starrheit des Glaubens und Empfindens, wie sie der orientalischen Rasse eigen sind. Der Jude, in seinem Wesen der Natur durchaus entfremdet und fern, ist durch und durch Stadtmensch; Heimatliebe kennt er kaum, körperlicher Arbeit geht er überwiegend aus dem Wege (…). Die Intelligenz, oft hervorragend entwickelt, ist mehr zergliedernd als aufbauend, mehr spitzfindigzersetzend als ethisch-schöpferisch; und mit alledem ist das jüdische Denken, Handeln und Empfinden gerade entgegengesetzt dem des vorwiegend nordisch durchdrungenen deutschen Menschen“ (Venzmer 1938: 168). Eichler stellte klar: „Die Judenfrage ist für uns keine Angelegenheit der Religion, sondern der Rasse. Sie ist eine Schicksalsfrage des deutschen Volkes, die bevölkerungspolitische Maßnahmen zur Ausschaltung aller rassenfremden politischen, geistigen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einflüsse in der Nation verlangt. Die Lösung der Judenfrage ist in Deutschland ganz besonders brennend und schwierig, weil die Vermischung mit rassefremdem Blut bei uns schon verhältnismäßig weitgehend eingetreten ist“ (Schmeil & Eichler 1936: 167).
Nach Beginn der NS-Herrschaft wurden die Konsequenzen, die diese und andere Wissenschaftler aus ihren Erkenntnissen abgeleitet hatten, konsequent in die Praxis umgesetzt. 1933 wurde Juden166 gesetzlich der Zugang zum Beamtentum versagt, „nicht-arische“ Beamte wurden entlassen. Wenige Monate später wurde diese Vorschrift auf Beamte ausgedehnt, die mit Personen „nicht-arischer“ Abstammung verheiratet waren. Seit 1935 differenzierte das „Reichsbürgergesetz“ (RGBl, Jg. 1935, I: 1146) zwischen „Staatsangehörigen“ und „Reichsbürgern“ und bestimmt: „Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen“ (§ 2).
Zeitgleich verbot das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (RGBl, Jg. 1935, I: 1146 f.) die Eheschließung zwischen Juden und Nichtjuden, eine Maßnahme, die auch der schon im Zusammenhang unserer Ausführungen über Biologismus, Sozialdarwinismus und Eugenik zitierte Theologe und Biologe Hermann Muckermann aus anthropologischen Gründen für dringend geboten hielt: „Ich spreche daher mit Nachdruck die Forderung aus, daß man zunächst einmal Eheschließungen von heimrassigen Deutschen mit Fremdrassigen, die das Heimrassige verformen könnten, meidet. Man berufe sich nicht auf die Taufe, die aus einem Juden einen Christen macht. Die Taufe macht den Menschen zum Gotteskind, aber ändert niemals sein Erbgefüge. Darum mögen fremdrassige Menschen mit fremdrassigen Menschen ihre Ehe schließen, doch die Heimrassigen sollen unter sich bleiben“ (Muckermann 1934: 122).
Seit 1938 erhielten auch selbständige niedergelassene Ärzte, Rechtsanwälte oder Steuerberater, die keinen „Ariernachweis“ vorweisen konnten, Berufsverbot. Es kam zu immer offeneren Übergriffen gegen Juden und jüdische Einrichtungen, die von der Obrigkeit zumindest toleriert, doch wohl eher forciert ihren vorläufigen Höhepunkt in der Reichspo166 Als Juden galten dabei alle Menschen, bei denen wenigstens ein Großelternteil jüdischer Abstammung war (sogenannte Vierteljuden).
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gromnacht vom 9. zum 10. November 1938 fanden. Seit 1939 wurden Juden in Deutschland und nach Kriegsbeginn auch in den von Deutschland besetzten Gebieten massenhaft in Konzentrationslager verbracht., die Solche Lager waren schon unmittelbar nach Beginn der NS-Herrschaft für die Internierung vermeintlich Andersartiger, „Asozialer“, Homosexueller, politischer Häftlinge und anderer rassisch Verfolgter, der Sinti und Roma, die dort durch Zwangsarbeit systematisch vernichtet werden sollten, geschaffen worden. Am 20. Januar 1942 traten Vertreter der NS-Regierung und der SS zur sogenannten Wannseekonferenz zusammen, um über die Durchführung der sogenannten Endlösung der Judenfrage zu beraten und die Aufgaben der beteiligten Regierungsstellen und der SS zu koordinieren. Adolf Eichmann, Leiter der Reichszentrale für jüdische Auswanderung sowie des Referats „Auswanderung und Räumung“ des Reichssicherheitshauptamts, hält im Protokoll fest: „Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten. (…) Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht (S. 5), wobei die Zahlen ungenau sind, da es sich „bei den angegebenen Judenzahlen der verschiedenen ausländischen Staaten (…) nur um Glaubensjuden (handelt), da die Begriffsbestimmungen der Juden nach rassischen Grundsätzen teilweise dort noch fehlen“ (S. 7). „Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist. (Siehe die Erfahrung der Geschichte.)“ (ebd.). „Im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa vom Westen nach Osten durchgekämmt. Das Reichsgebiet einschließlich Protektorat Böhmen und Mähren wird, allein schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial-politischen Notwendigkeiten, vorweggenommen werden müssen“ (S. 8).167
Es folgte bekanntlich von 1942 bis zur Befreiung Deutschlands 1945 eine beispiellose, streng durchrationalisierte und industriemäßig durchgeführte staatlich angeordnete und organisierte Massenermordung von Menschen vermeintlich jüdischer Rassenzugehörigkeit, der insgesamt etwa sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dabei waren – auch nach der Befreiung Deutschlands – von der Existenz einer jüdischen Rasse durchaus auch Wissenschaftler überzeugt, die zu den Kritikern der nationalsozialistischen Rassenpolitik und deren theoretischer Begründung vor allem durch Günther gehörten, z. B. der schon zitierte Karl Saller, den seine kritische Haltung, wie schon erwähnt, seine Lehrbefugnis kostete, oder der ebenfalls schon mehrfach zitierte Hermann Muckermann. 1.3 Die kranke Rasse: Zur Pathologisierung der Juden Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Juden von meist nichtjüdischen Medizinern für ein sehr krankes Volk gehalten. Ein überdurchschnittlich hoher Anteil sei geisteskrank. 167 Eine vollständige Kopie der im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin archivierten 16. Ausfertigung des Protokolls (Inland IIg177, Blatt 166-180) findet sich auf der Internet-Seite des Hauses der Wannseekonferenz unter der URL: http://www.ghwk.de/deut/proto.htm. Auf dieses Dokument beziehen sich auch die Angaben der Seitenzahlen im Zitat.
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„Über das Thema Geisteskrankheiten bei Juden liegt, soweit Verfasser übersehen kann, im Verhältnis zur Fruchtbarkeit des Problemes erst eine kleine Literatur vor. Am bekanntesten sind die Arbeiten yon Sichel (…) geworden. Sichel stellt, was die endogenen Psychosen betrifft, folgende Punkte heraus: Das manisch-depressive Irresein sei die typische Psychosis judaica. Häufig sei es kombiniert mit hysterisch-degenerativen Zügen. Bilder von exquisit hypochondrischer Färbung seien sehr häufig. Ferner sei die ‚Quengelsucht’ ein häufig gefundener Zug“ (Burkhardt 1931: 733).
Auch Karl Saller konnte Korrelationen zwischen Rassenzugehörigkeit und der Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmter Krankheiten ausmachen und stellte „von besonderer Wichtigkeit (…) für die Frage Rasse und Krankheit (…) Geistes- und Nervenkrankheiten“ (Saller 1949: 164) heraus. „Geisteskrankheiten werden, wenn man von den Alkoholpsychosen absieht, nach verschiedenen Untersuchungen bei den Juden vielleicht etwas häufiger angetroffen als bei ihren europäischen Wirtsvölkern168; sicher ist, daß bei ihnen Schizophrenie und manisch-depressives Irresein wesentlich häufiger, dagegen die Epilepsien seltener vorkommen als bei der gleichen Anzahl von deutschen Geisteskrankheiten. (…) Auch Schwachsinn und infantile amaurotische Idiotie169 treten im allgemeinen häufiger bei den Juden auf als bei ihren Wirtsvölkern. Als Ursache für eine derartige Häufung von Geisteskrankheiten wird der Umstand betrachtet, daß religiöse Einflüsse bei den Juden auch körperlich und geistig gebrechliche Individuen zur Ehe drängen“ (ebd.).
Saller, der, wie wir gezeigt haben, kein NS-Anhänger war, war kein Einzelfall. Er vertrat eine zu seiner Zeit weit verbreitete Auffassung. Schon Kraepelin (1920: 154) wusste, dass die Juden „wenigstens in Deutschland und ebenso in England stärker zu geistiger und nervöser Erkrankung veranlagt sind als die Germanen“ und konkretisiert: „Bei den Juden treten (…), vielleicht wegen ihrer Vorliebe für Verwandtschaftsheiraten, jene Störungen in den Vordergrund, die wir auf erbliche Entartungen zurückzuführen pflegen, das 168 An dieser Stelle fällt neben der Nähe zur Eugenik auch die unbefangene Verwendung des Begriffs „Wirtsvolk“ auf, den Saller auch an anderer Stelle verwendet (z. B. Saller 1969: 39), und zu dem die Juden offensichtlich, günstigstenfalls als „Gastvolk“ im Gegensatz stehen. Allerdings war der Begriff des „Wirtsvolkes“ seinerzeit meist so gemeint, wie ihn auch Hitler (1935: 334) verwandte: „Er [der Jude] ist und bleibt der ewige Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. Die Wirkung seines Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab.“ 169 „Amaurotische Idiotie, Sachs- oder Tay-Sachs-Krankheit (1881, 1887): familiäre, fast nur bei Juden vorkommende Krankheit; Demenz u. spastische Gliederlähmungen, dazu Abnahme des Sehvermögens bis zur Erblindung mit besonderem Augenbefund; beginnt im Säuglingsalter, Tod meist gegen Ende des 2. Jahres; auf Störungen des Lipoidstoffwechsels (…) beruhend“ (Pschyrembel 1951: 30). Auch Bleuler (1937: 147) berichtete: „Das Leiden besitzt genetisch anscheinend enge Beziehungen zu den Rassen, aus denen sich das jüdische Volk zusammensetzt.“ Diese Formulierung übernahm Manfred Bleuler in der ersten von ihm herausgegebenen 7. Auflage (1943: 153). In der 8. Auflage (1949: 193) schrieb er: „Das Leiden tritt fast ausschließlich“, ab der 9. (1955: 230) bis zur letzten (1983: 245) Auflage, „besonders häufig bei Kindern jüdischer Abstammung auf“. In einem Beitrag von Seitelberger u. a. über „Spätinfantile amaurotische Idiotie“ findet sich in einer Übersicht über 34 in der Literatur beschriebene Kasuistiken allerdings nur in einem Fall der Hinweis auf eine jüdische Herkunft. Auch bezüglich der beiden Kasuistiken, die in diesem Beitrag beschrieben wurden, die Kinder waren Geschwister, wird angegeben: „Die Familienanamnese der arischen Sippe ist unauffällig“ (Speitelberger u. a. 1957: 155). Es ist übrigens wahrscheinlich, dass mindestens eines der beiden Kinder, deren Gehirne Gegenstand der Untersuchung waren, im Rahmen der Kindereuthanasie in der Kinderfachabteilung Spiegelgrund ermordet wurde. Wir werden auf die Kindereuthanasie und deren Bedeutung für die medizinische Forschung noch an anderer Stelle ausführlicher eingehen.
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manisch-depressive Irresein, die Nervosität, die Phobien; auch Paralyse und Dementia praecox und schwere Formen der Idiotie sind nicht selten“ (a. a. O.: 157).
Auch Bleuler (1916: 141) konnte beobachten: „Juden sind, wie man sagt, zu Geisteskrankheiten, namentlich zu manisch-depressivem Irresein und Psychoneurosen besonders disponiert“ (so schrieb er unverändert bis zur 1930 erschienenen 5. Auflage [Bleuler 1930: 134]).
Günther kommt zu dem Ergebnis: „Seltener als unter Nichtjuden sind unter den Juden Schwindsucht, Lungenentzündung, Typhus. Seltener sollen auch Malaria, Pest, Pocken und Epilepsie sein. (…) Häufiger als unter Nichtjuden sind: verschiedene Herzkrankheiten, verschiedene Stoffwechselkrankheiten, Krebs und andere bösartige Neubildungen, verschiedene Stoffwechselkrankheiten, so vor allem Zuckerkrankheit sowie gewisse Geisteskrankheiten wie progressive Paralyse, manisch-depressives Irresein, das beim Juden oft mit einem ‚Quengeln’, mit einem ‚eigentümlich räsonierenden Zug’ auftritt. (…) Häufig sind ferner angeborener Schwachsinn, Hysterie und dementia praecox“ (Günther 1930: 271 f.).
Auch im geschlechtlichen Bereich und hinsichtlich der Intergeschlechterverhältnisse erscheinen Juden den Rassenforschern in vielerlei Hinsicht abnorm.170 Beispielsweise „sind die somatischen Geschlechtsmerkmale bei Juden auffallend häufig verwischt. Es finden sich bei Juden anscheinend besonders häufig Frauen mit relativ schmalem Becken und relativ breiten Schultern und Männer mit breiten Hüften und schmalen Schultern. (…) Prof. Pilcz be– stätigte nach seiner Erfahrung die relative Häufigkeit der Homosexualität bei Juden. (…) Bei Jüdinnen findet sich mit auffallender Häufigkeit eine Verwischung der psychischen Weiblichkeit (…), vor allem ein Zurücktreten der spezifisch weiblichen Instinkte, der weiblichen Passivität, der für Frauen typischen Hemmungen psychomotorischer Impulse (z. B. der Scheu vor öffentlichem Auftreten), wodurch sich das Überwiegen der Jüdinnen unter den politischen Aufrührerinnen erklärt. Sehr wichtig ist das bei Juden bestehende Bestreben, unter Verkennung der Bedeutung der Wichtigkeit sekundärer Geschlechtsmerkmale, welche bei normalen Menschen instinktiv beibehalten und gefördert werden, die sozialen und beruflichen Unterschiede zwischen Mann und Weib auszugleichen. Für männliche Juden ist in vielen Fällen die Unfähigkeit bezeichnend, Verwischungen der psychischen Geschlechtsmerkmale zu erkennen, wozu normale Männer oft trotz weit geringerer Intelligenz eben instinktiv besser befähigt sind. Gerade unweibliche Frauen werden von Juden häufig als sehr begehrenswert betrachtet. Dies scheint den Übergang zu dem bei Juden ebenfalls relativ häufigen Infantilismus zu bilden“ (a. a. O.: 273). Noch eine jüdische Abnormität: „Feministische Bestrebungen finden besonders häufig bei der jüdischen Intelligenz lauten Widerhall. Weltschmerzliche Überempfindlichkeit der männlichen Juden steht häufig unweiblichen Eigenschaften und hemmungslosem Streben nach persönlicher Geltung im öffentlichen Leben bei Jüdinnen gegenüber“ (ebd.).
Dafür gibt es eine einfache, hirnpathologisch begründbare Erklärung: 170 Die folgenden Zitate stammen nicht von Günther selbst. Günther zitiert hier zustimmend den Wiener Professor für Anthropologie und Direktor des Instituts für Anatomie und Physiologie der Haussäugetiere der Hochschule für Bodenkultur Wien, Robert Stigler (1876-1975), aus den Sitzungsberichten der Anthropologischen Gesellschaft Wien, Jahrgang 1919/20.
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„Es handelt sich dabei anscheinend um eine weitgehende Hemmung der instinktiven, unbewußten Vorgänge in der Großhirnrinde und in den subkortikalen Zentren durch die rein Intellektuellen Vorgänge in der Großhirnrinde. Es würde sich eine endlose Reihe von Beweisen für die geradezu aufdringliche Verwischung der sekundären Geschlechtsmerkmale bei den Juden anführen lassen“ (ebd.).
Mit Hilfe immer exakterer Statistiken wurde streng wissenschaftlich nachgewiesen, dass Juden in fast allen Bereichen, nicht nur bei den Geisteskrankheiten, anfälliger für Krankheiten und Behinderungen sind. Fritz Lenz (1887-1976), der 1923 auf den ersten Lehrstuhl für Rassenhygiene in Deutschland an der Universität München berufen wurde, berichtete: „Unter den Juden Preußens gab es im Jahr 1905 71 Blinde auf 10.000 gegenüber einem Landesdurchschnitt von 56 auf 10.000. Dieser Überschuß zuungunsten der Juden dürfte wohl ganz durch krankhafte Erbanlagen verursacht sein, zumal wenn man bedenkt, daß die Juden an Berufen, die Verletzungen der Augen ausgesetzt sind, verhältnismäßig wenig beteiligt sind“ (Lenz 1940a: 36). „In der jüdischen Bevölkerung ist die Taubstummheit häufiger als in der nichtjüdischen. I[m] J[ahr] 1925 kamen im Reich auf 10.000 Juden 8,3 Taubstumme, auf 10.000 Katholiken 5,8 und auf 10.000 Protestanten 5,4“ (Lenz 1940b: 63).
Wiederum ein klarer Beweis, „daß der weitaus größte Teil der Taubstummheit bei den Juden erbbedingt ist“ (ebd.). Nicht anders verhält es sich bei Anomalien der Fußanatomie: „Besonders häufig scheinen Plattfüße bei der jüdischen Bevölkerung zu sein. Salaman (1923) fand während des Weltkrieges unter 5.000 jüdischen Soldaten Plattfüße bei etwa einem Sechstel, unter anderen englischen Soldaten nur bei einem Vierzigstel“ (Verschuer 1940: 163 f.),
so der Doktorvater des KZ-Arztes Josef Mengele, Otmar von Verschuer (1896-1969). Auch eine Vergrößerung der Vorsteherdrüse „scheint bei den Mongoloiden und Negriden besonders selten und bei den Juden besonders häufig vorzukommen“ (Weitz 1940: 240), desgleichen Diabetes mellitus. „Die Erkrankung kommt bei Juden viel häufiger vor als bei Nichtjuden, was bei Annahme dominanten Erbgangs dafür sprechen würde, daß die Anlage bei Juden besonders häufig vorkomme“ (Weitz 1940: 285). Auch „Fettsucht (…) findet sich bei Chinesen, Türken, Juden viel häufiger als bei der nordischen und orientalischen Rasse“ (a. a. O.: 289)
und manche anderen Krankheiten mehr, die hier nicht alle aufzuführen sind. 1.4 Rassenkunde heute Noch in jüngerer Zeit halten manche Wissenschaftler unbeirrt an der Aufteilung der Menschheit fest, z. B. der schon zitierte Anthropologe und frühere Leiter des Instituts für Humanbiologie an der Universität Hamburg, Rainer Knußmann. Er beklagte: „Gerade in neuerer Zeit wird mitunter dem Rassismus naiverweise dadurch zu begegnen versucht, daß schlichtweg behauptet wird, es gäbe keine menschlichen Rassen“ (Knußmann 1996: 406). Dabei räumte er bereits im nächsten Satz selbst ein:
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„In gewisser Hinsicht ist dies freilich eine Frage der Definition; denn im Sinne biologisch scharf voneinander abgegrenzter Gruppen gibt es tatsächlich keine Rassen, da solche Abgrenzungen im subspezifischen Bereich nicht möglich sind. Was es aber unbestreitbar gibt, ist eine phylogenetisch bedingte geographische Differenzierung, in der sich verschiedene – wenn auch durch Übergänge miteinander verbundene – genetisch determinierte Schwerpunkte erkennen lassen. Zumindest diese Schwerpunkte, aber auch die verschiedenen Abstufungen zwischen ihnen werden – dem Gebrauch des Begriffs in der ganzen Biologie folgend – als Rassen bezeichnet“ (ebd.).
Obwohl es also menschliche Rassen eigentlich gar nicht gibt, dies zu behaupten jedoch naiv ist, entwickelte Knußmann in den folgenden Ausführungen ein Rassensystem, das sich im Wesentlichen an der fünfgliedrigen Klassifikation von Blumenbach orientierte, sie allerdings erweiterte, weil er einige Bevölkerungsgruppen Afrikas hier nicht einzuordnen vermochte, das „sind vor allem die Hottentotten und Buschmänner (…) Südafrikas“ (a. a. O.: 428), für die er, wie schon erwähnt, einen eigenen Rassenkreis begründete, den er „Khoisaniden“ nannte. Bemerkenswert sind auch Knußmanns Ausführungen über die Juden, vor allem seine Begründung für die Genese von Judenfeindlichkeit. Für ihn stellten die Juden „nicht weltweit eine Rasse, aber doch innerhalb Europas gewissermaßen einen Bevölkerungstyp dar, weil sie hier über Jahrhunderte ein Isolat bzw. Teilisolat bildeten“ (ebd.).
Seiner Meinung nach hätten die Judenverfolgungen in den vergangenen Jahrhunderten das Gegenteil dessen bewirkt, was sie bezwecken sollten, indem sie gewissermaßen ungewollt dem Prinzip der natürlichen Zuchtwahl, das ja zivilisierten Gesellschaften ansonsten abhanden gekommen ist, wieder zur Durchsetzung verholfen hätten: „Da die Juden (…) immer wieder Verfolgungen und gesetzlichen Benachteiligungen (wie z. B. Heiratsbeschränkungen auch zwischen Juden) ausgesetzt waren, konnten sich unter ihnen nur solche Erblinien halten, die besonderes Durchsetzungsvermögen in unseren europäischen Gesellschaften gewährleisteten. Die Gesetzgeber haben nicht erkannt, daß sie damit ganz im Gegensatz zu ihren Interessen eine Selektion auf optimale Leistung bewirkten – gleichsam die Heranzüchtung einer jüdischen Elite“ (a. a. O.: 429).
Die Folge war eine Überrepräsentanz jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in exponierten sozialen Positionen, was wiederum Konsequenzen hatte, die Knußmann so beschreibt: „Die Überlegenheit der Juden mag leicht Neid erweckt und es immer wieder begünstigt haben, Hass gegen diese Bevölkerungsminorität zu schüren“ (ebd.). Mit anderen Worten: Die Judenverfolgungen und ihre Zuspitzung im Holocaust während der deutschen NSHerrschaft waren vor allem die Folge nicht geplanter eugenischer Effekte der vorangegangenen Judenverfolgungen selbst. Knußmanns Lehrbuch erschien erstmals 1980 und entsprach damals wohl ganz dem Mainstream seiner und anderer Disziplinen. Als 1996 die 2. Auflage erschien, lösten die hier zitierten Passagen Unverständnis, sogar Proteste aus (vgl. hierzu: AG gegen Rassenkunde 1998). Der Biologiedidaktiker Ulrich Kattmann machte deutlich, „daß der Terminus ‚Rasse’ in der Zoologie weitgehend obsolet ist und ausgiebig nur von Anthropologen und Haustierkundlern verwendet wird“ (Kattmann 1999: 78), wobei dies bei Haustieren auch einen gewissen Sinn macht, insofern diese „durch gezielte Auslese und Isolati-
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on vom Menschen auf jeweils einen Typ hin enggezüchtet worden (sind). Insofern wurden hier vom Menschen selbst ‚Typen’ erst geschaffen, wie sie Rassenkundler beim Menschen als Naturzüchtung zu erkennen glauben. Natürliche Populationen sind jedoch genetisch vielfältig und keineswegs mit Haustierrassen vergleichbar“ (ebd.).
Anders ausgedrückt: Dort, wo distinkte Rassen existieren, wie bei Haustieren, handelt es sich um menschliche Konstrukte, die durch gezielte Zuchtwahl entstanden sind. Die Fortpflanzung von Menschen hingegen erfolgt nach den Prinzipien natürlicher Populationen mit der Konsequenz der genetischen Vielfältigkeit, die ja den Rassenkundlern auch bei der Einteilung so große Schwierigkeiten bereitet, sodass es ihnen niemals gelungen ist, eine einheitliche und konsensuale Klassifikation vorzulegen. Menschliche Rassen existieren nicht in der Wirklichkeit, sie sind soziale Konstruktionen und existieren allein in den Köpfen derer, die die Menschheit in Rassenschubladen einteilen. Niemals in der Geschichte der Rassenbiologie ist es gelungen, plausible Klassifikationsmerkmale zu finden, mit denen es möglich ist, bestimmte Menschen eindeutig bestimmten Rassen zuzuordnen. Auch die Anzahl der menschlichen Rassen variierte von Rassentheorie zu Rassentheorie. Alle bisher bekannten Merkmale oder Merkmalskombinationen, die als typisch für eine bestimmte Rasse ausgegeben wurden, haben sich stets auch bei Menschen, die anderen Rassen zugerechnet wurden, finden lassen. Der Charakter der menschlichen Rasse als soziales Konstrukt wird besonders bei der rassischen Zuordnung vermeintlicher Rassenmischlinge deutlich. Die Versuche, zwischen Rassen zu differenzieren, orientieren sich, wie gezeigt, primär an äußeren Eigenschaften, nach denen sortiert wird. Die Zuordnung sogenannter Rassenmischlinge zu den Eingeborenen, wie wir es bei Fischer gesehen haben, oder zu den „Farbigen“, wie dies z. B. ganz im Sinne des zitierten Votums von Eugen Fischer in seiner Bastard-Studie die US-amerikanischen Rassengesetze171 vorgesehen hatten, ist unter diesem Gesichtspunkt pure Willkür. Heiraten solche „Mischlinge“ erneut „reinrassige“ Angehörige der „weißen Rasse“, bleiben die Nachkommen per definitionem Eingeborene und damit Angehörige der schwarzen Rasse, selbst wenn sie völlig hellhäutig sind. Hier wird der Charakter der sozialen Konstruktion von Rassen besonders augenfällig, wenn von der Erscheinung her Weiße gewissermaßen per definitionem zu „Farbigen“ gemacht werden. Für wissenschaftliche Erkenntnisse ist die Einteilung der Menschheit in Rassen ohne jeden Wert. Praktisch bedeutsam ist sie 1.
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wenn man Menschen analog zu Haus- oder Nutztieren gezielt auf bestimmte Rassentypen hin züchten will, wie dies in Deutschland durch den Ende 1935 auf Veranlassung Heinrich Himmlers gegründeten Menschenzuchtverein Lebensborn e. V. versucht wurde, und für politische Zwecke. Stets dienten die vermeintlichen Erkenntnisse der Rassenbiologie vor allem der Absicherung und Legitimierung von Herrschaftsstrukturen und Unterdrückung. Für politische Systeme, die dem Verbot der Diskriminierung und dem Gebot der Gleichbehandlung des Artikel 2 der UN-Menschenrechtsdeklaration vom 10. Dezember 1948 verpflichtet sind, ist die Einteilung der Menschen in verschiedene Rassen entbehrlich.
171 Dort herrschte bekanntlich in vielen Einrichtungen des öffentlichen Lebens bis Mitte der1960er Jahre strikte Rassentrennung. Am 12. Juni 1967 erklärte der U.S. Supreme Court Verbote sog. Mischehen, wie sie in mehreren Bundesstaaten noch bestanden, für verfassungswidrig.
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Übrigens hat schon Max Weber, als der Aufschwung der Rassenforschung in Deutschland gerade seinen Anfang nahm, darauf hingewiesen, dass menschliche Rassen oder ethnische Gemeinschaften nicht wirklich existieren, sondern nur geglaubte soziale Konstrukte sind: „Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonialisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, (…) ‚ethnische’ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinschaft objektiv vorliegt oder nicht. Von der ‚Sippengemeinschaft’ scheidet sich die ‚ethnische’ Gemeinschaft dadurch, dass sie an sich nur (geglaubte) ‚Gemeinsamkeit’, nicht aber ‚Gemeinschaft’ ist, wie die Sippe, zu deren Wesen ein reales Gemeinschaftshandeln gehört“ (Weber 1925: 219). Über die Wirkung solchen Glaubens bzw. solcher Konstruktionen schreibt er: „Die ‚Rassenqualitäten’ kommen für die Bildung ‚ethnischen’ Gemeinschaftsglaubens generell nur als Grenzen: bei allzu heterogenem, ästhetisch nicht akzeptiertem äußerem Typus in Betracht, nicht als positiv gemeinschaftsbildend“ (a. a. O.: 221).
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Das kranke und moralisch defekte Geschlecht: Geschlechterkonstruktionen und medizinisch-naturwissenschaftlicher Sexismus 2 Das kranke und moralisch defekte Geschlecht Es erscheint auf den ersten Blick evident, dass Menschen von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie andere Säugetiere auch, männliche oder weibliche Gattungswesen sind, deren Geschlechtszugehörigkeit biologisch determiniert und eindeutig feststellbar ist. Doch schon in biologischer Hinsicht, hier erweist sich das Lehrbuch von Knußmann durchaus als informativ, variiert bei den einzelnen Individuen die relative Stärke der Geschlechtsbestimmung. Somit „ist jeder Mann auch ein bisschen Frau und jede Frau auch ein bisschen Mann“ (Knußmann 1996: 223). „Die Geschlechter sind somit keine klar geschiedene Alternative, sondern stellen eine Variationsreihe mit fließenden Übergängen von der mehr männlichen zur mehr weiblichen Seite dar“ (a. a. O.: 224). So gesehen ist bereits der weit verbreitete Geschlechterdualismus eine Verkürzung allein schon der biologischen Realität, mithin als Ergebnis einer sozialen Konstruktion zu charakterisieren, die vor allem Konsequenzen für Menschen hat, deren Geschlecht in dieses binäre Begriffssystem nicht einzuordnen ist, z. B. Übergangsformen oder Mischformen, bei denen das Geschlecht nicht eindeutig der einen oder anderen Seite zuzuordnen ist. Eindrucksvoll hat dies z. B. Eva Fels (2005) an den Hijras in Indien und anderen TransgenderGemeinschaften gezeigt. Sie spricht von dem dritten Geschlecht.172 Besonders problematisch erweist sich der vorherrschende Geschlechtsmorphismus bei Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig zuzuordnen ist, sog. Intersexuellen. Dies hat sehr deutlich die Diskussion um die Frage der Geschlechtszugehörigkeit der Südafrikanerin Caster Semenya gezeigt, die am 19. August 2009 bei der IAAF-Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin im 800-Meter-Lauf der Damen die Goldmedaille gewonnen hatte und sich einem Geschlechtstest unterziehen musste, der allerdings ihre weibliche Geschlechtszugehörigkeit bestätigte. Es fällt dem dualen Denken schwer, Menschen, die nicht eindeutig Frauen oder Männer sind, in ihrer eigenen geschlechtlichen Normalität zu verstehen und zu akzeptieren. In 172 Zutreffender wäre zur Vermeidung einer neuerlichen numerischen Determinierung vielleicht die Bezeichnung „eigenes Geschlecht“ gewesen.
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einer Welt, in der es nur entweder Männer oder Frauen gibt, müssen sie erst dem einen oder dem anderen Geschlecht zugeordnet werden, um sie sodann als davon abweichend zu charakterisieren, statt sie in ihrer ihnen je eigenen Geschlechtlichkeit zu akzeptieren und zu respektieren.173 Meist werden die betroffenen Menschen nach der Geburt einem der „normalen“ Geschlechter zugeordnet. Dies erfolgt zum einen auf der juristischen Ebene, weil nach der Geburt eines Kindes dieses entweder als männlich oder weiblich in das Standesregister eingetragen werden muss. Diese Zuordnung kann zwar später auf Antrag der Betroffenen nach § 8 des Transsexuellengesetzes geändert werden, aber auch dann kann nicht das je eigene, sondern nur das jeweils andere Geschlecht eingetragen werden. Voraussetzung dafür ist, dass die antragstellende Person dauerhaft fortpflanzungsunfähig ist und sie „sich einem ihre äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen hat, durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht worden ist“ (§ 8 Abs. 1 Satz 4).
Der § 8 Abs. 1 Satz 2, der außerdem die Ehelosigkeit der Antragstellenden als Voraussetzung der Geschlechtsumschreibung bestimmte, was für Verheiratete faktisch einer Zwangsscheidung gleichkam, wurde zwischenzeitlich vom Bundesverfassungsgericht 2008 als verfassungswidrig erklärt (BVerfG 1 BvL 10/05). In der Medizin wird Intersexualität zu den „Störungen der sexuellen Differenzierung“ (Lenze u. a. 2003: 552; Muntau 2009: 85) gezählt und als solche meist auch behandelt. In den meisten Fällen werden die betroffenen Kinder, meist schon im ersten Lebensjahr nach erfolgter Geschlechtsfestlegung, diesem Geschlecht dann mittels hormoneller oder chirurgischer medizinischer Behandlung angepasst und das eigene, natürliche Geschlecht zum rechtlich festgelegten „normalen“ Geschlecht umkonstruiert, nicht selten um den Preis des Verlustes der sexuellen Empfindungsfähigkeit. Diese Praxis wird von Betroffenen, die sich seit den 1990er Jahren in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen haben und für sich das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung proklamieren, als „Genitalverstümmelung“ kritisiert (hierzu ausführlich z. B. Lang 2006: 233 ff.). Auch innerhalb des dualen Geschlechtersystems finden soziale Konstruktionen statt, wenn z. B. mit dem biologischen Geschlecht bestimmte Eigenschaften als vermeintlich typisch womöglich für die „Natur“ des Mannes oder der Frau verknüpft werden. Ein Blick in die einschlägige medizinisch-naturwissenschaftliche Literatur zeigt überdies, dass auch diese Konstruktionen häufig mit unterschiedlichen Wertigkeiten verknüpft werden: Oben die Männer, die in der Regel Geschlechter konstruieren und biologisch-naturwissenschaftlich begründen, und unten die Frauen, denen der Zugang zu wissenschaftlichen Positionen lange wegen ihrer vermeintlichen Minderwertigkeit verwehrt blieb.
173 Weltweite Aufmerksamkeit gewann die Frage nach der Geschlechtszugehörigkeit, als die 1991 geborene südafrikanische Mittelstreckenläuferin Caster Semenya bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft im August 2009 in Berlin im 800-Meter-Lauf der Frauen die Goldmedaille gewann und die International Association of Athletics Federations (IAAF) daraufhin unter dem Protest von Menschenrechtsorganisationen und der südafrikanischen Regierung zwei Geschlechtstests anordnete, nachdem öffentliche Zweifel an ihrer weiblichen Geschlechtszugehörigkeit laut geworden waren. Mittlerweile steht für IAAF-Generalsekretär Pierre Weiss fest: „Es ist klar, dass sie eine Frau ist, aber nicht zu 100 Prozent.“ So die Tageszeitung „Die Welt“ vom 11. September 2009.
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IV Mechanistisch-naturwissenschaftliche Erklärungsansätze des Anders-Seins
„In der Welt des Geistes fehlt die Frau absolut“, lehrt z. B. der im deutschsprachigen Raum häufig rezipierte Psychiater Caesare Lombroso (1836-1909) aus Turin und fährt fort: „Geniale Frauen sind eine fremdartige Erscheinung in der Welt“ (Lombroso & Laschi 1892: 222).
Zwar ist den Autoren nicht entgangen, dass bedeutende Beiträge in Literatur und Kunst von Frauen stammen, „aber diese genialen Denkerinnen und Dichterinnen sind alle weit entfernt von der Erhabenheit Michelangelos, Newtons, Balzacs“ (a. a. O.: 223).
Auch den Beitrag von Frauen z. B. an der Französischen Revolution leugneten sie zwar nicht, schränkten jedoch auch hier ein: „Im übrigen war unter allen Revolutionärinnen nicht einmal eine Mittelmäßigkeit, die man Mirabeau oder Danton entgegenstellen könnte“ (a. a. O.: 228).
Ein besonders extremes, aber keineswegs singuläres Beispiel für solchen biologistischen Sexismus findet sich in einer Schrift „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ von dem seinerzeit bekannten und mit Kraepelin (1983: 133) befreundeten Psychiater Paul Julius Möbius (1853-1907)174, welcher sich selbst als Vertreter der „Sache des weiblichen Geschlechts“ (Möbius 1906: 54) versteht und klarstellt: „Die eigentlichen Weiberfeinde sind die ‚Feministen’“ (ebd.), weil sie gegen die weibliche Natur danach trachten, „durch Gesetz und Erziehung das Weib umzuformen“ (a. a. O.: 55).175
Möbius’ Buch wurde 1903 zum ersten Mal veröffentlicht. Es erfreute sich einer derartigen Nachfrage, dass bereits im Jahr 1906 die 8. Auflage erschien. Das Buch nimmt explizit Bezug auf Lombroso & Ferrero (1894), auf die wir an anderer Stelle noch eingehen werden. Möbius befasste sich zunächst mit dem Begriff des Schwachsinns und stellte klar: „Schwachsinn ist eine Relation, und Schwachsinn schlechtweg kann nur bedeuten: im Vergleich mit Seinesgleichen“ (a. a. O.: 27). Er erläuterte dies unter anderem an einem Beispiel, das unmittelbar an den zuvor abgehandelten Rassismus anknüpft: „Ein Eskimo, der nicht bis hundert zählen kann, ist als Eskimo nicht schwachsinnig, aber weil es so ist, ist der Eskimo schwachsinnig im Vergleich mit dem Deutschen oder Franzosen“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund nun stellt sich die Frage: „Wie ist es nun mit den Geschlechtern? (…) sind die Weiber im ganzen genommen schwachsinnig im Vergleich mit den Männern?“ (ebd.).
Möbius’ eindeutige Antwort war: Ja! Das zeigten unter anderem anatomische Befunde: „Körperlich genommen ist, abgesehen von den Geschlechtsmerkmalen, das Weib ein Mittelding zwischen Kind und Mann, und geistig ist sie es, wenigstens in vielen Hinsichten, auch. (…) Beim Kinde ist der Kopf relativ größer als beim Manne, beim Weibe ist der Kopf nicht nur ab-
174 Möbius war übrigens unmittelbarer Nachfahre von Martin Luther in 11. Generation (vgl. Clasen 1960: 31). 175 Eine Würdigung des Gesamtwerks von Möbius, auf das hier nicht weiter eingegangen werden kann, findet sich bei Steinberg 2005.
2 Das kranke und moralisch defekte Geschlecht
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solut, sondern auch relativ kleiner.176 Ein kleiner Kopf umschließt natürlich auch ein kleines Gehirn“ (a. a. O.: 28).
Unter Hinweis auf hirnanatomische Forschungen von Nikolaus Rüdinger (1832-1896) hielt er es für erwiesen, „daß ‚die ganze Windungsgruppe, welche die Sylvische Spalte umrahmt, beim Mädchen einfacher und mit weniger Krümmung versehen ist, als beim Knaben’, daß ‚die Reilsche Insel beim Knaben im Durchschnitt in allen ihren Durchmessern etwas größer, konvexer und stärker gefurcht ist, als beim Mädchen’“ (a. a. O.: 28 f.), [ferner] „daß ‚an den weiblichen Hirnen der ganze mediale Windungszug des Scheitellappens und die innere obere Übergangswindung in ihrer Entwicklung bedeutend zurückbleiben’. Bei geistig niedrig stehenden Männern (z. B. einem Neger) fand er [Rüdinger] den weiblichen ähnliche Verhältnisse des Scheitellappens, während bei geistig hochstehenden Männern die mächtige Entwicklung des Scheitellappens ein ganz anderes Bild gewährte. Die allereinfachsten Verhältnisse fand Rüdinger bei einer bayerischen Frau, er spricht geradezu von einem ‚tierähnlichen Typus’.“ (a. a. O.: 29). „Demnach ist also nachgewiesen, daß für das geistige Leben außerordentlich wichtige Hirnteile, die Windungen des Stirn- und Schläfenlappens, beim Weibe schlechter entwickelt sind, als beim Manne, und daß dieser Unterschied schon bei der Geburt besteht“ (ebd.).
Die vergleichsweise größere Nähe der Frau zum Tier erklärt Möbius auch psychologisch: „Einer der wesentlichen Unterschiede ist wohl der, daß der Instinkt beim Weibe eine größere Rolle spielt, als beim Manne“ (a. a. O.: 31). „Der Instinkt nun macht das Weib tierähnlich, unselbständig, sicher und heiter. (…) Mit dieser Tierähnlichkeit hängen sehr viele weibliche Eigentümlichkeiten zusammen. Zunächst der Mangel eigenen Urteils. Was für wahr und gut gilt, ist den Weibern wahr und gut. Sie sind streng konservativ und hassen das neue (…). Wie die Tiere seit undenklichen Zeiten immer dasselbe tun, so würde auch das menschliche Geschlecht, wenn es nur Weiber gäbe, in seinem Urzustande geblieben sein“ (a. a. O.: 34).
Auch die Moralentwicklung von Frauen weicht stark von derjenigen der Männer ab. Möbius geht nicht so weit, „die Weiber unmoralisch zu nennen, aber sie sind moralisch einseitig oder defekt“ (a. a. O.: 35). Unter anderem deswegen „ist der weibliche Schwachsinn nicht nur vorhanden, sondern auch notwendig“ (a. a. O.: 41). „Wäre das Weib nicht körperlich und geistig schwach, wäre es nicht in der Regel durch die Umstände unschädlich gemacht, so wäre es höchst gefährlich“, was sich nach Möbius, der allerdings keine näheren Beispiele nennt, unter anderem „an den Weibern“ zeigt, „die unglücklicherweise zur Herrschaft gekommen sind“ (a. a. O.: 35).
Die Notwendigkeit des weiblichen Schwachsinns begründet sich aber auch in ihrer gesellschaftlichen Funktion.
176 Hier erläutert Möbius in einer Fußnote: „Ich finde nicht selten bei mittelgroßen Weibern einen Kopfumfang von 51 cm. So etwas kommt bei Männern nicht vor, die geistig normal sind, nur bei krankhaft Schwachsinnigen, Idioten. Jene Weiber sind aber in ihrer Art gescheit. (Hat ein annähernd gesunder Mann 51 cm Kopfumfang, so handelt es sich um einen Turmkopf, also um eine abnorme Kopfform)“ (Möbius 1906: 28).
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IV Mechanistisch-naturwissenschaftliche Erklärungsansätze des Anders-Seins
„Wollen wir ein Weib, das ganz seinen Mutterberuf erfüllt, so kann es nicht ein männliches Gehirn haben“. Sonst „würden die Mutterorgane verkümmern, und wir würden einen häßlichen und nutzlosen Zwitter vor uns haben. (…) Übermäßige Gehirntätigkeit macht das Weib nicht nur verkehrt, sondern auch krank“ (a. a. O.: 41). Dazu kommt: „Das Weib ist nicht nur karger mit Geistesgaben versehen, als der Mann, sondern sie büßt sie auch viel rascher wieder ein“ (a. a. O.: 46).
Der altersbedingte Verfall der Frauen setzt nach Möbius nämlich viel früher ein als bei Männern. Nach Möbius „beginnt der Verfall oft nach einigen Wochenbetten. Wie die Schönheit und die körperlichen Kräfte schwinden, so gehen auch die Geistesfähigkeiten zurück, und die Frauen ‚versimpeln’, wie es populär heißt“ (a. a. O.: 48). Spätestens sei „vom Klimakterium, durch das das Weib ein ‚altes Weib’ wird, eine Abschwächung der Geistesfähigkeiten zu erwarten“ (a. a. O.: 50). Zwar „schießt die abgünstige Meinung über das Ziel hinaus, wenn sie von boshaften alten Weibern, bösen alten Hexen usw. spricht“, doch „tritt durch den Schwachsinn die Bosheit unverhüllter zu Tage und nimmt lächerliche Formen an, aber er erzeugt sie nicht“ (a. a. O.: 51). Möbius bemerkt des Weiteren, „daß das Weib während eines beträchtlichen Teiles seines Lebens als abnorm anzusehen ist“ (a. a. O.: 45)
und zwar in den Zeiten der Menstruation und Schwangerschaft. Für ihn steht außer Frage, „daß (…) beide Zustände, ohne eigentliche Krankheit, das geistige Gleichgewicht stören, die Freiheit des Willens im Sinne des Gesetzes beeinträchtigen“ (ebd.).
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sind dabei längst Bereiche geworden, für die die Medizin ihre fachliche Zuständigkeit beansprucht, so als handele es sich um krankhafte oder zumindest krankheitsanaloge Zustände, die heilkundiger medizinischer Fachlichkeit bedürften. Im 17. Jahrhundert wechselten Gynäkologie und Geburtshilfe endgültig aus dem von den heilkundigen Frauen betriebenen „care“- in den männerdominierten „health“Sektor und etablierten sich als eigenständige medizinische Spezialdisziplinen. Menstruation, Schwangerschaft, Wochenbett und auch das Klimakterium waren aber keineswegs nur unter gynäkologischem Aspekt medizinisch relevant, sondern z. B. für Bleuler (1916: 147) auch unter psychiatrischem Gesichtspunkt höchst bedeutsam: „Von den sexuellen Vorgängen hat die Menstruation eine gewisse kausale Bedeutung für die Psychosen. Selten einmal ist der Beginn der Reife durch vorübergehende dämmerige oder schizophrenieartige Zustände markiert, die sich wenige Male in der Periode entsprechenden Zeiträumen wiederholen, aber mit regelrechtem Einsetzen der Blutungen verschwinden. (…) Später soll sich die bei ‚Normalen’ nicht seltene menstruelle Verstimmung zu einem Grade steigern, den man als melancholische Depression bezeichnen kann (…). Auch Verwirrtheitszustände sollen vorkommen (mit und ohne impulsive Handlungen). Außerdem kann die Periode ziemlich regelmäßige Anfälle des manisch-depressiven Irreseins auslösen“.
Weitere Auslöser unterschiedlicher Geisteskrankheiten können die Schwangerschaft, das Wochenbett und das Klimakterium sein. Zwar lassen sich auch bei Männern, zehn Jahre später als bei Frauen im „Klimakterium virile“ „leichte, aber lange dauernde heilbare Depressionen“ feststellen, insgesamt jedoch, so scheint es, sind Frauen um ein Vielfaches anfälliger gegenüber Geisteskrankheiten als Männer. Davon war zunächst auch Manfred
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Bleuler überzeugt, der in der 7. (1943) und 8. (1949) Auflage seines Lehrbuches die zwischenzeitlich von Eugen Bleuler redaktionell aber nicht inhaltlich veränderten Ausführungen der 6. Auflage unverändert übernahm. Erst in der 9. (1955) Auflage distanzierte er sich von dieser Auffassung: „Pubertät, Schwangerschaft, Wochenbett, Menstruation und Klimakterium galten früher in der Psychiatrie als selbständige ‚Krankheitsursachen’. Heute wissen wir, daß sie mit keinerlei ‚spezifischen’ Psychoseformen verbunden sind, höchsten eine Disposition für einzelne psychische Störungen (besonders Verstimmungen) setzen, die auch sonst vorkommen“ (Bleuler 1955: 141).
Diese Formulierung behielt er bis zur letzten, 15. (1983: 137) Auflage bei. Wie für Bleuler, so bestand auch für Kraepelin (1920: 150) kein Zweifel daran, „daß das Weib mit seiner zarten Veranlagung, mit der geringeren Ausbildung des Verstandes und dem stärkeren Hervortreten des Gefühlslebens weniger Widerstandsfähigkeit gegen die körperlichen und psychischen Ursachen des Irreseins besitzt als der Mann. Allein die Bedeutung dieses Umstandes wird ausgeglichen durch die verhältnismäßig geschützte Stellung, die das Weib dem unvergleichlich stärker gefährdeten Manne gegenüber einnimmt“, weil ja „das Weib (…), durch Erziehung und Sitte gebunden, ein eintönigeres, regelmäßigeres und ruhigeres Leben zu führen gezwungen ist. Wo dieser Zwang einmal durchbrochen und der Leidenschaft der weiblichen Natur freier Spielraum gegeben ist, bei Prostituierten, sehen wir die geringe Widerstandsfähigkeit des weiblichen Geschlechts in erschreckenden Prozentzahlen des Irreseins“ (a. a. O.: 150 f.).
Von der „intellektuellen Inferiorität“ der Frauen war übrigens auch Sigmund Freud (1908: 162) überzeugt. Allerdings hat er dafür eine andere Erklärung: „Ich glaube nicht, daß der biologische Gegensatz zwischen intellektueller Arbeit und Geschlechtstätigkeit den ‚physiologischen Schwachsinn’ der Frau erklärt, wie es Moebius in seiner vielfach widersprochenen Schrift dargetan hat. Dagegen meine ich, daß die unzweifelhafte Tatsache der intellektuellen Inferiorität so vieler Frauen auf die zur Sexualunterdrückung erforderliche Denkhemmung zurückzuführen ist.“
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Maschine Gehirn und die kranke Seele
In den absolutistischen Staaten von Europa begann Mitte des 17. Jahrhunderts „eine Epoche der administrativen Ausgrenzung der Unvernunft (…), in der die Kirche die Formen der Unvernunft, namentlich Arme und Irre, nicht mehr, die bürgerlich-kapitalistische Wirtschaftsgesellschaft sie noch nicht umgreifen konnte“ (Dörner 1984: 21).
Bis Ende des 18. Jahrhunderts kam es zu massenhaften Internierungen von Menschen, die als andersartig, abweichend und insbesondere als unvernünftig wahrgenommen wurden. „Der Aufstieg des Zeitalters der Vernunft, des Merkantilismus und des aufgeklärten Absolutismus vollzog sich in eins mit einer neuen rigorosen Raumordnung, die alle Formen der Unvernunft, die im Mittelalter zu der einen göttlichen, in der Renaissance zur sich säkularisierenden Welt gehört hatten, demarkierte und jenseits der zivilen Verkehrs- Sitten- und Arbeitswelt, kurz:
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der Vernunftwelt, hinter Schloß und Riegel verschwinden ließ. Bettler und Vagabunden, Besitz-, Arbeits- und Berufslose, Verbrecher, Auffällige und Häretiker, Dirnen, Wüstlinge, mit Lustseuchen Behaftete und Alkoholiker, Verrückte, Idioten und Sonderlinge, aber auch mißliebige Ehefrauen, entjungferte Töchter und ihr Vermögen verschwendende Söhne wurden auf diese Weise ‚unschädlich’ und gleichsam unsichtbar gemacht. Europa überzog sich erstmals mit einem System von so etwas wie Konzentrationslagern für Menschen, die als unvernünftig galten“ (Dörner 1984: 20).
Etwa 10 % der solcherart Internierten galten als „Irre“ (a. a. O.: 22). Anders als in den europäischen Nationalstaaten, in denen die Ausgrenzung einheitlich geregelt war, entwickelte sich das Internierungswesen in Deutschland zunächst außerordentlich vielgestaltig. „So gab es etwa Zucht-, Korrektions-, Verwahrungs-, Versorgungs-, Arbeits-, Waisen-, Findel-, Fremden-, Narren- und Tollhäuser“ (a. a. O.: 185).
Dabei erfolgte die Internierung der Andersartigen anfangs recht undifferenziert. Erst allmählich wurde zwischen kriminellen und psychisch bedingten Erscheinungsformen des Anders-Seins unterschieden, für Letztere andere Internierungsformen gefordert und nach und nach auch durchgesetzt, wobei die Grenze, wie unter anderem in dem Exkurs über Kriminalisierung und Pathologisierung des Anders-Seins und auch in dem Kapitel über sog. moralische Oligophrenien deutlich wird, in Teilbereichen zumindest fließend verlief. 3.1 Das Gehirn als Seelenorgan Nachdem die Theologie ihr Monopol für die Zuständigkeit der menschlichen Seele verloren hatte und die Psychiatrie begann, sich als Seelenheilkunde zu etablieren, blieb deren disziplinäre Zuordnung noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus umstritten. Insbesondere zwei Lager standen sich unversöhnlich gegenüber. Dörner (1984: 262 ff.) spricht wie schon Kraepelin (1918: z. B. 21, 26) von Psychikern und Somatikern (vgl. auch Ackerknecht 1985: 59 ff.). Für die Psychiker, als deren Hauptvertreter Christian Heimroth (1773-1843) gilt, der 1811 an der medizinischen Fakultät der Universität in Leipzig den ersten Lehrstuhl für Psychiatrie nicht nur in Deutschland, sondern weltweit erhielt,177 war die Seele eine vom Körper unabhängige Entität, folglich könnten psychische Krankheiten nicht organisch bedingt und mithin auch nicht vererbbar sein. Ihre Ursachen wurden theologisch begründet, zwar nicht mehr dämonologisch, sondern unter Rückgriff auf moralisierende Kategorien wie Schuld oder Sünde, während die Somatiker diese „moralisirenden, frömmelnden Auffassungen“ (Griesinger 1871: 470) scharf zurückwiesen. Sie führten psychische Erkrankungen auf organische Ursachen zurück, wobei sie „die Seele zunächst und vor allem für die Summe aller Gehirnzustände (…) erklärten“ (a. a. O.: 6). Daraus folgt auch die disziplinäre Zuordnung der Psychiatrie. 177 Auch die erste Professur an der Berliner Charité erhielt mit Karl Wilhelm Ideler (1795-1860) ein Psychiker. Ihm folgte 1865 nach fünfjähriger Vakanz Wilhelm Griesinger, mit dessen Grundlegung einer biologisch begründeten Psychiatrie wir uns noch eingehender beschäftigen werden. In Leipzig blieb die Professur nach Heimroths Tod 35 Jahre unbesetzt. Diese Vakanzen mögen Ausdruck dafür sein, dass die Zuordnung der Psychiatrie zur medizinischen Fakultät zu jener Zeit in der Medizin insgesamt höchst umstritten war. Erst 1878 wurde die Professur mit Paul Flechsig (1847-1929), einem ausgewiesenen Hirnforscher, wiederbesetzt.
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„Da das Irresein eine Krankheit, und zwar eine Erkrankung des Gehirns ist, so kann es für dasselbe kein anderes richtiges Studium geben, als das ärztliche“ (a. a. O.: 10).
Griesinger entwickelt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine medizinisch-naturwissenschaftlich fundierte psychiatrische Lehre, deren Ziel es ist, „das Wesen der Geisteskrankheit (…) (zu verstehen) und nicht mit moralischen Kategorien (zu) beleg(en)“ (Güse & Schmacke 1976).
Grundlage dieses Ansatzes der Psychiatrie ist nun die Vorstellung, seelisch bedingte Formen des Anders-, des Irre-Seins seien Krankheiten, Krankheiten des Geistes, also Geisteskrankheiten und hätten eine organische Ursache im Organ des Geistes. „Der erste Schritt zum Verständnis dieser Symptome ist ihre Localisation“, so beschrieb Wilhelm Griesinger (1871: 1) in seinem 1845 erstmals erschienenen Hauptwerk die Aufgabe der damaligen Psychiatrie und fuhr fort: „Welchem Organ gehört das Phänomen des Irreseins an? – Welches Organ muss also überall und immer nothwendig erkrankt sein, wo Irresein vorhanden ist? – Die Antwort auf diese Frage ist die erste Voraussetzung der Psychiatrie.“
Dabei stand für Griesinger fest: Psychische Krankheiten sind „Krankheiten des Gehirns“ (ebd.), wobei er sich allerdings klar gegen den mechanistisch-materialistischen Reduktionismus der zeitgenössischen Somatiker wandte178 und davor warnte, zu versuchen, seelische Vorgänge unmittelbar aus der Hirntätigkeit abzuleiten und den Wahnsinn als solchen zur Krankheit zu erklären. „Was soll man nun zu dem platten und seichten Materialismus sagen, der die allgemeinsten und werthvollsten Thatsachen des menschlichen Bewusstseins über Bord werfen möchte, weil sie sich nicht im Gehirne mit Händen greifen lassen? Indem die empirische Auffassung die Phänomene des Empfindens, Vorstellens und Wollens dem Gehirne als seine Thätigkeiten zuschreibt, lässt sie nicht nur den thatsächlichen Inhalt des menschlichen Seelenlebens in seinem ganzen Reichthum unberührt, und hält namentlich die Thatsache der freien Selbstbestimmung nachdrücklich fest, sie lässt natürlich auch die metaphysischen Fragen offen, was es etwa sei, was als Seelensubstanz in diese Relationen des Empfindens, Vorstellens und Wollens eingehe“ (a. a. O.: 6 f.). „Alles, was im Gehirn bei seiner Thätigkeit vorgeht, könnten wir alle chemischen, electrischen etc. Prozesse bis in ihr letztes Detail durchschauen – was nützte es? Alle Schwingungen und Vibrationen, alles Electrische und Mechanische ist doch immer noch kein Seelenzustand, kein Vorstellen. Wie es zu diesem werden kann – dies Räthsel wird wohl ungelöst bleiben bis ans Ende der Zeiten, und ich glaube, wenn heute ein Engel vom Himmel käme und uns Alles erklärte, unser Verstand wäre gar nicht fähig, es zu begreifen“ (a. a. O.: 6).
Für Griesinger war Wahnsinn also nur Ausdruck einer Erkrankung, nicht jedoch die Erkrankung selbst. An mehreren Stellen mahnte er an: „Nirgends ist das Bedürfnis strengen Individualisirens größer, als in der Irrenbehandlung, nirgends ist ein stetes Bewusstsein darüber nothwendig, dass nicht eine Krankheit, sondern ein einzelner Kranker, nicht die Tobsucht, sondern ein tobsüchtig Gewordener Objekt unserer Behandlung ist“ (a. a. O.: 473 f.). 178 Deswegen ist es auch zumindest verkürzt, Griesinger als bloßen Somatiker zu charakterisieren.
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Hinsichtlich der Ätiologie stellte Griesinger klar, „dass die Ätiologie der Geisteskrankheiten im Allgemeinen keine andere ist, als die Ätiologie aller übrigen Gehirn- und Nervenkrankheiten“ (a. a. O.: 135). Dabei unterschied er zwischen „den prädisponirenden Momenten (Lebensalter, Erblichkeit, gewisse Erziehungsfehler etc.)“ (ebd.) und den „eigentliche(n) Ursachen (nicht ganz richtig erregende oder Gelegenheitsursachen)“ (a. a. O.: 136), wobei er im Gegensatz zu den meisten seiner Nachfolger biografische und psychodynamische Aspekte durchaus mit berücksichtigt und „die psychischen Ursachen (…) für die häufigsten und ergiebigsten Quellen des Irreseins“ (a. a. O.: 169) hält. Zur Krankheitslehre stellt Griesinger (a. a. O.: 211) klar: „Eine Eintheilung der psychischen Krankheiten nach ihrem Wesen, d. h. nach den ihnen zugrunde liegenden anatomischen Veränderungen des Gehirns ist derzeit nicht möglich.“
Deswegen ist nur eine symptombezogene Differenzierung möglich. Hier unterschied er zwischen zwei Formen des Irreseins. „Einmal beruht dasselbe auf dem krankhaften Entstehen, Herrschen, Fixiertbleiben von Affecten und affectartigen Zuständen (…). Das andere Mal besteht das Irresein in Störungen des Vorstellens und Wollens“ [und stellt ein] „falschen Denken und Wollen dar“ (a. a. O.: 212).
Letztlich stellte Griesinger allerdings beide Formen lediglich als verschiedene Stadien des Krankheitsverlaufs heraus, mit der Konsequenz, „dass das Irresein fast nur innerhalb der ersten Gruppe primitiver (affectartiger) geistiger Anomalien eine heilbare, mit der Ausbildung der der zweiten Reihe angehörigen secundären Störungen aber eine unheilbare Krankheit ist“ (a. a. O.: 213).
Griesinger plädierte hier also für das Konzept der Einheitspsychose. Irresein lässt sich für ihn, jedenfalls nicht symptombezogen, in unterschiedliche Krankheitseinheiten aufteilen. Scharf kritisierte er auch „jene alte Rohheit, welche die Geisteskranken bald mit Hexenprocessen und Scheiterhaufen verfolgte, bald (…) mit Verbrechern in die Kerker zusammengeworfen und dort die von der ärztlichen Kunst wie von anderen menschlichen Hilfen Verlassenen willkürlicher Grausamkeit und Brutalität preisgegeben hatte“ (a. a. O.: 470). Er fordert, „dass die Gesellschaft in den Irren Menschen anerkannte, denen sie Schutz und Hülfe schuldig ist, dass sie immer mehr zum Gegenstande ernstlicher Fürsorge von Seiten des Staates und tieferer, zum Zwecke der Heilung angestellter Forschung der Wissenschaft wurden“ (ebd.).
„Griesingers Versuch, eine Psychiatrie zu schaffen, die ebenso die natürlichen wie die psychosozialen Bedingungen von Erkrankung und Behandlung der Irren thematisieren sollte“, wurde, so Güse & Schmacke (1978: 101), in der weiteren Psychiatriegeschichte leider nicht weiterverfolgt oder genauer: in dem Bemühen, sich als anerkannte medizinische Teildisziplin zu etablieren, biologistisch vereinseitigt und zugespitzt.179 179 Soweit Griesinger selbst als Urheber dieser Entwicklung verantwortlich gemacht wird, handelt es sich dabei, wie gezeigt, um eine starke Verkürzung seines Ansatzes, wenngleich zuzugestehen ist, dass er selbst mit pointierten Formulierungen, wie dem immer wieder zitierten Satz, Geisteskrankheiten seien Gehirnkrankheiten, durchaus zu entsprechenden Verkürzungen einlädt.
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Diese Entwicklung muss vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der gesamten Medizin gesehen werden. In dem an sich nachvollziehbaren Bemühen, spekulative und irrationale Ansätze, die nicht nur die zeitgenössische Psychiatrie, sondern im Grunde die gesamte Medizin beherrschten, zu überwinden und damit auch die Kranken von moralisierenden Kategorien wie Schuld oder Sünde zu befreien, versuchte man, zu einer streng naturwissenschaftlichen, ganz am Vorbild des Modells der mechanistischen Physik orientierten Disziplin zu werden. Damit aber verfiel man gleichsam ins andere Extrem, denn es wurde nicht nur der ganze erkenntnisbehindernde spekulative und moralistische Ballast überwunden, sondern auch die ganzheitliche Sichtweise auf die Kranken statt bloß auf die Krankheit, wie Griesinger es noch gefordert hatte. Es kam zu einer zunehmenden gedanklichen Trennung und Isolierung der Krankheiten von den kranken Menschen und deren Reduzierung auf den Körper bzw. auf die erkrankten Organe. Sinnfälliger Ausdruck dieses Wandels ist die 1865 auf Betreiben reformorientierter Ärzte um Rudolf Virchow (18211902)180, der zur gleichen Zeit wie Griesinger an der Berliner Charité lehrte, vom Preußischen Abgeordnetenhaus beschlossene Ablösung des bis dahin in der Medizinerausbildung verbindlich verankerten Philosophikums durch das Physikum. Damit hat das mechanistische cartesianische Denken und die Metapher des Menschen als Maschine, der Krankheit als Maschinenschaden, endgültig Einzug in die medizinische Wissenschaft gefunden.181 Unter diesen Bedingungen setzte sich schließlich der von Griesinger stets abgelehnte Reduktionismus durch, der Geisteskrankheiten nicht mehr vermittelt, sondern unmittelbar auf organische Zustände des Zentralnervensystems zurückführt. Schließlich brauchte die Psychiatrie, um als medizinische Disziplin anerkannt zu werden, auch ein Organ, von dem ihre Krankheiten herrührten. Allerdings ist es bis heute nicht gelungen, das dort angenommene pathologische Geschehen auch nur annähernd zu beschreiben, geschweige denn zu lokalisieren.182 So wurde die dämonologische Prämisse des Anders-Seins gewissermaßen 180 Virchow war Abgeordneter der liberalen Deutschen Fortschrittspartei im Preußischen Abgeordnetenhaus. 181 Dabei ist nicht zu bestreiten, dass manche Teildisziplinen der Medizin, in denen die Maschinenmetapher insofern plausibel ist, als „Reparatur“, Entfernung, Ersatz oder Austausch lokalisierter defekter „Bauteile“ des Organismus therapeutisch durchaus wirksam ist, in dieser wissenschaftstheoretischen Ausrichtung z. T. ähnlich bahnbrechende Erfolge erzielten, wie die Ingenieurswissenschaften in ihrer Operationalisierung der Erkenntnisse der mechanistisch reduzierten Physik. Doch ebenso wie die newtonsche Mechanik nicht universal, sondern, wie wir heute wissen, nur für Teilbereiche der Physik gültig ist, gilt die Metapher des kranken oder für abweichend gehaltenen Menschen als defekte Maschine weder für den kranken oder vermeintlich abweichenden Menschen insgesamt noch für alle Bereiche, für welche die Medizin ihre Zuständigkeit reklamiert. Hinzu kommt, dass heute in der Medizin, ebenso wie in den Ingenieurswissenschaften und in wachsendem Maße auch in den Biowissenschaften, viele Dinge von durchaus zweifelhafter und z. T. sehr kontrovers diskutierter Wirkung machbar sind. Leider jedoch lässt sich die Frage, ob alles, was machbar ist, auch gemacht werden sollte, mittels des theoretischen und methodischen naturwissenschaftlichen Repertoires nicht beantworten. Sie gilt deswegen weithin als unwissenschaftlich oder sogar erkenntnisbehindernd und wird häufig gar nicht erst oder zu spät gestellt. Zu welchen Folgen dies führen kann, hat die Umsetzung von Erkenntnissen der Atomphysik im Bau der Atombombe der Weltöffentlichkeit 1945 in Hiroshima und Nagasaki sehr drastisch vor Augen geführt. Im Bereich der Biologie und Medizin sind es vor allem die durch Humangenetik und Reproduktionsmedizin gegebenen Möglichkeiten, durch Pränataldiagnostik und selektive Abtreibungen oder durch Präimplantationsdiagnostik Erscheinungsformen vermeintlichen AndersSeins pränatal zu eliminieren, welche die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen ihrer Umsetzbarkeit aufwerfen. 182 „Die Psyche ist eine Hirnfunktion“, lautet die Überschrift eines Kapitels in Bleulers (1921: 23) Naturgeschichte der Seele, in dem er ausführt, „daß der von jeher beobachtete Zusammenhang von Psyche und Gehirn der von Funktion und Organ ist“ (ebd.) und „daß die Gesetze der zentralnervösen Funktionen diejenigen der Psyche sind und umgekehrt“ (a. a. O.: 25).
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durch die biologische Prämisse abgelöst, doch ist sie bis heute weitgehend ebenso unbewiesen wie die, die sie abgelöst hat. Auf dieser Grundlage entwickelte sich um die Wende zum 20. Jahrhundert diejenige psychiatrische Krankheitslehre, die im Grundsatz bis heute vertreten wird, dies in enger Verzahnung mit der zuvor beschriebenen Biologisierung des Anders-Seins mit den aufgezeigten Konsequenzen der sozialen Konstruktion unter anderem von Rasse und Geschlecht. Sexismus und vor allem Rassismus waren geradezu konstituierend für die Anfänge derjenigen Entwicklung, die gemeinhin als moderne Psychiatrie bezeichnet wird und meist auf die im folgenden Kapitel zu behandelnde Krankheitskunde von Emil Kraepelin zurückgeführt wird. 3.2 Von der Deszendenz zur Degeneration Ungefiltert hielt der Rassismus mit seiner vermeintlich naturwissenschaftlich abgesicherten Auffassung von der hochstehenden weißen europäischen Rasse und den minderwertigen primitiven Rassen, die den Tieren näherstehen als den Europäern, Eingang auch in die medizinische Wissenschaft und ihre Terminologie. Auf die sogenannte Hottentottenschürze haben wir schon in den Ausführungen über biologistisch-naturwissenschaftlich begründeten Rassismus hingewiesen. Wir haben weiterhin darauf aufmerksam gemacht, dass die imperialistischen Eroberer der Kapregion die dort lebenden Volksgruppen aufgrund von deren für Europäer fremdartig klingenden Sprache als Hottentotten bezeichnet hatten. Man empfand diese Sprache als abnorm, geradezu pathologisch. So setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts für eine bestimmte Form von Sprachstörungen, die sogenannte Vokalsprache, der Begriff „Hottentottismus“ durch. „Beschränkt sich die Sprache auf einige Vokale und den Dentallaut, so spricht man von Hottentottismus“ (Gutzmann 1912: 325), schreibt der Begründer der Stimm- und Sprachheilkunde und seit 1905 erster Professor für dieses Lehrgebiet in Berlin, Hermann Gutzmann (1865-1922), und noch 1973 lehrt der Professor für Pädiaudiologie und Phoniatrie in Münster, Hans H. Bauer (*1926): „Beim universellen Stammeln sind nur wenige Laute vorhanden, sodass die Sprache weitgehend unverständlich ist. Die schwersten Grade des universellen Stammelns werden auch als Hottentottismus und Vokalsprache bezeichnet“ (Bauer 1973: 114).
Abgeleitet aus einer rassistischen Interpretation der auf die natürliche Zuchtwahl verkürzten Deszendenztheorie Darwins entwickelte sich in der einschlägigen psychiatrisch-medizinischen Theoriebildung eine Degenerationslehre, die unmittelbar an die eugenischen Überlegungen von Galton und seinen deutschsprachigen Rezipienten anknüpft. Diese geht, wie gezeigt, davon aus, dass gerade bei den entwicklungsmäßig höherstehenden menschlichen Rassen183 aufgrund der fortgeschrittenen kulturellen Entwicklung die Prinzipien der natürlichen Auslese zunehmend außer Kraft gesetzt werden. Max Nordau (1849-1923), ein Arzt jüdischen Glaubens und Mitbegründer des 1897 gegründeten Zionistischen Weltbundes, machte in seinem Cesare Lombroso gewidmeten zweibändigen Werk „Entartung“ am Ende des 19. Jahrhunderts eine gefährliche „fin-desiècle-Stimmung“ aus,
183 Gemeint sind vor allem die weißen Europäer, Bleuer (1916: 141) spricht von „Kulturrassen“.
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eine seltsam wirre, aus fieberhafter Rastlosigkeit und stumpfer Entmuthigung, aus ahnender Furcht und verzichtendem Galgenhumor zusammengesetzte. Die vorherrschende Empfindung ist die eines Untergehens, eines Erlöschens. ‚Fin de siècle’ ist ein Beicht-Bekenntnis und zugleich eine Klage. Der alte nordische Glaube enthielt die schauerliche Lehre von der Götterdämmerung. In unseren Tagen erwacht in den höher entwickelten Geistern ein dunkles Bangen vor einer Völkerdämmerung, in der alle Sonnen und Sterne allmälig verglimmen und inmitten der sterbenden Natur die Menschen mit allen ihren Einrichtungen und Schöpfungen vergehen“ (Nordau 1896: 5 f.).
In Kunst, Kultur und Gesellschaft erblickte Nordau eine erschreckende und zunehmende Dekadenz, die keineswegs als „Laune, Exzentrität , Sucht nach Neuem, Nachahmungstrieb“ (a. a. O.: 30) verharmlost werden dürfe, sondern aus einem medizinischen Blickwinkel als pathologische Entwicklung, als „Entartungen“ zu betrachten sei: Der Arzt, namentlich der, welcher sich besonders dem Studium der Nerven- und Geisteskrankheiten gewidmet hat, erkennt in der fin-de siècle-Stimmung, in den Richtungen zeitgenössischer Kunst und Dichtung, in dem Wesen der Schöpfer mystischer, symbolistischer, ‚decadenter’ Werke und dem Verhalten ihrer Bewunderer, in den Neigungen und Geschmackstrieben des Modepublikums auf den ersten Blick das Syndrom oder Gesamtbild zweier bestimmter Krankheits-Zustände, mit denen er wohlvertraut ist, der Degeneration oder Entartung und der Hysterie“ (a. a. O.: 30 f.). Die Ursachen: „Ein Geschlecht, das regelmäßig, selbst ohne Übermaß, Betäubungs- und Reizstoffe in irgend einer Form gebraucht (also gegohrene, weingeisthaltige Getränke, Tabak, Opium, Haschisch, Arsenik), das verdorbene Nahrungsmittel genießt (mutterkornhaltiges Brod, schlechten Mais), das organische Gifte in sich aufnimmt (Sumpffieber, Syphilis, Tuberkulose, Kropfkrankheit, erzeugt entartete Nachkommen, die, wenn sie denselben Einwirkungen ausgesetzt bleiben, rasch zu den tiefsten Stufen der Degeneration, zum Blödsinn, zur Zwerghaftigkeit u. s. w. hinabsteigen“ (a. a. O.: 63). Dazu tritt ein weiterer äußerst schädlicher Einfluss: „Der Aufenthalt in einer Großstadt. Der Bewohner der Großstadt, selbst der reichste, der vom ausbündigsten Luxus, ist fortwährend ungünstigen Einflüssen ausgesetzt, die seine Lebenskraft weit über das unvermeidliche Maß hinaus vermindern“ (a. a. O.: 65). „In der gesitteten Welt herrscht unverkennbar eine Dämmerstimmung, welche sich unter anderem auch in allerlei seltsamen ästhetischen Moden ausdrückt. Alle diese neuen Richtungen, der Realismus oder Naturalismus, der Dekadentismus, der Neomystizismus und ihre Unterformen sind Kundgebungen der Entartung und Hysterie und mit deren klinisch beobachteten und unzweifelhaft festgestellten geistigen Stigmaten identisch. Entartung und Hysterie sind aber die Folge übermäßiger organischer Abnutzung, welche die Völker durch die riesenhaft gesteigerten Ansprüche an ihre Tätigkeit und durch das starke Anwachsen der Großstädte erlitten haben“ (a. a. O.: 79).
Eine ähnliche, ebenfalls medizinisch-biologistisch begründete kulturpessimistische Ausrichtung findet sich im Werk von Eugen Bleuler: „Erfahrungsgemäß ist die sogenannte Kultur eine der wichtigsten Brutstätten der Geisteskrankheiten“, lehrt Eugen Bleuler (1916: 146) und nennt als wichtigsten Grund dafür, „daß die Unterdrückung der natürlichen Auslese allmählich die Abnormen vermehrt“. Er warnt, „daß diejenigen, welche das Parvenüleben einer Großstadt-Welt184 führen, dabei einen Rassenselbstmord185 184 Ab der 2. Auflage (1918: 151) nur „Großstadt“. 185 Von Rassenselbstmord schreibt er auch an anderer Stelle in einem anderen Zusammenhang ganz im Sinne des deutschen Rassenforschers Eugen Bauer (1913): „Eine Art Rassenselbstmord ist auch die Rassenvermi-
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begehen (…); der Weg aber vom Normalen bis zum Aussterben wird wohl zum Teil über geistige Degeneration führen“ (ebd.).
Auch bei Kraepelin (1920: 161) diente die Degenerationstheorie als Erklärung für „das unheimlich rasche Ansteigen der in Anstalten versorgten Geisteskranken in allen Kulturvölkern“. Bleuer behielt o. g. Formulierungen bis zur letzten von ihm herausgegebenen 6. Auflage (1937: 118) bei. Sein Sohn Manfred übernahm sie unverändert in die von ihm herausgegebene 7. Auflage (1943: 122). In der 8. Auflage (1949: 123) begann er, die Auffassung von der Kultur als Brutstätte der Geisteskrankheiten zu relativieren, führte sie, teilweise jedenfalls, auf „natürliche Täuschung“ zurück und strich die Ausführungen über den Rassenselbstmord. Erst in der 9. Auflage (1955: 140) distanzierte er sich vorsichtig von der Degenerationstheorie. „Lange Zeit führte man die meisten Geistesstörungen auf ‚Degeneration’ zurück. (…) Man nannte die Kultur als eine der wichtigsten Brutstätten der Geisteskrankheiten. Zum Teil ist das natürliche Täuschung weil die von der Kultur geforderte Sorge für die Hilflosen eben beachtet und nicht zugrunde gehen läßt, wie es unter natürlichen Umständen der Fall ist. Jedenfalls aber verbreitet unsere Kultur krankmachende Agentien, wie den Alkohol.“
Neben der Lehre von der allmählichen Degeneration stand die Auffassung von spontanen Rückschlägen auf frühere, primitivere, Entwicklungsniveaus, wie sie nach zeitgenössischem Verständnis von den nichteuropäischen Rassen repräsentiert werden. Bekanntestes Beispiel dafür ist die bis heute noch viel beachtete Arbeit des britischen Mediziners John Langdon Haydon Down (1828-1896), die auch in Deutschland auf breite Resonanz stieß. Er setzt sich mit der Frage auseinander, ob es möglich sei, „eine Klassifizierung der Schwachsinnigen durch ihre Zuordnung zu verschiedenen ethnischen Normen zu erreichen“ (Down 1866: 54)186, denn ihm war Folgendes aufgefallen: „Unter der großen Anzahl von Imbezillen und Idioten, die mir (…) vorgestellt wurden, konnte ich einen beträchtlichen Anteil finden, der ohne weiteres einer anderen großen Abteilung der menschlichen Familie zugeordnet werden kann als der, der er entsprossen ist. Natürlich gibt es zahlreiche Vertreter der großen kaukasischen Familie. Mehrere gut ausgeprägte Beispiele der äthiopischen Spielart sind mir bekannt, die charakteristischen Wangenknochen, die hervortretenden Augen, die dicken Lippen und das fliehende Kinn aufweisen. Das wollige Haar war gleichfalls vorhanden, wenn auch nicht immer schwarz, wie auch die Haut keine Pigmenteinlagerung aufwies. Es waren Exemplare weißer Neger, obwohl europäischer Abstammung“ (a. a. O.: 54 f.).187
schung, in der die Rassen zugrunde gehen, wenn auch unter (seltenen) Umständen neue daraus entstehen“ (Bleuler 1921: 243). 186 Original: “(…) the possibility of making a classification of the feeble-minded, by arranging them around various ethnic standards”. 187 “I have been able to find among the large number of idiots and imbeciles which come under my observation (…) that a considerable portion can be fairly referred to one of the great divisions of the human race other than the class from which they have sprung. Of course, there are numerous representatives of the great Caucasian family. Several well-marked examples of the Ethiopian variety have come under my notice, presenting the characteristics malar bones, the prominent eyes, the puffy lips, and retreating chin. The woolly hair has also been present, although not always black, nor has the skin acquired pigmentary deposit. They have been specimens of white negroes, although of European descent.”
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Vor allem eine Gruppe war ihm aufgefallen: „Eine sehr große Anzahl der Fälle mit angeborener Idiotie sind typische Mongolen. Wenn man sie nebeneinander stellt, ist das so deutlich, daß man schwerlich zu glauben vermag, die Verglichenen seien nicht Kinder derselben Eltern“ (a. a. O.: 55).188
Nach der Beschreibung einer Kasuistik zu dieser Beobachtung zog Down dann den bemerkenswerten Schluss: „Dem Aussehen des Jungen nach kann man sich nur schwer vorstellen, daß er das Kind von Europäern ist; jedoch zeigen sich diese Merkmale so häufig, daß diese rassischen Besonderheiten zweifellos die Folge der Degeneration sind“ (ebd.).189
Mit anderen Worten: So wie veredelte Rosen oder Obstbäume immer wieder dazu neigen, in die Wildform zurückzuschlagen, so kann es vorkommen, dass auch mal Nachkommen der edlen europäischen Rasse durch Degeneration auf ein niedrigeres, primitiveres rassisches Niveau zurückfallen.190 Nach der Veröffentlichung der Arbeit von Down gab es Versuche, den sogenannten Mongolismus weiter zu differenzieren und rassenanaloge Untergruppen zu bilden: „Früher schon wollte man einen Malayentyp absondern; neuerdings sucht Dr. phil. Heller191 einen schwarzhaarigen, etwas dunkelhäutigen Eskimotyp aufzustellen mit geringerer Ausprägung der Hauptmerkmale, mäßigem Schwachsinn, größerer Widerstandsfähigkeit“ (Weygand 1934: Sp. 1712).
Interessant ist, dass die sogenannte „mongoloide Degeneration“ (a. a. O.: Sp. 1710) auch bei Menschen beobachtet wurde, die ihrerseits für Angehörige tieferstehender Rassen gehalten wurden. „Gelegentlich wurde M(ongolismus) auch bei einem Chinesen, ferner bei Negern und Mulatten gefunden, öfter auch bei Juden“ (a. a. O.: Sp. 1712). Bleuler lehnte übrigens den Begriff „mongolische Idiotie“ ab und hielt ihn für „denkbar unglücklich, da es sich weder um Idiotie handelt (in der Regel wenigstens) noch um irgend einen Zusammenhang mit den mongoloiden Rassen“ (Bleuler 1937: 154).
Eine sexistisch gefärbte Variante der rassistischen Rückschlagstheorie finden wir unter anderem in den Studien über Verbrecherinnen und Prostituierte von Lombroso & Ferrero (1894: 350): 188 “A very large number of congenital idiots are typical Mongols. So marked is this, that when placed side by side, it is difficult to believe that the specimens compared are not children of the same parents.” 189 “The boy’s aspect is such that it is difficult to realize he is the child of Europeans, but so frequently are these characters presented, that there can be no doubt that these ethnic features are the result of degeneration.” 190 Bei bestimmten Erscheinungsformen menschlichen Daseins denkt übrigens auch Darwin an spontane Rückschläge auf frühere, allerdings nicht auf vermeintlich primitive menschliche, sondern auf vormenschliche phylogenetische Entwicklungsniveaus: „Das einfache Gehirn eines microencephalen Idioten kann, insofern es dem eines Affen gleicht, in diesem Sinne wohl als ein Fall von Rückschlag bezeichnet werden“ (Darwin 1871: 40). Darwin ist sich allerdings keineswegs sicher, in einer eine Buchseite umfassenden Fußnote setzt er sich ausführlich mit dem Für und Wider der Rückschlagstheorie auseinander (vgl. auch a. a. O.: 152). 191 Theodor Heller (1869-1938), österreichischer Heilpädagoge, Leiter einer Erziehungsanstalt bei Wien, 1938 von den NS-Besatzern vom Dienst suspendiert.
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„Die geringe Wildheit des Weibes bei den Naturvölkern und im Anfangsstadium der Civilisation bilden einen weiteren Grund dafür, dass die echte, angeborene Verbrechernatur (…) beim Weibe seltener ist (…). Wenn das Weib auf primitiven Stufen der Gesittung nur selten zum Morde neigte, so neigte sie umso mehr zur Prostitution. Und behielt diese Neigung bis zum Ende der barbarischen Epoche; das ist die Erklärung dafür, dass die Prostituirte mehr Rückschlagszeichen besitzt als die Verbrecherin.“
Doch auch bei Verbrecherinnen finden sich gehäuft Merkmale von Frauen, die für wild oder primitiv gehalten werden. „Die ausgeprägtesten Züge des primitiven Weibes, Frühreife und Virilität, finden sich bei der Verbrecherin wieder“ (a. a. O.: 352). Auch an vermeintlichen Besonderheiten der äußeren Geschlechtsorgane machen Lombroso & Ferrero ihre Rückfallthese auf ein früheres, ja animalisches Entwicklungsniveau fest: „Wahrscheinlich ist auch die Häufigkeit der Hypertrophie der kleinen Labien bei Prostituirten ein atavistisches Merkmal, wie die Hottentottenschürze192, die auf analoge Varietäten beim Affen hinweist und sicher eine korrelative Erscheinung zu der allgemeinen Hypertrophie des subkutanen Binde- und Fettgewebes ist“ (a. a. O.: 353).
3.3 Von der biologischen Psychiatrie zur biologistischen Krankheitslehre Als eigentlicher Begründer der modernen Psychiatrie gilt, wenngleich nicht unumstritten, wie schon erwähnt, weithin Emil Kraepelin (1856-1929) (so z. B. Kolle 1970: 185), vor allem deshalb, weil er erstmals so etwas wie eine umfassende und zumindest hinreichend anerkannte Nosologie (= Krankheitslehre) vorgelegt hat. Um das Anliegen des in seiner Bedeutung für die Entwicklung der Psychiatrie bis heute kaum zu überschätzenden Kraepelin’schen Werkes besser zu verstehen, möchte ich mit einigen biografischen Hinweisen beginnen. Kraepelin schreibt über den Beginn seiner Tätigkeit als Arzt an der Kreisirrenanstalt in München 1878, die er kurz nach Abschluss seines Studiums und einer einjährigen Berufstätigkeit in Würzburg aufgenommen hatte: „Die ersten Eindrücke, die ich von meiner neuen Tätigkeit hatte, waren entmutigend. Das verwirrende Gewimmel ungezählter verblödeter, bald unzugänglicher, bald zudringlicher Kranker, mit ihren lächerlichen oder ekelerregenden, bedauernswerten oder gefährlichen Absonderlichkeiten, die Ohnmacht des ärztlichen Handelns, das sich meist auf Begrüßung und gröbste körperliche Pflege beschränken mußte, die völlige Ratlosigkeit gegenüber allen diesen Erscheinungsformen des Irreseins, für die es keinerlei wissenschaftliches Verständnis gab, ließen mich die ganze Schwere des von mir gewählten Berufes empfinden. Ähnlich wie zu Anfang in Würzburg verfolgten mich die wirren und abstoßenden Bilder der Tagesarbeit auch in den Nächten und ließen mich zweifeln, ob ich mich wirklich in dieser Tätigkeit werde zurechtfinden können. Allmählich indessen half mir die abstumpfende Gewöhnung und namentlich der angenehme Verkehr mit den gleichgestimmten Kollegen. Ich begann mich als Glied einer Arbeitsgemeinschaft mit hohen Zielen zu fühlen und schöpfte Befriedigung aus den nach unserer damaligen Ansicht vollendeten Einrichtungen unserer Anstalt, die mit ihren schönen Parkett- und Terrazzoböden, ihrer gewaltigen Zentralheizung, ihrem Küchen- und Wäschebetrieb, ihrem fast nie genutzten Zentralbade uns ganz auf der Höhe der Zeit zu stehen schien. Dazu kam der Stolz auf die wissenschaftliche Bedeutung unserer Klinik, wie sie sich hauptsächlich in unseren anatomi192 Vgl. hierzu die Ausführungen über Sexismus in diesem Band.
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schen Laboratorien und Tierställen ausdrückt. Hier lag das Gebiet, das uns für die Unfruchtbarkeit und Unerquicklichkeit unserer Tagesarbeit entschädigte“ (Kraepelin 1983: 112 f.).
Kraepelin war nach eigenen Angaben Naturliebhaber. „Die Pflanzenwelt stand mir dabei (…) näher als die Tiere“ (Kraepelin 2000: 52), notierte er um 1920. „Unangenehm war mir jedes Hervortreten in der Öffentlichkeit“ (a. a. O.: 47), denn dabei hatte er immer das Gefühl, „dass ich irgendwie dem Augenblicke nicht gewachsen sein könnte“ (a. a. O.: 48). Für seine Patienten hegte er wenig Sympathie. Er bedauerte sie, mochte sie jedoch offensichtlich nicht besonders, jedenfalls nicht als Menschen, als Subjekte. Als Arzt ging er ihnen, obwohl er Kliniker war, lieber aus dem Weg. In seinen Lebenserinnerungen berichtet er, dass er für „die ärztliche Praxis (…) ohnedies wenig Neigung und Anlage hatte“ (Kraepelin 1983: 37). Ihn interessierten seine Patienten in erster Linie als Objekte der Forschung. Als er Anfang 1882 auf die Stelle des ersten Assistenzarztes an die Psychiatrische Klinik der Universität Leipzig wechselte, um sich dort zu habilitieren, hielt er sich viel lieber in dem dortigen Labor für experimentelle Psychologie von Wilhelm Wundt, von dem noch die Rede sein wird, auf als bei den Patienten in der Klinik. Ein gutes Jahr später wurde er vom Dienst suspendiert. Der Klinikdirektor, Paul Flechsig, warf ihm vor, die Patienten vernachlässigt und unhaltbare, zum Teil lebensbedrohliche hygienische Zustände tatenlos hingenommen zu haben (hierzu ausführlich: Steinberg 2001: 109). Seiner Karriere hat dies zumindest nicht nachhaltig geschadet. Er konnte sich 1882 noch an der Universität Leipzig – sogar ohne eigenständige Habilitationsschrift, allerdings nach heftigen Kontroversen in der medizinischen Fakultät (auch hierzu ausführlich: Steinberg 2001: 136 ff.) – habilitieren. Im Gegensatz zur damaligen stark neurologisch ausgerichteten Psychiatrie mit besonderer Schwerpunktsetzung im Bereich der Hirnforschung verstand sich Kraepelin (1983: 32) als „Psychiater mit psychologischen Neigungen“. Er war nach Shorter (1999: 158) von regelrechter „Abscheu vor der anatomisch geprägten Psychiatrie“ erfüllt. Für Shorter (a. a. O.: 156) kam es mit Kraepelin zu einem regelrechten Paradigmenwechsel, den Steinberg (2001: 70) so beschreibt: Kraepelin „blieb zwar mehr oder weniger bei dem Postulat ‚Psychische Krankheiten sind Gehirnkrankheiten’ und damit der Hirnpsychiatrie scheinbar am verwandtesten,193 brachte diese aber im deutschen Sprachraum am nachhaltigsten zu Fall“.
Mit Kraepelin kam es, so Shorter (1999: 156), zum „Ende der ersten biologischen Psychiatrie“, genauer: Zum Übergang von der vor allem durch Griesinger begründeten biologischen zur biologistischen Psychiatrie. Wir haben es hier also mit einem ähnlichen Reduktionismus zu tun, wie wir ihn bereits beim Übergang von der Darwin’schen Evolutionstheorie zum Sozialdarwinismus und der daraus abgeleiteten Eugenik herausgearbeitet haben. Kraepelin ging bereits in der 1. Auflage seines Lehrbuches einfach davon aus, dass „nach den überall festzuhaltenden Grundanschauungen jeder Alteration der psychischen Erscheinungen durchaus eine Störung im Ablaufe der Gehirnfunktionen parallel gehen muss“ (Kraepelin 1883: 16).
193 Im Vergleich zur „Psychoanalyse des Sigmund Freud, die sagt: ‚psychische Krankheiten sind Seelenkrankheiten’“ und der soziologischen Psychiatrie (Émile Durkheim), „die sagt: ‚psychische Krankheiten sind soziale Krankheiten’“ (Steinberg 2001: 69).
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Für ihn stand „das Seelenleben (…) in engster physiologischer Abhängigkeit von gewissen körperlichen Vorgängen. Die psychischen Erscheinungen sind nichts als ‚Funktionen’ des Gehirns; psychische Störungen sind diffuse Erkrankungen der Hirnrinde“ (a. a. O.: 2).
Kraepelin übernahm also durchaus die biologischen Prämissen seiner Vorgänger, machte sie aber nicht mehr zum Gegenstand seiner Forschungen und theoretischen Überlegungen, sondern setzte sie stillschweigend als gegeben voraus, mystifizierte sie gewissermaßen als „überall festzuhaltende Grundanschauung“ zum Credo seiner Disziplin. Sein Anliegen war es, Ordnung zu bringen in das, wie zitiert, „verwirrende Gewimmel des Irreseins“. Er unternahm, was Griesinger und zahlreiche zeitgenössische Fachvertreter mit ihm noch für unmöglich hielten, und unterteilte die verschiedenen Formen des Irreseins in einzelne, nach seiner Überzeugung voneinander abgrenzbare Krankheitseinheiten.194 Sein Vorgehen war zu seinen Lebzeiten nicht unumstritten. Zu den erbittertsten Gegnern Kraepelins und seiner Krankheitslehre gehörte neben Otto Binswanger (1852-1929), zu dessen Patienten seinerzeit auch Friedrich Nietzsche zählte, auch Alfred Hoche, der, wie bereits gezeigt, zusammen mit dem Juristen Karl Binding 1920 öffentlich die juristische Freigabe der Vernichtung als lebensunwert deklarierten Lebens gefordert hat. Seit der Jahrhundertwende stand die akademische Psychiatrie unter gewissem Druck, nachdem sie sich 1901 mit ihrer Forderung hat durchsetzen können, als für alle angehenden Mediziner verbindliches Ausbildungs- und Prüfungsfach anerkannt zu werden. Hoche bestritt, dass eine Klassifikation objektiver Art möglich sei, sie sei vielmehr stets subjektiv geprägt. „Eine bestimmte Classification ist in der Psychiatrie nicht eine beliebige Anordnung eines ein für alle Male gegebenen Stoffes, sondern, soweit sie individuelles Gepräge trägt, ein persönliches Programm, das Bekenntnis zu einem bestimmten Principe“ (Hoche 1904: 1071).
Hoche plädierte dafür, dass man sich auf die Beschreibung von Symptomkomplexen beschränke und „der Luxus einer reichlichen Neuschaffung psychiatrischer Krankheitsbezeichnungen von dem Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Allgemeinheit eingedämmt werde“ (Hoche 1904: 1074).
Zur fachlichen Kritik kamen persönliche Eifersüchteleien der gelehrten Herren, die das Verdienst der Schaffung einer psychiatrischen Krankheitslehre nicht an einen Kollegen allein abtreten wollten. „Es geht nicht an, dass der Einzelne die Lösung aller Schwierigkeiten darin sieht, dass seine persönliche Classification nun von allen Anderen angenommen wird; ein gewisses Maass an Opferbereitschaft muss verlangt werden“ (ebd.).
194 Kraepelin war nicht der Einzige und auch nicht der Erste in der Psychiatriegeschichte, der versucht hat, psychische Auffälligkeiten als Krankheiten zu klassifizieren. Einen Überblick über frühere Klassifikationsversuche, aus dem er seinerseits einen Vorschlag zur Einteilung der Seelenstörungen ableitet, der zwar seinerzeit oft zitiert wurde, sich jedoch nicht durchsetzen konnte, hat bereits 20 Jahre vor Kraepelin Karl Ludwig Kahlbaum (1828-1899) vorgelegt (Kahlbaum 1863).
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Hinzu kam, dass viele vor allem der lehrenden Irrenärzte regelrecht genervt waren, dass Kraepelin mit jeder Auflage des 1883 als „Compendium der Psychiatrie erstmals erschienenen und dann etwa alle drei Jahre195 neu aufgelegten und kontinuierlich erweiterten Lehrbuches seine Krankheitslehre immer wieder grundlegend umschrieb und die akademischen Lehrer derart jedes Mal nötigte, ihre Lehrinhalte entsprechend anzupassen. „Speciell das Kraepelin’sche Lehrbuch, das ich, ebenso wie wohl die Mehrzahl der Anwesenden, als wissenschaftliche Leistung und als treibenden Keil des Fortschrittes in jeder Beziehung ausserordentlich hoehstelle, hat nicht wenig dazu beigetragen, augenblicklich den Unterricht in der Psychiatrie zu erschweren. Ich bin überzeugt, dass Kraepelin mit einem grossen Theil seiner neuen Aufstellungen Recht behalten wird; (…) immerhin aber lässt sich die Thatsache nicht wegleugnen, dass die raschen Aenderungen in Auffassung und Eintheilung des Lehrstoffes, die von Auflage zu Auflage erfolgten, es dem Lernenden heute bedeutend erschweren, gerade in der Kenntniss der einfachen Thatsachen das Gefühl des festen Bodens unter den Füssen zu gewinnen“ (ebd.).
Auf der anderen Seite, und dies gab schließlich den Ausschlag, erfüllte Kraepelin der damaligen Psychiatrie in ihrem Bemühen um Anerkennung in der Medizin einen Herzenswunsch, den Maximilian Jahrmärker (1872-1943), Assistent und späterer Nachfolger von Franz Tuczek als Ordinarius für Psychiatrie in Marburg, in einem Vortrag auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie am 24.04.1908 ganz offen formulierte: „In der Hauptsache sind sich alle Psychiater einig; Wir wollen Ärzte sein, was wir suchen sind Krankheiten“ (Jahrmärker 1908: 489).
Genau die glaubte Kraepelin mit seiner Nosologie gefunden zu haben und seinem Fach zum Zwecke seiner disziplinären Absicherung als Teilgebiet der Medizin bescheren zu können. Nach dem Vorbild von Linné elaborierte er einen immer differenzierteren Katalog tatsächlicher oder vermeintlicher psychiatrischer Krankheiten. Wie er dabei methodisch vorging, notierte er in seinen Lebenserinnerungen über seine Zeit in Heidelberg: „Das Mittel, vorwärts zu kommen, war der Zwang, schon nach der ersten Untersuchung eine genau begründete Diagnose zu stellen. Ich richtete zu diesem Zwecke einen ‚Diagnosekasten’ ein, in den jeder von uns nach gründlicher Untersuchung eines neuen Kranken einen Zettel mit der von ihm gestellten Diagnose zu werfen hatte. Im Anschluß daran wurde die Frage besprochen, und jeder hatte seine Diagnose zu rechtfertigen. Nach einiger Zeit wurden dann die Zettel herausgenommen, die Diagnosen in Listen eingetragen und nach dem Abschluß des Krankheitsfalles die endgültige Deutung derselben hinzugefügt“ (Kraepelin 1983: 69).
Unhinterfragt blieb bei diesem Verfahren, ob es sich bei den zu diagnostizierenden Erscheinungsformen menschlichen Daseins überhaupt um diagnostizierbare Krankheitseinheiten im Sinne des herkömmlichen medizinischen Morbuskonzeptes196 handelte. Das wurde, 195 1887 erschien die 2., 1889 die 3., 1893 die 4., 1896 die 5., 1899 zweibändig die 6., 1903/4 dreibändig die 7. und 1909/10/13/15 vierbändig die 8. und letzte zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Auflage. Nach Kraepelins Tod 1926 erschienen der erste und zweite Band 1927 in der 9. Auflage, der erste Band in Überarbeitung durch Kraepelins Schüler Johannes Lange. 196 Dieses beschreibt Scharfetter (1995: 6) wie folgt: „Krankheit als Einheit (Entität) von Erscheinungsbild im Quer- und Längsschnitt, von Entstehung (Ätiologie und Pathogenese), Prodomen (Frühsymptomen) Manifestation, Verlauf, Ausgang und therapeutischer Ansprechbarkeit. Da die Ätiologie im somatischen Morbus-
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wie gesagt, als unhinterfragte Prämisse schlicht unterstellt. Zu Diagnosen führte der vom Chef verordnete Zwang zur Diagnosestellung schon nach der ersten Untersuchung im wörtlichsten Sinne zwangsläufig. Fraglich bleibt allerdings, ob diese Zwangsdiagnosen tatsächlich eine Wirklichkeit existierender Krankheiten abbildeten und in Begriffe fassten oder aber mit den verwendeten Krankheitsbegriffen die Wirklichkeit der unter Anstaltsbedingungen beobachteten und beschriebenen „Zustandsbilder“ (ebd.) der Patienten als eben in diese Begriffe gefasste Krankheiten erst gedanklich hervorgebracht und konstruiert haben. Kraepelin jedenfalls ordnete und klassifizierte die solcherart zustande gekommenen diagnostischen Krankheitseinheiten, er selbst (1916: 298) sprach von den „klinischen Formen des Irreseins“ seit 1883 immer wieder neu und legte 1916 schließlich folgende Systematik vor: „Das Gesamtgebiet der Seelenstörungen läßt sich (…) etwa folgendermaßen einteilen: I. Psychosen durch äußere körperliche Schädigungen (so genannte exogene Psychosen), 1. Hirnverletzungen. A. Traumatisches Delirium. B. Traumatische Epilepsie. C. Traumatischer Schwachsinn. 2. Vergiftungen. (…) A. Alkoholismus. (…) B. Morphinismus. C. Kokainismus D. Seltenere gewohnheitsmäßige Vergiftungen (Äther, Haschisch). 3. Infektionen. (…) 4. Hirnsyphilis. (…) 5. Progressive Paralyse (Metasyphilis). (…) II. Psychosen infolge von inneren körperlichen Krankheitsvorgängen (so genannten endogenen Psychosen). 1. Endogene Hirnerkrankungen (…). 2. Familiäre Hirnerkrankungen Huntingtons Corea, amaurotische Idiotie). 3. Arteriosklerotische Geistesstörungen. (…) 4. Präsenile Geistesstörungen. (…) 5. Senile Geistesstörungen. (…) 6. Dementia praecox. (…) 7. Paraphranien. 8. Genuine Epilepsie. III. Psychogene Erkrankungen197. A. Nervöse Erschöpfung. B. Erwartungsneurose. C. Induziertes Irresein. D. Verfolgungswahn der Schwerhörigen. E. Schreckneurose. F. Traumatische Neurose. G. Psychogene Geistesstörung der Gefangenen. H. Querulantenwahn.
begriff körperlich gedacht ist, dient der Aufweis einer bestimmten morphologischen oder physiologischen Störung zur Begründung der Entität“. 197 Diese werden auch als Neurosen bezeichnet.
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Konstitutionelle Seelenstörungen. 1. Manisch-depressives Irresein. (…) 2. Paranoia. (…) 3. Hysterie. (…) 4. Zwangsneurose. (…) 5. Impulsives Irresein. 6. Geschlechtliche Verirrungen A. Onanie, Exhibitionismus. B. Fetischismus. C. Masochismus. D. Sadismus. E. Homosexualität. Angeborene Krankheitszustände. 1. Nervosität. 2. Psychopathie. A. Erregbare. B. Haltlose. C. Triebmenschen. D. Streitsüchtige. E. Lügner und Schwindler. F. Gesellschaftsfeinde. 3. Oligophrenien. A. Idiotie, Imbezillität, Debilität. B. Mongolismus. C. Infantilismus“ (a. a. O.: 300 ff.).
Kraepelins Anspruch war eigentlich, seine Systematik ätiologisch zu begründen: „Die hier versuchte Gruppierung geht in erster Linie von den bekannten oder mutmaßlichen Ursachen sowie von den Verlaufsformen aus und stützt sich weiterhin, soweit zurzeit möglich, auf Leichenöffnungen“ (Kraepelin 1916: 299).
Diesem Anspruch vermochte er jedoch lediglich bei der ersten Hauptgruppe gerecht zu werden. Bereits „die zweite Gruppe enthält eine Reihe von Krankheitsformen, deren eigentliche Ursachen noch unbekannt sind, aber doch mit größter Wahrscheinlichkeit nicht in äußeren Einwirkungen, sondern inneren Vorgängen gesucht werden müssen“ (a. a. O.: 298),
vorerst allerdings nur geglaubt werden mussten. Die dritte Hauptgruppe fasst „die durch psychische Einwirkungen erzeugten Krankheitsformen zusammen“, wobei Kraepelin davon überzeugt war, dass „neben den äußeren Einwirkungen schon die Persönlichkeit des Erkrankten bedeutsame Rolle spielt“ (a. a. O.: 299). Die vierte Hauptgruppe umfasst die „konstitutionellen Psychosen, die wesentlich Ausdrucksform einer krankhaften Veranlagung darstellen“ (ebd.), die fünfte Gruppe schließlich „die angeborenen krankhaften Zustände (…), die lediglich als Anlagefehler anzusehen sind (…). Als Ursache sehen wir die erbliche Entartung, ferner die Keimschädigungen durch Erkrankungen oder Giftwirkungen bei den Eltern an“ (a. a. O.: 300).
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Bezüglich Kraepelins Anspruch, seine Klassifikation ätiologisch und, wie zitiert, „in erster Linie von den bekannten oder mutmaßlichen Ursachen“ her zu begründen, ist anzumerken, dass er primär nicht von bekannten, sondern lediglich von vermuteten Ursachen ausgehen konnte. An die allerdings glaubte er mindestens ebenso fest wie die Inquisitoren an Gott und den Teufel. „Da die letzte Grundlage aller Formen des Irreseins höchstwahrscheinlich in krankhaften Vorgängen oder Zuständen der Großhirnrinde gesucht werden muß, so werden wir allen wahren Ursachen die gemeinsame Eigenschaft zuschreiben dürfen, daß sie Erkrankungen der Hirnrinde bewirken“ (Kraepelin 1920: 18 f.).
Letztlich bleibt festzuhalten, dass die Kraepelin’sche Krankheitslehre entgegen ihrem Anspruch nicht primär ätiologisch, sondern phänomenologisch fundiert ist, sich bestenfalls noch an Verlaufsformen orientiert. Bezüglich dieser ist allerdings zu beachten, dass die „Erscheinungsformen des Irreseins“, in die Kraepelin Ordnung zu bringen versuchte, nahezu ausschließlich solche waren, mit denen er als Anstaltsarzt konfrontiert war. Er klassifizierte also von ihm für krankhaft gehaltene Erscheinungsformen von Menschen, die, meist schon seit Jahren und Jahrzehnten, in Anstalten lebten. In Ermangelung einer empirisch abgesicherten, mithin auf der Basis einer nur angenommenen Ätiologie ist aber auf der bloßen Ebene der Erscheinung überhaupt nicht zu entscheiden, welche an den betroffenen Menschen festgestellten Merkmale und Verhaltensweisen Ausdruck der originären Krankheit sind – wenn überhaupt eine solche vorliegt – und welche bloße Artefakte der Anstaltsunterbringung sind. Das gilt auch und vor allem für die Verlaufsformen, an denen sich Kraepelin orientierte, denn das, was Kraepelin als Verlaufsformen von Krankheiten interpretierte, sind biografische Prozesse unter Anstaltsbedingungen. Ob seine Beobachtungen auch unter anderen Bedingungen zu gleichen Ergebnissen und zu gleichen Verlaufsformen geführt hätten, ist zumindest in Zweifel zu ziehen.198 Bei seinen Beobachtungen musste Kraepelin (1983: 68) „immer deutlicher (…) erkennen, daß eine erschreckend große Zahl von Kranken, die mir zunächst das Bild der Manie, der Melancholie, des Wahnsinns, der Amentia, der Verrücktheit darzubieten schienen, mehr oder weniger rasch die Züge einer fortschreitenden Verblödung annahmen und dabei einander trotz mancher Unterschiede im einzelnen immer ähnlicher wurden. So wurde es mir allmählich klar, daß die Abweichungen im Beginn keine entscheidende Bedeutung hatten, gegenüber dem zu einem bestimmten Ende führenden Krankheitsverlaufe, ganz ähnlich, wie wir das längst von den verschiedenen Formen der Paralyse wissen. Ich konnte mich demnach dem Schluß nicht entziehen, daß allen diesen Fällen, aus denen sich die große Masse der verblödeten Anstaltsinsassen zusammensetzt, ein einheitlicher Krankheitsvorgang zugrunde liege, der sich zwar bald langsam, bald rasch entwickelt, bald mit, bald ohne Wahnideen, Sinnestäuschungen, Erregungen einhergeht, bald traurige, bald heitere Stimmungen erzeugt, immer aber eine Zerstörung der seelischen Persönlichkeit herbeiführt“.
198 Dazu kommt, dass in der Heidelberg Klinik „freiwillige Aufnahmen nicht zugelassen waren, vielmehr (…) eine bezirksärztliche Einweisung wegen Geisteskrankheit erfolgen mußte“. Deswegen „zeigten die Krankheitsformen eine gewisse Einförmigkeit. Leichtere Schwachsinnsformen, Hysterische, Psychopathen, konstitutionelle Krankheitszustände kamen fast nur dann in die Klinik, wenn sie in Widerstreit mit dem Strafgesetz gekommen waren. (…) So kam es, dass sich das klinische Interesse ganz vorzugsweise den beiden großen Gruppen der Dementia praecox und des manisch-depressiven Irreseins zuwandte“ (Kraepelin 1983: 73 f.).
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Spätestens hier stellt sich die Frage, ob die immer wieder beobachtete „Zerstörung der seelischen Persönlichkeit“ wirklich als Ausdruck des Ausganges eines quasi naturhaftbiologischen Krankheitsgeschehens zu interpretieren ist oder aber als Konsequenz einer Hospitalisierung durch die sozial hochgradig isolierende Anstaltsunterbringung von ihrer Natur her gesellschaftlicher Individuen, mithin als Ergebnis der institutionellen Konstruktion einer spezifischen Form menschlichen Anders-Seins. Dessen ungeachtet verfügte die Psychiatrie mit Kraepelins Werk nun über eine zwar nicht unumstrittene, jedoch so weit anerkannte Nosologie, sodass ihr endlich die Anerkennung als medizinische Disziplin gelang, dies allerdings um den Preis einer „Selbsteinengung der Wahrnehmung auf den Körper“ (Dörner u. a. 2009: 485)199. „Ab 1900 hatte man ziemlich allgemein die Anerkennung als medizinische Disziplin durch die medizinischen Fakultäten durchgesetzt. (Freilich nie ganz: Mediziner belächeln die psychiatrisch Tätigen bis heute – mit Recht – als nicht vollständig zugehörig.) Fortan durften Nervenärzte als Fachärzte sich niederlassen und Pflegekräfte das Milieu der Anstalten prägen“ (ebd.). Bemerkenswert ist, „dass Kraepelins diagnostisch-nosologische Grundbegriffe heute, nach 90 Jahren, noch gelten, und zwar weltweit (…). Ein wissenschaftsgeschichtlich ziemlich einmaliger Vorgang, wenn man bedenkt, wie schnell die Grundbegriffe etwa der Physik sich wandeln. Er spricht freilich auch für die Angst der Psychiatrie, sich der ganzen Wirklichkeit zu öffnen“ (ebd.).
Bemerkenswert an der hier herausgestellten Stabilität der Kraepelin’schen Krankheitslehre ist vor allem auch die Tatsache, dass sie von Kraepelin selbst zu seinen Lebzeiten von Auflage zu Auflage seines Lehrbuches immer wieder grundlegend verändert wurde, nach Kraepelins Tod jedoch zumindest in ihren Grundzügen unangetastet blieb. Offensichtlich hat sich seither niemand mehr an eine Fortschreibung oder gar Revision des Werkes herangewagt, vielleicht aus Angst davor, sich der ganzen Wirklichkeit zu öffnen, aber auch womöglich davor, durch den Versuch einer umfassenden Revision der Nosologie diese letztlich preisgeben zu müssen. Das würde zumindest den mühsam erlangten Status einer medizinischen Disziplin wieder infrage stellen, denn eine medizinische Disziplin ohne Krankheitslehre ist eben keine richtige medizinische Disziplin. 3.4 Von der Nosologie zur anosologischen Klassifikation Trotzdem ist die Psychiatrie mit ihrer Krankheitslehre nie so richtig glücklich geworden. Zwar hat Eugen Bleuler noch bis zur letzten von ihm herausgegebenen Auflage seines Lehrbuchs betont: „Wir folgen (…) so weit als möglich der Einteilung Kraepelins, die so ziemlich in der ganzen Welt verstanden wird, während alle anderen Klassifikationen nur für bestimmte Schulen brauchbar sind“ (Bleuler 1937: 101),
199 Diese Selbsteinengung ist, wie schon gezeigt, ein Vorgang, der keinesfalls nur die Psychiatrie betrifft, sondern die gesamte Medizin. Bei der Psychiatrie ist er nur besonders folgenschwer, weil hier das erkrankte Organ fehlte, auf das sich die Krankheiten reduzieren ließen, zumindest das Organ, welches für Geisteskrankheiten verantwortlich gemacht wird, in den meisten Fällen keine pathologischen Befunde aufweist.
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doch schon in der folgenden 7., erstmals von Manfred Bleuler herausgegebenen Auflage gestand dieser ein: „Es erweist sich als unmöglich, die Vielfalt der krankhaften seelischen Erscheinungen in einheitliche Krankheitsbilder aufzulösen“ (1943: 95).
Vorsichtig ging er auf Distanz zur Kraepelin’schen Systematik, freilich ohne sich von ihr abzuwenden. „Die klassische Systematik der Geisteskrankheiten stellt einen Versuch dar, zu einer Einteilung der Psychiatrie nach ‚Krankheitseinheiten’ zu gelangen, deren Ätiologie, Symptomatologie, Verlauf und Therapie nach einheitlichen Gesichtspunkten beschrieben werden könnte Es gelang aber nur, vereinzelt Begriffe herauszuheben (…). Es blieb eine große Zahl von Krankheitsbildern übrig, bei denen die Einteilung nach der Symptomatologie, der Ätiologie und dem Verlauf nicht zu übereinstimmenden Krankheitsgruppen geführt hat. (…) Trotzdem muß sich das Lehrbuch an die klassische Systematik halten“ (a. a. O.: 97). Deutlicher wurde er ab der 9. Auflage: „Dem letzten Jahrhundert schwebte als ein Ziel der Psychiatrie oft die Aufstellung einer natürlichen Ordnung der Geistesstörungen vor, der die Systematik Linnés für die Pflanzen und Tierwelt als Vorbild gedient hätte. (…) Heute hat es sich als unmöglich erwiesen, die Welt der krankhaften seelischen Erscheinungen in voneinander scharf getrennte ‚Krankheitseinheiten’ aufzulösen“ (Bleuler 1955: 112 f., so bis Bleuler 1983: 113). Doch es bleibt dabei: „Trotz alledem muß die spezielle Psychiatrie nach irgendeinem Einteilungsprinzip beobachtet, beschrieben und gelehrt werden“ (a. a. O. 1955 bis 1983: 113). Und so differenzierte er zwischen A. Geistesstörungen in engem Zusammenhang mit Körperkrankheiten (1955: 177 ff., 1983: 202 ff.), B. Die „endogenen“ Geistesstörungen (1955: 329 ff., 1983: 406 ff.), C. „Psychoreaktive“ und „psychogene“ Störungen (1955: 402, 1983: 494), D. Persönlichkeitsstörungen in Beziehung zu angeborenen Persönlichkeitsvarianten (1955: 462 ff., 1983: 571).
Diese Differenzierung behielt er bis zur letzten Auflage (1983) des Lehrbuches bei und hielt letztlich doch an der Kraepelin’schen Systematik fest. Lediglich die konstitutionellen Seelenstörungen aus Kraepelins System löste er auf und ordnete die Untergruppen teils den endogenen, teils den psychogenen Störungen zu. Huber (1974: 1; 2005: 23) gestand in allen Auflagen seines Lehrbuches gleich einleitend ein: „Jedes System in der Psychiatrie hat beim heutigen Stand unseres Wissens zwangsläufig provisorischen Charakter“. Doch auch für ihn steht fest: „Dennoch benötigen wir ein solches System als Grundlage für die Ordnung des Stoffes und die Aneignung des Wissensgutes der Psychiatrie in sinnvoller und organischer Weise.“
Er schlug in Anlehnung an Schneider (1971) das auf Jaspers (1913) zurückgehende „triadische System der Psychiatrie“ (Huber 1974: 1) vor, das die folgenden drei großen Gruppen unterscheidet:
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A. B. C.
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Somatogene Störungen, das heißt körperlich begründbare (exogene, organische) Psychosen und Defektzustände Endogene Störungen oder Psychosen, die als „körperlich (noch) nicht begründbar“ (Huber 2005: 24) gelten Psychogene Störungen oder abnorme Variationen seelischen Verhaltens.
An dieser Systematik, welche sich ebenfalls nicht substanziell vom Kraepelin’schen Modell unterscheidet, hielt er bis zur vorläufig letzten Auflage des Lehrbuches (Huber 2005) fest und setzte sich damit in einen Gegensatz zu anderen Lehrmeinungen, wie sie z. B. Schulte & Tölle (1971: 12) mittlerweile vertreten. Aber auch sie beklagten: „In der Psychiatrie stößt die Systematik auf größere Schwierigkeiten als in den meisten anderen Disziplinen. Eine topologische Gliederung etwa nach psychischen Bereichen, ist sinnlos, da stets mehr oder weniger die Gesamtpersönlichkeit vom Krankheitsgeschehen betroffen ist. Versuche der älteren Psychiatrie, Krankheitseinheiten aus Einzelsymptomen (etwa Tobsucht, Poriomanie = dranghaftem Wandern) oder im Bereich der paranoiden Erkrankungen aus den Themen des Wahns (…) abzuleiten, lassen sich nicht aufrechterhalten. Das gleiche gilt von dem Versuch, bestimmte psychische Störungen auf körperliche Ursachen zu beziehen.“ Große Schwierigkeiten bereiten vor allem die endogenen Psychosen. „Die Problematik des Begriffes ‚endogen’ läßt sich allerdings nicht verschweigen. Er war einmal einer der beherrschenden und ist bis heute einer der umstrittensten Begriffe der Psychiatrie geblieben. Endogen bedeutet ‚nicht somatisch begründbar’ und zugleich ‚nicht-psychogen’. Was nun aber ‚endogen’ positiv ausdrückt, wird nicht einheitlich verstanden. Manche Psychiater meinen nicht mehr als ‚idiopathisch’ (d. h. eigene, aus sich heraus entstandene Krankheit, nicht Symptom einer anderen Krankheit), andere meinen ‚erblich’, wieder andere vertreten die Ansicht, es könne nicht anders sein, als daß eine somatische Ursache vorläge, nur sei sie noch nicht bekannt, aber zu postulieren. Und schließlich wird endogen als ‚cryptogen’ (unbekannte Ätiologie) verstanden“ (a. a. O.: 13). In der 7. Auflage wird hinzugefügt: „Nicht weniger problematisch ist der Begriff ‚psychogen’. Als psychogene Krankheiten werden (…) Neurosen und verwandte Störungen bezeichnet, auch psychosomatische Störungen und Suchten eingeschlossen. Die Formulierung ‚psychogen entstand aus einer mechanistisch-psychologischen Sicht, die sich an die allgemeine Denkweise anlehnte (nephrogen, vertebragen200) (…). Es gibt jedoch nicht die ‚Psyche’ im Sinne eines Organs und Ortes der Verursachung von Krankheiten“ (Tölle 1985: 15). „In der heutigen mehrdimensional201 orientierten Psychiatrie sind Begriffe wie endogen und psychogen überholt“ (a. a. O.: 16),
werden aber gleichwohl in den weiteren Ausführungen des Lehrbuches immer wieder verwendet.202 Mit der angesprochenen Mehrdimensionalität ist gemeint, dass von einer „Gliederung der vielfältigen Entstehungsbedingungen psychischer Störungen“ ausgegangen wird: „Faktoren der Erblichkeit und erworbenen Konstitution, organische Bedingungen infolge 200 Deutsch: nierenbedingt, wirbelsäulenbedingt, also jeweils durch die Fehlfunktion eines bestimmten Organs bedingt. 201 Ab der 11. Auflage (Tölle 1996) ist statt von Mehr- von Pluridimensionalität die Rede. 202 Für Hubers triadisches System sind sie, wie gezeigt, nach wie vor grundlegend. Dabei ist er sich durchaus bewusst, dass seine „eigene Auffassungen mit zeitgenössischen Lehrmeinungen und Tendenzen nicht kompatibel sind, so bei den modernen Klassifikationssystemen, der pauschalen ‚Pseudodiagnose Depression’, der vollständigen Aufgabe der Unterscheidung von ‚endogen’ und ‚psychogen’ oder der Drogenpolitik“ (Huber 2005: VII).
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direkter oder indirekter Hirnschädigung, Einflüsse der psychischen Entwicklung und Situation. Viele Krankheitsbilder lassen sich nur erklären, wenn alle drei Aspekte berücksichtigt werden“ (ebd.).
Trotz allen Schwierigkeiten: Ohne Nosologie geht es nicht, vorerst jedenfalls. Von der 1. bis zur 7. Auflage endet das Kapitel über Nosologie stets mit der Feststellung:203 „Trotz der offenen nosologischen Probleme ist für die klinische Dokumentation und für die wissenschaftliche Verständigung eine verbindliche diagnostische Einteilung notwendig“ (a. a. O.: 18).
Die Frage bleibt, wie hier Verbindlichkeit zu erreichen ist, wenn jeder unter zwar identischen zentralen Begriffen etwas anderes versteht. Erst in der 9. Auflage wurde eingestanden „Eine umfassende und allgemein anerkannte psychiatrische Nosologie gibt es bisher nicht“ und als Ausweg beschrieben: „Da aber eine Einteilung der Krankheiten oder zumindest ein Diagnoseschema aus verschiedenen wissenschaftlichen und praktischen Gründen unerlässlich erschien, versuchte man eine Krankheitssystematik auf andere Weise zu erreichen“ (Tölle 1991: 29),
und zwar auf dem Wege einer Klassifikation, die auf jegliche ätiologische und theoretische Fundierung verzichtet, wie dies in den aktuellen Klassifikationssystemen, auf die wir sogleich näher eingehen werden, versucht wird. Der Ansatz dieser Systeme „ist deskriptiv: Sie beschreiben die Krankheiten und ihre Symptome. Sie verzichten darauf, sie auf bekannte oder vermutete Ursachen zurückzuführen. Ihr Ansatz ist pragmatisch und in gewisser Weise atheoretisch. Sie stellen keinen Anspruch auf letzte wissenschaftliche Wahrheit. Die Diagnosekriterien gelten als erfüllt, wenn die Symptome einer psychischen Störung in ausreichender Anzahl und von ausreichendem Gewinn vorhanden sind“ (Finzen 2008: 65 f.). „All dies bedeutet, dass wir bei der Anwendung zeitgemäßer diagnostischer Klassifikationssysteme nicht mehr feststellen können204 und wollen, dass ein Mensch ‚schizophren’ ist. Wir prüfen vielmehr, ob die Diagnosekriterien nach ICD 10 oder DSM III-R für die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis vorliegen oder nicht. Die Diagnose ist auf diese Weise zum Konstrukt geworden, zur Arbeitshypothese, die aber sehr wohl die Grundlage für therapeutisches Handeln schafft“ (a. a. O.: 66; Hervorhebung ER).
Ab der 10. Auflage beschrieben Tölle (1994: 29) bzw. Tölle & Windgassen (2009: 43) den Vorgang der Klassifikation mit geringfügigen Variationen des Textes wie folgt: „Die vorliegenden klinischen und wissenschaftlichen Befunde werden zusammengetragen und von Fachleuten unter dem Aspekt diskutiert, ob und inwieweit Übereinstimmung bezüglich der Verlässlichkeit der Befunde und ihrer diagnostischen Bedeutung besteht (…). So wird versucht, für beschreibbare Krankheitsbilder einheitliche Bezeichnungen zu finden, charakteristische Merkmale zusammenzustellen, die als Kriterien verbindlich formuliert werden (daher auch die Bezeichnung Kriteriologie für Klassifikation), unter Verzicht auf Theorien und auf eine ätiologisch oder sonst wie fachlich begründete Systematik. Da aber das Wissen hierüber unvollständig ist und nicht selten die Ansichten der Fachleute auseinandergehen, kam eine solche Systematik mal durch Konsens, mal bei Kontroversen durch Kompromisse zustande. Um einen möglichst 203 In der 8. Auflage (Tölle 1988: 18) beginnt damit das Folgekapitel über Klassifikation. 204 Selbstverständlich war dies auch früher nicht möglich, es wurde jedoch jahrzehntelang behauptet und als wissenschaftlich abgesichertes Dogma verkündet.
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weitreichenden Konsens zu erzielen, werden daher im allgemeinen nur relativ leicht erkennbare und gut operationalisierbare Merkmale zugelassen, die größtenteils Verhaltensmerkmale sind.“
Dabei bleiben subjektive, psychodynamische und biografische Aspekte bewusst unberücksichtigt. Nicht das Individuum in seiner Gewordenheit und seiner Lebenswelt wird betrachtet, sondern der Patient, genauer: sein Verhalten, so wie es aktuell und oft dazu auch noch unter Anstaltsbedingungen in Erscheinung tritt. „Um das Krankheitsbild eines Patienten zu klassifizieren, wird die individuell ermittelte Diagnose einer Klassifikationskategorie zugeordnet, und zwar derjenigen, der sie am meisten entspricht. Dabei wird geprüft, ob eine hinreichende Anzahl der Kriterien dieser Kategorie auf das Krankheitsbild zutrifft“ (a. a. O.: 46)205.
Die gegenwärtig verbreitetsten Klassifikationssysteme sind das von der American Psychiatric Association herausgegebene Diagnostic and Statistical Manual (DMS), das 1994 erstmals in der IV. Version erschien und vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika Anwendung findet, sowie die International Classification of Diseases (ICD), die von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird und in einer deutschen Revision in Deutschland angewandt wird. Nur auf Letztere werden wir in den weiteren Ausführungen eingehen. Die ICD-10 geht zurück auf das 1893 eingeführte Internationale Todesursachenverzeichnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO), welches 1948 mit der 6. Revision auch auf Krankheiten ausgedehnt wurde. In den folgenden 30 Jahren kam es etwa alle zehn Jahre zur Vorlage einer neuen Revision. Die Erarbeitung der heute aktuellen 10. Revision begann 1983. Im Jahr 1992 wurde sie erstmals veröffentlicht, konnte sich allerdings lange nicht gegen die vorangegangene 9. Revision durchsetzen, da nicht alle mit dem damit verbundenen Verzicht auf eine ätiologische und theoretische Fundierung einverstanden waren. „ICD-10 und DSM-IV, so ihr Reduktionismus und ihre einschneidenden inhaltlichen Neuerungen, werden von klinisch und therapeutisch orientierten Psychiatern kritisiert, z. B. kann der atheoretische-anosologische Ansatz der symptomatologisch-deskriptiven ICD-10 nicht konsequent durchgehalten werden. Die Aufhebung der Trennung ‚von ‚Neurose’ und ‚Psychose’ wird zwar postuliert, doch werden beide Begriffe als Adjektiva weiter verwendet (…). Die diagnostischen Kriterien sind zum Teil von einer klinikfernen (Pseudo-)Exaktheit. Die wesentliche Verbesserung der statistischen Methoden kann die Qualität der – oft von unerfahrenen ‚Trained Researchers’ erhobenen – klinischen Daten nicht kompensieren“ (Huber 2005: 28).
Im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) wurden die Ärzte in Deutschland schließlich nach §§ 295 und 301 SGB V verpflichtet, ihre Diagnosen ab dem 1. Januar 2000 nach ICD-10 zu verschlüsseln. Eine Diagnosestellung nach anderen Klassifikationen oder im Klartext ist nicht mehr zulässig. Bei der ICD-10 handelt es sich um ein vierstelliges alphanumerisches Klassifikationssystem, wobei die erste Stelle, ein Buchstabe, das Fach205 In der 11. Auflage (Tölle 1996: 29) war an dieser Stelle übrigens noch der Satz eingefügt: „Wohl in keinem anderen medizinischen Gebiet sind die Schwierigkeiten des Klassifizierens so groß wie in der Psychiatrie, und in keinem anderen Fach wurde soviel Arbeit für die Klassifikation aufgewandt.“ Das wird ohne Zweifel zutreffen und scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass die großen Probleme, die die Psychiatrie über Jahrzehnte mit ihrer Nosologie hatte, nach deren Aufgabe trotz des Verzichts auf ätiologische und theoretische Begründungen noch keineswegs überwunden sind.
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gebiet (hier also F für Psychische und Verhaltensstörungen) bezeichnet, dem zwei oder drei numerische Stellen folgen. Die erste Stelle bezeichnet jeweils die Hauptgruppe, die zweite Stelle die Untergruppe und die letzte, durch einen Punkt abgetrennte Stelle steht für sonstige Begleitumstände. Psychische Krankheiten bilden das fünfte Kapitel dieses Werkes. Nach der aktuellen Auflage des ICD-10 (2010, German Modification) wird in der Gruppe der psychischen Krankheiten und Verhaltensstörungen (F00-F99) wie folgt differenziert: Schlüssel F00-F09 F10-F19 F20-F29 F30-F39 F40-F48 F50-F59 F60-F69 F70-F79 F80-F89 F90-F98 F99
Bezeichnung ICD-10 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen Affektive Störungen Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen206 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Intelligenzminderung Entwicklungsstörungen Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend Nicht näher bezeichnete psychische Störungen
Es zeigt sich, dass das Schema gegenüber dem klassischen Kraepelin’schen Modell differenzierter geworden ist, für Huber (1994: 34) „zum Teil so detailliert und unübersichtlich, daß die Praktikabilität in Frage gestellt ist“. Bei näherer Betrachtung stellt sich zudem die Frage, ob diese Klassifikation tatsächlich die traditionelle Nosologie überwindet oder nur verschleiert. Jedenfalls lassen sich die meisten Kraepelin’schen Krankheitseinheiten mühelos auch in dieser Systematik wiederfinden. Auch Huber (2005: 29) vermag „bei genauer Analyse durchaus eine Kontinuität zwischen den traditionellen und den modernen Klassifikationssystemen (zu) erkennen“. Wir kommen auf die Problematik der Klassifikation psychischer Krankheiten am Ende des folgenden Kapitels noch einmal zurück, wenn wir uns mit den Problemen der Diagnostik auseinandersetzen. Einen ganz anderen, hier zumindest zu erwähnenden, aber nicht zu vertiefenden Weg der Auseinandersetzung mit psychischem Leiden beschreiten Dörner u. a. (2009). Für sie „(ist) ein psychisch Kranker (…) ein Mensch, der bei der Lösung einer altersgemäßen Lebensaufgabe in eine Krise und Sackgasse geraten ist, weil seine Verletzbarkeit und damit sein Schutzbedürfnis und sein Bedürfnis, Nicht-Erklärbares zu erklären, für ihn zu groß und zu schmerzhaft geworden sind“ (a. a. O.: 17).
Auch sie legten eine Systematik vor, die aber nicht nach einzelnen, von den Kranken abgetrennten Krankheitseinheiten oder pathologischen Erscheinungen differenziert, sondern sich an der Biografie eines Menschen von der Geburt bis zum Tod orientiert und dabei mögliche Krisen thematisiert, die zu seelischen oder geistigen Kränkungen, entsprechendem Leiden 206 Hier werden übrigens auch unter der Schlüsselnummer F 44.3 sog. „Trance- und Besessenheitszustände“ verschlüsselt und wie folgt definiert: „Bei diesen Störungen tritt ein zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung auf. Hier sind nur Trancezustände zu klassifizieren, die unfreiwillig oder ungewollt sind, und die außerhalb von religiösen oder kulturell akzeptierten Situationen auftreten“.
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und Hilfebedarfen führen können. Im Fokus dieses Lehrbuches stehen nicht Krankheiten, sondern Menschen in ihren zuweilen kränkenden und in diesem Sinne krank machenden Lebenskontexten. Einstweilen allerdings gelten Dörner u. a. noch eher als Außenseiter in der psychiatrischen Disziplin und Profession. 4
Exkurs: Andere Ansichten von der Seele
In dieser Untersuchung über Konstruktionen von Anders-Sein geht es überwiegend um seelisches Anders-Sein. Das ist kein Zufall, denn in diesem Bereich kommt es gewissermaßen zu einer doppelten Konstruktion. „Seit ihren Anfängen hat die Seele etwas Transitorisches an sich, das über die Natur und über den Menschen hinausweist. Sie hat keine Substanz; sie ist immateriell. Daher entzieht sie sich dem identifizierenden Zugriff der Wissenschaften“ (Wulf 1991: 5).
Es gab zwar zu fast allen Zeiten in der Geschichte der Menschheit weitgehende Übereinstimmung darüber, dass eine Seele in irgendeiner Weise existent ist, und ein großes Interesse, Näheres über sie in Erfahrung zu bringen, sie zu erforschen. Wegen ihrer Unerkennbarkeit jedoch muss die Seele, ehe sie analysierbar wird, seelische Vorgänge erforscht und seelische Abweichungen erklärt werden können, erst konstruiert werden. Während die disziplinäre Zuständigkeit für die Konstruktion der Seele und bei festgestellten Abweichungen auch ihrer Behandlung vor dem Paradigmenwechsel relativ unangefochten von der Theologie beansprucht werden konnte, kam es nach dem Paradigmenwechsel nicht nur zu einem Wechsel, mindestens zu einer Ergänzung der disziplinären Zuständigkeit, sondern auch zu einer Diversifikation. Neben der Psychiatrie als Seelenheilkunde, die sich vor allem mit seelischem Anders-Sein beschäftigte, und, wie wir gezeigt haben, auch keineswegs geradlinig als medizinische Disziplin entwickelt hat, etablierte sich ab Ende des 19. Jahrhunderts die Psychologie, die Lehre von der Seele, als eigenständige akademische Disziplin. Genauer: Es entstanden mehrere, zum Teil stark divergierende psychologische Schulen, die sich teilweise in ihrer Schwerpunktsetzung, teilweise aber auch in ihren theoretischen Grundannahmen, in ihren Konstrukten von der Seele, so stark unterschieden, dass von einer in sich konsistenten Disziplin der Psychologie nur schwerlich gesprochen werden kann. Die Diversifikation der Psychologie setzte schon bald nach ihrer Etablierung als akademische Disziplin ein und hat sich bis heute fortgesetzt. Schon 1927 sprach Karl Bühler von einer „Krise der Psychologie“. Döring (1932) unterschied in einer Überblicksarbeit zwölf Hauptströmungen der neueren Psychologie und äußerte Verständnis, „wenn Zweifler sagen: eine Wissenschaft der Psychologie gibt es überhaupt nicht, nur noch ein Chaos unzusammenhängender Meinungen“ (a. a. O.: 7). Auch Bühler (1929: 1) konstatierte: „Soviele Psychologien nebeneinander wie heute, so viele Ansätze auf eigene Faust sind wohl noch nie gleichzeitig beisammen gewesen. (…) Ein rasch erworbener und noch unbewältigter Reichtum neuer Gedanken, neuer Ansätze und Forschungsmöglichkeiten hat den krisenhaften Zustand der Psychologie heraufbeschworen“ (Bühler 1929: 1). „Wir haben erlebt, daß Behavioristen der jungradikalen Richtung die ältere Erlebnispsychologie zum alten Eisen warfen, daß Interpretationspsychologen den Namen Psychologie für ihr Unternehmen ganz allein ‚zurückgefordert’ haben, während Psychophysiker und sonstige Expe-
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rimentatoren in ihren Laboratorien sich peinlich frei zu halten strebten von den ‚Systemdichtern’ und sonstigen ‚Spekulanten’ aus dem Lager der ‚Geistreichen und ‚Schönschreiber’. (…) Gibt es drei Wissenschaften mit dem einen Familiennamen oder drei Arten des Vorgehens, die in getrennter Buchführung dasselbe verbuchen, oder wie steht es sonst mit dem Verhältnis der gezeichneten Richtungen zueinander?“ (a. a. O.: 27)
Bühler versuchte, auf diese Frage eine Antwort zu finden, und war optimistisch. „Es ist, wenn nicht alles täuscht, keine Zerfalls-, sondern eine Aufbaukrise“ (a. a. O.: 1). Zu Recht wies er außerdem darauf hin, dass sich nicht nur die psychologischen Wissenschaften in einer Krise befinden. „Kritisch ist ja nicht nur die Lage in der Psychologie, sondern auch die in anderen Geisteswissenschaften und in der Biologie; ich denke mir, unsere nächsten Nachbarn, z. B. die Soziologie und die Psychiatrie dürften nicht nur aus altruistischen Gründen an dem, was uns hier beschäftigen soll, Interesse nehmen“ (ebd.).
Zu den inhaltlichen Schwierigkeiten, eine disziplinäre Identität zu finden, kam hinzu, dass die Institutionalisierung der Psychologie nicht nur in Leipzig, sondern auch anderenorts zunächst über philosophische Professuren erfolgte, sodass die Disziplin anfangs nicht durch die explizite Denomination von Lehrstühlen sichtbar wurde, sondern durch die inhaltliche Ausrichtung ihrer Vertreter (vgl. Geuter 1984: 85 ff.). Erst „der Einsatz der Psychologie im Ersten Weltkrieg bei den Ausleseuntersuchungen in Militär, Industrie und Schulen veränderte in den zwanziger Jahren (…) den Weg ihrer akademischen Institutionalisierung“ (a. a. O.: 88).
Es wurden erste eigenständige psychologische Professuren eingerichtet.207 Im Zuge der zunehmenden Akademisierung der Lehrerausbildung, die auch verbunden war mit der Schaffung eigenständiger pädagogischer Professuren, konnte sich die Psychologie weiter etablieren. Mitte der 1920er Jahre verschlechterte sich die Lage der universitären Psychologie. „Nach 1929 (wurden) keine neuen Lehrstellen für Psychologie eingerichtet“ (a. a. O.: 97). 1933 verlor das Fach durch das judenfeindliche „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ „an den Universitäten mehr als ein Drittel seiner Ordinarien“ (a. a. O.: 100). Die Maßnahme richtete sich allerdings nicht gegen das Fach. „Im Gegenteil konnte sich die Psychologie (…) von den Schlägen des Beamtengesetzes institutionell erholen und ihre Position an den Universitäten im Verhältnis zu 1932 sogar verbessern“ (a. a. O.: 134 f.).
Es kam zu einer zunehmenden Professionalisierung des Faches und einer stärkeren Praxisorientierung der Disziplin. Das blieb nicht ohne inhaltliche Konsequenzen, denn „nicht das gesamte theoretische und methodische Wissen der Psychologie war beruflich verwendbar und daher für die Professionalisierung des Faches von Bedeutung. Unter ihren bunten Wissensangeboten stieß vor allem eines auf eine praktische Nachfrage: das diagnostische Wissen zur individuellen Beurteilung von Menschen für die Auslese in den Bereichen Arbeit und Militär, den beiden Bereichen, in denen die Berufsentwicklung der Psychologie in Deutschland startete“ (a. a. O.: 143). 207 Auch Pädagogen bekleideten bis dahin ausschließlich Professuren für Philosophie.
4 Exkurs: Andere Ansichten von der Seele
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„Ende der dreißiger Jahre drängte die wachsende Nachfrage nach professionellen Psychologen auf dem Arbeitsmarkt nach einer Lösung des Widerspruchs zwischen der akademischen Ausbildung in Psychologie und ihrer praktischen Anwendung“ (a. a. O.: 309).
Psychologie entwickelte sich so zu einem eigenständigen Hauptfachstudiengang, für den das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1941, zwei Jahre nach Kriegsbeginn, in enger Anlehnung an die Ordnung für die Assessorenprüfung der Wehrmachtspsychologie die erste Diplom-Prüfungsordnung erließ. Damit war das Problem der theoretischen Zersplitterung des Faches zwar nicht gelöst, doch es trat im Zuge der Professionalisierung in den Hintergrund. Es ist an dieser Stelle weder möglich noch notwendig, Einzelheiten der unterschiedlichen psychologischen Richtungen darzulegen. Wir werden uns auf den Versuch beschränken, in groben Zügen Stationen im Mainstream der akademischen Psychologie in Deutschland nachzuzeichnen die wohl weitgehend unbestritten mit Wilhelm Wundt ihren Ausgang nahm. Wundts experimentalpsychologische Forschungen fanden eine Zeit lang weltweite Beachtung, bis sie durch den aus den USA stammenden Behaviorismus überwunden wurden. Neben den psychologischen Richtungen, die sich vornehmlich mit dem menschlichen Bewusstsein beschäftigen, hat sich nahezu zeitgleich ein weiterer psychologischer Ansatz entwickelt, der seinen Fokus vornehmlich auf unbewusste psychische Vorgänge richtet, die Psychoanalyse, deren Begründung und Entwicklung durch Sigmund Freud im Hinblick auf die Fragestellung dieser Untersuchung skizziert wird, wobei aufgrund der starken Diversifikation auch dieser Richtung die Ausführungen sich auf zentrale Aspekte im Werk Freuds konzentrieren müssen. 4.1 Das Psychische und seine Verbannung in die Black Box 1879 gründete Wilhelm Wundt (1832-1920), seit 1875 Professor für Philosophie in Leipzig, dort das erste Institut für experimentelle Psychologie und legte damit den Grundstein für die Etablierung der Psychologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Wundt identifizierte in der zeitgenössischen Diskussion „zwei Gestaltungen des Seelenbegriffs“ (Wundt 1904: 382) die er gleichermaßen zurückwies, „die materialistische, welche die psychischen Vorgänge als Wirkungen der Materie oder gewisser materieller Komplexe, wie der Gehirnbestandteile, betrachtet; und die spiritualistische, welche dieselben als Zustände und Veränderungen eines unausgedehnten, darum unteilbaren und beharrenden Wesens von spezifisch geistiger Natur ansieht“ (ebd.). „Der Materialismus beseitigt die Psychologie überhaupt, um an ihre Stelle eine imaginäre Gehirnphysiologie der Zukunft oder (…) zweifelhafte und unzulängliche gehirnphysiologische Hypothesen zu setzen. (…) Der Spiritualismus läßt zwar die Psychologie als solche bestehen, aber die wirkliche Erfahrung wird in ihm von völlig willkürlichen metaphysischen Hypothesen überwuchert, welche die unbefangene Beobachtung der physischen Vorgänge überwuchert“ (a. a. O.: 383).
Wundt ging bei der Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele von der Annahme aus, „daß alle diejenigen Erfahrungsinhalte, die gleichzeitig der mittelbaren, naturwissenschaftlichen und der unmittelbaren, psychologischen Betrachtungsweise angehören, zueinander in Beziehung
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IV Mechanistisch-naturwissenschaftliche Erklärungsansätze des Anders-Seins
stehen, indem innerhalb jenes Gebietes jedem elementaren Vorgang auf psychischer Seite ein solcher auf physischer entspricht“. Dies nennt er „das Prinzip des psycho-physischen Parallelismus“ (a. a. O.: 387).
Während die Naturwissenschaften versuchen, Erkenntnisse über die Gegenstände der Natur unabhängig von dem beobachtenden Subjekt zu gewinnen, untersucht die Psychologie „den Inhalt der Erfahrung in seinen Beziehungen zum Subjekt und in den ihm von diesem unmittelbar beigelegten Eigenschaften“ (a. a. O.: 3). Wundt untersuchte unter anderem Bewusstseinsvorgänge, Psychophysik und Sinnesempfindungen, Assoziationen und Apperzeption, indem er ihre Komplexität reduzierte und sie zunächst zerlegte in psychische Gebilde wie räumliche oder zeitliche Vorstellungen, (zusammengesetzte) Gefühle, Affekte und Willensvorgänge. Diese zergliederte er dann ihrerseits in zwei einfache psychische Elemente, 1. (sensorische) Empfindungen und 2. einfache Gefühle. Mit Hilfe empirischer Methoden208, vor allem durch Experimente, (Selbst-)Beobachtung sowie durch den Einsatz physiologischer und statistischer Verfahren, versuchte er, Erkenntnisse über die solcherart isolierten Elemente und Gebilde zu gewinnen, um daraus Rückschlüsse über die Wirkung und Bedeutung dieser Elemente im Gesamtzusammenhang abzuleiten. „Da sich jedes psychische Gebilde aus einer Vielheit elementarer Vorgänge zusammensetzt, die weder sämtlich im selben Moment zu beginnen noch aufzuhören pflegen, so reicht der Zusammenhang, der die einzelnen Elemente zu einem Ganzen verbindet, im allgemeinen stets über dieses hinaus, so daß verschiedene gleichzeitige wie sukzessive Gebilde selbst wieder, wenn auch loser, untereinander verbunden werden. Diesen weiteren Zusammenhang der psychischen Vorgänge nennen wir das Bewußtsein“ (a. a. O.: 244).
Für von der Normalität abweichende psychische Zustände machte Wundt vor allem drei psychologische Bedingungen verantwortlich: „Sie können bestehen: 1) in der abweichenden Beschaffenheit der psychischen Elemente, 2) in der Art der Zusammensetzung der psychischen Gebilde und 3) in der Verbindungsweise der Gebilde“, wobei „in der Regel keine dieser drei Bedingungen für sich allein wirksam (ist)“ (a. a. O.: 324).
Wundt versuchte in Anlehnung an die Naturwissenschaften, vor allem an die Physik, psychische Gesetze bzw. Prinzipien aufzudecken und damit die Psychologie aus ihrer Einbindung in die Philosophie herauszulösen und als eigenständige Disziplin zu begründen, betont jedoch immer wieder auch den Unterschied zwischen Psychologie und Naturwissenschaften, der vor allem in den Inhalten liegt: Während Letztere sich vor allem mit Objekten beschäftigen, „(bilden) den Inhalt der Psychologie (…) ausschließlich Vorgänge“ (a. a. O.: 26). Neben der experimentellen, methodisch eher an den Naturwissenschaften ausgerichteten Psychologie entwickelt Wundt außerdem noch eine eher geisteswissenschaftlich ausgerichtete Völkerpsychologie, zu der er ein zehn Bände umfassendes Werk vorlegt (Wundt 1911-1920), auf das an dieser Stelle nicht weiter eingegangen wird. 208 Nach Wundt (1904: 29) „verfügt die Psychologie, ähnlich der Naturwissenschaft, über zwei exakte Methoden: die erste, die experimentelle Methode, dient der Analyse der einfacheren psychischen Vorgänge; die zweite, die Beobachtung der allgemeingültigen Geisteserzeugnisse, dient der Untersuchung der höheren psychischen Vorgänge und Entwicklungen“.
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Die Entwicklung der Psychologie nach Wundt ist, wie schon erwähnt, geprägt durch die Entstehung unterschiedlicher Schulen, die es schwer machen, eine einheitliche in sich konsistente Disziplin auszumachen. Eines allerdings haben vorerst noch alle Richtungen gemeinsam, nämlich ihren Erkenntnisgegenstand: die menschliche Psyche. Während Wundt und seine Nachfolger noch die eben durch diesen Gegenstand begründete Eigenständigkeit der Psychologie gegenüber den Natur- und den Geisteswissenschaften betonten, war die Disziplin später mehr und mehr bemüht, sich als reine Naturwissenschaft zu etablieren. Dabei geriet das Fach immer stärker unter den Einfluss des von John B. Watson (18781958) in den USA begründeten und vor allem von Burrhus F. Skinner (1904-1990) fortgeführten und zugespitzten Behaviorismus. Watson war ein scharfer Kritiker Wundts, dessen zunehmenden Einfluss auf die US-amerikanische Psychologie er mit Sorge betrachtete (vgl. Watson 1976: 37 ff.). Watson und seine Anhänger „kamen (…) zu dem Schluß, daß die mehr als 30 unproduktiven Jahre seit der Einrichtung des Wundtschen Laboratoriums deutlich gezeigt haben, daß die sogenannte introspektive Psychologie in Deutschland auf falschen Hypothesen begründet war, daß keine Psychologie, die das religiöse Leib-Seele-Problem mit einbeziehe, jemals zu nachprüfbaren Ergebnissen kommen könne. Sie fassten den Entschluß, die Psychologie entweder aufzugeben oder aber zu einer Naturwissenschaft zu machen“ (a. a. O.: 38). „Er [der Behaviorist] strich aus seinem wissenschaftlichen Vokabular alle subjektiven Termini wie Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, Wunsch, Absicht und sogar Denken und Gefühl, soweit diese Begriffe subjektiv definiert waren“ (a. a. O.: 39).
Während bisherige Psychologie, wie schon der Name der Disziplin nahelegt, in der Psyche ihren wesentliche Erkenntnisgegenstand sieht, vertritt der Behaviorismus die Auffassung, „daß der Gegenstand der Psychologie das menschliche Verhalten ist“ und „der Glaube an die Existenz eines Bewusstseins aus den alten Zeiten des Aberglaubens und der Magie herrührt“ (a. a. O.: 35 f.). Angetreten, um „mit der Vorstellung, daß es ‚seelisches’ Leben gibt, aufzuräumen“, versteht sich der Behaviorismus als „Psychologie ohne die Begriffe ‚Seele’ und ‚Bewußtsein’“ (a. a. O.: 49).
Wie alle wissenschaftlichen Disziplinen, die sich nach der cartesianischen Wende als Naturwissenschaften ausgeben, indem sie die mechanistische Physik imitieren, geht auch der Behaviorismus davon aus, „dass der menschliche Körper (…) nicht eine geheimnisvolle Schatzkammer ist, sondern eine allgemeinverständliche organische Maschine“ (a. a. O.: 76), wobei „der Behaviorist dem Gehirn und dem Rückenmark kein größeres Gewicht beimisst als der quergestreiften Körpermuskulatur, den glatten Muskeln des Magens und den Drüsen“ (a. a. O.: 77).
Für Behavioristen ist die Maschine Mensch eine „black box“, in die man nicht hineinsehen kann. Es lässt sich lediglich beobachten, welche Reize auf sie einwirken und wie die Maschine darauf reagiert. Was in der Maschine passiert, interessiert sie nicht. Verhalten von Menschen und Tieren,209 auch komplexe Verhaltensmuster, werden unter Rückgriff auf die 209 Tatsächlich wird zwischen menschlichem und tierischem Verhalten kein prinzipieller Unterschied gemacht und aus dem Verhalten von Ratten und Tauben in Laborversuchen unmittelbar auf menschliches Verhalten geschlossen, so z. B. in einer psychologischen Studie über die Persönlichkeit sogenannter „Nichtsesshafter“:
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von dem russischen Reflexologen Pawlow begründete Reflexologie als aufgrund von außen kommender Reize und Reizkombinationen erlernt (klassische und operante Konditionierung) betrachtet, Verhaltensstörungen dementsprechend als erlerntes Fehlverhalten. Insofern es „das Geistige“ oder „Psychische“ nicht gibt, kann es auch keine Geisteskrankheiten geben, ebenso wenig wie seelische Heilmethoden (vgl. a. a. O.: 290 ff.). In Deutschland nahm man behavioristische Ansätze zwar zur Kenntnis. Sie hatten jedoch bis zur Befreiung Deutschlands von der NS-Herrschaft nur geringe Chancen, sich durchzusetzen. Während der Behaviorismus davon ausging, dass Verhalten und Verhaltensstörungen weitgehend durch äußere Einflüsse determiniert seien und durch Lernprozesse erworben würden, dominierte in Deutschland die Auffassung, dies alles sei weitgehend biologisch determiniert, angeboren und ererbt. Erst seit den 1950er Jahren prägten diese Ansätze auch in Deutschland in zunehmendem Maße den Mainstream des Faches. Es kam zu einer fast völligen Abkehr von der nun für überkommen gehaltenen deutschen Tradition. Wundt geriet zunehmend in Vergessenheit. Ende der 1960er Jahre entwickelten sich auch in Deutschland Gegenströmungen zu der Vernaturwissenschaftlichung der Psychologie und anderer Sozialwissenschaften, nachdem solche z. B. in den USA schon einige Jahre früher entstanden sind. 1957 kritisierte der 1934 aus Deutschland in die USA emigrierte Erich Fromm: „Die heutigen Sozialwissenschaften (…) sind beeindruckt vom Erfolg und dem Prestige der Naturwissenschaften und versuchen daher, die naturwissenschaftlichen Methoden auch auf die Erforschung des Menschen anzuwenden. Sie fragen nicht einmal, ob eine Methode, welche auf Dinge anwendbar ist, auch auf die Erforschung von Menschen übertragen werden kann. (…) Sie glauben, daß nur solche Methoden als wissenschaftlich gelten, welche zählen und messen. Dabei vergessen sie, daß die am weitesten fortgeschrittenen Naturwissenschaften, wie etwa die theoretische Physik, aus Rückschlüssen gewagte Hypothesen aufstellen und – wie Einstein – selbst Intuition nicht verachten. Wird diese falsch verstandene wissenschaftliche Methode nachgeahmt, so führt dies dazu, daß die Methode der ‚Tatsachen und Zahlen’ die zu untersuchenden Probleme bestimmt. Es werden unbedeutende Probleme gewählt, einfach deshalb, weil die Resultate leicht grafisch dargestellt und mittels mathematischer Formeln ausgedrückt werden können, anstatt ein bedeutendes Problem zu wählen und zu dessen Lösung neue, passende Methoden zu entwickeln“ (Fromm 1957: 134).
Sogar manche Naturwissenschaftler hat die geradezu zwanghafte Orientierung von Subjektund Sozialwissenschaften beunruhigt. Einer von ihnen ist der 1923 in Berlin geborene Informatiker Joseph Weizenbaum210, der sich völlig darüber im Klaren war und nie einen Hehl daraus machte, dass er seine Professur wesentlich den Forschungsinteressen der USRegierung im Zusammenhang mit dem Vietnam-Krieg zu verdanken hatte. Eines seiner Hauptthemen war immer wieder die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaftler für ihr Tun. Außerdem war er der Auffassung, dass Informatik überhaupt nicht mit mathema„Indem das Verlassen der Situation (…) als Belohnung wirkt, wird es gelernt. Dies führt in einem Generalisierungsprozeß schließlich dazu, daß auch potentiell konfliktreiche Situationen gemieden werden. Wie die Laborratte rasch lernt, einen Schock zu vermeiden, wenn dieser durch ein Klingelzeichen angekündigt wird, so führt ein kleiner Hinweis auf eine mögliche Auseinandersetzung (…) den Nichtseßhaften zum Rückzug (z. B. durch ‚Fehlen am Arbeitsplatz’ oder auch ‚Ortswechsel’)“ (Wickert & Helmes 1983: 14). 210 Weizenbaum, 1923 geboren, emigrierte 1936 mit seiner Familie wegen jüdischen Abstammung in die USA, studierte dort Mathematik und war von 1963 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1988 Professor für Computerwissenschaften am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Massachusetts.
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tisch-naturwissenschaftlichen Methoden betrieben werden könne. Computerwissenschaftler könnten Verfahren elektronischer Datenverarbeitung erforschen, nicht aber die Frage beantworten, wie aus Daten Informationen werden. Methodische und methodologische Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen erhoffte er sich von geisteswissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere der Psychologie. Er erlebte eine herbe Enttäuschung. Befremdet und ganz im Sinne von Fromm stellte er insbesondere in der Psychologie das ausgeprägte Bemühen fest, „sich als Naturwissenschaft zu etablieren, indem sie deren erfolgreichsten Zweig nachgeahmt hat, die Physik. Es hat jedoch den Anschein, als hätten die Psychologen sehr lange missverstanden, was es denn genau ist, das die Physik irgendwie mehr zu einer Naturwissenschaft als die Psychologie gemacht hat. Gleich der Soziologie hat die Psychologie die am meisten ins Auge fallende Eigenschaft der Physik, deren sichtbaren vorwiegenden Umgang mit Zahlen und mathematischen Formeln irrtümlich für das gehalten, was eine Naturwissenschaft wesentlich ausmacht“ (Weizenbaum 1980: 213 f.). „Die jüngste Geschichte der Verhaltenswissenschaften hat uns gezeigt, wie tiefgreifend der Erfolg der Mathematik in der Form, wie sie in der Physik angewandt wird, auch Fachrichtungen betroffen hat, die mit Physik wenig gemeinsam haben. Viele Psychologen und Soziologen haben beispielsweise seit Generationen ihren Gegenstand mit Differentialgleichungen und Statistik abgehandelt. Vielleicht haben sie anfangs geglaubt, die von ihnen verwendeten Rechenmethoden seien lediglich angenehme Kürzeln, mit denen sich die Erscheinungen ihres Fachgebietes beschreiben ließen. Indem sie jedoch immer umfassendere Theoriegebäude aus elementaren Bausteinen errichten, die sie ursprünglich anderen Zusammenhängen entlehnt haben, und indem sie diese Gebäude benennen und sie als Elemente noch umfassenderer Denksysteme behandeln, dienen diese nicht länger als bloße Deskriptionsweisen, sondern werden (…) zu Determinanten der Weltsicht dieser Wissenschaftler“ (a. a. O.: 143).
Statt sich also auf eine eigene und dem Gegenstand dieser Wissenschaft angemessene Methodologie und Theorie zu besinnen, hätten sie krampfhaft die naturwissenschaftlichen Methoden kopiert und adaptiert, dabei – bewusst oder unbewusst – den Gegenstand und die Theorien ihres Faches diesen Methoden unterworfen und schließlich alles, was mit diesen Methoden nicht zu erforschen ist, als der wissenschaftlichen Erkenntnis prinzipiell unzugänglich aus dem Kreis der potentiellen Erkenntnisgegenstände von vornherein ausgeklammert. Ironisch verglich Weizenbaum diese Naturwissenschaftler mit einem Betrunkenen, den mitten in der Nacht ein Polizist anspricht. Dieser Betrunkene „rutscht auf allen vieren unter einer Laterne herum und sucht offensichtlich etwas. Er erklärt dem Wachtmeister, er habe seine Schlüssel verloren, ‚irgendwo da drüben’; dabei zeigt er auf eine Stelle, die außerhalb des Lichtkreises der Laterne liegt. Natürlich fragt ihn der Polizist, warum er die Schlüssel unter der Laterne suche und nicht da, wo er sie verloren habe, und bekommt zur Antwort: ‚weil man unter der Laterne besser sieht!’ Genauso verfährt auch die Naturwissenschaft“ (a. a. O.: 174).
Erst recht verfahren so die Geistes- und Sozialwissenschaften, wenn sie sich nur noch mit solchen Erkenntnisgegenständen beschäftigen, die sich im Lichte solcher Methoden, die sie für naturwissenschaftlich halten, darstellen lassen, und alles andere als der wissenschaftlichen Erkenntnis prinzipiell nicht zugänglich ausklammern. Auch in Deutschland regte sich Ende der 1960er Jahre Kritik an der neobehavioristischen Psychologie. Ein Vertreter dieser Kritik war der Begründer der sogenannten Kriti-
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schen Psychologie, Klaus Holzkamp (1927-1995). Dieser hatte sich bis Ende der 60er Jahre als Experimentalpsychologe einen Namen gemacht. Seine 1964 veröffentlichte Habilitations-Schrift trug den Titel „Theorie und Experiment in der Psychologie“. 1968 kam es bei ihm zu „einer krisenhaften wissenschaftlichen Neuorientierung“ (Holzkamp 1972: 7), die sich zunächst in tiefgreifender Kritik an der verhaltenstheoretisch ausgerichteten Psychologie und ihren Forschungsmethoden äußerte: „Man könnte (…) sagen, daß die Psychologie sich von einer Wissenschaft, deren Bedeutsamkeit im Zusammenhang philosophischer, anthropologischer und geistesgeschichtlicher Fragen durchaus von einheitlichen Gesichtspunkten her zu begreifen war, immer mehr zu einem Aggregat aus einer Unzahl von kleinen und kleinsten Einzeluntersuchungen verändert hat, wobei allmählich kein Mensch mehr imstande ist, dieses Aggregat zu überschauen, zu ordnen und einen einheitlichen Sinn darin zu entdecken. Man könnte darlegen, daß die experimentelle Forschung in immer wachsendem Maße mit exakten Methoden Belanglosigkeiten und Trivialitäten zutage fördert, so daß viele Forschungsresultate eigentlich nur noch deswegen von einschlägig spezialisierten Forschern beachtet werden, weil diese Befunde bei solchen Forschern offenbar eine durch Kompetenzerlebnisse bedingte sekundäre Valenz gewonnen haben und im übrigen, weil sie durch leicht abgewandelte Perpetuierung bestimmter Tendenzen innerhalb des Chaos der Einzelbefunde das Publikations-Soll im Interesse ihrer akademischen Karriere zu erfüllen hoffen“ (Holzkamp 1972: 10).
Die Kritik richtete sich vor allem auf das reduktionistische Menschenbild der naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie: „Wenn man (…) Lebewesen, die eine Geschichte haben, die – der Möglichkeit nach – auf reflektierte Weise Subjekte dieser Geschichte sein können, die – ebenfalls der Möglichkeit nach – sich bewusst eine ihren Bedürfnissen gemäße, nicht entfremdete Welt schaffen können und die schließlich in freiem, symmetrischem Dialog vernünftig ihre Interessen vertreten können, als ‚Menschen’ bezeichnet, wenn man andererseits Lebewesen, die in einer fremden, naturhaften Umgebung stehen, die keine ‚Geschichte’ haben, die auf bestimmte Stimuli lediglich mit festgelegten begrenzten Verhaltensweisen reagieren können ‚Organismen’ nennen will, so kann festgestellt werden, dass im Konzept der Norm-V[ersuchs]p[erson] restriktive Bestimmungen enthalten sind, durch welche Individuen, die in der außerexperimentellen Realität sich – der Möglichkeit nach – wie ‚Menschen’ verhalten können, im Experiment dazu gebracht werden sollen, sich wie ‚Organismen’ zu verhalten“ (Holzkamp 1972: 54 f.).
Wir werden einige Aspekte der aus dieser Kritik heraus entfalteten Kritischen Psychologie in unseren Ausführungen zur Dekonstruktion des Anders-Seins aufgreifen. In den Mainstream des Faches hat dieser Ansatz indes kaum Eingang gefunden. Eine gewisse Renaissance erlebten Teile der Wundt’schen Psychologie, meist allerdings ohne dass explizit darauf Bezug genommen wird, im Zusammenhang mit der der sogenannten kognitiven Wende der Psychologie seit etwa den 1970er Jahren. Mit der zunehmenden Verbreitung des Computers in Wissenschaft und Forschung und dann immer mehr auch im privaten Alltag löste diese neue digitale, vermeintlich informations-, doch, wie wir bei Weizenbaum zutreffend gesehen haben, in Wirklichkeit nur datenverarbeitende Maschine die alte mechanische Maschine des Cartesianismus, versinnbildlicht durch die analoge Uhr, als Maschinenmetapher für die wissenschaftliche Theoriebildung zunehmend ab. Im Lichte dieser neuen Maschinenmetapher erscheint das Gehirn nun in zunehmendem Maße nicht mehr als eine bloß mechanische, auf äußere Stimuli reagierende, sich verhal-
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tende, sondern als eine informationsverarbeitende Maschine, der Mensch allgemein als ein durch diese Maschine gesteuerter Roboter. Es entwickelte sich ein Verbund interdisziplinär ausgerichteten Kognitionswissenschaften, um das Geheimnis dieser Maschine zu enthüllen. Während sich die Kognitionsbiologie dabei vor allem mit der „Hardware“ dieser Maschine, vor allem also mit den neurobiologischen Grundlagen des Gehirns befasst, untersucht die Kognitionspsychologie vor allem deren „Software“ und geht der Frage nach, wodurch und auf welche Weise das Gehirn im Verlauf der menschlichen Entwicklung „programmiert“ wird bzw. sich selbst „programmiert“. Die „black box“ wurde wieder geöffnet, subjektive Termini wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken und Bewusstsein, die der Behaviorismus zuvor aus der Psychologie eliminiert hatte, fanden nun wieder das Interesse der psychologischen Forschung, ohne dass dabei allerdings die weitgehende Beschränkung auf quantifizierende, die Naturwissenschaften imitierende, Methodologie wieder aufgegeben wurde. 4.2 Zur Konstruktion und Analyse des psychischen Apparats Während die von Wundt begründete und von den Kognitionswissenschaften wieder aufgegriffene Psychologie sich vornehmlich mit Vorgängen des Bewusstseins beschäftigte und „Annahmen über den Zustand des ‚Unbewußten’ oder über irgendwelche ‚unbewußten Vorgänge’, die man neben den uns in der Erfahrung gegebenen Bewußtseinsvorgängen voraussetzt, (als) (…) für die Psychologie durchaus unfruchtbar“ (Wundt 1904: 249)
betrachtete, hielt der Wiener Mediziner Sigmund Freud (1856-1939) gerade das Unbewusste für den wichtigsten Gegenstand der von ihm begründeten Psychoanalyse. Er beschäftigte sich um die Jahrhundertwende intensiv mit der Frage nach der Funktionsweise der menschlichen Seele. Dabei konnte er sich weder mit der somatischen Orientierung der zeitgenössischen Psychiatrie noch mit der analytischen Zerlegung der Psyche in der wundtschen Elementepsychologie anfreunden. Ja, er hielt sogar an zentralen Grundannahmen der Dämonenlehre des überkommenen Paradigmas fest. Statt für deren Überwindung trat er gewissermaßen für eine Entmythologisierung der Dämonologie ein: „Die dämonologische Theorie jener dunklen Zeiten hat gegen alle somatischen Auffassungen der ‚exakten’ Wissenschaftsperiode recht behalten. Die Besessenheiten entsprechen unseren Neurosen, zu deren Erklärung wir wieder psychische Mächte heranziehen. Die Dämonen sind uns böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener Triebregungen. Wir lehnen bloß die Projektion in die äußere Welt ab, welche das Mittelalter mit diesen seelischen Wesen vornahm; wir lassen sie im Innenleben der Kranken, wo sie hausen, entstanden sein“ (Freud 1924a: 317 f.).211
Freud hatte ein völlig anderes Klientel, das sich mit psychischen Leiden an ihn wandte, als die meisten Psychiater seiner Zeit. Er behandelte keine internierten Patientinnen und Pati211 Durchaus in Analogie zur und zugleich Abhebung von der Theologie beschreibt Freud „mit der Formel ‚Weltliche Seelsorge’ (…) die Funktion, die der Analytiker (…) dem Publikum gegenüber zu erfüllen hat“. Und weiter: „Was wir treiben ist Seelsorge im besten Sinne“ (Freud 1927: 293). Freud vergleicht die Funktion des Analytikers mit der „Stellung eines weltlichen Beichtvaters (…). Aber der Unterschied ist gross, denn wir wollen von ihm [dem Analysanden] nicht nur wissen, was er weiss (…), sondern er soll uns auch erzählen, was er nicht weiss“ (Freud 1938: 99).
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enten, sondern solche, die freiwillig zu ihm kamen und zumeist gehobeneren gesellschaftlichen Schichten entstammten. So konnte und musste er einen anderen Weg beschreiten als die zeitgenössische Psychiatrie, um die Funktionsweise der menschlichen Psyche zu analysieren. Er entwickelte eine Behandlungs- und zugleich Forschungsmethode, die anfangs mittels Hypnose212, später vor allem auf dem Wege der Analyse freier Assoziationen und Traumschilderungen im therapeutischen Gespräch die psychischen Strukturen des Menschen und die Genese psychischen Leidens zu erforschen suchte, der er seit 1897 den Namen Psychoanalyse213 gab. Psychisches Leiden führte Freud anfangs auf traumatisierende und unbewältigte Erlebnisse in der frühesten Kindheit zurück, die den Betroffenen nicht mehr bewusst sind, weil sie ins Unbewusste verdrängt wurden und mittels der Psychoanalyse rekonstruiert und in das Bewusstsein zurückgeholt werden müssen, damit sie für die Betroffenen wieder bewältigbar werden. Insbesondere für solche Traumatisierungen, die später zu Hysterie führen, machte er vor allem sexuelle Missbrauchserfahrungen in früher Kindheit und Jugend verantwortlich. Diese aufgrund der Ergebnisse von insgesamt 18 Psychoanalysen gewonnene Einsicht machte er am 21. April 1896 in einem Vortrag beim Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien öffentlich. „In sämtlichen achtzehn Fällen (von reiner Hysterie und Hysterie mit Zwangsvorstellungen kombiniert, sechs Männer und zwölf Frauen) bin ich (…) zur Kenntnis solcher sexuellen Erlebnisse des Kindesalters gelangt. Ich kann meine Fälle in drei Gruppen bringen, je nach der Herkunft der sexuellen Reizung. In der ersten Gruppe handelt es sich um Attentate, einmaligen oder doch vereinzelten Mißbrauch meist weiblicher Kinder von Seiten erwachsener, fremder Individuen (…). Eine zweite Gruppe bilden jene weit zahlreicheren Fälle, in denen eine das Kind wartende erwachsene Person – Kindermädchen, Kindsfrau, Gouvernante, Lehrer, leider auch allzu häufig ein naher Verwandter – das Kind in den sexuellen Verkehr einführte und ein – auch nach der seelischen Reifung ausgebildetes – förmliches Liebesverhältnis, oft durch Jahre, mit ihm unterhielt. In die dritte Gruppe endlich gehören die eigentlichen Kinderverhältnisse, sexuelle Beziehungen zwischen zwei Kindern verschiedenen Geschlechtes, zumeist zwischen Geschwistern, die oft über die Pubertät hinaus fortgesetzt werden, und die nachhaltigsten Folgen für das betreffende Paar mit sich bringen“ (Freud 1896: 444).
Freuds Vortrag kam nicht besonders gut an. Zu sehr rüttelte er an den Tabus des weithin katholisch geprägten Bürgertums in der damaligen Habsburger Monarchie. Sexuellen Missbrauch an Kindern – dazu in teilweise hoch angesehenen Familien – durfte es dort einfach nicht geben. Enttäuscht, aber trotzig schrieb er am 26. April 1896 an den in Berlin lebenden Hals-, Nasen- und Ohrenarzt Wilhelm Fließ (1858-1924), mit dem er eine Zeit lang eine rege Korrespondenz führte: „Ein Vortrag über Ätiologie der Hysterie im Psychiatrischen Verein fand bei den Eseln eine eisige Aufnahme und von Krafft-Ebing214 die seltsame Beurteilung: Es klingt wie ein wissen212 Die übrigens auch in der zeitgenössischen psychiatrischen Klinik zum Einsatz kam. 213 Als dritte Wortbedeutung steht diese Bezeichnung schließlich auch für ein theoretisches Konzept des „psychischen Apparats“, das weiter unten noch skizziert wird. Interessant ist, dass Forschen und Heilen bei der Psychoanalyse in einem untrennbar miteinander verbundenen Wechselverhältnis stehen: „In der Psychoanalyse bestand von Anfang an ein Junktim zwischen Heilen und Forschen, die Erkenntnis brachte den Erfolg, man konnte nicht behandeln, ohne etwas neues zu erfahren, man gewann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wirkung zu erleben“ (Freud 1927: 293 f.). 214 Richard Freiherr von Krafft-Ebing (1840-1902), seit 1873 Direktor der steiermärkischen Landesirrenanstalt Feldhof bei Graz und Professor für Psychiatrie an der Universität Graz.
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schaftliches Märchen. Und dies, nachdem man ihnen die Lösung eines mehrtausendjährigen Problems, ein caput Nili215 aufgezeigt hat. Sie können mich alle gern haben, euphemistisch ausgedrückt“ (Freud 1985: 193).
Zeitweilig geriet Freud durch die Veröffentlichung seiner sogenannten „Verführungstheorie“216 in eine gewisse Isolation in der einschlägigen science community. „Isoliert bin ich, daß Du zufrieden sein kannst. Es sind irgendwelche Parolen ausgegeben worden, mich zu verlassen, denn alles fällt ringsum von mir ab. Bis jetzt trage ich es mit Gleichmut. Unangenehmer finde ich, daß die Ordination heuer zum ersten Mal leer steht, daß ich wochenlang kein neues Gesicht sehe, keine neue Kur anknüpfen konnte und daß von den alten noch keine fertig ist. Die Sachen sind so schwer und mühsam, daß im Ganzen eine starke Konstitution dazu gehört“ (a. a. O.: 195),
schrieb er am 4. Mai 1896 an Fließ. Sexuellen Missbrauch hat Freud auch in seiner eigenen Familie erlebt. Am 8. Februar 1897 schrieb er an Fließ: „Leider ist mein eigener Vater einer von diesen Perversen gewesen und hat die Hysterie meines Bruders (dessen Zustände sämtlich Identifizierung sind) und einiger jüngerer Schwestern verschuldet. Die Häufigkeit dieses Verhältnisses macht mich oft bedenklich“ (a. a. O.: 245). 1905 widerrief Freud seine „Verführungstheorie“ öffentlich. Ob dies unter dem Druck der sozialen und wissenschaftlichen Isolierung oder aus Gründen höherer Erkenntnis während seiner Selbstanalyse217 geschah, mag hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls schrieb er: „Ich kann nicht zugestehen, daß ich in meiner Abhandlung 1896 ‚Über die Ätiologie der Hysterie’ die Häufigkeit oder die Bedeutung derselben überschätzt habe, wenngleich ich damals noch nicht wußte, daß normal gebliebene Individuen in ihren Kinderjahren die nämlichen Erlebnisse gehabt haben können, und darum die Verführung höher wertete als die in der sexuellen Konstitution gegebenen Faktoren“ (Freud 1905: 91). Rückblickend stellte er 20 Jahre später fest: „Unter dem Drängen meines damaligen technischen Verfahrens reproduzierten die meisten meiner Patienten Szenen aus ihrer Kindheit, deren Inhalt die sexuelle Verführung durch einen Erwachsenen war. Bei den weiblichen Personen war die Rolle des Verführers fast immer dem Vater zugeteilt. Ich schenkte diesen Mitteilungen Glauben und nahm also an, daß ich in diesen Erlebnissen sexueller Verführung in der Kindheit die Quellen der späteren Neurose aufgefunden hatte. (…) Wenn jemand über meine Leichtgläubigkeit mißtrauisch den Kopf schütteln sollte, so kann ich ihm nicht ganz unrecht geben. Als ich dann doch erkennen mußte, diese Verführungsszenen seien niemals vorgefallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst aufgedrängt hatte, war ich eine Zeitlang ratlos. (…) Als ich mich gefaßt hatte, zog ich aus meiner Erfahrung die richtigen Schlüsse, daß die neurotischen Symptome nicht direkt an wirkliche Erlebnisse anknüpften, sondern an Wunschphantasien, und daß für die Neurose die psychische Realität mehr bedeute als die materielle. (…) Ich war da zum erstenmal mit dem Ödipus-Komplex zusammengetroffen, der späterhin eine so überragende Bedeutung gewinnen sollte“ (Freud 1925: 59 f.).
215 Wörtlich: die Quelle des Nils, gemeint im Sinne einer wichtigen Entdeckung. 216 Dieser Begriff ist eigentlich ein Euphemismus. „Missbrauchstheorie“ wäre die sachlich eher zutreffende Bezeichnung. 217 Freud gibt in einem Brief an Fließ an, dass ihm die Einsicht in die Ödipus-Theorie während seiner Selbstanalyse gekommen sei: „Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein Ereignis früher Kindheit, wenn auch nicht immer so früher wie bei den hysterisch gemachten Kindern“ (Freud 1985: 293).
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Freud gab also die heute von anderen tiefenpsychologischen Richtungen durchaus noch vertretene Vorstellung auf, reale Traumatisierungserfahrungen seien die primären Ursachen für psychisches Leiden. Stattdessen entwarf er ein konflikttheoretisches Modell für die Genese psychischen Leidens, für das er ein Instanzenmodell der Psyche konstruiert, das Freud im Laufe seines ganzen Lebens immer wieder verändert und modifiziert hat. Nach Freud besteht der „psychische Apparat“, wie er ihn immer wieder nannte, aus drei Instanzen: dem Es, das die biologisch begründeten menschlichen Triebe218 beherbergt und das Lustprinzip verkörpert; dem sich daraus im Laufe der kindlichen Entwicklung herausbildenden Ich als Verkörperung des Realitätsprinzips und dem sich wiederum daraus unter dem Einfluss der konkreten Lebensbedingungen entwickelnden Über-Ich, welches das Moralitätsprinzip verkörpert. Die auf Befriedigung drängenden Triebe, vor allem der Sexualtrieb, des Es stehen nach dieser Vorstellung im ständigen Konflikt mit den Normen, Regeln und Werten der sozialen Umwelt, die nach und nach im Über-Ich internalisiert werden und sich unter anderem als Gewissen und Ich-Ideal manifestieren. In diesen Konflikten muss das Ich stets vermitteln. Für die Entstehung von Neurosen und Psychosen ist es dabei nicht erheblich, ob es zu Konflikten kommt, diese sind vielmehr unvermeidlich, entscheidend ist, ob und in welcher Weise das Ich in der Lage ist, die Konflikte zu bewältigen, genauer, inwieweit es ihm gelingt, die Regungen des Es, die sozialen Erfordernisse und die Ansprüche des ÜberIch zum Ausgleich zu bringen. Freud (1924b: 391) ging davon aus, „daß Neurosen und Psychosen durch die Konflikte219 des Ichs mit seinen verschiedenen herrschenden Instanzen entstehen, also einem Fehlschlagen in der Funktion des Ichs entsprechen“. „Die Übertragungsneurose entspricht dem Konflikt zwischen Ich und Es, die narzißtische Neurose dem zwischen Ich und Über-Ich, die Psychose dem zwischen Ich und Außenwelt“ (a. a. O.: 390).
Als für die Individualentwicklung zentralen Konflikt stellte Freud den Ödipuskonflikt heraus, der vor allem geprägt ist von sexuellem Verlangen nach dem gegengeschlechtlichen sowie Eifersucht und Ablehnung gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Beides steht in einem direkten Gegensatz zu den Normen der Umwelt und den Ansprüchen des Über-Ich. Daraus wiederum können Schuldgefühle und Ängste, bis hin zur Kastrationsangst, resultieren. Gelingt es dem Kind nicht, diesen Konflikt zu lösen, z. B. weil aufgrund sehr restriktiver Erziehung in den vorödipalen Phasen das Ich zu schwach für die Konfliktbewältigung geblieben ist, entwickelt es Abwehrstrategien, um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Der Konflikt bzw. die ihn prägenden Triebwünsche, Ängste und Schuldgefühle werden ins Unbewusste verdrängt, können dort nicht mehr bewältigt werden und zu neurotischen Symptomen führen, die z. B. die Funktion symbolischer Erfüllungen der verdrängten Triebwünsche haben können. Es kommt zum sogenannten Ödipus-Komplex. In expliziter Abgrenzung zur zeitgenössischen Psychiatrie entwickelt Freud
218 Freuds Triebtheorie ist eine durchaus dualistische. Er stellte anfangs in Anlehnung an Darwins zentralen Evolutionsprinzipien natürliche und geschlechtliche Zuchtwahl, Ich-, bzw. Selbstherhaltungstriebe und Sexualtriebe gegenüber, später fasste er diese unter der Bezeichnung Eros zusammen und stellte diesem den Destruktionstrieb gegenüber. Die dynamische Äußerung der Sexualtriebe nennt Freud Libido. 219 Genauer: durch nicht adäquat bewältigte Konflikte.
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„eine Libidotheorie der Neurosen (…), welche alle neurotischen wie psychotischen Erscheinungen aus abnormen Schicksalen der Libido, also aus Ablenkung derselben von ihrer normalen Verwendung erklären sollte. Dieser Gesichtspunkt ging den Schweizer Forschern ab. Bleuler hält meines Wissens auch heute an einer organischen Verursachung der Formen von Dementia praecox fest“ (Freud 1914: 68).
Nicht immer führen unbewältigte Konflikte zu Verdrängungen. Zuweilen gelingt es dem Ich auch, „den Bruch nach irgendeiner Seite dadurch zu vermeiden, daß es sich selbst deformiert (…) eventuell sogar sich zerklüftet oder zerteilt. Damit rücken die Inkonsequenzen, Verschrobenheiten und Narrheiten der Menschen in ein ähnliches Licht wie ihre sexuellen Perversionen, durch deren Annahme sie sich ja Verdrängungen ersparen“ (Freud 1924b: 391).
Wie bereits angesprochen, begann schon zu Lebzeiten Freuds eine derartige Diversifikation der Psychoanalyse mit Bildung unterschiedlichster Schulen, die sich nach seinem Tod noch beschleunigte, dass es an dieser Stelle nicht möglich ist, die vielfältigen Weiterentwicklungen nachzuverfolgen. Auch ist es nicht möglich, die ohne Zweifel spannende Frage zu vertiefen, ob die Theorie vom Ödipus-Komplex am Ende selbst das Ergebnis einer Verdrängung der Verführungstheorie ist, wegen des sozialen Drucks, der auf Freud bis zu seinem Widerruf lastete.220 Interessant ist, dass auch Freud den „seelischen Apparat“ als Maschine konstruiert,221 allerdings eine, die anders angetrieben und gesteuert wird, als es z. B. von der zeitgenössischen Psychiatrie vertreten wird. „Primär ist der Mensch [in Freuds Libidotheorie] eine durch die Libido angetriebene Maschine, bei der die Notwendigkeit, schmerzhafte oder störende Spannungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren, als automatischer Regulator wirkt“ (Fromm 1961: 91).
Jedenfalls ist anzuerkennen, dass mit der Psychoanalyse erstmals ein Verfahren entwickelt wurde, um die Genese psychischen Leidens aus der Biografie der Betroffenen, wenngleich vor allem auf die frühkindliche und kindliche Entwicklung beschränkt, heraus zu rekonstruieren und in vielen Fällen auch erfolgreich zu behandeln. Trotz der enormen Ausstrahlung und Bedeutung der Psychoanalyse weit über die Psychologie hinaus hat sie nie Eingang in den Mainstream der sich parallel zur Psychiatrie als akademische Disziplin etablierenden Psychologie gefunden, die ja, wie gezeigt, in ihrer verhaltenstheoretisch und methodologisch an den klassischen Naturwissenschaften orientierten Ausrichtung die Psyche oder das Psychische als der wissenschaftlichen Erkenntnis unzugänglich lange als Erkenntnisgegenstand aus der Psychologie entfernt und in die besagte „black box“ verbannt hat. Auch die Psychiatrie hat sich nie so recht mit ihr anfreunden können. Sie blieb zwiespältig. Kraepelin zeigte sich sehr skeptisch: „Es liegt auf der Hand, daß dieses äußerst eindringliche Verfahren auf der einen Seite sicherlich geeignet ist, dem Arzte einen sehr tiefen Einblick in das Seelenleben des Kranken zu verschaf220 Zwar ist heute im Gegensatz zu damals bekannt, dass sexueller Missbrauch an Kindern ein Problem ist, das eher unter- als überschätzt wird. Zu betonen ist allerdings auch, dass Freud mit seinem Widerruf der sogenannten Verführungstheorie lediglich in Abrede gestellt hat, dass der Inzest die alleinige Ursache für Hysterie sei, den Inzest als gesellschaftliche Tatsache hingegen hat er nicht bestritten. 221 Er ist sich allerdings, anders als die meisten Psychiater seiner Zeit, dieses Vorganges durchaus bewusst.
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fen. Dagegen zeigen die wenigen, bisher veröffentlichten, ausführlichen Berichte über die Art des Vorgehens, daß dabei eine ungemein starke und einseitige Beeinflussung des Kranken im Sinne der dem Arzt vorschwebenden Vorstellungen stattfindet, endlich, daß die Erreichung des gesuchten Ergebnisses trotz alledem Deutungskünste erfordert, die offenbar nur wenige auszuüben verstehen“ (1920: 498 f.).
Er war überzeugt, „daß die ‚Psychoanalyse’ niemals Gemeingut werden kann; sie ist offenbar mehr Kunst als Wissenschaft. Ihren Stoff bilden unbeweisbare Gedankenspielereien, die sich um einen ganz kleinen Kern wirklich unzweideutiger Beobachtungen gruppieren“ (a. a. O.: 612). Bleuler (1916: 392) hingegen war da wesentlich offener. Er „hat sich als erster und in seiner Zeit einziger Ordinarius der Psychiatrie sehr eingehend mit Sigmund Freud und der Psychoanalyse auseinandergesetzt“ (Küchenhoff 2001: 57). Seit Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte er sich intensiv mit der Freud’schen Psychoanalyse, von 1909 bis 1913 gab er sogar mit Freud gemeinsam die Jahrbücher der Psychoanalyse heraus, Ende 1900 stellte er C. G. Jung, einen Freud-Schüler, in seiner Klinik als Oberarzt ein. Letztlich aber blieben die Widersprüche zwischen Psychoanalyse und Psychiatrie, wie Freud sie vertrat, zu groß. Ab etwa 1911 ging Bleuler zunehmend auf Distanz zu Freud und seinen Lehren, blieb aber ambivalent. In der 1. Auflage seines Lehrbuches schrieb er: „Trotzdem gewiß manche der Einzelaufstellungen Freuds der weiteren Erfahrung nicht standhalten werden, ist es unrichtig, den Forscher herabzusetzen, wie es Mode wurde (…). Wie seinerzeit die fast ebenso temperamentvoll und mit zum Teil den gleichen Argumenten bekämpfte Hypnosen- und Suggestionslehre doch den ersten Teil des Fundaments zu einer wissenschaftlichen Psychopathologie legte, so hat Freud eine ganze Menge von Grundlagen geschaffen, die jetzt schon der Wissenschaft eine ganz andere Gestalt gegeben haben – und zwar auch bei seinen Gegnern, soweit sie sich überhaupt auf Psychologisches einlassen.“ Später wurde er zurückhaltender: „Die Theorien Freud’s sind mit großem Affektaufwand bekämpft worden, und ich selber kann manche seiner Auffassungen, namentlich aus der letzten Zeit, nicht für richtig halten, meine aber, daß wir Freud den größten Fortschritt222 in der Psychologie und Psychopathologie verdanken, und sehe, daß auch seine Gegner sich seit langem seinem Einflusse nicht mehr entziehen können“ (Bleuler 1930: 361).
Diese ambivalente Haltung behielt er in den weiteren Auflagen des Lehrbuches bei, auch sein Sohn übernahm sie im Wesentlichen bis zur letzten Auflage 1983. Dort fügte er außerdem ein nettes persönliches Bekenntnis an: „Es ist mir vorgeworfen worden, daß ich Freuds Ödipus-Komplex nur verwässert darstelle. (…) Überlegte ich mir meine Einstellung dazu, so berühren mich Erinnerungen aus ganz früher Kindheit: 1905-1909223 lebten mein Vater und sein damaliger Oberarzt C. G. Jung mit ihren Familien zusammen in der Klinik. Ich spürte irgendwie, daß sie uns – ihre kleinen Kinder – beobachten und über uns sprachen. Heute weiß ich, wie lebhaft ihr Interesse an Freud’s Lehren war und wie lebhaft sie auch in Bezug auf uns Kleine darüber diskutierten. Dumpf spürte ich, daß mein Vater erwartete – oder sogar befürchtete – ich könnte etwas gegen ihn haben (heute weiß ich, daß er an den Ödipus-Komplex dachte). Ich hatte aber gar nichts gegen ihn. Ich hatte ihn gern. Daß ihm das nicht selbstverständlich war, störte mich – und stört heute noch meine Einstellung zur Darstellung des Ödipus-Komplexes“ (Bleuler 1983: 158 f.). 222 In der 6. Auflage (1937: 347) nur noch „einen mächtigen Fortschritt“, ab der 7., erstmalig von Manfred Bleuler herausgegebenen Auflage (1943: 360) „einen mächtigen Schritt“. 223 Manfred Bleuler ist – wie schon erwähnt – 1903 geboren.
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Hier zeigt sich in rührender Deutlichkeit, wie auch psychoanalytische Kategorien und Modelle Wirklichkeit nicht nur erklären oder beschreiben, sondern auch beeinflussen und in spezifischer Weise mit konstruieren. Mit der Psychiatrie, der Psychoanalyse und der verhaltens-, neuerdings auch wieder kognitionstheoretisch ausgerichteten Psychologie haben sich drei wissenschaftliche Disziplinen mit je eigener Theoriebildung und Forschungstradition herausgebildet, welche sich mit der Seele bzw. Psyche des Menschen beschäftigen. Alle drei Richtungen nehmen sich zwar gegenseitig zur Kenntnis, haben zeitweise sogar miteinander kooperiert224 und weisen zum Teil auch Gemeinsamkeiten und Überschneidungen225 auf, erscheinen in ihrer Gesamtheit jedoch nur schwer ineinander zu integrieren, sodass heute mindestens drei wissenschaftlich begründete Konstrukte von dem Phänomen vorliegen, welches wir als Seele, Psyche oder das Psychische bezeichnen. Bühlers zitierter Befund über die Krise der Psychologie mit ihren verschiedenen ineinander schwer zu integrierenden Erklärungsansätzen, Konstrukten und Forschungsperspektiven kann also durchaus interdisziplinär ausgeweitet werden als Krise der Seelenwissenschaften. 5
Ausgewählte Phänomenologien und Ätiologien seelischen Anders-Seins
Es geht in den folgenden Ausführungen nicht um umfassende Beschreibungen der einzelnen, meist als Krankheitsbilder aufgefassten Phänomene aus psychiatrischer oder sonderpädagogischer Perspektive – dazu sei auf die einschlägigen Lehrbücher verwiesen –, sondern darum, an ausgewählten Beispielen zu rekonstruieren, wie die Wahrnehmungen und Vorstellungen dieser Krankheitsbilder im historischen Prozess entstanden sind und welchen Wandlungen und Veränderungen sie im Laufe ihrer Geschichte unterworfen waren oder auch nicht. Die Auswahl orientiert sich deswegen nicht primär an einschlägigen Systematiken der Klassifikation, sondern an der Fragestellung dieser Untersuchung. Selbstverständlich wird auf das wichtigste Krankheitsbild der Psychiatrie, die Schizophrenie, einzugehen sein. Unter dem Gesichtspunkt der sozialen Konstruktion von AndersSein besonders interessant sind aber vor allem auch solche Phänomene, die früher als psychische Krankheiten galten und auch als solche behandelt wurden, heute aber zum größten Teil nicht mehr. Dazu gehören die so bezeichneten moralischen Oligophrenien, der krankhafte Wandertrieb (Poriomanie), der allerdings im einschlägigen Schrifttum immer noch auftaucht, und insbesondere die Homosexualität. Für die Psychiatrie handelte es sich dabei 224 Kraepelin hat sich immer wieder auch mit experimenteller Psychologie beschäftigt. Er bezeichnet sich auch in seinen Lebenserinnerungen „als Schüler Wundts“ (Kraepelin 1983: 58). Einen ausführlichen Einblick in das Verhältnis von Kraepelin und Wundt gibt Steinberg (2001). 225 Freud (1916/17: 107) stellt z. B. heraus: „Die Wundtsche Schule hatte das sogenannte Assoziationsexperiment angegeben, bei welchem der Versuchsperson der Auftrag erteilt wird, auf ein ihr zugerufenes Reizwort möglichst rasch mit einer beliebigen Reaktion zu antworten. Man kann dann das Intervall studieren, das zwischen Reiz und Reaktion verläuft, die Natur der als Reaktion gegebenen Antwort, den etwaigen Irrtum bei einer späteren Wiederholung desselben Versuches und ähnliches. Die Züricher Schule unter Führung von Bleuler und Jung hat die Erklärung der beim Assoziationsexperiment erfolgenden Reaktionen gegeben, indem sie die Versuchsperson aufforderte, die von ihr erhaltenen Reaktionen durch nachträgliche Assoziationen zu erläutern, wenn sie etwas Auffälliges an sich trugen. Es stellte sich dann heraus, daß diese auffälligen Reaktionen in der schärfsten Weise durch die Komplexe der Versuchspersonen determiniert waren. Bleuler und Jung hatten damit die erste Brücke von der Experimentalpsychologie zur Psychoanalyse geschlagen.“
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zwar eher um Randphänomene, gleichwohl hatte deren Pathologisierung für die Betroffenen in der Regel einschneidende Konsequenzen. Schließlich wird auch auf die in letzter Zeit vermehrt diskutierte Tendenz einzugehen sein, Krankheiten vor allem aus wirtschaftlichen Interessen regelrecht zu erfinden. Mit einer Auseinandersetzung über das widersprüchliche Verhältnis zwischen Verrücktheit und Normalität sowie über die Validität psychiatrischer Diagnosen knüpfen wir wieder an die Ausführungen über die Klassifizierung psychischer Krankheiten an. 5.1 Schizophrenien und das Axiom der Unverstehbarkeit Die Entdeckung bzw., folgt man Szasz (1976: 10) oder Simon (2000: 98), die Erfindung der Schizophrenie – Szasz (1976) bezeichnete sie als das „heilige Symbol der Psychiatrie“, ohne das es die Psychiatrie nie geschafft hätte, sich als medizinische Disziplin zu etablieren – erfolgte 1898 durch Emil Kraepelin. Er gab dieser Krankheit den Namen „Dementia praecox“. Kraepelin gelang es, so Bleuer (1911: 1), „bei den Krankheiten ungünstiger Prognose eine Anzahl Symptome herauszuheben, die bei anderen Gruppen fehlten. Die dadurch charakterisierten Psychosen faßte er als Dementia praecox zusammen“.
Hinsichtlich der Ätiologie dieser vermeintlichen Krankheit blieb er allerdings auf Vermutungen, auf den Glauben an die Ursachen verwiesen. „Im Jahr 1896 hat Kraepelin die ‚Verblödungspsychosen’ in eine Gruppe zusammengestellt, die er als Stoffwechselerkrankungen auffassen zu müssen glaubte. Den wieder aufgenommenen Namen der Dementia praecox gab er zunächst nur den Hebephrenen und primär dementen Formen (…). Erst drei Jahre später faßte er mit dem Namen der Dementia praecox die ganze Verblödungsgruppe zusammen“ (a. a. O.: 3 f.).
Bleuler übernahm dieses Konzept, allerdings handelte es sich für ihn bei den Betroffenen „weder um Kranke, die man als dement bezeichnen möchte, noch ausschließlich um frühzeitige Verblödungen“ (a. a. O.: 4). Deswegen gefiel ihm der Name nicht. „Leider konnten wir uns der unangenehmen Aufgabe nicht entziehen, einen neuen Namen für diese Krankheitsgruppe zu schmieden. Der bisherige ist zu unhandlich. Man kann damit nur die Krankheit benennen, nicht aber die Kranken und man kann kein Adjektivum bilden, das die der Krankheit zukommenden Eigenschaften bezeichnen könnte, wenn auch ein verzweifelter Kollege bereits ‚präkoxe Symptome’ hat drucken lassen. Eine ausführliche Differentialdiagnostik ohne ein solches Wort wäre schlimm zu schreiben und noch schlimmer zu lesen“ (a. a. O.: 4).
Die Krankheit erhielt von Bleuler den bis heute gebräuchlichen Namen Schizophrenie226. Zu Deutsch bedeutet dies Spaltungsirresein. Auch dieser Begriff stellte Bleuler nicht restlos zufrieden. 226 Kraepelin übernimmt diese Bezeichnung allerdings nicht. Er erwähnt sie zwar zusammen mit anderen zeitgenössischen Begriffsvorschlägen, allerdings mit dem Hinweis: „Es bleibt abzuwarten, wie sich der eine oder andere dieser Namen einbürgern wird“ (Kraepelin 1913: 670).
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„Ich kenne die Schwächen des vorgeschlagenen Ausdruckes, aber ich weiß keinen besseren, und einen ganz guten zu finden, scheint mir für einen Begriff, der noch in Wandlung begriffen ist, überhaupt nicht möglich. Ich nenne die Dementia praecox Schizophrenie, weil, wie ich zu zeigen hoffe, die Spaltung der verschiedensten psychischen Funktionen eine ihrer wichtigsten Eigenschaft ist. Der Bequemlichkeit wegen brauche ich das Wort im Singular, obschon die Gruppe wahrscheinlich mehrere Krankheiten umfasst“ (a. a. O.: 5). Schließlich definiert Bleuler die Krankheit wie folgt: „Mit dem Namen der Dementia praecox oder der Schizophrenie bezeichnen wir eine Psychosengruppe, die bald chronisch, bald in Schüben verläuft, in jedem Stadium Halt machen oder zurückgehen kann, aber wohl keine volle Restitutio ad integrum erlaubt. Sie wird charakterisiert durch eine spezifisch geartete sonst nirgends vorkommende Alteration des Denkens und Fühlens und der Beziehung zur Außenwelt“ (a. a. O.: 6).
Die zentralen Charakteristika der Krankheit sind also die „Spaltung der verschiedensten psychischen Funktionen“ und eine „Alteration des Denkens und Fühlens und der Beziehung zur Außenwelt“. Zu Recht wandte Szasz (1976: 19) ein, dass „der Begriff ‚Alteration des Denkens’ (…) von einem streng medizinischen oder biochemischen Standpunkt aus irrelevant“ sei. Da Denken für Außenstehende vor allem durch sprachliche Äußerungen erkennbar wird, stellt sich die Frage, welche sprachlichen Äußerungen die Störungen des Denkens verraten. Bleuler gab eine Reihe von Beispielen von Äußerungen als schizophren diagnostizierter Patienten, an denen er versuchte, die verschiedenen Symptomatiken und die Inhalte der Wirklichkeitstäuschungen aufzuzeigen. „Wenn eine Patientin erklärt, sie sei die Schweiz oder eine andere einen Strauß ins Bett nehmen will, sie werde dann nicht mehr erwachen, so scheint das ganz unverständlich. Wir bekommen aber den Schlüssel zur Erklärung durch die Erkenntnis, daß die Kranken leicht Ähnlichkeiten wie Identitäten benutzen und unendlich viel mehr als die Gesunden in Symbolen denken, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob ein Symbol im gegebenen Falle passend sei oder nicht. Es können die unwesentlichsten Teile einer Idee dazu verwendet werden, dieselbe zu repräsentieren. In dem ganzen Gedicht und der Geschichte der Kraniche des Ibykus227 spielt das ‚frei’ (von Schuld und Fehle) eine sehr geringe Rolle. Das gibt nichtsdestoweniger der B. S. Anlaß, sich mit den Kranichen des Ibykus zu identifizieren, weil sie, wenn auch nicht frei ist, doch frei sein sollte. Das (…) Beispiel zeigt noch in einer andern Richtung, wie sorglos die Kranken mit den Ideenverbindungen umgehen. Die Patientin ist zwar nicht frei, sie sollte nur frei sein; das hindert sie nicht, daß sie mit den Kranichen des Ibykus identifiziert wird, von deren Idee ‚frei’ ein Teil ist. Auch von dem Plural wird ganz abgesehen; sie ist die Kraniche, obschon die Patientin sich selbst durchaus nicht im Plural denkt (…). Noch mehr, sie ist die Kraniche. Diese unangebrachte Kopula ist überhaupt bei den verschiedensten Kranken etwas sehr gewöhnliches. (…) Fräulein B. S., die die Kraniche des Ibykus ist, hat dieselben beim Eintritt in die Anstalt auch gesehen; sie waren ganz schwarz, das bedeutet Trauer über ihre Internierung. Sie möchte aus der Anstalt entlassen werden. Symbol für freie Passage ist ihr wie mancher anderen Kranken der Schlüssel; sie möchte also den Schlüssel haben; sie kann ebenso sage, sie ‚stelle den Schlüssel’ fest, oder sie ‚sei der Schlüssel’. Sie ‚besitzt’ auch die Schweiz; und im gleichen Sinn sagt sie: ‚Ich bin die Schweiz’ Sie könnte auch sagen: ‚Ich bin die Freiheit’, denn ‚Schweiz’ bedeutet ihr nichts anderes als Freiheit; In diesem Sinne sagen deprimierte Schizophrene von sich, sie seien die Sünde. 227 Griechische Sage, die auf ein historisches Ereignis um 530 v. u. Z. zurückgeht und von Friedrich Schiller 1797 als Ballade bearbeitet wurde. Als Ibykus, ein griechischer Dichter, ermordet wird, zieht ein Zug Kraniche vorbei. Andere Zeugen gibt es nicht. Einer der Mörder verrät sich später beim Anblick eines Kranichzuges während einer öffentlichen Veranstaltung durch den Ausspruch: „Die Kraniche der Ibykos“ und wird dadurch überführt.
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Der Unterschied zwischen solchen Redeweisen bei Gesunden und Kranken besteht darin, daß sie von ersteren als Metaphern aufgefasst werden, während sich bei Patienten die Grenzen zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede verwischen, so daß sie die Dinge oft auch im buchstäblichen Sinne denken“ (Bleuler 1911: 348 f.).
Für Bleuler waren also Äußerungen, wie „Ich bin die Schweiz“ oder „Ich bin die Kraniche“ Ausdruck von Störungen im Denken der Patientin, damit schizophrene Äußerungen und als solche Symptome der Schizophrenie. Warum schloß Bleuler von diesen Äußerungen auf eine Denkstörung der Patientinnen? Weil sie ihm „ganz unverständlich“ erschienen. Er konnte sie nicht verstehen und suchte eine Erklärung dafür, die er allerdings nicht in seinem Unvermögen zu verstehen, sondern in der vermeintlichen Krankheit suchte und fand. Die Konsequenzen bringt Feuser (1996: 19) in brillanter Klarheit auf den Punkt: „Was ich z. B. an einem anderen Menschen nicht verstehen kann, nehme ich wahr als dessen Unverstehbarkeit. Meine Verstehensgrenze wird per Projektion auf den anderen zu dessen Begrenztheit. Meine Annahmen über diese (nun für wesensmäßig gehaltene) Begrenztheit des anderen, die im Grunde aber meine Grenzen charakterisieren, ihn wahrzunehmen, lassen mich nun so handeln, daß ich den anderen in Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssysteme, in Förderungs- und Therapiezusammenhänge verbringe, die dieser meiner Annahme über seine Begrenztheit entsprechen. Das garantiert, daß der andere so bleibt, wie ich ihn mir denken kann. So erfüllt sich, was ich über seine Entwicklungsmöglichkeiten prognostiziert habe, und das bestätigt mich (nicht den anderen), beweist meine ‚Normalität’ und dessen ‚Pathologie’.“
Dabei war Bleuler dem Verständnis der Äußerungen seiner Patientin, die sich mit den Kranichen identifiziert, durchaus auf der Spur. Er deutete sie ganz plausibel als Metaphern für den Wunsch nach Freiheit. Ist es aber wirklich so unverständlich, wenn jemand, der oder die in einer Anstalt interniert ist, wie er selbst schrieb, den Wunsch nach Freiheit verspürt? Szasz (1976: 21 f.) stellte noch weitere Fragen: „Bleiben sie [die schizophrenen Äußerungen] dann ‚Symptome’, wenn wir sie verstehen gelernt haben? Sind die Äußerungen verständlich, weshalb sperren wir dann diejenigen, die sie machten, in Irrenhäuser? Ja mit welchem Recht sperren wir Menschen ein, selbst wenn ihre Äußerungen unverständlich sind? Dies sind Fragen, welche Bleuler niemals stellt. Und diese Fragen können nicht einmal heute in der Psychiatrie diskutiert werden, denn sie enthüllen, daß es den Imperien der Psychiatrie ebenso an sichtbaren Krankheiten mangelt wie dem Kaiser im Märchen an sichtbaren Kleidern.“
Und schließlich, auch darauf machte Szasz aufmerksam: Ob etwas als Metapher aufgefasst oder buchstäblich genommen wird, ist letztlich abhängig vom kulturhistorischen Kontext: „Was ist die katholische Doktrin der Transsubstation von einem protestantischen Standpunkt aus anderes als das Buchstäblichnehmen einer Metapher? Mutatis mutandis bin ich der Auffassung, daß auch die psychiatrische Konzeption der Geisteskrankheit eine buchstäblich genommene Metapher ist. Der Hauptunterschied zwischen diesen zentralen katholischen und psychiatrischen Metaphern und den Metaphern der sogenannten schizophrenen Patienten liegt meiner Ansicht nach nicht in einer sprachlichen oder logischen Besonderheit der Symbole, sondern in ihrer sozialen Legitimität – die ersteren sind legitime, die letzteren illegitime Metaphern“ (a. a. O.: 22). Hier wird „der Begriff von Krankheit ebenso verwandelt wie das Vokabular, mit denen wir sie beschreiben und definieren: organische Schäden ersetzen sie durch sprachliche Probleme,
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Krankheit durch Meinungsverschiedenheit und Pathophysiologie durch Psychohistorie – und generell: Histopathologie durch Psychopathologie“ (a. a. O.: 23).
Auch für Manfred Bleuler blieb letztlich das Kriterium der Verstehbarkeit bzw. Unverstehbarkeit entscheidend dafür, ob jemand geisteskrank228 ist oder nicht. „Der Begriff der Geisteskrankheit lässt sich (…) nicht naturwissenschaftlich erfassen. Er ist an der persönlichen Erfahrung des gesunden Menschen mit sich selbst und mit seinen gesunden Mitmenschen gebildet. Wen man von dieser Erfahrung nicht mehr begreifen kann, nicht mehr nachfühlen, nicht mehr dem eigenen Wesen verwandt empfinden kann, empfindet man als ‚fremd’ (alienus), aus dem Bereich der menschlichen Gemeinschaft entrückt und in andern Bereichen festgerückt (‚verrückt’), als geisteskrank oder psychotisch“ (Bleuler 1979: 116).
Problematisch wird es jedoch, wenn diejenigen, die andere nicht verstehen, ihr subjektives Empfinden kraft ihrer wissenschaftlichen Autorität und ihrer medizinisch-psychiatrischen Definitionsmacht als medizinische Diagnose ausgeben, die dann als Teil der wirklichen Welt erscheint, obwohl sie nichts anderes ist als die Verdinglichung eines subjektiven Gefühls, allerdings insofern die Wirklichkeit entscheidend prägt, als sie fortan den Umgang mit den für unverstehbar gehaltenen Betroffenen bestimmt. Hier geschieht im Grundsatz das Gleiche, was auch vor dem Paradigmenwechsel geschah, nur hat zwischenzeitlich die wissenschaftliche die theologische Autorität und die medizinisch-psychiatrische die dämonologische Definitionsmacht abgelöst. „Die lange als Axiom behandelte wissenschaftliche Behauptung von der prinzipiellen Unverstehbarkeit schizophrenen Fühlens, Denkens und Handelns hat unermesslichen Schaden in der Begegnung, Betreuung und Behandlung psychotischer Menschen, oder wen man dafür halten zu müssen meinte, angerichtet“,
schrieb der Kinder- und Jugendpsychiater Reinhart Lempp (2005: 9) in seinem Vorwort zu dem autobiografischen Bericht einer Frau, die mit der nachgewiesenermaßen falschen Diagnose „Schizophrenie“ vier Jahre in psychiatrischen Krankenhäusern festgehalten und weitere vier Jahre psychiatrisch behandelt wurde und dadurch so schwer geschädigt wurde, dass sie heute schwerbehindert ist. Wir kommen darauf in unseren Ausführungen über die Validität psychiatrischer Diagnosen sowie zur Dekonstruktion von Anders-Sein noch zurück. Das Kriterium der Unverstehbarkeit ist allerdings in der einschlägigen Fachdiskussion nicht unumstritten geblieben. Von der ersten bis zur bislang letzten Auflage ist für Tölle u. a. „dieses Kriterium am wenigsten geeignet, Wahn zu charakterisieren“ (Schulte & Tölle 1971: 144; Tölle & Windgassen 2009: 180). Karl Jaspers, auf den sich auch das Lehrbuch von Huber immer wieder bezieht, begründet sogar eine verstehende Psychopathologie, der er allerdings eine erklärende und mit der verstehenden nicht zu integrierende Psychopathologie zur Seite stellt: „1. Durch Hineinversetzen in Seelisches verstehen wir genetisch, wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht. 2. Durch objektive Verknüpfung mehrerer Elemente zu Regelmäßigkeiten aufgrund wiederholter Erfahrungen erklären wir kausal. Das Verstehen von Seelischem aus anderem Seelischen nennt man auch psychologisches Erklären, und die naturwissenschaftlichen Forscher, die 228 Bei diesen Ausführungen geht es generell um Geisteskrankheiten, nicht nur um Schizophrenie.
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es nur mit sinnlich Wahrnehmbarem und mit kausalen Erklärungen zu tun haben, äußern eine begreifliche und berechtigte Abneigung gegen das psychologische Erklären, wenn es irgendwo ihre Arbeit ersetzen soll. Man hat die verständlichen Zusammenhänge des Seelischen auch Kausalität von innen genannt und damit den unüberbrückbaren Abgrund bezeichnet, der zwischen diesen nur gleichnisweise kausal zu nennenden und den echten kausalen Zusammenhängen, der Kausalität von außen, besteht“ (Jaspers 1920: 170. Kritisch zu Jaspers: Baßler 1990).
Zurück zu Bleulers Kriterium der Unverstehbarkeit. Wenn für ihn Alterationen des Denkens letztlich darin zum Ausdruck kommen, dass sie vom ‚gesunden’ zeitgenössischen Menschenverstand nicht verstanden werden, folgt daraus als weitere Konsequenz, dass letztlich auch solche Menschen als schizophren zu diagnostizieren sind, deren Einsichten dem Denken ihrer Zeit weit voraus sind und die deswegen nicht verstanden werden, z. B. Persönlichkeiten wie Nikolaus Kopernikus oder Galileo Galilei. Tatsächlich galten sie zu ihrer Zeit als Abweichler und wurden entsprechend wahrgenommen, Galilei auch behandelt. Kopernikus war z. B. in den Augen von Martin Luther ein Narr229 und Galilei hat ja bekanntlich auch die seinerzeitige Praxis im Umgang mit Abweichlern, die Inquisition, zu spüren bekommen230. Möglicherweise liegt hier auch die Ursache für den immer wieder behaupteten Zusammenhang zwischen Genie und Irrsinn (z. B. Lombroso 1887; kritisch hierzu: Kraepelin 1920: 537), welcher sogar zur Entwicklung einer eigenen psychiatrischen Forschungsrichtung, der Pathographie, geführt hat, die sich insbesondere mit der Psychopathologisierung historisch bedeutender Persönlichkeiten befasst und mittlerweile eine große Zahl von ihnen für verrückt erklärt hat (vgl. Lange-Eichbaum & Kurth 1967). Von Pathographien über Jesus und andere Personen der Religionsgeschichte werden wir noch in einem Exkurs über die Pathologisierung der Dämonologisierung berichten. Hinsichtlich der Ursachen der Schizophrenie ist Bleuler (1911: 275) zunächst noch vorsichtig: „Die Pathologie der Schizophrenie gibt uns keine Anhaltspunkte, wo wir die Ursachen der Krankheit suchen sollen. Die direkte Forschung nach spezifischen Kausalmomenten hat uns im Stich gelassen. (…) Und doch wird die Heredität eine Rolle in der Ätiologie der Schizophrenie spielen. Aber wie groß und welcher Art ihr Einfluß ist, das kann noch nicht gesagt werden.“
Fünf Jahre später, in der 1. Auflage seines Lehrbuches der Psychiatrie, war er sich dagegen sicher: „Eine große Bedeutung kommt jedenfalls der erblichen Belastung zu. (…) Daneben gibt es Schizophrenien, wo eine hereditäre Anlage trotz genauer Kenntnis nicht zu finden ist“ (Bleuler 1916: 327 f.).
229 Luther spricht immer wieder „von der Narrheit der Mathematicorum und Astrologorum, der Sternekücker“ (Tischrede 678, aus der 1. Hälfte der 1530er Jahre, Bd. 1: 323) und meint in der folgenden Passage vermutlich Kopernikus persönlich: „Es ward gedacht eines neuen Astrologi, der wollte beweisen, daß die Erde bewegt würde und umginge, nicht der Himmel, das Firmament, Sonne und Monde. (…) Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren. Aber wie die Heilige Schrift zeigt, hieß Josua (10, 12-13) die Sonne still stehen und nicht das Erdreich“ (Tischrede 855, aus der 1. Hälfte der 1530er Jahre, Bd. 1: 419). 230 Am 22. Juni 1633 wurde er als Ketzer zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt, allerdings aufgrund einer Fehldiagnose, wie die vom Papst 1979 mit der Untersuchung des Falles beauftragte Päpstliche Akademie der Wissenschaften nach zehn Jahren Arbeit herausfand. Das Urteil wurde 1992 aufgehoben.
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An dieser Auffassung hielt Eugen Bleuler bis zur letzten von ihm verfassten 6. Auflage (Bleuler 1937: 316) fest und auch sein Sohn Manfred übernahm sie unverändert in die 7. Auflage (Bleuler 1943: 327). In der 8. Auflage (1949: 317) hingegen wurde er vorsichtiger: „Aus den Besonderheiten der persönlichen Konstitution und des Familienbildes Schizophrener (…) muß angenommen werden, daß eine vererbte Anlage bei der Genese der Krankheit eine wichtige Rolle spielt. Wir kennen aber weder einen bestimmten Erbgang, noch wissen wir, wo die Anlage angreift: setzt sie noch unentdeckte strukturelle Störungen des Gehirns? oder eine noch unentdeckte Stoffwechselstörung? oder beeinflusst sie die Psyche in einer direkteren Art, indem sie die bis jetzt bekannten körperlichen Grundlagen der psychischen Funktion intakt läßt?“ Noch zurückhaltender wurde er in der 9. Auflage (1955: 369): „Die Schizophrenie ist eine Katastrophe im eigenen Erleben des Kranken und in seinem Verhalten, wie es seine Mitmenschen beobachten. Es lag nahe, Zusammenhänge mit dem körperlichen Geschehen, mit psychologisch verständlichen Entwicklungen und mit der vererbten Konstitution zu suchen. Leider werden solche Zusammenhänge – und damit genetische Theorien der Schizophrenie – oft rein spekulativ und voreingenommen behauptet oder geleugnet (…). Bis heute (ist es) nicht gelungen, eine sichere und allgemein anerkannte körperliche, psychologische oder konstitutionelle Genese der Schizophrenie nachzuweisen. Das Wesen der Schizophrenie bleibt eines der größten Rätsel unserer Zeit. (…) Bei den vollkommen negativen Ergebnissen der anatomischen Schizophrenieforschung ist es wahrscheinlich geworden, daß es sich nicht um eine primäre Gehirnkrankheit handelt.“ In der 12. Auflage (1972: 433) „lüftet sich langsam der Schleier um das große Rätsel der Schizophrenie: Wir wissen heute, daß sowohl ungünstige lebensgeschichtliche Einflüsse wie ungünstige vererbte Entwicklungstendenzen der Persönlichkeit für die Genese der Schizophrenien entscheidend sind. Demgegenüber fehlen Anhaltspunkte dafür, daß körperliche Vorgänge eine wesentliche ursächliche Rolle spielten; es ist unwahrscheinlich geworden“.
Ein Rückblick auf die Schizophrenieforschung der damals zurückliegenden 100 Jahre ließ Manfred Bleuler (1971: 107) „staunend feststellen, wie lange und wie stark sie sich auf vorgefasste Meinungen und Spekulationen gründete. Und dies geschah in einem Zeitalter, in dem sich Forscher der Neuzeit verpflichtet fühlten und selbst überzeugt waren, kritische, sachlich und wissenschaftlich orientierte, unvoreingenommene Denker zu sein“.
In der Zeit zwischen dem Erscheinen der 12. und 13. Auflage des Psychiatrie-Lehrbuches hat die Suche nach den organischen Ursachen der Schizophrenie durch die sogenannte DopaminTheorie231 wieder neue Nahrung erhalten, doch Bleuler (1983: 453) blieb skeptisch: „Heute betrifft die wichtigste körperliche Hypothese, die für die Forschung verlockende Ziele setzt, die neurochemischen Vorgänge an den Synapsen der Nervenzellen: Neuroleptische Mittel, die manche Schizophrenien günstig beeinflussen, hemmen den Übertritt von Dopamin und Noradrenalin an den Synapsen der katecholergischen232 Systeme im Gehirn. Amphaetamine können schizophrenieähnliche Psychosen erzeugen und vermehren das Angebot dieser beiden Neurotransmittoren am Receptor. Aus diesen beiden Gründen liegt die Frage nahe: Könnte eine gesteigerte Aufnahme von Dopamin und Noradrenalin an den Synapsen zentralnervöser Systeme 231 Damit ist die Annahme gemeint, die Ursache oder eine Mitursache der Schizophrenie sei eine Störung im Stoffwechsel der Neurotransmitter (Botenstoffe), die im Zentralnervensystem dafür sorgen, dass Informationen von einer Nervenzelle zur anderen an den Synapsen (Kontaktstellen) übertragen werden. 232 Gemeint sind die für diese Neurotransmitter empfänglichen, sensiblen Systeme.
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bei der Genese der Schizophrenie eine wesentliche Rolle spielen? (…) Vielerlei Tatsachen sprechen gegen diese Annahme: Neuroleptica sind kein spezifisches Heilmittel der Schizophrenien, sie bessern nur einen Teil der Schizophrenien und sie wirken sich ähnlich wie auf Schizophrenien auf andersartige Psychosen aus; und Amphaetamine setzen lange nicht immer schizophrenieähnliche Psychosen, manchmal bessern sie sogar Schizophrenien; und keine der Untersuchungen an Schizophrenen konnte bisher beweisen, daß bei ihnen der Stoffwechsel der Neurotransmitter verändert wäre.“ „Selbst mit den modernsten Techniken ließen sich keine körperlich erfaßbaren Ursachen auffinden; die meisten psychischen Störungen körperlich Kranker sind nicht Schizophrenien und die meisten Schizophrenen sind nicht körperlich krank; Erbursachen, die unter allen Umständen zur Psychose führten, lassen sich ausschließen (u. a. schon durch die Zwillingsforschung)“ (a. a. O.: 455).
Hinsichtlich der bisherigen Forschungen zur Dopamin-Hypothese kommen auch Tölle & Windgassen (2009: 14) zu einer eher zurückhaltenden Einschätzung: „Neurotransmitter-Untersuchungen haben mehr Wissen über die Wirkungsweise von Psychopharmaka erbracht als zur Pathogenese psychischer Krankheiten. Klinisch relevant sind die neuropharmakologischen Erkenntnisse mehr im Hinblick auf unerwünschte Effekte (Nebenwirkungen) als auf die therapeutische Wirksamkeit.“
Obwohl nach den organischen Ursachen der Schizophrenie seit mehr als 150 Jahren intensiv gefahndet wird, muss eingestanden werden: „Die Verursachung der Schizophrenien ist nicht insgesamt geklärt, es gibt bisher keine vollständige Schizophrenie-Theorie“ (Tölle & Windgassen 2009: 220).233
Mit dem Aufkommen der Molekularbiologie, der Genforschung und der Entschlüsselung des menschlichen Genoms gerieten die menschlichen Gene erneut unter Verdacht, für die Entstehung von Schizophrenie verantwortlich zu sein. Doch auch die Ursachenforschung auf der chromosomalen Ebene blieb bislang erfolglos. „Molekulargenetische Untersuchungen, die zur Zeit mit großer Intensität durchgeführt werden, ergaben bisher keine sicheren Befunde (…), auch nicht bezüglich der verschiedenen Dopaminrezeptoren. Verschiedene Genorte wurden mit schizophrener Erkrankung in Verbindung gebracht, jedoch konnte ein bestimmter Genort nicht ausgemacht werden“ (Tölle & Windgassen 2009: 213). Fazit: „Bis heute weiß niemand, wie die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis entstehen. Die Ursachen liegen weitgehend im Dunkeln“ (Finzen 2008: 73).
233 Hinzu kommt, dass diese hier nicht näher genannten Untersuchungen fast immer an Patienten vorgenommen werden, die aufgrund der Diagnose „Schizophrenie“ oft seit Jahren und meist in hohen Dosen Psychopharmaka mit hirnschädigenden Nebenwirkungen bekommen haben, welche als Ursache der festgestellten morphologischen Anormalitäten mindestens ebenso in Frage kommen, wie die diagnostizierte Schizophrenie (vgl. Breggins 1996: 172 ff.).
5 Ausgewählte Phänomenologien und Ätiologien seelischen Anders-Seins
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5.2 Das Idiotengehirn als defekter Apparat (Eugen Bleuler): Oligophrenien oder Intelligenzminderungen Die fachliche Zuständigkeit für die unterschiedlichen Formen des damals sog. Schwachsinns bzw. der Oligophrenie war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre zwischen Medizin und (Heil-)Pädagogik heftig umstritten. Den Streit z. B. um die Frage, welcher Disziplin die Leitung der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt entstandenen Idiotenanstalten fachlich zustehe, konnten 1895 die Mediziner für sich entscheiden, nachdem ein Ministerialerlass verfügt hatte, dass Idiotenanstalten grundsätzlich unter ärztlicher Leitung zu stehen haben. Der Streit eskalierte dann erneut in den 1970er Jahren, als sich, wie in den entsprechenden Ausführungen noch zu zeigen sein wird, die Heil- und Sonderpädagogik zunehmend von der medizinischen Dominanz emanzipierte und als pädagogisch fundierte Profession und Disziplin etablierte. So richtete etwa eine „ärztliche Aktion pro infantibus“ am 13. September 1975 ein Schreiben an den Bayerischen Staatsminister für Arbeit und Sozialordnung, in dem „Parallelmaßnahmen zur medizinisch-therapeutischen Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ (zit. nach Bach 1976: 250) mit Argwohn betrachtet wurden, wobei Bach (1976: 251) zu Recht darauf die „Vereinnahmung durch Umbenennung der Früherziehung in ‚medizinisch-therapeutische Frühförderung’“ kritisierte. Eindringlich warnten die vier unterzeichnenden Mediziner, „daß die pädagogische Frühförderung von Säuglingen und Kindern zu zusätzlichen Schädigungen ihrer Entwicklung führen kann“ (ebd.). Sie äußerten außerdem „Bedenken, daß Frühförderungsmaßnahmen in den Aufgabenbereich von weisungsgebundenen Lehrern fallen sollen“ (ebd.). In der Befürchtung, einen Zuständigkeitsbereich an die Pädagogik zu verlieren, äußerten sie die Erwartung, „daß für weitergehende Modelle unter ärztlicher Verantwortung Mittel in mindestens der gleichen Höhe zur Verfügung gestellt werden, wie sie derzeit für pädagogische Experimente zweifelhaften Inhalts ausgegeben bzw. für die Zukunft geplant sind“ (ebd.). Schließlich „empfinden (sie) es als befremdlich, daß Angehörige medizinischer Assistenzberufe – z. B. Krankengymnasten, Beschäftigungstherapeuten und Logopäden – als heilpädagogische Unterrichtshilfen eingesetzt werden und dann als solche pädagogische Frühförderung unter der Aufsicht von Sonderschullehrern durchführen sollen“ (ebd.).
5.2.1 Zur Klassifikation der Oligophrenien Während z. B. der Heilpädagoge Theodor Heller noch in seinem 1904 erschienenen Grundriß der Heilpädagogik (1904: 30) das „Bemühen, die Begriffe ‚Imbezillität’ und ‚Debilität’ genau zu definieren“, für vergeblich hielt,234 glaubte Kraepelin die damit verbundenen Schwierigkeiten überwinden zu können. Er übernahm die zeitgenössische Einteilung der Oligophrenien nach den Graden ihrer Ausprägung und setzte „eine schwere und eine leichte Form der Idiotie etwa dem Zustande bis zum Ende des 1. bzw. des 6. Lebensjahres, die Imbezillität demjenigen bis zum Beginn des 14., den der Debilität endlich dem Abschnitte bis zum vollendeten 18. Lebensjahr“ (Kraepelin 1916: 391 f.) 234 „Begegnet schon die Grenzziehung zwischen Idiotie und Imbezillität beträchtlichen Schwierigkeiten, so ist die Trennung der Imbezillität von der Debilität geradezu unmöglich“ (Heller 1904: 30).
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IV Mechanistisch-naturwissenschaftliche Erklärungsansätze des Anders-Seins
eines „normal“ entwickelten Kindes bzw. Jugendlichen gleich. Tabellarisch lässt sich diese Klassifikation in folgender Weise darstellen:
Schwere Idiotie (bis 1. Lebensjahr), Leichte Idiotie (bis 6. Lebensjahr), Imbezillität (bis 14. Lebensjahr), Debilität (bis 18. Lebensjahr).
Die jeweiligen Altersgrenzen leitete Kraepelin keineswegs aus medizinischen Erwägungen ab. Er orientierte sich vielmehr – darauf weist Wolfgang Jantzen (1982: 85) hin – eng an Vorschriften des bürgerlichen Rechts, z. B. am Entmündigungsrecht des 1900 in Kraft getretenen bürgerlichen Gesetzbuches. Dieses stellte noch bis 1992 Menschen, die wegen „Geisteskrankheit“235 entmündigt worden waren, hinsichtlich ihrer Geschäftsfähigkeit Kindern bis zum vollendeten siebten Lebensjahr gleich und solche, die wegen „Geistesschwäche“ entmündigt waren, Kindern im Alter von sieben Jahren bis zur Volljährigkeit, die damals in der Regel erst mit 21 Jahren eintrat, aufgrund eines vormundschaftsgerichtlichen Beschlusses aber schon mit 18 Jahren eintreten konnte. Auch nach Vollendung des 14. Lebensjahres kommt es in verschiedenen Bereichen zu einer Änderung des Rechtsstatus, z. B. tritt die eingeschränkte Schuldfähigkeit (bis 1923 ab 12 Jahren) oder Religionsmündigkeit ein. Kraepelin importiert hier also Normen des bürgerlichen Rechts in die Medizin und macht sie solcherart zu Kriterien für scheinbar medizinische Diagnosen. Idioten sind für Kraepelin (1915: 1938) schon früh in geradezu animalischer Weise triebhaft, wie er in den Ausführungen über geschlechtliche Verirrungen ausführt. „Wo aber die höhere seelische Entwicklung, namentlich des Willens, Unzulänglichkeiten zeigt, vermögen sich die Triebe schon frühzeitig kräftig zu erregen. Bekannt ist ja das Auftreten geschlechtlicher Begierden bei Idioten in den ersten Lebensjahren, ähnlich wie bei Tieren.“
Während Kraepelin – entsprechend der zeitgenössischen Auffassung – die Idioten jeglicher Erziehung und Behandlung für unzugänglich hielt,236 definierte er als imbezill „diejenigen Kranken, die sich wohl ein gewisses Maß von Kenntnissen anzueignen vermögen, aber wegen ihrer Verstandesmängel unfähig sind, eine selbständige Berufsausbildung auszuüben“ (Kraepelin 1915: 2176).
An mehreren Stellen warnte er allerdings eindringlich vor allerlei Gefahren, die der Gesellschaft und öffentlichen Ordnung durch die Imbezillen drohen. „Sehr häufig aber, wenigstens bei den Kranken, die in die Hände des Irrenarztes kommen, finden sich allerlei gesellschaftsfeindliche Züge, Trotz, Eigensinn und vor allem Reizbarkeit, die zu heftigen Zornesausbrüchen und Gewalttaten führt“ (a. a. O.: 2178 f.),
unter Umständen mit fatalen Konsequenzen, z. B. für die Vaterlandsverteidigung: 235 „Geisteskrankheit“ oder „Geistesschwäche“ sind hier keine medizinischen, sondern juristische Tatbestände, die bis 1992 nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 BGB zur Entmündigung mit den beschriebenen Rechtsfolgen führten. 236 Obwohl der französisch-amerikanische Arzt und Pädagoge Edouard Séguin (1846, 1864; vgl. auch Rohrmann 2005) bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Gegenteil nachgewiesen hatte.
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„Eine besondere Gefahr bilden die Imbezillen für den Militärdienst, [wo] sie nicht selten in ein ganzes Netz militärischer Verfehlungen mit deren schweren Folgen verstrickt (werden), Gehorsamsverweigerung, Fahnenflucht oder tätliche Angriffe auf Vorgesetzte“ (a. a. O.: 2180).
Die Debilen betrachtete er als die klassische Zielgruppe der sich seit der Jahrhundertwende zunehmend etablierenden Hilfsschule (a. a. O.: 2185). Selbstkritisch räumte Kraepelin ein, dass die Klassifizierung der Oligophrenien seinem Anspruch, nach ätiologischen Aspekten zu klassifizieren, nicht gerecht wird und „sie das Wesen der ursächlichen Krankheitsvorgänge gänzlich unberücksichtigt läßt“ (a. a. O.: 2189), sondern lediglich nach Ausprägungsgraden differenzierte. „Allein in der ungeheuren Mehrzahl der Fälle fehlt uns noch jeder Anhalt für die Erkenntnis der Ursache“ (a. a. O.: 2190). Bleuler übernahm die Kraepelin’sche Klassifikation der Oligophrenien, äußerte allerdings Zweifel an der praktischen Abgrenzbarkeit. „Man nennt die höheren Grade Idiotie, die leichteren Imbezillität und hat Kriterien angeben wollen, die beiden Formen zu trennen. Diese Kriterien sind ziemlich wertlos, schon weil die verschiedenen Intelligenzgebiete beim nämlichen Patienten auf ganz verschiedener Höhe sein können“ (Bleuler 1916: 430).
Die Orientierung der Einteilung der Oligophrenie an der Entwicklung von Kindern bestimmter Altersstufen lehnte er ab, denn „das Kind hat (…) den enormen Vorteil vor dem Imbezillen, daß es durch neue Erfahrung sofort hinzulernt (…). Der Imbezille wiederum hat den Vorteil der numerischen Erfahrung; er kann sich deshalb an vielen Orten bewegen (…), wo das Kind noch hilflos ist“ (ebd.). Anders ausgedrückt: „Die Intelligenz des normalen Kindes ist also niemals auf der Stufe des Imbezillen; gewisse Komplikationen des Denkens sind ihm aus Mangel an Erfahrung noch unzugänglich, dem Imbezillen aus Mangel an der Fähigkeit, komplizierte Erfahrungen zu sammeln“ (ebd.).237 Auch den Vergleich mit Tieren lehnt er ab, denn „das Tierhirn ist eine den Verhältnissen ausgezeichnet angepasste einfachere Maschine, während das Idiotenhirn ein komplizierter aber verfehlter oder verdorbener Apparat ist. (…) Ein Chronometer sinkt deshalb nicht auf die Stufe einer Sanduhr, weil es schlecht ausgeführt oder verdorben ist“ (a. a. O.: 431, Fn. 2).
Oligophrene können nach Bleuler eine erhebliche Belastung für ihre Umwelt darstellen, vor allem, wenn sie leicht erregbar sind: „Erethrische Idioten, die sich nicht erziehen lassen, sind eine große Plage238, besonders, wenn sie noch fähig sind, herum zu gehen. Sie fassen alles an, beschmutzen, zerstören, aus Unaufmerksamkeit und absichtlich. (…) Auch auf der mittleren Stufe der Imbezillität sind die glücklicherweise viel selteneren Erethrischen nicht so leicht zu haben, weil sie beständig etwas im Schilde führen, absichtlich oder unabsichtlich etwas anstellen, davonlaufen, entwenden, zanken. Sexuelle Delikte (Exhibition, Attentate bis zu Lustmorden239) sind nicht so selten. Die Ruhigeren lassen sich, so bald sie sich selber reinlich halten und selber essen können, wie Kinder halten. (…) Höher stehende fügen sich, soweit nicht verbrecherische Tendenzen sie hindern240, bei 237 Diese Formulierung behält Eugen Bleuler bis zur 6. Auflage (1937: 401) bei und auch sein Sohn Manfred übernimmt sie bis zur 8. Auflage (1955: 483). 238 Ab der 12. Auflage (1972: 581) sind sie „schwierige Kranke“. 239 In der letzten Auflage (1983) sind die Attentate und Lustmorde gestrichen. 240 Der Einschub ist seit der 12. Auflage (1972: 582) gestrichen.
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ordentlicher Erziehung in die Familien- und Gesellschaftsordnung ein und können sich meistens noch ein wenig nützlich machen“ (Bleuler 1916: 440 f.).
Diese Formulierungen fanden nahezu unverändert Eingang in alle Auflagen des Lehrbuches bis 1983. Während Bleuler Oligophrenien bis zur 5. Auflage seines Lehrbuches noch als „psychische Entwicklungshemmungen“ (1930: 428) bezeichnete, nennt er sie in der 6. Auflage „angeborene und früh erworbene Schwachsinnszustände241 (…) [und versteht darunter] Krankheiten ganz verschiedenen Ursprungs, in denen von Geburt an oder seit der Kindheit infolge mangelhafter Ausbildung des Großhirns die Intelligenz darniederliegt oder, als Elementarstörung aufgefasst, die Assoziationsfähigkeit verändert ist“ (Bleuler 1937: 400).
Diese Formulierung übernahm Manfred Bleuler in die 7. Auflage (1943: 420). In der 8. Auflage (1949: 410) strich er den Hinweis auf die mangelhafte Ausbildung des Großhirns als Ursache der Oligophrenie und schrieb in der 9. Auflage (1955: 482) schließlich nicht mehr von Krankheiten, sondern von „Störungen ganz verschiedenen Ursprungs, bei denen (…) die Intelligenz darniederliegt“. Nach den Ausführungen der 10. Auflage (1960: 517) „bilden die Schwachsinnigen keine einheitliche Gruppe. Sowohl vererbte Schwächen ohne erkennbare Besonderheiten des Hirns wie die verschiedensten früherworbenen oder vererbten Hirnkrankheiten führen zu Schwachsinn. Psychopathologisch ist aber das Bild des Schwachsinns ungefähr dasselbe, welche Noxe ihm auch immer zugrunde liegt. Gerade diese Tatsache, daß verschiedene vererbte und früherworbene Störungen zu psychopathologisch gleichartigen Defekten führen, bedingt es, daß unter einem Begriff ursächlich so vielfältige Störungen zusammengefaßt werden können und müssen. Die häufigsten Formen der Oligophrenie sind vererbte Intelligenzschwächen ohne erkennbare Störungen in der Anatomie des Gehirns“.
Diese Formulierungen fanden sich mit nur geringfügigen Abwandlungen bis in der letzten, 15. Auflage (1983: 588). Nach Schulte & Tölle (1971: 282) ist „Schwachsinn (Oligophrenie) (…) ein angeborener – anlagebedingter oder perinatal erworbener – Intelligenzmangel, verbunden mit mangelhafter Differenzierung der Persönlichkeit. Schwachsinn ist nicht unbedingt eine Krankheit, sondern eher eine Variante unter den mannigfaltigen Anlagen des Menschen. Doch höhere Grade von Schwachsinn zum mindesten haben ‚Krankheitswert’“.
Auch sie übernahmen die Kraepelin’sche Einteilung der Oligophrenie, orientierten sich bei der Abgrenzung jedoch nunmehr an der von der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagenen Klassifikation nach Intelligenzquotienten: „leichte (Intelligenzquotient: 50 bis 69), mäßige (IQ von 20 bis 49) und schwere Unterentwicklung (IQ: 0-19)“ (a. a. O.: 283). Als „häufigste Ursache des Schwachsinns“ machen sie „eine entsprechende Erbanlage“ (a. a. O.: 284) aus, wobei sich bei den meisten Betroffenen keine organischen Befunde nachweisen lassen, auf die ihr vermeintlicher Schwachsinn zurückzuführen wäre. Bei einer kleineren Gruppe hingegen lassen sich Stoffwechselstörungen nachweisen, die teilweise auch behandelbar sind, was allerdings „in das Fachgebiet der Kinderheilkunde“ (a. a. O.: 285) fällt, oder Chromosomen-Anomalien wie Trisomie 21. 241 Diese Bezeichnung wird bis zur letzten, 15. Auflage (1983: 587) beibehalten.
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Diese Ausführungen werden nahezu unverändert bis in die 5. Auflage (1979: 291 ff.) übernommen, neben die Begriffe Schwachsinn und Oligophrenie tritt ab der 2. Auflage der synonym verwendete Begriff „geistig Behinderte“. Hinsichtlich der Ursachen wurde Tölle, er ist ab jetzt Alleinautor, in der 6. Auflage (1982: 305) vorsichtiger: „Offensichtlich sind zahlreiche geistige Behinderungen erblich bedingt.“ Seit der 12. Auflage (Tölle & Windgassen 2003: 317) schließlich heißt es: „Geistige Behinderung hat verschiedene Ursachen. Sie kann genetisch bedingt sein, und zwar auf verschiedene Weise (…), oder früh erworben sein, nämlich durch eine Schädigung in den frühen Schwangerschaftsmonaten oder perinatal (in der Zeit vor, bei und nach der Entbindung), in diesen Fällen also auch angeboren“ (Tölle & Windgassen 2009: 318).
Oligophrenien wurden bis zur Ablösung der ICD-9 als solche bezeichnet und klassifiziert, heute werden sie in der ICD-10 als Intelligenzminderungen (F70-F79) bezeichnet. Geändert hat sich jedoch nur der Begriff, nicht das Verständnis. Die ICD-10 definiert Intelligenzminderungen als „Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten; besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen, wie Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten. Eine Intelligenzminderung kann allein oder zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftreten“ (Kapitel V, Einführung).
5.2.2 Zur Konstruktion und Messung von Intelligenz Die Diagnostik von Intelligenzminderungen erfolgt heute üblicherweise mit Hilfe von Intelligenztests, ein Verfahren, das noch Manfred Bleuler kritisierte: „Manche teilen die Schwachsinnsgrade nach der Höhe des Intelligenz-Quotienten ein: Idiotie unter 50, Imbezillität 50-70, Debilität 70-90. Dabei erreicht man aber nur eine Scheingenauigkeit, denn der Intelligenz-Quotient mißt nicht die Intelligenz, sondern nur einige Seiten der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Außerdem verändert er sich im Laufe des Lebens stärker, als man früher erwartet hat“ (Bleuler 1983: 588 f.).
Die Messung der Intelligenz geht zurück auf den französischen Psychologen Alfred Binet (1857-1911), der zusammen mit dem Mediziner Théodore Simon (1873-1961) 1905 im Auftrag des französischen Erziehungsministerium einen ersten psychologischen Intelligenztest entwickelt hat. Um Intelligenz zu messen, muss sie zunächst in einer messtechnisch operationalisierbaren Weise definiert, genauer: konstruiert werden. „Nach unserer Ansicht ist die Intelligenz als unabhängig von den Phänomenen der Sinneswahrnehmung, dem Gefühlsleben und dem Willen zu betrachten und stellt vor allem eine Fähigkeit des Erkennens dar, die gegen die Außenwelt gerichtet ist und mit Hilfe der uns gegebenen kleinen Fragmente an ihrer vollständigen Gestaltung arbeitet“ (Binet 1927: 86). Binet hat „mit Dr. Simon eine Methode zur Messung der Intelligenz ausgearbeitet, der wir den Namen ‚Stufenleiter der Intelligenz’ gegeben haben“ (a. a. O.: 91).
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Um zu dieser Stufenleiter zu gelangen, wurde untersucht, welche kognitiven Fähigkeiten Kinder unterschiedlicher Lebensaltersstufen durchschnittlich entwickelt haben. Daraus wurde ein Katalog von Fragen abgeleitet, aus denen der Test entwickelt wurde. Die Testergebnisse wurden mit der Stufenleiter der Intelligenz verglichen und so das Intelligenzalter der Kinder ermittelt. Lag dies unter dem Intelligenzalter, war dies ein Anzeichen für einen Intelligenzrückstand, dessen Ausmaß durch die Differenz zwischen Lebens- und Intelligenzalter quantifiziert wurde. 1912 legte der deutsche Psychologe William Stern (18711938), der 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft erst in die Niederlande, später in die USA fliehen musste, den Vorschlag vor, Intelligenzmängel nicht mehr durch die Differenz zwischen Lebens- und Intelligenzalter zu quantifizieren, sondern Intelligenzalter durch Lebensalter zu dividieren und mit 100 zu multiplizieren. So wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass die relative Alterszunahme mit zunehmendem Lebensalter abnimmt, d. h. eine bestimmte Differenz im Alter von 17 Jahren anders zu bewerten ist als der selbe Wert im Alter von fünf Jahren. Damit war gewissermaßen der Intelligenzquotient (IQ) geboren, der rasch Eingang fand in die einschlägige Intelligenzforschung und seither die weitere Entwicklung der Verfahrungen zur Messung der Intelligenz nachhaltig bestimmt. Für Binet waren Intelligenz und Intelligenzmängel keineswegs quasi schicksalhafte und unabänderliche Wesensmerkmale der Betroffenen. Für ihn war die Intelligenzmessung weder Selbstzweck noch ein Instrument, um die betroffenen Kinder zu sortieren, sondern um sie zu fördern, ihre Intelligenz zu erziehen. „Nach der bloßen Feststellung intellektueller Mängel wollen wir zu ihrer Behandlung übergehen“ (a. a. O.: 103). Scharf grenzte sich Binet von dem seinerzeit sich breit machenden pädagogischen Pessimismus ab. „Ich habe oft mit großem Bedauern feststellen müssen, daß man häufig gegen die Erziehbarkeit der Intelligenz eingenommen ist. ‚Wenn man einmal dumm ist, so ist man es ein für allemal’, scheint von gedankenlosen Lehrern buchstäblich genommen zu werden“ (ebd.). „Gegen einen solchen Pessimismus müssen wir Einspruch erheben, da er zu weit geht, wir müssen ihn zu widerlegen suchen“ (a. a. O.: 104).
Mit der fortschreitenden Verbreitung der Vorstellungen von Degeneration und Eugenik kam es jedoch ganz im Gegensatz zur pragmatischen Intention von Binet zu weitgehender Verdinglichung des Intelligenzbegriffs. Intelligenz wurde zunehmend für ein genetisch ererbtes, mithin weithin unabänderliches Persönlichkeitsmerkmal gehalten und fortan als solches operationalisiert und gemessen. „Amerikanische Psychologen pervertierten Binets Absichten und erfanden die Vererbungstheorie des IQ. Sie verdinglichten Binets Punktezahlen und fassten sie als Maß einer Wesensheit namens Intelligenz auf. Sie unterstellten, dass Intelligenz zum Großteil ererbt sei und entwickelten eine Reihe passender Argumentationen, bei denen kulturspezifische Unterschiede mit angeborenen Eigenschaften verwechselt wurden. Sie glaubten, ererbte IQ-Werte legten unausweichlich fest, welche Stellung Menschen und Gruppen im Leben bestimmt sei. Und sie setzten voraus, daß Durchschnittsunterschiede zwischen Gruppen trotz der handgreiflichen und krassen Unterschiede der Lebensqualität hauptsächlich das Produkt der Vererbung seien“ (Gould 1988: 170).
Die von Binet noch postulierte Lernbarkeit von Intelligenz und damit auch ihrer Abhängigkeit von Lern- und Aneignungsbedingungen, mithin auch von sozialer Herkunft wurde zunehmend bestritten. Die Messverfahren wurden weiterentwickelt, ihre Ergebnisse jedoch kaum noch als Grundlage für Maßnahmen individueller Förderung eingesetzt, sondern in
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zunehmendem Maße für die Klassifizierung von Menschen vor allem zur Diagnostik von Intelligenzminderungen. Das heute am weitesten verbreitete Messverfahren, der HamburgWechsler-Intelligenztest, unterstellt wie die meisten Tests einen durchschnittlichen IQ der Bevölkerung von 100 und eine gleichmäßige Verteilung der Intelligenz der gesamten Bevölkerung um diesen Wert, der in regelmäßigen Abständen immer wieder neu geeicht wird. Dabei gelten IQ-Werte zwischen 130 und 70 als normal, Werte darüber als Hochbegabung, solche darunter als Intelligenzminderungen. Mit der Klassifizierung war implizit, im Zuge der Verbreitung eugenischen Denkens zunehmend auch explizit eine soziale Wertung verbunden: je intelligenter, desto hochwertiger, je weniger intelligent, desto minderwertiger. Dabei existieren bis heute zwar die verschiedensten Intelligenzdefinitionen, aber noch kein allgemein anerkannter Intelligenzbegriff, der über die eher ironische Aussage des amerikanischen Psychologen Edwin Boring (1886-1968) hinausgeht: Intelligenz ist das, was der Test testet (Boring 1923: 35).
Allen Kritiken am Begriff der Intelligenz und den Verfahren, sie zu messen, zum Trotz führt die ICD-10 zur Diagnostik der Intelligenzminderungen aus: „Der Schweregrad einer Intelligenzminderung wird übereinstimmungsgemäß anhand standardisierter Intelligenztests festgestellt. Diese können durch Skalen zur Einschätzung der sozialen Anpassung in der jeweiligen Umgebung erweitert werden. Diese Messmethoden erlauben eine ziemlich genaue Beurteilung der Intelligenzminderung. Die Diagnose hängt aber auch von der Beurteilung der allgemeinen intellektuellen Funktionsfähigkeit durch einen erfahrenen Diagnostiker ab. Intellektuelle Fähigkeiten und soziale Anpassung können sich verändern. Sie können sich, wenn auch nur in geringem Maße, durch Übung und Rehabilitation verbessern. Die Diagnose sollte sich immer auf das gegenwärtige Funktionsniveau beziehen“ (Kapitel V, Einführung).
Die Klassifikation der Intelligenzminderungen nach ICD-10, die von Tölle & Windgassen (2009: 319) unkommentiert so übernommen wird, erfolgt in der folgenden Weise: F70
Leichte Intelligenzminderung IQ-Bereich von 50-69 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 9 bis unter 12 Jahren). Lernschwierigkeiten in der Schule. Viele Erwachsene können arbeiten, gute soziale Beziehungen unterhalten und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten. Inkl. 1.) 2.)
F71
Debilität Leichte geistige Behinderung
Mittelgradige Intelligenzminderung IQ-Bereich von 35-49 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 6 bis unter 9 Jahren). Deutliche Entwicklungsverzögerung in der Kindheit. Die meisten können aber ein gewisses Maß an Unabhängigkeit erreichen und eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit und Ausbildung erwerben. Erwachsene brauchen in unterschiedlichem Ausmaß Unterstützung im täglichen Leben und bei der Arbeit. Inkl.:
Mittelgradige geistige Behinderung
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F72
Schwere Intelligenzminderung IQ-Bereich von 20-34 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 3 bis unter 6 Jahren). Andauernde Unterstützung ist notwendig. Inkl.:
F73
Schwere geistige Behinderung
Schwerste Intelligenzminderung IQ unter 20 (bei Erwachsenen Intelligenzalter unter 3 Jahren). Die eigene Versorgung, Kontinenz, Kommunikation und Beweglichkeit sind hochgradig beeinträchtigt. Inkl.:
F74
Schwerste geistige Behinderung
Dissoziierte Intelligenz Es besteht eine deutliche Diskrepanz (mindestens 15 IQ-Punkte) z. B. zwischen Sprach-IQ und Handlungs-IQ.
F78
Andere Intelligenzminderung Diese Kategorie soll nur verwendet werden, wenn die Beurteilung der Intelligenzminderung mit Hilfe der üblichen Verfahren wegen begleitender sensorischer oder körperlicher Beeinträchtigungen besonders schwierig oder unmöglich ist, wie bei Blinden, Taubstummen, schwer verhaltensgestörten oder körperlich behinderten Personen.
Mit der an anderer Stelle noch zu vertiefenden Emanzipation der traditionellen Heilpädagogik von ihrer bis dahin vorherrschenden medizinischen Fundierung zu einer pädagogisch begründeten Sonder- oder Behindertenpädagogik kam es auch zu einer pädagogischen Neubestimmung des Verständnisses von Intelligenzminderungen, für die sich die Bezeichnung „geistige Behinderung“ durchsetzte, die allerdings insofern umstritten blieb, als „das Wort ‚Geist’ derartig vieldeutig ist, daß es kaum zur Klärung eines Sachverhaltes dienen kann“ (Hagemeister 1989: 55). Der als Alternative vorgeschlagene Begriff der praktisch Bildbaren konnte sich jedoch nur regional, z. B. in Hessen, durchsetzen. Auch die Heil- und Sonderpädagogik orientiert sich bei der Feststellung von geistiger Behinderung an dem Intelligenzquotienten, und das Verfahren der Diagnostik mittels standardisierter Intelligenztests fand Eingang auch in die sonderpädagogische Diagnostik. Heinz Bach, erster Professor für die sich Anfang der 1960er Jahre als akademische Disziplin etablierende Geistigbehindertenpädagogik, definierte: „Geistige Behinderung liegt vor, wenn geringe Intelligenz (IQ < 60 + 5) im Verhältnis zur lebensaltersgemäßen Durchschnittserwartung im Sinne eines dauernden Vorherrschens des anschauend-vollziehenden Lernens trotz optimaler Erziehungsbemühungen unter Berücksichtigung eventuell vorhandener sensorieller oder motorischer Beeinträchtigungen des Lernens festzustellen ist“ und „der bei optimalen Erziehungsbemühungen zu erwartende Gesamterfolg (…) in mancher Hinsicht einem Intelligenzalter ähnlich (ist), das unterhalb der Sechsjährigkeit liegt, so daß auf Dauer Hilfs-, Schutz- und Unterstützungsbedürftigkeit besteht“ (Bach 1974: 19).
Wir sehen auch hier eine große Übereinstimmung mit Kraepelins Definition der Idiotie. Im Gegensatz allerdings zur zeitgenössischen Psychiatrie, für die „Kinder mit einem IQ unter
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30 (…) unter schulischen Gesichtspunkten als ‚nicht mehr bildungsfähig’ (gelten)“ (Martin 1987: 103)242, vermied Bach eine solche Grenzziehung. „Eine sogenannte ‚untere Grenze’ der geistigen Behinderung wird ausdrücklich nicht statuiert, um die Bildung einer Restgruppe zu vermeiden, die als Sammlung ‚bloßer Pflegefälle’ nur zu leicht abgeschrieben wird. Aus diesem Grunde ist auch eine Definition des Begriffs Bildungsfähigkeit problematisch, sofern sie bestimmte Kriterien aufstellt und damit zwangsläufig wiederum bestimmte Personen als bildungsunfähig klassifiziert.“ Vielmehr „sollte von der Bildungsfähigkeit jedes Menschen ausgegangen werden“ (Bach 1974: 21).
Wie schwer der neu begründeten Sonderpädagogik ihre Emanzipation von der medizinischen Dominanz fiel, zeigt auch die Definition des Deutschen Bildungsrats (1974: 37): „Als geistigbehindert gilt, wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt ist, daß er voraussichtlich lebenslanger, sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und motorischen Entwicklung einher.“
Durch die Aufnahme anderweitiger Schädigungen wäre der Hinweis auf die vermeintlichen Ursachen der geistigen Behinderung inhaltlich eigentlich entbehrlich gewesen. Geistige Behinderung wird nach dieser Definition nämlich nur auf der Ebene beobachtbaren Verhaltens erkennbar, nicht ätiologisch. Wenn als Ursache eine „organisch-genetisch oder anderweitig bedingte Schädigung“ dennoch aufgenommen wird, so zeigt dies eine noch starke Verhaftung an den überkommenen medizinischen Grundannahmen, von denen man sich eigentlich emanzipieren wollte. Trotzdem waren zumindest Teile der Medizin, wie zu Anfang dieses Kapitels gezeigt, noch bis in die 1980er Jahre nicht bereit, ihre fachliche Zuständigkeit für die geistig Behinderten an die Pädagogik abzutreten, obwohl z. B. die im gleichen Jahr veröffentlichte Psychiatrie-Enquete zu der Auffassung gelangt war: „Geistig Behinderte bedürfen in erster Linie einer heilpädagogisch-soziotherapeutischen Betreuung, die ihnen in der Regel in hierfür geeigneten Einrichtungen außerhalb des Krankenhauses angeboten werden sollte. Der Psychiater, dem keine heilpädagogische Ausbildung zuteil geworden ist, soll im Betreuungsbereich für erwachsene geistig Behinderte lediglich konsiliarische Aufgaben wahrnehmen“ (Bundestagsdrucksache 7/4200: 206).
5.3 Moralische Oligophrenie: „Der geborene Verbrecher“ Auch Kriminalität wurde bis vor wenigen Jahrzehnten für den Ausdruck einer psychischen Krankheit und wie die meisten dieser vermeintlichen Krankheiten für angeboren und ererbt gehalten. „Bei einem nicht unerheblichen Bruchteile der unverbesserlichen Verbrecher, Landstreicher und Dirnen haben wir es zwar nicht mit ausgeprägtem Irresein, wohl aber mit krankhaften Mängeln 242 Tölle & Windgassen (2009: 321) sind sogar bis heute der Meinung: „Bei schweren Graden der Oligophrenie ist eine Dauerhospitalisierung mit ärztlicher Versorgung notwendig.“
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und Eigentümlichkeiten der psychischen Veranlagung zu tun, die von vornherein die Lebensschicksale in die bestimmte Bahn drängen. (…) Hier kann man, wenn man will, von ‚geborenen Verbrechern’ reden“ (Kraepelin 1920: 172).
Kraepelin (1915: 2076 ff.) ordnete sie der Gruppe der Gesellschaftsfeinde (Antisozialen) zu. An anderer Stelle bekräftigt er: „Daß es ‚geborene Verbrecher’ gibt, die lediglich durch die Art ihrer Veranlagung zu gesellschaftsfeindlichem Handeln getrieben werden, unterliegt (…) keinem Zweifel“ (a. a. O.: 2107). Schwierig ist es jedoch, die Verbrecher zu klassifizieren. „Am allerwenigsten geht es an, wie vielfach versucht wurde, sie nach Art der begangenen Straftaten als Diebe, Fälscher, Mörder usw. zu gruppieren, (…) da derselbe Täter bald diese, bald jene gesellschaftsfeindlichen Handlungen begehen kann.“ Kraepelin macht „eine kleine Gruppe von menschlichen Ungeheuern aus, die von jeher die Aufmerksamkeit der Richter, Ärzte und Gefängnisbeamten auf sich gezogen hat“ (ebd.). „Hierher gehören jene entsetzlichen Kinder, die schon im zartesten Alter ihre Angehörigen zu ermorden trachten, um ihre Kleider zu besitzen. (…) Später werden sie Einbrecher, Brandstifter, Raubmörder, Lustmörder, begehen die furchtbarsten Taten aus geringfügigen Beweggründen, empfinden keine Reue, prahlen vielmehr noch mit ihrer Gefühllosigkeit. (…) Dieser, glücklicherweise kleinen Gruppe (…) steht die große Masse gegenüber, die einen so ‚wilden Trieb zum Verbrechen’ nicht aufweist, sondern mehr durch das Fehlen der sittlichen Verankerung des Willens zu rücksichtslos selbstsüchtigem, gesellschaftsfeindlichem Handeln gelangt. Ob diese Scheidung in ‚aktive’ und ‚passive’ Verbrechernaturen243 mehr bedeutet als eine Schattierung in der Reihe der psychopathischen Erscheinungsformen, steht dahin. Jene ersteren dürften den Triebmenschen, diese letzteren den Haltlosen näher verwandt sein“ (a. a. O.: 2108). Neben den geborenen Verbrechern gibt es übrigens auch die „geborenen Prostituierten. Die Mädchen drängen sich schon als Kinder an Knaben heran, betasten sie, machen mit ihnen Koitusversuche. (…) Nicht selten werden auch geschlechtliche Verirrungen gesehen. Ein Kranker exhibierte; ein 12jähriger Junge verging sich an seiner 11jährigen Schwester. Andere zeigen gleichgeschlechtliche Neigungen; ein Kranker war berufsmäßiger Prostituierter, ohne homosexuell zu sein“ (a. a. O.: 2085).
All diese Menschen waren für Kraepelin schwer krank – in einem streng naturwissenschaftlich-medizinischen Sinne, so wie Kraepelin dies versteht. Bleuler, der der Thematik von der angeborenen Kriminalität 1896 eine eigene Monographie gewidmet hat (Bleuler 1896), hat „gegen Kraepelins Ausdrücke ‚Gesellschaftsfeinde’ und ‚Antisoziale’ (…) einzuwenden, daß sie sich nicht auf den engen Begriff des moralischen Gefühlsdefekts beschränken lassen“ (1916: 425, Fn. 2), folglich zu unpräzise sind. „Ich ziehe deshalb die Ausdrücke moralische Idioten und Imbezille vor“ (ebd.). „Es gibt aber eine Klasse, die durch Verkümmern (moralisch Imbezille) oder geradezu Fehlen der Gefühlsbetonung (moralische Idioten) bei allen Vorstellungen, die das Wohl und Wehe anderer betreffen, in toto zum Verbrechen prädestiniert ist (‚geborene Verbrecher’)“ (a. a. O.: 425).
Zu ihnen rechnete Bleuler ausdrücklich auch „Vorkämpfer der Freiheit und Gerechtigkeit gegenüber einer heuchlerischen und gewalttätigen Ordnung“ (ebd.). Eines ist ihnen allen gemeinsam:
243 Dieser Begriff muss wörtlich verstanden werden. Kriminalität liegt für Kraepelin in der Natur der Kriminellen.
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„Fast allen den verschiedenen Arten verbrecherischer Naturen244 ist eine Scheu vor geordneter Arbeit oder wenigstens ein Mangel an andauernder Arbeitsfähigkeit gemeinsam“ (ebd.).
Ab der 2. Auflage befasste sich Bleuler etwas ausführlicher mit den Gesellschaftsfeinden und Verbrechern. Er differenziert: „Die Zufalls-, Affekt- und Gelegenheitsverbrecher sind eigentlich gar nicht schlechte Leute; sie entgleisen nur unter dem Einfluß einer Situation. (…) Die eigentlichen Verbrecher in zunehmendem Grade der Gefährlichkeit begehen einzelne Verbrechen mit kalter Überlegung (Vorbedachtsverbrecher); der Rückfallsverbrecher läßt sich mehrfach zu solchen Handlungen hinreißen, kann aber zwischendurch wieder mit relativ gutem Willen arbeiten und sich überhaupt rechtlich benehmen. Gar nicht paßt sich an das Leben des rechtlichen Menschen an der Gewohnheitsverbrecher. (…) Die Berufsverbrecher haben positive Triebe zum Verbrechen selbst, das sie ausüben, wie der Geiger seine Kunst; sie leben nur vom Verbrechen. (…) Der ethische Defekt ist aber nicht das einzige, und nicht einmal so oft das Wesentliche an ihrer Aberration, sie sind in vielen anderen Richtungen ebenso abnorm: haltlos, schlaff, labil, jähzornig, verschroben, unklar, debil usw.“ (Bleuler 1918: 445). Hinsichtlich der Ursachen war sich Bleuler sicher: „Der moralische Defekt ist in der Regel angeboren und auch angeerbt,245 wenn auch durch Hirnverletzungen nicht nur die Reizbarkeit, sondern auch gefühlsmäßiger Mangel an Rücksicht und sogar Freude am Schikanieren entstehen kann. (…) Ein großer Teil der Assozialen (sic!) zeigt schon in der Jugend, wes Geistes Kind er ist. Die meisten bleiben in der Schule zurück, auch wenn die Intelligenz gut ist, weil sie zu wenig aufpassen und zu wenig Fleiß oder Aufmerksamkeit haben. (…) Viele sind faul, diebisch, lügenhaft, grausam gegen Tiere und Menschen, anspruchsvoll, absichtlich und aus Nachlässigkeit oft eigenes und fremdes Eigentum schädigend, eitel, unzuverlässig, egoistisch. (…)“ Sie „suchen instinktiv schlechte Gesellschaft. Verfrühter Sexualtrieb normaler oder perverser Richtung ist fast die Regel“ (a. a. O.: 446). Weiter hieß es: „Körperlich sind viele dieser Kinder irgendwie mißgestaltet; sie haben viele ‚Degenerationszeichen’“ (a. a. O.: 447).
Diese Ausführungen fanden unverändert Eingang in alle folgenden von Eugen Bleuler verfassten Auflagen. Auch Manfred Bleuler übernahm sie unverändert bis zur 8. Auflage (1949: 401 ff.). In der 9. Auflage äußerte er erstmals „Zweifel an der absoluten Schlüssigkeit dieser Beobachtung im Sinne einer vererbten Charaktervariante“ (Bleuler 1955: 476) und zog in Erwägung, „daß die familiäre Häufung möglicherweise auch durch schlechte Erziehung, schlechtes Vorbild, schlechte Umweltverhältnisse und nicht ausschließlich durch Vererbung erklärbar ist“ (ebd.).
Mit dieser Modifikation wurden die Ausführungen bis zur 13. Auflage (1975: 569 ff.) übernommen. In der 14. und 15. Auflage wurde der Krankheitscharakter der moralischen Oligophrenie noch mehr als zuvor infrage gestellt.
244 Wie bei Kraepelin ist auch hier der Begriff der Natur wohl in einem engen Sinne gemeint. 245 Noch deutlicher stellt Bleuler (1936: 183) an anderer Stelle klar: „Die ethischen Anlagen sind wie alle Triebe Erbgut, dessen Art und Grad von der Beschaffenheit der Eltern abhängt so gut wie im Körperlichen zum Beispiel die Haarfarbe. (…) Die ethischen Anlagen können auch ganz ausgefallen sein (‚moralische Idiotie’) (wie die Haarfarbe bei den Kakerlaken, die von Jugend an nur weiße Haare haben).“
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„Dissoziale sind nicht, wie man früher annahm, eine einheitliche Gruppe von Menschen mit einheitlichen Besonderheiten. Viele von ihnen sind gesunde Menschen, die nur durch besondere Umstände zu antisozialem Tun gedrängt werden“ (Bleuler 1979: 566).
In dem gegenüber den vorherigen Ausgaben deutlich gekürzten Abschnitt wird nun auch darauf verzichtet, Kriminalität zu klassifizieren und zwischen verschiedenen Verbrechertypen zu differenzieren, auch ist nicht mehr die Rede von den „verbrecherischen Naturen“. Doch auch in jüngerer Zeit halten manche Anthropologen unbeirrt an biologischen Ursachen der Kriminalität und anderer sozialer Probleme fest. Einer von ihnen ist Rainer Knußmann, den wir schon im Zusammenhang mit den Rassenlehren kennengelernt haben: „Von ethnischen Minderheiten scharf zu trennen sind sozial auffällige Einzelpersonen, die sich in der Regel ethnisch-rassisch nicht von der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden, aber im Verhalten nicht unauffällig einfügen. Es handelt sich um Obdachlose, Trinker, Drogenabhängige und nicht in die Gesellschaft integrierte Psychopathen (Sonderlinge) – jeder mit seinem persönlichen Schicksal bzw. seinen persönlichen Schwierigkeiten. Weiterhin sind als sozial auffällige die Kriminellen zu nennen, einschließlich terroristischer Vereinigungen. Die sozialanthropologische Beschäftigung mit sozial Auffälligen begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Lombrosos anthropologischer Untersuchung der Verbrecher. Viele der von ihm genannten morphologischen Charakteristika des Verbrechers (z. B. Atavismen, abstehende Ohren, große Augenhöhlen) konnten nicht bestätigt werden; einige scheinen dagegen zuzutreffen (z. B. überdurchschnittlich häufig niedrige fliehende Stirn). Allgemein kann gesagt werden, daß Schwerkriminelle zu somatischer und psychischer ‚Minderausstattung’ neigen. So finden sich unterdurchschnittliche Körpermaße und Intelligenz (…), dünner Bartwuchs (möglicherweise als Zeichen mangelnder ontogenetischer Reifung) und eine Häufung von Anomalien und Extremvarianten (starke Asymmetrien, extrem über- oder unterdurchschnittliche Schädelkapazität; geistige Behinderung, Psychopathie)“ (Knußmann 1996: 454 f.).
Nach Knußmann hätten Zwillingsstudien den Nachweis erbracht, dass Kriminalität erblich sei. Unter 314 Paaren eineiiger Zwillinge, von denen mindestens einer kriminell geworden sei, sei in 163 Fällen, das sind 61 %, der andere auch kriminell geworden. Bei 344 zweieiigen Zwillingspaaren waren es hingegen nur 96, das entspricht 28 %. „Dies spricht dafür, daß das Erbgut am Zustandekommen der Variabilität solcher psychischer Strukturen, die einen Menschen zur Kriminalität befähigen bzw. ihn in dieser Hinsicht gefährden, beteiligt ist“ (a. a. O.: 126). „Besonders hoch ist die Konkordanz der EZ246 bei Schwer- und Rückfallverbrechern sowie dann, wenn sich die Neigung zur Kriminalität früh im Leben äußert. (…) Sippenuntersuchungen weisen ebenfalls auf einen erheblichen Unterschied zwischen Schwer- bzw. Rückfallverbrechern und Leichtkriminellen hin“ (a. a. O.: 126 f.).
5.4 Poriomanie oder der „Wandertrieb“ Noch bis vor etwa 30 Jahren prägte die Theorie vom sogenannten Wandertrieb, einer vermeintlichen psychopathologischen Persönlichkeitsstörung, die als ursächlich für die Lebensweise von Menschen, die insbesondere in Industrieländern ohne festen Wohnsitz lebten, angenommen wurde, nahezu einhellig das Verständnis derer, die sich als Fachleute im 246 Eineiigen Zwillinge.
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Umgang mit diesem Phänomen in Theorie und Praxis wähnten. Zwar zeigen die Ergebnisse neuerer Forschungen, dass es sich bei der Wohnungslosigkeit und den damit in Erscheinung tretenden Verhaltensweisen dieser Menschen nicht um eine Persönlichkeitsstörung handelt, sondern um eine ganz spezifische Erscheinungsform von Armut in Gesellschaften vom Typ der Bundesrepublik (vgl. Rohrmann 1987). Dennoch finden sich bis heute Ausführungen über den Wandertrieb innerhalb des einschlägigen medizinischen Schrifttums. Die Theorie vom Wandertrieb tauchte in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstmalig auf, gut dreißig Jahre nach der Entstehung der organisierten Wandererfürsorge. 1896 berichtete die „Arbeiter-Kolonie“ (9/1896: 334), die damalige Fachzeitschrift der deutschen Wandererfürsorge, erstmals von einer neuen Krankheit, die „Impulsive Vagabondage“ genannt wird. „A. Pittres, Professor an der medizinischen Fakultät in Bordeaux, hat dieser Art von Wandern besonderes Augenmerk gewidmet und ist zu der Erkenntnis gelangt, daß man es hier mit einer merkwürdigen Krankheit zu tun hat, welche er ‚Impulsive Vagabondage’ nennt.“ Wer an dieser Krankheit leide, entferne sich „ohne irgend welchen Grund (…) für ganze Monate von seinem Wohnsitze, und wenn er in irgend einer Stadt wieder einmal wie aus einem schweren Traume erwachend von der Sehnsucht nach seinem Geburtsort befallen wurde und den Weg nach demselben einzuschlagen begann, da irrte er nach einigen Tagen wieder vom Wege ab, um sein zweckloses Wandern wieder aufzunehmen“ (a. a. O.: 335).
Diese Auffassung gewann in der Folgezeit immer mehr an Bedeutung und prägte in wachsendem Maße den gesellschaftlichen Umgang mit den „Wanderern“. Die Lehre vom Wandertrieb wurde fester Bestandteil psychiatrischer Lehrmeinung und fand auch Eingang in das Werk Kraepelins. Für ihn bildeten „die Landstreicher (…) eine höchst eigenartige Menschengruppe. Sie sind fast ausnahmslos geistig, oft auch körperlich minderwertig und enthalten einen erheblichen Anteil von ausgeprägten Geisteskranken“ (Kraepelin 1920: 171). „Bei der zweiten Gruppe von Kranken steht die Unstetigkeit, die Neigung zum planlosen Wandern im Vordergrund des klinischen Bildes. (…) Gewöhnlich handelt es sich um gutmütige, aber etwas verschlossene und störrische, mäßig begabte Menschen, deren eigenartige Veranlagung durch die von Stier247 betonte Erfahrung dargetan wird, daß es ‚Fortläuferfamilien’ gibt“ (Kraepelin 1915, 2024), also angeboren ist. „Es scheint jedoch, daß die Ausreißer durchaus keine einheitliche Gruppe bilden. Außer den in Dämmerzuständen handelnden Epileptikern und Hysterischen sowie den (…) triebartigen Wanderern sind (…) zunächst die Herumtreiber zu erwähnen, schwer erziehbare, lügenhafte, minderwertige, lebhafte, vorlaute Kinder, die streunen, weil ihnen das Bedürfnis nach Zusammenschluß mit den Angehörigen fehlt“ (a. a. O.: 2025). Auch Bleuler (1916: 117) lehrte: „Unter den Dämmerungen verdienen die Wanderzustände (Poriomanie, Fugues) besonders herausgehoben zu werden: ganz planloses (…) Fortlaufen, bald einfach motorisch, ohne andere Berücksichtigung der Außenwelt, als zum Laufen notwendig ist, bald äußerlich unauffällig (…), bald in einer Art, die zwischen diese beiden Extreme einzureihen ist. Die leichteren Formen sind mehr psychogen und können überall vorkommen, auch bei Hysterischen und bloßen Psychopathen (…). Die schweren Formen gehören meist der Epilepsie an, die mittleren zum großen Teil der Schizophrenie.“
247 Stier 1913.
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Systematisch ordnete er die Betroffenen den psychopathischen Persönlichkeiten und der Untergruppe der Triebmenschen zu (a. a. O.: 424), spätestens ab der 3. Auflage seines Lehrbuches (1920: 403) auch dem „impulsiven Irresein“. Diese Zuordnung wurde bis zur 15. und letzten Auflage beibehalten. Dort heißt es: „Zu den häufigsten Formen des ‚impulsiven Irreseins’ gehört die Poriomanie, die Wandersucht. Sie kennzeichnet sich durch unvermittelt auftretende Wanderzustände (Fugues): ganz planloses (…) Fortlaufen, bald einfach motorisch, ohne andere Berücksichtigung der Außenwelt, als zum Laufen notwendig ist, bald äußerlich unauffällig. (…) Poriomanie kommt fast ausschließlich beim männlichen Geschlecht vor. Wanderzustände können sich immer wiederholen, oder sie können ein einziges Mal im Leben auftreten, letzteres namentlich in der Pubertät. (…) Den Poriomanien ähnliche Zustände gibt es aber auch bei organischen Störungen, am häufigsten und schwersten bei Epilepsien“ (Bleuler 1985: 526).
Rainer Tölle definierte Poriomanie im Kapitel über Epilepsien von der ersten bis zur vorläufig letzten Ausgabe unverändert als ein „dranghaftes Weglaufen aus dem gewohnten Lebensraum, das in epileptischen Verstimmungszuständen vorkommt, aber auch infolge von Konflikten mit der Umgebung, häufiger noch im Zusammenhang mit Pubertätskrisen oder neurotischen Entwicklungen“ (Schulte & Tölle 1971: 293; Tölle & Windgassen 2009: 314).
1976 legten zwei Ärzte der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Wilhelm Schwindt und Gerhard Veith, die Ergebnisse einer Untersuchung vor, mit der sie die organischen Ursachen der „Nichtsesshaftigkeit“ endlich herausfinden wollten. Sie sezierten dazu die Leichen von 82 „Nichtsesshaften“ und untersuchten vor allem deren Gehirne gründlich, um der Frage nachzugehen, „welche Erkrankungen vor der Nichtsesshaftigkeit entstanden, welche Relevanz ihnen für das Scheitern zukommt und welche Erkrankungen im Gefolge des unsteten Lebens auftraten“ (Veith & Schwindt 1976: 14). Das Ergebnis: „Im Einzelfall ist nicht immer zu entscheiden, ob die Anfänge der zum Tode führenden Erkrankung eine Mitursache des sozialen Abstieges waren oder ob das unstete Leben den raschen körperlichen Verfall bedingte“ (a. a. O.: 20).
Mit anderen Worten: Die Untersuchung ist im Hinblick auf die eingangs zitierte Fragestellung ergebnislos geblieben. So verfehlt es auch erscheint, bei den Betroffenen organische Ursachen für ein soziales Problem zu suchen, so wichtig ist jedoch ein anderes Ergebnis der Studie: „Viele Nichtseßhafte unterscheiden sich hinsichtlich ihres körperlichen Aussehens und hinsichtlich charakteristischer innerer Krankheiten von der Durchschnittsbevölkerung“ (a. a. O.: 35). Diese alarmierende Erkenntnis hätte allerdings eher Anlass für eine Untersuchung der ärztlichen Versorgung für diese Menschen geben müssen, statt zu einer Fortsetzung der Suche nach den körperlichen Ursachen von „Nichtsesshaftigkeit“. Dabei dürfen Schwindt und Veith keinesfalls als Außenseiter in der medizinischen Diskussion betrachtet werden. In einem der bedeutendsten Standardwerke der Kinder- und Jugendpsychiatrie wurden noch 1994 fünf krankhafte Formen des Weglaufens von Kindern und Jugendlichen aufgeführt, die von dem nicht-krankhaften krisenbedingt-puberalen abzugrenzen seien (Eggers u. a. 1994). Im Einzelnen wurde dort unterschieden zwischen
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„a.) dranghaft-erethischem Fortlaufen bei cerebralorganisch (postenzephalitisch) gestörten oder schwachsinnigen Jugendlichen und b.) Fuguezuständen (epileptische Äquivalente) aus dem Formenkreis der cerebralen Anfallskrankheiten. Die Kinder dieser Gruppen laufen motiv- und planlos aus einem pathologischen Reiz- und Antriebsüberschuß weg. (…) c.) Das Fortlaufen (auch Schulschwänzen) als Zeichen der Verwahrlosung (…), d.) das Weglaufen als ‚Wegbleiben’ aus Angst vor Strafe (Zeugnis, Klassenarbeit) bei ängstlichen und zwanghaften Kindern und schließlich kann e.) das Fortlaufen auch das erste Wetterleuchten einer beginnenden Psychose sein“ (a. a. O.: 291).
Trotz eingestandener Erfolglosigkeit der Untersuchungen von Schwindt und Veith wurden diese ausdrücklich als Beleg für die Existenz organischer Ursachen der beiden ersten Formen des Weglaufens angeführt: „Ein Kausalzusammenhang zwischen Hirnschädigung und Weglaufsymptomatik ließ sich generell nicht nachweisen, sie ist jedoch für eine große Zahl dieser erwachsenen Symptomträger anzunehmen“ (a. a. O.: 291).
Mit anderen Worten: Wo die Empirie versagt, tritt die Annahme, genauer: der Glaube an die organische Bedingtheit. 5.5 Exkurs: Zwischen Kriminalisierung und Pathologisierung: Deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten Wohnungslosigkeit gilt in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur als pathogene Persönlichkeitsstörung. Lange galt sie darüber hinaus auch als Straftatbestand. Bis April 1974 stellte der § 361 des Strafgesetzbuches (StGB) Betteln und Landstreicherei unter Strafe. Beides sollte mit Haft geahndet werden. Heute stellt Wohnungslosigkeit zwar keinen Straftatbestand mehr dar, zahlreiche Handlungs- und Verhaltensweisen, die zum Leben, z. T. zum bloßen Überleben auf der Straße notwendig sind, sind jedoch bis heute strafbar, zumindest stellen sie Ordnungswidrigkeiten dar. Übrigens war auch in der DDR eine, wie es dort hieß, „asoziale Lebensweise“ ein Straftatbestand, der mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bedroht wurde – vor der Strafrechtsreform im Jahre 1968 durch den aus dem Deutschen Reich überkommenen § 361 StGB und nach dem 1. Juli 1968 durch den § 249 des zwischenzeitlich neu geschaffenen und bis zum Beitritt zur Bundesrepublik gültigen DDR-StGB. In gleicher Weise war auch „Arbeitsscheu“ unter Strafe gestellt, d. h., dem in der DDR geltenden Recht auf Arbeit entsprach eine Pflicht, tatsächlich einer Arbeit nachzugehen. Um kriminellen Gefährdungen im Sinne dieser Rechtsnorm schon im Vorfeld zu begegnen, trat 1975 eine Verordnung über die Aufgaben der örtlichen Räte und der Betriebe bei der Erziehung kriminell gefährdeter Bürger, kurz: GefährdetenVO248 in Kraft. Als kriminell gefährdet im Sinne der genannten Verordnung galten nun keineswegs alle Personen, von denen angenommen wurde, sie würden in absehbarer Zeit – aus welchen Gründen auch immer – mit überdurchschnittli-
248 DDR-Gesetzblatt (GBl) I 1975 Nr. 6 S. 130 in der Fassung der 2. VO vom 6. Juli 1979 (GBl I Nr. 21 S. 195).
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cher Wahrscheinlichkeit gegen irgendeine Bestimmung des DDR-Strafrechts verstoßen, sondern diejenigen, „die a. b. c. d.
ernsthafte Anzeichen von arbeitsscheuem Verhalten erkennen lassen, obwohl sie arbeitsfähig sind, sonstige Anzeichen der Entwicklung einer asozialen Lebensweise erkennen lassen, infolge ständigen Alkoholmißbrauchs fortgesetzt die Arbeitsdisziplin verletzen bzw. das gesellschaftliche Zusammenleben beeinträchtigen, nach Vollendung des 18. Lebensjahres aus der Betreuung der Organe der Jugendhilfe ausscheiden und bei denen wegen ihres sozialen Fehlverhaltens die Weiterführung der Erziehung notwendig ist“ (§ 2 der GefährdetenVO).
Bei der Aufzählung handelte es sich also ausschließlich um Personengruppen, denen ein unangepasstes Sozialverhalten attestiert wurde. Was sich hinter dem Begriff „asoziale Lebensweise“ verbarg, lässt sich unschwer aus den Auflagen schließen, die den kriminell Gefährdeten erteilt werden konnten. Sie wurden z. B. verpflichtet,
„den Umgang mit bestimmten Personen oder Personengruppen zu unterlassen, deren Einfluß sich ungünstig auf die Entwicklung auswirkt, bestimmte Räumlichkeiten oder Orte (Anlagen, Plätze u. ä.) nicht zu besuchen“ (§ 3 Abs. 3 e und f der GefährdetenVO).
Parallelen zu Formulierungen in einschlägigen Satzungen westdeutscher Städte, die das Ziel haben, das „Pennerunwesen“ aus den Innenstädten zu verbannen, sind nicht zu übersehen. Entsprechend kann vermutet werden, dass die augenfällige Erscheinungsform dessen, was in der DDR als „kriminelle Gefährdung“ etikettiert wurde, zumindest Ähnlichkeiten aufwies mit dem Phänomen, das in der BRD bis heute von offizieller Seite als „Nichtsesshaftigkeit“ wahrgenommen und behandelt wird, wenngleich – wie dargestellt – die strukturellen Rahmenbedingungen für beide Phänomene grundverschieden gewesen sind (hierzu ausführlich: Rohrmann 1991, 1992). Weitaus einhelliger als in der Bundesrepublik und durch die Beibehaltung der Einbettung in das Strafgesetzbuch auch folgenschwerer wurde das, was in der DDR mit „asozialer Lebensweise“ begrifflich zu fassen gesucht wurde, nicht als Ausdruck einer psychischen Verelendung der Betroffenen gewertet, die mit ihren Lebensverhältnissen in einem unlösbaren wechselseitigen Zusammenhang steht, sondern als ein individuelles Problem der Betroffenen, ihrer Persönlichkeit. „Asozialität“ galt in der DDR, wie bis in die 1960er Jahre auch in der BRD, entweder – wie gezeigt – als schuldhaftes Verhalten oder aber auch als Ausdruck einer krankhaften Persönlichkeitsstörung. Hierauf verweisen unter anderem kriminologische Veröffentlichungen, die sich z. B. mit dem Problem der diagnostischen „Abgrenzung der sozialen Fehlentwicklung (Dissozialität, Asozialität, Antisozialität) von der schwerwiegend abnormen Entwicklung der Persönlichkeit mit Krankheitswert“ (Krauss 1982: 66) befassten. Als zentrales Problem wurde dabei herausgestellt: „Schwierigkeiten schafft der Untersuchungsgegenstand selbst (die inneren Bedingungen des Beurteilten): Zwischen dem emotional fehleingestellten Delinquenten, der zielgerichtet die Normen nicht einhalten will (nicht wollen will), und dem krankheitswertig in seiner Entscheidungsfähigkeit Geminderten mit psychopathologischer Symptomatik ordnet sich die große Gruppe der emotional Mangelentwickelten, Ziellosen, Lahmen, Unsteten, Asthenischen, die
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manchmal Zweifel aufkommen lassen, ob sie wollen können, und bei denen ebenfalls bisweilen beträchtliche Erlebnisfehlverarbeitungen erkennbar sind. Ihre Zuordnung stellt hohe Anforderungen an die Diagnose und läßt sich zu einem Teil nur auf der Grundlage des ‚noch nicht’ oder ‚doch schon’ finden“ (a. a. O.: 71).
Von der jeweiligen Diagnose hing entscheidend ab, ob die Betroffenen schuld-, bzw. zurechnungsfähig waren, dann erfolgte in der Regel ihre Kriminalisierung, im anderen Fall ihre Pathologisierung. Für diesen Fall sahen die einschlägigen Bestimmungen vor, dass das Gericht neben oder anstelle der Strafe die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt anordnen konnte. Auch bei der im Folgenden zu behandelnden Homosexualität schwankten die gesellschaftlichen Reaktionen lange zwischen Kriminalisierung und Pathologisierung, auch dies in Ost- und Westdeutschland. Seit Gründung des Deutschen Reiches 1871 stellte der § 175 des Strafgesetzbuches (StGB) Homosexualität und auch Sodomie, wörtlich „widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird“, unter Strafe. Anders als in früheren Strafvorschriften, z. B. der Constitutio Criminalis Carolina, der sogenannten peinlichen Halsgerichtsordnung von Karl V. von 1532 oder der Constitutio Criminalis Theresiana von 1768 für Österreich, stellte der § 175 StGB nur männliche Homosexualität unter Strafe. 1935 wurde diese Strafvorschrift verschärft, die Beschränkung „widernatürlich“ gestrichen und die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre heraufgesetzt. Die Beschränkung auf männliche Homosexualität blieb bestehen.249 Homosexuelle Männer wurden seit 1936 reichsweit erfasst und brutal verfolgt. Die Rechtsgrundlage dafür bot die Novelle des § 175 StGB. Auch nach der Befreiung Deutschlands 1945 blieb der § 175 StGB in der Fassung von 1935 bestehen, in der BRD bis 1969, in der DDR bis 1968. Kriminalisiert wurde aber stets nur, auch während der Naziherrschaft, die männliche Homosexualität. 5.6 „Der größte therapeutische Erfolg“: Pathologisierung und Entpathologisierung der Homosexualität Neben die Kriminalisierung trat auch bei der Homosexualität ihre Pathologisierung. Für Kraepelin fiel Homosexualität in den Bereich der geschlechtlichen Verirrungen, welche allerdings für ihn „keine selbständigen Krankheitsformen, sondern Teilerscheinungen einer krankhaft minderwertigen Veranlagung“ (Kraepelin 1915: 1935) war. „Den Ausgangspunkt der Homosexualität bildet, wie bei den übrigen Verirrungen des Geschlechtstriebes, gewöhnlich die Onanie, die in der Jugend oft mit großer Leidenschaft betrieben wird“ (a. a. O.: 1938), dies bei später Homosexuellen schon in relativ frühem Alter.
Bleuler (1916: 421) thematisierte Homosexualität in der 1. Auflage seines Lehrbuches nur beiläufig unter den geschlechtlichen Verirrungen:
249 Den Gründen für diese Beschränkung nachzugehen, würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Hinweise hierzu finden sich u. a. bei Kokula (1981) oder Schoppmann (1993).
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„Die größte Bedeutung unter den geschlechtlichen Verirrungen hat die Homosexualität, von der mehr als ein Prozent der Menschen betroffen sein soll. Sie ist zu allgemein bekannt, als dass sie hier beschrieben werden müsste.“
Ab der 2. Auflage (1918: 435 ff.) widmete er sich dieser Thematik etwas ausführlicher. Die Frage, „ob sie eine Krankheit sei, gehört ins Gebiet der dummen Fragen, namentlich solange man den Begriff der Krankheit nicht abgrenzen kann und nicht weiß, was man alles für Konsequenzen aus ihm ziehen kann.250 Wichtiger ist die Untersuchung, ob es sich um eine angeborene oder eine erworbene und deshalb vermeidbare Störung handelt“ (a. a. O.: 437).
Hier neigte Bleuler dazu, „den wesentlichen Faktor der Homosexualität in der angeborenen Triebrichtung zu suchen“ (a. a. O.: 348 f.), nicht zuletzt deswegen, weil nach bisherigen, aber noch nicht abgesicherten Erkenntnissen davon auszugehen sei, dass überall und relativ konstant etwa 2 % der Bevölkerung davon betroffen sind. Bleuler betonte, an dieser Auffassung auch dann festzuhalten, wenn sie sich empirisch nicht belegen lässt. „Sollte sich aber die Theorie von der biologischen Natur der Anomalie, die sich ja fast nur auf die numerische Konstanz des Vorkommens stützt, nicht bewähren, so wäre das natürlich noch kein Grund, die Ansicht von der angeborenen Natur der Homosexualität zu ändern.“
In der 6. Auflage (1937: 394) heißt es dazu nur noch lapidar: „Man fragt sich immer noch, ob die Homosexualität angeboren oder erworben sei. Ich meine das Erstere.“ Diese Formulierung behielt auch Manfred Bleuler in der erstmalig von ihm umgearbeiteten 7. Auflage (1943) bei. Auch in weiteren Auflagen ging er davon aus, dass Homosexualität konstitutionell bedingt sei. Später wurde er vorsichtiger, in der zuletzt erschienenen 15. Auflage gestand er ein, dass „der Ursprung noch ungeklärt“ (1983: 686) sei. Tölle & Schulte (1971: 130) hielten Homosexualität ebenfalls zumindest teilweise für anlagebedingt. „Ursächlich ist nach den Ergebnissen der Erbforschung, insbesondere der Zwillingsforschung, ein Anlagefaktor wahrscheinlich. Es dürfte sich aber nicht um eine einzige genetische Determinante handeln, denn in diesem Falle wäre die Homosexualität durch Selektion ausgestorben.“
In der 4. Auflage (1977: 139) ist der Anlagefaktor sogar erwiesen, ab der 6. Auflage, die erstmals von Tölle (1982: 132) allein herausgegeben wird, erscheint er hingegen nur noch erwiesen. Es wird jedenfalls deutlich, dass die biologische Prämisse auch hier keineswegs empirisch abgesichert ist, sondern nur vermutet wird. Noch in der 11. Auflage (1996: 138) „(legen) Zwillingsuntersuchungen (…) einen genetischen Faktor nahe“. Ab der 12. Auflage (1999) fand Homosexualität keine Erwähnung mehr. Zwischenzeitlich hat nämlich die ICD 10 die ICD 9 als Diagnoseschlüssel für Krankheiten ersetzt. In der ICD 9 wurden sexuelle Verhaltensabweichungen und Störungen unter der Schlüsselnummer 302 erfasst, Homosexualität hatte die Schlüsselnummer 302.0. Die ICD 10 enthält keinen eigenen Abschnitt mehr für sexuelle Verhaltensabweichungen und Störungen. Einige nach wie vor pathologi250 An anderer Stelle beklagt Bleuler (1921: 243 f., Fn. 2) allerdings, dass „es (…) manche Homosexuelle (gibt), (…) denen (…) nicht einmal naturwissenschaftlich begreiflich zu machen ist, daß das ausschließlich homosexuelle Fühlen eine Aberration, etwas ‚Krankhaftes’ sei“.
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sierte Sexualpräferenzen und sexuelle Normabweichungen werden nun unter den Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60-F69) aufgeführt, was z. T. nach wie vor sehr umstritten ist. Homosexualität wird nicht mehr genannt. Mit diesem Übergang verschwand also Homosexualität aus dem Katalog der psychischen Erkrankungen. Ähnliches erfolgte bereits einige Jahre zuvor in dem vor allem in den USA gebräuchlichen Klassifikationssystem DSM. Auch dort wurde Homosexualität mit der 3. Auflage aus der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen. „Das war der größte therapeutische Erfolg, der jemals erzielt wurde, denn mit einem Federstrich waren Millionen von Menschen von ihrer ‚Krankheit’ geheilt“ (Watzlawick 1995: 61).
Solange Homosexualität als Krankheit galt, musste sie natürlich behandelt werden. In Deutschland galt Homosexualität, vor allem, als sie noch Straftatbestand war, insbesondere als Indikation für hirnorganische Operationen mit dem Ziel, das cerebrale Sexualverhaltenszentrum zu zerstören (vgl. die Ausführungen über Psychochirurgie in diesem Band). 5.7 „Erfundene“ Krankheiten Die Auffassung, dass psychische Krankheiten nicht in der Realität, sondern allein in der Phantasie von Psychiatern existierten, psychiatrische Diagnostik sich mithin „nicht auf irgendeine medizinische Entdeckung, sondern nur auf medizinische Autorität stütze“ (Szasz 1982: 10), wird in dieser Radikalität wohl nur von sehr wenigen Psychiatern geteilt, die „weitverbreitete Unsitte, alles gedankenlos als psychopathologisch anzuschwärzen, was andersgeartet ist und auf den ersten Blick unverständlich erscheint“ (Ackerknecht 1985: 9), wird allerdings selbst von konservativen Medizinern beklagt, Ackerknecht spricht von „psychopathological labeling“ (ebd.).251 Damit sei nicht bestritten, dass eine Reihe von Phänomenen, die in Geschichte und Gegenwart als Krankheiten beschrieben wurden und werden, tatsächlich beobachtbar ist. Zu hinterfragen ist allerdings, ob es sich dabei um Krankheiten handelt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang z. B. auch die unter der Ziffer F45.2 in der ICD 10 verschlüsselte Krankheit „Hypochondrische Störung“. Die Krankheit besteht darin, dass die Betroffenen fest davon überzeugt sind, dass sie krank sind, obwohl sie es nicht sind. Wenn sie nun aber durch entsprechende Diagnosestellung pathologisiert werden, werden sie dadurch krank im Sinne der ICD 10, obwohl sie gesund sind. Das bedeutet: Auch wenn man sich nur einbildet, krank zu sein, ist man krank, allerdings anders, als man denkt. Manche früher pathologisierten menschlichen Verhaltensweisen würde heute niemand mehr als Krankheiten bezeichnen. Beispiele dafür sind die seinerzeit so genannten „Krankheiten“ „Drapetomania“ und „Dysaesthesia Aethiopica“. Beide Krankheiten wurden erstmals von dem amerikanischen Mediziner Samuel Cartwright (1793-1863) beschrieben, einem nicht unbedeutenden Mediziner seiner Zeit. Der veröffentlichte in der Mai-Ausgabe des Jahrgangs 1851 des New-Orleans Medical and Surgical Journal seine vermeintliche 251 Sehr zu seinem Verdruss ist er damit ungewollt zum Kronzeugen für die Psychiatrie-Kritik geworden: „Ich kann leider nicht mehr sehr stolz auf meine Entdeckung sein, da sie inzwischen viel mißbraucht und von den sogenannten Antipsychiatern (zum Beispiel Szasz 1960 und Laing 1965) in einen direkten erfahrungswidrigen Unsinn verwandelt worden ist: nämlich daß es gar keine Geisteskrankheiten gäbe und dieser Begriff nur als Werkzeug ‚gesellschaftlicher Repression’ erfunden worden sei“ (Ackerknecht 1985: 9).
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Entdeckung unter dem Titel „Report on the Diseases and Physical Peculiarities of the Negro Race“ (Cartwright 1851: 691 ff.). Dort beschrieb er zunächst die Drapetomania „als Krankheit, welche Sklaven veranlasst, wegzulaufen“, und erläuterte: „Drapetomania kommt von įȡĮʌȑtK9, einem entlaufenen Sklaven und mania, geisteskrank oder verrückt. Es ist unseren medizinischen Autoritäten unbekannt, obgleich sein diagnostisches Symptom, das Flüchten von der Arbeit, unseren Pflanzern und Aufsehern gut bekannt ist.“
Er listete dann die Symptome der Krankheit auf, welche hier nicht weiter zu vertiefen sind, und erörterte Möglichkeiten und Perspektiven der Heilbarkeit und Prävention (a. a. O.: 707). Sodann beschrieb er ein zweites Krankheitsbild, „Dysaesthesia Aethiopica oder die Abstumpfung des Verstandes und der stumpfen Körpersensibilität – eine Krankheit insbesondere von Negern, welche von den Aufsehern als Schurkerei oder Sauerei bezeichnet wird.“. „Dysaesthesia252 Aethiopica ist eine Krankheit, insbesondere von Negern, die beides beeinflusst, den Verstand und den Körper, und zwar in einer Weise, die in dem Begriff dysaesthesia, also dem Namen, den ich [Samuel Cartwright] ihr gegeben, habe, so gut zum Ausdruck kommt, wie dies durch einen einzigen Begriff nur möglich war“ (a. a. O.: 709). Die Sklaven, die an dieser Krankheit leiden, „sind fähig, viel Schaden anzurichten, der den Eindruck erweckt, als erfolge dies absichtlich, aber in den meisten Fällen handelt es sich um die Folge der Dummheit des Verstandes und Unsensibilität der Nerven, welche durch die Krankheit verursacht werden. So zerbrechen, vergeuden und zerstören sie alles, was sie benutzen, misshandeln Pferde und Vieh, zerlöchern, brennen und zerreißen ihre Kleidung und missachten die Eigentumsrechte, sie stehlen von anderen, um das zu ersetzen, was sie zerstört haben. Sie streifen etwa nachts umher und verbringen den Tag in einem dämmrigen Halbschlaf. Sie schenken ihrer Arbeit keine Beachtung – schneiden Mais, Bambus, Baumwolle oder Tabak ab, wenn Sie es hacken sollen, als sei dies der pure Mutwille. Sie fangen grundlos Streit mit ihren Aufsehern und Mitknechten an und scheinen schmerzunempfindlich zu sein, wenn sie bestraft werden. Die Tatsache der Existenz einer solchen Krankheit, die die Betroffenen in eine Art Automaten verwandelt, oder eine empfindungslose Maschine, mit diesen oder ähnlichen Symptomen, kann klar durch die meisten direkten und positiven Aussagen dargelegt werden. Daß dies der Aufmerksamkeit der medizinischen Profession entgangen sein sollte, lässt sich nur damit erklären, dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht genug auf die Krankheiten der Neger-Rasse gerichtet hat“ (a. a. O.: 710).
Dies müsse sich unbedingt ändern. Beide Krankheiten führt Cartwright auf spezifische biologische Besonderheiten der „negro race“ zurück, denen zufolge es der natürlichen Bestimmung dieser Menschen entspreche, unter strenger Aufsicht hart körperlich zu arbeiten. Erhielten diese Menschen zu viel Freiheit, würde sich die Beschaffenheit ihres Blutes verändern und die Krankheit dadurch zum Ausbruch kommen. Zwang zur Sklavenarbeit sei von daher unter rassenmedizinischen Gesichtspunkten die beste Medizin für diese Menschen. Wie schädlich die Befreiung aus der Sklaverei für die seelische Gesundheit von „Negern“ ist, weiß übrigens auch Emil Kraepelin:
252 Dysaesthesia = Unempfindlichkeit, Unempfindsamkeit.
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„Von den Negern wird berichtet, daß sie früher weit seltener geistig erkrankt seien als die mit ihnen zusammenlebende weiße Bevölkerung; erst seit ihrer Befreiung aus der Sklaverei253 soll die Häufigkeit des Irreseins bei ihnen rasch und stetig zugenommen haben, besonders in den Nordstaaten. Während 1870 nur 367 Geisteskranke auf eine Million Neger gezählt wurden, waren es 1880 schon 912 und 1890 980. White254 gibt an, daß in den Südstaaten das Verhältnis der Geisteskrankheiten zur gesunden Bevölkerung für die Neger 1:1.277, für die Weißen 1:456 betrage, in den höher entwickelten Nordstaaten 1:542 bzw. 1:520“ (Kraepelin 1920: 154).
Es ist unschwer nachzuvollziehen, dass die von Cartwright geschilderten Verhaltensweisen unter den dort herrschenden Bedingungen der Sklaverei in den USA vermutlich nicht selten zu beobachten waren. Auch streng biologisch ausgerichtete Mediziner würden jedoch heute kaum noch die damals sehr ernst gemeinte Auffassung vertreten, dass es sich hierbei um eine rassenspezifische Krankheit handele, sondern vielmehr Ausdruck eines äußerst gesunden Strebens nach Freiheit und Unabhängigkeit255 ist. Dennoch besteht bis heute die unverminderte Tendenz, alle möglichen menschlichen Verhaltensweisen zu pathologisieren und als Ausdruck irgendwelcher psychischer Krankheiten oder Störungen zu erklären. Der Psychiater Klaus Dörner (2004: 23) hat „aus zwei Zeitungen zwei Jahre lang alle Berichte über wissenschaftliche Untersuchungen zur Häufigkeit behandlungsbedürftiger psychischer Störungen gesammelt, etwa Angst, Depression, Essstörung, Schmerzen, Süchte, Schlaflosigkeit oder Traumata. Danach habe ich die für jede Störung ermittelten Prozentzahlen addiert: Ich kam auf 210 Prozent. Jeder Bundesbürger wäre also wegen mehr als zwei psychischen Störungen therapiebedürftig!“
Ein besonders eklatantes Beispiel für die Erfindung einer psychischen Krankheit ist das sogenannte Sisi-Syndrom, das 1998 in einschlägigen Fachbeiträgen beschrieben wurde. Die promovierte Medizinjournalistin Barbara Voll veröffentlichte sogar ein Fachbuch dazu, in dem sie das Sisi-Syndrom definiert als „eine Krankheit, die in das weite Spektrum der depressiven Verstimmungen gehört“ (Voll 1998: 73), wobei das Charakteristische darin besteht, dass die Betroffenen nach außen hin „aktive, energiegeladene Menschen, die ihr Leben in die Hand genommen haben“ (a. a. O.: 57), sind. „Sie spüren, daß die Seele ihre Balance verloren hat, aber sie geben nicht auf“ (a. a. O.: 57 f.). „Da auch die ehemalige Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt Sisi, vergleichbare Empfindungen kannte“ (a. a. O.: 12),
bekam die Krankheit den Namen „Sisi-Syndrom“. Als Ursache wurde eine Störung im Serotoninstoffwechsel angegeben. Hier knüpfte Voll an die Dopamin- oder Neurotransmittertheorie an, die damals sehr in Mode geraten war und eine Zeit lang zur Erklärung fast aller psychischer Erkrankungen herhalten musste.256
253 Die Skaverei wurde in den USA 1865 abgeschafft. 254 White 1903: 257 ff. 255 Übrigens fand sich der Eintrag „Drapetomanie“ mit der Erklärung „krankhafter Wandertrieb“, also synonym zu „Poriomanie“, noch in der 1944 erschienenen 61.-84. Auflage des heute deutschsprachigen medizinischen Wörterbuches von Willibald Pschyrembel (157). 256 Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen in dem Abschnitt über Schizophrenie in diesem Band.
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„Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand werden Stimmungslage, Ängste, Zwang, Impulsivität, Sexualität, Appetit und Schlaf von seritoninhaltigen Nervenzellen gesteuert. Eine fehlende Balance in diesem System kann also in den genannten Bereichen Störungen hervorrufen, die depressive Verstimmungen, Ängste, Zwänge und häufig auch Essstörungen nach sich ziehen. Dies ist, wenn auch stark vereinfacht, die geltende Theorie für das organische Geschehen beim SisiSyndrom und bei anderen depressiven Verstimmungen“ (a. a. O.: 78).
Das alles sei jedoch kein Grund zu verzagen, denn „die Störung ist zu beheben“ (a. a. O.: 79), und zwar mit Medikamenten, sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, abgekürzt SSRI (a. a. O.: 80: 110), wie z. B. Paroxetin. Dieses sei „angstlösend, antriebsneutral, auch zur Behandlung von Angst- und Zwangsstörungen zugelassen“ (a. a. O.: 112), hat allerdings auch Nebenwirkungen, wie „Übelkeit, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Durchfall, Unruhe (…), Kopfschmerzen, Schwitzen“ (ebd.). Genau ein solches Medikament bringt unter dem Handelsnamen Seroxat® die Firma GlaxoSmithKline auf den Markt, die 1998 die PR-Firma Wedopress aus Oberursel im Taunus damit beauftragt hat, durch ein „‚Trommelfeuer’ in den Medien das Sisi-Syndrom als neue Depression zu etablieren“ (so war es einige Zeit wörtlich auf der Homepage der Firma Wedopress zu lesen). Zu diesem Trommelfeuer gehörten neben der Inauftraggabe der zitierten Monografie zwei Fachbeiträge unter Beteiligung von Hans-Ulrich Wittchen (1999, 2000), Professor für klinische Psychologie, damals in Mannheim, heute in Dresden und Arbeitsgruppenleiter am MaxPlanck-Institut für Psychiatrie, Klinische Psychologie und Epidemiologie in München, sowie eine Reihe von Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen, Anzeigen und Internetseiten, die über das Sisi-Syndrom informierten und dazu rieten, es mit Paroxetin zu behandeln. Diese Kampagne machte seinerzeit den Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum in Münster und seine Mitarbeiter misstrauisch. Sie gingen der Sache auf den Grund und kamen dem Schwindel auf die Spur: „Bei Betrachtung der vorliegenden Literatur kann das Vorhandensein eines eigenständigen ‚Sisi-Syndroms’ als besondere Ausprägungsform der Depression und die postulierten Behandlungsstrategien, zumindest bisher, als wissenschaftlich nicht begründet angesehen werden“ (Burgmer u. a. 2003: 443). Ihre Einschätzung: „Die Etablierung des ‚Sisi-Syndroms’ im deutschsprachigen Raum scheint ein Beispiel für eine Strategie der pharmazeutischen Industrie zu sein, über die Erweiterung des Krankheitsspektrums oder die Schaffung neuer Krankheiten neue Märkte zu öffnen“ (ebd.).
Das Sisi-Syndrom ist ein Beispiel von vielen. Blech (2003) zeigte anhand zahlreicher anderer Beispiele, auf die hier nicht weiter eingegangen wird, sogar eine zunehmende Tendenz auf, Krankheiten regelrecht zu erfinden, um auf diese Weise Absatzmärkte für an sich völlig überflüssige Medikamente zu erschließen. 5.8 Exkurs: Zur Pathologisierung der Dämonologisierung Nach dem Paradigmenwechsel wurden die Grundannahmen und Praxen des alten den Vertretern des neuen Paradigmas immer unbegreiflicher. Das über mehrere Jahrhunderte vorherrschende dämonologische Verständnis vermeintlichen Anders-Seins wurde nunmehr seinerseits derart unverständlich, dass es jetzt im Lichte des neuen Paradigmas als abartig erklärt und mit den neuen rationalistisch-mechanistischen Bezeichnungen für Anders-Sein
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überzogen wurde. Die dämonologisch orientierten Wissenschaftler, die Hexenjäger, ja im Grunde alle Menschen der gesamten frühneuzeitlichen Gesellschaft, in deren Weltbild die Existenz von Hexen und Dämonen als selbstverständliche Tatsache fest verankert war, wurden kurzerhand zu Wahnsinnigen erklärt, die von einem Hexenwahn befallen waren, so als sei, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die gesamte europäische Gesellschaft im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wahnsinnig gewesen. Mehr noch: Auch die Grundlagen des alten Paradigmas wurden nun einer gestrengen Prüfung unterzogen, namhafte Vertreter und Wegbereiter des alten kritisch den Klassifikationen des neuen Paradigmas unterworfen, mit durchaus erstaunlichen Ergebnissen. Auch der Religionsstifter des Christentums, Jesus von Nazareth, entkam nicht dem diagnostischen Spürsinn der neuen Seelenexperten, die die Inquisitoren abgelöst hatten und sich nun nicht mehr auf theologische Autoritäten, sondern auf Erkenntnisse und Einsichten stützten, die sie für wissenschaftlich abgesichert hielten. Einer von ihnen war der Psychiater Georg Lomer (1877-1957), der 1905 unter dem Pseudonym Dr. de Loosten eine Pathographie über Jesus vorgelegt hat. Für ihn war es erwiesene Tatsache, dass Jesus der Sohn einer jüdischen Frau gewesen sei, die sich mit einem römischen Legionär eingelassen habe (Loosten 1905: 19 f.). Getragen von der bereits dokumentierten biologistisch-rassistischen Ausrichtung der Psychiatrie um die Wende zum 20. Jahrhundert schlussfolgerte er daraus: „Jesus ist wahrscheinlich ein von Geburt her erblich belasteter Mischling gewesen, der als geborener Entarteter bereits in seiner Jugend auffiel durch ein übermäßig stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein, verbunden mit einem gering entwickelten Familien- und Geschlechtssinn“ (a. a. O.: 90).
Lomer war kein Einzelfall. Zu seiner Zeit entstand eine Reihe wissenschaftlicher Abhandlungen, die ebenfalls versuchten, den Nachweis zu führen, dass Jesus verrückt gewesen sei (hierzu näher Lange-Eichbaum & Kurth 1967: 403 ff.; 1989: 78 ff.). Sie argumentierten im Wesentlichen alle damit, dass jemand, der gegenüber seinen Zeitgenossen behauptet, er sei der Sohn Gottes –zentrales Credo der christlichen Religionen –, einfach verrückt sein müsse. Dabei ist allerdings kaum zu bestreiten, dass jemand, der solches heute im Beisein eines Psychiaters behauptete, gute Chancen auf eine entsprechende Diagnose hätte, wobei hier dahingestellt bleiben kann, ob der historische Jesus, von dem wir leider sehr wenig wissen, dies überhaupt jemals, dazu in einem auch biologisch gemeinten Sinne, behauptet hat. Erwähnt sei an dieser Stelle, dass gegen diese Studien kein geringerer als der Theologe und Mediziner Albert Schweitzer in seiner medizinischen Dissertation eine Art Gegengutachten erstellt hat. Sein Fazit: „Die einzigen psychiatrisch eventuell zu diskutierenden und als historisch anzunehmenden Merkmale – die hohe Selbsteinschätzung Jesu und etwa noch die Halluzinationen bei der Taufe – reichen bei weitem nicht hin, um das Vorhandensein einer Geisteskrankheit nachzuweisen“ (Schweitzer 1933: 44).
Wer von der Gottessohnschaft Jesu überzeugt ist, wird kaum etwas daran finden, wenn dieser sie behauptet hat, denjenigen, die nicht daran glauben, wird eine solche Behauptung hingegen wohl eher verrückt vorkommen.
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5.9 Verrückt oder normal? Maßstab dafür, ob etwas normal ist oder nicht, ist die jeweils herrschende gesellschaftliche Norm und die daraus abgeleitete Normalität. Das klingt tautologisch, ist aber höchst folgenschwer im Hinblick auf die Frage, wie normal eigentlich die gesellschaftliche Normalität ist. Denn hier versagt die zeitgenössische gesellschaftliche Norm als Maßstab. Für Marx (1890: 384) z. B. ist „eine gewisse geistige und körperliche Verkrüppelung (…) unzertrennlich (…) von der Teilung der Arbeit“ verursacht, welche „das Material und den Anstoß zur industriellen Pathologie“ (ebd.) liefert, die aber seinerzeit Normalität war. 5.9.1 Der Störfall als Normalfall Zwar kann die gesellschaftliche Normalität anderer kulturhistorischer Kontexte, z. B. die Zeit der Hexenverfolgung, am Maßstab der heutigen Normalität beurteilt und, wie gezeigt, etwa als Hexenwahn charakterisiert werden, doch ist es auf diese Weise kaum möglich, herauszufinden, ob dieser Maßstab, unsere eigene gesellschaftliche und individuelle Normalität, eigentlich normal ist. Zu Recht stellte in diesem Zusammenhang der auf Paleoanthropologie spezialisierte Geologe an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, Stephen Jay Gould (1941-2002), in der Auseinandersetzung mit der unter amerikanischen Psychochirurgen257 vertretenen Auffassung, revoltierendes Verhalten von Slumbewohnern könne pathologisch als Folge gestörter Hirnfunktionen erklärt werden, die Frage: „Warum sollte das gewalttätige Verhalten einiger verzweifelter und entmutigter Menschen auf einen bestimmten Hirnschaden hindeuten, während Korruption und Gewalttätigkeit einiger Kongreßabgeordneter und Präsidenten keine solche Theorie entstehen lässt?“ (Gould 1988: 155)
In ähnlicher Weise äußerte sich auch der britische Psychiater Ronald D. Laing, der gemeinhin als Begründer der sogenannten antipsychiatrischen Bewegung gilt: „Die ‚normal’ entfremdete Person hält man für gesund, weil sie mehr oder weniger wie jedermann handelt. Der Zustand der Entfremdung, des Schlafens, des Nicht-bewußt-Seins, des Nichtbei-Sinnen-Seins ist der Zustand des normalen Menschen. Die Gesellschaft schätzt ihren normalen Menschen. Sie erzieht Kinder dazu, sich selbst zu verlieren, absurd zu werden und so normal zu sein. Normale Menschen haben in den letzten fünfzig Jahren vielleicht hundert Millionen normale Mitmenschen getötet. Unser Verhalten ist eine Funktion unserer Erfahrung. Unser Handeln entspricht unserer Sicht der Dinge. Wenn unsere Erfahrung zerstört ist, wird unser Verhalten zerstörerisch sein. Wenn unsere Erfahrung zerstört ist, haben wir unser eigenes Selbst verloren“ (Laing 2003: 22).
Zeugt es nicht von einem weit höheren Grad an Wahnsinn, wenn Regierungsverantwortliche, ja demokratisch gewählte Präsidenten einer Weltmacht z. T. völkerrechtswidrige Kriege anzetteln, die vielen Millionen Menschen das Leben kosten, als wenn Menschen darüber z. B. in Depressionen verfallen oder aus Verzweiflung Dinge tun, die wir für verrückt halten und die unter Umständen zu einschlägigen psychiatrischen Diagnosen führen? Im Falle 257 Zur Psychochirurgie sei auf die entsprechenden Ausführungen in diesem Band unter den psychiatrischen Behandlungsmethoden verwiesen.
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der Hauptverantwortlichen für die beiden Irakkriege 1990/91 und 2003 gäbe es für die hier gemeinte Art von Wahnsinn sogar Anhaltspunkte für die Annahme hereditärer genetischer Faktoren, nach denen ja immer so eifrig gefahndet wird. Ist es, so wäre weiter zu fragen, z. B. normal, wenn wir uns regelmäßig gemütlich im Wohnzimmer in den Nachrichten darüber informieren lassen, wie in vielen Teilen der Welt Menschen durch Kriege, Bürgerkriege, Völkermord, Armut, Hunger und andere Ereignisse massenhaft und zum Teil grausam zugrunde gehen, und dabei zur alltäglichen Tagesordnung übergehen können, was bei uns normal, unsere Normalität ist. Ist das aber wirklich normal oder gesund? Im Verständnis herkömmlicher psychiatrischer Diagnostik ist eine derartige Anpassung an solche gesellschaftlichen Bedingungen normal und psychopathologisch unauffällig. Doch stellte z. B. Erich Fromm (1900-1980) zu Recht die Frage, „ob denn auch ein Individuum gesund sei, das sich an eine kranke Gesellschaft anpasse“ (a. a. O.: 110), ob es nicht für ein weit höheres Maß an seelischer Gesundheit spreche, wenn Menschen angesichts solcher Ereignisse, Klimakatastrophen oder auch des Bewusstwerdens der Tatsache, dass in den Waffenarsenalen der Atommächte ein Mehrfaches an Vernichtungspotential gelagert ist, das ausreicht, um unseren Planeten dauerhaft zu zerstören, ihr seelisches Gleichgewicht verlieren und in psychische Krisen geraten, als dies gelassen hinzunehmen, sich womöglich noch in Sensationsberichterstattungen einschlägiger Medien oder in Talkshows daran zu delektieren. „Ich fürchte, wir alle oder zumindest die Psychiater sind allzu schnell dabei, von ‚neurotisch’ oder ‚verrückt’ zu sprechen, wenn unsere Art zu fühlen, unsere Erfahrungen oder Antworten auf die Probleme der menschlichen Existenz nicht ziemlich genau dem entsprechen, womit ein Mensch zufrieden sein sollte. Ist er es aber nicht und entwickelt er ein tiefergehendes oder anderes System der Orientierung und Hingabe, dann wird er einfach als verrückt oder neurotisch angesehen“ (Fromm 1953: 33).
Schon Lessing (1729-1781) lässt in seinem Trauerspiel Emilia Galotti die Gräfin Orsina zu Emilias Vater sagen „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren“ (Lessing 1772: 121). Die meisten Kinder, die weltweit geboren werden, wachsen unter Bedingungen auf, die ihrer psychischen und physischen Entwicklung zutiefst abträglich sind. Das gilt durchaus auch für einen großen und wachsenden Anteil der insgesamt immer weniger werdenden Kinder, die in reichen Industrienationen wie Deutschland überhaupt noch geboren werden. Kinder und Jugendliche sind hierzulande überproportional in der Armutsbevölkerung repräsentiert, dies in einem Land, in dem Bildungserfolg mit sozialer Herkunft in einem Ausmaß korrelliert wie in keinem anderen Industrieland. Auf die lehrbehindernden Bedingungen des herkömmlichen Schulsystems werden wir in den Ausführungen über Heil- und Sonderpädagogik als besondere Pädagogik für vermeintlich besondere Kinder noch näher eingehen. All dies veranlasste schon vor ca. 35 Jahren den marxistischen Psychologen und Philosophen Lucien Sève (*1926) zu der Einschätzung, dass in Gesellschaften vom Typ der Bundesrepublik Menschen, die eigentlich Ausnahmefälle sein sollten, den Regelfall repräsentieren, der Störfall zum Normalfall und der Normalfall zur Ausnahme geworden ist. „Wäre es nicht an der Zeit, Schluß zu machen mit einer gewissen biologischen Mythologie des Genies, indem man die Frage so stellt: Ist die Existenz großer Menschen, vollkommener Persönlichkeiten nicht Beweis dafür, daß das erreichte Entwicklungsstadium der Gesellschaft diese Vollendung allgemein möglich macht? Rührt dann die Tatsache, daß die Masse der Individuen
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noch verkrüppelt ist, nicht daher, daß sie durch konkret-historisch unmenschliche Verhältnisse daran gehindert wird, sich so zu entwickeln wie andere, durch Verhältnisse, die für sie die im allgemeinen Stand der Produktivkräfte und der Zivilisation einbegriffenen Entfaltungsmöglichkeiten zunichte machen? Sind die großen Menschen, Ausnahme einer Epoche insofern, als die gewaltige Mehrheit der übrigen Menschen durch die gesellschaftlichen Bedingungen verkrüppelt wird, nicht in gewissem Sinne die normalen Menschen dieser Epoche und ist der Regelfall der Verkrüppelung nicht gerade die Ausnahme, die Erklärung verlangt?“ (Séve 1977: 2003; Hervorhebungen im Original).
Sèves Einschätzung wird heute durchaus auch von manchen Neurowissenschaftlern geteilt. Ausdrücklich betont z. B. der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther (2001: 27), dass die Struktur und der Aufbau des menschlichen Gehirns nicht primär durch genetische Faktoren determiniert werden, die im Zuge der als Prozess des biologischen Reifens verstandenen Entwicklung des Individuums allmählich zur Entfaltung kommen, sondern vor allem durch die Lebensbedingungen, unter denen diese Entwicklung stattfindet. „Es gibt keine Faulheitsgene, Intelligenzgene, Melancholiegene, Suchtgene oder Egoismusgene. Was es gibt, sind unterschiedliche Anlagen, charakteristische Prädispositionen (Veranlagungen und spezifische Vulnerabilitäten [Anfälligkeiten]). Was aber letztlich daraus wird, hängt von den jeweils vorgefundenen Entwicklungsbedingungen ab“ (a. a. O.: 10). „Wofür ein Gehirn benutzt werden kann, hängt zwangsläufig davon ab, wie es aufgebaut ist. Und wie ein Gehirn aufgebaut ist, ist wiederum davon abhängig, wofür es bisher gebraucht wurde, und zwar nicht nur von dem jeweiligen Benutzer, sondern auch von dessen Vorfahren“ (a. a. O.: 21). „Jede neue Generation mußte (…) innerhalb der von ihren Eltern und deren Vorfahren gestalteten Lebensbedingungen immer wieder neu lernen, worauf es im Leben ankommt. Das war manchmal sehr viel, manchmal aber auch recht wenig“ (a. a. O.: 22). „Noch heute gibt es Menschen, die das Glück haben, in eine Welt hineingeboren zu werden, die ihnen die Möglichkeit bietet, ihre genetischen Potenzen zur Ausbildung eines zeitlebens lernfähigen Gehirns weitgehend auszuschöpfen, und es gibt andere, die einfachere Lösungen finden oder finden müssen, um ihr Überleben und das ihrer Nachkommen zu sichern“ (a. a. O.: 23). „Die Welt, in die die meisten Menschen hineinwachsen, ist eine mit den Maßstäben der vorangegangenen Generationen mehr oder weniger bewusst gestaltete Welt. Das ist nicht zwangsläufig auch eine besonders menschliche Welt und deshalb auch nicht zwangsläufig eine Welt, in der optimale Bedingungen für die Entwicklung des menschlichen Gehirns herrschen. Je weniger diese Voraussetzungen erfüllt sind, desto stärker ist die heranwachsende Generation gezwungen, Bedienungsfehler bei der Benutzung ihres Hirns zu machen. Dann wird das Wunder der Herausbildung eines menschlichen Gehirns immer seltener, und über kurz oder lang wird das, was am häufigsten passiert, der Störfall, zum Normalfall erklärt. Und wenn dieser Punkt erreicht ist, bleiben uns nur noch drei Möglichkeiten: (1) an der Allmacht unseres Schöpfers zu zweifeln, (2) die genetischen Anlagen so zu verändern, daß die von ihnen hervorgebrachten Gehirne besser in die gegenwärtigen Verhältnisse passen, oder (3) die gegenwärtig herrschenden Verhältnisse so zu verändern, dass sie die Ausbildung immer menschlicherer Gehirne ermöglichen. Die erste dieser Möglichkeiten haben wir schon weitgehend abgearbeitet, die zweite probieren wir zur Zeit noch aus. Die unbequeme dritte Möglichkeit versuchen wir noch immer vor uns herzuschieben“ (a. a. O.: 27; Hervorhebung ER).
Es bleibt die Frage, ob es so etwas gibt wie eine absolute, gewissermaßen eine Metanormalität, an der alle in Geschichte und Gegenwart vorfindlichen kulturhistorischen Normalitäten zu messen wären. Es gibt eine Vielzahl von Konzepten, die dieses für sich in Anspruch
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genommen haben und in Anspruch nehmen, doch letztlich werden sie sich, viele haben es schon, als kulturhistorisch relativ erweisen, so wie letztlich alle Normalitäten, die für sich in Anspruch nehmen, normal zu sein. Aber vielleicht lässt sich für die Vielzahl der Normalitäten in Geschichte, Gegenwart und Zukunft doch ein Maßstab finden, der es erlaubt, zu beurteilen, ob und inwieweit die vielen Normalitäten im jeweiligen kulturhistorischen Kontext nachhaltig, menschlich zukunftsorientiert sind und der Vielfalt der menschlichen und nichtmenschlichen Natur mehr oder weniger entsprechen. Wir kommen auf diese Frage in unseren Ausführungen zur Dekonstruktion des Anders-Seins noch einmal zurück. 5.9.2 Zur Validität psychiatrischer Diagnosen Immer wieder sind in der Vergangenheit die Validität und insbesondere die Reliabilität psychiatrischer Diagnosen vor allem im Vergleich zu der somatischen Medizin in die Kritik geraten. Dörner (1975: 140) gab einen Überblick über verschiedene Untersuchungen, die zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Psychiater bei ein und demselben Patienten zu der gleichen Diagnose gelangen, nur bei etwa 50 % liegt. 1973 berichtete David L. Rosenhan, Professor für Psychologie an der StanfortUniversity, in der Zeitschrift „Science“ über die Ergebnisse eines Experiments, mit dem er unter anderem die Validität psychiatrischer Diagnosen untersucht hatte, das weltweit Aufsehen erregte, auch über die Fachwelt hinaus. Das Experiment hatte 1968 begonnen. Rosenhan, er war damals 40 Jahre alt, wusch und rasierte sich einige Tage nicht. Dann zog er schmutzige Kleider an, vereinbarte telefonisch unter falschem Nachnamen einen Termin in einer psychiatrischen Klinik und ließ sich vor dem Haupteingang absetzen. Im Aufnahmebüro klagte er, Stimmen gehört zu haben, die, soweit er sie habe verstehen können, „leer“, „dumpf“ und „hohl“ gesagt hätten, und bat um Aufnahme in die Klinik. Diese Symptome waren sorgfältig ausgewählt, weil sie zu keinem der in den damals gültigen DiagnostikManuals aufgeführten Krankheitsbilder passten.258 Trotzdem wurde er aufgenommen, Diagnose: Schizophrenie. Nach der Einweisung hörte Rosenhan sofort auf, über Symptome zu klagen. Er verhielt sich völlig normal, redete mit Patienten und Personal und wartete darauf, als geistig gesund entdeckt und entlassen zu werden. Er wurde jedoch nicht enttarnt. Zwar wurde er nach einigen Wochen entlassen, jedoch nicht als gesund, schon gar nicht nach einer Enttarnung, sondern mit der Diagnose: „Schizophrenie in Remission“. Rosenhan und mit ihm sieben weitere Scheinpatienten, zwei weitere Psychologen, ein Pädiater, ein Psychiater, ein Maler und eine Hausfrau, insgesamt drei Frauen und fünf Männer, wiederholten das Experiment noch insgesamt elf Mal. Insgesamt wurden also zwölf Krankenhäuser untersucht. Alle Scheinpatienten benutzten Pseudonyme, diejenigen, die auf dem Gebiet der Nervenheilkunde tätig waren, gaben auch andere Berufe an. Ansonsten wurden keine Änderungen der Biografie und der Lebensumstände vorgenommen und auch bei der Anamnese wahrheitsgemäß vorgetragen. In elf Fällen wurde eine Schizophrenie diagnostiziert, in einem Fall lautete die Diagnose trotz identischer Symptome „ma258 Interessant ist übrigens, wie Psychiater, die sich mit der Geschichte ihres Faches beschäftigen, dieses Experiment rezipieren und auswerten: „Das Experiment von Rosenhan (1973) sollte die „labeling“-Theorie der Schizophrenie beweisen. Gesunde Versuchspersonen, die darin eingeübt waren, sich schizophrenieartig zu äußern, wurden in psychiatrische Institutionen eingeschleust, so dass sie als Schizophrene diagnostiziert wurden. Das wäre vorauszusehen gewesen, denn wie soll ein Psychiater unter derart gefälschten Voraussetzungen eine richtige Diagnose stellen“ (Schott & Tölle 2006: 208).
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nisch-depressive Psychose“259. Alle Scheinpatienten wurden zwar wieder entlassen, doch wurde keiner enttarnt, elf wurden mit ihrer jeweiligen Diagnose in Remission entlassen, einer mit der Diagnose Schizophrenie ohne den Zusatz „in Remission“. Die Dauer des Aufenthalts variierte zwischen sieben und 52 Tagen, er betrug im Durchschnitt neunzehn Tage. Insgesamt erhielten die Scheinpatienten dabei ca. 2 100 Tabletten, die sie allerdings nicht schluckten, das sind 9,2 je Patient und Tag, darunter unterschiedlichste Präparate, obwohl alle exakt die gleichen Symptome angegeben hatten, unter denen sie angeblich litten. Rosenhans Untersuchung konnte aber nicht nur zeigen, „daß man in psychiatrischen Kliniken Gesunde nicht von Geisteskranken unterscheiden kann“, sondern auch, dass „die Anstalt selbst (…) eine besondere Wirklichkeit (erschafft), in der die Bedeutung von Verhaltensweisen leicht falsch verstanden wird“ (Rosenhan 1997: 134).
Die Scheinpatienten hatten nämlich unter anderem die Aufgabe, während ihres Krankenhausaufenthalts Beobachtungen anzustellen und zu untersuchen, welche Wirkungen psychiatrische Diagnosen auf den Umgang psychiatrischer Fachkräfte mit den Patienten haben, wie sich der Alltag in einer psychiatrischen Institution und vor allem die Interaktionsprozesse zwischen psychiatrischen Fachkräften und den Patienten im Anstaltsalltag gestalten. Das Ergebnis, das hier nicht im Einzelnen dargestellt werden kann, war niederschmetternd. Auf vorher festgelegte Fragen der Scheinpatienten reagierten z. B. 71 % der Psychiater und 88 % der Schwestern und Pfleger überhaupt nicht, sie ignorierten den Fragesteller und liefen weiter. Ein Kontrollexperiment auf dem Universitätsgelände zeigte, dass dort bei vergleichbaren Fragen alle angesprochenen Mitglieder des Lehrkörpers stehen blieben und die Fragen beantworteten (a. a. O.: 128). Demütigende Äußerungen gegenüber Patienten, Erniedrigungen und umfassende Kontrolle, die keine Intimsphäre erlaubt, sogar körperliche Misshandlungen gehörten zur Tagesordnung. „Ohnmacht zeigte sich überall. Infolge seiner psychiatrischen Einweisung wird der Patient vieler gesetzlicher Rechte beraubt. Aufgrund seiner psychiatrischen Klassifizierung verliert er an Glaubwürdigkeit“ (a. a. O.: 129). „Die Folgen für die Patienten, die in solch einer Umgebung untergebracht sind – die Machtlosigkeit, Entpersönlichung, Abgeschiedenheit, Demütigung und Selbstabwertung – dürften ohne Zweifel therapiefeindlich sein“ (a. a. O.: 134).
Um nicht enttarnt zu werden, bemühten sie sich dabei anfangs sorgfältig darum, beim Schreiben nicht beobachtet zu werden. Es stellte sich heraus, dass diese Vorsichtsmaßnahme unnötig war. „Die Unterlagen der Schwestern über drei Patienten zeigen, daß sie als Teil des pathologischen Verhaltens gewertet wurden. ‚Patient ist mit seinen Schreibgewohnheiten beschäftigt’, lautete der tägliche Schwesternbericht über einen der Scheinpatienten, der niemals nach seiner Schreibtätigkeit gefragt wurde“ (a. a. O.: 121).
Hier zeigt sich deutlich, dass die psychiatrische Diagnose Wirklichkeit nicht beschreibt, sondern vor allem konstruiert. Wer psychisch krank ist, ist eben nicht normal und wenn 259 Bemerkenswerterweise erfolgte diese Diagnosestellung an dem einzigen privaten Krankenhaus, das in die Untersuchung einbezogen war.
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jemand nicht normal ist, kann es auch nicht normal sein, wenn er oder sie ganz normale Dinge tut. Nach der Diagnosestellung ist es den Patienten kaum möglich, die Diagnose zu widerlegen und das damit verbundene Stigma wieder loszuwerden, so normal sie sich auch verhalten. Alle ihre Verhaltensweisen werden stets im Lichte der Diagnose und als Ausdruck der Krankheit gedeutet. Dass Effekte, wie sie in diesem Experiment nachgewiesen werden konnten, auch in umgekehrter Richtung wirksam werden, hat Rosenhan sehr eindrucksvoll in einem zweiten Experiment gezeigt. Erwartungsgemäß löste das Bekanntwerden seiner Untersuchung einen Sturm der Entrüstung aus. Die Leitung eines Lehr- und Forschungskrankenhauses, welches nicht in das Experiment einbezogen war, behauptete, derartige Fehldiagnosen seien in ihrem Haus völlig ausgeschlossen. Rosenhan bot daraufhin eine Wiederholung des Experiments gezielt in diesem Krankenhaus an. In den nächsten drei Monaten würde er einen oder mehrere Scheinpatienten in die Aufnahmeabteilung des Krankenhauses schicken. Anders als beim ersten Experiment wurde das Personal in diesem Fall aber informiert. In diesem Zeitraum meldeten sich dort insgesamt 193 Personen zur psychiatrischen Behandlung. Tatsächlich gelang es, einige von ihnen als Scheinpatienten zu enttarnen,
19 Personen (9,8 %) durch mindestens einen Psychiater und ein weiteres Mitglied des Personals, 23 Personen (11,9 %) durch mindestens einen Psychiater und 41 Personen (21,2 %) durch mindestens ein Mitglied des Personals.
Allerdings hatte Rosenhan in diesem Fall das Experiment ein wenig abgewandelt: Er hatte nicht einen einzigen Scheinpatienten geschickt (a. a. O.: 118). Von einem anderen Experiment berichtet Paul Watzlawick (1990: 92): „Im Rahmen eines vor Jahren im Mental Research Institute durchgeführten (…) Experiments fragten wir den Gründer und ersten Direktor unseres Instituts, den Psychiater Don D. Jackson, der ein international bekannter Fachmann auf dem Gebiet der Psychotherapie der Schizophrenien war, ob er es uns erlauben würde, ihn bei einem Erstinterview mit einem paranoiden Patienten zu filmen, dessen Wahnvorstellung hauptsächlich darin bestand, ein klinischer Psychologe zu sein. Dr. Jackson war einverstanden, und unser nächster Schritt war, einen klinischen Psychologen, der sich ebenfalls mit Psychotherapie von Psychosen befaßte, zu fragen, ob er willens sei, sich in einem Erstinterview mit einem paranoiden Patienten filmen zu lassen, der glaubte, ein Psychiater zu sein. Auch er sagte zu. Wir brachten die beiden dann in einer Art Supertherapiesitzung zusammen, in der beide Doktoren prompt darangingen, die ‚Wahnvorstellung’ des anderen zu behandeln. Für die Zwecke unseres Experiments hätte die Situation kaum perfekter sein können: Dank ihres Zustands von Desinformation verhielten sich beide zwar individuell durchaus richtig und ‚wirklichkeitsangepaßt‘ – bloß daß eben dieses richtige und wirklichkeitsangepaßte Verhalten in der Sicht des anderen ein Beweis von Geistesstörung war. Oder anders ausgedrückt: Je normaler sich beide verhielten, desto verrückter schienen sie in Augen des Partners. – (Leider ging der Versuch nach wenigen Minuten schief, da sich der Psychologe plötzlich daran erinnerte, daß es in Palo Alto tatsächlich einen Psychiater namens Jackson gab, und er verwendete daher die günstige Gelegenheit, seine beruflichen Probleme gratis mit einem wirklichen Fachmann zu erörtern; was Dr. Jackson wiederum in der Annahme bestärkte, daß es sich um einen zwar voll remittierten Patienten, aber eben doch einen Patienten handeln musste).“
Ein drittes Experiment, welches durchaus auch Aufschluss über die Validität psychiatrischer Diagnosen zu geben vermag, ist als solches eigentlich gar nicht geplant und angelegt worden. Dennoch sind seine Ergebnisse durchaus aufschlussreich, sodass es lohnt, kurz
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darauf einzugehen und sie entsprechend auszuwerten. Gert Postel, Jahrgang 1958, war gelernter Briefträger. Sein Beruf gefiel ihm nicht sonderlich. Mit gefälschten Unterlagen bewarb er sich erfolgreich unter dem Namen „Dr. med. Dr. phil Clemens Bartholdy“ als Facharzt für Psychiatrie um die Stelle eines stellvertretenden Amtsarztes in Flensburg, mit Erfolg. Im September 1982 trat er die Stelle an und zeigte sich bemerkenswert reformorientiert und erfolgreich. Während vor seinem Amtsantritt noch 98 % aller Anträge auf psychiatrische Unterbringung positiv entschieden wurden, hat Postel (1985: 13) in seiner „Amtszeit lediglich 34 Personen von in etwa 400 beantragten Fällen einweisen lassen“, das sind nicht einmal 10 %. Beschwerden gegen seine Entscheidungen wurden regelmäßig vom Landgericht abgelehnt. Niemandem ist aufgefallen, dass der Amtsarzt für die Tätigkeit, die er ausübte, nicht ausgebildet ist. Von Flensburg aus bewarb er sich als Arzt an der Universitätsnervenklinik in Kiel. Auch hier bekam er die Stelle, konnte sie allerdings nicht antreten, da sein Schwindel im April 1983 drei Tage vor dem geplanten Dienstantritt aufflog – allerdings nicht, weil seine fachliche Inkompetenz aufgedeckt, sondern weil seine Ausweishülle aufgefunden wurde, die er verloren hatte und die Dokumente sowohl auf seinen tatsächlichen Namen wie auf seinen Decknamen enthielt. Postel musste untertauchen, bewarb sich aber sofort wieder – meist mit Erfolg – auf verschiedene Arztstellen, zuletzt, es war mindestens die sechste Anstellung als Psychiater, im Krankenhaus für Psychiatrie im sächsischen Zschadraß, wo er von November 1995 bis Juli 1997 sogar unter seinem richtigen Namen, nur mit falschem Doktor-Titel, als Oberarzt im Maßregelvollzug tätig war. Auch dort wurde er nur per Zufall enttarnt – eine Ärztin aus Flensburg erkannte ihn wieder – und nicht etwa aufgrund seiner fachlichen Inkompetenz. Die ist auch hier nicht aufgefallen. Im Gegenteil: Die Probezeit schaffte er mit Bravour. In der Beurteilung nach der Probezeit durch den Krankenhausleiter, Dr. Horst Krömker, erhielt er durchweg sehr gute Noten. Er habe sich, so heißt es, auf seiner Stelle überdurchschnittlich bewährt. Schließlich wurde ihm 1996 von der sächsischen Landesregierung sogar eine Stelle als Chefarzt in der forensischen Abteilung am sächsischen Landeskrankenhaus in Arnsdorf angeboten. Allerdings lehnte Postel von sich aus ab (Postel 2001: 51). Postel und seine Rechtsanwälte haben immer wieder beteuert, Postel habe bei seinen Tätigkeiten niemandem geschadet. Er habe z. B. niemals Medikamente verordnet oder verabreicht. Als forensischer Psychiater war Postel ein gefragter Gerichtsgutachter. In mindestens 23 Strafverfahren ist er gutachterlich tätig geworden. Dafür hat er nach Angaben des Nachrichtenmagazins „Focus“ vom 25. Januar 1999 insgesamt 44 000,-- DM als Honorar erhalten. Dieses Geld ist bis heute vom sächsischen Justizministerium nicht zurückgefordert worden. „Die hätten nur eine Chance, wenn sie die Fehlerhaftigkeit der Gutachten nachweisen könnten“, zitiert der „Weserkurier“ vom 25. Januar 1999 Postels Anwalt Jürgen Fischer. Vor Gericht ist jedoch keine einzige der Expertisen als fehler- oder mangelhaft zurückgewiesen oder im Verfahren angefochten worden. Postel selbst wird vom Weserkurier zitiert: „Alle waren sehr zufrieden mit meiner Arbeit.“ Weiter heißt es in dem Bericht: „Als Sachverständiger sei er sehr gefragt gewesen, weder ein Richter noch ein Staatsanwalt hätten jemals gezweifelt. Anfangs habe er Skrupel gehabt, die Gutachten vor Gericht zu vertreten. Nachdem er seine erste Beurteilung eines Angeklagten erstellt hatte, sei er fast jede Woche von Richtern und Staatsanwälten angerufen geworden. Ich habe halt Gutachten sehr schnell gemacht. Das sprach sich rum.“
In Postels Gutachten ging es unter anderem um die Schuldfähigkeit von Straftätern. Genau die wurde auch bei ihm in seinem Strafverfahren von zwei mutmaßlich echten Kollegen,
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dem Gerichtspsychiater Norbert Leygraf und der Psychologin Sabine Nowara, untersucht. Jetzt plötzlich werden laut Leipziger Volkszeitung vom 23. Januar 1999 bei Postel Persönlichkeitsstörungen festgestellt, die zwar nicht zu einer Einschränkung seiner Schuldfähigkeit führen, aber seinen unwiderstehlichen Wunsch erklären sollen, immer wieder als Psychiater tätig sein zu wollen. Wörtlich: „Seine Fähigkeit zum abstrakten logischen Denken sei im Unterschied zu seiner Redefertigkeit unterdurchschnittlich, attestierte Nowara. ‚Er ist stark ich-bezogen, es fehlt die Fähigkeit zur Selbstkritik.’ Postel sei ‚deutlich herablassend gegenüber anderen’, reagiere auf Kritik ‚verunsichert, gereizt und aggressiv. Als Kind wurde Postel von seinen Eltern nicht beachtet (…), schon damals flüchtete er in Phantasiewelten. Sein Wunsch nach Bildung fand beim Vater kein Gehör. Das anschließende schillernd-bunte Leben als falscher Arzt blieb in Wahrheit leer und traurig. Er hat nie eine eigene Identität entwickeln können’, sagte die Psychologin. Professor Leygraf ergänzte: ‚Die Trostlosigkeit seines wirklichen Lebens trieb ihn immer wieder in seine Rollen hinein.’ Postels Verhalten sei wie eine Sucht.“
Bemerkenswert an diesem Vorgang ist nicht in erster Linie die Tatsache, dass es Postel immer wieder gelang, mit gefälschten Urkunden und Dienstzeugnissen eine Anstellung als Psychiater zu erlangen. Dies dürfte auch in anderen Berufszweigen möglich sein. Es bleibt aber die Frage, warum seine massiven Persönlichkeitsstörungen, die nach seiner Enttarnung sogleich bei ihm diagnostiziert wurden, all den Berufskolleginnen und -kollegen, mit denen Postel als Psychiater zusammengearbeitet hat und von denen doch wohl zumindest die meisten tatsächlich einschlägig ausgebildet gewesen sein dürften, nie aufgefallen sind. Manche Vertreter der Psychiatrie scheinen sich mit der geringen Validität ihrer Diagnosen abgefunden zu haben. So gestehen Kind & Haug, zwei Vertreter der Zürcher Schule, in ihrem diagnostischen Leitfaden für Studierende und Ärzte in Praxis und Klinik, laut Klappentext „die praktische Anleitung für Ihre Kitteltasche“, unumwunden ein: „Psychiater haben sich seit jeher daran gewöhnt, dass zwei Fachkollegen, die den gleichen Kranken nacheinander untersuchen, in manchen Fällen zu verschiedenen Diagnosen gelangen. Dass der eine ‚Neurose’, der andere ‚Psychose’ feststellt, überrascht kaum. Aber auch, wenn der eine ‚Manie’, der andere ‚Schizophrenie’ sagt, wird nicht in erster Linie beim einen (oder bei beiden) berufliche Inkompetenz angenommen. Es gibt verschiedene Gründe, die diese Unterschiede erklären können: Eine wichtige Differenz kann auf der Unschärfe der verwendeten diagnostischen Kategorien beruhen. Zwei Untersucher können also wohl das gleiche Zustandsbild beobachten, sie bewerten einzelne Symptome aber verschieden und weisen das Zustandsbild anderen diagnostischen Gruppen zu. (…) Die Beziehung des Kranken zum Untersucher färbt in starkem Maße die Symptome, die der letztere zu Gesicht bekommt. (…) Bei zeitlich aufeinanderfolgenden Untersuchungen hat sich deshalb möglicherweise der Kranke deutlich verändert. Der eine Untersucher wird ihn deshalb psychotisch finden, während der andere nur noch beispielsweise ein neurasthenisches Syndrom feststellen kann. Es hat sich aber auch gezeigt, dass psychiatrische Untersucher in nicht geringem Maße suggestiven Einflüssen bezüglich ihrer Diagnosestellung unterworfen sind. (…) Es gibt Experimente, die (…) ergeben haben, dass Psychiater der so genannten Prestigesuggestion unterliegen. Wenn von autoritativer Seite suggestive, aber objektiv unzutreffende Bemerkungen zur Diagnose eines bestimmten Kranken gemacht wurden, ließen sich viele dazu verführen (…) eine Diagnose im Sinne der Suggestion zu stellen“ (Kind & Haug 2002: 175 f.).
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Auch der gesundheitspolitische Sprecher und Leiter des Fachreferats Psychopharmakologie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Jürgen Fritze, gelangte bei einer Anhörung durch den Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages am 09.05.2001 zu der Einschätzung: „Trotz in den letzten Jahren erheblicher Forschungsanstrengungen fehlen für psychische Krankheiten unverändert objektive, biologische Validierungskriterien. Psychiatrische Diagnosen entsprechen also immer noch Übereinkünften (Konventionen), die nur sehr begrenzt Aussagen zur Auswahl spezifischer Therapien und Prognosen (als Kernfunktionen der Diagnostik) erlauben. Das liegt auch daran, daß der Forschungsgegenstand der Psychiatrie – die Funktionen des Gehirns – außerordentlich komplex ist. Wegen der weitgehenden Unkenntnis über die Ursachen und Pathophysiologie psychischer Krankheiten ist überwiegend ‚nur’ symptomatische Therapie auf allen zugänglichen Ebenen möglich“ (Fritze 2001: 1).
Wir haben schon gezeigt, dass der Übergang des Klassifikationssystems ICD-9 zu ICD-10 mit einer Preisgabe jeglicher ätiologischer, theoretischer und biografischer Fundierung zugunsten einer möglichst exakten260 numerisch verschlüsselten Symptomatologie verbunden war. Davon erhoffte man sich vor allem in der Psychiatrie nicht zuletzt auch eine Verbesserung der Zuverlässigkeit der Diagnostik. Huber ist dabei skeptisch. Für ihn „bleibt trotz verbesserter Reliabilität und inzwischen erreichter formaler Exaktheit das Kernproblem der Validität.261 Die durch Expertenkommissionen erarbeiteten Diagnosemanuale ließen sich durch die bisher üblichen Strategien nicht validieren und können nach wie vor homogene Patientenpopulationen nicht abgrenzen“ (Huber 2005: 29).
Um nicht missverstanden zu werden, sei noch einmal wiederholt: Es wird in keiner Weise bestritten, dass sich manche Menschen in einer psychischen Verfassung befinden, unter der sie sehr leiden und in der sie dringend geeigneter Hilfen bedürfen. Es stellt sich nur die Frage, ob es zu deren Verständnis hilfreich ist, die unterschiedlichen Formen psychischen Leidens in drei, vier oder fünf Hauptgruppen mit entsprechenden Untergruppen zu klassifizieren und ausgehend von diesem Klassifikationssystem auf dem Wege der Diagnostik die betroffenen Menschen mit einem bestimmten Krankheitsbild in Verbindung zu bringen, es ihnen zuzuweisen. Die Konsequenzen dieses Vorgangs, die das Rosenhan-Experiment eindrucksvoll gezeigt hat, lassen sich auch nicht durch den Verzicht auf die theoretische und nosologische Fundierung der heute gebräuchlichen ICD-10 überwinden. Hinzu kommt, dass ja keineswegs nur solche Formen der psychischen Verfassung von Menschen klassifiziert und als Krankheiten verstanden werden, unter denen die Betroffenen leiden, wie wir dies etwa am Beispiel der Homosexualität gezeigt haben. Viele, vielleicht die meisten Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung litten in der Vergangenheit vor allem unter 260 Huber (2005: 28), wir hatten ihn in unseren Ausführungen über den Übergang von der Nosologie zur anosologischen Klassifikationschon zitiert, spricht kritisch von „(Pseudo-)Exaktheit“. 261 Validität (Gültigkeit) liegt vor, wenn ein Messinstrument misst, was es messen soll. Reliabilität (Zuverlässigkeit) besteht, wenn wiederholte Messungen die gleichen Ergebnisse erbringen. Eine Untersuchung von geringer Validität kann einen hohen Reliabilitätsgrad haben, hingegen kann eine Untersuchung von geringer Reliabilität auch keine hohe Validität aufweisen. Hinsichtlich der Ergebnisse des Rosenhan-Experiments bedeutet die zitierte Einschätzung von Huber etwas salopp ausgedrückt, dass durch den höheren Grad an Formalisierung in der ICD-10 die Chance bestehen könnte, dass die bei den Scheinpatienten gestellte Diagnose auch bei wiederholter Diagnosestellung gestellt wird, zugenommen hat, nicht jedoch das Maß der Gültigkeit dieser Diagnose.
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der gesellschaftlichen Praxis im Umgang mit Homosexualität, auch und gerade unter ihrer Psychiatrisierung sowie auch der Kriminalisierung. Es stellt sich außerdem die Frage, woran genau die Betroffenen leiden, sie leiden ja nicht einfach und unmittelbar an ihrer Psyche. Ihre psychische Verfassung entwickelt sich ja nicht aus dem Nichts oder aus sich heraus, sie steht mit ihren sozialen und körperlichen Lebensverhältnissen in einem untrennbaren Wechselverhältnis, d. h., beide bedingen einander und werden voneinander bedingt. Wir hatten bereits in unseren Ausführungen zur Schizophrenie gesehen, dass psychiatrische Diagnosen letztlich daraus resultieren, dass ein Verhalten oder Denken, das sich vor allem sprachlich äußert, nicht verstanden wird, dass ein Psychiater sein Gegenüber vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung nicht mehr versteht. Die Diagnose erlaubt dann, das nicht verstandene, häufig für nicht verstehbar gehaltene Verhalten zu erklären, nämlich als Ausdruck der Krankheit. Damit ist sie aber eher Erkenntnis behindernd als fördernd, insofern die Erklärung ein Verständnis der betroffenen Person aus ihrer Lebensgeschichte und Lebenssituation heraus oftmals verhindert. Wir kommen auf diesen Aspekt in den Ausführungen über Dekonstruktion von Anders-Sein noch zurück. Dabei hat die Diagnose einer psychischen Krankheit für die Betroffenen oft einschneidende Konsequenzen, die oftmals ihr gesamtes weiteres Leben prägen. Am 19. Juli 1995 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt den Landeswohlfahrtverband Hessen als Einrichtungsträger zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von einer halben Million Deutsche Mark wegen Freiheitsberaubung und schwerster Gesundheitsschädigung, weil ein Patient aufgrund falscher Diagnose neun Jahre seines Lebens im Psychiatrischen Krankenhaus in Marburg eingesperrt worden war und dort durch die psychiatrischen Behandlungsmethoden irreversibel geschädigt wurde, sodass er heute schwerbehindert ist (hierzu ausführlich: Elfert & Fengler 1991). Zehn Jahre später, am 16. Juni 2005, gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der Klage einer ehemaligen Psychiatriepatientin statt und verurteilte die Bundesrepublik Deutschland zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 75 000,-- Euro zuzüglich rund 18 000,-- Euro für materielle Schäden, weil sie sie nicht gegen Menschenrechtsverletzungen durch die Psychiatrie geschützt hat. Auch diese Patientin, die ihre Geschichte unter dem Pseudonym Vera Stein (2000) veröffentlicht hat, ist jahrelang aufgrund einer falschen Diagnose in psychiatrischen Kliniken interniert und behandelt worden, auch sie ist aufgrund dieser Behandlungen heute schwerbehindert. Die vergleichsweise geringe Schadensersatzhöhe erklärt sich dadurch, dass der Europäische Gerichtshof nur Staaten, nicht aber natürliche oder juristische Personen verurteilen kann. Alle Versuche der Frau, ähnlich wie Klaus-Peter Löser vor nationalen Gerichten zivilrechtliche Schadensersatzansprüche zu erstreiten, sind höchstrichterlich abgelehnt worden. KlausPeter Löser und Vera Stein mögen Einzelfälle sein, Einzelfälle aber wohl eher insofern, als sie Unterstützung von außen gefunden haben, um ihre Fehldiagnose nachzuweisen und ihre Schadensersatzansprüche durchzusetzen.262 Ohnehin ist es wohl kaum möglich, die hier angerichteten Schäden auch nur annähernd monetär zu ersetzen. Der Fall Vera Stein zeigt, wie wenig aussichtsreich die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen jedenfalls vor deutschen Gerichten bis heute noch ist. Zwar wurde die Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof zu Schadensersatzansprü262 An dieser Stelle sei mit höchster Anerkennung erwähnt, dass in beiden Fällen renommierte Fachvertreter der Psychiatrie gutachterlich zum Nachweis der jeweiligen Fehldiagnosen beigetragen haben, im Fall KlausPeter Löser war dies der Baseler Psychiater Asmus Finzen, die Gutachten über Vera Stein erstellten der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiater Reinhard Lempp und die Hamburger Psychiaterin Charlotte Köttgen.
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chen verurteilt, weil sie Vera Stein nicht gegen Menschenrechtsverletzungen geschützt hat. Die Täter dieser über Jahre fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen blieben jedoch unbehelligt. Sie wurden von sämtlichen Schadensersatzansprüchen freigestellt – von strafrechtlichen Konsequenzen ganz zu schweigen. Sowohl Herr Löser als auch Frau Stein haben durch die erlittenen psychiatrischen Behandlungen schwerste Schädigungen davongetragen, die sie höchstwahrscheinlich Zeit ihres Lebens behalten werden. Über die Zahl derer, denen es ähnlich geht wie Klaus-Peter Löser und Vera Stein, die aber nicht in der Lage sind, sich aus der Psychiatrie zu befreien und ihre Rechtsansprüche durchzusetzen, kann nur gemutmaßt werden.263 Angesichts der jedenfalls auch von Fachvertretern eingestandenen geringen Validität psychiatrischer Diagnosen dürfte sie keinesfalls eine zu vernachlässigende Größe sein – ganz abgesehen davon, dass jeder Einzelfall einen nicht zu rechtfertigenden menschlichen, sozial- und gesundheitsund menschenrechtspolitischen Skandal darstellt. Wir kommen damit zu den im Folgenden abzuhandelnden psychiatrischen Behandlungsmethoden. 6
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Um die Wende zum 20. Jahrhundert verfügte die Psychiatrie zwar nun über eine Krankheitslehre, mit der sie sich als medizinische Teildisziplin ausweisen konnte, jedoch nicht über Behandlungsmethoden, mittels derer sie sich auch als Heilkunde im engeren Sinne profilieren konnte. Zwar wurden sog. akuten Fällen gewisse Heilungschancen eingeräumt, der weitaus größte Teil der Insassen der damaligen Irrenanstalten wurde jedoch für chronisch krank gehalten. „Gegen die Krankheit selbst kann nur in wenigen Fällen vorgegangen werden (Hirnlues, Epilepsie)“, konstatierte resigniert Eugen Bleuler (1916: 154; unverändert bis 1923: 164264). Die Praxis musste sich deshalb vor allem darauf beschränken, die Betroffenen zu verwahren: „Sehr viele Kranke, namentlich deprimierte, dann Schizophrene, die sich nicht beschäftigen, leichte Manische, befinden sich am besten im Bett“ (Bleuler 1916: 155; unverändert bis 1930: 149265).
6.1 Psychiatrische Erbgesundheitspflege und praktische Eugenik Vor diesem Hintergrund lag mit einer gewissen immanenten Konsequenz der Schwerpunkt psychiatrischer Praxis anfangs vor allem im Bereich der Prophylaxe, vor allem der eugenischen Prophylaxe. Wir hatten schon am Ende unserer Ausführungen über den Sozialdarwi263 Jedenfalls gibt es zahlreiche Menschen, die sich selbst als Psychiatrieerfahrene, Psychiatrieopfer oder sogar Psychiatrieüberlebende bezeichnen, sich zum Teil in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen haben und das psychiatrische Versorgungssystem massiv bekämpfen (vgl. Rohrmann 1999: 69 ff.), die unter den psychiatrischen Behandlungsmethoden und deren Folgen (Kempker & Lehmann 1993) oftmals mehr leiden als unter den Gründen, aus denen sie mit der Psychiatrie in Kontakt geraten sind. 264 Erst ab der 5. Auflage formuliert er diese Einschätzung positiver: „Gegen die Krankheit selbst kann direkt vorgegangen werden bei Hirnlues, Paralyse, Epilepsie und kretinösen Formen“ (Bleuler 1930: 148). 265 Erst in der 6. Auflage heißt es: „Zur Bettbehandlung Geisteskranker muß eine bestimmte Indikation vorliegen. Sie ist auch jetzt weitgehend eingeschränkt durch die Arbeitstherapie“ (Bleuler 1937: 126).
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nismus dargelegt, wie die eugenischen Ideen Galtons auch innerhalb der zeitgenössischen Psychiatrie großen Anklang fanden und als praktische Konsequenz aus diesen vermeintlichen Erkenntnissen die planmäßige Ermordung sogenannten lebensunwerten Lebens schon 1920 unter anderem von dem Freiburger Psychiater Alfred Hoche vehement gefordert wurde. Da außerdem angenommen wurde, dass die meisten Geisteskrankheiten ererbt seien, wurde die Eugenik von diesen Medizinern als einzige Möglichkeit gesehen, wenigsten indirekt einen Beitrag zur Verhütung psychischer Krankheiten zu leisten. Nahezu alle zeitgenössischen Psychiater waren von der Notwendigkeit eugenischer Maßnahmen fest überzeugt. Schon der Vorgänger und akademische Lehrer von Eugen Bleuler, Auguste Forel, sprach sich klar für eugenische Maßnahmen aus. Er bezweckte damit „keineswegs, eine neue menschliche Rasse, einen Übermenschen zu schaffen, sondern nur die defekten Untermenschen allmählich durch die Entfernung der Ursachen der Blastophthorie266 und durch willkürliche Sterilität der Träger schlechter Keime zu beseitigen, und dafür bessere, sozialere, gesundere und glücklichere Menschen zu einer immer größeren Vermehrung zu veranlassen“ (Forel 1907: 557 f.).
Auch Kraepelin stellte gleich zu Beginn des Kapitels über „Behandlung des Irreseins“ in seinem Lehrbuch klar: „Die Verhütung der Geisteskrankheiten steht bei der großen Bedeutung der Erblichkeit für die Verbreitung des Irreseins zunächst vor der Frage, ob ein Geisteskranker heiraten darf oder nicht“ (Kraepelin 1920: 545).
Kraepelin war aus mehreren Gründen entschieden dagegen. Zum einen wusste er, sagte allerdings nicht woher, „daß (…) bei schon bestehender Krankheit die Ehe zum mindesten auf das weibliche Geschlecht vielfach geradezu schädlich wirkt. Dazu kommt die Gefahr einer Vererbung der krankhaften Anlage auf die Nachkommenschaft“ (ebd.). Leider „lehrt die Erfahrung, daß Ratschläge über bevorstehende Ehen zwar gesucht und angehört, aber äußerst selten befolgt werden. Die Bedürfnisse der Rassenkräftigung, der geschlechtlichen Zuchtwahl unter dem Gesichtspunkt der körperlichen und geistigen Gesundheit, treten weit zurück hinter anderen, kurzsichtigeren Beweggründen“ (a. a. O.: 546).
Da gesetzliche Maßnahmen mutmaßlich nur von zweifelhaftem Erfolg und außerdem ohnehin nicht zu erwarten seien, kommt „eine sehr erhebliche vorbeugende Wirkung (…) weiterhin auch der Entwicklung unseres Anstaltswesens zu, das einer wachsenden Zahl von Geisteskranken die Möglichkeit der Fortpflanzung benimmt. Anzustreben wäre aber mit größtem Nachdrucke die ja auch aus anderen Gründen dringend notwendige dauernde Kasernierung anderer entarteter Persönlichkeiten, deren ungünstiger Einfluß auf die Nachkommenschaft gewiß nicht geringer ist als derjenige der Geisteskranken im engeren Sinne. Insbesondere wären hier die Gewohnheitsverbrecher, die Landstreicher und die verkommenen Trinker ins Auge zu fassen, deren dauernder, zwangsmäßiger Ausscheidung aus dem Gemeinschaftsleben wohl nicht mehr allzu große Hindernisse entgegenstehen dürften“ (a. a. O.: 547). 266 Von Forel eingeführte Bezeichnung für Keimschädigung.
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Wie Kraepelin sprach sich auch Eugen Bleuler immer wieder bis zum Ende seines Lebens klar und eindeutig für eugenische Maßnahmen aus. Schon 1911 plädierte er in seiner Abhandlung über Schizophrenie für die Kastration der solcherart „Erkrankten“. „Kastration ist dem Patienten selbst unnütz; Sterilisation wird aber hoffentlich hier wie bei anderen koitusfähigen Trägern einer pathologischen Anlage aus rassenhygienischen Gründen bald in größerem Maßstab angewendet werden können“ (Bleuler 1911: 382). 1921 stellt er Rassenhygiene sogar in einen religiösen Zusammenhang. „Man hat davon gesprochen, die Rassenhygiene sollte die Religion der Zukunft werden. Das wäre sehr nützlich, aber es ist unmöglich. (…) Aber als wichtiger Teil jeder Religion sollte die Rassenhygiene wieder ihren Rang einnehmen“ (Bleuler 1921: 272).
Gleich am Anfang des nicht einmal zehn Seiten umfassenden Kapitels über „die Behandlung der Geisteskrankheiten im allgemeinen“ in seinem Lehrbuch forderte er: „Schwerer Belastete sollten sich nicht fortpflanzen. (…) Ich würde einmal zwangsmäßig bei den unheilbaren Verbrechern und aufgrund der Freiwilligkeit bei anderen schweren Psychopathen anfangen und die Gesetzgebung nach Maßgabe der Erfahrungen umgestalten. Aber wenn wir nichts tun, als die geistigen und körperlichen Krüppel fortpflanzungsfähig zu machen, und die tüchtigen Stämme ihre Kinderzahl beschränken müssen, weil man so viel für die Erhaltung der anderen zu tun hat, wenn man überhaupt die natürliche Auslese unterdrückt, muß es ohne neue Maßregeln mit unserem Geschlecht rückwärts gehen“ (Bleuler 1916: 150; unverändert bis 1930: 144267).
Schon in seinem Buch über Schizophrenien bedauerte Bleuler (1911: 394) in den Ausführungen über die Therapie ausdrücklich, dass Psychiater gesetzlich dazu verpflichtet sind, schizophrene Menschen am Selbstmord zu hindern. „Man zwingt Leute, denen aus guten Gründen das Leben verleidet ist, weiter zu leben; das ist schon schlimm genug. Aber ganz schlimm ist es, wenn man diesen Kranken mit allen Mitteln das Leben noch unerträglicher macht, indem man sie einer peinlichen Bewachung unterwirft. Der größte Teil unserer ärgsten Zwangsmaßregeln wäre unnötig, wenn wir nicht verpflichtet wären, den Kranken ein Leben zu erhalten, das für sie und andere nur negativen Wert hat.“
Ein Jahr nach dem Erscheinen der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von Binding & Hoche (1920) ging Bleuler (1921: 241) auch auf diese Frage ein, ohne sich allerdings explizit auf diese Schrift zu beziehen. „Ein Problem möchte ich (…) zurzeit nicht definitiv lösen: Wie weit soll das Mitleid und der Erhalt der Schwachen gehen, wo diese Bedürfnisse mit anderen im Widerspruche sind. (…) Es gibt Situationen, in denen die Betätigung des Mitleids für die Gesamtheit lebensbehindernd wird; man denke an alle die Kranken und Schwachen, die eine auslesehindernde Fürsorge erhält, oft zum eigenen Leid des Kranken und noch mehr zu dem der Nachkommen.“ Eindeutiger äußerte er sich 15 Jahre später, ebenfalls ohne Binding & Hoche zu erwähnen: „Eine nicht so einfach zu beantwortende Frage ist die, ob es erlaubt sein sollte, objektiv ‚lebensunwertes Leben’ Anderer zu vernichten, ohne den ausdrücklichen Wunsch des Trägers. Ich selbst würde diese Frage ohne weiteres bejahen für die Fälle, wo der Leidende nicht imstande 267 In den dann folgenden drei Auflagen wird das Thema in einem Abschnitt „Eugenische Prophylaxe“, verfasst von Hans Luxemburger, auf den nachstehend noch einzugehen ist, abgehandelt.
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ist, selber zu verfügen, namentlich, wo es sich nur darum handelt, einen ohnehin sicheren Tod schmerzlos zu gestalten (Euthanasie, Sterbelinderung). Auch bei unheilbar Geisteskranken, die unter Halluzinationen und melancholischen Depressionen schwer leiden und nicht handlungsfähig sind, würde ich einem ärztlichen Kollegium das Recht und in schweren Fällen die Pflicht zuschreiben, die Leiden abzukürzen – oft für viele Jahre. Nicht einverstanden aber bin ich damit, ‚lebensunwertes Leben’ schon zu finden bei Idioten, die nicht leiden, vielmehr oft dankbare Objekte der Pflege sind“ (Bleuler 1936: 206).
Eindeutig sind auch Bleulers Aussagen zum Umgang mit Verbrechern. Die Anlage zur Kriminalität hielt er, wie im Kapitel über moralische Oligophrenie gezeigt, für angeboren. „Das Einfachste und Sicherste wäre ja, alle rückfälligen Verbrecher umzubringen. Niemand wird das wollen. Immerhin halte ich die definitive Beseitigung des Verbrechers nicht für die höchste Strafe; eine lebenslängliche Zellenhaft ist schlimmer. Aber ich verstehe nicht, warum man nicht dabei Mittel anwenden soll, die durch den narkotischen Schlaf unmerklich in den ewigen hinüberführen“ (a. a. O.: 203).
Unklar bleibt, wieso die vorgeschlagene Tötungsmethode Einschläfern etwas anderes ist als Umbringen. Bis zur letzten von ihm herausgegebenen, 6. Auflage seines Lehrbuches betonte Bleuler mit Nachdruck, „daß es in Bezug auf die Erbkrankheiten keine andere Prophylaxe gibt als die Sterilisation der Träger abnormer Erbmassen. Teils aus doktrinären, teils aus gefühlsmäßigen Gründen wagte man, abgesehen von vorsichtigen Anfängen in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten, nirgends, die Theorie in die Praxis umzusetzen, bis im Deutschen Reich ein ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’ in Kraft trat“ (Bleuler 1939: 122),
das er für richtungweisend hielt. Der 6. Auflage fügte er dem Kapitel über die Behandlung der Geisteskrankheiten noch einen Anhang unter dem Titel „Eugenische Prophylaxe“ hinzu.268 Autor war nicht er selbst, sondern, wie schon erwähnt, der deutsche Rassenhygieniker und Schizophrenieforscher Hans Luxenburger, in Bleulers Augen ein ausgewiesener Experte in diesem Fragen. Der Anhang enthält zwei Kapitel. Das erste trägt die Überschrift „Psychiatrische Erblehre“. Nach einem allgemeinen Überblick, wie und unter welchen Umständen sich Krankheiten vererben können und welche Erbgänge es gibt, folgt eine spezielle psychiatrische Erblehre, in der die Erblichkeit der einzelnen Geisteskrankheiten abgeschätzt wird. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der „Psychiatrischen Erbgesundheitspflege“, welche „ein Zweig, und zwar der wichtigste Zweig der Erbgesundheitspflege (ist). Diese bildet mit der Rassenpflege zusammen die Erbpflege“ (Luxenburger 1937: 170), wobei Erbpflege der deutsche Begriff für Eugenik ist. „Aufgabe der Erbgesundheitspflege ist: 1. Das gesunde Erbgut im Volke zu schützen und den kommenden Geschlechterfolgen zu erhalten. 2. Das kranke Erbgut von der Nachkommenschaft fernzuhalten. Ihre Mittel sind planmäßige Auslese (Schutz der Erbgesunden und Förderung der Erbtüchtigen) auf der einen, Ausmerze (Ausschluß der Erbkranken und anderer Belasteter von der Fortpflanzung) auf der anderen Seite“ (ebd.),
268 Der Anhang ist mit ca. 35 Seiten mehr als viermal so umfangreich wie das restliche Kapitel.
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wobei es in der psychiatrischen Erbgesundheitspflege insbesondere um die Ausmerze geht, die vor allem die folgenden Maßnahmen umfasst: „Versorgung der Erbkranken in einer Form, die ihre Fortpflanzung unmöglich macht, Eheberatung nach den Grundsätzen der Erbgesundheitspflege, Eheverbote für solche Belastete, die in erster Linie geeignet sind, Anlagen zu schweren erblichen Leiden weiterzugeben, Unfruchtbarmachung von Erbkranken, Abbruch von Schwangerschaften aus Gründen der Erbgesundheitspflege. Absonderung von Anlageverbrechern und anderen asozialen und antisozialen Abnormen“ (a. a. O.: 170 f.).
Wie dies vor allem in Deutschland auf der Grundlage der von Bleuler schon genannten und hoch gelobten Rechtslage praktisch umzusetzen ist, ist Gegenstand der weiteren Ausführungen. Der Beitrag von Luxenburger fand unverändert Eingang auch in die erste von Manfred Bleuler herausgegebene 7. Auflage (1943). In der 8. Auflage (1949) finden sich nur noch die Ausführungen über die allgemeine psychiatrische Erblehre. Auch wurde die Forderung nach Sterilisation der Erbkranken gestrichen. Stattdessen findet sich die Bemerkung: „Es wäre (…) eine Täuschung, die Ausrottung der konstitutionellen Krankheiten von eugenischen Maßnahmen zu erhoffen“ (Bleuler 1949: 138). In der 9. Auflage fehlt Luxenburgers Anhang ganz. Bleuler (1955: V) erläuterte dies: „Die Erbpathologie, die in einigen Auflagen von H. Luxenburger getrennt von den übrigen Ausführungen behandelt worden war, war wieder mehr als früher in die allgemeine Psychiatrie einzuflechten. (…) Dabei konnte den früheren Ausführungen Luxenburgers Wesentliches entnommen werden.“
In der 10. Auflage heißt es schließlich: „Heute fühlt man sich in der Annahme nicht mehr so sicher, daß familiär gehäufte Geistesstörungen immer vererbte Geistesstörungen wären“ (Bleuler 1966: 140). Die hier zitierten Autoren waren keineswegs Außenseiter, sondern international anerkannte Vertreter des Mainstreams ihrer Disziplin. Nahezu alle Fachvertreter der Psychiatrie seit Kraepelin, zum Teil auch früher, hielten bis in die 1950er, 1960er Jahre eugenische Maßnahmen im Zusammenhang mit Menschen, von denen sie annahmen, dass sie an einer erblichen Geisteskrankheit litten, für fachlich dringend geboten. Wie wir schon im Zusammenhang mit unseren Ausführungen über Sozialdarwinismus und Rassenkunde herausgestellt haben, gilt auch hier, dass die aus den dargelegten wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleiteten politischen Forderungen keineswegs der nationalsozialistischen Ideologie entsprangen, sondern der nahezu unumstrittenen Lehrmeinung der seinerzeitigen einschlägigen Wissenschaften entsprachen. Wenn also Tölle ab der 9. Auflage seines Lehrbuches (1991: 12) und später Tölle & Windgassen (2003, 2006, 2009: jeweils 9) behaupten, „daß die psychiatrische Erbforschung durch den Missbrauch im nationalsozialistischen Deutschland schwer belastet wurde“, stellt das die Tatsachen geradezu auf den Kopf. „Die Psychiatrie wurde von den Nazis nicht mißbraucht, sie brauchte die Nazis“ (Klee 2001: 78), um ihre längst vor 1933 auch außerhalb von Deutschland begonnenen Forschungen weiterzuführen und die daraus mit wissenschaftlicher Autorität schon von Kraepelin und Bleuler durchaus folgerichtig aus ihrem biologistischen Krankheitsverständnis abgeleiteten eugenischen und rassenhygienischen Schlussfolgerungen in die Praxis umzusetzen. Hinzu kommt, dass Persönlichkeiten wie Eugen und Manfred Bleuler vom deutschen Nazi-Regime überhaupt nicht missbraucht werden konnten. Sie lebten und forschten zeitlebens in der politisch neutralen Schweiz. Wenn heute bei der Würdigung des Lebenswerkes von Eugen
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Bleuler von „Zeitgeistverirrungen“ die Rede ist und von einer „heute düster stimmenden Verirrung, die der Zeit entsprach“ (Hell & Scharfetter 2006: 53), so ist das eine gefährliche Verharmlosung und zeigt, dass die Autoren sich immer noch nicht mit den ideologiegeschichtlichen Wurzeln der theoretischen Grundlagen ihren Faches und den daraus abgeleiteten Konsequenzen auseinandergesetzt haben. Bleulers eugenische Überlegungen stehen jedoch in keinerlei Widerspruch zu seinem sonstigen Werk. Sie sind vielmehr integraler Bestandteil seiner Lehre und die folgerichtige und logische Konsequenz aus dem wissenschaftlichen Glauben daran, dass Geisteskrankheiten größtenteils vererbbare Krankheiten organischen Ursprungs sind. Dazu kommt, dass Zeitgeist ja nicht quasi naturwüchsig entsteht und über die zeitgenössischen wissenschaftlichen Eliten, zu denen Bleuler und andere hier zitierte Autoren zweifelsohne gehörten, schicksalhaft hereinbricht. Er wird von diesen vielmehr mindestens ebenso geprägt, wie sie davon geprägt werden.269 Eugenische Gesetze gab es keineswegs nur in Deutschland. In Dänemark existierte ein solches Gesetz schon seit 1929, in Schweden trat es 1935 in Kraft. Aufgehoben wurden diese Gesetze erst 1967 in Dänemark und 1975 in Schweden. In den USA wurde erstmals 1907 im Staat Indiana ein Sterilisationsgesetz in Kraft gesetzt. Die meisten anderen Bundesstaaten zogen in den folgenden Jahren nach. Eugenische Anschauungen prägten weltweit die einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen. In manchen Ländern gelang ihnen auch die Durchsetzung entsprechender politischer Maßnahmen. Auch für die Heilpädagogik, von der im Folgenden noch die Rede sein wird, wurde Eugenik spätestens seit den 1930er Jahren eine zunehmende Herausforderung. „Die Heilpädagogik darf nicht blind sein für die Tatsache, dass die Versorgung Geschädigter nicht so weit getrieben werden darf, daß dadurch wertvollen Gliedern des gesunden Volkskörpers die wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit stark eingeschränkt wird. Paläste für Irre und daneben elende Hütten für Gesunde sind nicht zu verantworten. (…) Der Wohlfahrtsstaat in dieser Form kann nicht die Lösung sein. Sie muß vielmehr heißen: Rechtsstaat mit stark sozialem Einschlage, denn das erst macht den Rechtsstaat zum Kulturstaate, zu dem Staate, der die Rasse nicht um der Rasse willen erstrebt, sondern um des wertvollen Menschentums, das in dieser Rasse steckt“ (Lesemann 1933: 152 f.). „Sie [die Eugenik] kann oftmals, wo die Heilpädagogik aus sich allein den Schaden und die Schwere der kranken Erbmasse nicht endgültig festzustellen vermag, durch Aufdeckung des erbgesetzlichen Tatbestandes der Heilpädagogik Handreichungen tun (…). Sie kann (…) durch Erbforschung und durch Aufhellung des Erbganges warnen, die Zielrichtung der Arbeit und die Steckung der Ziele falsch zu sehen, etwa da Bildung erstreben zu wollen, wo es sich höchstens um Gewöhnung, vielleicht sogar nur um Pflege handeln kann. Und die Heilpädagogik wird künftig eines stärker tun müssen als bislang, sie wird bei der Frage der Asylierung mehr als bisher neben den Gedanken der Pflege, der Versorgung der Betroffenen stellen müssen den Gedanken der Wirkung als Erbträger. Und sie wird unter diesem Gesichtspunkt in einigen Fällen auch dann noch einen Erbkranken asylieren müssen, weil er erbkrank ist, wenn sie ihn aus bloßen erzieherischen und pflegerischen Gesichtspunkten heraus in Freiheit setzen würde“ (a. a. O.: 153). 269 Dieser Hinweis soll keineswegs als Ausdruck moralischer Überheblichkeit verstanden werden. Niemand von uns weiß, welche Positionen er oder sie seinerzeit vertreten hätte, „denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein“ (Tucholsky 1921: 58). Anliegen dieses Bandes ist es aber gerade, zu zeigen, in welch engem wechselseitigen Verhältnis Zeitgeist und wissenschaftlicher Mainstream stehen und wie wichtig es ist, sich stets auch und gerade mit dem jeweils herrschenden Mainstream kritisch auseinanderzusetzen, scheinbar selbstverständliche Tatsachen und wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse immer wieder kritisch zu hinterfragen, genau um Entwicklungen, wie hier dokumentiert, entgegenzuwirken.
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Heilpädagogik und Eugenik wollen beide die – so wörtlich – „Aufartung“ des deutschen Volkskörpers. „Sie wollen beide der Menschheit helfen; die Eugeniker mehr im Sinne des Geistes des Alten Testaments, die Heilpädagogen mehr im Sinne des Neuen Testaments“ (ebd.), was immer damit gemeint sein mag. Nach Inkrafttreten des Sterilisierungsgesetzes „gibt (es) viele Hilfsschullehrer, die sich eifrigst an der Sterilisierungskampagne beteiligen und den Erbgesundheitsgerichten Belastungsmaterial andienen, so daß die Hilfsschule bald in den Verruf einer ‚Eunuchen-Anstalt’ geraten wird. (…) Es gibt jedoch auch Lehrer, die ihre Schüler vor einer Sterilisierung bewahren wollen und mit ihnen die Prüfungsfragen pauken“ (Klee 1985a: 46).
Auch die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände waren, wie gezeigt, im Grundsatz, wenngleich mit unterschiedlichen Akzentuierungen, von der Notwendigkeit eugenischer Maßnahmen überzeugt. Zwar gab es sowohl in der katholischen als auch in den evangelischen Kirchen Einzelpersonen, die der NS-Herrschaft kritisch gegenüberstanden, vereinzelt auch Widerstand leisteten, die Kirchen als Institutionen hingegen haben hervorragend mit dem Regime kooperiert. Der politische Katholizismus stand dem neuen Regime anfangs durchaus skeptisch gegenüber, doch unterzeichneten am 20. Juli 1933 Eugen Kardinal Pacelli, der nach 1939 bekanntlich als Pius XII. selbst das Pontifikat übernahm, damals noch im Namen Seiner Heiligkeit Papst Pius XI. für den Vatikan und Franz von Papen, Vizekanzler des faschistischen Deutschlands und oberster Reichsleiter der „Arbeitsgemeinschaft Katholischer Deutscher“, für Hitlerdeutschland in der Vatikanstadt feierlich das sogenannte Reichskonkordat. Darin ließ sich die katholische Kirche nicht nur ihre bisherigen Privilegien vertraglich bestätigen. Sie konnte sie sogar noch erheblich erweitern. Im Gegenzug sicherte sich Hitler auf diesem Wege die außenpolitische Anerkennung seines Regimes durch den Vatikan, durch die er zum einen international hoffähig wurde,270 zum anderen innenpolitisch die Loyalität des vom Zentrum repräsentierten politischen Katholizismus, der nun seine Zurückhaltung gegenüber den neuen Machthabern aufgeben musste.271 Sterilisation und Eheverbote wurden von Vertretern der katholischen Wohlfahrtspflege allerdings unter Berufung auf die schon in den Ausführungen zur Eugenik erwähnte Enzyklika „Casti connubii“ von Papst Pius XI. vom 31. Dezember 1930 weitestgehend abgelehnt. Der deutsche Protestantismus, politisch stark deutsch-national orientiert, begrüßte hingegen fast einhellig den Machtwechsel in Deutschland auch und gerade im Hinblick auf die eugenisch und rassenhygienische Ausrichtung der Sozialpolitik. Bereits zwei Jahre vor Beginn der NS-Herrschaft hatte der Centralausschuß der Inneren Mission eine Fachkonfe270 „Durch die Unterzeichnung des Reichskonkordats ist der Nationalsozialismus in Deutschland von der katholischen Kirche in der denkbar feierlichsten Weise anerkannt worden. Die jahrelange Hetze, die gegen die angebliche Religionsfeindlichkeit der NSDAP getrieben wurde, ist nunmehr von kirchlicher Seite widerlegt worden. Diese Tatsache bedeutet eine ungeheure moralische Stärkung der nationalsozialistischen Reichsregierung und ihres Ansehens.“ So der Völkische Beobachter, das Parteiorgan der NSDAP, Nr. 205 vom 24.07.1933 (zit nach Klee 1989: 106). 271 Dieses Reichskonkordat ist der einzige heute noch gültige internationale Vertrag des nationalsozialistischen Deutschlands und zugleich der einzige noch gültige Kirchenvertrag, den der Vatikan mit einem faschistischen Staat in Europa geschlossen hat. Längst haben Italien und Spanien die Kirchenverträge, die der Vatikan auch dort mit den faschistischen Machthabern geschlossen hat, gekündigt. In Deutschland hingegen hält man bis heute unbeirrt an dieser faschistischen Erblast fest. Explizit wird der Fortbestand des Reichskonkordats noch in den 1990er Jahren in allen Staatskirchenverträgen, die die neuen Bundesländer mit der katholischen Kirche geschlossen haben, anerkannt.
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renz „Eugenik und Wohlfahrtspflege“ gebildet, die am 20. Mai 1931 die sogenannte Treysaer Erklärung abgegeben hat, in der eine eugenische Ausrichtung der Wohlfahrtspflege ausdrücklich gefordert, die Liquidierung vermeintlich lebensunwerter Menschen jedoch abgelehnt wird. „Mit Nachdruck ist darauf hinzuweisen, dass erbbiologische Gesundheit nicht mit ‚Hochwertigkeit’ identisch ist. Die Erfahrung aller Zeiten lehrt vielmehr, dass auch körperlich und geistig Gebrechliche ethisch und sozial hochwertige Menschen sein können. Die Strukturwandlungen innerhalb unseres Bevölkerungsaufbaues und die quantitative wie qualitative Änderung der Bevölkerungsvermehrung, die vor allem in der Schrumpfung der durchschnittlichen Familiengröße bei den Gruppen der erbbiologisch und sozial Tüchtigen und Leistungsfähigen zum Ausdruck kommt, lassen aber eine eugenische Neuorientierung unserer öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege dringend erforderlich erscheinen. An die Stelle einer unterschiedlosen Wohlfahrtspflege hat eine differenzierte Fürsorge zu treten. Erhebliche Aufwendungen sollten nur für solche Gruppen Fürsorgebedürftiger gemacht werden, die voraussichtlich ihre volle Leistungsfähigkeit wieder erlangen. Für alle übrigen sind dagegen die wohlfahrtspflegerischen Leistungen auf menschenwürdige Versorgung und Bewahrung zu begrenzen. Träger erblicher Anlagen, die Ursache sozialer Minderwertigkeit und Fürsorgebedürftigkeit sind, sollten tunlichst von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden“ (zit. nach Klee 1985b: 46 f.). „Die Konferenz ist einmütig der Auffassung, daß die neuerdings erhobene Forderung auf Freigabe der Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens mit allem Nachdruck sowohl vom religiösen als auch vom volkserzieherischen Standpunkt abzulehnen ist“ (a. a. O.: 47).
Stolz weisen die versammelten Kirchenvertreter darauf hin, dass „unsere Anstalten für die Gesamtheit des Volkes in der Asylierung (…) eine hohe eugenische Aufgabe“ (a. a. O.: 48) erfüllen. Dem sind jedoch Grenzen gesetzt. „Unter dem Einfluß der Weltwirtschaftskrise hat aber der Begriff der Pflegebedürftigkeit eine verhängnisvolle Einschränkung erfahren. Heute ist schon häufig nicht mehr die Schwere des Falles entscheidend, sondern ausschließlich die Kostenfrage. Das Unterbleiben der Einweisung erblich schwer belasteter Personen ist ebenso bedenklich wie die immer häufiger werdende Forderung auf Entlassung Bewahrungsbedürftiger. (…) Die Möglichkeit der Asylierung ist in Übereinstimmung mit den Forderungen der Eugenik verstärkt in Anspruch zu nehmen und durch Verabschiedung des Bewahrungsgesetzes zu ergänzen“ (ebd.).
„Die Unfruchtbarmachung erblich Schwerbelasteter“ (ebd.) wird vor diesem Hintergrund ausdrücklich befürwortet und theologisch begründet. „Gott gab dem Menschen Seele wie Leib, er gab ihm die Verantwortung für beides – aber nicht ein Recht, nach freiem Belieben damit zu schalten. Scharf ist deshalb die häufige mißbräuchliche Vornahme sterilisierender Eingriffe zu geißeln, die als Maßnahme der Geburtenregelung egoistischen Beweggründen entspringt. Dennoch fordert das Evangelium nicht die unbedingte Unversehrtheit des Leibes. Führen seine von Gott gegebenen Funktionen zum Bösen oder zur Zerstörung seines Reiches, so besteht nicht nur ein Recht, sondern eine sittliche Pflicht zur Sterilisierung aus Nächstenliebe und der Verantwortung, die uns nicht nur für die gewordene, sondern auch für nachkommende Generationen auferlegt ist“ (a. a. O.: 48 f.).
Von Juli bis Oktober 1933 erweiterte der Landesverband der Inneren Mission SchleswigHolstein seine Angebotspalette im Bereich der stationären Einrichtungen und wandelte die ehemalige Arbeiterkolonie Rickling-Kuhlen in ein Konzentrationslager zur Internierung
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sogenannte Asozialer sowie Gegner des NS-Regimes um. Die Kostensätze wurden vom Regierungspräsidium Schleswig getragen. Insgesamt 189 Menschen wurden in den vier Monaten des Bestehens dieser Einrichtung dort im Auftrag und auf Kosten des Regimes unter diakonischer Ägide eingesperrt, misshandelt, gefoltert und durch kirchliche Zwangsarbeit ausgebeutet (hierzu Jenner 1988; Klee 1989: 61 ff.). Auf dem 9. Diakonentag, der 1933 anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Rauen Hauses in Hamburg abgehalten wurde, begrüßte der spätere Direktor des Centralausschusses der Inneren Mission Horst Schirmacher (1892-1956) die dort versammelte Diakonenschaft „als die SA Jesu Christi und die SS der Kirche“ (zit. nach Klee 1989: 57) und forderte sie auf: „Bemüht Euch, in ein kameradschaftliches Verhältnis zur SA, SS und so weiter zu kommen. Volksmission in diesen herrlichen Bewegungen und Organisationen kann man nur auf kameradschaftlicher Grundlage betreiben. Die Seele des SA-Mannes versteht nur der SA-Mann selbst. Ich wünsche, daß unsere jungen Brüder in den Diakonenanstalten sämtlich SA-Männer werden. Der alte Bodelschwingh hat für die Diakonie die Ausbildung mit der blauen Schürze verlangt. Das soll auch bleiben. Aber zu der blauen Schürze gehört das braune Hemd“ (a. a. O.: 59).
Nach der Befreiung Deutschlands waren „nicht irgendwelche Nazi-Hilfswerke“, sondern „die deutschen Kirchen (…) die effektivsten Helfer von NS-Verbrechern“ (Klee 1991: 7). Sie unterstützten sie insbesondere bei der Flucht z. B. in Länder Lateinamerikas, in denen sie vor der Strafverfolgung der Alliierten und später der deutschen Justiz sicher waren. Höchste kirchliche Stellen und Amtsträger stellten dabei auch Massenmördern Empfehlungsschreiben aus, gewährten ihnen Unterschlupf oder besorgten ihnen gefälschte Personaldokumente (hierzu ausführlich Klee 1991). Dem Heiligen Stuhl kam dabei nicht zuletzt zu Gute, dass ihm 1929 die faschistischen Machthaber in Italien die volle territoriale Souveränität über seinen Amtssitz verliehen und die Begründung eines eigenen und bis heute in absoluter Monarchie durch den Pontifex regierten Kirchenstaates ermöglicht haben. 6.2 Exkurs: Der wissenschaftliche Wert „lebensunwerter“ Menschen In dem Maße, wie den für minderwertig gehaltenen Menschen ihr Lebenswert abgesprochen wurde, stieg ihr Wert für einschlägige biologische und medizinische Forschungen, dies in Deutschland besonders nach 1939, denn dort beschränkte sich eugenische Ausmerze, wie Luxenburger es nennt, bekanntlich nicht nur auf Zwangssterilisationen. Seit 1939 kam es aufgrund eines Erlasses von Adolf Hitler unter dem Tarnnamen T 4, benannt nach dem Sitz der Aktion in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, zum massenhaften, durchrationalisierten und industriemäßig durchgeführten „therapeutischen Töten“ (Dörner u. a. 2009: 488) von psychisch Kranken und Behinderten – durchweg unter ärztlicher Leitung, so war es vorgeschrieben (vgl. Klee 1986: 95) – in eigens dafür umgerüsteten Tötungsanstalten, das mindestens 100 000 Menschen (vermutlich mehr als doppelt so viele) Opfer forderte, ob als Testlauf für die später beginnende Ermordung der Juden (vgl. Klee 1985a: 370 f.), sei hier dahingestellt. Es sei an dieser Stelle auch nicht weiter auf Details dieser Mordaktionen eingegangen (hierzu ausführlich: Klee 1985a, 1997). Erwähnt sei jedoch, dass Euthanasieopfer, über deren massenweise Ermordung schon berichtet wurde, ebenso wie die Juden, nicht nur umgebracht, sondern soweit möglich, vor ihrer Ermordung als kostenlose Arbeitskräfte eingesetzt, vielfach auch für die Durchführung medizinischer Experimente und hirnpathologischer Forschungen benutzt wurden.
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„Die Machthaber des Dritten Reiches boten Medizinern etwas unerhört Verlockendes, in der Welt bis dahin Einmaliges: Statt Meerschweinchen, Laborratten und Versuchskaninchen können sie Menschen massenhaft zu Versuchszwecken benutzen. (…) Die menschlichen Versuchsobjekte werden als rassisch, sozial oder ökonomisch minderwertig abqualifiziert, ihr ‚Verbrauch’ für die Forschung als nützlich für die Gesundheit kommender Generationen gerechtfertigt. (…) Die Medizin während der Nazi-Zeit unterscheidet sich von der Medizin vorher und nachher nur in einem: Forscher dürfen alles, was sie wollen“ (Klee 1997: 9).
Der medizinischen Forschung diente vor allem, aber nicht nur, die sogenannte Kindereuthanasie, die 1939 bereits vor der Erwachseneneuthanasie ihren Anfang nahm, unabhängig von dieser organisiert war und ohne Unterbrechungen bis zur Befreiung Deutschlands durchgeführt wurde. Ihr fielen mehr als 5 000 Kinder und Jugendliche zum Opfer. Anders als bei der Erwachseneneuthanasie, deren Zweck vor allem die industriemäßig durchgeführten Massentötungen für lebensunwert gehaltener Menschen war, diente die von einer Tarnorganisation der Kanzlei des Führers unter dem Namen „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ koordinierte Kindereuthanasie primär dem Zweck der Durchführung wissenschaftlicher Experimente an den lebenden Kindern sowie der Ausschlachtung vor allem der Gehirne der Opfer nach ihrer Ermordung für weitergehende Forschungen. Zu ihrer Durchführung wurden an mindestens 31 Standorten (vgl. Benzenhöfer 2008: 87 ff.) in bereits bestehenden psychiatrischen Anstalten sogenannte Kinderfachabteilungen eingerichtet. Eine solche Kinderfachabteilung entstand ca. zwei Jahre nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1940 auch auf dem Gelände der psychiatrischen Anstalt in Wien „Am Steinhof“ als Teil der dort ansässigen Jugendfürsorgeeinrichtung „Am Spiegelgrund“. Der Anstaltsleitung unmittelbar unterstellter Leiter wurde der Arzt Heinrich Gross (1915-2005), unter dessen Ägide zwischen 1940 und 1945 im Spiegelgrund zwischen 700 und 800 Kindern ermordet wurden, nachdem sie zuvor als menschliche Versuchskaninchen für wissenschaftliche Experimente dienten. Von dem Kinderarzt Elmar Türck wurden z. B. Impfexperimente durchgeführt, „wobei in mehreren Versuchsreihen die Wirksamkeit des BCG-Impfstoffs gegenüber Tuberkuloseinfektionen getestet werden sollte. Der Tod der Versuchspersonen als unmittelbare Folge der Versuchsanordnung oder als nachfolgende wissenschaftliche Verwertung eines Sektionsergebnisses wurde dabei bewusst impliziert“ (Oelschläger 2003: 1039).
An vielen Kindern wurden auch sogenannte Pneumenzephalographien durchgeführt. Hierbei wurde Liquor im Gehirn durch Luft ersetzt, um anschließend aussagefähige konventionelle Röntgenaufnahmen des Gehirns zu fertigen. Vor der Einführung der Computertomographie war dies die einzige Möglichkeit zur bildgebenden Hirndiagnostik an lebenden Menschen. Dieses schmerzhafte und nicht ungefährliche Verfahren, das nicht nur in Wien, sondern auch an anderen Kinderfachabteilungen durchgeführt wurde, erfolgte allerdings nicht zur Gewinnung therapeutisch relevanter Informationen, sondern ausschließlich zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse.272 Oftmals wurden sie „später auch durch 272 Solche allein zu Forschungszwecken durchgeführten Pneumenzephalographien wurden in den 1940er Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern an behinderten Kindern durchgeführt. In einem Beitrag unter dem Titel „Wiederholte Encephalogrammstudien bei ein und demselben Kinde“ berichten die beiden Mediziner Bertil Hamne und Sonie Jonsell (1943) vom Sachsschen Kinderkrankenhaus in Stockholm von solchen Untersuchungen an vier behinderten Kindern, die bis zu vier Male hintereinander innerhalb von einem Monat dieser Prozedur unterzogen wurden. Ausdrücklich betonen sie, dass sich ein solcher Eingriff
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Pneumenzephalographien von über 1000 cm3 Luft getötet (so in der Kinderabteilung der Nervenklinik Berlin-Wittenau)“ (Peiffer 1998: 732). Sofern die Opfer nicht während solcher und
anderer Experimente zu Tode kamen oder gezielt ermordet wurden, erfolgte ihre Ermordung, sobald sie nicht mehr von weiterem wissenschaftlichen Interesse waren, in der Regel durch die gezielte Herbeiführung eines scheinbar natürlichen Todes durch regelmäßige und systematisch durchgeführte Injektionen hochdosierter Beruhigungsmittel, Nahrungsentzug sowie Unterbringung in unzureichend geheizten Räumen, bis sie schließlich qualvoll an Todesursachen wie Lungen- oder Rippenfellentzündungen, Grippe, TBC, Herzversagen oder Darmentzündung, die dann nicht selten von den Mördern selbst im Totenschein vermerkt wurden, verstarben. Nach ihrem Tod wurde den Opfern in der Prosektur der Anstalt unter der Leitung der Pathologin Barbara Uiberrak, geb. Petrik (1902-1979) Gehirn und Rückenmarkstränge entnommen, um sie zu präparieren und zu konservieren. So entstand im Laufe der Jahre in Spiegelgrund eine umfangreiche, ca. 800 Präparate umfassende Sammlung für hirnpathologische Forschungszwecke. Auch in Deutschland wurden solche Sammlungen angelegt, unter anderem auf Initiative des Hirnforschers Julius Hallervorden (1882-1965) und unter Beteiligung des Neuropathologen Hugo Spatz (1888-1969) am Kaiser-Wilhelm-Institut Berlin-Buch.273 Spatz war seit 1937 Leiter des Instituts, Hallervorden der histopathologischen Abteilung. Beide arbeiteten schon seit längerer Zeit zusammen. 1922 beschrieben sie gemeinsam eine neurodegenerative Erkrankung, die seither bis heute als Hallervorden-Spatz-Erkrankung bezeichnet wird (vgl. Pschyrembel 2010: 818). Die deutschen Sammlungen bezogen ihre Präparate nicht nur aus Kinderfachabteilungen, sondern auch aus anderen Tötungsanstalten, Hallervorden und Spatz vor allem aus der Anstalt Brandenburg-Görden. Anders als im Spiegelgrund waren die an der Auswertung der Präparate beteiligten Wissenschaftler nur sporadisch unmittelbar bei der Ermordung der Opfer beteiligt. Eine direkte Beteiligung konnte ihnen in der Regel nach dem Krieg deswegen nicht nachgewiesen werden, sodass sie in der Regel juristisch nicht belangt wurden. Auch die Morde in Spiegelgrund blieben überwiegend ohne juristische Konsequenzen. Zwar wurde der Leiter des Spiegelgrunds und unmittelbare Vorgesetzte von Gross, Ernst an nicht behinderten Kindern selbstverständlich verbietet. „Wegen der Art des Eingriffes ist es auch nicht möglich, ein Normalmaterial von vollkommen gesunden Kindern zu erhalten“ (a. a. O.: 336). Bei Behinderten war die Hemmschwelle, sie als Versuchskaninchen zu gebrauchen, jedoch offensichtlich auch außerhalb Deutschlands so weit herabgesetzt, dass man die Risiken des Eingriffs öffentlich für vertretbar hielt. Zum Leidwesen der Wissenschaftler sind behinderte Kinder knapp, deswegen müssen die wenigen, die zur Verfügung stehen, eben mehrmals benutzt werden. „Das Material ist begrenzt, da nur Kinder ausgewählt werden können, deren allgemeine Prognose so schlecht ist, daß man auf eventuelle unbekannte Gefahren der wissenschaftlichen Encephalographie nicht Rücksicht nehmen muß“ (a. a. O.: 337). 273 Die Sammlung wurde kurz vor Kriegsende angesichts der drohenden Befreiung Deutschlands durch die sowjetische Armee zunächst ins hessische Dillenburg verbracht und später in das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Gießen als Nachfolgeinstitution des KWI in Berlin-Buch, wo Hallervorden nunmehr bis zu seiner Emeritierung 1955 Abteilungsleiter wurde, integriert. Obwohl allgemein bekannt war, wie eng Hallervordens Forschung in die Massentötung von Behinderten verstrickt war und von ihr profitierte – 1954 drohten Wissenschaftler aus skandinavischen Ländern, den Niederlanden und den USA einen internationalen Kongress von Neuropathologen zu boykottieren, falls dort, wie geplant, Hallervorden und Spatz die Gelegenheit erhielten, vorzutragen –, wurde er bis zu seinem Tod hoch anerkannt. „Er war Ehrenmitglied der Oberhessischen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde zu Gießen, der Vereinigung Deutscher Neuropathologen und Neuroanatomen und Mitglied der Naturwissenschaftlichen Akademie ‚Leopoldina’ in Halle, erhielt die Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät Gießen und wurde mit dem großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet“ (Ule 1965: 167).
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Illing (1904-1946), wegen erwiesener Beteiligung am Mord in mindestens 200 Fällen zum Tode verurteilt und im November 1946 auch hingerichtet. Gross hingegen entging diesem Schicksal. Er war bis 1947 in russischer Kriegsgefangenschaft und somit in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor Strafverfolgungen geschützt. Zwar wurde er 1950, allerdings „nur“ wegen Totschlags, nicht wegen Mordes, angeklagt und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Doch schon zu dieser Zeit wurden in Österreich, wie in Deutschland, anders als unmittelbar nach der Befreiung 1945, die NS-Verbrechen bereits weitgehend bagatellisiert und nur noch sehr zurückhaltend verfolgt. So wurde auch im Falle Gross das Urteil 1951 in zweiter Instanz wieder aufgehoben. Gross wurde zwar nicht freigesprochen, doch das Verfahren wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft eingestellt. 1955 wurde er, nachdem er seine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie beendet hatte, erneut verbeamteter Arzt am Spiegelgrund. Bereits 1951 war er dem Fachverband „Sozialistische Ärztevereinigung Österreichs“ (BSA) und 1953 der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) beigetreten, was seiner weiteren Karriere sehr förderlich war. 1962 wurde er Primarius274 der Anstalt „Am Steinhof“. Nach dem Krieg wurden die Forschungen, die durch die Morde an Behinderten ermöglicht wurden, keineswegs eingestellt, sie traten vielmehr in eine neue Phase und erreichten in den 1950er und 1960er Jahren einen neuen Höhepunkt. Während bis zur Befreiung Deutschlands im Mittelpunkt der Forschungen vor allem die Experimente an lebenden Menschen standen, für die es ja genug „Nachschub“ gab, und außerdem die Sammlungen der Gehirnpräparate im Wesentlichen aufgebaut wurden, erfolgte die systematische wissenschaftliche Auswertung der Präparate erst nach dem Krieg, in Wien sogar durch die Mörder selbst. Heinrich Gross und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entfalteten mit Beginn der 1950er Jahre eine rege Publikationstätigkeit, in der sie stolz ihre Gehirne zur Schau stellten (Abb. 8) „und an Hand eines eigenen, verhältnismäßig großen Sektionsmaterials“ (Gross 1957: 365) verschiedene Hirnerkrankungen beschrieben und dokumentierten. Die ausgeschlachteten und in Formaldehyd eingelegten sterblichen Überreste dieser lebensunwerten Menschen wurden jetzt, da der Nachschub ausblieb, für die Wissenschaften so richtig wertvoll. In mehreren Beiträgen platzierten Gross und sein Team ungeniert Fotos sowohl der noch lebenden Kinder als auch der wahrscheinlich nach ihrer Ermordung angefertigten Gehirne und Hirnschnitte (z. B. Abb. 9 und 10; Gross 1959: 543-545) und äußerten sich immer wieder stolz über den Seltenheitswert ihrer Präparate.
274 Das entspricht der Stellung eines Chefarztes in Deutschland.
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Abb. 8. (aus: Gross 1957: 371) Abb. 9. (aus: Gross & Uiberrak Abb. 10. (aus: Gross & Uiberrak 1955: 580275) 1955: 581)
Zur Optimierung dieser mordgestützten Forschungen richtete die 1960 gegründete österreichische Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft auf dem Gelände des Spiegelgrunds 1968 ein Ludwig-Boltzmann-Institut zur Erforschung der Mißbildungen des Nervensystems ein, in welches Gross’ Präparatesammlung integriert wurde. Gross wurde zum Leiter bestellt und konnte fortan als Primarius und Institutsleiter seine Forschungen unbehelligt bis Ende der 1970er Jahre fortsetzen. Er hat sich allerdings niemals habilitiert und wurde auch nie auf eine Professur berufen. Immerhin wurde ihm 1975 für seine aus heutiger Sicht zweifelhaften Verdienste das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst der ersten Klasse verliehen. 1979 begann der Stern des Dr. Gross zu sinken, nachdem ihn der Wiener Arzt und Menschenrechtsaktivist Werner Vogt öffentlich der Beteiligung an den Medizinermorden im Spiegelgrund bezichtigt hatte, worauf Gross mit einer Beleidigungsklage reagierte. Das hätte er besser lassen sollen, denn das Oberlandesgericht Wien erkannte die von Vogt erhobenen Vorwürfe als erwiesen an und sprach ihn in allen Anklagepunkten frei. Gross, mittlerweile 65 Jahre alt, trat noch im selben Jahr – bei voller Pensionsberechtigung – in den Ruhestand. 1981 wurde er aus der SPÖ ausgeschlossen. Er blieb jedoch bis 1997 einer der am besten dotierten Gerichtsgutachter Österreichs. Die Forschungen an den Gehirnpräparaten im Ludwig-Bolzmann-Institut wurden noch bis 1998 fortgeführt. Erst 2002 sind die noch vorhandenen sterblichen Überreste der Opfer in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt worden. Gross wurde 2000 erneut wegen Mordes angeklagt,
275 Das abgebildete Mädchen, dessen Gehirn Abb. 10 zeigt und von dem noch weitere Hirnschnitte im zitierten Beitrag präsentiert werden, war Heide Grube. Sie wurde im September 1943 aus den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg in den Spiegelgrund deportiert und noch im selben Jahr in Gross’ Abteilung von Heinrich Gross ermordet und dann von Barbara Uiberrak seziert. Sie musste sterben weil die Anormalie ihres Gehirns „bei der extremen Seltenheit“ (Gross &Uiberrak 1955: 577) ein bedeutsames Forschungsmaterial darstellte. Über die letzten Wochen ihres Lebens in Spiegelgrund und ihre Ermordung durch die, wie üblich, gezielt herbeigeführte Lungenentzündung berichten Autorin und Autor des Beitrages lapidar: „Während des zweimonatigen Anstaltsaufenhaltes wurde ein typischer epileptischer Anfall mit seitengleichen Krämpfen und Bewußtlosigkeit beobachtet. Der Tod tritt im Alter von fast 10 Jahren an Pneumonie ein“ (aaO: 580).
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jedoch wegen angeblicher Verhandlungsunfähigkeit nie verurteilt. 2003 wurde ihm das 1975 verliehene Ehrenkreuz wieder aberkannt. 2005 starb er im Alter von 90 Jahren. Auch in Deutschland blieben die den Mordopfern entnommenen Präparate in der Nachkriegszeit Objekte wissenschaftlicher Forschungen, auch außerhalb derjenigen Hochschulen und Forschungszentren, in denen die Präparatesammlungen untergebracht waren. So bediente sich z. B. der Marburger Kinder- und Jugendpsychiater Hermann Stutte (19091982) für einen Beitrag über sein Fachgebiet in einem Psychiatrie-Lehrbuch der Sammlung von Hallervorden. Auch er präsentierte zunächst ein Photo eines 13-jährigen Jungen mit einem Hydrocephalus (Stutte 1960: 1023) und eine Seite später das Hirn des umseitig stehenden Falles“ (a. a. O.: 1024). Zur Todesursache gab er an: „Gestorben an interkurrentem276 Infekt. Obduktion (Prof Spatz u. Hallervorden): Occlusionshydrocephalus mit entzündlich bedingter Verklebung am Äquaduktusbeginn (Abb. 12)“ (a. a. O.: 1023).
6.3 Heil- und Sonderpädagogik Bis Ende der 1950er Jahre verstand man in Deutschland, von der Hilfsschulpädagogik abgesehen, „Heilpädagogik letztlich (als) angewandte Kinderpsychiatrie“ (Stutte 1978: 495). Als dann engagierte Eltern von Kindern, die wir seither geistig behindert nennen,277 sich in Elternvereinigungen unter dem Dach der 1958 in Marburg gegründeten Bundesvereinigung der Lebenshilfe zusammengeschlossen hatten und unter anderem das Recht auf Bildung auch für ihre Kinder forderten, stießen sie bei den damals noch überwiegend medizinisch geprägten Fachleuten weitgehend auf Ablehnung. „Idioten und Imbezille sind nicht bildungs- und deshalb nicht einmal hilfsschulfähig. Es hat keinen Zweck, wie es immer noch geschieht, Schulen damit zu belasten“ (Villinger 1952: 504),
schrieb z. B. 1952 der seinerzeit von der Fachwelt als „Führer der deutschen Kinderpsychiatrie“ (Busemann & Stutte 1952: 381) gefeierte Werner Villinger (1887-1961), ehemals Beisitzender Richter am Erbobergesundheitsgerich Hamm, T4-Gutachter und von 1946 bis zu seiner Emeritierung 1956 Professor für Psychiatrie an der Philipps-Universität Marburg. Auch die Hilfsschullehrerschaft vertrat bis Anfang der 1960er Jahre weithin die hier vertretene Auffassung. Noch am 10. September 1954 legte der Verband Deutscher Hilfsschulen (1955: 47) sämtlichen Kultusministerien und Regierungspräsidien der damaligen Bundesrepublik eine Denkschrift zu einem Gesetz über das heilpädagogische Sonderschulwesen vor, in der unmissverständlich klargestellt wird: „Erweist sich ein Kind während seiner Hilfsschulzeit als bildungsunfähig, ist die Ausschulung zu veranlassen.“ 6.3.1 Eine besondere Pädagogik für besondere Menschen? Angestoßen durch die Aktivitäten der Lebenshilfe, kam es dessen ungeachtet, z. T. gegen erhebliche Widerstände des Faches, zu einem grundlegenden Wandel im Verständnis von 276 Interkurrent bedeutet dazwischenkommend, hinzutretend. 277 Gustav Lesemann (1969: 65) nennt sie noch 1969 „Lebenshilfe-Kinder“.
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Heilpädagogik, Behinderung und auch von Bildung und Bildsamkeit. Für Speck (1964: 354) z. B. „erscheint es angebracht, auf den mehr als fragwürdigen Begriff ‚Bildungsunfähigkeit’ völlig zu verzichten“ und stattdessen zwischen Graden der Bildbarkeit zu unterscheiden. Dabei schlug er für den Bereich der eingeschränkten Bildbarkeit folgende Differenzierung vor (ebd.): Tab. 1: Eingeschränkte Bildbarkeit nach Bach Bildbarkeitsstufen Verminderte oder hilfsschulgemäße Bildbarkeit Schwache Bildbarkeit Spurenhafte Bildbarkeit
Bildungseinrichtungen Schule für Lernbehinderte (Hilfsschule) Schule für Geistigbehinderte Pflegestätten
Grenze der Schulfähigkeit
Bach (1966: 17) entwickelte den Begriff von der „praktischen Erziehbar“- oder „Bildbarkeit“. In den 1960er Jahren kam es im Zuge der allgemeinen Expansion des Bildungssektors zur erheblichen Ausweitung und zur Neuordnung des Sonderschulwesens, insbesondere zur Schaffung der Schulen für geistig Behinderte und für Verhaltensgestörte als neue Sonderschultypen. Gleichzeitig gelang es dem Fach, sich von der medizinischen Dominanz zu befreien und als erziehungswissenschaftliche Disziplin an Universitäten und pädagogischen Hochschulen zu etablieren, dies allerdings überwiegend als reine Sonderschulpädagogik unter weitgehender Ausblendung aller außerschulischen Bereiche. Dabei hat sich die Disziplin in ihrer Strukturierung und inhaltlichen Differenzierung derart zum Abziehbild des Sonderschulwesens entwickelt, dass ihr fast jede kritische Distanz zu der dort stattfindenden Praxis beinahe zwangsläufig verloren ging. Lediglich an wenigen, meist konfessionellen Fachhochschulen wurden noch heilpädagogische Studiengänge angeboten, die gezielt auf außerschulische Arbeitsfelder gerichtet sind. Die pädagogische Wende des Faches war vielfach verbunden mit einer Abkehr von dem Begriff Heilpädagogik. Er wurde zunehmend durch den Begriff „Sonderpädagogik“ ersetzt oder in synonymer Bedeutung ergänzt, z. T. auch durch den Begriff der „Behindertenpädagogik“. Sonderpädagogik beschäftigt sich nach ihrem eigenen, bis heute weit verbreiteten Selbstverständnis mit der „Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen der allgemeinen Erziehung und Bildung nicht hinreichend gefördert werden können und deshalb besonderer Hilfe bedürfen“ (Klauer 1992: 9). „Regel und Ausnahme, das ist der Hintergrund, vor dem sich die Sonderpädagogik selbst sieht. Sie hat es mit den Ausnahmen zu tun, denen etwa die Regelschule nicht gerecht werden kann“ (a. a. O.: 11).
Bleidick (1992: 7) sprach von dem „Gesamtgebiet all jener Veranstaltungen (…), die abseits vom Regelfall des ‚Normalen’ auch unter dem Namen Sonderpädagogik auftreten“. Sonderpädagogik hat es also nach eigenem Bekunden mit Menschen zu tun, die irgendwie anders, nicht normal oder besonders sind und folglich auch nur „abseits vom Regelfall des ‚Normalen’“ und „nicht mit den üblichen Mitteln“ (a. a. O.: 28) angemessen zu fördern, zu bilden und zu unterrichten sind. Für die normalen Schülerinnen und Schüler ist die allgemeine, die Regelpädagogik zuständig, für die anderen, die Ausnahmen, nicht normalen, eben besonderen die Sonderpädagogik. So könnte man das auf eine Kurzformel bringen
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und in der Tat begründet Sonderpädagogik genau so oder so ähnlich gewöhnlich die besondere pädagogische Behandlung ihrer Schülerschaft in besonderen Institutionen. Das klingt auf den ersten Blick plausibel. Besondere Schülerinnen und Schüler benötigen eben auch besondere, d. h. genau auf ihre Besonderheiten abgestellte pädagogische Förderung und Behandlung, und genau in diesem Sinne wurde das Sonderschulwesen in der Bundesrepublik Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre quantitativ wie qualitativ erheblich ausgebaut. Es entstanden nicht nur zahlreiche neue Sonderschulen, sondern zugleich auch zwei neue Sonderschultypen, nämlich die Schule für Verhaltensgestörte und die Schule für Geistigbehinderte. Ausdrücklich sollte diese Entwicklung, so wörtlich die „Empfehlung“ der KMK „zur Ordnung des Sonderschulwesens“ in der BRD, „das Recht des behinderten Menschen auf eine seiner Begabung und Eigenart entsprechende Bildung verwirklichen“ (zit. nach Deutscher Bildungsrat 1974: 23). Es konsolidierte sich zu dieser Zeit dasjenige Schulwesen, das in seinen Grundzügen heute noch in allen Bundesländern existiert, bei dem angeblich der vermeintlich dreigliedrigen Regelschule die in neun bzw., wenn man die Schule für Kranke gesondert zählt, zehn Typen gegliederte Sonderschule gegenüberstehe. Die folgende Tabelle zeigt jedoch, dass das in der öffentlichen Diskussion meist vertretene eindimensionale Modell zu kurz greift. Weder gibt es eine einheitliche Regelschule, noch eine einheitliche Sonderschule. Die unterschiedlichen Typen von Sonderschulen erfüllen vielmehr in schulorganisatorischer und bildungspolitischer Hinsicht völlig unterschiedliche Funktionen. Tab. 2: Regel- und Sonderschulsystem in Deutschland Sonderschule für VerhaltensSehGehör- Schwer- KörperbehinRegelschule Blinde gestörte Behinderte lose hörige derte/Kranke Gymnasium Realschule Hauptschule Lernbehinderte Geistigbehinderte
Sprachbehinderte
Unser Schulsystem in Deutschland – in anderen Ländern ist es teilweise anders – ist in vertikaler Hinsicht fünf- und in horizontaler Hinsicht achtfach gegliedert. Vertikal differenziert es nach Leistungsgesichtspunkten, horizontal nach spezifischen Besonderheiten der Schülerschaft, die im gesellschaftlichen Verständnis als Behinderungen in einem ontologischen Sinne gelten. Dabei finden sich die fünf vertikalen Dimensionen – nicht in allen Bereichen vollständig, doch im Prinzip – unter den horizontal ausdifferenzierten Sonderschultypen wieder. Als Regelschule werden gemeinhin die oberen drei Schultypen der linken Spalte bezeichnet, alle anderen als Sonderschulen. Wenn wir zunächst auf die horizontale Differenzierung blicken, zeigt sich, dass einerseits ein wie auch immer gestörtes – oder besser: den Schulalltag störendes – Verhalten von Schülerinnen und Schülern sowie andererseits der teilweise oder vollständige Ausfall des
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Sehsinns oder des Gehörs, normabweichende körperliche Schädigungen oder Normabweichungen in der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit als diejenigen Besonderheiten von Schülerinnen und Schülern gelten, welche besondere Beschulung in besonderen Schulen begründen. Ich will auf diese Dimension der Differenzierung an dieser Stelle nicht weiter eingehen, sondern den Blick auf die vertikale Dimension richten. Hier zeigt sich, dass es irreführend ist, unser Schulsystem, wie allgemein üblich, als dreigliedrig zu bezeichnen und zu analysieren. Es ist fünfgliedrig. Die Grenzziehung in dieser Dimension zwischen Regel- und Sonderschule unterhalb des Hauptschulniveaus ist völlig willkürlich und heute kaum noch zeitgemäß. Die Entwicklung der Hauptschule zur Restschule, vor der als einer der ersten Rolff (1972: 171 f.) noch gewarnt hatte, ist längst Realität. Hauptschulen und zumindest diejenigen Teile der Sonderschulen, in denen bestenfalls der Hauptschulabschluss erlangt werden kann, werden kaum von Schülerinnen und Schülern besucht, die sich positiv für den Besuch gerade dieses Schultyps entschlossen haben. Die meisten besuchen sie eher notgedrungen, wenn der Besuch anderer weiterführender Schulen aus welchen Gründen auch immer, oft nach leidvollem Durchlaufen nicht selten mehrstufiger sozialer Ausleseprozesse in den höheren Schulformen, für sie nicht in Frage kommt. Die Folge ist eine wachsende Negativauslese der Schülerschaft mit Konsequenzen, die z. B. die Gesamtkonferenz der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln in ihrem einstimmig beschlossenen offenen Brief vom 28. Februar 2006 der Öffentlichkeit vor Augen geführt hat. Schon Rolff (1972: 171) verglich die Hauptschule mit „einem Wartesaal 2. Klasse (…), in dem die Schüler lediglich ihre Pflichtschulzeit absitzen“. Analog dazu ließen sich die vertikal unter der Hauptschule angesiedelten Schulen als Wartesäle dritter und vierter Klasse charakterisieren. Dazu kommt: Keiner dieser fünf Schultypen kann für sich in Anspruch nehmen, als Regelschule ein Ort der Regelpädagogik zu sein. In jedem Typ dieses fünfgliedrigen Schulsystems werden – nach Leistungsgesichtspunkten selektiert und homogenisiert – Schülerinnen und Schüler unter Ausschluss der jeweils anderen Leistungsgruppen unterrichtet. Hier vermag ich keine allgemeine und keine Regelpädagogik zu erkennen. Von der Gymnasialpädagogik bis zur Geistigbehindertenpädagogik sehe ich mit Georg Feuser (1989: 6) nur fünf Sonderpädagogiken, die sich exklusiv an jeweils eine besondere Leistungsgruppe richten – stets unter Ausschluss aller anderen. Alle diese Pädagogiken sind selektierend und separierend und haben mit einer allgemeinen Pädagogik, wie ich sie verstehe, nicht das Geringste zu tun. 6.3.2 Die scheinbare und tatsächliche Evidenz sonderpädagogischer Diagnostik Sonderpädagogischer Förderbedarf als schulbildungsbezogene Behinderung wird festgestellt, wenn ein Schulkind dadurch auffällig wird, dass es unter den Bedingungen des herrschenden „Regel“schulsystems Schwierigkeiten hat, den an es gestellten Anforderungen nachzukommen, oder wenn dieses bereits vor der Einschulung antizipiert wird. Dann wird das Problem, das zwischen dem betroffenen Schüler oder der betroffenen Schülerin einerseits und der gesellschaftlichen Institution Schule andererseits besteht, in aller Regel in der Logik und aus der Perspektive der Schule als Problem der betroffenen Schüler definiert. Es wird durch ein vermeintlich wissenschaftlich abgesichertes psychologisch-sonderpädagogisches Verfahren z. B. als Lernbehinderung, Verhaltensstörung oder geistige Behinderung oder, so heißt es seit 1994, als Förderbedarf in den Bereichen Lernen,
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emotionale und soziale Entwicklung oder geistige Entwicklung (KMK, 1994)278 diagnostisch festgestellt und solcherart scheinbar evident. Das jedenfalls unterstellen die einschlägigen schulrechtlichen Bestimmungen, die mit dieser Unterstellung zugleich auch die einer solchen Diagnostik in der Regel folgende pädagogische Sonderbehandlung der betreffenden Schülerin oder des betreffenden Schülers fachlich legitimieren und legalisieren. Tatsächlich evident wird bei diesem Verfahren jedoch nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache, dass das betroffene Kind zum Zeitpunkt der Testung nicht oder noch nicht den sozialen Entwicklungsstand oder das kognitive Aneignungsniveau erreicht hat, welches die Schule von Schülerinnen und Schülern eines Jahrgangs erwartet. Dafür kann es mehrere Ursachen geben, die sich aus den Testergebnissen keineswegs eindeutig ableiten lassen. Wenn die einschlägigen Rechtsvorschriften nun vorschreiben, aus den Testbefunden das Vorliegen einer Behinderung im sonderpädagogischen Sinne abzuleiten und amtlich festzustellen, wird gewissermaßen qua Gesetz die Dialektik zwischen den handelnden und lernenden Subjekten auf der einen und den schulischen Bedingungen, unter denen es lernt und handelt, auf der anderen Seite zu einem schlichten Kausalzusammenhang vereinseitigt und als meist biologistisch verstandene, manchmal noch die sozialen Bedingungen des Elternhauses reflektierende, schulische Kontextbedingungen jedoch fast immer ausblendende Behinderung oder als den Betroffenen anhaftender oder innewohnender sonderpädagogischer Förderbedarf ontologisiert: Die Subjekte, so wird unterstellt, kämen in der Schule nicht mit oder verhielten sich auffällig, weil sie lernbehindert oder verhaltensgestört bzw. „in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so beeinträchtigt sind, daß sie im Unterricht der allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht gefördert werden können“ (KMK 1994: 5).
Im Laufe ihrer relativ kurzen Geschichte hat die Sonderpädagogik als Disziplin und Profession sprachliche Konstrukte hervorgebracht, die in einem Maße, das weit über die sonst übliche Alltagssprache hinausgehen, die Distanz von bestimmten Menschen zu uns vermeintlich „Normalen“ in einer geradezu doppelt gesteigerten Weise zum Ausdruck bringen, z. B. „Schwerstmehrfachbehinderte“. Abgesehen davon, dass weder für die Quantifizierung noch für die Qualifizierung zur Differenzierung von „schwer“ und „schwerst“ je überzeugende und operationalisierbare Kriteren vorgelegt wurden, existiert dieser Super-Superlativ wohl nur im Jargon der Sonderpädagogik, um Menschen, die uns hilflos machen, weil wir sie nicht verstehen und wir uns unfähig fühlen, sie – was unsere Aufgabe wäre – unter Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen in die menschliche Gesellschaft einzubeziehen, ganz weit und aus Gründen, die nichts mit uns zu tun haben, sondern in ihrem Wesen, in ihrer Natur liegen, zu exkludieren, statt auf Wege zu sinnen, sie an unserem gesellschaftlichen Leben in ihrer Normalität auf ihre Weise teilhaben zu lassen. Dies mit dem Ziel, das der große Idiotenpädagoge Edouard Séguin (1912: 164) schon 1866 formuliert hat, „der Herstellung der Einheit der Menschen in der Menschheit“, was auf den Einzelnen bezogen, „ein beständiges Aufsteigen auf der Stufenleiter von der Isolierung zur Vergesellschaftung“ (a. a. O.: 167) bedeutet. Selbstverständlich ist nicht zu leugnen, dass bestimmte Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene bestimmte, z. T. durchaus klassifizierbare Bedarfe, z. B. an gezielter individueller Förderung, haben, die abgedeckt sein müssen, damit sie ihren Fähigkeiten und Be278 An dem Problemverständnis und in der Praxis hat sich dadurch nicht das Geringste geändert.
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dürfnissen entsprechend leben und lernen können. Wenn solche Bedarfe allerdings – wenn überhaupt – ausschließlich oder überwiegend in speziellen Sondereinrichtungen außerhalb relevanter gesellschaftlicher Zusammenhänge abgedeckt werden und nicht vor Ort in den Schulen und natürlich ebenso in den Gemeinden und Stadtteilen bzw. in den Betrieben, in denen die Menschen leben, lernen und arbeiten, dann kann diese Praxis nicht mit einer den Betroffenen anhaftenden oder innewohnenden Behinderung gerechtfertigt, sondern muss als eine ihnen angetane Behinderung verstanden werden, was bedeutet, dass die Betroffenen insoweit nicht im ontologischen Sinne behindert sind, sondern behindert werden. Aus der Perspektive der betroffenen Kinder und Jugendlichen nämlich wäre das Problem des sogenannten Schulversagens nicht als Versagen des Schülers oder der Schülerin, sondern der Schule zu erklären, gewissermaßen als Lehrbehinderung unseres herkömmlichen Schulsystems – unter der im Übrigen auch zahlreiche, vielleicht die meisten, derjenigen Schülerinnen und Schüler zu leiden haben, die nicht solcherart auffällig werden, und nicht zuletzt auch viele Lehrerinnen und Lehrer –, die immer wieder maßgeblich auch zum vergleichsweise schlechten Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler in internationalen Schulvergleichsstudien beiträgt. Die praktische Konsequenz aus dieser Einsicht wäre allerdings nicht die Aussonderung der Schüler aus dem regulären und ihre Besonderung in einem Sonderbildungssystem, sondern eine radikale Veränderung des überkommenen Schulsystems mit dem Ziel der Überwindung seiner lernbehindernden Bedingungen. Die bloße Abschaffung der Hauptschule, wie sie in einzelnen Bundesländern bereits praktiziert, in anderen diskutiert wird, unter Beibehaltung der überkommenen Auslesemechanismen und der institutionellen und didaktischen Lehrbehinderungen erscheint in diesem Sinne kaum ausreichend. Dann werden andere Schulen die Funktion der Restschule übernehmen, möglicherweise in erhöhtem Maße die Förderschulen, insbesondere für Lern- und Erziehungshilfe. Notwendig ist vielmehr aus dieser Perspektive die Aufhebung des fünfgliedrigen Schulsystems in allen deutschen Ländern in einer Schule für Alle „ubi omnes omnia omnino duceantur“279 (Comenius 1657). Wir kommen darauf in unseren Ausführungen über DeInstitutionalisierungen im Zusammenhang der Dekonstruktionen des Anders-Seins zurück. 6.3.3
Heilpädagogik und der Wandertrieb
Seit der Wende zum 20. Jahrhundert wurden immer wieder Zusammenhänge zwischen dem bereits beschriebenen Wandertrieb (Poriomanie) und dem geistigen Zustand der davon vermeintlich Betroffenen postuliert. Damit wurde das Problem des Wanderns auch ein Gegenstand der damaligen Heilpädagogik und außerdem der Jugendfürsorge. August Homburger und Otto Mönkemöller betonten in einem Beitrag zum Enzyklopädischen Handbuch der Heilpädagogik 1934, dass die Entstehung des Wandertriebes bereits im Jugend- und Kindesalter verhindert werden müsse. „Die Bekämpfung des jugendlichen Vagabundentums und damit auch in den meisten Fällen des Wanderbettels der Erwachsenen geht weit in die dem Ausbrechen dieses Triebes vorangehende Zeit zurück. Die ganze Vorbeugung gründet sich in erster Linie auf die richtige Erkenntnis der
279 Zit. aus Comenius 1894: 67. Deutsch: „wo alle alles umfassend gelehrt werden“ (Comenius 1992: 59).
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Zustände, in denen diese Volkskrankheit wurzeln kann. Hier muß noch sehr viel geschehen“ (Homburger & Mönkemöller 1934: Sp. 3051).
Ein wichtiges Mittel der Verhütung ist zunächst die Aussonderung der geistig beeinträchtigten Wegläufer in speziellen Schultypen, wie gezeigt, eine bis heute typische und durchgängig praktizierte Vorgehensweise der Sonderpädagogik in der Bundesrepublik. „Will man bei den Schwachbegabten das Aufflackern des Wandertriebes verhüten, dann müssen sie in Schulen untergebracht werden, in denen sie sich den Anforderungen, die hier an die Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten gestellt werden, gewachsen fühlen. (…) Nur so kann, wenigstens in einer Reihe von Fällen, der Wandertrieb im Keime erstickt werden“ (a. a. O.: Sp. 3052). Gelingt dies nicht, „müssen sie in Anstalten der verschiedensten Art untergebracht werden. (…) In diesen Anstalten muß die planmäßige Erziehung die minderwertigen Geister so beeinflussen, daß das Auftreten des Wandertriebes verhütet wird“ (ebd.). „Die Fürsorgeerziehung ist auch vor allem im Stande, alle die Naturen herauszufinden, bei denen es sich nicht um ein einmaliges Aufflackern des Wandertriebes handelt, wie er sich so oft in der Zeit der Geschlechtsreifung einstellt. Sie kann die geborenen Vagabunden feststellen, die dazu bestimmt sind, später die Landstraße dauernd zu bevölkern. Sie kann dafür sorgen, daß der Mitwelt das dauernde soziale Parasitentum dieser Sklaven ihrer minderwertigen Veranlagung erspart bleibt. Werden uns einmal die Bewahrungsanstalten beschert, dann können diese jugendlichen Vagabunden in sie übergehen, ehe sie als erwachsene Vertreter des Wanderbettels die Mitwelt mit verstärkten Kräften zu lange geschröpft haben“ (a. a. O.: Sp. 3053).
In den 1920er Jahren gewann die Heilpädagogik auch außerschulisch eine wachsende Bedeutung bei der Verhütung bzw. der pädagogischen Kultivierung des Wandertriebs. Gustav Lesemann (1929) umriß dabei das Ziel dieses Bereichs der Heilpädagogik: „Es wäre ein nutzloses Unterfangen, wollte man den vorbeugend-verhütenden Maßnahmen das Ziel setzen, den Wandertrieb und damit das Wandern überhaupt zu verhindern. Unser Ziel muß vielmehr sein, einem wilden, planlosen, die Gemeinschaft und das abnorme Individuum gefährdenden Wandern vorzubeugen durch Gewährung eines gewissen Wanderschutzes (…) durch Wegberatung und wirtschaftliche Nothilfe sowie durch Seßhaftmachung in der Fremde und in der Heimat“ (a. a. O.: 395).
Nach dem zweiten Weltkrieg hat das heil- und sonderpädagogische Interesse an den „Wegläufern“ stark nachgelassen. In der einschlägigen Literatur finden sich seit dieser Zeit kaum noch Hinweise auf diesen Problemkreis. Jugendliche Wegläufer und „Nichtsesshafte“, wie man diese Menschen seit 1938 auch nannte, blieben aber bis heute Gegenstand der Psychiatrie, die, wie dargestellt, bis heute im Wandertrieb eine Krankheit sieht, deren organische Ursachen allerdings bis heute nicht gewusst, sondern lediglich angenommen werden. 6.4 Die therapeutische Zerstörung des Gehirns „Während die psychogenetischen Forschungen manches zum Verständnis der Psychosen beigetragen hatten, so hatten sie leider bei der Behandlung von Geisteskrankheiten so gut wie keine Erfolge aufzuweisen. Glücklicherweise wurden im 20. Jahrhundert eine Reihe somatischer Behandlungsmethoden auf empirischem Wege entdeckt, die bei den Psychosen wirkliche Erfolge erzielten. Wir wissen zwar nicht, warum diese Methoden erfolgreich sind, und sie haben wenig
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zu unserem Verständnis der Geisteskrankheiten beigetragen; sie sind auch sicher oft überschätzt oder übertrieben worden. Alles das kann aber die Tatsache nicht verdunkeln, daß doch auf diesem Wege zahlreiche Besserungen und sogar Heilungen erzielt worden sind.“
So begann Ackerknecht (1985: 101) das Kapitel über psychiatrische Behandlungsmethoden in der Psychiatrie. Zwar gab es auch vorher schon vereinzelt Beschreibungen von psychiatrischen Behandlungsmethoden, z. B. Reils berühmte „Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen“ von 1803, doch hatten diese kaum Einfluss auf die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit den Irren. Diese war vor allem geprägt durch folterähnliche Behandlungsmethoden, „mit denen man (…) den Irren die Vernunft anzuquälen versuchte“ (Dörner 1984: 233). „Außer Ketten, mit denen die erregten Insassen gefesselt wurden, um sie an Gewalttätigkeiten zu hindern, beherrschten Tollriemen und Handschrauben, eiserne Halsringe, die Drahtpeitsche sowie die Zwangsjacke die Behandlung der geistig umnachteten“ (Karger-Decker 2001: 422).
Auch mit der „Befreiung“ der Irren von ihren Ketten und aus den gefängnisartigen Asylen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die doch weniger eine Befreiung als eine Uminternierung in nunmehr unter ärztlicher Leitung stehende Irrenanstalten war, beherrschten Zwangsmaßnahmen weiterhin die nunmehr psychiatrische Praxis. Die Patienten „gelten jetzt zwar als körperlich krank, haben aber wenig davon, da die Entdeckung der körperlichen Ursachen und der daraus folgenden kausalen Therapien stets ein Versprechen für kommende Generationen bleibt“ (Dörner u. a. 2009: 485).
Eine psychiatrische Praxis, die sich im engeren Sinne therapeutisch versteht, entwickelte sich erst im 2. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Dabei dominierten und dominieren zwar bis heute – entsprechend der von Dörner u. a. (ebd.) kritisierten Selbsteinengung – symptombezogene somatische Therapieformen, von denen manche immer noch unter Zwang gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt werden. Auffallend ist, dass trotz des seit den Anfängen zu beobachtenden Bemühens der Psychiatrie, Krankheitseinheiten möglichst exakt voneinander abzugrenzen, die Behandlungsmethoden relativ unspezifisch zum Einsatz kommen. In therapeutischer Hinsicht scheint die exakte Abgrenzung und Klassifikation psychischer Krankheiten offensichtlich von nur geringer Bedeutung zu sein. 6.4.1 Somatische Therapieformen und Krampfbehandlungen Bereits eingangs wurde darauf hingewiesen, dass therapeutische Verfahren und Behandlungsmethoden in den ersten Jahrzehnten der Psychiatriegeschichte kaum eine Rolle gespielt haben. Das änderte sich erst in den 1920er Jahren. „In den letzten 20 Jahren ist zur früheren erzieherischen Behandlung der Schizophrenie [und auch anderer Geisteskrankheiten] die sogenannte aktive Behandlung getreten. (…) Die Fiber-, die Dauerschlaf-, die Insulin-, die Cardiazol-Krampf- und die Elektroschockbehandlung“,
schrieb Bleuler 1943 (330). Diese seien kurz in ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer Durchführung und Wirkungsweise dargestellt. Im Juli 1917 infizierte der österreichische Psychia-
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ter Julius Wagner von Jauregg (1857-1940) drei Patienten, die an progressiver Paralyse, dem Spätstadium der Syphilis litten, mit Malaria-Erregern. Antibiotika zur SyphilisTherapie, um den Eintritt der späteren Stadien zu verhindern, gab es noch nicht, sie wurden erst in den 1940er Jahren entdeckt. Die Behandlung hatte Erfolg, wie er konstatierte. Bei zwei Patienten verbesserte sich der Zustand, in einem Fall blieb die Behandlung wirkungslos. Er wiederholte die Behandlung bei anderen Patienten, nach seiner Einschätzung mit Erfolg, der allerdings meist nicht lange anhielt. Obwohl die Behandlung nicht ohne Risiko war, einige Patienten starben unter der Malaria, und obwohl sich vor allem der dauerhafte Erfolg der Behandlung in Grenzen hielt, erhielt Wagner von Jauregg 1927 für die Entdeckung der therapeutischen Bedeutung der Malariaimpfung bei progressiver Paralyse den Nobelpreis für Medizin280. Die Therapie kam in der Folgezeit auch bei psychiatrischen Diagnosen zum Einsatz, auch hier nur mit mäßigem Erfolg. Auch versuchte man Fieber auf anderem Wege künstlich zu erzeugen, z. B. durch Tuberculin oder Typhus-Impfstoff. Der Däne Schröder-Knud entwickelte 1924 eine relativ ungefährliche anorganische Methode, Fieber zu erzeugen. Er injizierte den Betroffenen eine Schwefelöllösung, die einige Stunden später den beabsichtigten Temperaturanstieg bewirkte. Der Schweizer Jakob Klaesi (18831980), der zeitweise Assistent, später Oberarzt bei Eugen Bleuler war, versuchte 1920 insbesondere Schizophrenie dadurch zu behandeln, dass er die Betroffenen mittels eines Barbiturats namens Somnifen über acht bis zehn Tage in einen Halbschlaf versetzte. „Man hält den Schlaf so tief, daß der Kranke sich selbst überlassen, meist duselt oder schläft, aber spontan oder auf Anregung zum Essen, zur Besorgung seiner Bedürfnisse und namentlich zur psychiatrischen Behandlung genügend klar werden kann“ (Bleuler 1930: 329).
Nach der Entdeckung der Wirksamkeit des Insulins bei der Behandlung von Diabetes mellitus begann man, ebenfalls vor allem bei der Behandlung der Schizophrenie, die Betroffenen mittels eines künstlich herbeigeführten Insulin-Komas zu behandeln. Dieses Verfahren wurde um 1920 erstmals von dem österreichischen Psychiater Wolfgang Sakel (1900-1957) durchgeführt und 1935 beschrieben. Es handelt sich hier um die erste schocktherapeutische Behandlungsmethode in der Geschichte der Psychiatrie. Bleuler erwähnt diese Methoden zum ersten Mal in der 6. Auflage seines Lehrbuches, ist aber skeptisch, „ob sie wirklich auf die Grundsymptome der Krankheit heilend einwirkt“ (Bleuler 1937: 320). 1934 führte der Ungar Ladislaus von Meduna (1896-1964) die Cardiazol-Krampf-Therapie ein, bei der durch die Injektion von Cardiazol ein künstlicher epileptischer Anfall ausgelöst wurde. Einen anderen Weg der künstlichen Erzeugung eines epileptischen Anfalls beschritten die italienischen Psychiater Ugo Cerletti (1877-1963) und Lucino Bini (1908-1964) mit der Einführung der Elektroschocktherapie, bei der „Wechselstrom bestimmter Dosierung durch den Kopf geleitet wird“ (Bleuler 1943: 332). Bleuler warnt: „Keines dieser Verfahren ist gefahrlos. Sie alle führen, allerdings selten, zu Todesfällen“ (ebd.). Nach der anfänglichen Euphorie darüber, dass man endlich Verfahrensweisen gefunden hatte, Geisteskrankheiten somatisch zu bekämpfen – wie bereits erwähnt, erhielt Wagner von Jauregg sogar den Nobelpreis –, setzte Ernüchterung ein. Bleuler bilanzierte: 280 Dies mag aus heutiger Sicht unverständlich erscheinen. Vergegenwärtigt man sich jedoch den zeitgenössischen Kontext, so ist darauf hinzuweisen, dass Wagner von Jauregg zum ersten Mal ein medizinisch begründetes therapeutisches Verfahren für ein für eine Krankheit gehaltenes Phänomen gefunden hat, das bis dahin als unheilbar galt.
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„Die Erfolge der aktiven Behandlungsverfahren sind überschätzt worden. Die Anzahl der Remissionen nach der ‚aktiven’ Behandlung unterscheidet sich statistisch nicht einwandfrei von derjenigen ohne solche. Zudem sind sie oft wenig dauerhaft“ (ebd.). Deswegen riet er zu strenger Indikationsstellung: „Man soll (…) bei sozial gut angepassten Schizophrenen auf sie verzichten. (…) Die Hauptindikation scheint bei frischen Fällen gegeben zu sein, wenn ein Schub zum Abklingen neigt und der Patient trotzdem von Wahnvorstellungen und triebhaften Handlungen oder von der Furcht vor der Arbeit oder dem Leben nicht loskommt. Ferner kann oft besonders asoziales Verhalten (Stupor, Erregung, Gewalttätigkeit, Unsauberkeit, Nahrungsverweigerung usw.) in akuten und chronischen Zuständen erfolgreich mit einem der aktiven Verfahren angegangen werden“ (ebd.).
Offen gestand Bleuler ein, dass die beschriebenen Behandlungs- und Schockverfahren weniger der Heilung als vielmehr der Disziplinierung unangepasster Patienten dienten.281 Dabei wusste er durchaus, was manchen Patienten hilft: „Wichtig für die Behandlung Schizophrener ist das Wissen darum, daß plötzliche Veränderungen der Umgebung (Entlassungsversuche nach Hause, Versetzung in andere Anstalt u. ä.) oft erstaunliche Besserung zur Folge hat“ (a. a. O.: 333). Ab der 12. Auflage bestritt Bleuler die Wirksamkeit genannter Verfahren, insbesondere der Elektrokrampftherapie nicht mehr, sondern setzte sie gewissermaßen stillschweigend voraus. Schulte & Tölle (1971: 353) handelten Krampfbehandlungen in den ersten fünf Auflagen (bis 1979) nur in einem Anhang ab und schätzten ihre Bedeutung eher gering ein. „Durch Pharmakotherapie ist das Indikationsgebiet der Krampfbehandlung erheblich eingeschränkt worden.“ Während das Verfahren in den ersten Auflagen lediglich beschrieben wird, findet sich ab der 4. Auflage (1977: 350), ausgelöst vermutlich durch die öffentliche Diskussion im Zusammenhang mit der 1975 vorgelegten Psychiatrie-Enquete des Deutschen Bundestages, am Ende des entsprechenden Abschnitts ein regelrechtes Bekenntnis zu dieser Methode: „Zusammenfassend ist die Krampfbehandlung eine bei schweren Psychosen wirksame und (…) auch humane Behandlungsmethode, die diesen Kranken nicht vorenthalten werden darf.“
Ab der 6. Auflage (Tölle 1982: 369) ist sie in bestimmten Fällen sogar „eine lebensrettende Maßnahme“ und weiterhin „eine verträgliche und humane Behandlungsmethode, was gegenüber unbegründeter Kritik betont werden muß“. In der 8. Auflage wurde hinzugefügt: „Die so behandelten Patienten selbst sind praktisch ausnahmslos positiv eingestellt“ (Tölle 1988: 369). Ab der 9. (1991) Auflage fehlt dieses Bekenntnis am Ende des Abschnitts. Mit weniger Emphase als in den Vorauflagen wird Elektrokrampftherapie hier gleich zu Beginn des Abschnitts als „lebensrettende Maßnahme“ und „sehr wirksame Therapie“ (Tölle 1991: 361) bezeichnet. Unter dem Punkt Begleiteffekte wird ab nun betont: „Die Elektrokrampfbehandlung ist keineswegs ein schwerer Eingriff, wie eine Zeitlang in den Medien behauptet wurde“ (a. a. O.: 362; Tölle & Windgassen 2009: 378). In der aktuellen Auflage heißt es außerdem:
281 Diese Formulierung behält Bleuler noch bis zur 10. Auflage (1960) bei.
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„Die Elektrokrampftherapie, die in der elektrischen Auslösung eines generalisierten Krampfanfalles besteht, hat neben den Psychopharmaka ein definiertes Indikationsgebiet bei Psychosen: bei schweren, insbesondere perniziösen282 Katatonien bei Schizophrenen wirkt die EKT schnell und durchgreifend; sie ist nicht selten die lebensrettende Behandlung. Darüber hinaus ist EKT indiziert bei pharmakarefraktären283 affektiven und schizophrenen Psychosen. (…) Bei der heutigen Technik ist die EKT gut verträglich“ (Tölle & Windgassen 2009: 375).
Auf die Begleiteffekte und Risiken wurde erstmals in der 6. Auflage (Tölle 1982: 368) eingegangen. „Abgesehen von der vorübergehenden Desorientiertheit und Schläfrigkeit, treten bei einem Teil der Patienten leichte Gedächtnisstörungen auf, die einige Tage bis einige Wochen anhalten können und reversibel sind. (…) Selten kommt es zu längeren oder dauernden Gedächtnisstörungen, die aber wahrscheinlich nicht auf die Krampfbehandlung allein zurückzuführen sind. Sehr selten tritt eine retrograde Amnesie für die Zeit von einigen Wochen bis Monaten vor der Behandlung auf. Es ist unklar, worauf diese Störung zurückzuführen ist. Andere Komplikationen sind bei der beschriebenen Technik und bei sorgfältiger Indikation praktisch ausgeschlossen.“
Diese Einschätzung der Risiken und Nebenwirkungen hat sich im Wesentlichen bis zur letzten Auflage gehalten: „In den ersten Stunden nach der Behandlung kann der Patient schläfrig und im Allgemeinbefinden sowie in kognitiven Funktionen beeinträchtigt sein. Zuweilen besteht vorübergehend eine Merkschwäche, die aber auch mit der Depression zusammenhängen kann. Selten tritt retrograde und noch seltener anteograde Amnesie für die Dauer einiger Tage bis einiger Wochen auf; sie sind größtenteils reversibel. Ausgeprägtere oder bleibende Gedächtnisstörungen kommen bei der heutigen Technik praktisch nicht mehr vor“ (Tölle & Windgassen 2009: 378).
Wie und warum die Elektrokrampfbehandlung – wenn überhaupt im positiven Sinne284 – wirksam wird, liegt bis heute im Dunkeln. „Die Wirkungsweise [des Elektrokrampfanfalls] ist nicht285 bekannt“, schreiben wie Bleuler auch Schulte, Tölle & Windgassen von der ersten (1971: 339) bis zur letzten (2009: 378) Auflage und stellen unterschiedliche Mutmaßungen an. Anfangs vermuten sie, „daß passagere Hirnschädigungen imstande sind, ein endogen-psychotisches Geschehen günstig zu beeinflussen. Eine psychopathologische Interpretation geht dahin, daß durch die künstlich gesetzte Hirnnoxe und das nachfolgende organische Psychosyndrom der psychotischen Symptomatik gleichsam der Boden entzogen werde, die Hirnschädigung also ein ‚Nichthabenkönnen’ oder ‚Nichtnachvollziehenkönnen’ (v. Baeyer) bedinge“ (Schulte & Tölle 1971: 339). In der 5. Auflage wird zusätzlich darauf hingewiesen: „Die Krampfbehandlung bewirkt, wie andere antidepressive Verfahren, eine Verminderung der REM-Schlafphasen286; es ist jedoch nicht bekannt, ob es sich hier um einen Wirkmechanismus oder lediglich um eine Begleiterscheinung handelt“ (Tölle 1979: 354).
282 283 284 285 286
Schweren. Durch Pharmaka nicht zu beeinflussenden. Wie gesagt, selbst Bleuler hat das zeitweise in Zweifel gezogen. Ab der 6. (1982: 268) Auflage ist hier „im einzelnen“ eingefügt. Schlafphasen, in denen das Gehirn aktiv ist, z. B. Traumphasen.
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In der 6. Auflage schließlich „(wird) eine Transmitterstimulation im Hypothalamus (entsprechend der Noradrenalin-Serotonin-Hypothese der antidepressiven Pharmakotherapie) (…) vermutet“ (Tölle 1982: 368). Ab der 8. Auflage wird betont: „Der ausgelöste Krampfanfall ist anscheinend eine conditio sine qua non“ (Tölle 1988: 368) und seit der 10. Auflage ergänzt: „Ob aber der Krampfanfall selbst oder eine zu vermutende inhibitorische Antwort des Gehirns therapeutisch wirksam ist, blieb bisher unklar“ (Tölle 1994: 362).
Von der 12. Auflage an (Tölle 1999: 374) fehlt der Hinweis auf die psychopathologische Interpretation der Wirkungsweise. 6.4.2 Psychochirurgie 1949 erhielt der Portugiese Egas Moniz den Nobelpreis für Medizin und Anatomie287 „für die Entdeckung des therapeutischen Wertes der präfrontalen Leukotomie bei gewissen Psychosen“, einem auch als Lobotomie bezeichneten hirnchirurgischen Eingriff. Zur Vorbereitung wurden Öffnungen am Schädel der Patienten über jedem Frontal- bzw. Stirnlappen angebracht, d. h. an dem unter der Stirn liegenden Teil der Hirnrinde. „Der erste Eingriff bestand in der Injektion geringer Alkoholmengen (…) in die subcorticale weiße Substanz des Stirnlappens. Diese Injektionen waren ob des Zurückfließens des Alkohols längs des Stichkanals nicht besonders genau. Deshalb konstruierte man ein Instrument, ein sogenanntes Leukotom, welches aus einer Hohlnadel mit einem Stilett bestand, dessen Ende in eine biegsame Drahtschlinge oder in eine Schneideklinge auslief. Die Kanüle war an der Spitze geschlossen und trug seitwärts eine Öffnung, aus der bei Druck auf den Trokar eine Klinge etwa 5 mm heraussprang. Nach Einführung des Instruments und Druck auf das Stilett schnellte die Schlinge heraus und man konnte durch Drehung des Instruments ein Stück weißer Gehirnsubstanz von etwa 1 cm Durchmesser herausschneiden“ (Freeman & Watts 1948: 25 f.).
Bei Nachlassen des Drucks wurde die Drahtschlinge wieder in die Hohlnadel eingezogen. So konnte man das Gerät wieder aus dem Schädel herausziehen. Pro Operation wurden vier bis sechs solcher Schnitte durchgeführt. Ziel des Eingriffs war es, die Verbindung zwischen den beiden Stirnlappen und den darunter liegenden Teilen des Gehirns zu durchtrennen. Die Stirnlappen sind evolutionsgeschichtlich die jüngsten Teile unseres Gehirns. Sie „sind der Sitz höherer menschlicher Funktionen wie Liebe, Nächstenliebe, Empathie, Selbstkritik, Initiative, Autonomie, Rationalität, abstraktes Denken, Urteilsfähigkeit, Zukunftsplanung, Voraussicht, Willenskraft, Entschlussfähigkeit und Konzentration. Die Stirnlappen unseres Gehirns erlauben uns, ‚menschlich’ in der vollsten Bedeutung dieses Wortes zu sein, sie sind erforderlich für ein zivilisiertes, effektives, reifes Leben“ (Breggins 1996: 90),
287 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl Joachim Meyer (1985: 2) als auch Klaus Dörner u. a. (2007: 492, in der 4. Auflage wurde dies korrigiert, 2009: 492) in ihren historischen Rückblicken angeben, Julius Wagner von Jauregg sei der einzige Psychiater gewesen, der je einen Nobelpreis erhalten habe, Moniz aber nicht erwähnen. Man mag das damit begründen, dass Moniz im engeren Sinne Neurologe war, doch zum einen waren Neurologie und Psychiatrie damals noch nicht in der Weise getrennt wie heute (Meier gibt an, diese Trennung habe sich in der BRD erst in den 1960er und 1970er Jahren durchgesetzt), zum anderen wurde Moniz explizit für eine psychiatrische Behandlungsmethode geehrt.
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so der amerikanische Psychiatriekritiker Peter Breggins. Erstaunlicherweise gelangen auch die begeisterten amerikanischen Psychochirurgen Freeman & Watts (1948: 370) durchaus zu einer ganz ähnlichen Einschätzung: „Für den Normalen ist das Stirnhirn unentbehrlich; für den Kranken kann es wohl störend wirken. Ohne Stirnhirn freilich gäbe es keine funktionellen Psychosen“, aber eben auch keine höheren menschlichen Funktionen. Bleuler beschreibt die Folgen der Psychochirurgie wie folgt: „In psychischer Hinsicht hinterlässt der Eingriff ein hirnlokales Psychosyndrom (…). Es bezieht sich, wie jedes hirnlokales Psychosyndrom, vor allem auf die Antriebe. Sie können daniederliegen, und der Kranke kann stumpf, träge und gleichgültig werden, namentlich veröden oft auch die differenzierten Interessen und Regungen, so dass Taktlosigkeit, Egozentrizität und Rücksichtslosigkeit an den Tag treten“ (Bleuler 1983: 189). Dessen ungeachtet waren für Moniz die Operationen ein voller Erfolg. „Bei einer Überschau über zwanzig Fälle (…) findet der Autor sieben Genesungen und sieben Besserungen, so vor allem hinsichtlich der psychomotorischen Erregung. Sechs Kranke zeigten keinerlei Besserung. Die besten Ergebnisse wurden bei agitierter Depression erzielt (…), während chronisch Schizophrene die schlechtesten Ergebnisse zeitigten“ (Freeman & Watts (1948: 27).
Die Lobotomie wurde schnell populär und bald auch in anderen Ländern angewandt. In Amerika wurde 1936 die erste präfrontale Lobotomie von Walter Freeman und James W. Watts durchgeführt. Sie verfeinerten das Verfahren und versuchten zielgenauer vorzugehen. In Deutschland und auch im weiteren deutschsprachigen Raum konnte sich die Lobotomie erst nach dem zweiten Weltkrieg – und auch eher zögerlich – als Behandlungsmethode durchsetzen.288 Bei Bleuler fand sie erstmals nach dem Tod Eugen Bleulers ab der 8., der zweiten von Manfred Bleuler herausgegebenen Auflage (Bleuler 1949: 145 f.) Erwähnung. Fortan wurde sie bis zur letzten Auflage auf gut einer Seite als „Ausnahme-Therapie“ abgehandelt, zu der er abschließend nicht Stellung bezieht, obwohl sie vereinzelt wohl auch in seinem Verantwortungsbereich durchgeführt wurde: „Die Zeit ist nicht reif, in einem Lehrbuch zum Für und Wider der neuen psychochirurgischen Operation Stellung zu beziehen“ (Bleuler 1983: 190).
Seit den späten 1940er Jahren werden auch in Deutschland hirnchirurgische Verfahren zur Behandlung psychischer Krankheiten eingesetzt. In den 1970er Jahren wurden sogenannte stereotaktische Verfahren entwickelt, die vor allem bei neurologischen Erkrankungen zum Einsatz kommen. Hier wird der Zielpunkt des Eingriffs genau berechnet und durch den Einsatz eines geeigneten Zielgerätes gewährleistet, dass dieser genau erreicht wird. So konnten ganz gezielt Hirnzentren zerstört werden, die für ganz bestimmte psychische bzw. psychosomatische Vorgänge verantwortlich sind. Um so wenig Hirnsubstanz wie möglich zu verletzen, wurden möglichst kleine Operationsinstrumente eingesetzt. Ein solches Ver288 Das zunächst geringe und späte Interesse in Deutschland mag damit zusammenhängen, dass Menschen, für die in anderen Ländern eine entsprechende Indikation gestellt wurde, in Deutschland für lebensunwert gehalten und, wie gezeigt, auch massenhaft ermordet wurden. An therapeutisch gemeinten Verfahren, wie zweifelhaft diese sich auch aus heutiger Sicht darstellen mögen, bestand vor diesem Hintergrund wenig Interesse. Für diese Annahme spricht unter anderem auch die Tatsache, dass es vor allem der Psychiater Anton von Braunmühl, einer der wenigen damaligen Gegner der sogenannten Euthanasie, war, der sich für die Einführung dieser Behandlungsmethode in Deutschland stark machte und auch die deutsche Übersetzung des bereits 1942 in den USA erschienenen Buches von Freeman & Watts besorgte.
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fahren erscheint bei lokalisierbaren neurologischen Erkrankungen durchaus plausibel. Anders verhält es sich allerdings bei einer psychiatrischen Indikationsstellung. Hier wird, wie wir gesehen haben, die organische Bedingtheit psychischer Erkrankungen in den meisten Fällen bis heute lediglich angenommen, sie kann jedoch nicht nachgewiesen, geschweige denn lokalisiert werden. Dennoch wurden hirnchirurgische Verfahren auch bei der Diagnose psychischer Krankheiten durchgeführt. Das begründeten Meinhard Adler (*1937) & Rolf Saupe (1952-2007) wie folgt: „Der Begriff Psychochirurgie ist definiert als ein gezielter chirurgischer Eingriff am, nach derzeitigen Methoden, morphologisch ‚gesunden’ Gehirn zum Zwecke der Beeinflussung der Psyche“ (Adler & Saupe 1979: VI), genauer: der „mit der Absicht durchgeführt wird, psychisches Erleben und Verhalten zu beeinflussen, ohne daß für die Indikationsstellung eine morphologisch oder funktionell nachweisbare Indikationsstellung vorliegen muß“ (a. a. O.: 1).
Es wird also bei der Psychochirurgie, unabhängig von dem je gewählten Verfahren zugestandenermaßen in jedem Falle morphologisch gesunde Hirnsubstanz zerstört, bei den älteren Verfahren mehr, bei den neueren weniger. „Die Frage der Ursächlichkeit einer funktionellen Psychose verlangt vor einem psychochirurgischen Eingriff keine Beantwortung, und zwar weder praktisch noch theoretisch. Unbenommen ist, dass jedes Verhalten, Denken, Fühlen und jedes Sozialverhalten an das Gehirn gebunden ist, eine Schaltstelle die notwendige Voraussetzung ist. Ein Eingriff in diese Schaltstelle, der Verhalten oder Denken ändert, ist denkbar, wenn die gespeicherte Information als solche als schädlicher Agens angesehen wird (Umwelt) oder auch, wenn der Speicher selbst (Hirn) ursächlich den Schaden darstellt. Diese Argumentation bewegt sich innerhalb der dualistischen Begrifflichkeit. Es ist einfacher, beide Wörter nicht als sich ausschließende Gegensätze aufzufassen und sich ein gegenseitiges Bedingen von Umweltreizen und ihrer Speicher vorzustellen“ (a. a. O.: 7).
Dem letzten Satz ist zuzustimmen, soweit er die Wechselseitigkeit von Umwelt und körperlichem Geschehen betont. Nicht nachzuvollziehen ist, wieso dies als Argument für eine irreversible chirurgische Manipulation oder Zerstörung des hier in Anlehnung an die Computermetapher als Speicher bezeichneten morphologisch und funktionell gesunden Gehirns angeführt wird. Viel näher läge es doch, daraus Wege und Strategien abzuleiten, wie – wir bleiben bei der gewählten Begrifflichkeit – die als schädlicher Agens bezeichnete Information aus dem „Speicher“ zu entfernen ist, und den „Speicher“ durch geeignete pädagogische oder therapeutische Verfahren „frei“ zu machen für zuträgliche, Erfüllung und Freude bereitende Inhalte. Hierzu wäre allerdings die Beantwortung der Frage nach der Ursächlichkeit und den Lebensbedingungen, unter denen es zur „Speicherung“ der als schädlich ausgemachten Bewusstseinsinhalte gekommen ist, von zentraler Bedeutung. Die Psychochirugie geht einen anderen Weg. Sie entfernt bzw. zerstört den Speicher, so als würde man einem Patienten, der sich an verdorbener Speise vergiftet hat, nicht den Magen auspumpen, sondern diejenigen Teile des möglicherweise akut zwar angegriffenen, ansonsten aber gesunden Magens entfernen, in denen sich die vergiftete Speise befindet. Während, wie gezeigt, für Griesinger (1871: 1) im 19. Jahrhundert noch die Lokalisation der erste Schritt allein zum Verständnis der psychischen Krankheiten war, scheint diese, da mehr als 100 Jahre später immer noch nicht gelungen, den Psychiatern des 20. Jahrhunderts offensichtlich sogar bei deren chirurgischer Behandlung entbehrlich zu sein.
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Bemerkenswert sind übrigens auch die theoretischen Grundlagen, auf die die Autoren ihre Begründung der Psychochirurgie stützen: „Darwinismus und Verhaltensforschung haben die gedankliche Differenz zwischen Mensch und Tier vermindert, psychiatrische Auffälligkeiten wurden zunehmend als mit der gleichen naturwissenschaftlichen Methodik bearbeitbar eingeordnet wie andere biologische und medizinische Probleme. Nach langer Zeit zeigte sich zum ersten Mal ein therapeutischer, instrumentell angeleiteter Optimismus, die klassische Leib/Seele-Dichotomie wurde allmählich obsolet, die allgemeine Gehirnforschung profitierte von den Fortschritten der Elektrophysiologie und der Entwicklung der Biochemie und erste Erfolge somatischer Therapieversuche führten zu einer ‚Entpädagogisierung’ der Einstellung zur Psychiatrie“ (Adler & Saupe 1979: 35 f.).
Naturalistisch begründeter, geradezu omnipotenter technischer Machbarkeitsanspruch wurde hier als Beitrag zur „Entpädagogisierung“ gefeiert. Zu erwähnen sei an dieser Stelle, dass Meinhard Adler bis zu seiner Emeritierung Professor am Seminar für heilpädagogische Psychologie und Psychiatrie der Universität zu Köln gewesen ist. In Deutschland kam Psychochirurgie vor allem bei der „Behandlung“ von Sexualstraftätern zum Einsatz und ersetzte oder ergänzte das bis dahin übliche operative Verfahren der Kastration. Während Huber in der 1. (1974: 307) und 2. (1976: 278) Auflage seines Lehrbuches „bei schwerer sexueller Perversion, insbesondere auch bei pädophilen Straftätern (…) eine operative oder hormonelle Kastration [für] angezeigt“ hält, ergänzt er ab der dritten Auflage (1981: 351): „Bei stark ausgeprägten Perversionen mit gravierenden sozialen und forensischen Konsequenzen, z. B. bei Pädophilie und sadistisch-aggressivem Sexualverhalten (Notzucht), gelegentlich auch bei Homosexualität, kann eine stereotaktische Operation (Ausschalung des Sexualverhaltens-Zentrums) erwogen werden.
Ab der 5. Auflage (1994: 548) wurde der Einschub „gelegentlich auch bei Homosexualität“ gestrichen. Die Begründung findet sich wenige Zeilen später im Unterkapitel über Homosexualität: „In ICD 10 gibt es ‚die diskriminierende Diagnose Homosexualität’ als ‚nosologische Entität’ nicht mehr“ (a. a. O.: 548; vgl. hierzu die Ausführungen über die Pathologisierung und Entpathologisierung der Homosexualität in diesem Band).
Für viele Sexualstraftäter war ein psychochirurgischer Eingriff neben der Kastration der einzige Weg, nach verbüßter Strafe lebenslanger Sicherungsverwahrung zu entgehen. „Seit Mitte der 60er Jahre berichtet die Göttinger Arbeitsgruppe Roeder, Orthner, Müller über stereotaktische Eingriffe bei Sexualdeviation. Es scheint sich bei diesem Eingriff um eine deutsche Spezialität zu handeln, wie Valenstein (1977) nach einer Auswertung der psychochirurgischen Weltliteratur feststellte“ (Adler & Saupe 1979: 155).
Adler & Saupe zitieren eine Studie der Arbeitsgruppe, die von den Ergebnissen von 23 Operationen berichtet.
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„Als Diagnose zum Eingriff werden Pädophilie, Pädoephebophilie, Pädoephebohomophilie, Ephebophilie, Exhibitionismus und Hypersexualität289 aufgeführt. (…) Über die Diagnose Ephebophilie ist später spekuliert worden, ob es sich hier um eine Legitimationsdiagnose handelt, um auch nach dem Aufheben des Verbots der Homosexualität den Eingriff wegen ‚normaler’ Homosexualität zu rechtfertigen“ (a. a. O.: 157).
Schulte & Tölle gingen in den ersten fünf Auflagen ihres Lehrbuches überhaupt nicht auf die Psychochirurgie ein. Erst in der 6. Auflage erwähnte Tölle psychochirurgische Verfahren in einem lapidaren Satz: „Das neurochirurgische Verfahren der Leukotomie bzw. Lobotomie (Moniz 1935) wurde nach einiger Zeit aufgegeben“ (Tölle 1982: 351). Zwar behielt das Lehrbuch diesen Satz bis zur vorerst letzten Auflage bei (Tölle & Windgassen 2009: 353). Allerdings wird Psychochirurgie290 seit der 13. Auflage einige Seiten später als durchaus noch gebräuchliches und in Einzelfällen auch angezeigtes Verfahren dargestellt: „Als Indikationen werden heute hauptsächlich angegeben: affektive Psychosen, Zwangsstörungen, Angststörungen – jeweils nur die schwersten Formen mit chronischem und therapieresistentem Verlauf. Nebenwirkungen sind (meist nur vorübergehend) Verwirrtheit, Gedächtnisstörungen und andere kognitive Störungen. Die Ergebnisse werden bei den angegebenen Krankheiten zu mehr als 50 % positiv angegeben. (…). Diese Erfolge bei schwerstem und sonst unbeeinflußbarem psychischen Leiden relativieren die grundsätzlichen Bedenken, es werde in scheinbar gesundem Gewebe operiert und ein ungezielter Eingriff durchgeführt“ (Tölle & Windgassen 2003, 2006: 376; 2009: 380).
Der Widerspruch zwischen diesen beiden Formulierungen verweist allerdings vermutlich weniger auf eine Bewusstseinsspaltung des Autors als vielmehr auf ein unterschiedliches Bewusstsein der seit der 13. Auflage zwei Autoren. Die neu hinzugekommenen Ausführungen stammen offensichtlich von Klaus Windgassen, der seit der 13. Auflage das Lehrbuch gemeinsam mit Rainer Tölle herausgibt. Da mit der Hinzuziehung von Windgassen offensichtlich ein Generationenwechsel bei der Herausgabe des Lehrbuches eingeleitet werden sollte, mag dies ein Hinweis dafür sein, dass der Psychochirurgie als Behandlungsmethode ein neuer Aufschwung bevorsteht. 6.4.3 Pharmakotherapie Schon Kraepelin behandelte psychische Krankheiten mit Medikamenten. Beeinflusst durch die Wundt’sche Experimentalpsychologie hat Kraepelin in zahlreichen Experimenten die psychischen Wirkungen psychoaktiver Substanzen erforscht (vgl. Kraepelin 1892) und die Ergebnisse in seine Behandlungskonzeption einfließen lassen. „Unter den Arzneimitteln sind es besonders die Narcotica, die wegen ihrer beruhigenden Wirkung eine hervorragende Stelle in dem Heilapparate der Geistesstörungen einnehmen. Seit alter Zeit ist das Opium im Gebrauch. Es wirkt auf gewisse Verrichtungen unseres Großhirns läh289 Pädophilie = sexuelle Neigung zu Kindern, Pädoephebophilie = sexuelle Neigung zu Kindern und geschlechtsreifen Jugendlichen, Pädoephebohomophilie = sexuelle Neigung zu gleichgeschlechtlichen Kindern und geschlechtsreifen Jugendlichen, Ephebophilie = sexuelle Neigung zu geschlechtsreifen Jugendlichen. 290 „Genauer müßte es heißen: Hirnchirurgie zur Behandlung psychischer Störungen“ (Tölle & Windgassen 2009: 379).
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mend, besonders, wie es scheint, bei ungenügender Blutzufuhr zu demselben. Eine genaue Kenntnis seines Einflusses auf die verschiedenen psychischen Leistungen fehlt bisher noch“ (Kraepelin 1920: 560). Für noch geeigneter hält Kraepelin allerdings Morphium, ein Alkaloid des Opiums. „Wegen der höheren Gleichmäßigkeit der Wirkung, der sicheren Abmessung und der bequemen (subcutanen) Handhabung ist an die Stelle des Opiums vielfach das Morphium getreten“ (a. a. O.: 561).
Kraepelin wußte durchaus um die Risiken dieser Behandlung. Knapp 500 Seiten zuvor (a. a. O.: 98) hatte er noch den Morphinismus als eine den Vergiftungen zuzurechnende und sich stark ausbreitende gefährliche Krankheit beschrieben. Ein „für die irrenärztliche Behandlung recht wertvolles Mittel“ (a. a. O.: 562) ist Hyoscin, ebenfalls ein Narkotikum, wobei „bisweilen eine Verbindung kleiner Gaben von Hyoscin mit Morphium gute Dienste tut“ (a. a. O.: 563). „Über Haschisch sind nur wenige verwertbare Beobachtungen bekannt geworden“ (a. a. O.: 564). Ferner brachte Kraepelin auch Bromsalze zum Einsatz, musste aber auch hier eingestehen: „Die eigentliche Wirkungsweise ist noch recht dunkel“ (a. a. O.: 570). Im Gegensatz zu Kraepelin war Bleuler (1916: 155 ff.) hinsichtlich des Einsatzes von Arzneimitteln wesentlich zurückhaltender. Neben den schon erwähnten eugenischen empfahl er insbesondere erzieherische Maßnahmen, vor allem durch Arbeit. „Bei ausgesprochener Krankheit sind die chronischen Fälle von den akuten zu unterscheiden. Die chronischen sind zum Teil zu normalem Verhalten und zu Arbeit zu erziehen,291 da aber außer den Ärzten noch wenige Leute Verständnis für eine solche Erziehung haben, ist deren Leitung noch Sache der Mediziner“ (a. a. O.: 151).
In Einzelfällen empfahl auch Bleuler die Vergabe von Schlafmitteln, Brom, Opiaten oder Hyoscin, riet aber dazu, sie möglichst zu vermeiden. An dieser Auffassung hielt er bis zu seinem Tod fest, auch Manfred Bleuler übernahm sie weitgehend unverändert bis zur 9. Auflage des von ihm fortgesetzten Lehrbuches (1955). „Mit der Entdeckung der antipsychotischen Wirkung von Clorpromanzin (Megaphen) durch die französischen Psychiater Delay und Deniker292 begann 1952 die seither so bezeichnete psychiatrische Psychopharmakotherapie. Die Pharmakotherapie ist heute ein so großer Bereich der psychiatrischen Behandlung, daß andere Somatotherapien wie Wachtherapie (antidepressiver Schlafentzug) und Elektrokrampftherapie sowie Psychotherapie leicht wie zweitrangig erscheinen könnten“ (Tölle & Windgassen 2009: 353).
Das Wort Psychopharmakon ist zusammengesetzt aus den beiden griechischen Wörtern für Seele und Heilmittel und wurde in dieser Bedeutung, soweit bekannt, erstmalig 1548 von 291 Insbesondere im Zusammenhang mit der Behandlung der Idiotie hat schon Griesinger auf die herausragende Bedeutung von Erziehung aufmerksam gemacht und dabei ausdrücklich auf das, soweit bekannt, weltweit erste Lehrbuch einer Pädagogik der Idioten von Edouard Séguin (1846) Bezug genommen, wenn er fordert, dass „die Therapie dieser Zustände einerseits in ärztlicher (hygienischer, zuweilen medicamentöser) Behandlung, andererseits aber in Erziehung, und zwar nicht nur des Geistes, sondern besonders auch der sinnes- und Bewegungsorgane, Weckung und Ausbildung der Sprache, Uebung in richtiger Ausführung der Thätigkeiten des gewöhnlichen Lebens“ liegen muss. „Die vortrefflichsten Regeln hierzu finden sich in Seguin’s Traitement etc. Par. 1846, die vielen neueren Publicationen reichen in practischer Beziehung nicht an dieses Werk“ (Griesinger 1871: 388). 292 Jean Delay (1907-1987) und Pierre Deniker (1917-1998).
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dem Marburger Professor für Beredsamkeit Reinhard Lorichius verwandt, der unter dem Titel „Ҟ„
Irreführend ist es deswegen auch, wenn von einer „antipsychotischen“ Wirkung dieser Substanzen gesprochen wird. Schulte & Tölle (2009: 3503 f.) bezeichnen als „Psychopharmaka (…) die chemischen Verbindungen, die zentralnervöse Regulationen beeinflussen und auf diesem Wege psychische Funktionen verändern. Klinisch lassen sich drei Gruppen unterscheiden: a.
b. c.
Psychopharmaka im engeren Sinne sind die therapeutisch verwendeten psychotropen Verbindungen, nämlich Neuroleptika (Antipsychotika), Antidepressiva und Phasenprophylaktika, Tranquilizer (Anxiolytika, Ataraktika). Im erweiterten Sinne zählen hierzu Hypnotika (Schlafmittel), Sedativa (Beruhigungsmittel) einschließlich Alkohol sowie Stimulantien (Psychoanaleptika), auch Nikotin. Psychopharmaka sind auch diejenigen Verbindungen, die psychopathologische Störungen hervorrufen und Psychotominetika, Psychodysleptika, Halluzinogene, Rauschmittel oder kurz ‚Drogen’ genannt werden“.
Betrachtet man die zum Teil erheblichen Nebenwirkungen auch der zu therapeutischen Zwecken verwendeten Psycho- bzw. Neuropharmaka, erscheint die dichotome Einteilung in solche Substanzen, die primär therapeutisch wirksam sind, und solche, die primär psychopathologische Störungen hervorrufen, nicht ganz nachvollziehbar. Die Zweifel verstärken sich vor allem auch vor dem Hintergrund, dass ein Teil der Psychopharmaka in dem Lehrbuch gar nicht unter dem Kapitel „Somatotherapie“, sondern in dem Unterkapitel Psychostimulantien im Kapitel „Abhängigkeit/Sucht“ abgehandelt wird, so z. B. Methylphenidat (a. a. O.: 168), ein Amphetaminderivat, welches unter Handelsnamen wie Ritalin oder Medikinet oft über Jahre hinweg an Kinder und Jugendliche mit dem sogenannten hyperkinetischen Syndrom bzw. Aufmerksamkeits-Defizits-(Hyperaktivitäts)-Syndrom (ADHS oder ADS) verabreicht wird (hierzu ausführlich: DeGrandpre 2002, Hüther & Bonney 2002), wobei die Anzahl der verordneten Tagesdosen von Jahr zu Jahr geradezu schwindelerregende Zuwächse erfährt. Sie ist in den Jahren zwischen 1994 und 2008 von 3,9 auf 53 Millionen Tagesdosen pro Jahr angestiegen294 und hat sich allein zwischen 2004 und 2008 293 Deutsch: „Psychopharmakon: das ist Medizin für die Seele“ (Loricius 1548). 294 Die verordneten Mengen stiegen im gleichen Zeitraum ausweislich der Verbrauchsstatistik „Methylphenidat“ der Bundesopiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) von 34 Ki-
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von 26 auf 53 Millionen mehr aus verdoppelt (vgl. Lohse u. a. 2008: 806; Lohse & Müller Oerlinghausen 2009: 789), der Trend ist weiter anhaltend.295 In Zusammensetzung und Wirkung weist die Substanz große Ähnlichkeit mit dem in Drogenkreisen als „Speed“ bekannten Amphetamin auf, dessen Beschaffung, Besitz296 und Vertrieb in Deutschland nach dem Betäubungsmittelgesetz strafbar ist. Ob eine Substanz mit enzephalotroper Wirkung als Droge betrachtet wird oder als Heilmittel, hängt also nicht von irgendwelchen Eigenschaften dieser Substanz ab, sondern von der Definition und der Praxis im Umgang mit ihr, ist mithin das Ergebnis gesellschaftlicher Konstruktionen, die durchaus historischem Wandel unterliegen. „Wie bei kaum einer anderen Stoffgruppe hängen positive und negative Eigenschaften von der Art der Anwendung und der Indikation ab. Beim Aufmerksamkeits-Defizit-HyperaktivitätsSyndrom sowie bei Narkolepsie ist Methylphenidat ein wertvolles, nicht zu Abhängigkeit führendes Therapeutikum. Jedoch werden Amphetamine vielfach missbräuchlich ohne entsprechende Indikation, insbesondere in der Drogenszene oder als Doping-Mittel, verwendet. In diesem Fall besitzen sie ein hohes Abhängigkeitspotential und sind gefährlich. Alle Amphetamine unterliegen deshalb der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung“ (Mutschler u. a. 2008: 193; Hervorhebungen im Original).
Soweit diese Aussage aus einem aktuellen Lehrbuch der Pharmakologie und Toxikologie den berühmten Satz von Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493-1541), konkretisiert, „alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; Nur die Dosis macht, dass etwas kein Gift sei“ (Parascelsus 2003: 63), erscheint sie durchaus plausibel. Rätselhaft bleibt jedoch, warum der Konsum der Substanz bei Menschen mit der umstrittenen Diagnose ADHS, als Therapeutikum verschrieben, nicht zu Abhängigkeit führen, für Personen ohne diese Diagnose hingegen eine gefährliche Droge mit hohem Abhängigkeitspotential darstellen soll. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass auch Opium oder Morphium einst, wie soeben an den Ausführungen von Kraepelin und Bleuler gezeigt, als Therapeutika eingesetzt wurden. In der Schmerztherapie und der Palliativmedizin kommen Opiate heute noch zur Anwendung. Diacetylmorphin wurde 1898 als Medikament zugelassen und seither von den Farbenwerken Elberfeld, der heutigen Bayer AG, unter dem seinerzeit als Warenzeichen geschützten, euphemistischen Handelsnamen Heroin®297 mit groß angelegten logramm auf 1,617 Tonnen und 2009 noch einmal um 123 Kilogramm auf 1,735 Tonnen. Setzt man beide Statistiken zueinander ins Verhältnis, zeigt sich, dass nicht nur die Anzahl der Verordnungen, sondern auch die Höhe der durchschnittlichen Einzeldosen zwischen 1993 und 2008 um den Faktor 3,56 von 8,7 auf 31 Milligramm angestiegen ist. 295 Diese Entwicklung ist insofern bemerkenswert, als zur theoretischen Begründung für die medikamentöse Behandlung des sogenannten hyperkinetischen Syndroms stets auf irgendwelche pathologische Geschehen im Zentralnervensystem verwiesen wird, die genetisch bedingt und zumeist erblich erworben seien. Remschmidt & Heiser (2004: A2460 f.) gehen „von einem genetischen Anteil von 70 bis 95 Prozent“ aus. Träfe diese Annahme zu, wäre allerdings eine konstante Prävalenz und mithin ein relativ gleichbleibender Anteil Problembetroffener in jedem Altersjahrgang zu erwarten. Der seit Jahren geradezu explosionsartige Anstieg entsprechender Diagnosen, die einer entsprechenden Indikation ja vorausgehen müssen, ist auch kaum, wie dies immer wieder geschieht, allein mit einer sich verbessernden Diagnostik plausibel zu begründen. Die quantitative Entwicklung dieser Verschreibungspraxis steht somit seit Jahren in einem eklatanten Widerspruch zu ihren eigenen theoretischen Prämissen. 296 Jedenfalls in Mengen von mehr als 30 Gramm (vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 25. Juli 2001, 5StR 183/01). 297 Das griechische Wort ۓȡȦȢ (heros) bedeutet: der Held.
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IV Mechanistisch-naturwissenschaftliche Erklärungsansätze des Anders-Seins
Werbekampagnen weltweit vermarktet. Angeboten wurde es als gut verträgliches, praktisch nebenwirkungsfreies, oral als Saft oder in Tablettenform einzunehmendes Schmerz-, Husten- und später zunehmend als universelles und scheinbar hochwirksames Heilmittel gegen immer mehr Krankheiten und andere Verstimmungen, das in keiner Hausapotheke fehlen durfte. Auch Kindern, sogar Kleinkindern wurde es verabreicht, nachdem entsprechende Untersuchungen des Konzerns seinerzeit zu ähnlich positiven Ergebnissen geführt hatten wie heute einschlägige Studien über methylphenidathaltige Medikamente wie Ritalin® oder Medikinet®. „Aehnlich günstige Erfolge bewirkte das Heroin in 3 Fällen von Keuchhusten. Es handelte sich um Kinder in dem Alter von 3, 4 und 8 Jahren, sämmtliche im Anfange des zweiten Stadium convulsivum298. Die Dosis war 0,0015-0,005 mehrmals täglich. (…) Von sämmtlichen Kindern (…) wurde das Heroin gut vertragen, ohne eine Spur von Nebenwirkungen zu erzeugen“ (Floret 1899: 328).
Theobald Floret war Werksarzt der Farbenwerke Elberfeld und zuständig für die werksinterne Erprobung der von dem Unternehmen vertriebenen Medikamente. Schon ein Jahr zuvor gelangte er zu der Einschätzung: „Ungünstige Nebenwirkungen scheinen dem Präparat nicht anzuhaften. (…) Eine Angewöhnung an dasselbe [gemeint ist immer Heroin] scheint nicht einzutreten“ (Floret 1998: 512).
Nach der Verabschiedung des Internationalen Opiumabkommens 1912 wurde Diacetylmorphin verschreibungspflichtig. Es wurde als Heroin® noch bis in die 1930er, unter anderen Handelsnamen von anderen Firmen bis in die 1950er Jahre im Handel vertrieben. Der Markenzeichenschutz wurde in den 1940er Jahren nicht mehr verlängert. Seit 1972 ist Heroin durch das Betäubungsmittelgesetz verboten und gilt mittlerweile als sogenannte harte Droge, ja „als die gefährlichste Suchtdroge überhaupt“ (Fengler 2002: 518). Dabei hat sich die Substanz überhaupt nicht verändert, sondern allein das wissenschaftliche und gesellschaftliche Denken über sie und die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit ihr.299 Wurde der Konsum früher selbst bei Kleinkindern als medizinisch sinnvoll ärztlich empfohlen, so wird er heute umfassend kriminalisiert. Über die spannende Frage, was die Menschen in etwa 100 Jahren wohl über unser heutiges Denken über Methylphenidat und unsere heutige Praxis im Umgang mit dieser Substanz denken mögen, kann derweil nur spekuliert werden. Es ist im Zusammenhang unserer Fragestellung weder möglich noch notwendig, detailliert auf die Wirkungsweisen der einzelnen Gruppen von Neuropharmaka einzugehen (hierzu, auch zu den unerwünschten Nebenwirkungen ausführlich: Finzen 2004 oder aus psychiatriekritischer Perspektive: Lehmann 1996). Die Wirkungsweise von Psycho- bzw. Neuropharmaka bringen Dörner u. a. (2009: 566) auf den Punkt: „Sie erzeugen (…) ein hirnlokales ‚pharmakogenes Stammhirnsyndrom’ mit affektiv-antriebsmäßigem Durchgangssyndrom sowie extrapyramidalen und vegetativen Symptomen, die mit der beabsichtigten Wirkung verknüpft sind. Sie verwandeln also einen psychiatrischen in einen neurologischen Patienten, was psychisch entlastend wirkt.“ 298 Dieses Stadium ist das zweite und kritische Stadium im Verlauf der Keuchhustenkrankheit und ist begleitet von krampfartigen Hustenattacken. 299 Hierzu ausführlich: de Ridder 2000.
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Neuropharmaka sind keine Heilmittel. Ihre Einnahme führt günstigstenfalls lediglich zu einer zeitweisen Unterdrückung derjenigen Symptome, die jeweils zur psychiatrischen Diagnose geführt haben, über längere Zeit verabreicht, allerdings verbunden mit oft massiven und teilweise irreversiblen neurologischen und anderen organischen Schäden. „Für die Forschung ist die Aufgabe ungelöst (unlösbar?), ein Medikament zu entwickeln, das nicht symptomunterdrückend, sondern problemlösend wirkt und das weder durch unangenehme Wirkungen die Belastung der Patienten noch durch angenehme die Abhängigkeitsgefahr vermehrt. Dabei steht die pharmakologische Forschung freilich nicht schlechter da als alle anderen psychiatrischen Forschungsrichtungen“ (a. a. O.: 567).
Breggins (1996: 93 ff.) verglich die Wirkung insbesondere von Neuroleptika mit derjenigen der Lobotomie; akut, indem sie die Nervenverbindungen zwischen Stammhirn und Stirnlappen unterbrechen und chronisch, indem sie zur fortschreitenden Zerstörung von morphologisch gesunder Hirnsubstanz führen. Bemerkenswerterweise kam auch Bleuler (1983: 173) zu einer ganz ähnlichen Einschätzung. Auch er wies den Anspruch, Psychopharmaka wirkten „antipsychotisch“ zurück und setzte den Begriff bewusst in Anführungszeichen. „Ich vermute, daß die ‚antipsychotische’ Wirkung doch primär auf die Bremsung bestimmter aktivierender Systeme zurückgeht. Für meine Vermutung spricht u. a. die Feststellung, daß die ‚antipsychotische’ Wirkung neuroleptischer Mittel ähnlich ist mit der ‚antipsychotischen’ Wirkung von psychochirurgischen Eingriffen, die umschriebene Hirnläsionen setzen.“
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„Es kam auch vor, daß man ein besonderes Krankheitsbild konstruierte“ (Eugen Bleuler): Ein kritisches Fazit
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„Es kam auch vor, daß man ein besonderes Krankheitsbild konstruierte“ (Eugen Bleuler)
So alt wie das medizinische Verständnis von psychischen Krankheiten ist auch die Kritik daran. Einer der schärfsten Kritiker aus den eigenen Reihen ist Thomas Szasz (*1920 in Budapest),300 auf den wir bereits im Zusammenhang mit seiner Kritik am Konzept der Schizophrenie eingegangen sind (138 ff.). Szasz stellt nicht nur die Zwangsmaßnahmen der Psychiatrie radikal in Frage, sondern vor allem auch die sie begründenden Grundannahmen. Er hält die Biologisierung und Pathologisierung von menschlichem Verhalten, das den Zeitgenossen als abweichend vorkommt, also die unhinterfragte Grundannahme, dass dieses Verhalten durch krankhafte mentale Zuständen verursacht sei, für einen kategorialen logischen Fehler. Kurz gesagt: Wissen über Körper wird durch physikalische Beobachtungen, Messungen und mathematische Berechnungen erlangt. Wissen über den Geist, die Psyche, wird hingegen durch sprachliche Kommunikation und die Interpretation von Bedeutungen erlangt, es ist abhängig von Interpretationen des Verhaltens und der Ausdrucksformen anderer Personen. Erklärungen über die Seele und Erklärungen über den Körper gehören zu grundsätzlich anderen Bereichen der Kommunikation und Erkenntnis. Der Versuch, Erkenntnisse über die Psyche auf medizinischem Wege hervorzubringen, erscheint nach diesem Verständnis also ungefähr so abwegig, als wollte man in einem Teich die Wassertiefe mit dem Thermometer und die Temperatur mit dem Zollstock messen. Psychi300 Er emigrierte 1938 in die USA, studierte dort Medizin mit dem Schwerpunkt Psychiatrie und war von 1956 bis zu seiner Emeritierung 1990 Professor für Psychiatrie an der State University of New York in Syracuse.
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atrie ist nach Szasz weder eine medizinisch fundierte noch medizinisch zu fundierende Disziplin, sondern nichts weiter als eine schlechte Kopie der Medizin. „Da sie über keine eigenen therapeutischen Methoden (außer eines Monopols auf Zwangsmaßnahmen unter medizinischem Vorzeichen) verfügten, neigten die Psychiater, wie bereits bemerkt, dazu, herrschende medizinische Moden nachzuahmen. Als Aderlaß und Schröpfen in waren, wandten die Nervenärzte Aderlaß und Schröpfen an. Als Insulin als Behandlung gegen Diabetes entdeckt wurde, gaben Psychiater ihren Patienten Überdosen von Insulin und bezeichneten dies als Insulin-Koma-Therapie. Als Elektrokardiographie und Elektroenzephalographie beliebte medizinische Instrumente wurden, verpaßten Psychiater ihren Patienten elektrisch induzierte Krampfanfälle und nannten dies Elektrokrampfbehandlung. In den fünfziger Jahren behandelten Ärzte ihre Patienten mit Antazida, Antibiotika, Antihistaminika, Antihypertonika und anderen Arzneien, die sich mit der Vorsilbe Anti schmückten. Antipsychotika konnten da nicht lange auf sich warten lassen. Chemiker fanden bald verschiedene organische Verbindungen, deren pharmakologische Wirkung darin bestand, Denken und Bewegungen zu stimulieren oder zu hemmen. Die Stimulantien wurden als Antidepressiva, die Hemmer als Antipsychotika und angstdämpfende Mittel eingesetzt. Der Psychiatriepatient konnte jetzt mit einer chemischen statt einer mechanischen Zwangsjacke unter Kontrolle gehalten werden: Man konnte ihm die Fessel einverleiben, statt sie ihm überzuziehen“ (Szasz 1997: 245 f.).
Szasz gilt als einer der bedeutendsten Gewährsmänner der Psychiatriekritik und wird immer wieder gerade auch von Teilen psychiatrieerfahrener Kritiker gerne zitiert. Andere haben sich zwischenzeitlich von ihm distanziert. Im Gegensatz zu den meisten anderen Psychiatriekritikern orientiert sich Szasz nämlich in keiner Weise an der Perspektive der Betroffenen. Im Gegenteil, diese scheinen ihm eher gleichgültig zu sein, teilweise bringt er ihnen offene Verachtung entgegen. Er argumentiert vor allem als erklärter Antikommunist und bekämpft die Psychiatrie und auch andere wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen als bolschewistische Fremdkörper „in modernen kapitalistischen Gesellschaften“ (a. a. O.: 189).301 „Heute gleicht die psychiatrische Situation in den Vereinigten Staaten und anderen hochentwickelten Gesellschaften der wirtschaftlichen Situation, die in der Sowjetunion herrschte. In kommunistischen Gesellschaften war kein Platz für marktwirtschaftliche Ökonomen, deren Wertvorstellungen mit denen des Staates unvereinbar waren. Ebensowenig ist in therapeutischen Gesellschaften Platz für auf Vertragsbasis arbeitende Psychiater, deren Wertbegriffe jenen der offiziell sanktionierten Psychiatrie widersprechen“ (ebd., Fn.). „Die psychiatrisch korrekte Einstellung zur psychosozialen Versorgung ist heute durch und durch sozialistisch“ (a. a. O.: 191), kritisiert er und entdeckt „Ähnlichkeiten zwischen der antiproduktiven Mentalität des chronischen Psychiatriepatienten und der antikapitalistischen Mentalität des Sozialisten bzw. Kommunisten“ (a. a. O.: 216).
Die Patienten der Psychiatrie sind für ihn größtenteils faule, unproduktive Schmarotzer wohlfahrtsstaatlicher Versorgung oder Kriminelle, „deren Faulheit und Zügellosigkeit sich als Krankheit tarnt“ (a. a. O.: 222).
301 Dabei ist er in der Auswahl seiner Mitstreiter im Kampf gegen das psychiatrische System nicht wählerisch. 1969 war er Mitbegründer der Citizens Commission for Human Rights, einer Einrichtung der ScientologyChurch, welcher Kritiker, auch und gerade Scientologie-Erfahrene (Entkommen 1993; Handl 2005), ähnlich wie Szasz der herkömmlichen Psychiatrie, vorwerfen, insbesondere mit ihrem zentralen Verfahren des Auditing Gehirnwäsche und Psychoterror zu betreiben.
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„Die simple Wahrheit ist, dass manche Menschen es vorziehen, ihr Geld nicht für eine Behausung aufzuwenden (sondern vielleicht lieber für den Kauf von Drogen), dass sie es ablehnen, bei Familienmitgliedern zu wohnen, die bereit wären, sie aufzunehmen, und ein Leben in psychischer Krankheit, Verbrechen und Landstreicherei bevorzugen“ (a. a. O.: 140). „Einfach ausgedrückt, jemand, der Diabetes oder Bluthochdruck hat, ist nicht notwendigerweise unproduktiv oder kriminell, während Personen, bei denen Schizophrenie oder antisoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, typischerweise unproduktiv sind und sich häufig in einer Weise verhalten, die als gesellschaftsfeindlich oder kriminell bezeichnet wird“ (a. a. O.: 211). An anderer Stelle schreibt er: „Ein Individuum, das nicht produktiv werden kann oder will, muss ein Abhängiger oder ein Räuber werden oder zugrunde gehen“ (a. a. O.: 213) und stellt klar, dass „viele der Menschen, die wir psychisch krank nennen, de facto räuberisches Verhalten praktizieren“ (ebd.).
Szasz geht es also mit seiner in Teilen durchaus nachvollziehbaren Psychiatriekritik, anders als etwa der Antipsychiatriebewegung, überhaupt nicht um die Überwindung für menschenunwürdig eingeschätzter Bedingungen psychiatrischer Einrichtungen und dort praktizierter Behandlungsmethoden. Konsequent zu Ende gedacht folgt aus seinem Ansatz, dass Menschen, die als psychisch krank bezeichnet und behandelt werden, nicht zu pathologisieren, sondern zu kriminalisieren sind. Die Tatsache, dass Menschen sich tatsächlich in psychischen Situationen befinden können, die ihre Willensentscheidungen zum Teil erheblich beeinträchtigen und unter denen sie in extremer, ja bisweilen lebensbedrohlicher Weise leiden, weswegen sie in Szaszs allein auf ökonomische Produktivität verkürztem Verständnis möglicherweise auch unproduktiv sind, hat in seiner Argumentation offensichtlich keine Bedeutung. Das gilt unabhängig davon, ob solche Phänomene dämonologisch etwa als Besessenheit, medizinisch als Krankheit, psychodynamisch als Folge einer gestörten psychischen Entwicklung, lerntheoretisch als erlerntes Fehlverhalten oder wie sonst auch immer erklärt werden. Es ist auch unbestritten, dass Fachleute, die sich mit psychischem Leiden beschäftigen, zumindest in aller Regel das Ziel haben, den Betroffenen zu helfen, sich von ihrem Leiden zu befreien, das gilt für Exorzisten ebenso wie für Ärztinnen und Ärzte der Psychiatrie und anderer Disziplinen und Professionen im Bereich der psychosozialen Hilfesysteme. Deren als Hilfe gemeinte Interventionen können allerdings hinsichtlich ihrer Intentionen in das Gegenteil umschlagen, besonders dann, wenn die solcherart Helfenden ihre Annahme über die Ursachen für das psychische Leiden unhinterfragt für erwiesene Tatsachen halten. Was bei körperbezogenen psychiatrischen Behandlungsmethoden im Grundsatz geschieht, bringen Dörner u. a. (2009: 589) auf den Punkt: „Wir verwandeln den seelisch leidenden vorübergehend in einen hirnorganisch kranken Menschen.“ Diese Beschreibung für die Wirkung von Elektroschocks302 lässt sich prinzipiell auf alle somatotherapeutischen Verfahren, die in irgendeiner Weise manipulierend in das Zentralnervensystem eingreifen, verallgemeinern, nur dass diese Wirkung bei manchen Verfahren, wie der Psychochirurgie und bei lang andauernder Pharmakotherapie, soweit sie irreversible chronische Schäden erzeugen, nicht vorübergehend ist. Zugespitzt kann also gesagt werden, dass mit diesen Behandlungsformen der gedanklichen Konstruktion des psychisch leidenden Menschen zu einem psychisch Kranken dessen elektrische, chirurgische oder chemische Konstruktion zu einem hirnorganisch Kranken folgt, nicht selten mit erheblichen psychischen Begleiterscheinungen. Soweit dies dem ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen entspricht, mag dies 302 Ähnlich hatten sie sich ja auch bezüglich der Wirkung von Psychopharmaka geäußert (a. a. O.: 566).
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zu akzeptieren sein. Allerdings ist auch hier immer zu fragen, unter welchen Bedingungen ein solcher Wunsch geäußert wird, z. B. bei Sexualstraftätern, die, wie in den 1970er Jahren mehrfach geschehen, in eine Lobotomie nur oder vor allem deswegen einwilligten, um einer womöglich lebenslangen Sicherungsverwahrung zu entgehen. Anders verhält es sich jedoch, wenn eine solche Behandlung ohne den Willen der Betroffenen oder gegen deren ausdrücklichen Widerstand erfolgt. Es ist hier nicht möglich und im Hinblick auf die Fragestellung dieser Untersuchung auch nicht notwendig, näher auf die kontrovers diskutierte Frage nach dem auch von Dörner u. a. (2009: 566 f.) nicht grundsätzlich in Zweifel gezogenen therapeutischen Nutzen solcher Behandlungsmethoden bei strenger Indikationsstellung, zeitlicher Begrenzung und sorgfältiger ärztlicher Überwachung einzugehen. Unabhängig davon ist aber zu konstatieren, dass in der gesellschaftlichen Praxis Psychopharmaka überhaupt nicht, zumindest nicht in erster Linie zu therapeutischen, sondern zu ganz anderen Zwecken eingesetzt werden. Das zeigt z. B. ein Urteil des OLG Hamm vom 23.09.1981 (AZ 3 U 50/81: 7 f.). Ein katholischer Träger, der eine Kette von stationären Behinderteneinrichtungen im Ruhrgebiet betreibt, der St. Georg e. V. mit Sitz in Gelsenkirchen, wollte der Dortmunder Selbsthilfe, einer Initiative, die unter anderem Zufluchtsstätte für Flüchtlinge aus der Psychiatrie und der stationären Behindertenhilfe geworden ist, gerichtlich untersagen lassen, öffentlich zu behaupten, in den Heimen des besagten St. Georg e. V. würde Medikamentenmissbrauch betrieben. In erster Instanz vor dem Essener Landgericht (AZ 12 O 12/80) war das Wohlfahrtsunternehmen bereits gescheitert. Dort sahen die Richter den Medikamentenmissbrauch als erwiesen an. Dieser Auffassung schloss sich auch das Oberlandesgericht an: „Zu bestätigen ist das Urteil zu dem Punkt, ‚in den Häusern des Klägers [Heimträger St. Georg e. V.] werde Medikamentenmißbrauch betrieben’. Das Landgericht hat hierzu nach den Aussagen der vernommenen Zeugen (darunter auch beim Kläger beschäftigte Ärzte und Pfleger) festgestellt, daß in Heimen des Klägers an Patienten Medikamente (insbesondere nachhaltig wirkende Psychopharmaka) über längere Zeiträume verabreicht worden seien, ohne daß die von Herstellern wegen möglicherweise schädigender Nebenwirkungen für notwendig gehaltene Kontrolluntersuchungen (vor allem Blut- und Herzuntersuchungen) durchgeführt worden seien. (…) Dem Gericht ist bekannt die – das ist fast mehr als ‚Nebenwirkung’ – persönlichkeitszerstörende Wirkung von Psychopharmaka, wenn diese nachhaltig über längeren Zeitraum hinweg eingenommen werden. Andererseits mag sie therapeutischen Wert haben in dem Sinne, daß der Patient so für seine Umgebung – auch für das behandelnde oder verwahrende Krankenhaus oder Heim – am besten zu ertragen ist; personelle oder sachliche Gegebenheiten und Möglichkeiten mögen solche ‚Therapien’ geradezu erfordern, und auch die Schulmedizin mag das als die allein mögliche Art einer Behandlung ansehen. Das läßt aber nicht darüber hinwegsehen, daß mit solcher Art zweckgerichteter Medikation eine Persönlichkeitszerstörung einhergeht. (…) Letztlich kommt hier hinzu, daß über die Wirkungen der Therapie der einsichtsfähige Patient oder zumindest sein gesetzlicher Vertreter nicht aufgeklärt worden ist.“
In dem Urteil ging es um das Recht auf freie Meinungsäußerung. Das wurde durch das Gericht bestätigt. An der kritisierten Praxis änderte sich hingegen nichts. Im Gegenteil: Am 13. September 1990 berichtete die Frankfurter Rundschau (S. 32) von der 69. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, nicht gerade eine medizinkritische Gesellschaft: „Rechtsmediziner befürchten in der Bundesrepublik eine starke Zunahme unnatürlicher Todesfälle bei alten Menschen und Pflegefällen in Pflegeheimen und Krankenhäusern.“ Dabei zitiert das Blatt den Präsidenten der Gesellschaft und Professor für Rechtsme-
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dizin an der Universität des Saarlandes, Hans-Joachim Wagner, der in seinem Einleitungsreferat darauf hingewiesen hatte, dass „schon jetzt die Zahl der Todesfälle in besonderem Maße zugenommen (…) (habe), bei denen den Patienten offenbar zu viele Psychopharmaka oder Herzmittel verabreicht worden seien“. Auch diese Warnung verhallte ohne Wirkung. Nach Angaben von H. J. Wagner (1999, A-3033) in einem neuerlichen Beitrag neun Jahre nach seiner oben zitierten Warnung „haben sich die Gesamtverordnungen von definierten Tagesdosen an Neuroleptika innerhalb der letzten zehn Jahre verdoppelt und liegen nach dem 98er Arzneiverordnungsreport bei 207 Millionen definierten Tagesdosen“. Auch Dörner u. a. (2009: 566) warnen: „Alarmierend die epidemische Verschreibungswut von Tranquilizern. Zeichen für eine Lebenshaltung der Schmerz-, Leidens- und damit Lebensvermeidung mit Hilfe von Pharmaka. So werden normale Probleme in pharmaka-abhängige, chronifizierte und dann kaum noch therapierbare Leidenszustände künstlich pathologisiert – dem Komfort des sofortigen, aber nur scheinbaren Leidensabbaus zuliebe. Gesamtgesellschaftlich ist die Frage nach dem Nutzen und Schaden der Neuropharmaka noch offen.“
In eine ganz ähnliche Richtung zielt übrigens auch die folgende, sehr bemerkenswerte Kritik, die bereits aus den 1920er Jahren stammt: „Die Gewöhnung des Publikums an unnützes Medizinieren, an falsche Vorstellungen, ist keine Hygiene, sondern fahrlässige Gefährdung. Sie hat eine Arzneimittelindustrie geschaffen, die zum großen Teil vom autistischen Denken der Patienten und der Ärzte lebt, und, weil sehr kapitalkräftig und prosperierend, unter Laien ebensowohl wie unter Ärzten eine Propaganda macht, die notwendig zu Mißbräuchen führt. Wie das Heilmittel eine Krankheit geradezu züchten kann, zeigt die Dipsomanie (…)“ (Bleuler 1922: 12).
Autor dieser Zeilen ist Eugen Bleuler. Er hat sich 1919 in einer Monografie unter dem Titel „Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung“ ungewöhnlich kritisch mit der Medizin im Allgemeinen und der Psychiatrie im Besonderen auseinandersetzt. Seiner eigenen Disziplin schrieb er ins Stammbuch: „Weil man bei den Schizophrenien und Neurosen Wasser und Wein und Elektrizität und Luft und Stärkung und Vegetarismus und Erholung anwandte, ist man so spät auf das Einzige gekommen, was bis jetzt die Schizophrenien bessern und die Neurosen heilen konnte: die Erziehung zur Arbeit, die Einpflanzung eines Lebenszieles, die Stärkung des Strebens, gesund zu sein. (…) Man unterhält durch unnützes Eingreifen die Idee des Krankseins, während bei Neurosen oft die Beseitigung dieser Vorstellung das erste Mittel zur Heilung wäre; man verlegt den Sitz neurotischer Symptome in einen Körperteil oder in die Umstände statt in etwas, was wir in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks zunächst Charakter oder, einseitig aufgefaßt Gesundheitsgewissen nennen müssen. Irrtümer, nicht Lücken, hindern Wissenschaft am Fortschreiten. Zu den folgenschwersten Irrtümern gehört, daß man meint, etwas zu wissen, was man nicht weiß; und wenn man sich auch nur vor anderen den Anschein gibt, etwas zu wissen, was in Wirklichkeit unbekannt ist (…). Ein Handeln am unrichtigen Ort hat aber noch eine weitere psychologische Folge: Was Hänschen nicht lernt, kann er, dem Sprichwort zum Trotz, meist noch nachlernen. Schwieriger und oft unmöglich ist das Umlernen. (…) So wird der Patient die einmal erhaltene Suggestion, daß er krank sei (…), meist behalten bis an sein Lebensende (…) und der Arzt selbst, der einmal in einen gedankenlosen therapeutischen Trott hineingekommen ist, wird nach einer recht kurzen Zeit
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die Fähigkeit bis zum Verschwinden abgeschwächt haben, sich in eine andere Art der Behandlung hineinzudenken (…), so daß er nicht nur weitertrottet, sondern in der Verzweiflung auch zu schädlichen Anwendungen greifen könnte oder gar zu Verbrecherischem, wie die Empfehlung des Koitus gegen Tripper“ (Bleuler 1922: 14 f.).
Radikal stellte Bleuler auch das Begriffssystem und das Krankheitskonzept der Psychiatrie in Frage: „Ebenso charakteristisch wie komisch ist es, daß nicht einmal der Begriff, mit dem wir alle in erster Linie operieren müssen, der der Krankheit, von uns anders als im vulgärsten und ungenauesten Sinne verwendet wird und überhaupt noch nie klargestellt worden ist“ (a. a. O.: 52). „Der Begriff der Geisteskrankheit (wie er ist, nicht wie er sein sollte) ist eben kein medizinischer, sondern ein sozialer303“ (a. a. O.: 54). „Noch schlechter als mit dem Begriff der Krankheit steht es mit dem der Heilbarkeit (und Unheilbarkeit). Und doch läßt man sich immer wieder zwingen, den Kassen und Beamtungen unbeantwortbare Fragen nach diesem Schema zu beantworten. (…) Unter ‚Intelligenz’ oder ‚Blödsinn’ stellen sich auch die Psychiater noch recht verschiedene Dinge vor, und nur ganz wenige haben es versucht, sich einen klaren Begriff der Demenz zu schaffen: gibt es doch jetzt noch Leute, die eine Dementia praecox durch eine flüchtige ‚Intelligenzprüfung’, die doch in Wirklichkeit nur eine Wissensprüfung ist, ausschließen wollen“ (a. a. O.: 55 f.).
Auch den Begriff der „Degeneration“ unterzog Bleuler schärfster Kritik (a. a. O.: 56 f.) und schließlich verschonte er davon auch die medizinisch-psychiatrische Forschung nicht: „Wie man den Nutzen eines Arzneimittels feststellen will, ohne zu wissen, wie die Krankheit ohne Mittel verläuft, so hat man jahrzehntelang viele Hunderte von Statistiken über die Heredität bei Geisteskrankheiten gemacht (Anstaltsberichte) (…), aber vergessen zu fragen, wie sich die nämlichen Verhältnisse in den Familien Gesunder gestalten (…). In der pathologischen Anatomie des Zentralnervensystems hat man nicht so selten beliebige Anomalien, die bei irgendeiner Krankheit gefunden worden waren, als Grundlage dieser Krankheit aufgefaßt, ohne sich zu vergewissern, ob sie nicht einer anderen Krankheit, z. B. der Todesursache angehören oder überhaupt nicht krankhaft seien. Es kam auch (…) vor, daß man ein besonderes Krankheitsbild konstruierte aus Befunden, die ein normales Organ bedeuten. Massenhaft sind die Behauptungen, die einmal aufgestellt, gar nie nachgeprüft werden, aber durch Jahrzehnte von einem Buch ins andere wanderten“ (a. a. O.: 66; Hervorhebung ER).
Nach allem, was wir bisher von Eugen Bleuler gelesen haben, fällt es schwer, zu realisieren, dass diese Ausführungen von demselben Autor stammen, der nach Veröffentlichung dieser Zeilen insgesamt fünf neue Auflagen seines Lehrbuches herausbrachte, in dem vieles zu lesen ist, was er hier kritisierte. Die Versuchung liegt nahe, hier im Sinne von Bleulers Schizophrenieverständnis über eine Alteration des Denkens nachzudenken. Wir werden ihr widerstehen. Auch sein Sohn hatte Schwierigkeiten, diese Schrift seines Vaters zu verstehen304. 303 Hier findet sich im Original die Fußnote: „So wird verständlich, wenn dann und wann noch die Anstaltsbedürftigkeit mithilft, Krankheitsbilder abzugrenzen, was z. B. von Hellpach, allerdings in übertriebener Weise, Kraepelin zum Vorwurf gemacht wird. Niemals aber sollten solche Kriterien bei der Abgrenzung von Erbeinheiten mitwirken“ (Bleuler 1962: 54 Fn. 1). 304 Später äußerte er sich allerdings in ganz ähnlicher Weise. Unter Berufung auf den schweizerischamerikanischen Psychiater Adolf Meyer (1866-1950) mahnte er, „man solle in der Schizophrenieforschung ernst nehmen, was man finde, und die Ursachen nicht in einem von niemandem erfassten Prozess suchen oder – drastischer gesagt – sie nicht in den Wolken konstruieren“ (Bleuler 1971: 108; Hervorhebung ER).
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„Das Unterfangen setzte seinen Ruf aufs Spiel. Sein Buch mußte Gegenangriffe und Feindseligkeit provozieren. Sie blieben nicht aus. (…) Viele warfen ihm vor, es verletze die Würde und Ethik des Ärztestandes; viele rieten dem Autor, künftig derartige Eskapaden beiseite zu lassen und seinem Fachgebiet treu zu bleiben. In der ersten klinischen Vorlesung, die ich als junger Student anhörte, sprach ein großer Lehrer mit mißbilligend gefalteter Stirn von der Verantwortungslosigkeit, mit der das Buch bewährte Heilmethoden herabwürdige“ (Bleuler 1962: V).
Besonders irritiert war Manfred Bleuler darüber, dass das Buch trotz aller Anfeindungen guten Absatz fand, sodass er sich 1962 entschloss, die Neuausgabe herauszubringen, welche immer wieder nachgedruckt wurde und noch nach dem Jahr 2000 im Buchhandel erhältlich war.305 „Es war erstaunlich: allem Widerspruch und allen Warnungen zum Trotze fand das Buch viele Leser und hinterließ deutliche Spuren im Denken und in der Weltanschauung einer Generation von Ärzten“ (ebd.).
Eugen Bleuler teilte im Vorwort mit, dass das Bedürfnis, ein solches Buch zu schreiben, bis in seine Studienzeit zurückreichte, „da ich mich ärgerte über manche unnütz oder gar schädlich erscheinende, jedenfalls ungenügend begründete ärztliche Vorschrift in Praxis und Unterricht, und da ich u. a. versuchen wollte, den üblichen unkontrollierten und deswegen ganz bedeutungslosen Statistiken über Heredität bei Geisteskrankheiten eine Untersuchung über das Vorkommen von Nerven- und Geisteskrankheiten in den Familien geistig Gesunder an die Seite zu stellen. Ich hielt mich aber viele Jahre lang nicht für kompetent zur lauten Kritik und hoffte, daß Erfahrenere die Sache anpacken würden. Leider geschah das nicht, und vielleicht geben mir nun vierzig Jahre weiterer Beobachtungen das Recht oder gar die Pflicht, etwas davon zu sagen“ (Bleuler 1922: III).
Übrigens bekannte auch Emil Kraepelin (1920: 1) in den letzten Jahren seines Schaffens: „Zu wiederholten Malen ist in letzter Zeit der Gedanke ausgesprochen worden, daß die klinischpsychiatrische Forschung gewissermaßen auf einem toten Punkte angekommen sei. Das bisher geübte Verfahren, unter Berücksichtigung der Ursachen, der Krankheitserscheinungen, des Verlaufes und Ausganges wie des Leichenbefundes Krankheitsformen zu umgrenzen, habe sich verbraucht und könne nicht mehr befriedigen; neue Wege müßten eingeschlagen werden. Man wird derartigen Ausführungen eine gewisse Berechtigung nicht absprechen können.“
305 Im März 2009 ist das Buch als Reprint erneut in dem Verlag Classic Edition, Saarbrücken erschienen.
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V Kontinuitäten, die den Paradigmenwechsel überdauert haben
In ihrer Dialektik der Aufklärung beschrieben Horkheimer & Adorno in düsteren Worten „die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in der es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet“ (Horkheimer & Adorno 1969: 3).
Angetreten, „die Mythen auf[zu]lösen und Einbildung durch Wissen [zu] stürzen“ (a. a. O.: 9), sei die Aufklärung ihrerseits in einen Mythos umgeschlagen. „Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität“ (a. a. O.: 15). Aufklärerisches Denken verkam zu „pragmatisierende[m] Denken“ (a. a. O.: 3), aufklärerische zu instrumenteller, berechnender Vernunft. „Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig“ (a. a. O.: 12). So kommt es nicht von ungefähr, dass das alte und das neue Paradigma Gemeinsamkeiten aufweisen, die den Paradigmenwechsel weitgehend unbeschadet überdauert haben. In manchen Bereichen kam es sogar zu einer gegenseitigen Ergänzung der Paradigmen. 1
Erkenntnistheoretische Kontinuitäten: Verdinglichung und Fragmentierungen der Menschheit
Wer heute jemanden fragt, ob er oder sie an Hexen, Teufel oder an Dämonen glaube oder sich vorstellen könne, dass der Teufel oder dass Dämonen in Menschengestalt als Succubi mit Männern geschlechtlich verkehren und mit dem so gewonnenen Samen als Incubi Frauen, die sich mit ihm einlassen, schwängern können, wird in den meisten Fällen die Antwort bekommen, solche Vorstellungen seien absurd, ja die Frage selbst wird den meisten als blanker Unsinn erscheinen und Zweifel daran wecken, ob mit dem Fragesteller noch alles in Ordnung sei. Der Hexenmythos gilt als entzaubert, die Dämonologie als wissenschaftliches Paradigma überwunden. Wäre die Frage allerdings vor 300 bis 500 Jahren gestellt worden, hätte sie vermutlich ebensolches Unverständnis ausgelöst, dann jedoch aus genau entgegengesetzten Gründen. Damals galt die Existenz von Hexen und Dämonen als selbstverständliche und auf vielfache Weise wissenschaftlich abgesicherte Tatsache. Die Frage wäre den damaligen Zeitgenossen vermutlich so vorgekommen wie heute die Frage, ob man an Behinderte glaube, an psychisch Kranke oder an Verhaltensgestörte, denn so selbstverständlich wie die Tatsache, dass es keine Hexen gibt, erscheint uns heute die Existenz von behinderten, psychisch kranken und verhaltensgestörten Menschen als E. Rohrmann, Mythen und Realitäten des Anders-Seins, DOI 10.1007/978-3-531-93239-2_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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kaum zu widerlegende Tatsache. Doch was macht uns da eigentlich so sicher? Es ist ihre Selbstverständlichkeit, oder, um es mit Varela (u. a. 1992: 187) zu sagen, „unser spontaner, unreflektierter Common sense“. Was sich von selbst versteht, bedarf keines Beweises mehr. Wer hingegen das Selbstverständliche hinterfragt, wird seinen Zeitgenossen in der Regel bedrohlich, mindestens unverständlich und läuft Gefahr, selbst als abweichend wahrgenommen und behandelt zu werden, zu Zeiten der Hexenverfolgung eine lebensbedrohliche Gefahr. Es fällt uns schwer, uns in einen anderen kulturhistorischen Kontext und dessen Selbstverständlichkeiten hineinzuversetzen. Das macht uns z. B. den Hexenmythos so unverständlich. Ebenso schwer fällt es uns aber auch, uns aus unserem gegenwärtigen kulturhistorischen Kontext und unseren Selbstverständlichkeiten herauszuversetzen. Das macht es uns so schwer, unsere eigenen selbstverständlichen Grundannahmen zu hinterfragen, ja überhaupt als solche zu erkennen. Wir befinden uns, so Maturana und Varela (1987: 19 ff.) in folgendem kognitiven Dilemma: Wir erkennen zwar die Welt, in der wir leben, aber wir erkennen nicht, dass, und vor allem nicht, wie wir die Welt erkennen. Wir machen uns den Prozess unserer eigenen Erkenntnis in aller Regel nicht bewusst, sondern „neigen dazu, in einer Welt von Gewißheit, von unbestreitbarer Stichhaltigkeit der Wahrnehmung zu leben, in der unsere Überzeugungen beweisen, daß die Dinge nur so sind, wie wir sie sehen. Was uns gewiß erscheint, kann keine Alternative haben. In unserem Alltag, unter unseren kulturellen Bedingungen, ist dies die übliche Art, Mensch zu sein“ (a. a. O.: 20).
Dies gilt, so Thomas Kuhn (1976: 19 f.), durchaus auch für die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. „Die normale Wissenschaft als die Betätigung, mit der die meisten Wissenschaftler zwangsläufig fast ihr ganzes Leben verbringen, gründet auf der Annahme, daß die wissenschaftliche Gemeinschaft weiß, wie die Welt beschaffen ist.“
Das war nach dem beschriebenen Paradigmenwechsel nicht anders als vorher. Engels (MEW 19: 189 f.) macht darüber hinaus auf die Wechselwirkung zwischen dem jeweils vorherrschenden Denken und den herrschenden Verhältnissen und den in ihnen Herschenden nach dem Paradigmenwechsel aufmerksam: „Der denkende Verstand wurde als alleiniger Maßstab an alles angelegt. Es war die Zeit, wo, wie Hegel sagt, die Welt auf den Kopf gestellt wurde, zuerst in dem Sinn, daß der menschliche Kopf und die durch sein Denken gefundnen Sätze den Anspruch machten, als Grundlage aller menschlichen Handlung und Vergesellschaftung zu gelten; dann aber später auch in dem weitern Sinn, daß die Wirklichkeit, die diesen Sätzen widersprach, in der Tat von oben bis unten umgekehrt wurde. Alle bisherigen Gesellschafts- und Staatsformen, alle altüberlieferten Vorstellungen wurden als unvernünftig in die Rumpelkammer geworfen; die Welt hatte sich bisher lediglich von Vorurteilen leiten lassen; alles Vergangne verdiente nur Mitleid und Verachtung. Jetzt erst brach das Tageslicht, das Reich der Vernunft an; von nun an sollte der Aberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durch die ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und die unveräußerlichen Menschenrechte. Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war als das idealisierte Reich der Bourgeoisie; (…) daß die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz; daß als eines der wesentlichsten Menschenrechte proklamiert wurde – das bürgerliche Eigentum; und daß der Vernunftstaat, der Rousseausche Gesellschaftsvertrag ins Leben trat und nur
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ins Leben treten konnte als bürgerliche, demokratische Republik. So wenig wie alle ihre Vorgänger konnten die großen Denker des 18. Jahrhunderts hinaus über die Schranken, die ihnen ihre eigne Epoche gesetzt hatte.“
Wir glauben gemeinhin, dass das, was wir für unsere Welt halten, im ontologischen Sinne unsere Welt sei. Wer aber in einem anderen kulturhistorischen Kontext andere Erfahrungen macht, wird u. U. eine andere Welt hervorbringen, die wir nicht verstehen können, weil sie unseren selbstverständlichen Erfahrungen widerspricht. Marx (1894: 838) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse“, ein Vorgang, den Berger & Luckmann (2004: 94 f.) ganz ähnlich, wie schon Immanuel Kant in dem Zitat, das diesem Buch vorangestellt ist, wie folgt beschreiben: „Verdinglichung bedeutet, menschliche Phänomene aufzufassen, als ob sie Dinge wären, das heißt als außer- oder gar übermenschlich. (…) Verdinglichung ist die Auffassung von menschlichen Produkten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte: Naturgegebenheiten, Folgen kosmischer Gesetze oder Offenbarungen eines göttlichen Willens.“
Feuser (1996) zeigt am Beispiel sogenannter geistiger Behinderungen, wie ein soziales Konstrukt, eine soziale Kategorie zu einer biologisch-medizinischen Kategorie umdefiniert, ontologisiert und somit zum biologischen Wesensmerkmal der Betroffenen umgedeutet und solcherart verdinglicht wird. Er erklärt: „Geistigbehinderte gibt es nicht“ (a. a. O.: 18) und erläutert: „Es gibt Menschen, die wir aufgrund unserer Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem wir sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den wir als ‚geistigbehindert’ bezeichnen. Geistige Behinderung kennzeichnet für mich einen phänomenologischklassifikatorischen Prozeß, der schon in dem Moment, in dem er getätigt wird, von der Realität seiner Instrumentalisierung im historisch-gesellschaftlichen Kontext abstrahiert; sie nicht mehr bedenkt. Die Aussage ‚geistige Behinderung’ ist eine auf einen anderen Menschen hin zur Wirkung kommende Aussage schlechthin. (…) Diese Aussage abstrahiert von seiner Individualität und Subjekthaftigkeit. (…) Was uns an einem Menschen als klassifizierbare Erscheinung (als psychologisierbare ‚Merk-Male’) auffällt (das ist unsere Wahrnehmung des anderen), machen wir zu seiner Natur, deuten sie – pars pro toto – als sein inneres Wesen, als ‚Eigenschaft’ seiner Natur. Schließlich bewerten wir diese (…) im Spiegel der dominierenden gesellschaftlichen Normen. Das führt dann u. a. auch direkt in die Lebenswert-Diskussion“ (a. a. O.: 18 f.).
Solcherart klassifiziert, werden die betroffenen Menschen einer gesellschaftlichen Praxis unterworfen, die jeweils von den entsprechenden Fachdisziplinen und -professionen für fachlich geboten gehalten wird und gegenwärtig gekennzeichnet ist durch soziale Ausgrenzung aus nahezu allen regulären Lern-, Arbeits-, Wohn- und Lebenszusammenhängen und Unterbringung in besonderen Einrichtungen.306 Die Tatsache, dass Kraepelin, Bleuler und Generationen von Psychiatern und später auch Sonderpädagogen nach ihnen immer wieder mit vermeintlich gleichartigen Zuständen konfrontiert sind, die sie als Oligophrenie diagnostizieren und die, wie gezeigt, nach Bleuler (1983: 588) unter diesem Begriff „zusammengefaßt werden können und müssen“, ist kaum mit irgendwelchen den Betroffenen innewohnenden Merkmalen zu erklären, sondern viel eher damit, dass diese Menschen, meist 306 Dazu ausführlicher in den Ausführungen über die Praxis der Heil- und Sonderpädagogik in diesem Band (179 ff.).
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unter sehr ähnliche, durchweg restriktive Bedingungen gestellt, meist lebenslänglich in Anstalten untergebracht worden sind. Oligophrenien sind mithin nicht primär Ausdruck vererbter oder erworbener Psychopathologien, sondern der Praxis im Umgang mit ihnen, zu Zeiten Kraepelins und Bleulers vor allem der Anstaltspsychiatrie. „Der Ursprung unseres Dilemmas liegt in unserer Neigung, die Abstraktionen separater Objekte (…) zu schaffen und dann zu glauben, sie würden einer objektiven, unabhängig existierenden Welt angehören. (…) Die Kraft des abstrakten Denkens hat uns dazu verleitet, die natürliche Umwelt – das Lebensnetz – so zu behandeln, als bestünde sie aus separaten Teilen, die von verschiedenen Interessengruppen ausgebeutet werden können. Darüber hinaus haben wir diese fragmentierte Sicht auf unsere menschliche Gesellschaft ausgeweitet, indem wir sie in verschiedene Nationen, Rassen, religiöse und politische Gruppen [und Träger von Symptomen des vermeintlichen Anders-Seins] aufgeteilt haben. Der Glaube, daß all diese Fragmente – in uns selbst, in unserer Umwelt und in unserer Gesellschaft – wirklich getrennt sind“ und deswegen, hier ergänze ich Capra erneut, auch institutionell separiert werden müssen, „hat uns der Natur und unseren Mitmenschen entfremdet und uns damit beeinträchtigt“ (Capra 1996: 334 f).
Die Folgen im Grundsatz jeglicher Formen solcher Klassifikationen sind Reduktionismus und Partikularismus, wie der Biologe Ulrich Kattmann (1999: 68 f.) im Zusammenhang mit Rassenklassifikationen kritisiert. „Die Vielfalt der Menschen wird der Einfalt der Typen geopfert: Jede Rassenklassifikation simplifiziert die Vielfalt in unzulässiger Weise, indem sie ihre Betrachtung auf eine mehr oder weniger große Anzahl von Gruppen reduziert und dabei (kleine) Gruppenunterschiede höher bewertet als (größere) zwischen den Individuen ein und derselben Gruppe. Das Klassifizieren wird so – ohne Rücksicht auf die tatsächlich beobachtete Variation – zum Selbstzweck.“
Verdinglichende Fragmentierung der Menschen durch die Menschen, ihre klassifizierende Partikularisierung und anschließende Homogenisierung zu Gruppen scheinbar Gleichartiger, wie Rassen, Träger bestimmter Krankheiten, Behinderungen und sonstiger vermeintlicher Abnormitäten, also scheinbar gleichartiger Eigenschaften, die es fachlich geboten erscheinen lassen, ihre Träger nicht als individuelle Subjekte in ihrer je einzigartigen individualhistorischen Gewordenheit zu betrachten und zu behandeln, sondern als Objekte, die so zu behandeln sind, wie es den fachlichen Standards im Umgang mit der jeweiligen Sorte von Menschen entspricht, dies sind zentrale Mechanismen jeglicher sozialer Konstruktionen von Anders-Sein, unabhängig von ihrer theoretischen Begründung. Sie erfolgten und erfolgen im überkommenen ebenso wie im neuen Paradigma und haben den Paradigmenwechsel unbeschadet überdauert. 2
Zur Komplementarität der Paradigmen: Wechselseitige Ergänzung und praktische Allianz
Solche Klassifzierungen zeigen sich auch bei anderen Varianten der Konstruktion von Anders-Sein, die den Paradigmenwechsel unbeschadet überdauert haben. Am Beispiel der sozialen Konstruktion von Geschlecht wurde dies für den Sexismus bereits ausgeführt. Auch auf theologische und kirchliche Einschätzungen zu Fragen der Eugenik und den daraus abzuleitenden Konsequenzen sind wir bereits eingegangen. Die Komplementarität des
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alten und des neuen Paradigmas lässt sich aber auch an anderen Beispielen aufzeigen, z. B. an theologischen Begründungen der Sklaverei und der Minderwertigkeit nicht-europäischer Menschen, z. B. der schwarzen Bevölkerung Afrikas und der praktischen Kooperation zwischen kolonialistischer Eroberung und kirchenchristlicher Zwangsmissionierung. Weitere Beispiele sind die Judenfeindlichkeit und der Umgang mit Homosexualität. Hier lassen sich nicht nur Kontinuitäten aufzeigen, sondern auch darlegen, dass es gar nicht zu einem Paradigmenwechsel gekommen ist, sondern eher zu einer Ergänzung des in diesen Bereichen nach wie vor fortbestehenden alten durch das neue Paradigma. 2.1 Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus Es ist weithin bekannt, dass die kolonialistische Unterwerfung der ursprünglichen Bevölkerung der nicht-europäischen Kontinente und auch deren Versklavung und Verschleppung nach Europa und in das ebenfalls von Europäern eroberte Nordamerika in aller Regel Hand in Hand ging mit kirchenchristlicher Mission und Zwangschristianisierung, die nicht selten ebenso brutal vonstatten ging wie die christliche Unterwerfung Europas zwischen dem 4. und dem 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung (vgl. hierzu Paczensky 2000, zur Rolle deutscher Missionare vor allem: 245 ff.). Auch wenn nicht in Abrede zu stellen ist, dass es einzelne Missionare und Kirchenvertreter gab und gibt, die sich durchaus auf die Seite der unterdrückten Völker gestellt haben und stellen,307 ist festzuhalten, dass die missionierenden Kirchen insgesamt ein wirksames Instrument der Kolonialisierung gewesen sind und auch heute noch vielfach der ideologischen Rechtfertigung restriktiver postkolonialistischer Herrschaftsverhältnisse dienen. Weit weniger bekannt ist, dass die offizielle kirchenchristliche Theologie auch theologische Begründungen für Sklaverei und Rassismus geliefert hat, die seit dessen Aufkommen den biologisch begründeten Rassismus wirksam ergänzen. Dazu ist zu vergegenwärtigen, dass nach jüdisch-christlicher Lehre die gesamte Menschheit nicht nur auf Adam als den ersten Menschen, sondern auch auf Noach (oder Noah) zurückgeht, der bekanntlich mit seiner Familie als einziger die Sintflut überlebt hat (vgl. Genesis 6, 1-9; 29). Noach hatte drei Söhne, Sem, Ham (oder Cham) und Jafet (oder Japhet). „Diese drei sind die Söhne Noachs; von ihnen stammen alle Völker der Erde ab. Noach wurde der erste Ackerbauer und pflanzte einen Weinberg. Er trank von dem Wein, wurde davon betrunken und lag entblößt in seinem Zelt. Ham, der Vater Kanaans, sah die Blöße seines Vaters und erzählte davon draußen seinen Brüdern. Da nahmen Sem und Jafet einen Überwurf; den legten sich beide auf die Schultern, gingen rückwärts und bedeckten die Blöße ihres Vaters. Sie hatten ihr Gesicht abgewandt und konnten die Blöße des Vaters nicht sehen. Als Noach aus seinem Rausch erwachte und erfuhr, was ihm sein zweiter Sohn angetan hatte, sagte er: Verflucht sei Kanaan. / Der niedrigste Knecht sei er seinen Brüdern. Und weiter sagte er: Gepriesen sei der Herr, der Gott Sems, / Kanaan aber sei sein Knecht. Raum schaffe Gott für Jafet. / In Sems Zelten wohne er, / Kanaan aber sei sein Knecht“ (Genesis 9, 18-29).
Soweit die biblische Überlieferung, aus der schon Augustinus eine theologische Rechtfertigung für Knechtschaft und Sklaverei entwickelt hat. Ham hatte nämlich damit, dass er die Blöße seines betrunkenen Vaters nicht bedeckt, sondern an seine Brüder verraten hat, 307 Vgl. hierzu die Ausführungen über theologische Dekonstruktionen.
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schwere Schuld auf sich geladen, gleichsam eine zweite Erbsünde begangen, die sich fortan auf seine Nachkommen, allerdings nur auf diese übertragen sollte. „Das Los der Knechtschaft308 ist, wie man einsehen muß, mit Recht dem Sünder auferlegt. Darum lesen wir in der Schrift nirgendwo etwas von Knechten, bevor der gerechte Noah mit diesem Worte seines Sohnes Sünde strafte. Dies Wort hat also die Schuld aufgebracht, nicht die Natur. (…) Also ist erste Ursache der Knechtschaft die Sünde, die dahin führt, daß ein Mensch dem anderen durch den Zwang seiner Lage dienstbar gemacht wird“ (Civ. Dei XIX, 15, Bd. 2: 562).
Wir haben es hier also mit einer frühen theologischen Begründung der Sklaverei als Strafe für die von Ham begangene Sünde zu tun, die Augustinus dann später gewissermaßen als neuerliche Erbsünde interpretiert, wobei eine bemerkenswerte Abweichung von der Überlieferung nicht zu übersehen ist. Das Los der Knechtschaft wurde nämlich nicht dem Sünder, sondern einem, aber auch nur einem, nicht allen Nachkommen Hams auferlegt, nämlich Kanaan.309 Augustinus hingegen generalisiert den Fluch auf alle Nachkommen Hams, wofür die Schrift selbst allerdings keinerlei Anhaltspunkt bietet. Wer aber sind genau die Nachkommen Hams? Augustinus argumentiert moralisch-theologisch, nicht ethnisch oder geografisch und schon gar nicht rassisch.310 „Ham aber, das heißt ‚der Hitzige’, Noahs mittlerer Sohn, der sich gleichsam von beiden absondert und zwischen beiden steht, weder unter den Erstlingen Israels311 noch in der Fülle der Heiden312 seinen Platz hat, was bedeutet er anderes als das hitzige Geschlecht der Häretiker (…)? Denn das ist der Geist, der die Herzen der Häretiker in Glut versetzt und den Frieden der Heiligen stört“ (Augustinus, Civ. Dei XVI, 2, Bd. 2: 283).
Während Sem für Augustinus der Stammvater des ausgewählten Volkes, Jafet derjenige der später von den Christen zu bekehrenden Heiden ist, ist Ham der Stammvater aller Ketzer. Augustinus geht noch weiter: „Doch kann man füglich nicht bloß diejenigen, die sich offenkundig abgesondert haben, sondern alle, die sich des Christennamens rühmen, aber schändlich leben, in Noahs mittlerem Sohne abgebildet finden, denn sie verkünden das Leiden Christi, das durch die Blöße jenes Mannes angedeutet wird, durch ihr Bekenntnis und entehren es doch durch ihren üblen Wandel“ (Civ. Dei XVI, 2, Bd. 2: 283).
Insofern für Augustinus das Leiden Christi durch die Blöße Noachs bereits angedeutet, ja vorweggenommen ist, konstruierte er eine weitere Gruppe, die in der Nachfolge Hams steht: Für ihn nämlich wies die Schrift „feinsinnig darauf hin, daß er [Christus] von dem Geschlecht 308 Der von Augustinus verwendete lateinische Begriff „servitudo“ wäre nach heutigem Sprachgebrauch genauer mit Sklaverei übersetzt worden. 309 Dieser Fluch diente dabei vermutlich zur theologischen Rechtfertigung für die Generationen später angeblich erfolgte Eroberung des Westjordanlandes, des den Israeliten verheißenen Landes Kanaan, von dem das Buch Josua (1, 1-12; 24) berichtet. Anders ist es jedenfalls schwer zu verstehen, dass nicht der „Sünder“ selbst bestraft wird, sondern nur einer seiner Söhne. 310 Der Rassenbegriff war seinerzeit unbekannt, er tauchte, wie ausgeführt, erst mit Beginn der Aufklärung auf. 311 Gemeint sind die Nachkommen Sems „aus dessen Samen Christus nach dem Fleische geboren ward“ (Augustinus, Civ. Dei XVI, 2, Bd. 2: 283). 312 Hier sind die Nachkommen Jafets gemeint, „in dessen Häuser, das sind seine Kirchen, weit und breit die Heiden eingegangen sind“ (ebd.).
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seines Fleisches und den Genossen seines eigenen Blutes, nämlich den Juden, Kreuz und Tod erleiden sollte“ (Civ. Dei XVI, 2, Bd. 2: 285). Sem war für Augustinus also nur Stammvater der Israeliten bis zur Zeit Jesu. Die nach Jesus lebenden Juden hingegen rechnete er, ungeachtet ihrer genealogischen Herkunft, zu den Nachfahren des verfluchten Ham. „Bei den christlichen Schriftstellern tritt im Laufe der Zeit immer stärker die Tendenz hervor, den Fluch Noahs gemäß der biblischen Genealogie auch mit jenen Völkern in Verbindung zu bringen, die von Cham [= Ham] abstammen. Nur hüten sich die Kirchenväter noch zu sagen, daß Cham schwarz ist, wohl weil sie wußten, daß das ökonomisch-soziale Institut der Sklaverei Menschen unterschiedlicher Hautfarbe traf“ (Klatt 1998: 109)
und auch Sklavenhalter Mitglieder der christlichen Gemeinden waren, ja die frühe Kirche selbst Sklaven besaß. Dies ist anders im rabbinischen Judentum. Der babylonische Talmud313 berichtet noch von einer weiteren Übertretung Chams bereits auf der Arche: „Die Rabbanen lehrten: Drei vollzogen den Beischlaf in der Arche, und alle wurden sie bestraft, und zwar: der Hund, der Rabe und Ham. Der Hund wird [bei der Begattung] angeschlossen, der Rabe spuckt [den Samen] und Ham wurde an seiner Haut[farbe] bestraft314“ (Sanhedrin, Fol. 108b. In: Goldschmidt 1967: 125 f.).
Ham wird hier also zum Prototypen der „farbigen“, also nicht „weißen“ Menschen und die Hautfarbe als Strafe für seine Sünde erklärt, welche in den meisten Überlieferungen, wie bei Augustinus, ebenfalls als Erbsünde betrachtet wird, mit der Konsequenz, dass sich die Strafe auch auf die Nachkommen überträgt, die deswegen ebenfalls „farbig“ sind. Der von Noach verfluchte und von Augustinus verketzerte Ham erscheint hier also auch noch als der mit seiner Hautfarbe bestrafte Stammvater der „Schwarzen“. Das Motiv des Ham, dessen Hautfarbe als Folge seines Ungehorsams schwarz und der deswegen zum Urvater der Schwarzen wurde, erscheint uns auch in einem 1894 veröffentlichten Anstandsbuch für Kinder, das das folgende mahnende Gedicht enthält:
313 Der Talmud zählt neben der schriftlichen Tora, den fünf Büchern Moses des Alten Testaments des Christentums, als sogenannte mündliche Tora, welche nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 u. Z. ebenfalls schriftlich niedergelegt wurde, auch zu den heiligen Schriften des Judentums. 314 Hier findet sich im Original der zitierten Edition eine Fußnote mit folgendem Wortlaut: „Ihm entstammt Kuš, der Stammvater der ätiopischen Rasse.“
244 „Nur nicht schaudern! Wasser ist wohl naß und kalt, Doch was gilt's! du magst es bald, Fühlst dich nocheinmal so frisch, Munter wie im Bach der Fisch. Der Noah hatte der Söhne drei, Die Sem, Ham, Japhet hießen. Der Sem und Japhet jeden Tag Sich waschen und kämmen ließen.
V Kontinuitäten, die den Paradigmenwechsel überdauert haben
Jedoch der Ham Der scheute den Kamm; Auch war er Hasser Vom kalten Wasser. Wollt' Mama ihn waschen und kämmen, Thät er sich sperren und stemmen. Drum wer ihn sah, sprach: »Seht den Ham, Der hat sich gewiß gewälzt im Schlamm«. Als er nun zufällig eines Tags In einen Spiegel guckte: Wie ihm der Schrecken und die Scham Durch alle Glieder zuckte! Von Kopf bis Fuß War er schwarz wie Ruß! Schreiend und heulend lief er nach Haus. Vater und Mutter erfaßt' ein Graus. Sie riefen: »Du ungeratener Sohn! Nun hast du's! Sieh, das kommt davon!« – Ham rief mit fürchterlichen Grimassen: »Ich will mich waschen und kämmen lassen«. Die Mutter rieb mit kräftiger Hand, Mit Schwamm und Seife, Strohwisch und Sand. Half alles nicht; An Leib und Gesicht Schwarz blieb der Ham, Und so entstand der Negerstamm. –– Das hat mir erzählt eine gute Bekannte, Die hat's von ihrer alten Tante. ––„ (Adelfels 1894: 9 f.).
Als Autorin dieses Buches firmiert eine Marie v. Adelfels. Der Name ist ein Pseudonym, hinter dem sich der promovierte mosaische Theologe Jakob Stern (1843-1911) verbirgt. Stern, Sohn orthodoxer jüdischer Eltern, studierte jüdische Theologie und wandte sich während seines Studiums dem Reformjudentum zu. 1874 wurde er Rabbiner einer Gemeinde in Würthemberg. 1880 wandte er sich öffentlich vom jüdischen Glauben ab, wurde daraufhin von seinem Rabbinat suspendiert und orientierte sich seither zunehmend am atheistischen Freidenkertum. Er engagierte sich in der seit 1878 verbotenen Sozialdemokratischen Partei und verfasste zahlreiche, unter anderem religionskritische, philosophische und politische Schriften und Streitschriften, in denen er mit unterschiedlicher Akzentuierung versuchte, eine Verbindung zwischen pantheistischer spinozaischer Philosophie und sozialistischer Theorie und Praxis herzustellen (zu Sterns Biografie ausführlich: Jestrabek 1997).315 315 Ein Beispiel für Sterns politische Orientierung: „Die Antisemiten schieben alle Schuld auf die Juden, die Klerikalen auf die Religionslosigkeit und Unkirchlichkeit, die Freidenker auf den kirchlichen Aberglauben. Alle diese Auffassungen haben das miteinander gemein, daß sie den Sitz des Uebels in einem Nebensächlichen, Accidentiellen, nicht im sozialen Organismus selbst erblicken. Darum erscheinen sie in den Augen des Sozialisten als Kurpfuscher, welche einzelne Symptome und Aeußerungen der Krankheit mit ihrer eigentlichen Ursache verwechseln. Den Grund des sozialen Übels erblickt der Sozialismus in der sozialen Organisation selbst, nämlich in der wirthschaftlichen Verfassung und deren Unverträglichkeit mit der modernen Produktionstechnik, welche letztere die allerdings von jeher herrschende soziale Krankheit in ein akutes Stadium übergehen ließ“ (Stern 1890: 24 f.).
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Daneben verfasste er Schriften über Schönheitspflege, Anstand und Sitte sowie Lebensratgeber, meist unter mindestens 17 unterschiedlichen Pseudonymen (vgl. Jestrabek & Chlada 1997: 15). Clara Zetkin (1911: 24 f.) charakterisiert ihren Genossen Jakob Stern in ihrem Nachruf zu seinem Tode wie folgt: „Ein unbezwingbarer wissenschaftlicher Erkenntnisdrang lenkte seine Studien über die engen Schranken der Theologie seines Bekenntnisses hinaus, vor allem auf die Gebiete der Philosophie und Geschichte (…). Der Rabbiner Stern kehrte seine scharfe Kritik sowohl gegen das dogmatische Gebäude seiner Väter wie gegen das Wuchertum, die Ausplünderung der Armen durch die Reichen.“
Wenn selbst dieser große unabhängige Geist seiner Zeit, der sich allen Widernissen zum Trotz so bewusst und entschieden von seiner mosaischen Tradition gelöst hat, den Mythos von Ham, der wegen seiner – mit der Überlieferung des Talmud zwar nicht ganz übereinstimmenden – Unbotmäßigkeit schwarz und Urvater des „Negerstammes“ geworden ist, offenbar derart verinnerlicht, dass er sich in größter Selbstverständlichkeit dieses Motivs bedient, um die Kinder seiner Zeit zu mahnen, sich ordentlich waschen und kämmen zu lassen, können wir daraus schließen, wie fest die Geschichte vom schwarz gewordenen Ham noch mindestens bis zur Wende zum 20. Jahrhundert in der jüdischen Tradition verankert war. Mit Klatt (1998: 126) können wir also zusammenfassen, „daß die Christen Cham zum Sklaven, die Juden zum Neger gemacht haben“. Beide Auffassungen standen, wenn auch von unterschiedlicher theologischer Herkunft, keineswegs im Widerspruch zueinander, sie ließen sich im Gegenteil sogar hervorragend miteinander kombinieren und lieferten eine geradezu ideale theologische Legitimation für die Praxis im Umgang mit den „farbigen“ Völkern während der Zeit des Kolonialismus, an welche die biologisch fundierten Rassenkunden nahtlos anknüpfen konnten.316 Spätestens seit dem 17. Jahrhundert findet die Lehre von der schwarzen Hautfarbe der Nachkommen Hams Eingang auch in die christliche, namentlich die protestantische Theologie. „So erklärte der protestantische Theologe Johann Heinrich Heidegger [1633-1698] in seiner 1667 bis 1671 zu Amsterdam erschienenen Patriarchengeschichte, ‚daß in dem Augenblick, als Noah den Fluch aussprach, Kanaans Haare sich kräuselten und sein Gesicht vollkommen schwarz wurde’, woraus offensichtlich folgt, daß die Neger Kanaans Söhne sind und ewig in der Sklaverei bleiben müssen“ (Jahn 1964: 7 f.).
316 Nicht-religiös orientierte Rassenkunden, die auf den Schöpfungsmythos keine Rücksicht zu nehmen brauchten und demzufolge nicht von einer mono-, sondern polygenetischen, an mehreren Orten parallel erfolgenden Menschwerdung ausgingen, haben dagegen lange die sogenannten Hamiten als eine eher hochwertige aus Europa stammende Rasse konstruiert und sie der für minderwertig gehaltenen negriden Bevölkerung Afrikas gegenübergestellt. Rohrbacher (2002) spricht in diesem Zusammenhang vom Hamiten-Mythos. Doch bei allen Unterschieden: Mono- wie polygenetische Ansätze zur Anthropogenese liefern beide mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit versehene Begründungen für die Minderwertigkeit der Nicht-Europäer sowie für deren kolonialistische Unterwerfung und Versklavung.
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„1817 bereits leitete der französische Naturforscher George Baron de Cuvier317 (1769-1832) seine drei Menschenrassen von den drei Söhnen Noahs wieder ab und erachtete Japhet als den Ahnherrn der kaukasischen, Sem als den der mongolischen und Ham als den der äthiopischen Rasse, deren schwarze Hautfarbe aus dem auferlegten Fluch Noahs auf Kanaan entstanden sei“ (Rohrbacher 2002: 61).
Auf diese Weise konnte eine widerspruchsfreie Verbindung zwischen dem biblischen Schöpfungsmythos einerseits und der biologischen Rassenlehre andererseits hergestellt werden. Auf diese Verbindung wurde immer wieder, auch noch im 20. Jahrhundert, hingewiesen, als die Rassenforschung in Deutschland, wie gezeigt, ihren Höhepunkt erreichte. In enger Anlehnung an die Völkertafel der Genesis (10, 1-32) erläutert z. B. die in Österreich erschienene „kleine Völkerkunde“ aus der Reihe „Wissenschaft für Kinder“ „die völkerkundliche Ansicht der alten Hebräer über Herkunft und Verbreitung der Rassen. (…) Dort erscheint Noah als Urvater der Menschenrassen, die von seinen drei Söhnen Sem, Cham und Japhet abstammen. Sem der älteste, gilt als Ahnherr der Völker des südwestlichen Asien, die daher Semiten heißen. (…) Noahs zweiter Sohn ist nach der biblischen Ethnographie der Stammvater der Hamiten, zu denen wir heute eine Reihe afrikanischer Stämme zählen (Ägypter, Berber, Tuareg, Somali, Galla und manche andere). (…) Japhet ist der Stammvater der in Europa verbreiteten Völker der Armenier, Meder, Griechen, Thraker und einer Reihe weiterer Stämme. (…) Diese biblische Stammesgeschichte blieb nicht nur bis ins Mittelalter die einzige ‚Rassenkunde’ der Europäer, nein, auch heute noch verwendet die Wissenschaft – so sehr sie auch eigene Wege geht – dennoch ganz selbstverständlich Worte und Begriffe wie ‚Hamiten’ oder ‚Semiten’“ (Schrenzel 1937: 46 f.).
Eine Graphik, die auch die im Text nicht explizit angesprochenen Hautfarben dieser drei biblischen Stammväter der menschlichen Rassen unschwer erkennen lässt, illustriert diesen Text.
317 Cuvier hatten wir bereits als Begründer der Katastrophentheorie sowie als Anatom, der den Leichnam von Sara Baartmann, der sogenannten Hottentotten-Venus, seziert und zum Museums-Exponat zugerichtet hat.
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Abb. 11: Theologisch begründete Rassenkunde (aus: Schrenzel 1937: 47) 1857 trat der promovierte Theologe Friedrich Fabri (1824-1891), der sich bis dahin vor allem in der Inneren Mission engagiert hatte, in den Dienst der Äußeren Mission. Er wurde dort zunächst Inspektor und später rheinischer Missionsdirektor. An der theologischen Fakultät der Universität Bonn erhielt er eine Honorarprofessur. Auch Fabri trieb die Frage um, wie die unterschiedlichen Menschenrassen entstanden sind, und auch er suchte und fand die Antwort in der Genesis. Darüber hinaus fragte er sich allerdings auch, „ob die offenbar auf einem göttlichen Rathschlusse beruhende Zurückstellung gewisser Rassen und Völker nicht auch eine verschiedenen Stellung derselben zu der göttlichen Heils-Anstalt bedingt und ob auch im Neuen Bunde trotz der Universalität der in Christo erschienenen Gnade in der gegenwärtigen Weltzeit eine Zahl von Völkern und Nationen bis zu einer neuen Periode im Reiche Gottes zurückgestellt ist und zurückgestellt sein soll“ (Fabri 1859: 7 f.),
ob also die Missionierung dieser Menschen, deren „Zurückstellung“ ja von Gott so gewollt sein muss, theologisch überhaupt zu rechtfertigen sei. Schließlich sei es
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„weder der tatsächlichen Wirklichkeit noch dem Wort Gottes entsprechend, den effectiv bestehenden und tiefgreifenden Unterschied zwischen den verschiedenen Menschenrassen zu läugnen (sic!) oder auch nur zu verkleinern. Wenn uns ein Neger gegenübersteht, schwarz wie Ebenholz, mit krausem wolligen Haupthaar, mit gedrücktem Schädel und rückwärts gestreckter Stirn, das Hinterhaupt und die untere Gesichtstheile dagegen massiv entwickelt, die Lippen breit aufgeworfen, die Nase platt gedrückt, wenn ich ihn betrachte, jetzt belebt von der tiefen sinnlichen Gluth, dann wieder in stumpfer, träger Gleichgültigkeit, nicht achtend der Ruthe des Peinigers – wenn man sich geistig versenkt in diesen Anblick – und Stämme, wie die afrikanischen Buschmänner und die australischen Papuas bieten ein noch traurigeres Bild – so bekommt man den unwiderstehlichen Eindruck: das sind nicht nur die Züge des durch die Sünde überhaupt verunstalteten und materialisirten Urmenschen, hier liegt noch ein ganz besonderes, über alle Aufzeichnungen der Geschichte hinaufreichendes Geheimniß zugrunde. Ist doch der Eindruck dieses tiefgreifenden Unterschiedes der verschiedenen Menschenrassen schon oft ein so gewaltiger gewesen, daß nicht Wenige überhaupt die ursprüngliche Einheit des Menschengeschlechts glauben leugnen zu müssen und annahmen, daß es ebenso viele ursprüngliche Menschenpaare als Hauptrassen gegeben habe“ (a. a. O.: 7 ff.).
Diese Auffassung war für den schriftgläubigen Fabri natürlich nicht akzeptabel. Einflüsse wie klimatische Bedingungen oder Bodenbeschaffenheit, in denen ebenfalls vom Schöpfungsglauben überzeugte Naturwissenschaftler, etwa Blumenbach, noch die Ursachen der Rassenbildung sahen, erschienen ihm ebenfalls nicht plausibel. Fabri gelang es nicht nur, eine theologische Erklärung für die Entstehung der verschiedenen Rassen trotz einmaligen Schöpfungsaktes beizubringen,318 sondern zugleich auch, das Heidentum der nichteuropäischen Völker dunkler Hautfarbe theologisch mit dem Hinweis auf den Turmbau zu Babel und die damit verbundenen Konsequenzen (Genesis 11, 1-9) für die Menschheit zu begründen. „Die Entstehung der Völker und Sprachen ist in ihrem tiefsten Wesen nach nichts anderes als die Entstehung der Vielgötterei oder des Heidenthumes. (…) Die Geschichte vom Thurmbau ist die Geschichte der Entstehung des Heidenthums“ (a. a. O.: 32). „Nach den deutlichen Angaben des Mosaischen Berichts ist das unter dem Thurmbaue dargestellte Ereignis ein widergöttliches Verbrechen der Menschheit“ (a. a. O.: 38).
In dieses monströse Verbrechen der Menschheit waren, so interpretierte Fabri in den biblischen Text hinein, zwar alle Menschen involviert, dies jedoch in unterschiedlichem Maße. Scharfsinnig gelang es Fabri, die Nachfahren Hams als die Hauptübeltäter bei diesem Frevel auszumachen. Aus der Tatsache nämlich, dass Noach einst seinen Sohn Ham verflucht, Japhet und in besonderem Maße Sem hingegen gesegnet hat, schlussfolgerte er, „dass die Söhne und Nachkommen Hams wohl als die meisten Gravirten, als die Anstifter und Hauptwerkzeuge dieses großen, gottwidrigen Unternehmens betrachtet werden dürfen. (…) Je mehr ein Geschlecht sich daran [am Turmbau zu Babel] betheiligte, desto entarteter wird die Nachkommenschaft: leiblich, sittlich, geistig. Je mehr die Betheiligung, desto entarteter also die 318 Die biblisch begründete Lehre von den drei Rassen empfiehlt er übrigens auch den Naturwissenschaften in ihre Rassenlehren zu übernehmen. „Da die Dreitheilung auch vom Standpunkte der Naturforschung keine erheblichen Schwierigkeiten bietet, die Naturwissenschaft überhaupt in der Rassenfrage noch zu keinen bestimmten und klaren Resultaten gekommen ist, so dürfte die Dreigliederung allerdings bei näherer Betrachtung so mehr den Vorzug verdienen, da auch die Bibel und mit ihr die Traditionen der Völker das Geschlecht des Sündfluthpatriarchen in den drei Aesten sich entwickeln lassen“ (a. a. O: 13 f., Fn.).
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Gestalt, desto ärmer die Sprache, desto polytheistischer das Gottesbewußtsein; je weniger Betheiligung, desto edler die Gestalt, desto reicher die Sprache, desto mehr Anklänge an den ursprünglichen Monotheismus in der Mythologie. Nun begreifen wir einigermaßen, warum die Hamiten die in jeder Beziehung am meisten zertretenen Völker der Erde bis auf den heutigen Tag sind, und ahnen nun auch, wie das Geheimnis der Bosheit, zu dessen Hauptträgern sie sich vor Jahrtausenden gemacht, seine furchtbaren und entstellenden Wirkungen selbst in Farbe und in Körpergestalt bis auf den heutigen Tag ausgeprägt hat. Gegenüber den Söhnen Hams erscheinen dann die Söhne Sems und Japheths als die verhältnismäßig minder Betheiligten und Reineren“ (a. a. O.: 39 f.).
Solcherart gelang es Fabri schließlich, nicht nur die vermeintliche Entartung, sondern auch das polytheistische Heidentum der für tiefstehend gehaltenen schwarzen und die Überlegenheit und daraus abgeleitet die Herrschaft der weißen „Rassen“ über die Schwarzen theologisch zu begründen und zu rechtfertigen. Fabri kam nach sorgfältigem Abwägen schließlich doch zu dem Schluss, dass die Missionierung dieser verfluchten, sündhaften und deswegen so tiefstehenden Völker durchaus gerechtfertigt sei. Allerdings verstand er, ein erklärter Gegner übrigens auch der Sklaverei (vgl. a. a. O.: 7), im Gegensatz zu den meisten damaligen Missionsfunktionären aller Konfessionen, Mission nicht als Bekehrung, sondern als Predigt. Im Bekehrungsgedanken sah Fabri, den sein späterer Nachfolger, Missionsdirektor Gustav Menzel (1908-1999), als „antikonfessionellen Theosophen“ (Menzel 1978: 71) bezeichnete, im Gegenteil, einen Rückfall in den mittelalterlichen Katholizismus. „Fast ohne Ausnahme bezeichnet man die Bekehrung der Heidenvölker als die Aufgabe der Mission. Davon steht im ganzen Neuen Testamente kein Wort“ (a. a. O.: 82). „Jene in streng lutherischen Kreisen vornehmlich vertretene Missionstheorie stützt sich, auch ohne irgend welche einigermaßen überzeugende biblische Beweisgründe beibringen zu können, im Wesentlichen immer wieder auf die Periode der Völkerbekehrung im Mittelalter und verräth unwillkürlich auch nach dieser Seite hin ihre im Princip mehr oder minder katholisirende Richtung“ (a. a. O.: 92).
Die Botschaft des sogenannten Missionsbefehls319 begriff Fabri320 also nicht als Auftrag zur Bekehrung der Völker, „sie sagt vielmehr, diese Predigt des Evangeliums in der ganzen Welt werde geschehen zu einem Zeugniß über alle Völker. Eine sehr verschiedene Sache“ (a. a. O.: 94).
Die Wirkung der Missionsarbeit liege letztlich im Ermessen Gottes. „Auch hier müssen wir in der freien, aber nach einer bestimmten, wenngleich verborgenen göttlichen Zubereitung waltenden Gnade Gottes den eigentlichen Grund der so verschiedenen Vertheilung von Segen und Fluch erkennen“ (ebd.). 319 „Da trat Jesus auf sie zu und sagte zu ihnen: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Matthäus 28, 18-20). 320 Gleichwohl war Fabri ein überzeugter Verfechter der Kolonialbestrebungen des Deutschen Reiches, weil er darin die Lösung dringender gesellschaftlicher Probleme, wie Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, Überproduktion und Kapitalüberschuss sah, „welche das Aufkommen und die rasche, mächtige Ausbreitung der Social-Demokratie bei uns reichlich gefördert haben“ (Fabri 1879: 87).
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Fabri gelang es übrigens auch, die sich zu seiner Zeit gerade in den biologischen Wissenschaften verbreitende Lehre von der Degeneration der zivilisierten Menschheit biblisch herzuleiten. „Daß der Mosaische Bericht das von ihm hier geschilderte Ereigniß (…) [vom Turmbau zu Babel] auch unter diesem Gesichtspunkte eines geogonischen Processes, einer Erdrevolution gefaßt haben will, zeigt (…) auch der Umstand, daß sofort mit dieser Zertheilung der Völker und der Länder das Lebensalter der Menschen zum zweitenmale um die Hälfte herabsinkt. Denn während nach der großen Fluth321 bis zum Thurmbau das Lebensalter durchschnittlich auf 400 Jahre sich stellt, fällt dasselbe nach der den Thurmbau begleitenden Katastrophe auf durchschnittlich 100-200 Jahre, also auf ein Alter, das, wenn es auch weit über dem jetzigen durchschnittlichen Lebensalter steht, wenigstens in einzelnen Fällen auch später bis auf die Gegenwart nahezu noch erreicht wird. Können, ja müssen wir aber aus diesem Umstande nicht den Rückschluss machen, daß eben durch diese Erschütterung im klimatischen und allgemein physischen Bestande der Erde solche Veränderungen eingetreten seien, welche mit wahrscheinlich gleichzeitig beginnendem Herabsinken menschlicher Leibesgröße322 auch eine kürzere Lebensdauer bedingen?“ (a. a. O.: 28 f.)
Wir haben es hier also nicht mit einem Paradigmenwechsel in dem Sinne zu tun, dass das neue das alte Paradigma ablöst, vielmehr tritt das neue an die Seite des alten und beide ergänzen sich fortan. 2.2 Vom religiös geprägten Judenhass zur rassistisch begründeten Judenfeindlichkeit Auch die rassistisch begründete Judenfeindlichkeit fand eine hervorragende Ergänzung im christlich-theologisch fundierten Antijudaismus. Dessen Grundlegung beginnt bereits im Neuen Testament, unter anderem in den zahlreichen Polemiken gegen die Schriftgelehrten der Juden, das Pharisäertum.323 Um die judenfeindliche Tragweite dieser antipharisäischen Hetze angemessen zu würdigen, muss man sich vergegenwärtigen, dass sich nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 u. Z. die „notwendig gewordene inhaltliche und organisatorische Neuorientierung (…) im wesentlichen von den Rabbinern getragen (wurde), einer Gruppe von Gelehrten, die aus dem moderaten Flügel der Pharisäer hervorgegangen war“ (Schoeps & Wallenborn 2001: 6). 321 Gemeint ist die Sintflut. 322 Im Original findet sich hier die Fußnote: „Auf diese mit dem höheren Lebensalter parallel gehende Leibesgröße deutet auch Genesis 6, V. 4 und die dieser Aussage entsprechende mythologische Tradition von einem in der Urzeit vorhandenen, risigen Gigantengeschlecht.“ 323 Jesus bezeichnet sie u. a. als „Heuchler“ (Matthäus 23, 13-27), als „Schlangenbrut“ (Matthäus 3, 7) bzw. als „Nattern und Schlangenbrut“ (Matthäus 23, 33), als „Prophetenmörder“ (Matthäus 23, 31) usw. „voll Raubgier und Bosheit“ (Lukas 11, 29), von denen sich seine Anhänger unbedingt fernzuhalten hätten. Dem Einwand von Thiede & Stingelin (2002: 93), das Neue Testament könne schon deshalb nicht judenfeindlich gedeutet werden, weil „hier (…) Juden (schreiben), die mit anderen Juden über entscheidende Fragen des Glaubens und Lebens streiten“, mithin die Autoren des Neuen Testaments selbst Juden einer bestimmten Glaubensrichtung seien und mit den anderen lediglich einen „Familienzwist“ (a. a. O.: 95) austrügen, kann hier nicht gefolgt werden. Auch wenn die Autoren des Neuen Testaments sich selbst als Juden, als die wahren Juden, verstanden haben, legen sie, indem sie alle anderen Richtungen des Judentums in der Weise verteufeln, wie hier dokumentiert, zumindest den Grundstein für die Feindschaft gegenüber allen jüdischen Richtungen, die ihre jüdische Identität bis heute bewahrt haben.
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Mit anderen Worten: Seit dem Jahr 70 u. Z. steht das Judentum vor allem in pharisäischer Tradition.324 Diffamierungen des Pharisäertums müssen folglich als auf das gesamte gegenwärtige Judentum gerichtet verstanden werden. Bis heute ist diese antipharisäische Judenfeindlichkeit in unserem Sprachgebrauch fest verankert, wenn die Bezeichnung Pharisäer in einem abfälligen Sinne als Synonym für Heuchler gebraucht wird. Der Hass des Neuen Testaments auf alle nicht-christlichen Juden zeigt sich weiter auch an der Überlieferung, die Juden seien die Jesusmörder, die dessen Hinrichtung gegen den Repräsentanten der römischen Besatzungsmacht Pontius Pilatus, der bekanntlich seine Hände in Unschuld wusch,325 durchsetzten.326 Unmissverständlich schreibt Paulus an die Gemeinde in Tessalonich: „Ihr habt von euren Mitbürgern das Gleiche erlitten, wie jene [die Christen in Judäa] von den Juden. Diese haben sogar Jesus, den Herrn und die Propheten getötet. (…) Sie missfallen Gott und sind die Feinde aller Menschen“ (1. Tessalonicher 2, 14-15). Bei Johannes (8, 41-44) kommt es schließlich zu einer offenen Dämonologisierung der Juden: „Sie [die Juden, die nicht an Jesus glauben] entgegneten ihm: Wir stammen nicht aus einem Ehebruch, sondern wir haben nur den einen Vater: Gott. Jesus sagte zu ihnen: Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben; denn von Gott bin ich ausgegangen und gekommen. Ich bin nicht in meinem eigenen Namen gekommen, sondern er hat mich gesandt. Warum versteht ihr nicht, was ich sage? Weil ihr nicht imstande seid, mein Wort zu hören. Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.“
Gott ist also der Vater aller Christen. Der Vater aller Juden, die nicht an Jesus glauben, hingegen ist der Teufel. Wie ein roter Faden zieht sich von Anfang an die solcherart biblisch grundgelegte Feindlichkeit gegen die nicht-christlichen Juden durch die gesamte Geschichte der christlichen Kirche (vgl. hierzu Heer 1981; Schoeps & Wallenborn 2001; Thiede & Stingelin 2002: 121 ff.). Die Juden, immer mit den biblischen Vorwürfen konfrontiert, sie seien geldgierig, die Mörder der Propheten und des Herrn und sie würden mit dem Teufel paktieren, waren die Opfer der ersten Kreuzzüge im 11. Jahrhundert. Immer wieder kam es im Mittelalter zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung, zu denen nicht selten christliche Herrscher von Gottes Gnaden aufriefen, wenn sie sich, bei jüdischen Bankhäusern hoch verschuldet, die lästigen Gläubiger vom Hals schaffen wollten. Zwischen dem 13. und dem 18. Jahrhundert entstanden zahlreiche Plastiken, Skulpturen, Reliefe und auch Grafiken mit sogenannten Judensau-Motiven, durchweg blasphemischen und beleidigenden Darstellungen, die das Judentum mit Schweinen327 in Verbindung bringen. Solche Judensau-Darstellungen zieren heute noch die Fassaden und Inneneinrichtungen mehrerer kirchenchristlicher Gotteshäuser, seit Anfang des 14. Jahrhunderts auch z. B. der Stadtkirche von Wittenberg – sehr zur Freude übrigens des Reformators Martin Luther, der das Machwerk geradezu feixend beschreibt und so interpretiert: 324 In religionsgeschichtlicher Hinsicht stellt die Emanzipation des Judentums von obrigkeitlichem Priestertum und Tempel übrigens einen beachtlichen Fortschritt dar, hinter den das institutionalisierte pastorale Christentum dann bekanntlich wieder zurückgefallen ist. 325 Matthäus 27, 24. 326 Wobei zu sagen ist, dass irgendjemand es ja hat machen müssen, denn eigens, um sich hinrichten zu lassen und so die Menschheit zu erlösen, ist Gott ja in Jesus Mensch geworden. 327 Das Schweinemotiv ist mit Bedacht gewählt worden, gilt doch das Schwein im Alten Testament und im jüdischen Glauben als unreines Tier, von dem sich gläubige Juden fernzuhalten haben (Levitikus 11, 7-8; Deuteronomium 14, 8).
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„Es ist hie zu Wittenberg an unser Pfarrkirchen eine Saw inn stein gehawen, da ligen junge Ferckel und Jueden unter, die saugen, Hinder der Saw stehet ein Rabin, der hebt der Saw das rechte bein empor, und mit seiner lincken hand zeucht er den pirtzel uber sich, bueckt und kuckt mit grossem vleis der Saw unter den pirtzel inn den Thalmud hinein, als wolt er etwas scharffes und sonderlichs lesen und ersehen. Daselbsther haben sie gewisslich ir Schem Hamphoras“328 (Luther 1543b: 600).
Auch der kirchenchristliche Judenhass überstand, wie wir sehen, die Reformation unbeschadet, er erhielt durch Luther sogar neuen Auftrieb. Allerdings ist Judentum im Verständnis zumindest des frühen Luther, anders als beim späteren Luther und anders, als das im späteren, biologistisch fundierten sogenannten Antisemitismus der Fall ist, noch keine ontologische, sondern eine Glaubenskategorie.329 Luther war anfangs sogar bemüht, die Juden dazu zu bewegen, sich seinem Protestantismus anzuschließen und wandte sich scharf gegen die Judenfeindlichkeit der Papisten. „Ich hoff, wenn man mit den Juden freuntlich handelt und aus der heyligen schrifft sie seuberlich unterweyßet, es sollten yhr viel rechte Christen werden und widder tzu yhrer vetter, der Propheten und Patriarchen glauben tretten“ (Luther 1523a: 315).
Solcherart bekehrt, wären sie dann für Luther keine Juden mehr, sondern Christen wie er. Erst als Luther erkennen musste, dass die Juden keineswegs die Absicht hatten, begeisterte Lutheraner zu werden, sondern Juden bleiben wollten und blieben, ging er auf Distanz zu ihnen und gelangte zu der ontologisierenden Auffassung, dass auch von ihm getaufte Juden immer Juden blieben, denen mit Misstrauen zu begegnen sei, ja die am besten unmittelbar nach ihrer Taufe oder besser noch beim Taufakt umgebracht werden sollten, damit sie es sich nicht mehr anders überlegen können: „Wenn ich mer ein Juden tauff, so will ich ihn auf die elbbruckh furen, ain stain an hals hengen und hinab stossen et dicere: Ego baptiso in nomine Abraham, quia non servant fidem“330 (Luther 1532, Tischrede 1795, Bd. 2: 217).
1543 rechnete Luther in einem Pamphlet mit dem Titel „Von den Juden und ihren Lügen“ gnadenlos mit dem Judentum ab. Auch hier verwandte er immer wieder die altbekannte Figur der Diabolisierung, z. T. unter expliziter Berufung auf die Evangelien (z. B. Luther 328 Um die antijüdische Blasphemie dieser Aussage in ihrer ganzen Tragweite nachzuvollziehen, ist zu vergegenwärtigen, dass der hebräische Begriff „Schem Hamphoras“, zu deutsch: „der unverstellte Name“, bedeutet und den für Juden unaussprechlichen Namen Gottes meint. 329 Aus diesem Grund erscheint es auch problematisch, die Judenfeindlichkeit Luthers oder auch die des Neuen Testaments als Antisemitismus zu bezeichnen. Diesen Begriff prägte 1879 mit eindeutig rassistischer Ausrichtung 1879 Wilhelm Marr (1819-1904) in seiner Hetzschrift „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“. Seine Ausweitung auf jede Form von Judenfeindlichkeit birgt indes die Gefahr von Missverständnissen und erschwert die Differenzierung zwischen unterschiedlichen Begründungszusammenhängen für Judenhass und Judenverfolgung. Hinzu kommt, dass die Bezeichnung „semitisch“ keinesfalls nur das Judentum umfasst, sondern auch darüber hinausgehende Teile der arabischen Welt, auch solche, die ihrerseits stark judenfeindlich ausgerichtet sind. Thiede & Stingelin (2002: 9) machen außerdem zu Recht darauf aufmerksam, „dass es keine semitischen Völker gibt, sondern nur semitische Sprachen“, wenngleich sie trotz dieser Klarstellung selbst den Antisemitismus-Begriff oft recht undifferenziert verwenden. Übrigens lehnt auch Günther (1930: 13, 315), den wir bereits als einen der bedeutendsten Rassenbiologen während der NS-Herrschaft in Deutschland kennengelernt haben, den Begriff als unwissenschaftlich ab. 330 (…) und sagen: Ich taufe Dich im Namen Abrahams, weil sie nicht den Glauben bewahren.
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1543a: 420): „Der Teufel hat dis Volck mit allen seinen Engeln besessen“ (a. a. O.: 447). Juden und auch anderen, die nicht „an der Gnade und Barmherzigkeit in Christo hängen“, z. B. Türken und natürlich immer wieder den Papisten, schleuderte er entgegen: „so seid ir des Teufels hure oder buben Schule und nicht die Kirche“ (a. a. O.: 448). An die weltliche Obrigkeit richtet er eine sieben Punkte umfassende Empfehlung für eine grundlegende Lösung des Judenproblems: „Erstlich, das man ire Synagoga oder Schule mit feur anstecke und, was nicht verbrennen wil, mit erden uber heuffe und beschütte, das kein Mensch ein stein oder schlacke davon sehe ewiglich. (…) Denn was wir bisher aus unwissenheit geduldet (Ich habs selbst nicht gewust), wird uns Gott verzeihen. Nu wirs aber wissen, und solten darueber, frey fur unser nasen, den Jueden ein solch Haus schuetzen und schirmen, darin sie Christum und uns beliegen, lesteren, fluchen, anspeien (…), Das were eben so viel, als thetten wirs selbst und viel erger, wie man wol weis. (…) Zum anderen, das man auch ire Heuser des gleichen zerbreche und zerstoere, Denn sie treiben eben dasselbige drinnen, das sie in den Schulen treiben. Dafur mag man sie etwa unter ein Dach oder Stal thun, wie die Zigeuner, auff das sie wissen, sie seien nicht Herrn in unserem Lande, wie sie rümen, Sondern im Elend und gefangen, wie sie on unterlas fur Gott uber uns zeter schreien und klagen. Zum dritten, das man inen neme alle ire Betbuechlin und Thalmudisten, darin solche Abgoetterey, luegen, fluch und lesterung geleret wird. Zum vierden, das man iren Rabinen bey leib und leben verbiete, hinfurt zu lehren“ (a. a. O.: 523). „Zum fuenfften, das man den Jueden das Geleid und die Strasse ganz und gar aufhebe, Denn sie haben nichts auf dem Lande zu schaffen, weil sie nicht Herrn noch Amptleute noch Hendeler, oder desgleichen sind. Sie sollen da heime bleiben. (…) Zum sechsten, das man inen den Wucher verbiete und neme inen alle barschafft und Kleinot an silber und Gold, und lege es beiseit zu verwaren.“ Denn: „Alles, was sie haben (…), haben sie uns gestolen und geraubt durch iren Wucher, weil sie sonst kein ander narung haben“ (a. a. O.: 524). „Zum siebenden, das man den jungen starcken Jueden und Juedin in die hand gebe flegel, axt, karst, spaten, rocken, spindel, und lasse sie ir brot verdienen im schweis der nasen, wie Adams kindern auffgelegt ist, Gene. 3“ (a. a. O.: 525 f.).
Heute wissen wir, dass knapp vierhundert Jahre später Luthers Vorschläge zur Lösung der Judenfrage in Deutschland, zugespitzt als Endlösung, praktisch umgesetzt wurden.331 Die judenfeindliche Ausrichtung der NS-Politik fand innerhalb beider christlicher Kirchen in Deutschland breite Zustimmung. Voll des Lobes hatte sich umgekehrt der Katholik Adolf Hitler schon Anfang der 1920er Jahre im Gespräch mit Dietrich Eckart (1924: 35 f.) z. B. über Martin Luther geäußert: „Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung; sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen. Nur leider zu spät, und auch dann noch nicht da, wo er mit am schädlichsten wirkt: im Christentum. Ach, hätte er ihn da gesehen, in der Jugend gesehen! Nicht den Katholizismus hätte er angegriffen, sondern den Juden dahinter! Statt die Kirche in Bausch und Bogen zu verwerfen, hätte er seine ganze leidenschaftliche Wucht auf die wahren ‚Dunkelmänner’ fallen lassen. Statt das Alte Testament zu verklären, hätte er es als die Rüstkammer des Antichristen gebrandmarkt. Und der Jude, der Jude wäre in sei331 Vielleicht ist es nicht einmal Zufall, dass in Deutschland die gewaltsamen Übergriffe auf Juden und ihre Einrichtungen in der Reichspogromnacht vom 9. bis zum 10. November 1938 genau in der Nacht zu Luthers 455. Geburtstag ihren Ausgang nahmen.
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ner scheusslichen Nacktheit dagestanden, zur ewigen Warnung. Aus der Kirche hätte er herausmüssen, aus der Gesellschaft, aus den Hallen der Fürsten, aus den Burgen der Ritter, aus den Häusern der Bürger. Denn Luther hatte die Kraft und den Mut und den hinreissenden Willen. Nie wäre es zur Kirchenspaltung gekommen, nie zu dem Krieg, der nach Wunsch der Hebräer dreissig Jahre lang arisches Blut in Strömen vergoss.“
Schon im September 1933 übernahm die Synode der evangelischen Kirche der altpreußischen Union die Ariergesetzgebung der neuen Machthaber für Kirchenbeamte und Geistliche. Fortan durfte auch in diesen Kirchenämtern nur beschäftigt werden, wer arischer Abstammung und nicht mit einer nicht-arischen Person verheiratet war. Es wird also auch deutlich, dass nach der Ablösung der Dämonologisierung durch Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins und nachdem der Antijudaismus in zunehmendem Maße mit den auf biologistischen Minderwertigkeitslehren gründenden rassistischen, damals für naturwissenschaftlich gehaltenen Argumenten begründet wurde, hier nicht, wie in anderen Bereichen, ein Paradigmenwechsel in dem beschriebenen Sinne stattgefunden hat, dass ein neues das alte ablöst, sondern es eher konfessionsübergreifend zu einer Ergänzung und wechselseitigen Bestätigung beider Doktrinen kam. Dies betont auch der Historiker Friedrich Heer (1916-1983, selbst bekennender österreichischer Katholik in einem „den jüdischen, christlichen und nichtchristlichen Opfern des österreichischen Katholiken Adolf Hitler gewidmet(em)“ (Heer 1981: 5) Buch: „Adolf Hitler beruft sich selbst, so auch im Gespräch mit Kardinal Faulhaber – offenbar, ohne Widerspruch zu finden –, darauf, dass er nur tue, was die Kirche eineinhalb Jahrtausende lang lehrte und den Juden gegenüber praktizierte“ (a. a. O.: 10).
2.3 Homosexualität Die Komplementarität der dämonologischen und der pathologisierenden Auffassung des Anders-Seins lässt sich weiter auch am Beispiel der Homosexualität aufzeigen. Schon im Alten Testament gilt Homosexualität, allerdings nur unter Männern – weibliche Homosexualität wird nicht explizit erwähnt – als Unzuchtsvergehen (Levitikus 18, 22), das mit dem Tod zu bestrafen ist. „Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben beide eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen“ (Levitikus 20, 13). Selbst das Tragen von Kleidungsstücken des anderen Geschlechts ist verboten, „denn jeder, der das tut, ist dem Herrn, deinem Gott, ein Gräuel“ (Deuteronomium 22, 5). Für Paulus ist Homosexualität, sowohl weibliche als auch männliche, eine Strafe Gottes für die Gottlosen: „Sie vertauschten die Wahrheit Gottes mit der Lüge, sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers (…). Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung“ (Römerbrief 1, 25-27).332 332 Nach Ansicht der vatikanischen Kongregation für Glaubenslehre war Homosexualität für Paulus übrigens ein Beispiel für die Blindheit der Menschheit: “Paul uses homosexual behaviour as an example of the blindness which has overcome humankind”. So wörtlich in einem vom heutigen Papst unterzeichneten und seinem Amtsvorgänger approbierten Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche vom 1. Oktober 1986
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Als Strafe verhängt, ist Homosexualität, wenn sie praktiziert wird, für Paulus zugleich auch ein mit dem Tode zu bestrafendes Vergehen. Unmissverständlich stellte er klar: „Wer so handelt, verdient den Tod“ (Römerbrief 1, 32; vgl. auch 1. Korintherbrief 6, 9; 1. Brief an Timotheus 1, 10). Es liegt auf der Hand, dass sich dieses Verständnis von Homosexualität in hervorragender Weise ergänzen ließ durch die spätere Pathologisierung und Kriminalisierung der Homosexualität, ja es ist festzustellen, dass in diesem Fall sogar das alte das neue Paradigma überlebt hat. Die Kriminalisierung der Homosexualität ist 1994 mit der Streichung des § 175 aus dem Strafgesetzbuch, die Pathologisierung mit dem Übergang vom ICD 9 zum ICD 10 überwunden worden. Seit 2001 können gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland sogar Lebenspartnerschaften standesamtlich eintragen lassen, in manchen Ländern, z. B. in den Niederlanden oder Belgien, können sie sogar heiraten. Auch wenn gesellschaftliche Diskriminierung Homosexueller damit noch nicht überwunden ist, in der gesetzlichen und offiziellen medizinischen Wahrnehmung sowie in der dieser entsprechenden Praxis wird das neue, die Homosexualität kriminalisierende und pathologisierende Paradigma zunehmend überwunden, nicht jedoch das alte. Es feiert derzeit sogar, gewissermaßen als fundamentalistische Reaktion auf den Wegfall der Kriminalisierung und der Pathologisierung, neue Urstände. „Gestützt auf die Heilige Schrift, die sie als schlimme Abirrung bezeichnet“333 (KKK 2005, Nr. 2357: 596), verurteilt die katholische Kirche zwar nicht die homosexuelle Veranlagung als solche, den Betroffenen sei im Gegenteil mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen“ (ebd., Nr. 2358), jedoch wird unmissverständlich klargestellt: „Homosexuelle Menschen sind zur Keuschheit gerufen“ (ebd., Nr. 2359). Am 24. Juni 2002 gab der ständige Rat der deutschen Bischofskonferenz die folgende Erklärung ab: „Das neu geschaffene Rechtsinstitut der Lebenspartnerschaft nach dem ‚Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften vom 16. Februar 2001 (BGBl I S. 266)’ widerspricht der Auffassung über Ehe und Familie, wie sie die bezüglich der Seelsorge homosexueller Personen (auf der Homepage des Vatikans in englischer Sprache verfügbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19861 001_homosexual-persons_en.html (Zugriff: 01.03.2007). 333 An dieser Stelle findet sich eine Fußnote folgenden Inhalts: „Vgl. Gen 19, 1-29; Röm 1,24-27; 1 Kor 6,10; 1 Tim 1,10“. Die Berufung auf Genesis 19, 1-29 hat es in sich. Dort, wo es inhaltlich um die Ankündigung der Vernichtung von Sodom und Gomorra geht, heißt es u. a.: „Die beiden Engel kamen am Abend nach Sodom. Lot saß im Stadttor von Sodom. Als er sie sah, erhob er sich, trat auf sie zu, warf sich mit dem Gesicht zur Erde nieder und sagte: Meine Herren, kehrt doch im Haus eures Knechtes ein, bleibt über Nacht und wascht euch die Füße! (…) Sie waren noch nicht schlafen gegangen, da umstellten die Einwohner der Stadt das Haus, die Männer von Sodom, Jung und Alt, alles Volk von weit und breit. Sie riefen nach Lot und fragten ihn: Wo sind die Männer, die heute Abend zu dir gekommen sind? Heraus mit ihnen, wir wollen mit ihnen verkehren. Da ging Lot zu ihnen hinaus vor die Tür, schloss sie hinter sich zu und sagte: Aber meine Brüder, begeht doch nicht ein solches Verbrechen! Seht, ich habe zwei Töchter, die noch keinen Mann erkannt haben. Ich will sie euch herausbringen. Dann tut mit ihnen, was euch gefällt“ (Genesis 19, 1-8). Um die Männer von Sodom von ihrem verbrecherischen Ansinnen abzubringen, mit den (natürlich männlichen) Engeln zu verkehren, bietet Lot – ein Neffe Abrahams, der im Gegensatz sogar zu seiner Frau, die, weil sie noch einmal einen Blick auf ihre gerade vom göttlichen Bombardement zerstörte Heimatstadt geworfen hatte, zur Salzsäule erstarren musste (Genesis 19, 26), das Strafgericht Gottes über Sodom überlebt hat – ihnen seine Töchter, die „noch keinen Mann erkannt“, also noch keinerlei sexuelle Erfahrungen hatten, zum mutmaßlich massenhaften sexuellen Missbrauch an, der hier also als probates Abwehrmittel gegen das Verbrechen homosexuellen Verkehrs erscheint. Der sich aufdrängende Zusammenhang zu den zahlreichen Fällen sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche ist an dieser Stelle nicht zu vertiefen.
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V Kontinuitäten, die den Paradigmenwechsel überdauert haben
katholische Kirche lehrt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen Dienst, gleich ob sie der katholischen Kirche angehören oder nicht, die nach diesem Gesetz eine ‚eingetragene Lebenspartnerschaft’ eingehen, verstoßen dadurch gegen die für sie geltenden Loyalitätsobliegenheiten, wie sie ihnen nach Artikel 4 der Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse in der geltenden Fassung auferlegt sind. Das Eingehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft ist deshalb ein schwerwiegender Loyalitätsverstoß im Sinne des Artikel 5 Abs. 2 der o. g. Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse, der die dort geregelten Rechtsfolgen nach sich zieht“ (Amtsblatt des Bistums Limburg 08/2002 vom 15. Juli 2002).
Die dort genannten Rechtsfolgen sind eindeutig: „Kündigung aus kirchenspezifischen Gründen“. Hier hat also gewissermaßen das alte Paradigma das neue überdauert.334 3
Praktische Kontinuitäten
Wir haben uns bisher vor allem mit Kontinuitäten von sozialen Konstruktionen des AndersSeins beschäftigt und dabei gesehen, dass je nach Paradigma der gedanklichen Konstruktion auf den ersten Blick ganz unterschiedliche Praxen im gesellschaftlichen Umgang mit dem vermeintlichem Anders-Seins folgen. 3.1 Kriminalisierung, Marginalisierung, Asylierung Doch auch für diese Praxen lassen sich trotz aller vordergründigen Unterschiede durchaus Kontinuitäten aufzeigen. Auf einige haben wir bereits hingewiesen. Am Beispiel des Wandertriebs und der Homosexualität haben wir gezeigt, dass Anders-Sein nach wie vor kriminalisiert wird, die Grenzen zwischen Pathologisierung und Kriminalisierung jedenfalls fließend sind und sich im historischen Prozess verändern. Auch die Marginalisierung des Anders-Seins prägt bis heute nachhaltig den gesellschaftlichen Umgang mit Menschen, die gegenwärtig für anders gehalten werden. Bis heute reagiert das Sozialwesen in Deutschland darüber hinaus auf sozialen Ausschluss durch Probleme wie Armut, Wohnungsnot, Behinderung, Pflegeabhängigkeit und andere nicht mit Hilfen, die geeignet sind, den Ausschluss 334 Dieses Privileg ausschließlich der Kirchen, Andersgläubige oder Minderheiten, wie in diesem Falle Homosexuelle, solcherart zu diskriminieren, hat in Deutschland Verfassungsrang (Art. 140 Grundgesetz). Nicht zuletzt deswegen ist in Deutschland die aufgrund entsprechender EU-Richtlinien lange überfällige Verabschiedung des 2006 schließlich in Kraft getretenen Antidiskriminierungsgesetzes über Jahre hinweg immer wieder am Widerstand der Kirchen gescheitert. Um die Tragweite und Bedeutung dieses Diskriminierungsprivilegs einschätzen zu können, ist zu vergegenwärtigen, dass Einrichtungen des katholischen Caritasverbandes 2002 nach eigenen Angaben fast eine halbe Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigten, in Einrichtungen des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland arbeiteten gut 450 000 Beschäftigte (Frerk 2005: 22). Frerk (ebd.) geht aufgrund der Meldungen der Verbände an die Berufgenossenschaften sogar von mehr als jeweils 700 000, insgesamt von fast 1,45 Millionen Beschäftigten kirchlicher Wohlfahrtsverbände aus. Für diese Beschäftigten gelten elementare Schutznormen gegen Diskriminierung nicht, auch wenn ihre Arbeit nichts mit kirchlichem Verkündigungsauftrag zu tun hat und zu weit über 90 % aus öffentlichen Mitteln, vor allem Leistungsentgelte, und öffentlichen Zuschüssen und lediglich zu 1,8 % aus kirchlichen Mitteln, finanziert wird (a. a. O.: 332). „Zum Vergleich: Der größte deutsche Industriekonzern, Siemens, hatte im Jahr 2003 weltweit 417 000 Mitarbeiter, davon 170 000 in Deutschland“ (Fels 2004).
3 Praktische Kontinuitäten
257
zu verhindern oder zu überwinden, sondern mit institutionellem Einschluss mit der Konsequenz der Verschärfung und Verstetigung des sozialen Ausschlusses, der dadurch allerdings sozial unsichtbar, gewissermaßen gesellschaftlich entsorgt wird. Die Art und Weise, wie mit Menschen, die zunächst gedanklich zu Anderen konstruiert worden sind, in der Praxis umgegangen wird, prägt in erheblichem Maße deren Lebensbedingungen und Aneignungsmöglichkeiten und deren Biografie. Oftmals wiederholt diese Praxis die gedankliche Konstruktion des Anders-Seins und lässt sie manifest werden. Wenn z. B. ein Kind zur Welt kommt, bei dem das Vorliegen einer Trisomie 21 festgestellt wird, wird diese Diagnose häufig verknüpft mit der Feststellung, dieses Kind sei oligophren, intelligenzgemindert oder geistig behindert. Während die erste Diagnose ohne Zweifel einen evidenten organischen Zustand beschreibt, ist die zweite Feststellung nichts weiter als eine klassische soziale Konstruktion, dazu eine, die oftmals auch ohne organischen Befund erfolgt. Besagtes Kind ist zum Zeitpunkt seiner Geburt so stark oder so wenig geistig behindert, wie wir es alle zum Zeitpunkt unserer Geburt waren. Dieses Kind wird sich unter den Bedingungen, unter denen es fortan lebt – und dazu gehört selbstverständlich auch die Trisomie 21 mit ihren spezifischen, insbesondere hirnorganischen Folgen – seine Welt aneignen, so wie wir es getan haben und tun, unter den Bedingungen, unter denen wir gelebt haben und leben. Es bedarf nur geringer Phantasie, um sich vorzustellen, wie ich meinen Mitmenschen gegenüber heute in Erscheinung treten würde, wenn man mich nach meiner Geburt nicht in meinem Elternhaus hätte aufwachsen lassen, sondern so behandelt hätte, wie man dies damals für fachlich geboten hielt, und mich in einer Anstalt für oligophrene Kinder oder in der Schwachsinnigenabteilung eines psychiatrischen Krankenhauses hätte aufwachsen lassen. Möglicherweise würde ich heute auch als geistig Behinderter in Erscheinung treten und dadurch die Diagnose, die seinerzeit zu meiner Anstaltseinweisung geführt hat, eindrucksvoll bestätigen. Vielleicht nicht in dieser Schärfe, aber doch in ähnlicher Weise würde ich in Erscheinung treten, wenn ich zwar bei meinen Eltern aufgewachsen wäre, aber wegen vermeintlicher Bildungsunfähigkeit aus allen Einrichtungen des öffentlichen Erziehungs- und Bildungswesens ausgegrenzt, allein auf die Hilfe und Unterstützung meiner Eltern verwiesen, geblieben wäre. Möglicherweise wäre es mir ähnlich gegangen wie Karl-Heinz, den wir im Rahmen unserer Untersuchungen zur Lebenssituation jüngerer Behinderter in der stationären Altenhilfe kennengelernt haben (vgl. Drolshagen & Rohrmann 2003: 463 f.). Karl-Heinz, Jahrgang 1952, lebte bis zu seinem 47. Lebensjahr bei seiner Mutter, mit der ihn eine geradezu symbiotische Beziehung verband. Als die Mutter 1998 einen Schlaganfall erlitt und in ein Altersheim verbracht wurde, kam Karl-Heinz wenige Wochen später auf Betreiben seiner Mutter und Veranlassung seines gesetzlichen Betreuers ebenfalls in das Altersheim und blieb dort auch, als seine Mutter nach einigen Monaten verstarb. Wir sehen an diesem Beispiel, wie der gedanklichen Konstruktion des Anders-Seins, das sich auf beliebige andere Formen übertragen lässt, die praktische Konstruktion des Anders-Seins folgt und manifest werden lässt. Dabei wird die gedankliche Konstruktion durch das in der Praxis manifestierte Anders-Sein immer wieder bestätigt, umgekehrt dient die gedankliche Konstruktion immer wieder als Begründung und Rechtfertigung der praktischen Konstruktion. Beide Aspekte der Konstruktion von Anders-Sein stehen also in einem unlösbaren wechselseitigen Verhältnis zueinander dergestalt, dass sie sich jeweils gegenseitig bedingen und voraussetzen.
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V Kontinuitäten, die den Paradigmenwechsel überdauert haben
3.2 Liquidierung Von der Asylierung oder Internierung der vermeintlich Anderen ist es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zur Liquidierung. Das zeigen nicht nur die bedrückenden Erfahrungen mit der geradezu industriemäßig durchgeführten, massenhaften Vernichtung vermeintlich Asozialer (vgl. Ayaß 1995) und anderer vermeintlich Anders-Artiger in Konzentrationslagern sowie psychisch Kranker und behinderter Menschen in psychiatrischen Krankenhäusern und „Heil“-anstalten (vgl. Klee 1985a), in den Jahren 1939 bis 1945 in Deutschland unter maßgeblicher Beteiligung z. T. hochrangiger Mediziner und Angehöriger anderer helfender und pflegender Berufe, sondern auch die von dem bis 1999 an der MonashUniversität in Melbourne in Australien, seither an der Princeton-Universität lehrenden BioEthiker Peter Singer (*1946) angestoßene sogenannte „neue Euthanasie-Debatte“. Vor allem auf Betreiben von Ulrich Bleidick hat sich seit Ende der 1960er Jahre eine dem kritischen Rationa-lismus verpflichtete Behindertenpädagogik an den meisten erziehungswissenschaftlichen bzw. sonderpädagogischen Fachbereichen bundesdeutscher Hochschulen etablieren können, die sich „einerseits (als) eine erzieherische Tatsachen sammelnde, deskriptive, am naturwissenschaftlichen Exaktheitsideal orientier-te Erfahrungswissenschaft (und) andererseits (als) ein politisches Wertaussagesystem, das in den Zielen der Erziehung ge-sellschaftliche Normen reflektiert und ihnen zur Durchsetzung verhelfen will“ (Bleidick 1986: 50),
versteht. Immer wieder wurde betonte, dass Normen und Wertaussagen in der Behindertenpädagogik als Erziehungswissenschaft nichts zu suchen hätten, sondern das strikte Prinzip der Wertfreiheit gelte. In dieses „Wertevakuum“ der Heil- und Sonderpädagogik brach Ende der 1980er Jahre der Dortmunder Geistigbehindertenpädagoge Christoph Anstötz (1988) ein. Dabei betonte er ausdrücklich, dass er sich auf die gleichen wissenschaftstheoretischen Grundlagen stützte, wie Ulrich Bleidick335, nämlich auf die Theorie und Methode des kritischen Rationalismus, mit der Bleidick bis dahin gerade immer das Postulat der Wertfreiheit begründet hatte. Im Gegensatz zu Bleidick gelangte Anstötz allerdings zu der Auffassung, daß „Moralurteile ebenso wie Tatsachenurteile rational diskutierbar sind (…) und eben auch einer rationalen Begründung bedürfen“ (Anstötz 1990: 9 f.). Das wäre nicht weiter bemerkenswert, obwohl durchaus verdienstvoll, insofern hier erstmalig auf die Notwendigkeit ethischer Diskurse in der Behindertenpädagogik hingewiesen wurde, die es in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, abgesehen von gesinnungsethischen Proklamationen, faktisch nicht gegeben hatte. Bemerkenswert und ein bedrückendes Beispiel für eine menschenverachtende Behindertenfeindlichkeit sind allerdings seine inhaltlichen Beiträge, mit denen er diesen Diskurs eröffnet hat. Bei seinem Versuch, eine heilpädagogische Ethik zu entwickeln, die Kriterien entspricht, die er für streng rationalistisch hält, ist er nun ausgerechnet auf die ethischen Prinzipien des sogenannten Präferenzutilitarismus gestoßen, wie sie unter anderem von dem australischen Bioethiker Peter Singer (unter anderem Singer 1984, 1994) vertreten werden. Diese Ethik verneint kategorisch vor allem das Lebensrecht bestimmter Menschen, die Singer in der 1. Auflage seiner „Praktischen Ethik“ als „geistesgestört“ (Singer 1984: 335 Bleidick zählt zu den Begründern der kritisch-rationalistischen Behindertenpädagogik und war lange deren bedeutendster Vertreter.
3 Praktische Kontinuitäten
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30, 92), „Geistesgestörte“ (a. a. O.: 98) oder „unheilbar zurückgebliebene(.) ‚dahinvegetierende(.) Menschen’336“ (a. a. O.: 104) und in der 2. Auflage als „geistig behindert“ (Singer 1994: 36, 105), „schwer geistig Behinderte“ (a. a. O.: 112) oder „schwerst und unheilbar geistig behinderte menschliche Wesen“ (a. a. O.: 118) bezeichnete. Ausgerechnet eine solcher Ethik sei nun Anstötz zufolge – dessen Aufgabe es eigentlich gewesen wäre,337 in Dortmund eine Professur für Geistigbehindertenpädagogik wahrzunehmen – als Grundlage für eine heilpädagogische Ethik besonders geeignet. „Wenn Kant (1977: 672 ff.) den Charakter der Gattung Mensch beschreibt, dann geht er von der Vorstellung des Menschen ‚als mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile) aus, welches aus sich selbst ein vernünftiges Tier (animal rationale) machen kann’ (…). Es wird schwerlich möglich sein, diese Gattungseigenschaften für schwerst geistigbehinderte Menschen festzustellen. (…) Locke (1962: 419) definiert Person als ‚ein denkendes verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich als sich selbst betrachten kann (…)’. Auch bei großzügiger Auslegung wird man nicht so weit gehen zu sagen, daß Feten, Neugeborene, schwerst Geistigbehinderte von dieser Auslegung betroffen sind“ (a. a. O.: 63).
Weil das so ist, muss – so schlussfolgerte Anstötz aus dem, was er für die mit Singer übereinstimmenden Auffassungen von Kant und Locke338 hielt, die er ihrerseits nicht mehr zur Diskussion stellt – allen heilpädagogischen Anthropologien, in denen „der Schwerstbehinderte als menschliches Wesen charakterisiert wird, welches mit den gleichen Ansprüchen auf Menschlichkeit ausgestattet sein soll, wie alle übrigen Menschen“ (a. a. O.: 65), vorgeworfen werden, sie betrieben „einen Gattungsegoismus (…), der darin besteht, bestimmten Mitgliedern der eigenen Spezies gegenüber Angehörigen anderer Spezies besondere Vorrechte und Behandlungen einzuräumen, und zwar ohne daß dafür moralisch relevante, akzeptable Gründe vorgelegt würden“ (a. a. O.: 66).
Hierbei bezog er sich unmittelbar auf Singer, von dem er diese Position unverändert übernommen hat (vgl. Singer 1984: 107; 1994: 121). Bedeutungsvoll für die moralische Bewertung eines Individuums und damit letztlich auch seines individuellen Lebensschutzes sei nach der hier vorgetragenen Auffassung also nicht die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens, sondern das Ausmaß, in dem ein Lebewesen „Person“ ist.339 „Wenn der Fötus nicht denselben Anspruch auf Leben wie eine Person hat, dann hat ihn das Neugeborene offensichtlich auch nicht, und das Leben eines Neugeborenen hat also weniger Wert als das Leben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen“ (1984: 169; 1994: 219).
336 Im englischen Original: „human vegetable“. 337 Anstötz hat sich im September 1993 das Leben genommen. 338 Dabei geht Anstötz so weit, beide mit Singer in einem Atemzug zu nennen, wenn er von „Kindern und Heranwachsenden“ schreibt, „die so schwer behindert sind, dass sie im Sinne von Kant, Locke, Tooley, Singer und anderen nicht als Personen bezeichnet werden können“ (Anstötz 1990: 116). Zumindest das von Anstötz angeführte Zitat von Kant belegt die hier vorgetragene Behauptung in keiner Weise. Offensichtlich ist Anstötz entgangen, dass Kant ausdrücklich nicht auf dem Menschen aktuell innewohnende Seinszustände, sondern auf Potentialitäten verweist. Als Potentialitäten aber wohnen die genannten Eigenschaften allen Menschen inne, auch wenn das im Einzelfall die Phantasie von Sonderpädagogen wie Anstötz übersteigen sollte. 339 Trotz seiner zentralen Bedeutung für die gesamte Argumentation ist der Personbegriff nirgends umfassend definiert.
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V Kontinuitäten, die den Paradigmenwechsel überdauert haben
Wohlgemerkt: Das gilt für alle Neugeborenen. Von daher plädierte Singer für die Einführung eines Rechtes auf Kindstötung bis etwa einen Monat nach der Geburt (1984: 171 ff.; 1994: 222 f.), durch das unter anderem die Tötung missgebildeter Säuglinge flexibel handhabbar wird. „Einige Ärzte, die an schwerer spina bifida leidende Kinder behandeln, sind der Meinung, das Leben mancher dieser Kinder sei so elend, daß es falsch wäre, eine Operation vorzunehmen, um sie am Leben zu erhalten. Das bedeutet, daß ihr Leben nicht lebenswert ist. Veröffentlichungen, die das Leben dieser Kinder beschreiben, stützen dieses Urteil. Wenn das stimmt, dann legen utilitaristische Prinzipien den Schluß nahe, daß es richtig ist, diese Kinder zu töten“ (1984: 181; vgl.: 1994: 236). „Ein schwierigeres Problem ergibt sich (…), wenn wir Schädigungen betrachten, die die Lebensaussichten der Kinder bedeutend weniger glücklich erscheinen lassen als die eines normalen Kindes, aber nicht so unglücklich, daß sie das Leben nicht lebenswert machen würden. Hämophilie dürfte in diese Kategorie gehören“ (1984: 182; vgl. 1994: 236). „Sofern der Tod eines geschädigten [1994: behinderten] Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks340 größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird“ (1984: 183; 1994: 238). „Das Euthanasieproblem im Hinblick auf behinderte Neugeborene ist also recht kompliziert, und wir können es hier nicht ausdiskutieren. Der Kern der Sache ist freilich klar: die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht“ (1984: 188; vgl. 1994: 244).
Singers Positionen haben sich in dieser Form zwar noch nirgends als Rechtsnorm durchzusetzen vermocht. Der Tendenz nach jedoch haben sie, wenn auch nicht bis in letzter Konsequenz, Eingang gefunden z. B. in das bundesdeutsche Strafrecht. Dieses schützt grundsätzlich das menschliche Leben und stellt die Tötung eines Menschen unter Strafe (§§ 211-216 StGB). Auch das noch nicht geborene menschliche Leben steht unter dem Schutz des Strafrechts (§ 218). Allerdings ist der Abbruch einer Schwangerschaft mit der Konsequenz der Tötung des Fötus oder des Embryos nicht in dem Maße strafbewehrt wie die Tötung eines Menschen nach seiner Geburt. Diese Rechtsnorm war immer wieder Gegenstand von z. T. heftigen Auseinandersetzungen, die hier nicht zu vertiefen sind. 1975 erklärte das Bundesverfassungsgericht die ein Jahr zuvor vom Deutschen Bundestag beschlossene Fristenregelung341 für verfassungswidrig, es kam zur sogenannten Indikationenregelung. Nur noch bei bestimmten Indikationen blieb eine Schwangerschaftsunterbrechung straffrei. Eine Indikation war dabei die sogenannte embryopathische oder zutreffender: eugenische Indikation. Nach dieser blieb eine Schwangerschaftsunterbrechung straffrei, wenn „nach ärztlicher Erkenntnis dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann“ (§ 218a Abs. 2 Nr. 1 alte Fassung).
340 Wie schon der Personbegriff ist auch die Bedeutung des Glücksbegriffs nirgends hinreichend geklärt. 341 Nach dieser Regelung sollte der Schwangerschaftsabbruch erst nach der 12. Schwangerschaftswoche strafbar sein.
3 Praktische Kontinuitäten
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Weitere Indikationen waren die medizinische342, die kriminologische343 und die Notlagenindikation344. Im Falle der medizinischen Indikation war die Abtreibung ohne zeitliche Begrenzung, bei eugenischer Indikation bis zur 22., in den anderen Fällen bis zur 12. Schwangerschaftswoche straffrei. Wir sehen, wie der Gesetzgeber differenziert: Grundsätzlich soll auch das werdende Leben unter den strafbewehrten Schutz des Gesetzes gestellt werden, wenngleich nicht in dem Maße, wie das schon geborene Leben. Insofern lässt sich für die medizinische Indikation durchaus eine gewisse Plausibilität konstatieren. Problematisch hingegen erscheint die eugenische Indikation, die dann greift, wenn aufgrund medizinischer Diagnostik festgestellt wird, dass der Fötus biologische Qualitäten aufweist, deretwegen man noch vor wenigen Jahrzehnten von minderwertigem Leben sprach. Bei diesen Föten hat der Gesetzgeber den Lebensschutz gegenüber anderen Föten ohne solche Qualitätsmängel drastisch reduziert. Er greift bei ihnen erst zehn Wochen später als bei den anderen. Das hatte vor allem praktische Gründe. Manche Befunde pränataler Diagnostik zur Bestimmung der biologischen Qualität des Embryos, z. B. die Amniozentese345 oder die Chorionzottenbiopsie346, lassen sich nicht bis zur 12. Schwangerschaftswoche beibringen. Außerdem lassen sich auch Fehlbildungen der Ebryonen mittels Ultraschalluntersuchungen erst ab der 20. bis 22. Schwangerschaftswoche nachweisen. 1995 kam es erneut zu einer Änderung des Abtreibungsrechts. Seither sind Abtreibungen bis zur 12. Schwangerschaftswoche generell straffrei, wenn sich die Schwangere mindestens drei Tage vor dem Abbruch in einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle hat beraten lassen (§ 218a Abs. 1). Die Beratungspflicht entfällt im Falle der kriminologischen Indikation (Abs. 3), die ebenfalls bis zur 12. Woche straffrei ist, und der medizinischen Indikation (Abs. 2), die wie bisher zeitlich unbegrenzt Straffreiheit sichert. Die eugenische Indikation wurde ersatzlos gestrichen. So jedenfalls scheint es auf den ersten Blick. Die Begründung der Bundesregierung für diese Änderung zeigt jedoch, dass die eugenische Indikation keineswegs abgeschafft werden sollte. Sie wurde, wie die Begründung des Gesetzesentwurfes ausführt, lediglich in die medizinische Indikation integriert. „Von einer embryopathischen Indikation ist abgesehen worden. Vor allem Äußerungen von Behindertenverbänden hatten nämlich aufgezeigt, daß eine derartige Regelung zu dem Missverständnis geführt hat, die Rechtfertigung ergebe sich aus einer geringeren Achtung des Lebensrechtes eines geschädigten Kindes. Zwar beruhten seit jeher die Regelungen betreffend die 342 Eine medizinische Indikation liegt vor, wenn „nach ärztlicher Erkenntnis der Abbruch notwenig ist, um eine Gefahr für das Leben der Schwangeren oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden“ (§ 218a Abs. 1 Nr. 2 StGB alte Fassung). 343 Wenn die Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung ist, liegt eine kriminologische Indikation vor (§ 218 Abs. 2 Nr. 1 StGB a. F.) 344 Die Notlagenindikation zielt darauf, „von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abzuwenden, die a) so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, und b) nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann. (§ 218a Abs. 2 Nr. 3 StGB a. F.). 345 Fruchtwasserentnahme zur Untersuchung der chromosomalen und genetischen Beschaffenheit der fetalen Zellen. Sie wird üblicherweise in der 13. Schwangerschaftswoche durchgeführt, führt zu einer deutlichen Zunahme des Risikos einer Fehlgeburt und gibt Aufschluss darüber, ob eine chromosomale Schädigung, z. B. Trisomie 21, oder bestimmte Erbkrankheiten vorliegen. 346 Hier werden Zellen aus der sogenannten Zottenhaut des Mutterkuchens entnommen um ihre genetischen Qualitäten zu untersuchen. Diese Untersuchung wird zwischen der 10. und 13. Schwangerschaftswoche durchgeführt.
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V Kontinuitäten, die den Paradigmenwechsel überdauert haben
embryopathische Indikation demgegenüber auf der Erwägung, daß sich in solchen Fällen eine unzumutbare Belastung für die Schwangere ergeben kann. Durch die Formulierung der medizinischen Indikation können diese Fallkonstellationen aufgefangen werden. Damit wird klargestellt, daß eine Behinderung niemals zu einer Minderung des Lebensschutzes führen kann“ (Bundestagsdrucksache 13/1850 vom 28. Juni 1995: 25 f.).
Mit anderen Worten: Die Streichung der eugenischen Indikation soll ausdrücklich nicht zu einer Veränderung bisheriger Praxis führen, eugenische Indikationen sollen vielmehr künftig als medizinische Indikationen verschleiert werden. Nicht die mutmaßliche Behinderung des zu erwartenden Kindes soll nun die Indikation darstellen, sondern die mit der Geburt zu erwartende Belastung der werdenden Mutter. Wenn diese die Aussicht auf ein behindertes Kind als unzumutbare Belastung empfindet und ihr dies ärztlicherseits bescheinigt wird, entfällt der ansonsten unabhängig vom Willen der Schwangeren geltende Lebensschutz für das werdende Kind. Diese gesetzgeberische Maßnahme, die angeblich klarstellen soll, dass der Lebensschutz geschädigter gegenüber anderen Föten nicht gemindert sein soll, führt folglich faktisch zu einem Wegfall jeglichen Lebensschutzes nach § 218 StGB für diese Föten während der gesamten Schwangerschaft. Der setzt nämlich nun nicht mehr wenigstens in der 23. Schwangerschaftswoche ein, sondern, wie bisher in allen anderen Fällen der medizinischen Indikation auch, erst mit der Geburt. Selbst die Tötung eines längst lebensfähigen Säuglings unmittelbar vor der Geburt fällt nun nicht mehr unter den strafbewehrten Lebensschutz, wenn aus eugenischen Gründen eine medizinische Indikation gestellt wird und die Tötung noch im Mutterleib stattfindet. Seither werden auch in den amtlichen Statistiken über Schwangerschaftsabbrüche eugenische Indikationen nicht mehr als solche sichtbar. Allerdings ist zu vermuten, dass der größte Teil der 3972 Abtreibungen, die 2007 unter medizinischer Indikationsstellung erfolgten, faktisch eugenische Indikationen waren, von denen die meisten, 2073, zwischen der 13. und 23. und 229 nach der 23. Schwangerschaftswoche erfolgten. 4
Institutionelle Kontinuitäten
Die sich manifestierenden Konsequenzen der aufgezeigten Dialektik von gedanklicher und praktischer Konstruktion des Anders-Seins spitzen sich natürlich noch erheblich in dem Maße zu, wie die praktische Konstruktion von Anders-Sein und die daraus abgeleitete soziale Fragmentierung gesellschaftlich institutionalisiert ist. Dies sollen die folgenden Ausführungen nach einem kurzen Abriss über das Verhältnis von Institutionen und Individuen, die ihren Zeitgenossen anders vorkommen, verdeutlichen. 4.1 Institutionen und Individuen, die anders scheinen Individuum bedeutet wörtlich übersetzt: Das Unteilbare. Individuen sind die je einzelnen, eigentümlichen und von allen anderen unterscheidbaren, eigenständigen und nach Identität und Autonomie strebenden Menschen, gewissermaßen die Atome der Gesellschaft. Dabei weist Capra (1996: 335) zu Recht darauf hin, „daß Identität, Individualität und Autonomie nicht Getrenntheit und Unabhängigkeit voraussetzen“, sondern Eingebundensein in unsere natürliche und gesellschaftliche Umwelt, Capra spricht hier vom „Lebensnetz“. Wie alle
4 Institutionelle Kontinuitäten
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Spezies leben auch menschliche Individuen in einer ökologischen Nische. Diese unterscheidet sich allerdings von derjenigen anderer Spezies dadurch, dass sie nicht von ihrer natürlichen Umwelt determiniert wird. Menschen schaffen sich vielmehr ihre ökologische Nische selbst. Sie leben unter gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, die ihnen zwar einerseits äußerlich sind, die sie jedoch zugleich selbst geschaffen haben, reproduzieren müssen und der Tendenz nach auch verändern und weiterentwickeln können und müssen. Menschen sind, wie in den Ausführungen über die Dialektik der Evolution dargelegt, in ihrer Anthropogenese zu Kulturwesen geworden, die sich nicht mehr phylogenetisch vermittels der bekannten Mechanismen der Evolution ihrer natürlichen Umwelt anpassen, sondern sie können und müssen sich diese in ihrer Ontogenese so gestalten, dass sie darin überleben können. Dabei sind sie auf die Kooperation mit anderen Individuen ihrer Gattung angewiesen. Menschen sind wie ihre Vorfahren soziale Wesen geblieben, dabei allerdings nicht mehr auf eine ganz bestimmte und weitgehend erbkoordiniert tradierte Gesellungsform verwiesen. Menschen können ihre Gesellungsform in hohem Grad frei bestimmen, müssen diese aber zugleich mit anderen Individuen abstimmen und aushandeln, sie müssen Verhältnisse miteinander eingehen, sind in deren Gestaltung jedoch außerordentlich variabel. Es gibt nicht die eine natürliche Gesellungsform, nach der Menschen leben müssen, auch die in unserer Gesellschaft höchst positiv sanktionierte lebenslange Einehe ist nur eine unter vielen möglichen und weltweit auch praktizierten Formen des Zusammenlebens der Geschlechter. Man kann Gründe für deren Vorteile angeben, man kann sie heilig sprechen. Nur eines ist sie nicht: die einzige, die der Natur des Menschen entspricht. Da nun die Regeln der solcherart eingegangenen Verhältnisse nicht mehr, wie bei nichtmenschlichen Spezies, erbkoordiniert tradiert werden, bedarf es anderer Mechanismen, die eine hinlängliche Stabilität dieser Verhältnisse garantieren. Genau diese Funktion übernehmen innerhalb dieser Verhältnisse hervorgebrachte gesellschaftliche Institutionen. Solche Institutionen stellen dabei höchst unterschiedliche soziale Tatbestände dar. Sie umfassen bestimmte Sitten, Gewohnheiten und Rituale sowie zunächst unverbindliche und ungeschriebene, dann aber immer verbindlicher werdende und schließlich rechtlich kodifizierte Konventionen, Normen und Verhaltensregeln, für deren Durchsetzung sich wiederum bestimmte Institutionen herausgebildet haben. Ja, wir können sagen, dass menschliche Gesellschaften sich überhaupt nur in und durch Institutionen realisieren können. Menschen können bewusst oder unbewusst gegen Normen ihrer Gesellschaft, in der sie leben, verstoßen, manchen fehlt auch die Fähigkeit, normgerecht zu leben. Damit Normverstöße nicht zu oft vorkommen und damit möglicherweise den Bestand der Gesellschaft gefährden, haben alle Gesellschaften bestimmte Sanktionen entwickelt, mit denen diejenigen, die die Regeln verletzen, veranlasst werden sollen, sich künftig normgerecht zu verhalten. Zur Durchsetzung dieser Sanktionen haben alle Gesellschaften im Verlauf ihrer Geschichte parallel zur Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Normen ein immer differenzierteres System von Institutionen hervorgebracht, das die Einhaltung dieser Normen garantieren soll, wenngleich die institutionelle Durchsetzung gesellschaftlicher Normensysteme in keiner Gesellschaft immer und vor allem niemals umfassend funktioniert, was auch ganz gut ist, denn sonst könnten sich gesellschaftliche Verhältnisse im historischen Prozess nicht weiterentwickeln oder sogar revolutioniert werden. Sie wären ebenso statisch wie die Gesellungsformen nichtmenschlicher Lebewesen. Menschliche Individuen sind also keineswegs bloß Objekte der Verhältnisse, unter denen sie leben, wie uns dies manche marxistisch gemeinten Theorien aber auch etwa die behavioristische Betrachtung menschlichen
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V Kontinuitäten, die den Paradigmenwechsel überdauert haben
Verhaltens nahe legen. Schon Marx hat diesen verbreiteten mechanistischen Determinismus (1888: 533 f.) in seiner dritten Feuerbachthese zu Recht kritisiert: „Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß.“
Menschliche Individuen sind also nicht nur Objekte, sondern immer zugleich auch tätige Subjekte, die sich unter den gegebenen Verhältnissen vergesellschaften und diese dabei reproduzieren, modifizieren oder verändern können. Individuum und Gesellschaft im Allgemeinen und Individuum und gesellschaftliche Institutionen im Besonderen stehen also in einem komplexen Verhältnis zueinander. Jede Gesellschaft braucht Individuen, um als Gesellschaft überhaupt existieren zu können, umgekehrt sind Individuen auf Gesellschaft angewiesen, denn nur innerhalb, niemals außerhalb von Gesellschaft können sie ihre Identität hervorbringen und sich als Individuen realisieren. Das eine kann nicht ohne das andere sein. Menschliche Individualität ist stets gesellschaftliche Individualität. Institution und Individuum sind zwei Seiten derselben Münze, zwei Grundtatbestände menschlichen Daseins. Auf der anderen Seite haben in herrschaftlich strukturierten Gesellschaften gerade solche Institutionen, die Macht über die betroffenen Individuen ausüben, Institutionen also, denen sich die Betroffenen nicht freiwillig aussetzen, immer auch die ihrem Wesen nach restriktive Funktion, individuelles Denken und Handeln zu normieren, anzupassen, Individualität und Autonomie zu begrenzen. 4.2 Institutionelle Fragmentierungen Wir sind, wie dieser Band darzulegen versucht, in aller Regel geneigt, das Anders-Scheinen eines Menschen für ein Anders-Sein zu halten. Das ist uns heute genauso selbstverständlich wie den Zeitgenossen vor einigen hundert Jahren, auch wenn sich die Ätiologien inzwischen geändert haben. Mit dieser Annahme setzen wir aber auch stets unhinterfragt und meist auch unbemerkt voraus, die solcherart identifizierten und definierten Betroffenen seien aufgrund ganz bestimmter abstrakter und ihnen innewohnender oder anhaftender Merkmale das, wofür wir sie halten, früher „Hexen“ bzw. „Hexenmeister“, „Besessene“ oder „Wechselbälger“ heute „behindert“, „psychisch krank“ oder auch „verhaltensgestört“ und neigten deswegen zu all dem, was wir jeweils für diese Menschen für typisch halten. Im Lichte dieses Verständnisses erscheint es dann nur konsequent, wenn diese Menschen im Capra’schen Sinne fragmentiert und anders als andere Menschen behandelt werden. So gesehen erscheinen Institutionen, wie früher die Inquisition oder der Exorzismus, heute die Sonderpädagogik mit ihren speziellen Sondereinrichtungen oder die Psychiatrie, als jeweils fachlich gebotene Einrichtungen, zumal die dort stattfindende Praxis von uns, die wir in diesen Institutionen tätig sind, wissenschaftlich abgesichert und fachlich legitimiert wird.
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4 Institutionelle Kontinuitäten
Tab. 3.: Erscheinungsformen des Anders-Seins und ihre institutionellen Entsprechungen Phänomen Hexen Besessene Behinderte Verrückte (psychisch Kranke) Kriminelle
Institutionelle Entsprechung Inquisition Exorzismus Sondereinrichtung Irrenhaus (Psychiatrie) Haftanstalt
Dabei ist es relativ unerheblich, ob die Betroffenen dort nun je nach Problemverständnis psychiatrisch-medizinisch, verhaltenstherapeutisch oder psychoanalytisch, neuerdings auch systemisch behandelt werden. Entscheidend ist, dass mit dem Anspruch pädagogischer, psychologischer oder medizinisch-psychiatrischer Fachlichkeit Anlässe sozialer Ausgrenzung ontologisiert, die Betroffenen – solcherart diagnostisch zugerichtet – nach festgestellten Symptomen und Defekten sortiert und homogenisiert in Institutionen eingeschlossen werden und so ihre gesellschaftliche Ausgrenzung institutionalisiert wird. Dabei bleibt meist unbemerkt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Symptome, die wir an diesen Menschen immer wieder diagnostizieren, Ausdruck genau der institutionellen Bedingungen ist, unter die wir sie eben wegen dieser Symptome gestellt haben. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Fragmentierung der Menschheit keineswegs allein, nicht einmal in erster Linie eine Folge des institutionellen Einschlusses ist, sondern vielmehr des gesellschaftlichen Ausschlusses, der dem institutionellen Einschluss ja in aller Regel vorausgeht. Dieser Ausschluss ist mit der Überwindung des Einschlusses weder gesamtgesellschaftlich noch individuell in irgendeiner Weise – quasi „automatisch“ – mit aufgehoben, sondern u. U. lediglich aus der Anstalt in die Gemeinde oder aus der Sonderschule in die Regelschule verlagert. Damit ist zwar durchaus eine wichtige Voraussetzung für die Aufhebung des sozialen Ausschlusses bislang marginalisierter und asylierter Bevölkerungsgruppen gegeben, die bloße Möglichkeit darf jedoch nicht mit ihrer Realisierung gleichgesetzt werden. Die Fragmentierung beginnt also keineswegs erst in den Institutionen, sie setzt sich dort lediglich fort. Ohne z. B. eine grundlegende Reform des herkömmlichen Schulsystems ist schulischer Ausschluss nicht zu überwinden und auch „Gemeinde“ weist schon längst nicht mehr die integrative Kraft auf, die sie haben sollte und die ihr fälschlicherweise oft nachgesagt wird – wenn sie sie denn je gehabt haben sollte.
1 Ausgangslage: Krise des cartesianischen Naturverständnisses und kritischer Rationalismus
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VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel
Wir haben zu Beginn des vorangegangenen Kapitels mit Bezug auf Horkheimer & Adorno (1969) gezeigt, dass die Aufklärung nach der Entzauberung der Mythen des alten Paradigmas selbst in einen Mythos umgeschlagen ist. Horkheimer & Adorno machen dabei deutlich, „daß die Ursachen des Rückfalls in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenen nationalsozialistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythen zu suchen ist, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst“,
welche u. a. all die nunmehr wissenschaftlich begründeten Dogmen hervorgebracht hat, von denen die vorliegende Untersuchung handelt, mit allen ihren Konsequenzen und ihren Zuspitzungen unter dem NS-Regime. Die folgenden Ausführungen versuchen Perspektiven für eine Überwindung der selbstzerstörerischen Furcht vor der Wahrheit zu entwickeln und damit für die Aufhebung des Widerspruchs zwischen der Aufklärung und ihrer eigenen Selbstzerstörung in einem neuen Paradigma im Verständnis von und im Umgang mit vermeintlichem Anders-Sein zu entwickeln. Damit wird allerdings nicht der Anspruch erhoben, einen solchen Paradigmenwechsel bereits vorzubereiten. Einen solchen Anspruch an eine Einzelarbeit zu stellen, wäre wohl vermessen. Hier können lediglich fragmentarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Aspekte eines solchen Paradigmenwechsels aufgezeigt und beschrieben werden. 1
Ausgangslage: Krise des cartesianischen Naturverständnisses und kritischer Rationalismus
Das cartesianische Paradigma sollte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts das abendländische naturwissenschaftliche Denken beherrschen. Die zeitgenössischen Naturwissenschaften gingen weitgehend davon aus, durch kontinuierlichen Wissenszuwachs allmählich der Wahrheit ihres Gegenstandsbereichs immer näher zu kommen, die Physik als naturwissenschaftliche Leitdisziplin wähnte sich fast am Ende aller möglichen Erkenntnis. Sie erschien den meisten Naturwissenschaftlern weitgehend „fertig“ erforscht zu sein. Die umfassende wissenschaftliche Erkenntnis der Welt und ihrer Gesetze stünde, so waren sie überzeugt, gewissermaßen kurz vor dem Abschluss. Eindrucksvoll zeigt dies das folgende Zitat von Max Planck (1858-1947) aus dem Jahre 1924, in dem er die Zeit 50 Jahre zuvor Revue passieren lässt: „Als ich meine physikalischen Studien begann, und bei meinem ehrwürdigen Lehrer Philipp v. Jolly [1809-1884] wegen der Bedingungen und Aussichten meines Studiums Rat erholte, schil-
E. Rohrmann, Mythen und Realitäten des Anders-Seins, DOI 10.1007/978-3-531-93239-2_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel
derte mir dieser die Physik als eine hochentwickelte, nahezu voll ausgereifte Wissenschaft, die nunmehr, nachdem ihr durch die Entdeckung des Prinzips der Erhaltung der Energie gewissermaßen die Krone aufgesetzt sei, wohl bald ihre endgültige stabile Form angenommen haben würde. Wohl gäbe es in einem oder dem anderen Winkel noch ein Stäubchen oder ein Bläschen zu prüfen und einzuordnen, aber das System als Ganzes stehe ziemlich gesichert da, und die theoretische Physik nähere sich merklich demjenigen Grade der Vollendung, wie ihn etwa die Geometrie schon seit Jahrhunderten besitze“ (Planck 2001: 103).
Es gab allerdings schon damals Kritik an der seinerzeit weitverbreiteten naturwissenschaftlichen „Ansicht von der absoluten Unveränderlichkeit der Natur“. So Friedrich Engels (MEW 20: 314) in seiner zwischen 1873 und 1883 entstandenen, leider Fragment und zu seinen Lebzeiten weitgehend unveröffentlicht gebliebenen und trotzdem genialen „Dialektik der Natur“. „Alle Veränderung, alle Entwicklung in der Natur wurde verneint. Die anfangs so revolutionäre Naturwissenschaft stand plötzlich vor einer durch und durch konservativen Natur, in der alles noch heute so war, wie es von Anfang an gewesen, und in der – bis zum Ende der Welt, oder in Ewigkeit – alles so bleiben sollte, wie es von Anfang an gewesen war“ (a. a. O.: 315).
Die von Engels kritisierte mechanistische und ahistorische Beschränkung der seinerzeitigen Naturwissenschaften führt er unter anderem darauf zurück, dass „die Emanzipation der Naturforschung von der Theologie“ (a. a. O.: 313) nur teilweise gelungen sei und auch nach dem Paradigmenwechsel viele Naturwissenschaftler vom Glauben an einen einmaligen oder auch mehrmaligen Schöpfungsakt gefangen waren. Demgegenüber vertrat Engels die Auffassung, „daß die Natur nicht ist, sondern wird und vergeht“ (a. a. O.: 317; Hervorhebung im Original). „War die Erde etwas Gewordenes, so mußte ihr gegenwärtiger geologischer, geographischer, klimatischer Zustand, mußten ihre Pflanzen und Tiere ebenfalls etwas Gewordenes sein, mußte sie eine Geschichte haben nicht nur im Raum nebeneinander, sondern auch in der Zeit nacheinander. Wäre sofort in dieser Richtung entschlossen fortuntersucht worden, die Naturwissenschaft wäre jetzt bedeutend weiter, als sie ist“ (a. a. O.: 316).
Engels Dialektik der Natur blieb zu seiner Zeit ohne erkennbaren Einfluss auf die Naturwissenschaften. Sie war ihrer Zeit wohl noch zu weit voraus. So unterlag dieses sich abgeschlossen und im Endstadium jeglicher Erkenntnis wähnende – von Isaak Newton in seine letztendliche Form gebrachte – mechanistische und ahistorische naturwissenschaftliche Weltbild um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert durch eine Reihe wissenschaftlicher Entdeckungen, die den bislang für erwiesen gehaltenen mechanistischen Grundannahmen widersprachen, dramatischen Erschütterungen. 1895 entdeckte und beschrieb der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen erstmals die später nach ihm benannten Röntgenstrahlen, 1896 folgte der Pariser Physiker Henry Becquerel mit der Entdeckung der natürlichen Radioaktivität. 1900 veröffentlichte der soeben zitierte Max Planck seine Quantentheorie und schließlich widerlegte in seinen berühmt gewordenen Arbeiten von 1905 und 1916 Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie sogar die bis dahin als gesichert angenommene Konstanz von Raum und Zeit. Diese Entdeckungen hatten erhebliche Auswirkungen auf das damalige Wissenschaftssystem und ihr bis dahin vorherrschendes mechanistisches Paradigma, insbesondere
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auf die Physik als Leitdisziplin. Nachdem sich die Relativität der bisherigen als ein für alle Male gesichert und unumstößlich angenommenen Erkenntnisse in den Naturwissenschaften, sogar in der Physik herausgestellt hatte, machte sich im wissenschaftlichen Bereich ein zunehmender Relativismus breit, der mehr und mehr an die Stelle des zuvor vorherrschenden Dogmatismus trat. Wissenschaftler diskutierten in unterschiedlichen Zirkeln, was denn nun Wissenschaften überhaupt noch für eine Bedeutung bei der Suche nach Erkenntnissen, egal in welchem Bereich, hätten. Der bekannteste dieser Zirkel, der Wiener Kreis, dem namhafte Philosophen und Naturwissenschaftler angehörten, entwickelte etwa das gleich noch zu skizzierende Konzept des logischen Empirismus. In dieser Zeit und vor diesem Hintergrund beschäftigte sich auch z. B. Carl Popper (1902-1994) mit der Frage, was denn eigentlich genau Wissenschaft sei, genauer: wie wissenschaftliche Aussagen und Theorien von nichtwissenschaftlichen zu unterscheiden seien. „Das Problem, das mich zu dieser Zeit [ca. 1920], bewegte, war weder ‚Wann ist eine Theorie wahr?’ noch ‚Wann ist eine Theorie akzeptabel?’ Mein Problem war ein anderes. Ich wollte unterscheiden zwischen Wissenschaft und Pseudo-Wissenschaft; wohl wissend, dass die Wissenschaft oft irrt und dass die Pseudowissenschaft per Zufall die Wahrheit finden kann“ (Popper 2005: 44).
Popper irritierte nämlich, dass so unterschiedliche damals – zum Teil heute noch – sehr populäre, teilweise jedoch einander diametral widersprechende Theorien, z. B. die von Karl Marx, Sigmund Freud oder Alfred Adler, mit denen sich Popper eingehend beschäftigt hatte, einerseits jeweils für sich genommen eine scheinbar hohe Erklärungskraft besitzen, andererseits jedoch im Hinblick auf z. T. identische Fragestellungen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Jede dieser Theorien schien, so Popper, „die Wirkung einer intellektuellen Konversion oder Offenbarung zu haben, die die Augen für neue Wahrheiten öffnete, die denjenigen verborgen blieben, die noch nicht bekehrt waren. Waren die Augen erst einmal geöffnet, dann sah man überall Bestätigungen: die Welt war voller Verifikationen für die Theorie: Was auch geschah, es bestätigte sie immer“ (a. a. O.: 45).
Dieses Phänomen führte Popper darauf zurück, „dass ein Fall immer im Lichte der Theorie überprüft werden konnte“ (a. a. O.: 46). Anders ausgedrückt: Theorien werden – auch wenn die Wissenschaftler, die sie vertreten, den Anspruch erheben, das zu tun – nicht durch Erfahrungen (also empirisch) überprüft, sondern umgekehrt: Erfahrungen werden auf der Basis der jeweiligen Theorie interpretiert und bestätigen auf diese Weise immer wieder die der Interpretation zugrunde liegende Theorie. Daraus glaubte Popper das Kriterium ableiten zu können, welches ihm die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft erlaubt: Nicht die Verifizierbarkeit einer Theorie, sondern deren prinzipielle Widerlegbarkeit.347 Das hat zur methodologischen Konsequenz, dass Popper Induktionen, also logische Schlüsse, bei denen allgemeingültige Sätze aus einer Summe von Einzeltatsachen geschlossen werden, als unwissenschaftlich zurückwies und nur Deduktionen, bei denen umgekehrt von allgemeinen Sätzen oder Theorien auf Einzeltatsachen geschlossen wird, als wissenschaftlich zulässig anerkannte.
347 “One can sum up all this by saiing that the criterion of the science status of a theory is its falsifiability, or refutability, or testability.”
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VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel
Wissenschaftshistorisch lässt sich der kritische Rationalismus als ein wissenschaftliches Erkenntnisprinzip fassen, welches eine Synthese von Empirismus und klassischem Rationalismus darstellt. Der Empirismus geht davon aus, dass nur solche Dinge als wahr angesehen werden können, die durch Sinneseindrücke unmittelbar empirisch überprüfbar und damit verifizierbar sind. Der klassische Rationalismus, der sich unter anderem mit René Descartes verbindet, geht demgegenüber von unmittelbar (a priori) gegebenen, gewissermaßen angeborenen rationalen Kategorien aus, die deswegen für wahr gehalten werden, weil sie im menschlichen Denken, in der Vernunft und eben gerade nicht in den bloßen Sinneseindrücken begründet sind. Sind für Empiristen die Sinneseindrücke die Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnis, so ist das für klassische Rationalisten die Vernunft. Halten – umgekehrt – die klassischen Rationalisten den Empiristen die Fehlbarkeit der Sinneseindrücke z. B. durch Sinnestäuschungen entgegen, so betonen die Empiristen in erster Linie die Fehlbarkeit der Vernunft. Aus diesem Dilemma fand schließlich Karl Popper den vermeintlichen Ausweg. Er gab beiden Seiten in ihrer Kritik der jeweils andere Seite Recht und ging sowohl von der Fehlbarkeit der Vernunft als auch der Sinneseindrücke aus. Zwar behielt er das Prinzip der empirischen Überprüfung von Aussagen bei, ging allerdings mit den klassischen Rationalisten davon aus, dass eine Aussage auf diese Weise nicht verifiziert werden könne. Ebenso könne eine Aussage auch rational, d. h. ohne empirische Basis überprüft werden, nämlich daran, ob sie in sich stimmig und widerspruchsfrei ist. Aber auch auf diese Weise lässt sich nach Popper eine Aussage nicht verifizieren. Aus der Fehlbarkeit sowohl der Empirie als auch der Vernunft folgt die prinzipielle Fehlbarkeit jeder wissenschaftlichen Erkenntnis. Nun stellt sich die Frage, wie es möglich ist, zu wissenschaftlichen Aussagen und Erkenntnissen zu gelangen, wenn Aussagen prinzipiell nicht verifizierbar sind. Popper setzte an die Stelle der bis dahin allgemein üblichen wissenschaftlichen Strategie der Verifikation diejenige der Falsifikation, d. h., eine Aussage gilt solange als vorläufig richtig, wie sie nicht durch logische oder empirische Überprüfung widerlegt, d. h. falsifiziert ist. Die Aussage muss also so lange kritisch überprüft werden, bis sie durch Falsifikation widerlegt ist und durch eine andere ersetzt oder weiterentwickelt werden muss. Damit sind wir zum zweiten Grundprinzip des kritischen Rationalismus gelangt, dem Kritizismus. „Die Methode der Wissenschaft ist also die des tentativen [= tastenden, suchenden] Lösungsversuchs (oder Einfalls), der von schärfster Kritik kontrolliert wird. Er ist eine kritische Fortbildung der Methode des Versuchs und Irrtums (‚trial and error’)“ (Popper 1972: 106).
Durch ständiges kritisches Überprüfen von wissenschaftlichen Aussagen, so Poppers Auffassung, wird es zwar nie eine ein für alle Male gültige Gewissheit geben, wohl aber einen sich permanent weiterentwickelnden Erkenntnisfortschritt und zwar insofern, als nach und nach die Mängel bisheriger Erkenntnisse durch fortschreitende Kritik behoben werden. In diesem Sinne hat Popper sein Programm auch charakterisiert als „darwinistische Theorie des Erkenntnisfortschritts“ (Popper 1974: 289). Ein drittes Grundprinzip des kritischen Rationalismus ist das des kritischen Realismus. Danach ist davon auszugehen, dass eine Aussage unabhängig von dem Erkenntnissubjekt „genau dann wahr (ist), wenn sie den Tatsachen entspricht“ (a. a. O.: 59). Dieser Satz klingt auf den ersten Blick tautologisch, er ist es jedoch nicht, wenn man an das Fallibilitätsprinzip denkt. Mit diesem Satz bringt Popper zum Ausdruck, dass es für ihn eine absolute Wahrheit durchaus gibt. Wir können jedoch niemals wissen, ob wir sie tatsächlich erfasst haben. „Die Idee der Wahrheit ist (…)
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absolut, aber es kann keine absolute Gewißheit geben. Wir suchen nach der Wahrheit, aber wir besitzen sie nicht“ (a. a. O.: 60)348. Der kritische Rationalismus ist wissenschaftshistorisch als Alternative zum überkommenen wissenschaftlichen Dogmatismus und dem sich seinerzeit breit machenden Relativismus durchaus zu würdigen. Es gelang ihm, einen Ausweg aus der Krise namentlich der Naturwissenschaften zu finden, ohne dabei allerdings deren ahistorische und mechanistische Beschränkungen zu überwinden. Gerade für die sich naturwissenschaftlich verstehende Psychologie und auch für die Sozialwissenschaften hat er deswegen bis heute eine hohe Attraktivität. Wenn sein seinerzeitiger Widerhall im Bereich der sich soeben als medizinische Disziplin etablierenden Psychiatrie und auch in den biologischen Wissenschaften sich eher in Grenzen hielt, so hatte das vor allem damit zu tun, dass diese Wissenschaften von der beschriebenen Krise weitaus weniger betroffen waren als vor allem die Physik. Sie waren in ihrer Entwicklung überhaupt noch nicht so weit vorangeschritten wie die Physik. Die Biologie musste spätestens mit der Durchsetzung der Evolutionstheorie ihre ahistorischen Beschränkungen überwinden, um sie dann im Zuge der Biologisierung sozialer Probleme als angeborene, ererbte und irreversible Merkmale der Betroffenen wieder einzuführen. Und im Gegensatz zur Physik, die sich gewissermaßen am Ende ihrer Entwicklung angekommen sah, stand wiederum die Psychiatrie um die Wende zum 20. Jahrhundert in ihrem Bemühen um Anerkennung als medizinische Disziplin noch ganz am Anfang. Sie hatte zumindest damals und hat zum Teil noch heute andere Probleme, als sie der kritische Rationalismus zu lösen versprach. Bemerkenswerterweise kritisieren in zunehmendem Maße auch immer mehr Naturwissenschaftler die ahistorische Gegenstandsverfehlung ihrer eigenen Disziplinen. „Das Bild der Natur hat sich grundlegend geändert – hin zum Mannigfaltigen, zum Zeitbedingten, zum Komplexen“ (Prigogine & Stengers 1980: 10), schrieben 1980 der ChemieNobelpreisträger von 1977 Prigogine und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Isabelle Stengers. Einen „Paradigmenwechsel von einer mechanistischen zu einer ökologischen Weltsicht“ nicht nur der Naturwissenschaften mahnt der Physiker Capra (1996: 10) an. Und die Biologen Maturana & Varela (1987: 31) betonen die „Zirkularität, diese Verkettung von Handlung und Erfahrung, diese Untrennbarkeit einer bestimmten Art zu sein von der Art, wie die Welt uns erscheint“, die sie wie folgt auf den Punkt bringen: „Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.“ Diese Einsichten gilt es auch für das Verständnis von und den Umgang mit Menschen, die uns anders erscheinen, umzusetzen.
348 Eine derartige Auffassung hatte Engels (MEW 20: 507 f.) übrigens schon vor Popper deutlich kritisiert: „Die Anzahl und der Wechsel der sich verdrängenden Hypothesen – bei mangelnder logischer und dialektischer Vorbildung der Naturforscher – bringt dann leicht die Vorstellung hervor, daß wir das Wesen der Dinge nicht erkennen können (…). Dieser Ausspruch, daß wir das Ding an sich nicht erkennen können (…), tritt 1. aus der Wissenschaft hinaus in die Phantasie. Er fügt 2. unserer wissenschaftlichen Kenntnis kein Wort hinzu, denn wenn wir uns nicht mit den Dingen beschäftigen können, so existieren sie für uns nicht. Und 3. ist er reine Phrase und wird nie angewandt. Abstrakt genommen klingt er ganz verständig. Aber man wende ihn an. Was denken wir von dem Zoologen, der sagte: ‚Ein Hund scheint 4 Beine zu haben, wir wissen aber nicht, ob er in Wirklichkeit 4 Millionen Beine hat oder gar keine’? (…) Die Naturforscher hüten sich wohl, die Phrase vom Ding an sich in der Naturwissenschaft anzuwenden, bloß im Hinausgehn in die Philosophie erlauben sie sich das.“ Engels macht darauf aufmerksam, dass auch Naturwissenschaften nicht zeit- und voraussetzungslos sind, sondern stets unter bestimmten kulturhistorischen Bedingungen betrieben werden: „Historisch gefaßt hätte die Sache einen gewissen Sinn: Wir können nur unter den Bedingungen unsrer Epoche erkennen und soweit diese reichen“ (a. a. O.: 508).
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VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel
Beispiele und Perspektiven theoretischer Dekonstruktion des Anders-Seins
2.1 Entontologisierung und (Re-)Historisierung: Vom Sein zum Werden Wir hatten in den Ausführungen über erkenntnistheoretische Kontinuitäten, die den Paradigmenwechsel überstanden haben, in Anlehnung an Marx (1894), Berger & Luckmann (2004) und Capra (1996) herausgestellt, dass insbesondere die verdinglichende Fragmentierung der Menschen durch die Menschen ein zentraler erkenntnistheoretischer Mechanismus jeglicher sozialer Konstruktionen von Anders-Sein ist. „Verdinglichung impliziert, daß der Mensch fähig ist, seine eigene Urheberschaft der humanen Welt zu vergessen, und weiter, daß die Dialektik zwischen dem menschlichen Produzenten und seinen Produkten für das Bewusstsein verloren ist“ (Berger & Luckmann 2004: 95).
So erscheinen dann von Menschen geschaffene Konstrukte als unabhängig von den Konstrukteuren existierende vermeintlich objektive Zusammenhänge. Dementsprechend ist eine zentrale Voraussetzung für die De-Konstruktion des Anders-Seins die Wiedergewinnung des Bewusstseins dafür, dass vermeintliche Eigenschaften des Anders-Seins – wie die Hexeneigenschaft, Torheit, Besessenheit, Behinderungen, psychische Krankheiten oder Verhaltensstörungen – und daraus folgende soziale sowie daraus abgeleitete institutionelle Fragmentierungen der Menschheit nicht Ausdruck göttlichen Wirkens oder der Natur der Betroffenen sind, sondern von Menschen geschaffene Produkte, eben soziale Konstruktionen, die grundsätzlich in ihrer Entstehungsgeschichte rekonstruierbar und mittels dieser Einsicht, wie dies die vorliegende Untersuchung versucht, auch wieder dekonstruierbar, das heißt, überwindbar sind. Dies gilt nicht nur für die Ebene der gesellschaftlichen Konstruktion, sondern ebenso für die Ebene des Individuums. Hier ist die Grundlage für die Dekonstruktion des AndersSeins die Rekonstruktion der individuellen Lebensgeschichte. Dabei gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass Menschen als gesellschaftliche Wesen immer zugleich Objekte und Subjekte der gesellschaftlichen und natürlichen Verhältnisse sind, unter denen sie leben, d. h., sie stehen unter gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihnen einerseits äußerlich sind, andererseits jedoch von ihnen im Rahmen der konkret gegebenen, erweiterbaren sowie einschränkbaren Handlungsmöglichkeiten geschaffen, angeeignet, reproduziert und weiterentwickelt werden. Zu überwinden ist dabei der verbreitete biologistische Reduktionismus, der menschliche Entwicklung weitgehend als Prozess des biologischen Reifens versteht, von den Bedingungen der sozialen Umwelt zwar nicht vollends absieht, ihnen jedoch in der Regel lediglich eine Bedeutung zumisst, welche der Erde entspricht, in der ein Samenkorn heranwächst, sich zur Pflanze entwickelt und dabei ausschließlich Anlagen und Eigenschaften entfaltet, die durchweg bereits im Samenkorn angelegt sind. Demgegenüber wird menschliche Entwicklung hier verstanden als über Tätigkeit vermittelter Prozess lebenslang und in dialektischen Sprüngen fortschreitender Aneignung des gesellschaftlichen Erbes. Dabei steht das je erreichte Niveau der psychischen Widerspiegelung für die von Wygotski so bezeichnete „Zone der aktuellen Entwicklung“. Es bleibt stets hinter dem Niveau der Tätigkeitsstruktur zurück, welche die Zone der nächsten Entwicklung repräsentiert.
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„Eine Übereinstimmung gibt es nur im Moment des Überganges von einer Entwicklungsstufe zur anderen. In diesem Augenblick, in dem eine neue Form der Widerspiegelung entsteht, eröffnen sich der Tätigkeit neue Möglichkeiten und verhelfen ihr so zu einer höheren Struktur. Damit ergibt sich zwischen Tätigkeit und Widerspiegelung ein neuer Widerspruch, diesmal jedoch auf einem höheren Niveau“ (Leontjew 1980: 191).
Schon Wygotski hat 1934 darauf hingewiesen, „daß Lernen und Entwicklung nicht unmittelbar zusammenfallen, sondern zwei Prozesse darstellen, die in komplizierten Wechselbeziehungen stehen“ (a. a. O.: 242), und „Lernen nur dann fruchtbar ist, wenn es innerhalb einer gewissen, durch die Zone der nächsten Entwicklung bestimmten Periode erfolgt“ (a. a. O.: 243). Die biologische Voraussetzung für den individuellen Aneignungsprozess, die insofern überhaupt nicht bestritten wird, sowie für die diesen Prozess begleitende fortschreitende Entwicklung geistiger Funktionen und intellektueller Fähigkeiten liegt in dem Vermögen zum Aufbau sogenannter funktionaler Kortikalsysteme (Kortex = Hirnrinde) durch neuronale Verschaltungen. Solche Systeme und die sie repräsentierenden Verschaltungen sind vor dem vermutlich schon vor der Geburt liegenden Beginn des Aneignungsprozesses noch nicht vorhanden. Vorhanden ist lediglich die Fähigkeit, sie im Zuge dieses Prozesses auszubilden. Das menschliche „Gehirn ist zum Zeitpunkt der Geburt noch sehr unfertig. Nur die zum Überleben unbedingt erforderlichen Verschaltungen und Netzwerke in den [phylogenetisch] älteren Regionen sind zum Zeitpunkt der Geburt bereits gut ausgebildet. (…) Alles andere – und das ist so gut wie alles, auf das es im späteren Leben ankommt – muss erst noch hinzugelernt werden und als neue Erfahrung im Gehirn abgespeichert werden. Das Großhirn, genauer die Großhirnrinde ist derjenige Hirnbereich, in den dieses neue Wissen in Form bestimmter Beziehungsmuster zwischen den Nervenzellen verankert wird. Es verdreifacht sein Volumen im ersten Lebensjahr und dehnt sich auch später noch erheblich aus, aber nicht deshalb, weil dort noch weitere Zellen gebildet werden, sondern weil diese zum Zeitpunkt der Geburt bereits vorhandenen Nervenzellen ein dichtes Gestrüpp von Fortsätzen ausbilden und sich mit den Enden dieser Fortsätze auf vielfältige Weise miteinander verbinden. Dieser durch genetische Programme gesteuerte Prozess führt dazu, dass in den einzelnen Bereichen der Großhirnrinde ein riesiges Überangebot an Nervenzellverbindungen und -kontakten entsteht. Weil das kindliche Gehirn (oder das genetische Programm, das es steuert) nicht ‚wissen kann’, worauf es im späteren Leben einmal ankommt und welche Verbindungen wirklich gebraucht werden, wird also zunächst einmal ein riesiger Überschuss an Verschaltungen bereitgestellt. Stabilisiert und erhalten bleiben davon aber nur diejenigen, die auch wirklich benutzt und gebraucht werden. Der Rest wird einfach wieder abgebaut.“
So der Neurobiologe Gerald Hüther (2006: 73 f.). Die Architektur des menschlichen Gehirns entwickelt sich also nicht aufgrund eines angeborenen genetischen Programms, sondern in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Lebenswelt und deren fortschreitender Aneignung durch die dabei gemachten Erfahrungen. Der Aneignungsprozess findet jedoch nicht quasi automatisch statt. Es müssen vielmehr bestimmte Bedingungen gegeben sein, damit er gattungsadäquat verläuft. Eine solche Bedingung für die Entwicklung des Menschen im Säuglingsalter ist z. B. das Vorhandensein einer Bezugsperson, die die Tätigkeit des Säuglings entsprechend der Zone seiner nächsten Entwicklung strukturiert. Sind diese Bedingungen nicht auf einem bestimmten Mindestniveau erfüllt, so unterbleibt zwar der Aneignungsprozess nicht, er verläuft jedoch inadäquat. Die etwa von Spitz (1967) beschriebenen Aneignungsresultate von Säuglingen, die ohne Bezugsperson aufgewachsen
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VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel
sind, zeigen das in bedrückender Deutlichkeit. Diese Kinder haben sich angeeignet, was sie sich unter den gegebenen Bedingungen auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau haben aneignen können. Da sie dabei zumeist nur auf sich selbst und ihren eigenen Körper verwiesen waren, musste sich ihre Aneignung folglich auch darauf beschränken. Aneignungstheoretisch lassen sich die bei diesen Kindern zu beobachtenden Verhaltensweisen wie Stereotypien, auf höherem Entwicklungsniveau auch selbstverletzendes Verhalten, die im pädagogischen Alltag oft ratlos machen, sinnlos erscheinen, als höchst sinnvolle Tätigkeiten (Jantzen & v. Salzen 1990) verstehen. Deren Sinn erschließt sich allerdings nicht aus unserem Sinnkontext, den wir häufig, aber fälschlicherweise zu einem allgemeingültigen Sinn an sich zu verallgemeinern geneigt sind, sondern aus dem von dem Kind in seiner individuellen Entwicklung geschaffenen Sinn für sich. Dieses Auseinanderbrechen der Aneignungsmöglichkeiten des Individuums und der konkreten Aneignungsrealitäten hat Jantzen als grundlegende Kategorie der Behindertenpädagogik auf den Begriff der Isolation gebracht. Prinzipiell lassen sich so aber auch Phänomene, die z. B. als psychische Krankheiten oder als Verhaltensstörungen in Erscheinung treten, verstehen.349 Ein einfaches Beispiel: Ein Mädchen, das mit Beginn der Pubertät im Alter von 12 Jahren in eine Pflegefamilie kam, schockierte die Pflegeeltern während einer der ersten Auseinandersetzungen damit, dass es plötzlich begann zu hyperventilieren und dabei in einen tranceähnlichen Zustand geriet. Der Zustand hielt einige, für die Pflegeeltern lange Minuten an. Als die 12-Jährige sich wieder beruhigt hatte, erzählte sie ihren bestürzten Pflegeeltern, dass dies bei ihr häufiger vorkomme, aber nicht weiter schlimm sei, man müsse ihr nur eine Plastiktüte vor den Mund halten, dann würde sie sich schnell wieder beruhigen. So geschah es dann auch und nach einigen Malen verschwand dieses Verhalten völlig. Als es dann eines Tages in der Schule noch einmal auftrat und der aufsichtführende Lehrer von den Hintergründen nichts wusste und in seiner Ratlosigkeit einen Krankenwagen verständigte, wurde das Mädchen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie überstellt, wo sie der Pflegevater allerdings nach wenigen Stunden wieder abholen konnte. Warum machte dieses Mädchen das? Auf diese Frage gibt es unterschiedliche Antworten. Die ICD-10 klassifiziert dieses Phänomen unter der Schlüssel-Nr. F45.3 als somatoforme autonome Funktionsstörung. Verhaltenstheoretisch wird man dies als erlerntes Fehlverhalten erklären. Auch dieses Verhalten lässt sich aneignungstheoretisch als höchst sinnvolle Tätigkeit verstehen, deren Sinn sich auch hier nur aus dem von den Betroffenen unter gegebenen oder auch nicht gegebenen Bedingungen angeeigneten Sinn für sich erschließt. Dieser Sinn lässt sich allerdings nicht auf der bloßen Erscheinungsebene diagnostizieren, auch nicht durch noch so ausgeklügelte aktualempirische Testverfahren. Er lässt sich nur durch die 349 Isolation ist dabei keineswegs nur auf das Säuglings- und Kleinkindalter beschränkt, sondern kann in allen Lebensphasen eines Individuums vorkommen und jeweils zu Aneignungsresultaten führen, die auf der Erscheinungsebene als pathologisch, deviant oder Ausdruck einer Behinderung wahrgenommen werden. „Isolation trennt das Individuum als je konkret historisches von der umfassenden Aneignung des gesellschaftlichen Erbes, von der umfassenden Realisierung seines menschlichen Wesens als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Jantzen 1978: 159). Quellen so verstandener Isolation können unterschiedlich sein. Äußere Quellen können, neben dem im Beispiel genannten Fehlen einer Bezugsperson, das Aufwachsen unter ungünstigen sozialen Bedingungen sein, innere Quellen können Schädigungen des sensorischen oder motorischen Apparates oder des Zentralnervensystems sein. Dabei ist zu betonen, dass das Vorhandensein solcher Quellen der Isolation keineswegs zwangsläufig zu Isolation führen muss, sondern nur dann und insofern sie sich im Zusammenhang der gesamten Aneignungsrealität restriktiv auf den individuellen Aneignungsprozess auswirken.
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gemeinsame Rekonstruktion der Lebensgeschichte der Betroffenen zusammen mit ihnen entschlüsseln, wie dies etwa Wolfgang Jantzen (2003) mit seinem Konzept der „rehistorisierenden Diagnostik“ (Jantzen & Lanwer-Koppelin 1996) eindrucksvoll in der Praxis gezeigt hat. Dieses Konzept versucht Verhaltensweisen, die uns im Lichte unseres eigenen Sinns unsinnig erscheinen, nicht nur bloß zu erklären, sondern auch und vor allem subjektlogisch aus der Lebensgeschichte der Betroffenen heraus zu verstehen. Das Mädchen in unserem Beispiel lebte vor seinem Wechsel in die Pflegefamilie zusammen mit einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder bei seiner Mutter und deren Lebensgefährten. Die Kinder wurden seit ihrer Geburt äußerst autoritär erzogen und bei kleinsten Anlässen hart bestraft. Mit zunehmendem Alter wurden die Bestrafungsmethoden immer brutaler. Gegen die Mutter wurde später, nach Inpflegenahme der Kinder, wegen Kindesmisshandlung ermittelt. Zwar gelang es nicht mehr, gemeinsam mit besagtem Mädchen zu rekonstruieren, wann es zum ersten Mal in dieser Weise hyperventiliert hat, daran konnte es sich nicht mehr erinnern. Jedoch wurde schnell deutlich, dass dieses Verhalten immer dann auftrat, wenn eine Situation, z. B. während einer Misshandlung durch die Mutter oder ihren Lebensgefährten, ausweglos erschien. Sobald das Kind hyperventilierte, verließ es gewissermaßen die Situation, trat aus ihr heraus. Auch wenn man dann auf es einschlug oder es anschrie, bekam es kaum noch etwas mit. Zudem hörten die Misshandlungen dann auch meist auf, sie schlugen sogar manchmal in Zuwendungen um, d. h. in solche Verhaltensweisen, die geeignet waren, den Anfall zu beenden. Nicht immer lässt sich der Sinn solchen für uns auf den ersten Blick sinnlosen Verhaltens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen so relativ leicht erschließen wie in diesem Fall. Wir sind jedoch alle gut beraten, grundsätzlich zunächst einmal davon auszugehen, dass jedes Verhalten subjektlogisch sinnvoll ist, und zu versuchen, gemeinsam mit den Betroffenen den Sinn zu rekonstruieren, den dieses Verhalten für sie hat, um auf dieser Grundlage adäquate Verhaltensalternativen zu entwickeln, statt, wie es nicht selten geschieht, solche Verhaltensweisen, die wir nicht verstehen können oder wollen, kurzerhand zu pathologisieren und durch entsprechende Maßnahmen zu unterdrücken. Wie folgenschwer derartige professionelle Verständnislosigkeit sein kann, offenbart das schon in den Ausführungen über die Validität psychiatrischer Diagnosen angesprochene und in mehreren Autobiografien dokumentierte Schicksal von Vera Stein. Sie litt in ihrer Kindheit sehr unter dem autoritären Erziehungsstil ihrer Eltern und lehnte sich dagegen auf, wurde geschlagen und hatte Ängste. Ihre Eltern jedoch verstanden sie nicht, konsultierten eine Psychologin und schilderten ihr die Probleme mit ihrer pubertierenden Tochter. Die Psychologin verstand das Kind ebenfalls nicht. „Nach einigen Test überwies sie uns mit dem Verdacht auf Hebephrenie in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie“ (Stein 2000: 10). Vera Stein war verzweifelt. „Ich hatte in der Psychologin den letzten Halt erhofft, doch sie schickte mich kurzerhand weg. (…) Nun war ich wieder allein, allein mit meinem Problemberg und den eingeredeten Ängsten vom Vater. Alles wurde schlimmer, da nutzten selbst meine Phantasietiere nichts mehr. Schließlich ritzte ich mir mit einer Büroklammer Schrammen in Handrücken und Arme, nie tief und nie gefährlich, auch nie die Pulsadern“ (ebd.).
Das konnten die Eltern erst recht nicht verstehen und der Professor in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in die Vera Stein von der Psychologin überwiesen wurde, verstand es auch nicht. Für ihn war das Verhalten der 14-Jährigen Ausdruck einer schweren psychischen
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Krankheit. So stellte er die folgenschwere Diagnose Schizophrenie und verfügte die Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. In der Tat: Auf den ersten Blick erscheint dieses Verhalten für Außenstehende unverständlich, verrückt, sinnlos, doch für Vera Stein hatte ihr scheinbar so sinnloses Verhalten durchaus einen Sinn: „Der Schmerz half die großen Ängste durchzustehen. Ich spürte mich wieder“ (Stein 2000: 10). Vera Stein hätte in dieser Situation dringend Verständnis für ihre Lage und Hilfe gebraucht, um ihre Ängste durchzustehen und sich zu spüren, ohne sich selbst verletzen zu müssen. Doch statt Verständnis bekam sie eine Diagnose und damit eine für Arzt und Eltern scheinbar plausible Erklärung für ihr unverstandenes Verhalten. Statt Hilfe zu erlangen, wurde sie eingesperrt und gegen ihren Willen psychiatrisch behandelt.350 Schon Franco Basaglia übrigens, der Begründer der Demokratischen Psychiatrie in Italien, setzte anstelle der ahistorischen etikettierenden und stigmatisierenden Diagnostik der traditionellen Psychiatrie auf lebensgeschichtliche Methoden des Verstehens, „um nach und nach die Gestalt des Kranken so rekonstruieren zu können, wie sie gewesen sein musste, bevor die Gesellschaft mit ihren zahlreichen Schritten der Ausschließung und der von ihr erfundenen Anstalt und ihrer negativen Gewalt auf ihn einwirkte“ (Basaglia 1974: 15).
Immer wieder wird die Hinwendung der humanwissenschaftlichen Disziplinen zu den naturwissenschaftlichen Methoden, ihre Orientierung am naturwissenschaftlichen Exaktheitsideal und die Eliminierung subjektiver Faktoren als Störvariablen aus dem Forschungsprozess mit dem Anspruch begründet, Wissenschaft habe wertfrei und objektiv zu sein. Habermas (1968) hat jedoch gezeigt, und auch die Ausführungen dieser Untersuchung bestätigen, dass dies eine Fiktion, Wissenschaft und Forschung immer von Interessen geleitet ist. Erkenntnis wird stets von den dahinter stehenden Erkenntnisinteressen bestimmt. Diese Interessen können durch die Forderung nach Objektivität keineswegs aus dem Forschungsprozess herausgehalten, sondern nur verschleiert oder aber offengelegt werden. Klaus Holzkamps (1983: 522 ff.) Kritik an den „kontrollwissenschaftlichen“ Ansätzen der her350 Weil diese Behandlung gegen ihren Willen auch noch fortgesetzt wurde, als sie schon volljährig war, hat ihr der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 16. Juni 2005 einen Schadensersatzanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland zuerkannt. Das Gericht gelangte zu der Einschätzung „dass die B[eschwerde]f[ührerin] ohne Rechtsgrundlage in der Klinik untergebracht und dort in einem recht jugendlichen Alter mehr als zwanzig Monate lang behandelt wurde. Die Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit der Bf. durch ihre zwangsweise medizinische Behandlung waren besonders schwerwiegend. Sie hatten eine schwere irreversible Gesundheitsschädigung verursacht und ihr sogar die Möglichkeit genommen, ein selbstbestimmtes Berufs- und Privatleben zu führen“ (EGMR 2005: 196).Vor Erreichen der Volljährigkeit erfolgten Unterbringung und Behandlung zwar auch gegen ihren Willen, doch da war ihr Wille unmaßgeblich. Kinder und Jugendliche sind in Deutschland nämlich bis zur Vollendung ihres 18. Lebensjahres ebenso entrechtet, wie es Entmündigte bis zur Überwindung des aus dem obrigkeitsstaatlichen Kaiserreichs stammenden Vormundschaftsrechts von 1871 durch das Betreuungsgesetz waren. Die Intention des Betreuungsrechts, überkommene Entrechtung sowie Bevormundung durch Vormünder zu ersetzen durch Rechtsnormen zum Schutz und zur Unterstützung der Betroffenen, hat im Kindschaftsrecht bis heute leider keine Entsprechung gefunden. Noch heute treten bei Kindern, deren Eltern das Personensorgerecht entzogen worden ist, explizit Vormünder und nicht Betreuer an die Stelle der bisherigen Inhabenden des Sorgerechts. (Hier ist nicht zu vertiefen, dass auch nach der Betreuungsrechtsreform viele Betreuungsverhältnisse faktisch bevormundenden Entmündigungen gleichkommen; hierzu ausführlich: Rohrmann 2004). Die zwangsweise Unterbringung und irreversibel schädigenden psychiatrischen „Behandlungen“ von Vera Stein erfolgten jedenfalls bis zu deren Volljährigkeit mit Einverständnis der Eltern als Inhabende des Personensorgerechts. Auf den Willen der Betroffenen kam es bis dahin nach bis heute geltender, auch von der EU-Menschenrechtskonvention respektierter Rechtslage nicht an.
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kömmlichen Psychologie, der es vor allem darum geht, herauszufinden, wie Menschen durch die Schaffung von dafür geeigneten Bedingungen kontrollierbar sind, lässt sich durchaus auf andere humanwissenschaftliche Disziplinen ausweiten. Aus der Sicht solcher Menschen, die als anders oder abweichend wahrgenommen und behandelt werden, steht diesem kontrollwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse hingegen das genau entgegengesetzte Interesse der Betroffenen daran gegenüber, herauszufinden, wie sie die Kontrolle über ihre Lebensbedingungen erlangen oder wiedererlangen und (wieder) zu Subjekten ihrer eigenen Biografie werden können. 2.2 Defragmentierungen und Diversifikation: „Es ist normal, verschieden zu sein“ (Richard von Weizsäcker 1993) Statt die Menschheit klassifikatorisch zu fragmentieren, zu partikularisieren und sodann zu verschiedenen Gruppen zu homogenisieren, statt also solcherart „die Vielfalt der Menschen (…) der Einfalt der Typen“ (Kattmann 1999: 68) zu opfern, setzt die Dekonstruktion von Anders-Sein die Anerkennung und Bewahrung dieser Vielfalt und damit den weitestgehenden Verzicht auf ontologisierende und insbesondere abwertende und herabsetzende Klassifizierungen voraus. Als ein Beispiel in diesem Sinne fortschreitender, wenngleich keineswegs abgeschlossener Dekonstruktion von Anders-Sein kann die Entwicklung des Behinderungsverständnisses der WHO gelten. Diese entwickelte 1980 eine International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH), welche die bis dahin allgemein übliche unmittelbare Reduzierung von Behinderungen auf tatsächlich oder vermeintlich zugrunde liegende Schädigungen überwand und differenzierte zwischen
Impairment (Schädigung) auf der biologischen, Disability (Leistungsminderung) auf der individuellen und Handicap (Behinderung) auf der sozialen Ebene.
Allerdings wurde Behinderung immer noch weitgehend kausal auf Schädigung bzw. Leistungsminderung zurückgeführt. In den 1960er Jahren schlossen sich in zahlreichen Ländern Behinderte zusammen, die erkannt hatten, dass ihre Einschränkungen nicht primär Folge ihrer Schädigungen, sondern behindernder gesellschaftlicher Bedingungen sind. Nach dem Vorbild der Bürgerrechtsbewegung der wegen ihrer Hautfarbe Diskriminierten und der Studierendenbewegung kämpften sie für Gleichstellung, soziale Teilhabe und gegen paternalistische Entmündigungen und pädagogische Sonderbehandlung durch Experten der unterschiedlichsten Disziplinen und Professionen. In den USA entstand die Independend-Living-Bewegung, die sich schnell international ausweitete. Auch in Deutschland entstanden in zahlreichen Städten Behinderteninitiativen, die, bei unterschiedlicher inhaltlicher und programmatischer Ausrichtung, gegen die Aussonderung Behinderter aus regulären Lebens-, Lern-, Wohn- und Arbeitszusammenhängen kämpften. Neben und zunehmend an die Stelle regelverletzender Protestaktionen traten mehr und mehr konstruktive Politikformen, z. B. die Schaffung von Alternativen zu den Einrichtungen des überkommenen Behindertenhilfesystems. Auch die Beteiligung an der behindertenpolitischen Debatte erfolgte zunehmend unter Einhaltung der herrschenden parlamentarischen Spielregeln. Aus einer außerparlamentarischen Opposition gegen die überkommene
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Behindertenpolitik wurde eine parlamentarische Opposition, für die sich in Deutschland die Partei der Grünen zunehmend als geeignete organisatorische Basis erwies, nachdem diese dauerhaft in immer mehr Landtage und 1983 auch in den Deutschen Bundestag einziehen konnte. Zu ähnlichen Entwicklungen kam es auch in anderen Ländern. Auch international gelang es vielen Aktivisten der Behindertenbewegung, an wichtigen Stellen Einfluss auf die behindertenpolitische Diskussion zu nehmen. 1980 kam es zum Zusammenschluss eines weltweiten Netzwerks ‚Disabled Peoples’ International’ (DPI), welches mittlerweile als NGO mit konsultativem Status von den Vereinten Nationen anerkannt ist und seither auch innerhalb der WHO die behindertenpolitische Debatte mitbestimmt. Nicht zuletzt aufgrund des maßgeblichen Einflusses von DPI351 wurde 1999 die ICIDH durch die International Classification of Impairments, Activities and Participation (ICIDH-2) abgelöst, welche 2001 Eingang fand in die bis heute gültige International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Hier wird die Defizitorientierung der ICIDH zwar nicht völlig überwunden, doch überwiegt eine vor allem an Ressourcen und sozialen Bedingungen orientierte Betrachtungsweise,352 die zwischen Impairment, Activity und Participation unterscheidet und das Augenmerk insbesondere auf die persönlichen Fähigkeiten und die soziale Teilhabe eines Menschen richtet. Außerdem werden bis dahin unberücksichtigt gebliebene Kontextfaktoren als Aktivitäten und Teilhabe beeinträchtigende Faktoren explizit und mit hohem Stellenwert in diese Klassifikation mit einbezogen. Ausdrücklich wird betont, „dass die ICF keine Klassifikation von Menschen ist. Sie ist eine Klassifikation der Gesundheitscharakteristiken von Menschen im Kontext ihrer individuellen Lebenssituation und den Einflüssen der Umwelt. Die Interaktion zwischen Gesundheitscharakteristiken und Kontextfaktoren resultiert in Behinderungen. Deshalb dürfen Personen nicht auf ihre Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität oder Beeinträchtigungen der Partizipation (…) reduziert oder nur mittels dieser beschrieben werden. Zum Beispiel verwendet die Klassifikation statt ‚geistig behinderte Person’ die Umschreibung ‚Person mit einem Problem im Lernen’“ (WHO 2005: 171),
ohne dass damit bereits a priori unterstellt wird, dass diese Probleme Ausdruck eines womöglich unabänderlichen Wesensmerkmals der Betroffenen sind. Sie können ebenso in den Lebens- und Lernbedingungen begründet sein. Damit allerdings steht die ICF im diametralen Widerspruch zu einer anderen internationalen Klassifikation der WHO, der International Classification of Deseases (ICD 10), die, wie gezeigt, z. B. Oligophrenie bzw. heute Intelligenzminderung nach wie vor, heute unter den Schlüsselnummern F70 bis F78 nach dem Kraepelin’schen Vorbild als ontologische Kategorie qualifiziert und mittels der beschriebenen Testverfahren sogar quantifiziert (vgl. unsere Ausführungen zur Konstruktion und Messung von Intelligenz). Einen weiteren Schritt zur Dekonstruktion von Anders-Sein gehen seit einigen Jahren verschiedene interdisziplinäre Forschungsansätze, die sich auch in Deutschland unter der Überschrift „Diversity Studies“ vernetzen. In dem Diversity-Konzept wird der Tatsache 351 Ausdrücklich wird in der ICF anerkannt: „Von Anfang an hat der Revisionsprozess der ICF vom Beitrag seitens Menschen mit Behinderungen und Organisationen von Menschen mit Behinderungen profitiert. Vor allem Disabled Peoples’ International hat ihre Zeit und Energie für den Prozess der Revision zur Verfügung gestellt, und die ICF spiegelt heute diesen wichtigen Beitrag wider (WHO 2005: 171). 352 Es wird davon ausgegangen, „dass Behinderung ebenso eine Folge von Barrieren in der Umwelt als von Krankheiten oder Schädigungen ist“ (a. a. O.: 172).
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Rechnung getragen, dass kein Mensch „nur“ ein bestimmtes Geschlecht verkörpert, „nur“ behindert etc. ist, sondern z. B. als Person mit einem Problem im Lernen oder als Person, die zur Fortbewegung auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist, immer auch eine Hautfarbe, eine religiöse und sexuelle Orientierung, ein Geschlecht und eine nicht immer damit übereinstimmende Geschlechtsidentität hat und im In- oder Ausland von einheimischen oder zugewanderten Eltern geboren sein kann. Allerdings sei auch auf die Risiken eines vor allem auf ökonomisches Kalkül gerichteten Umgangs mit Diversity hingewiesen, denn „in Mode gekommen – allerdings zugleich auch ins Gerede – ist Diversity (…) erst durch Diversity Management“ (Krell u. a. 2007: 9).
Diversity Management bezeichnet eine Strategie betrieblicher Unternehmens- und Personalführung, die darauf ausgerichtet ist, durch produktive Nutzung der Verschiedenheit heterogener betrieblicher Belegschaften deren spezifische Hintergründe und Kompetenzen optimal zu nutzen und zugleich die Akzeptanz der Beschäftigten in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit zu erhöhen, um durch Vermeidung von auf Vorurteilen und Ressentiments beruhenden Reibungsverlusten in betrieblichen Abläufen einerseits und durch Nutzung von Synergieeffekten andererseits die ökonomische Effizienz von Unternehmen zu steigern. So soll z. B. verhindert werden, dass leistungsfähige Beschäftigte aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds, ihres Geschlechts, einer Behinderung oder ihrer sexuellen bzw. religiösen Orientierungen diskriminiert oder gar nicht erst eingestellt werden. Ziel von Diversity Management ist, wie letztlich von allen Unternehmensstrategien, vor allem die wirtschaftliche Effizienzsteigerung, ein Ziel, das in vielen Fällen durchaus mit demjenigen des Abbaus sozialer Ausgrenzungsprozesse einhergeht. Zu bezweifeln ist eine solche Zielübereinstimmung allerdings dann, wenn z. B. Behinderung reduzierte ökonomische Leistungsfähigkeit zur Folge hat. Um hier der Gefahr neuer, möglicherweise subtilerer Fragmentierungen zu entgehen, bedarf es deswegen anderer Anknüpfungspunke der Orientierung für den Diversity-Diskurs als ökonomische Erfordernisse. Solche könnten z. B. das Ziel der umfassenden Realisierung der Menschenrechte sein, auch und gerade dann, wenn sie im Widerspruch zu ökonomischen Interessen stehen. Trotz der aufgezeigten Risiken bergen die noch zu entfaltenden Potentiale der Diversity Studies vor allem in ihrer noch zu leistenden praktischen Umsetzung große Chancen zur weiteren und somit zur fortschreitenden Dekonstruktion des Anders-Seins im Sinne der vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahr 1993 getroffenen Feststellung: „Was wir zu lernen haben, ist so schwer und doch so einfach und klar: Es ist normal, verschieden zu sein.“ 2.3 Theologische Dekonstruktionen „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer’ in Christus Jesus“ (Galater 3, 28).
Es ist in dieser Untersuchung an zahlreichen Beispielen gezeigt worden, dass theologischreligiöse Lehren dafür anfällig sind, in erkenntnisbehindernden Dogmen353 zu erstarren, 353 Als Dogma definiert der katholische Dogmatiker Michael Schmaus (1897-1993), akademischer Lehrer von Uta Ranke-Heinemann, die bei ihm promoviert hat, und Josef Ratzinger, dessen Habilitationsschrift aller-
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und mit brutaler Intoleranz jede Abweichung von diesen Dogmen auf unterschiedlichste Weise immer wieder bekämpft haben. Dies gilt besonders, aber keineswegs allein für die monotheistischen Abrahamreligionen – insbesondere dann, wenn sie sich als Kirche institutionalisiert haben –, deren „eifersüchtiger Gott“ zwar die Existenz anderer Götter durchaus nicht bestreitet, seinen Anhängern jedoch strikt verbietet, sie zu verehren (Exodus 20, 3; 20, 5). Ebenso deutlich ist aber auch geworden, dass in gleicher Weise auch wissenschaftliche Lehren zu nicht mehr hinterfragten, ja dem Anspruch nach nicht einmal mehr hinterfragbaren, Dogmen erstarren können und in der Vergangenheit vielfach erstarrt sind. Weder Religion noch Wissenschaft müssen jedoch zwangsläufig dogmatisch werden. Sie müssen auch keineswegs in einem unüberbrückbaren Gegensatz zueinander stehen. Albert Einstein (1986: 16), selbst, wenngleich nicht strenggläubig, jüdischer Herkunft, beschrieb in der Entwicklung der jüdischen Religion zwei Stufen: Entstanden als „Furcht-Religion“ habe sie sich zu einer „moralischen Religion“ entwickelt. Beiden Stufen liege das weitgehend anthropomorphe Verständnis eines persönlichen Gottes zugrunde. Ausgehend davon entwickelte Einstein eine dritte Stufe, die er als konsequent antiecclesiastisch und mithin antiklerikal ausgerichtete „kosmische Religiosität“ bezeichnete. „Die religiösen Genies aller Zeiten waren durch diese kosmische Religiosität ausgezeichnet, die keine Dogmen und keinen Gott kennt, der nach dem Bild des Menschen gedacht wäre. Es kann daher auch keine Kirche geben, deren hauptsächlicher Lehrinhalt sich auf kosmische Religiosität gründet. So kommt es, daß wir gerade unter den Häretikern aller Zeiten Menschen findet, die von dieser höchsten Religiosität erfüllt waren und ihren Zeitgenossen oft als Atheisten erschienen, manchmal auch als Heilige. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, stehen Männer wie Demokrit, Franziskus von Assisi und Spinoza einander nahe“ (Einstein 1986: 16).
Da kosmische Religiosität zu keinem Gottesbegriff und mithin zu keiner Theologie führen könne, sei sie nur über Kunst und Wissenschaft mitteilbar, deren wichtigste Funktion Einstein vor allem darin sah, „dieses Gefühl unter den Empfänglichen zu erwecken und lebendig zu erhalten“ (a. a. O.: 17). Auch innerhalb der christlichen Theologie und kirchlicher Initiativen gab und gibt es immer wieder Versuche und Ansätze der Defragmentierung der Menschheit und der Dekonstruktion der in diesem Band dokumentierten religiös begründetet Ausgrenzungen, Unterdrückungen, Verfolgungen und Vernichtungen vermeintlich Anderer durch kirchliche Institutionen und die herrschende Theologie, welche nicht unerwähnt bleiben sollen, wenngleich es an dieser Stelle nicht möglich ist, all diese Richtungen erschöpfend darzustellen. Wir werden uns an dieser Stelle darauf beschränken, beispielhaft auf Aspekte der Theologie der Befreiung, der feministischen Theologie sowie auf den von Ulrich Bach vorgelegten Entwurf einer Theologie nach Hadamar einzugehen. Bei allen Unterschieden eint all diese Richtungen, dass sie sich abheben von der dogmatischen Lehre, die den Anspruch erhebt, allgemeingültige, überzeitliche womöglich unfehlbare Dogmen verbindlich zu verkünden. Sie stellen der herrschenden dogmatischen eine kontextuelle Theologie gegenüber, die die biblischen Botschaften nicht als überzeitliche Offenbarungen versteht, sondern versucht, sie aus den kulturhistorischen Kontexten dings wegen Schmaus’ Einwendungen beinahe die Annahme verweigert worden wäre, „eine von Gott unmittelbar geoffenbarte Wahrheit, welche vom kirchlichen Lehramt klar und ausdrücklich als verbindliche Offenbarungswahrheit festgestellt“ (Schmaus 1938: 10) und als solche nicht mehr hinterfragbar ist.
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ihrer Entstehung zu begreifen, um ihren Gehalt für gegenwärtige Kontexte daraus abzuleiten und sich auch mit der Institution der Kirche kritisch auseinanderzusetzen. Theologie als akademische Disziplin gerät dabei allerdings leicht insofern an ihre Grenzen, als sie zum einen konfessionalisiert und zum anderen und vor allem unter der strikt erkenntnisbegrenzenden Kontrolle der institutionalisierten Amtskirchen betrieben wird. Keine Dozentur an theologischen Fakultäten kann besetzt werden, ohne dass zuvor das sogenannte „nihil obstat“354 der jeweils zuständigen Amtskirche ausgesprochen wurde. Auch nach ihrer Berufung droht Angehörigen des wissenschaftlichen Personals theologischer Fakultäten jederzeit kirchliches Lehrverbot, wenn sie in Ausübung ihres Grundrechts der Freiheit von Forschung und Lehre zu Ergebnissen gelangen und diese nicht für sich behalten, welche den von den Glaubenswächtern der Amtskirchen verordneten und überwachten Glaubenslehren widersprechen und den kirchlichen Obristen missliebig sind. Dies hat schon vor mehr als 100 Jahren Adolf von Harnack (1851-1930) kritisiert, der als einer der bedeutendsten protestantischen Theologen und Kirchenhistoriker seiner Zeit gilt, durchaus ein Verfechter konfessionalisierter theologischer Fakultäten war, sich aber mit Nachdruck dafür ausgesprochen hat, „dass der evangelischen Theologie dieselbe Freiheit zu gewähren ist wie jeder anderen Wissenschaft“ (Harnack 1901: 19), anderenfalls komme es notwendigerweise dazu, „dass dem Lehrer die Freiheit gebrochen wird, und der Lernende die Integrität und Wahrhaftigkeit seines Lehrers beargwöhnen muss“ (ebd.). Ausdrücklich mahnt er: „Wir können und dürfen bei unserer geschichtlichen Arbeit nicht an die Lehren und Bedürfnisse der Kirchen denken; wir wären pflichtvergessen, wenn wir in jedem einzelnen Fall etwas anderes im Auge hätten als die reine Erkenntnis der Sache“ (a. a. O.: 20). „Dass aber die zukünftigen Diener der evangelischen Kirche durch eine solche Schule hindurchgehen, die sie zur ernstesten Prüfung auffordert, das entspricht letztlich den obersten Grundsätzen dieser Kirche selbst“ (ebd.).
Leider verhallte Harnacks Appell bei den Amtskirchen, die bis heute immer wieder kritische Theologen mit Lehrverboten belegen, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen, bis heute ungehört. Einer der Betroffenen ist der katholische Theologe Hans Küng, der unter anderem konstatiert, dass die Institution Kirche zwar mit Berufung auf Jesus von Nazareth, doch nicht durch ihn gegründet wurde. „Es gibt keine an die Öffentlichkeit gerichteten Jesusworte, die programmatisch zu einer Gemeinde der Auserwählten und zur Gründung einer Kirche aufrufen. Die Bibelwissenschaft ist sich über diesen Punkt einig: Jesus hat nicht eine Kirche und auch nicht sich selbst, sondern das Gottesreich verkündet. Bestimmt vom Bewusstsein, in einer Endzeit zu leben, will Jesus Gottes bald kommendes Reich, seine Herrschaft ankündigen, und zwar mit dem Blick auf das Heil des Menschen. (…) Zum Ärger der Frommen und Orthodoxen lädt er auch religiös Andersgläubige (Samariter), politisch Kompromittierte (Zöllner), moralische Versager (Ehebrecher) und sexuell Ausgenutzte (Prostituierte) zu diesem Reich ein“ (a. a. O.: 27).
Die Praxis der später institutionalisierten Kirche hat sich demgegenüber in einen zunehmenden und schließlich diametralen Widerspruch zur überlieferten Botschaft und Praxis Jesu gestellt, worauf unter anderem schon Friedrich Engels hingewiesen hatte. Auch seinen Ausführungen zufolge 354 Wörtlich: „Es steht nichts entgegen“.
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„war das Christentum im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten und zersprengten Völker“ (Engels 1894: 449).
Fragmentierungen der Menschheit, Ausgrenzungen und Verfolgung bis hin zur Massenvernichtung sind also Praxen, die sich nach den hier vertretenen Auffassungen keineswegs aus der Lehre Jesu und mithin auch nicht den Ursprüngen des Christentums355 ableiten lassen. Sie haben sich vielmehr im Laufe der Geschichte der Kirchen als Praxen dieser Institutionen und im wachsenden Maße im Widerspruch zur ursprünglichen Intention Jesu und seiner zeitgenössischen Anhängerinnen und Anhänger herausgebildet. Kirche als Institution hat sich, wie eingangs gezeigt, seit ihrer Tolerierung durch das römische Reich mit den meisten politischen Regimes arrangiert. Sehr oft ist sie integraler Bestandteil der jeweiligen staatlichen Herrschaftssysteme geworden. Über Jahrhunderte hinweg konnte sie sich, wie gezeigt, vor allem in Europa als supranationale Feudalmacht etablieren. Stets aber gab und gibt es auch inner- und außerkirchliche Gruppierungen und auch Einzelpersonen, die sich diesen Arrangements verweigerten und aus religiöser oder anders fundierter Überzeugung, oft mit theologischen Begründungen Widerstand gegen die ökonomischen, politischen und auch religiösen, klerikalen Machthaber ihrer Länder geleistet haben und immer noch leisten. Auf verschiedene Ketzerbewegungen Anfang des zweiten Jahrtausends wurde bereits im Zusammenhang mit der Entstehung der Inquisition verwiesen. Manche jüngere solcher theologischen Richtungen integrieren dabei Teile der Marx’schen Gesellschaftsanalyse in ihre Glaubenskonzepte: „Man sollte meinen, die Sache liege so klar auf der Hand, daß Bestreitung unmöglich sei: Wir leben nicht in einer klassenlosen Gesellschaft, sondern in einer von Klassenherrschaft und Klassenkampf geprägten Gesellschaft“ (Gollwitzer 1974: 13).
So formulierte es z. B. der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer (1909-1993). Kennzeichnend für Gesellschaften vom Typ der Bundesrepublik war für ihn dabei vor allem die Tatsache, dass sich die Interessen der in ihr lebenden gesellschaftlichen Klassen nicht, wie dies die herrschende Ideologie immer wieder glauben zu machen versucht, auf ein sie alle umspannendes Gemeinwohl zurückführen lassen, sondern sich in einem antagonistischen Widerspruch gegenüberstehen, dessen Aufhebung zwingend die Aufhebung der ihn erzeugenden gesellschaftlichen Bedingungen voraussetzt. Innerhalb dieses Widerspruchs gibt es keine neutrale Position, kein interessenloses oder -übergreifendes „Niemandsland“, auf das sich gesellschaftliche Institutionen, wie z. B. Kirchen oder Caritas und Diakonie, zurückziehen könnten. Sie stehen vielmehr mitten in diesem Widerspruch und müssen Partei ergreifen ob sie wollen oder nicht. Die Frage ist nur, für wen sie dies tun. Gerade dann nämlich, wenn sie sich „neutral“ oder unparteiisch 355 Es kann hier nicht der Frage nachgegangen werden, ob die Ursprünge des Christentums, zumindest des institutionalisierten Christentums wirklich auf die Lehre Jesu zurückgehen. Dies bezweifelt z. B. der wegen der Veröffentlichung der Ergebnisse seiner Forschungen zum historischen Jesus (Lüdemann 1998) ebenfalls mit kirchlichem Lehrverbot belegte evangelische Neutestamentler Gerd Lüdemann (2001: 199) mit Hinweis darauf, „daß, historisch gesehen, Jesus das Reich Gottes erwartet hatte, aber die Kirche an dessen Stelle kam“. Für Lüdemann ist Paulus der Gründer des Christentums, auf ihn führt er z. B. auch die religiöse Fragmentierung des Christentums, die Verteufelung derer, die die christliche Lehre nicht anerkennen, und den im Neuen Testament und der Geschichte der Kirche immer wieder anzutreffenden ausgeprägten christlichen Antijudaismus zurück (a. a. O.: 211 f.).
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geben, stellen sie sich auf die Seite derer, die von den gegenwärtig herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen profitieren und von daher ein der Tendenz nach konservatives politisches Interesse am Fortbestand dieser Verhältnisse haben. Gleichzeitig stellen sie sich gegen diejenigen, die von den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen negativ betroffen sind, die unter ihnen zu leiden haben, oftmals, wie gezeigt, als vermeintlich Andere marginalisiert und ausgegrenzt, nicht selten in ihrer psychischen und physischen Existenz bedroht sind und die von daher ein Interesse an der Überwindung dieser Verhältnisse haben. Dazu der katholische Theologe Norbert Greinacher (*1931): „Ein Gottesdienst und eine Kirche, die sich völlig supranaturalistisch verstehen, welche die gesellschaftliche und politische Situation gar nicht zur Kenntnis nehmen, sondern sich allein auf das Jenseits beziehen, haben gerade darin ihre politische, in diesem Fall die Gesellschaft stabilisierende, antireformerische und antirevolutionäre Wirkung. Unter solchen Voraussetzungen kann die Religion dann wirklich zum Opium des Volkes, zur imaginären Blume an der Kette der Unterdrückung, zum Heiligenschein des Jammertals, zur illusorischen Sonne, die sich um den Menschen bewegt, werden, wie Karl Marx356 es ihr vorgeworfen hat“ (Greinacher 1980: 23).
Gegen die – sich teilweise unbewusst vollziehende – Parteinahme für die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die in ihnen Herrschenden stellen die hier in Rede stehenden religiösen bzw. theologischen Bestrebungen die entschiedene, aktive und bewusste Parteilichkeit für die Opfer, denen diese Verhältnisse die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben der Tendenz nach verweigern und denen gegenüber helfende Professionen, wie soziale Arbeit, Medizin oder auch die kirchlichen Institutionen, wie Caritas und Diakonie, den Anspruch erheben, Hilfe zu leisten. Gerade kirchliche Institutionen sind jedoch, so Gollwitzer, in ihrer Geschichte durch Parteinahmen in diesem Sinne bislang leider wenig aufgefallen. Wie wir an zahlreichen Beispielen gesehen haben, war und ist weit häufiger das Gegenteil der Fall. „Die Haltung der christlichen Kirchen gegenüber den sozialen Problemen von Unterdrückung und Ausbeutung seit der konstantinischen Wende ist bestenfalls eine reformistische gewesen: Wo das soziale Gewissen in den Kirchen sich rührt, arbeitet man für Verbesserungen innerhalb der bestehenden Klassengesellschaft, ohne aber die Klassenherrschaft selbst in Frage zu stellen. Einzelne und Gruppen, die letzteres unternehmen, werden ausgeschieden. Ein großes Aufgebot von theologischer Argumentation muß dazu dienen, diese Haltung zu rechtfertigen und eine revolutionäre Zielsetzung als mit dem Christsein unvereinbar auszuschließen“ (Gollwitzer 1974: 25).
356 „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt“ (Marx 1844: 378 f.).
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Diese eher pessimistische historische Bilanz kirchlicher Praxis im Umgang z. B. mit Armut oder der Ausgrenzung und Unterdrückung von Anders-Sein ist aber – folgt man der evangelischen Theologin Dorothee Sölle (1929-2003) – nur die eine Seite von Kirche: „Es hat sich in den letzten Jahren auch in der Bundesrepublik herumgesprochen, daß Klassenkämpfe nicht vor den Toren der Kirchen haltmachen – als vertreten die Kirchen nur die Interessen einer Klasse! (…) Immer mehr Christen kommen aufgrund ihres Glaubens zu einer Entscheidung für das Volk, gegen die über es Herrschenden; für die Armen und gegen die, die sich an der Verarmung bereichern; für den Kampf und gegen sie, die Folter und Terror schweigend mit ansehen. Theologische Entscheidungen wie die, daß Christus für die Armen Partei ergriff ohne Rückhalte und klassenneutralistisches Friedensblabla nach allen Seiten, sind immer auch politische Entscheidungen. (…) Ob ich Christus als den Richter mit den Symbolen römischer Macht darstelle oder als Aufrührer mit dem Symbol des verachteten Kriminellen, das ist keine theologische Spitzfindigkeit, sondern kultureller Ausdruck der Leiden und Kämpfe von Menschen. Ob der Kirchenraum ein Asyl wird für Obdachlose (…), für Verfolgte oder ob (…) (er) ein Raum ist für Krönungszeremonielle von Staatsoberhäuptern, das sind Fragen, um die gekämpft wird. Man kann es nicht oft genug wiederholen: es gibt eine Kirche von oben und eine Kirche von unten“ (Sölle 1981: 161).
Das, was Gollwitzer also als Haltung der christlichen Kirchen skizzierte und was wir in den bisherigen Ausführungen als Lehren und Handlungen kirchenchristlicher Theologien und Institutionen dokumentiert haben, würde Sölle also als die Haltung der Kirche von oben charakterisieren. Deren Interesse ist es, „zu leugnen, daß es eine Kirche von unten und eine von oben gibt. Evangelische US-Missionare sehen Christus nicht in den geschundenen Indios und den zu Tode vergewaltigten Frauen, sondern ‚über‘ dem allen, jenseits der Leiden und Kämpfe des Volkes. Darum wird diese Art der Frömmigkeit von den Herrschenden gefördert und begünstigt. Die Kirche von oben übt sich, und damit bin ich wieder ganz zu Hause in Europa, in der Bundesrepublik, die Kirchen von oben üben sich, JEIN zu sagen. JEIN zum Rassismus, JEIN zum Sexismus, JEIN zum Kapitalismus“ (a. a. O.: 163).
Das aber sei – so Sölle – nicht die Kirche schlechthin, sondern eben nur die eine Seite von Kirche, der eine andere Seite, nämlich die Kirche von unten, gegenübersteht. Wie aber lässt sich Kirche von unten nun charakterisieren? Ein in diesem Zusammenhang immer wieder zitierter Ansatz, auf den etwa auch Sölle Bezug nimmt, ist z. B. derjenige Teil der lateinamerikanischen Kirchen, deren Theorie und Praxis unter der Bezeichnung „Theologie der Befreiung“ zusammengefasst wird. Diesen Begriff verwandte erstmalig Gustavo Gutiérrez (*1928)357, Theologe und Sozialwissenschaftler an der katholischen Universität Lima/Peru, der 1972 eine Monografie 357 Gutiérrez wurde 2001 übrigens Mitglied des bekanntlich für die Inquisition maßgeblich verantwortlichen Dominikanerordens. Zu den Hintergründen dieses auf den ersten Blick unverständlichen Schritts berichtet der Orden auf seiner Homepage: „Unter Papst Johannes Paul II. zog er sich die Gegnerschaft der Kurie zu, ähnlich wie sein berühmter brasilianischer Weggefährte Leonardo Boff [*1938. 1985 wurde er auf maßgebliches Betreiben von Joseph Ratzinger mit einjährigem kirchlichem Lehr- und Redeverbot belegt, wodurch er weltweit bekannt wurde. 2001 erhielt er den alternativen Nobelpreis]. Mehrere Versuche, Gustavo Gutiérrez zu verurteilen, scheiterten. Maßgeblich dafür, dass dies nicht geschah, war die Intervention des deutschen Konzilstheologen Karl Rahner [1904-1984], der noch kurz vor seinem Tod in einem Brief an Gustavo Gutiérrez versicherte, dass er eine vollkommen rechtgläubige Theologie vertrete.
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unter diesem Titel vorgelegt hat und nicht zuletzt deswegen häufig als Begründer der Befreiungstheologie gilt. „Theologie beschränkt sich nicht mehr darauf, die Welt gedanklich zu ergründen, sondern versucht, sich als ein Moment in dem Prozeß zu verstehen, mittels dessen die Welt verändert wird, weil sie – im Protest gegen die mit Füßen getretene menschliche Würde, im Kampf gegen die Ausbeutung der weitaus größten Mehrheit der Menschen, in der Liebe, die befreit, und bei der Schaffung einer neuen, gerechteren und brüderlichen Gesellschaft – sich der Gabe des Reiches Gottes öffnet“ (Gutiérrez 1973: 21).
Jede theologische Reflexion müsse ausgehen von dem konkreten gesellschaftlichen Kontext, in dem sie stattfindet. „In Lateinamerika heute Kirche zu sein, bedeutet, eine klare Position gegenüber der derzeitigen gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und dem revolutionären Prozeß zu beziehen, der die Mißstände überwinden und aus ihnen eine menschlichere Ordnung schaffen soll. Der erste Schritt, der getan werden muß, besteht in der Konstatierung, daß die Kirche in Wirklichkeit schon eine bestimmte Haltung eingenommen hat: Sie ist dem herrschenden Gesellschaftssystem verbunden. Das habe sie „zu einem Zahnrad im Apparat des gesellschaftlichen Systems werden lassen und aus der christlichen Botschaft eine Komponente der herrschenden Ideologie gemacht“ (a. a. O.: 250).
Kirche habe sich demgegenüber aktiv in das gesellschaftliche Geschehen einzumischen: „Es kommt darauf an, zu verhindern, daß einige wenige fortfahren, sich den Mehrwert anzueignen, den die anderen mit ihrer Arbeit schaffen; es kommt darauf an, lyrische Aufrufe zur gesellschaftlichen Harmonie zu unterlassen und eine sozialistische, gerechtere, freiere und menschlichere Gesellschaft zu schaffen und nicht eine beschönigende Gesellschaft, in der nur eine scheinbare, eine trügerische Gleichheit existiert (…). Jedes Bemühen um eine gerechtere Gesellschaft hat heute notwendigerweise den Weg über die bewußte und tätige Mitwirkung am Klassenkampf zu nehmen, der sich vor unseren Augen abspielt“ (a. a. O.: 261). Eindeutig stellt er dabei klar: „Wer das Faktum des Klassenkampfes leugnet, schlägt sich in Wirklichkeit auf die Seite der herrschenden Kreise. Neutralität in dieser Frage gibt es nicht“ (a. a. O.: 262).
Letzteres hat auch der Vatikan begriffen. Mit einer vom damaligen Präfekten, dem heutigen Papst, unterzeichneten „Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über einige Aspekte der ‚Theologie der Befreiung’“ vom 6. August 1984 hat er Stellung genommen.358 Hier wird zunächst der Befreiungsbegriff mystifiziert und dadurch entpolitisiert: „Die Befreiung ist vor allem und grundsätzlich eine Befreiung von der radikalen Knechtschaft der Sünde. Ihr Ziel wie ihre Grenze ist die Freiheit der Kinder Gottes, ein Geschenk der Gnade.“
Gustavo Gutiérrez lebt heute als Priester in einer armen Pfarrei in Lima-Rimac. 2001 trat er dem Dominikanerorden bei. Dadurch ist es ihm möglich, trotz des Druckes der Ortskirche unter Erzbischof Kardinal Juan Luis Cipriani vor Ort weiterzuarbeiten“ (http://www.dominikaner.org/frame.htm?gutierrez.htm; letzter Zugriff: 29.11.2010). 358 „Instructio de quibusdam rationibus ‚Theologiae Liberationis’“. Im Internet in englischer Sprache verfügbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19840806_theology -liberation_en.html
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VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel
Zwar werden dann soziale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zwischen arm und reich als skandalös kritisiert, doch Sünde betreffe das Verhältnis zwischen Menschen und Gott und dürfe nicht auf soziale Sünde reduziert werden. „Man darf auch nicht das Böse vorrangig und allein in den ökonomischen, sozialen und politischen ‚Strukturen’ verorten, als hätten alle anderen Übel ihre Ursache und Quelle in diesen Strukturen, so daß die Schaffung eines ‚neuen Menschen’ von der Errichtung anderer ökonomischer und sozio-politischer Strukturen abhinge.“
Eine gänzliche Absage erteilten die antibolschewistischen Glaubenshüter schließlich der Verknüpfung von Marx’scher und biblischer Lehre, im ersten Fall sprechen sie von Ideologie.359 Die Instruktion ist jedenfalls ein unmissverständliches Dokument für die Positionierung des Vatikans als Kirche von oben im Sinne von Sölle oder Gutiérrez. Vorläufiger Höhepunkt dieses innerkirchlichen Klassenkampfes ist die nach einem sogenannten „dringlichen Lehrprüfungsverfahren“ erfolgte Maßregelung des in El Salvador wirkenden Befreiungstheologen Jon Sobrino (*1938) durch eine Notifikation der vatikanischen Kongregation für Glaubenslehre vom 26. November 2006, die am 14. März 2007 veröffentlicht wurde. Nach dem Zusammenbruch der Staaten des RGW und dem vorläufigen Scheitern der meisten Widerstandsbewegungen in Lateinamerika verbreitete sich die Ansicht, dass sich auch die Theologie der Befreiung und insbesondere ihre Perspektive einer sozialistischen lateinamerikanischen Gesellschaft weitgehend erledigt habe. Dieser Auffassung trat der nicaraguanische Theologe, Dichter und Politiker Ernesto Cardenale (*1925)360 in einer bemerkenswerten Rede am 14. September 1993 im französischen Dom in Berlin mit Nachdruck entgegen: „Der Sozialismus ist nicht gescheitert. Was gescheitert ist, war ein bestimmtes Modell des Sozialismus. Ein stalinistisches Modell des Sozialismus. Es handelte sich um eine Verirrung, eine Abweichung vom Marxismus. Auch das Christentum“ – fügt er hinzu – „kannte Verirrungen. Es gab Perversionen des Evangeliums, die unendlich monströser waren als jede Abweichung von der marx’schen Lehre. Gräßlichere Verbrechen (Kreuzzüge, Inquisition), skandalösere Korruptionen (die Päpste der Renaissance). Und ich bin immer noch Christ“ (Cardenale 1993: 2). „Die kapitalistische Presse verkündete der Welt triumphierend das Scheitern des Sozialismus. Was sie verschweigt, ist das noch gründlichere Scheitern des Kapitalismus. Der Kapitalismus war höchstens für 20 Prozent der Menschen erfolgreich, vielleicht nur für zehn Prozent. Für die dritte Welt, das heißt, für die Mehrheit, zu der alle armen Länder und alle armen Leute der reichen Länder gehören, war der Kapitalismus katastrophal. (…) Der Sozialismus scheiterte, weil er NICHT verwirklicht wurde. Der Kapitalismus, WEIL er verwirklicht wurde“ (ebd.).
Mit deutlichem Bezug zu den Erkenntnissen der Evolutionstheorie warnte er davor, die gegenwärtigen Verhältnisse als eine Art Ende, ja als Endziel der Geschichte zu begreifen.
359 “Concepts uncritically borrowed from Marxist ideology and recourse to theses of a biblical hermeneutic marked by rationalism are at the basis of the new interpretation which is corrupting whatever was authentic in the generous initial commitment on behalf of the poor.” 360 Auch Ernesto Cardenale lenkte den Unwillen der vatikanischen Obrigkeit auf sich: 1985 wurde er wegen seines politischen Engagements in der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront Nicaraguas (FSLN) von seinem Priesteramt, das er bis dahin 20 Jahre innehatte, suspendiert.
2 Beispiele und Perspektiven theoretischer Dekonstruktion des Anders-Seins
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„Es wäre unwissenschaftlich zu denken, wir seien schon das Ende der Evolution. (…) Der Homo sapiens ist weniger als hunderttausend Jahre alt, einige schätzen ihn auf etwa sechzigtausend Jahre. (…) Die Geschichte der Zivilisation beginnt mit der Erfindung des Ackerbaus und der Zähmung von Tieren zu Haustieren. Das ist kaum zehn- oder zwölftausend Jahre her. Ich frage: können wir uns vorstellen, wie die Menschheit in zehntausend Jahren sein wird? Und in hunderttausend? Und in ein oder zwei Millionen Jahren? Wie kann man also behaupten, wir seien am Ende der Utopien angelangt?“ (a. a. O.: 12 f.)
Cardenales Utopie ist die vom Himmelreich, welches sich ihm jedoch nicht als eschatologisches außerirdisches Jenseits für die zur Erlösung Auserwählten darstellt, sondern als ein menschliches Diesseits: „Das Himmelreich ist auf der Erde. Oder besser: Die Erde ist im Himmel. Im Himmel mit allen anderen Sternen und Milchstraßen, mit allen übrigen bewohnten Planeten, auf denen es gleichfalls Evolutionsprozesse und soziale Revolutionen gibt, mit ihren Fortschritten und Rückschritten zu neuen Fortschritten, mit ihren Gekreuzigten und Auferstandenen, wo das gleiche Reich der Liebe errichtet wird, wie hier auf der Erde. (…) Alles, was Jesus predigte, war: Das Himmelreich ist auf diesem Planeten. Damit dieser Planet, endlich zu einer einzigen brüderlichen Gesellschaft geworden, sich einfüge in das Konzert aller übrigen bewohnten Planeten, auf denen bereits die Liebe herrscht“ (a. a. O.: 13).
Die Theologie der Befreiung inspirierte auch in Europa, auch in Deutschland manche Theologinnen und Theologen, die, wir hatten Gollwitzer dazu bereits zitiert, darauf aufmerksam machen, dass nicht nur die Gesellschaften Lateinamerikas, sondern auch Europas, auch die Gesellschaft der BRD sozial gespaltene Klassengesellschaften sind, geprägt von Klassenherrschaft und Klassenkampf. Schon Gollwitzer (1974: 13) hatte die Erfahrung gemacht, dass jeder, der „diese Tatsache (…) ausspricht, als Radikalinski und gefährlicher Störenfried angesehen wird“. Dahinter verberge sich „das Interesse an einem harmonistischen Gesellschaftsbild, das die verschiedenen Bevölkerungsgruppen nur als Schichten eines in sich konsistenten Gefüges zeichnet und als gleichberechtigte Partner, versehen mit verschiedenen Interessen und bemüht um Kompromisse zur Seetüchtigerhaltung des gleichen Bootes“ (ebd.).
Dieses Interesse sei zum einen psychologisch bedingt, Gollwitzer sprach von einem „Bedürfnis des guten Gewissens“ (ebd.) zum anderen sei der Entwurf jenes Gesellschaftsbildes Teil des Klassenkampfes selbst. Gollwitzer sah dahinter „das Bestreben, die Militanz der Gegenseite zu schwächen, damit das gemeinsame Boot, in dem man tatsächlich sitzt, nicht unter andere Regeln gestellt wird – unter solche nämlich, bei denen man die jetzigen Privilegien verliert“ (ebd.).
Orientiert mehr oder weniger am Konzept der Theologie der Befreiung haben sich theologische Richtungen herausdifferenziert, die vor allem die Dekonstruktion des Anders-Seins und die Kritik der Ausgrenzung und Unterdrückung spezifischer Personengruppen zu ihrem Schwerpunkt gemacht haben. Dazu gehört an prominentester Stelle die feministische Theologie, die unter anderem die Bedeutung der Frauen in der biblischen Überlieferung und in der frühen Christenheit herausarbeitet und betont, dass sich die Ebenbildlichkeit Gottes
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VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel
keineswegs nur auf den Mann bezieht, sondern in beiden Geschlechtern spiegelt,361 und die die sexistische Herabwürdigung und theologische Begründung der Unterdrückung der Frau in der Geschichte von Kirche und Gesellschaft rekonstruiert und dekonstruiert. „Feministische Theologie beantwortet die Frage nach der Macht Gottes neu und befreit die Theologie aus den Potenzphantasien der Männer, die sich bislang exklusiv theologisch zu Wort meldeten“ (Sölle 2001: 48 f.).
Die überlieferte Gestalt der Eva erscheint in dieser Dekonstruktion, wie in den Ausführungen über dämonologisch-theologischen Sexismus gezeigt, ebenso auch bei dem jüdischen Theologen Lapide „nicht mehr [als]stummer Teil des Mannes, ein Objekt seiner Bewunderung, vielmehr geht alles Entscheidende von ihr aus. Eva agiert, sie disputiert (zum gesammelten Ärger aller männlichen Theologen!) mit der Schlange, sie lernt etwas aus diesem Disput, nämlich dass Menschen nicht durch Erkenntnis sterben. In ihrer ungebrochenen Neugier entdeckt Eva Dinge, die das Leben verändern. ‚Das Weib sah, dass der Baum gut war zum Essen’, dass er eine Wollust für die Augen war und begehrenswert, um Einsicht zu gewinnen. Essen, Ästhetik und Erkenntnis im intellektuellen wie im sexuellen Sinne des Wortes gehören zusammen. Jetzt erst, nachdem das Paar von der Frucht gekostet hat, gehen ihnen die Augen auf. (…) Die Wörter ‚Sünde’ und ‚Fall’ erscheinen im biblischen Text nicht, wohl aber das Wort ‚vertreiben’. Austreibung ist eine Phase des Gebärens: die Frucht wird ausgetrieben aus dem Mutterleib, in dem alles mühelos da war, Atmung und Nahrung von selbst gegeben waren. Aber jetzt beginnt das Leben, die Arbeit, die Mühe und die Sexualität. (…) Ohne Eva säßen wir noch immer in träumender Unschuld unter den Bäumen“ (Sölle 2008: 10 f.).
Wie schwer es Vertreter und vor allem Vertreterinnen dieses Ansatzes in den offiziellen kirchlichen Institutionen namentlich innerhalb der klerikalen katholischen Männerbünde allerdings haben, sich entsprechend zu positionieren und Gehör zu verschaffen, beschrieb am Beispiel ihrer eigenen Biografie eindrucksvoll die katholische Theologin Elisabeth Gössmann (*1928), Studienkollegin von Josef Ratzinger und Uta-Ranke-Heinemann an der Münchener Universität. Ihr Habilitationsverfahren an der dortigen katholischen Fakultät wurde trotz bester wissenschaftlicher Referenzen bezüglich ihrer Habilitationsschrift aufgrund bistumsamtlicher Intervention abgebrochen (vgl. Gössmann 2003: 272 f.). Elisabeth Gössmann hätte, um zum Verfahren zugelassen werden zu können, geweihte Priesterin sein müssen (ebd.). Das konnte sie aber nicht, wie sie selbst sagt, wegen eines Geburtsfehlers: ihres weiblichen Geschlechts. Für Frauen an den Universitäten der zuständigen Diözese bestand somit faktisch Habilitationsverbot in katholischer Theologie. Einen weiteren Ansatz einer kontextuellen Theologie hat ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen als Behinderter und Pfarrer einer großen Behinderteneinrichtung 2006 der 361 „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Genesis 1, 28), so die erste Schöpfungsgeschichte, der allerdings mit der von Dorothee Sölle (2008: 6) so bezeichneten „Rippenstory“ eine zweite gegenübersteht, an der sich die alttestamentarische Begründung des kirchenchristlichen Sexismus in der Regel festmacht: „Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen“ (Genesis 2, 21-23).
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Theologe Ulrich Bach (1931-2009)362 vorgelegt, die er in Anlehnung an den Entwurf einer Theologie nach Auschwitz als Bausteine einer Theologie nach Hadamar bezeichnet und als „abendländische Befreiungs-Theologie“ (Bach 2006: 51) verstanden hat. So wie die Theologie nach Auschwitz judenfeindliche Tendenzen in Bibel, Kirche, Diakonie und Theologie, die letztlich mitverantwortlich für die Massenvernichtung von Juden in Deutschland gewesen sind (vgl. a. a. O.: 23) und auch nach 1945, wie auch in diesem Buch gezeigt, noch keineswegs überwunden waren, zum Thema gemacht hat, thematisierte Bach in entsprechender Weise behindertenfeindliche kirchliche und theologische Tendenzen vor und nach 1945 und nennt sie „Apartheids-Metastasen in unseren theologischen DenkGebäuden“ (a. a. O.: 21). Wie die feministische Theologie, die Theologie, wie Sölle sagt, aus den Potenzphantasien der Männer befreien will, so ging es Bach darum, die Macht Gottes nicht nur aus seiner Stärke, sondern auch aus seiner Schwäche herzuleiten. „Wie reden wir von Gott? Die Stärke gilt (…) so sehr als Kennzeichen für Gott, daß alle Schwachheit (etwa die Schwachheit behinderter Menschen) als Ausnahme gleichsam gegen die Spielregeln verstößt“ (ebd.). „Wie reden wir von Christus? Ständig ist er der große Helfer und wir unterschlagen seine Schwachheit (…). Jeder, der von ihm nicht sichtbar geheilt wurde, jeder, der auf Hilfe angewiesen bleibt, müßte sich schämen. Die Bibel aber sagt, daß unser Herr auch auf Hilfe angewiesen war. Ich denke an die Flucht nach Ägypten; oder: die Jünger bittet er, im Garten Gethsemane eine Stunde mit ihm wach zu bleiben; Simon von Kyrene muß für ihn das Kreuz schleppen. Der Gottessohn brauchte Hilfe. Seitdem muß sich niemand mehr schämen, wenn er Hilfe braucht; sich helfen zu lassen, ist genau so ‚göttlich’, wie anderen zu helfen“ (a. a. O.: 22). Als „Hauptthese einer ‚Theologie nach Hadamar’ [formulierte er]: Ob ein Mensch Mann ist oder Frau, blind oder sehend, schwarz oder weiß, dynamisch aktiv oder desorientiertpflegeabhängig, ist theologisch (von Gott her, im Blick auf Heil oder Unheil) absolut ohne Bedeutung“ (a. a. O.: 26).
Ausdrücklich plädierte Bach nicht für eine „Behinderten-Theologie“ (a. a. O.: 51), sondern für eine „ebenerdige Theologie“ (a. a. O.: 105), er hätte heute vielleicht von „barrierefreier Theologie“ gesprochen, zu der alle Menschen gleichermaßen Zugang haben und die alle Menschen in gleichem Maße umfasst und niemanden ausgrenzt. „Alle Sondertheologie muß abgelöst werden durch eine ebenerdige Theologie“ (a. a. O.: 346), so sein Appell. Weniger überzeugend erscheinen Bachs Interpretationen biblischer Heilungsgeschichten, mit denen er das Ziel verfolgt, das, was sie am vordergründigsten immer wieder schildern, zu relativieren, um dem Eindruck entgegenzutreten „Gottes Wirken bestünde in der Befreiung von Behinderung“ (a. a. O.: 482), denn so verstanden wären diese Geschichten „massive Apartheids-Theologie“. Bach unterschied dazu zwischen Heilung und Heil und interpretiert die biblischen Überlieferungen der Heilungen Jesu nicht als Heilungen im therapeutischen Sinne, sondern als Hinführungen zum Heil, welches Jesus verkörpert: „Gottes Heil kann auch ohne des Menschen Heilung des Menschen volles Heil sein“ (a. a. O.: 357, auch a. a. O.: 412). Gewissermaßen als vorweggenommenes Ergebnis seiner Interpretation postulierte er:
362 Bach war seit seinem 21. Lebensjahr infolge einer Polio-Erkrankung zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen. Von 1962 bis 1996 war er Anstaltspfarrer der Orthopädischen Anstalten Volmarstein, seit 1993 Evangelische Stiftung Volmarstein.
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VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel
„Nur, wenn wir die Heilungsgeschichten so verstehen, dass unsere Auslegung behinderte Menschen nicht kränkt, verstehen wir sie auch für uns selber richtig“ (a. a. O.: 409). Er kritisiert: „Wenn nun schlichte Bibelleser oder auch wissenschaftlich arbeitende Exegeten (…) nicht unterscheiden zwischen Besessenheit und Krankheit, dann ist das Unglück geschehen, denn dann bedeutet auch die Heilung eines Blinden den Einbruch des Reiches Gottes.“ Er mahnt, zwischen „Krankenheilung und Dämonenaustreibung“ bzw. „Therapie und Exorzismus im Neuen Testament“ strikt zu unterscheiden, denn sonst „blieben Blinde, Gelähmte und andere NichtGeheilte lebenslänglich in der Macht dämonischer Kräfte“ (a. a. O.: 411).
Ob diese Schussfolgerung wirklich zwingend ist, mag hier dahingestellt bleiben, doch es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Autoren der Heilungsgeschichten nicht vom zeitgenössischen antiken Weltbild geprägt waren, welches Krankheiten und Gebrechen als Strafe Gottes oder aber, ebenso wie Besessenheit, als Folge des Wirkens eines bösen Geistes verstand. Dabei ist zu vergegenwärtigen, dass Berichte von Wunderheilungen uns keineswegs nur und auch keineswegs erstmals im Neuen Testament begegnen, sondern auch in zahlreichen anderen, auch älteren, vor- und nichtchristlichen antiken Schriften, in denen sie die Macht zeitgenössischer Herrscher bezeugen sollten, Schriften, die den Autoren der Evangelien möglicherweise auch zu weiten Teilen als Vorlage gedient haben (vgl. hierzu ausführlich bezogen auf das Markus-Evangelium: Becker 2006: 350 ff., 382 ff). Bach aber betreibt die Entdämonisierung der Texte gleichsam auf dem Wege ihrer Enthistorisierung und interpretiert sie als quasi zeitlose bzw. überzeitliche, wörtlich zu verstehende Verkündigungen, denen bereits unser heutiges und nicht das zeitgenössische Verständnis von Krankheiten und Gebrechen und deren Ätiologien zugrunde liegt. Wesentlich nachvollziehbarer erscheint die eher „aufklärerische“ Strategie des Alttestamentlers Crüsemann, der den Dämonenglauben als Ausdruck des damaligen, heute aber überwundenen Zeitgeistes versteht: „Es diskriminiert die Kranken, wenn man sie in der Hand unreiner Geister sieht. An dieser Stelle muß man das Neue Testament korrigieren. Wo biblische Texte Menschen klein und kaputt gemacht haben, darf man ihnen nicht folgen. Das Gerede von Teufeln und Geistern hat so viel Unheil angerichtet, dass man es nicht wieder aufleben lassen darf“ (Crüsemann 1992: 16). „Aufklärung bleibt notwendig, auch der Satz ‚Dämonen gibt es nicht’“ (a. a. O.: 21).
Bei aller Sympathie für Bachs Anliegen der Barrierefreiheit, die auch eine ebenerdige Theologie umfasst – gerade vor dem Hintergrund des Anspruchs einer kontextuellen Theologie wäre es vermutlich plausibler gewesen, die Texte nicht zu ent-, sondern zu rehistorisieren, ihre Entstehungsgeschichte im historischen Kontext ihrer Entstehungsbedingungen zu begreifen und auf diesem Wege zu untersuchen, ob und gegebenenfalls welche Botschaften sich aus ihnen für unseren heutigen kulturhistorischen Kontext ableiten lassen. Zu Recht merkte schließlich Thomas Feld in seiner Rezension zu dem Buch kritisch an, dass gerade von dem Pfarrer einer großen diakonischen Behindertenanstalt neben der theologischen auch der Versuch einer institutionellen Dekonstruktion, d. h. einer kritischeren Auseinandersetzung mit den ausgrenzenden Strukturen solcher Einrichtungen zu erwarten gewesen wäre. „Das habe ich schließlich in Bachs Buch vermisst: die Kritik an einer Diakonie, die ihren Stolz in der Unterhaltung großer und größter Unternehmen sieht und sich bis heute schwer tut, die Forderungen der siebziger Jahre nach Auflösung der abgesonderten Lebensbereiche für behinderte Menschen und die Ermöglichung ihrer Partizipation am gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen“ (Feld 2007: 49).
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Dessen ungeachtet bleibt die Idee einer ebenerdigen oder barrierefreien Theologie nach Hadamar ein richtungweisender Ansatz für eine kontextuelle Dekonstruktion überkommener theologischer Dogmatik, der es verdient hat, weiterentwickelt zu werden. 3
Perspektiven für eine De-Institutionalisierung
Da, wie dargestellt, die Konstruktion von Anders-Sein ein dialektischer Prozess ist, bei dem sich gedankliche und praktische Konstruktionen wechselseitig bedingen und hervorbringen, muss auch die Dekonstruktion des Anders-Seins an dieser Dialektik ansetzen. Denn eine Veränderung unserer Praxis im Umgang mit Anders-Sein und eine Veränderung unseres Denkens hierüber sind nicht zwei voneinander verschiedene und – in welcher Reihenfolge auch immer – nacheinander ablaufende Vorgänge, sondern zwei stets aufeinander bezogene und sich wechselseitig bedingende Momente ein und desselben Prozesses. 3.1 Macht – Hilfe – Gewalt?: Die Verantwortung der Helfenden Diese Dialektik mag das folgende Beispiel verdeutlichen: „Können wir ohne die großen Institutionen sein?“ (Gottlieb 1983: 45). Diese Frage stellte vor knapp 30 Jahren Astrid Gottlieb, eine Beamtin der Kopenhagener Sozialverwaltung am 28. Oktober 1982 auf einer Tagung des Fachausschusses Geistigbehinderte in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) zum Thema „Der Mythos vom harten Kern“. Sie fährt fort: „Hätte man mich vor zehn oder zwölf Jahren gefragt, dann hätte ich entschieden nein gesagt. Heute wissen wir, dass die Grenzen auf diesem Gebiet sehr flexibel sind. Wenn man in diesem Bereich arbeitet, lernt man erst, was man an Alternativlösungen anbieten kann. Mit dem heutigen Service-Angeboten sozialer, medizinischer und kultureller Art, die den Behinderten von den lokalen Behörden [in Dänemark] zur Verfügung gestellt werden, will ich dazu jetzt ja sagen“ (ebd.).
Astrid Gottlieb ist sich der ursprünglichen Ausgrenzung behinderter Menschen durchaus sehr bewusst. Sie hat sie überwunden. Verantwortlich dafür war keineswegs die Veränderung vermeintlich unabänderlicher Persönlichkeitsmerkmale der Menschen, für deren Betreuung sie anfangs große Institutionen für unabdingbar hielt. Verantwortlich waren vielmehr Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse in Dänemark und der Praxis im Umgang mit diesen Menschen. An diesen Veränderungen hat Gottlieb selbst aktiv mitgewirkt. Indem und während sie das tat, hat sie sich selbst, hat sich ihr Denken, ihre Einstellung ebenfalls grundlegend verändert. Dieses Beispiel zeigt noch einmal sehr deutlich: Nicht die individuelle Beschaffenheit eines Menschen macht dessen Ausgrenzung und Isolation von regulären Lern- und Lebensbedingungen erforderlich. Vielmehr sind es die jeweils herrschenden, im historischen Prozess entstandenen und dementsprechend prinzipiell auch weiterzuentwickelnden und demnach überwindbaren – in unseren Köpfen allerdings oft genug als unüberwindlich widergespiegelten – gesellschaftlichen Verhältnisse, die zu Ausgrenzung und struktureller wie pädagogischer Behinderung führen. Da die praktische Konstruktion von Anders-Sein nicht lediglich ein interaktiver Akt ist, sondern stets unter spezifischen gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen
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VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel
stattfindet, kann auch die praktische Dekonstruktion nur unter diesen Bedingungen erfolgen. Wir hatten in den Ausführungen über institutionelle Fragmentierungen schon gezeigt, dass sozialer Ausschluss bis heute zu weiten Teilen mit institutionellem Einschluss beantwortet wird und von Fachkräften der sozialen Arbeit, der Pädagogik bzw. Sonderpädagogik, der Medizin oder der Psychologie fachlich gerechtfertigt wird. Fast immer erfolgt diese Rechtfertigung in der Weise, dass das vermeintliche Anders-Sein der Betroffenen zu einem Hilfetatbestand erklärt oder mit einem solchen verknüpft wird, bei dem die erforderliche Hilfe nur in dem gegebenen institutionellen Kontext sicherzustellen ist. Dabei ist selbstverständlich nicht von der Hand zu weisen ist, dass zumindest ein Teil der solcherart institutionell Eingeschlossenen oftmals unter massiven persönlichen Problemen leidet, zu deren Überwindung diese Menschen dringend auf soziale, pädagogische, auch therapeutische Hilfe oder Assistenz angewiesen sind. Dazu können neben dem Angewiesensein auf pflegerische oder assistierende Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags unterschiedlichste Formen psychischer Verelendung gehören, z. B. die Unfähigkeit, soziale Beziehungen einzugehen, den Tagesablauf zu organisieren, alltägliche oder auch nicht alltägliche Konflikte zu bewältigen, Geld einzuteilen, die Zeit einigermaßen befriedigend zu nutzen, oder Suchtprobleme. Hinzu kommt oft die Notwendigkeit, Probleme zu bearbeiten, die einer Überwindung sozialen Ausschlusses zusätzlich im Wege stehen, etwa Schulden, laufende Strafverfahren, noch nicht abgegoltene Haftstrafen, Bewährungsauflagen und anderes mehr. Dabei lässt sich die psychische Verelendung dieser Menschen, die sich als fortschreitender Verlust ihrer individuellen Handlungsfähigkeit und Realitätskontrolle darstellt, selbstverständlich nicht monokausal auf ihre restriktiven Lebensbedingungen, ihre physische Verelendung zurückführen. Psychische und physische Verelendung stehen vielmehr in einem unlösbaren dialektischen Verhältnis zueinander und bringen sich wechselseitig hervor. Psychische Verelendung ist ebenso Folge prekärer Lebensumstände, wie sie Ursache für weitere materielle Verelendung sein kann. Menschen, die unter den Bedingungen sozialen Ausschlusses leben, fühlen sich diesen oftmals hilflos und ohnmächtig ausgeliefert. Damit aber verliert das individuelle Handeln der Betroffenen jede Motivation, es wird nur noch „von den ungerichteten, bloß emotionalen Wirkkräften der aktuellen Situation bestimmt“ (Holzkamp-Osterkamp 1978: 65). Ihnen fehlt die Einsicht in die individualhistorische Gewordenheit und damit auch prinzipielle Überwindbarkeit ihrer konkreten Lebenslage. Es liegt auf der Hand, dass eine verantwortliche psychosoziale Praxis im Umgang mit den Betroffenen nur in dem Maße wirksam werden kann, wie es ihr gelingt, den Menschen, an die sie sich richtet, zu dieser Einsicht und damit zur Wiederaneignung der eigenen Lebensgeschichte zu verhelfen und sie so zu befähigen, (wieder) zu handelnden Subjekten zu werden. Solche Hilfen dürften jedoch nicht außerhalb regulärer gesellschaftlicher Realität in dem totalitären und mithin extrem antitherapeutischen Milieu in der Regel vollstationärer Institutionen angeboten und an die Bedingung geknüpft werden, das bisherige Lebensumfeld zu verlassen und in das soziale Feld „stationäre Einrichtung“ zu wechseln. Sie müssten vielmehr vor Ort, dort wo die Betroffenen leben, vorhanden sein. Praktische Dekonstruktion von Anders-Sein bedeutet in solchen Fällen: De-Institutionalisierung. Auf das widersprüchliche Verhältnis von Individuen und Institutionen und die gesellschaftliche Bedeutung von Institutionen wurde bereits hingewiesen. De-Institutionalisierung in dem hier gemeinten Sinne richtet sich nicht gegen Institutionen schlechthin, sondern vielmehr gegen institutionelle Unterwerfungen und Fragmentierungen. Dabei ist das Verhältnis von Macht,
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Verantwortung und Gewalt in dem Anspruch nach helfenden Institutionen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu stellen. Die von Capra beklagte Fragmentierung der Menschheit in unterschiedliche soziale Klassen begann mit dem Übergang von zunächst horizontaler zu immer mehr vertikaler Arbeitsteilung in der Geschichte der Menschen. Damit einher ging die Ausbildung wachsender Asymmetrien zwischen den einzelnen Individuen und ihren Vergesellschaftungschancen sowie die Entstehung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, ohne die der Charakter gesellschaftlicher Institutionen nicht zu verstehen ist. Dabei möchte ich mit Max Weber zwischen Macht und Herrschaft deutlich unterscheiden. Nach Webers (1925: 28) oft zitierter Definition bedeutet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichgültig, worauf diese Chance beruht“. Macht ist, darauf weist Hans Jonas (1998: 172) mehrfach hin, die unabdingbare Voraussetzung für Verantwortung. Nur wer Macht hat, kann Verantwortung übernehmen. Allerdings macht Jonas auch deutlich, dass Macht nur dann als verantwortlich bezeichnet werden kann, wenn sie Macht für und nicht über etwas ist. Mit seinen Worten ausgedrückt: „Daß das ‚über’ zum ‚für’ wird, macht das Wesen der Verantwortung aus“ (a. a. O.: 181).
Macht kann aber auch in Herrschaft umschlagen. Herrschaft bedeutet „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1925: 38). Herrschaft ist „ein Sonderfall von Macht und existiert dann, wenn diese Macht institutionell abgesichert ist und durch Normen begründet wird“ (Jantzen 1993: 35). Das hat Konsequenzen für das Verantwortungsproblem im Hinblick auf die die Herrschaft absichernden Institutionen: „Verantwortung ist dann nicht mehr die durch Macht gegebene Verantwortung gegenüber der Sache, um die es geht, sie schlägt um in die durch Herrschaft gegebene Verantwortung vor den Herrschenden. In Institutionen ist die Verantwortung damit jeweils so geklärt, daß zunächst immer die Verantwortung vor den Herrschenden besteht und nicht die Verantwortung vor denen, die diesen Institutionen unterworfen sind“ (ebd.).
De-Institutionalisierung in dem hier gemeinten Sinne bedeutet die Aufhebung von Herrschaft in Verantwortung. Das geht einher mit Prozessen der Demokratisierung der Institutionen, bei denen diejenigen, die den Institutionen unterworfen waren oder sind, zunehmend die Kontrolle über sie übernehmen. Welche Konsequenzen daraus für die Lebensrealität der Betroffenen resultieren, sei am Beispiel zweier autobiografischer Texte von Betroffenen veranschaulicht. Sie stammen von Jürgen Knop (1981, 1998) und Hendrik Allenstein (1995). Jürgen Knop (1937-2008) ist zwei Jahre vor Beginn des zweiten Weltkrieges und des Beginns des staatlich organisierten Massenmords an Behinderten in Deutschland, dem er entkommen konnte, geboren, Hendrik Allensteins Geburtsjahr ist 1960. Beide sind aufgrund einer spastischen Lähmung in ihrer Sprach- und Bewegungsfähigkeit beeinträchtigt und zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen. Beide benötigen zur Bewältigung ihres Alltags in ähnlichem Umfang Unterstützung. Knop lebte nahezu 60 Jahren in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe, in denen er täglich erleben musste, wie er der Herrschaft der Institution ausgeliefert ist. Nicht einmal auf die Auswahl seiner Mitbewohner hatte er irgendeinen Einfluss.
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VI Perspektiven für einen neuerlichen Paradigmenwechsel
„Ich weiß noch genau (…), wie eines Tages für uns völlig überraschend einer der Anstaltspastoren zu uns in den Tagesraum kam und uns ohne Umschweife sagte, daß wir vier und die Bewohner der beiden Nachbarzimmer ausziehen müssten. Es waren noch etliche Betten in anderen Zimmern frei; die sollten wir belegen“ (Knop 1998: 234). Proteste waren zwecklos. Resigniert musste Knop einsehen, dass „der Umzug schon lange beschlossene Sache war, bevor wir Betroffenen davon informiert wurden. Unsere Zustimmung oder Ablehnung war dabei kaum noch von Bedeutung“ (a. a. O.: 235).
Knop war nicht nur den Anstaltsfunktionären unterworfen, sondern auch dem dort tätigen Personal. Ein alltägliches Beispiel: Knop brauchte Hilfe beim Toilettengang und betätigt die Klingel. „Monoton schnarrte die Klingel auf dem Flur, dann wieder Stille. Nur das Kauen meines Zimmerkameraden Dieter [der eine ähnliche Behinderung hat wie Knop] war zu hören. Er fluchte los, etwas Marmelade war ihm von seinem Brot gerutscht und setzte sich am Kragen fest. Niemand war da, der ihm das klebrige Zeug vom Hals schaffen konnte. Wieder die Klingel, einsam und vergeblich, ungehört schnarrte sie über den Flur. Schritte kamen näher, blieben stehen. Nein, es war kein Pfleger, nur die Putzfrau (…). Die Tür schlug plötzlich doch auf. ‚Mensch ist heute wieder was los! Zwei Mann haben sich krank gemeldet. Ich hab mal wieder vier Zimmer zu versorgen, weiß garnicht, wie ich das schaffen soll bis zu unserem Frühstück.’ Und zu Dieter gewand fuhr der hereingestürmte Pfleger fort: ‚Ohhhh, du hast dich ja beschmiert. Mußt du doch nicht machen!’ Mit diesen Worten, die eher für ein Kleinkind geeignet schienen als für einen 38-jährigen Mann, wischte er ihm das Zeug ab und kitzelte ihn am Bauch. Dieter zuckte zusammen, bekam einen heftigen Spasmus und sein rechter Arm schlug gegen die Wand. Er sagte nichts, auch ich vermied es peinlichst, irgendeinen Protest anzumelden, obwohl mich das Gehabe anwiderte. Mir war es erstmal wichtig, auf’s Klo zu kommen, und dazu musste der Pfleger bei guter Laune gehalten werden. (…) Schon die Ankündigung des Pflegers, er hätte heute besonders viel zu tun, mussten wir als Drohung verstehen; es gäbe ihm jederzeit einen guten Grund, wichtigere Arbeiten zu erledigen. Endlich saß ich auf der Toilette“ (Knop 1981: 66 f.).
Anders als Jürgen Knop lebt Hendrik Allenstein als normaler Mieter in einer eigenen Wohnung. Die zur Bewältigung des Alltags notwendige Assistenz erhält er durch einen örtlichen ambulanten Dienst. Völlig anders sind seine Erfahrungen mit den Assistentinnen und Assistenten. „Der Helfer ist im Grunde genommen nur dazu da, mir ein bißchen unter die Arme zu greifen, um das möglich zu machen, was ich machen will. Es kann auch mal passieren, daß ich mitten in der Nacht nach Hause komme. Das ist für den Helfer ziemlich anstrengend. Aber der hat mir nicht zu sagen, wann ich nach Hause gehe, das bestimme ich. Wenn ich halt Bock habe, dann bleibe ich auch mal bis morgens um vier Uhr“ (Allenstein 1995, 35 f.).
Auch Hendrik Allenstein ist abhängig von seinen Helfern, um die Dinge zu tun, die er tun möchte. Insofern haben auch seine Helfer Macht. Während jedoch die Helfer von Jürgen Knop durch die Institution, welcher er selbst unterworfen war, ermächtigt worden sind, hat Hendrik Allenstein den Helfern ihre Macht zu Helfen selbst verliehen. Formal sind sie zwar auch bei einer Institution, einem ambulanten Dienst für Behinderte, angestellt, doch er hat die Auswahl getroffen, er ist der Institution nicht unterworfen. Allein er übt die Kontrolle über seinen Alltag aus, entscheidet, wie er ihn gestaltet und welche Hilfen er dazu benötigt und in welcher Weise seine Assistenten zum Einsatz kommen. Selbstverständlich kommt es
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auch hier zu Konflikten zwischen den Interessen der Helfer bzw. Assistenten auf der einen und den Assistenznehmern auf der anderen Seite. Anders als in stationären Institutionen stehen sich diese Interessen aber gleichberechtigt gegenüber: auf der einen Seite die Hilfeabhängigkeit der Assistenznehmer, auf der anderen Seite die existenzielle Abhängigkeit der Assistenten. Aus diesen Ausführungen ist nun allerdings keineswegs der Schuss zu ziehen, dass es prinzipiell unverantwortlich wäre, in stationären Institutionen zu arbeiten. Im Gegenteil, solange diese die Lebensrealität der Betroffenen in so entscheidendem Maße wie gezeigt prägen, wäre es unverantwortlich, diese dort gewissermaßen sich selbst zu überlassen. Wären in den vergangenen 20-30 Jahren institutionenkritisch eingestellte Kolleginnen und Kollegen nicht gezielt in die Einrichtungen gegangen oder dort geblieben, wäre es wohl kaum zu jenen Prozessen der Demokratisierung gekommen, die zwar nicht dazu geführt haben, dass die dort lebenden Individuen in der gleichen Weise selbstbestimmt leben können wie außerhalb, aber dennoch dazu, dass auch eine Reihe die Individualität und Entfaltungsmöglichkeit der Heimbewohnerschaft in hohem Maße einschränkender Restriktionen in den vergangenen 30 Jahren nachhaltig abgebaut wurden. Diese Entwicklungen sind keineswegs von selbst und auch nicht ohne Konflikte abgelaufen. Hier mussten sich engagierte Kolleginnen und Kollegen entscheiden, gegen ihren damaligen institutionellen Auftrag für die betroffenen Individuen Partei zu ergreifen, ihre Macht nicht über, sondern für ihr Klientel einzusetzen. Umgekehrt unterliegen außerdem selbstverständlich auch z. B. ambulante Dienste Institutionalisierungsprozessen mit der Konsequenz wachsender Interessen- und Loyalitätskonflikte (hierzu ausführlich: Rohrmann 1999) unter den beteiligten Gruppen. In diesem Sinne müssen wir Fachkräfte der psychosozialen Arbeit uns immer entscheiden. Wir können uns, egal, in welchem institutionellen Kontext wir arbeiten, niemals neutral oder indifferent verhalten. Wir müssen uns immer entscheiden, ob wir – mit Hans Jonas gesprochen – unsere Macht verantwortlich für die Menschen, mit denen wir arbeiten, ausüben, oder ob wir sie über sie ausüben. Wir müssen uns entscheiden, ob wir uns – wie Franco und Franca Basaglia (1980: 12) es ausdrücken – als „Befriedungsverbrecher“, d. h. als Agenten die Menschheit – mit Capra (1996: 335) gesprochen – fragmentierender Praxen und ihrer Institutionen dienstbar machen lassen und die Betroffenen psychiatrisch, psychologisch oder pädagogisch behandeln oder ob wir für sie Partei ergreifen wollen und unsere Aufgabe darin sehen, gemeinsam mit ihnen zu handeln, mit dem Ziel, ihre Ausgrenzung Schritt für Schritt aufzuheben und damit einen kleinen Beitrag zur Überwindung der Fragmentierung der Menschheit zu leisten. „Der Kern aller Schwierigkeiten, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, ist unser Verkennen des Erkennens, unser Nicht-Wissen um das Wissen. Es ist nicht das Erkennen, sondern das Erkennen des Erkennens, das verpflichtet. Es ist nicht das Wissen, daß eine Bombe tötet, sondern das, was wir mit der Bombe zu tun beabsichtigen. Gewöhnlich ignorieren wir diese Einsicht, oder drücken uns davor, um nicht die Verantwortung für unser tägliches Tun übernehmen zu müssen. Doch unser Tun (…) hilft eine Welt hervorzubringen und zu etablieren, in der wir werden, was wir im Austausch mit anderen werden in jenem Prozeß des Hervorbringens einer Welt“ (Maturana & Varela 1987: 268).
Egal, was wir tun, wann und wo wir es tun, unserer Verantwortung entgehen wir nicht. Das gilt umso mehr, je größer unsere Macht ist. Von uns hängt es ab, ob die Welt, die wir unter diesen Bedingungen hervorbringen, demokratischer wird und nicht nur „den Betroffenen“,
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sondern allen, auch uns, ein Mehr an Individualität und Selbstbestimmung und Bemächtigung des eigenen Alltags ermöglicht oder ob sie restriktiv bleibt oder gar wird, ein Ort der institutionellen Fremdbestimmung, auch für uns. 3.2 Hilfe wider Willen Das Verantwortungsproblem führt uns noch zu einem weiteren Aspekt helfender Beziehungen, der an dieser Stelle zwar nicht vertieft werden kann, aber auch nicht unerwähnt bleiben soll: Manche Menschen, die in helfenden Beziehungen leben, treffen Entscheidungen, deren Konsequenzen für die Betroffenen von uns Fachleuten als nachteilig, bedrohlich, manchmal lebensgefährlich eingeschätzt werden. Manche Menschen lehnen Hilfe ab, obwohl wir davon überzeugt sind, dass sie dringend der Hilfe bedürfen. Wenn wir solche Entscheidungen nicht verstehen können, erklären wir sie uns meist damit, dass die Betroffenen die Tragweite ihrer Entscheidungen gar nicht abzuschätzen in der Lage sind. In solchen Fällen erfolgt Hilfe häufig gegen den erklärten Willen der Betroffenen. Dies geschieht nicht selten ohne Rechtsgrundlage, jedoch gibt es Rechtsgrundlagen, die auch legalerweise solche Hilfen unter Zwang ermöglichen. Es ist nicht zu bestreiten, dass es im Rahmen psychosozialer Hilfezusammenhänge Entscheidungssituationen gibt, die auf den ersten Blick Maßnahmen gegen den Willen der Betroffenen unausweichlich erscheinen lassen, wenn Menschen, für die wir Verantwortung tragen, Entscheidungen treffen oder getroffen haben, deren antizipierte Konsequenzen nicht verantwortbar erscheinen. Solche Probleme müssen verantwortlich bewältigt werden. Entsprechende Bewältigungsstrategien müssen, aber sie können auch nur, im jeweiligen Einzelfall gefunden werden. Die Möglichkeit zur pauschalen Entrechtung der Betroffenen durch Zwang erscheint dabei in keinem Fall als adäquate Lösung. Eine solche Möglichkeit birgt im Gegenteil das Risiko, dass adäquate Lösungen gerade nicht gesucht und folglich auch nicht gefunden, sondern die Probleme lediglich geregelt und das bedeutet in vielen Fällen: mural entsorgt werden. Das ist keine abstrakte Befürchtung, sondern längst und in zunehmendem Maße gängige Praxis. Das zeigt z. B. die nicht offizielle Heimstatistik, die bis 2003 von Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geführt wurde.363 Zwar war schon früheren Bundesregierungen ausweislich ihrer dritten und vierten Behindertenberichte durchaus bekannt, dass „die Zahl der Heimunterbringungen (…) nach verbreiteter Einschätzung zunehmend gesenkt werden (könnte). Von vielen Behinderten – auch schwerstbehinderten Menschen – selbst wird der Ausbau individueller Wohnformen gefordert; dieser Prozess setzt den Ausbau ambulanter Dienste voraus, die die Betroffenen weitgehend beteiligen und deren persönliche und soziale Kompetenz stärken“ (Bundesregierung 1994: 178; ohne den mittleren Satz auch 1998: 85),
dennoch werden die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht nur nicht geschaffen, sondern immer mehr Heime gebaut mit der Konsequenz, dass die Anzahl der Heimunterbringungen nicht sinkt, sondern kontinuierlich zunimmt und jedes Jahr neue Rekordhöchststän363 Seit im Zuge der Föderalismusreform die Zuständigkeit für die Heimgesetzgebung auf die Bundesländer übergegangen ist, werden keine Zahlen mehr erhoben.
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de erreicht. Sie stieg zwischen 1993 und 2003 kontinuierlich um 55 % von 115 648 auf 178 924. Die Institutionalisierungsquote, ausgedrückt in Heimplätzen je 100 000 Einwohner, wuchs im selben Zeitraum um gut 52 % von 142 auf 217. Damit nicht genug. „Eine nicht genau bekannte Zahl vor allem geistig oder mehrfachbehinderter Menschen, die häufig auch ein hohes Maß an Pflegebedürftigkeit aufweisen, ist noch immer in psychiatrischen und neurologischen Krankenhäusern, in geriatrischen Kliniken sowie in Altenpflegeheimen untergebracht. In den neuen Bundesländern betraf das 1994/95 etwa fünftausend Personen. Vergleichbare Daten für die alten Bundesländer sind nicht bekannt; es ist aber davon auszugehen, dass auch dort noch behinderte Menschen in psychiatrischen Einrichtungen und in Altenpflegeeinrichtungen leben“ (Bundesregierung 1998: 85).
Wir wissen aufgrund eigener Erhebungen, dass allein in Hessen mit ca. 6 Millionen Einwohnern Ende 2000 mehr als 1 400 Menschen unter 60 Jahren in Altenheimen lebten, von denen immerhin 8 jünger als 25 Jahre waren, als sie dort untergebracht wurden (vgl. Brings & Rohrmann 2002). Seit Jahren liegt ausweislich der Sozialhilfestatistik des Statistischen Bundesamtes (Fachserie 13, R 2.2) der Anteil der Empfängerinnen und Empfänger von Eingliederungshilfe für Behinderte bei ca. einem Drittel (2008: 37 % von insgesamt 761 513 Betroffenen). Noch extremer stellt sich diese Priorisierung des stationären Sektors bei den jährlich für die Eingliederungshilfe für Behinderte aufgewandten Mitteln dar. Hier lag 2008 der Anteil, der Betroffenen außerhalb von Einrichtungen zukam, bei etwa 12 % (1,5 Mrd. Euro). Der Hauptanteil von 88 % (11 Mrd. Euro) floss dagegen in den stationären Bereich. Selbst wenn man die gut 3 Mrd. Euro, die für Werkstätten für Behinderte aufgebracht werden, nicht berücksichtigt, liegt der Anteil der Eingliederungshilfe, der in den muralen Bereich fließt, noch bei 83 %. Zu dem seit Jahrzehnten nicht nur in der Behindertenhilfe zu beobachtenden kontinuierlichen Anstieg stationärer Unterbringungen kommt, dass immer mehr Menschen zwangsweise untergebracht werden. In den Jahren zwischen 1992 und 2008 hat nämlich ausweislich der Betreuungsstatistik des Bundesjustizministeriums nicht nur die Anzahl der gesetzlichen Betreuungen rapide zugenommen – von 435 931 auf 1 273 265 Fälle –, sondern auch die Anzahl der von gesetzlichen Betreuern beim Vormundschaftsgericht beantragten freiheitseinschränkenden bzw. -entziehenden Maßnahmen nach § 1906 Abs. 2364 und 4365 BGB366. Dabei zeigen die Zahlen der Betreuungsstatistik des Bundesjustizministeriums nur die Spitze des Eisberges an. Darauf jedenfalls lässt ein Gutachten des medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenversicherung schließen, das die Ergebnisse von ca. 7 600 „Qualitäts“prüfungen in Pflegeeinrichtungen zusammenfasst. Darin heißt es:
364 „Die [stationäre] Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts zulässig.“ 365 Richterliche Genehmigung ist auch erforderlich, „wenn dem Betreuten, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll“. 366 Von der hier dokumentierten Entwicklung waren nicht nur Personen in Behinderteneinrichtungen betroffen, sondern auch z. B. in Einrichtungen der Altenhilfe, die allerdings auch durch derartige Einschränkungen z. T. massiv in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindert werden und in diesem Sinne durchaus ebenfalls behindert sind.
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„Nicht selten werden bei den Qualitätsprüfungen auch freiheitseinschränkende bzw. freiheitsberaubende Maßnahmen festgestellt, obwohl weder eine Einwilligung des Betroffenen noch ein rechtfertigender Notstand oder eine richterliche Genehmigung vorliegt“ (MDK 2001: 5).
Eine Stichtagserhebung des Juristen Thomas Klie kam 1998 zu dem Ergebnis, dass täglich etwa 400 000 Menschen solche freiheitsentziehenden Maßnahmen hinnehmen müssen, also z. B. medikamentös „ruhig gestellt“, gefesselt oder mittels Bettgitter am Verlassen des Bettes gehindert werden (Klie 1998a, 1998b). Dass es auch anders geht und unter fachlichen Gesichtspunkten weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht Bedarfe existieren, die nicht prinzipiell auch in einer selbst gewählten Wohnform abgedeckt werden können, mithin kein Mensch gegen seinen Willen lebenslang stationär untergebracht sein muss, zeigen in Deutschland z. B. ambulante Dienste, die seit Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre in Deutschland in einigen, leider nur sehr wenigen, Städten entstanden sind (vgl. Mayer & Rütter 1988; fib e. V. 1995), die 1988 erfolgte Schließung des psychiatrischen Krankenhauses Kloster Blankenburg bei Bremen oder auch „der Rechenschaftsbericht über die Entlassung aller 435 psychiatrischer Langzeitpatienten des Landeskrankenhauses (…) Gütersloh von 1981 bis 1996, also (…) die 15-jährige De-Institutionalisierung dieser Institution“, welche „das Ende der Veranstaltung der chronisch psychisch Kranken“in dieser solcherart aufgelösten Einrichtung bedeutete und zugleich den empirischen Nachweis erbracht hat, „daß kein chronisch psychisch Kranker dauerhaft in einer Institution (Klinik oder Heim) leben muß und darf“ (Dörner 2001b: 8).367
3.3 De-Institutionalisierung als Gebot der Menschenrechte Institutionelle Ausgrenzungen von Menschen, die anders erscheinen und nicht mehr den gesellschaftlichen Normen entsprechen, haben mittlerweile sogar die Vereinten Nationen auf den Plan gerufen. Am 24. September 2001 brachte das eigentlich für eher zurückhaltende Äußerungen bekannte UNO-Komitee für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte anlässlich der routinemäßigen Vorlage des entsprechenden vierten Staatenberichts der Bundesrepublik Deutschland „seine große Besorgnis über inhumane Bedingungen in Pflegeheimen aufgrund struktureller Mängel im Pflegebereich, wie dies vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDS) bestätigt worden ist“ (CESCR 2001: Nr. C24), zum Ausdruck und „drängt die Bundesrepublik, dringende Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation der Patienten in Pflegeheimen zu verbessern“ (a. a. O.: Nr. E42). Den bis zum 30. Juni 2006 angeforderte fünften Staatenbericht hat die Bundesregierung mit zweijähriger Verspätung 2008 vorgelegt, in dem sie (Bundesregierung 2008: 91) unter anderem angibt, 367 Allerdings ist anzumerken, dass 92 der ehemaligen Langzeitpatienten (21,6 %) nach ihrer Entlassung aus dem Landeskrankenhaus entweder in einem Heim der Behindertenhilfe oder in einem Alten- bzw. Pflegeheim lebten, sodass in diesen Fällen eher eine Um- als eine De-Institutionalisierung stattgefunden hat (vgl. Rasmus 2001: 47). Landzettel (2001: 211) weist außerdem darauf hin, „daß fast ein Viertel der Altenheimbewohner (9 von 38) [die Zahlen erfassen nur die bis 1992 entlassenen Patienten] bei Entlassung zwischen 45 und 59 Jahre alt waren. Dennoch: „60 % der chronisch psychisch Kranken mussten nach ihrer Entlassung nicht wieder in die Psychiatrie. (…) Nimmt man zu diesen 60 % noch diejenigen hinzu, die kumulativ nur bis zu einem halben Jahr wegen einer psychischen Krise wieder aufgenommen werden mussten, so landen wir bei 82 %. Freilich haben zu diesen Zahlen die heim-verlegten Patienten (größerer Rückfallschutz) mehr beigetragen als die ambulant betreuten Menschen“ (Dörner 2001c: 301).
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„in zwei weiteren Gesetzgebungsverfahren die Voraussetzungen dafür geschaffen“ zu haben, „dass durch interne und externe Qualitätssicherung Pflegefehler und Missstände in Heimen vermieden werden können und eine ausreichende personelle Ausstattung sichergestellt werden kann“
und außerdem eine Verbesserung der Situation durch die Novelle des Altenpflegegesetzes 2003 in Aussicht stellt. Gegenwärtig haben mit der Materie befasste Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen die Gelegenheit, mittels einer Vorlage von Parallelberichten zu dem Regierungsbericht Stellung zu nehmen. Im November 2010 wird das Komitee die Beratungen aufnehmen und vermutlich 2011 seine Stellungnahme abgeben. Man darf gespannt sein. Mit institutionellen Ausgrenzungen vor allem behinderter Kinder aus dem deutschen Bildungssystem hat sich, aufgeschreckt durch die Ergebnisse internationaler Schulvergleichsstudien für Deutschland, der Rat für Menschenrechte der Vereinten Nationen befasst. Er entsandte im Februar 2006 seinen Inspektor für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, nach Deutschland, um das deutsche Schulsystem vor Ort zu inspizieren. Am 21. März 2007 legte dieser seinen Bericht vor. Scharf kritisiert er dort „das mehrgliedrige Schulsystem, das selektiv ist und zu einer Form der De-facto-Diskriminierung führen könnte“ und damit nicht den menschenrechtlichen Standards entspricht. Muñoz geht „davon aus, dass bei dem Auswahlprozess, der im Sekundarbereich I stattfindet (das Durchschnittsalter der Schüler liegt abhängig von den Regelungen der einzelnen Länder bei 10 Jahren), die Schüler nicht angemessen beurteilt werden und dieser [Auswahlprozess] statt inklusiv zu sein exklusiv ist. Er konnte im Verlaufe seines Besuchs beispielsweise feststellen, dass sich diese Einordnungssysteme auf arme Kinder und Migrantenkinder sowie Kinder mit Behinderungen negativ auswirken“ (HRC 2007: Summary).
In der Nacht zum 5. Dezember 2008 hat der Deutsche Bundestag die Ratifizierung der von der UN-Vollversammlung am 13.12. 2006 verabschiedeten „Convention on the Protection and Promotion of the Rights and Dignity of Persons with Disabilities“ beschlossen. Ihre Anwendung ist damit seit Ende März 2009 auch in Deutschland verbindlich. In Artikel 19 dieser Konvention verpflichten sich die Vertragsstaaten „wirksame und geeignete Maßnahmen [zu treffen], um behinderten Menschen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Teilhabe und Teilnahme an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie insbesondere dafür sorgen, dass a. behinderte Menschen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Wohnsitz zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben; b. behinderte Menschen Zugang zu einer Reihe von häuslichen, institutionellen und anderen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in und der Teilhabe an der Gemeinschaft sowie zur Verhütung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist“ (Art. 19).
Dass die Realisierung der hier formulierten Ziele prinzipiell möglich ist, zeigen neben den schon genannten Beispielen aus Deutschland auch Erfahrungen aus dem Ausland, zum Beispiel Schweden. Dort wurden seit Ende der 1960er Jahre konsequent gemeindenahe Infrastrukturen für Behinderte geschaffen. 1994 trat außerdem ein einkommens- und vermögensunabhängiges Assistenzgesetz in Kraft, das Behinderten die Unterstützung gewährt,
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die sie benötigen.368 Die Philosophie dieser Behindertenpolitik charakterisiert der ehemalige Leiter des Büros für Behindertenfragen im schwedischen Reichsamt für Gesundheit und Wohlfahrt Karl Grunewald (2003: 88 f.): „Menschenrechte sind nur dann menschlich, wenn sie für alle gelten. Die Anstalten stellen heute einen letzten Rest an kollektiven und vergangenen Ideologien dar, welche der Gesellschaft die Macht und das Recht gaben, gewisse Menschen auszusortieren und deren Freiheit, Einfluss und Lebensbedingungen zu begrenzen. Es hat sich erwiesen, dass keine Person mit Beeinträchtigung in einer Anstalt wohnen muss, wie groß die ursprüngliche Schädigung auch immer sein mag.“
Die Ergebnisse dieser Politik lassen sich auch in Zahlen angeben. Von 1968 bis 1999 sank in Schweden die Zahl der in Heimen lebenden Behinderten von 14 000 auf 440.369 Seit dem Jahr 2000 ist die stationäre Unterbringung Behinderter in Schweden gesetzlich verboten. Die Konsequenzen: „Verhaltensstörungen haben sich verringert oder sind verschwunden in einem Ausmaß, das niemand voraussehen konnte. Vorurteile sind gegenstandslos geworden, die Solidarität mit Personen mit Lernschwierigkeiten hat sich erweitert und die humanistischen Kräfte in der Gesellschaft wurden gestärkt. Irgendwelche Nachteile mit gemeindenahem Wohnen haben sich nicht gezeigt. Darüber hinaus ist es auf Grund der guten Resultate auch ökonomisch vorteilhafter“ (a. a. O.: 89).
In Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention anerkennen „die Vertragstaaten 1.
2.
(…) das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem370 auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen (…) Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass (…) b. Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen371, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben; c. Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern; d. in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration372 wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden“ (Bundestagsdrucksache 16/10808: 23 f.).
Wenn die Bundesregierung in ihrer dem Gesetzentwurf zur Ratifizierung der UNOKonvention beigefügten Denkschrift davon ausgeht, dass
368 Einziger, allerdings nicht zu vernachlässigender Wermutstropfen: Der Unterstützungsbedarf muss vor Vollendung des 65. Lebensjahres eingetreten sein. 369 Schweden hat ca. 9 Millionen Einwohner. 370 Im Original: inclusive education. 371 Im Original: inclusive. 372 Im Original: inclusion.
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„die vorhandene Vielfalt der Organisationsformen und der Vorgehensweisen in der pädagogischen Förderung, die Pluralität der Förderorte, die Erfahrungen mit gemeinsamem Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder, (…) heute vielfältige Übereinstimmungen [mit der Konvention] erkennen [lasse und all dies als] Kennzeichen für eine eher personenbezogene, individualisierende und nicht mehr vorrangig institutionsbezogene Sichtweise sonderpädagogischer Förderung und integrativer Bildung“ (a. a. O.: 58)
wertet, so verkennt sie damit zum einen die Realität in den deutschen Bundesländern, in denen 2008 von den bundesweit 482 415 Schülerinnen und Schülern mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf 393 491 (81,6 %) die Sonderschule und nur 88 924 (18,4 %) eine Regelschule besuchten (KMK 2008: 5),373 und zum anderen die Absicht der Konvention, deren Forderung nach „inclusive education“ gerade auch auf die institutionelle Nichtaussonderung abhebt. Das scheint gut zwei Jahre nach Inkrafttreten der UNKonvention auch die KMK erkannt zu haben. Deren Präsident kündigte am 21. Juni 2010 anlässlich der Eröffnung einer zweitägigen Fachtagung der KMK zur Umsetzung der Konvention in Bremen entsprechende Umsetzungsempfehlungen der KMK an und erklärte: „Das Miteinander von behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern muss in Zukunft in Deutschland zum selbstverständlichen schulischen Alltag werden. Dies ist für mich Anspruch und Verpflichtung zugleich. Die Umsetzung des Übereinkommens ist ein ambitioniertes Ziel, welches in allen Ländern enormer Anstrengungen bedarf“ (Presseerklärung der KMK vom 21. Juni 2010)
und keineswegs, wie die Bundesregierung behauptet hat, bereits gängiger Praxis entspricht. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Die Umsetzung der Konvention macht, wenn sie nicht ein bloßer Papiertiger bleiben soll, in der Tat einschneidende Veränderungen im gesamten Schulsystem erforderlich. Die verbreitete und in ihrer Grundintention durchaus zutreffende Kritik an der Sonderpädagogik als aussondernde Pädagogik greift nämlich insofern zu kurz, als Aussonderung ja nicht durch die Sonderpädagogik und ihre Institutionen stattfindet. Aussonderung findet im allgemeinen Schulsystem statt. Sonderpädagogische Institutionen und die sonderpädagogische Profession sind an diesem Vorgang ja nur insofern beteiligt, als sie den sozialen Ausschluss aus der allgemeinen Schule überwiegend durch institutionellen Einschluss in die Sondereinrichtungen beantworten, wodurch der Ausschluss zugleich fachlich legitimiert ist. „Inclusive education“, wie sie die UNKonvention nun auch für die Bundesrepublik verbindlich vorschreibt, setzt die Aufhebung ausgrenzender Bedingungen im allgemeinen Bildungssystem, welche insbesondere in seiner Fünfgliedrigkeit begründet liegen, voraus in Richtung einer Schule für alle Kinder und Jugendliche eines regionalen Einzugsgebietes und einer dieser entsprechenden allgemeinen Pädagogik, „in der • alle Kinder und Schüler • in Kooperation miteinander • auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau • nach Maßgabe ihrer momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen 373 Nur am Rande sei erwähnt, dass diese sogenannten Einzelintegrationen in vielen Fällen so ausgestaltet sind, dass sie keineswegs als „inclusive education“, sondern eher als pädagogische Sonderbehandlung in der Regelschule zu charakterisieren sind.
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in Orientierung auf die ‚nächste Zone ihrer Entwicklung’ an und mit einem ‚gemeinsamen Gegenstand’ spielen, lernen und arbeiten“ (Feuser 1995: 173 f.).
Ansätze für eine solche Pädagogik und ihrer didaktischen Operationalisierung liegen z. B. in dem von Georg Feuser (1989) entwickelten Entwurf einer kindzentrierten, basalen und allgemeinen Pädagogik und entwicklungslogischen Didaktik längst vor. Sie sind in Modellversuchen seit Jahren mehrfach und mit anerkanntem Erfolg für alle Beteiligten erprobt worden (vgl. Feuser & Meyer 1987). Es kommt nun darauf an, sie flächendeckend umzusetzen.
VII Schlusswort: Allen Opfern ein bleibendes Andenken bewahren
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VII Schlusswort: Allen Opfern ein bleibendes Andenken bewahren
Der Abschluss dieses Bandes sei den Opfern gewidmet, also denjenigen Menschen, die von ihren Zeitgenossen als vermeintlich andersartig wahrgenommen, von zeitgenössischen Wissenschaftlern, seltener von Wissenschaftlerinnen, so diagnostiziert und entsprechend behandelt wurden und werden. Das Andenken an diese Opfer wach zu halten, ist nicht nur von historischer, sondern auch von aktueller Bedeutung, denn auch in Deutschland leben, wie gezeigt, immer noch zahlreiche Menschen, denen wegen ihres Anders-Seins bis heute elementare Lebensmöglichkeiten vorenthalten werden, die wir als selbstverständliche Grund- und Menschenrechte in Anspruch nehmen. Für manche Opfergruppen gibt es heute Gedenkstätten und andere Formen des Gedenkens. Anderen hingegen wird bis heute noch nicht das Andenken zuteil, das sie verdient hätten. Dazu gehören neben bestimmten Verfolgten des Holocausts in Deutschland wie Sinti, Roma, Homosexuellen oder sogenannten Asozialen und neben den Opfern der imperialistischen Unterwerfung nicht-europäischer Kontinente, deren Nachfahren heute vielfach immer noch am Rande der ihnen aufoktroyierten Gesellschaften, zum Teil in Reservaten, leben müssen, insbesondere die Opfer der Hexenverfolgung. Es herrscht darüber in der Öffentlichkeit, auch in der Fachöffentlichkeit, ein erschreckend geringes Bewusstsein, obwohl sie „in Deutschland die nach der Judenverfolgung größte nicht kriegsbedingte Massentötung von Menschen durch Menschen bewirkt (haben)“ (Wolf 1995: 20) und z. B. von Wolf (ebd.) oder Wisselinck (1995: 8) als erster europäischer Holocaust bezeichnet werden. Dennoch wird in einschlägigen historischen Standardwerken die Inquisition meist allenfalls mit einer Fußnote abgetan. Dazu kommt: Bis heute ist es üblich, die in den Jahren 1812 bis 1822 von den Sprachwissenschaftlern Jacob und Wilhelm Grimm in drei Bänden zusammengetragenen Hausmärchen, von denen nicht wenige vom Denken aus der Zeit der Hexenverfolgung geprägt sind,374 kleinen Kindern schon in den ersten Lebensjahren als Bettlektüre vorzulesen. Seit Generationen werden Kinder von ihren Eltern, im Kindergarten oder in der Schule darüber in Kenntnis gesetzt, „daß Hexen (…) Kinder zu zerreißen und zu verschlingen pflegen“ (Kramer 1487: 286 f.), sie zuweilen auch kochen und anschließend verspeisen (a. a. O.: 375). Zwar erfahren sie das in aller Regel nicht aus dem Hexenhammer, sondern aus dem allseits beliebten Märchen „Hänsel und Gretel“, in dem genau das Gleiche steht:
374 Hier soll weder das großartige kulturhistorische Verdienst der Brüder Grimm bestritten werden, die Überlieferungen der Nachwelt zu erhalten, noch wollen wir uns mit diesen Hinweisen an der Diskussion über die Bedeutung von Märchen für die kindliche Entwicklung beteiligen (vgl. Bettelheim 1977). Wir kritisieren allein die grenzenlose Verharmlosung des Hexen-Holocausts im praktischen Umgang mit diesen Überlieferungen.
E. Rohrmann, Mythen und Realitäten des Anders-Seins, DOI 10.1007/978-3-531-93239-2_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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„Die Alte375 hatte sich nur freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den Kindern auflauerte, und hatte das Brothäuslein bloß gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag. Die Hexen haben rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung wie die Tiere und merken’s, wenn Menschen herankommen“ (Grimm & Grimm 1857: 83). „Die Alte (…) steckte den Kopf in den Backofen. Da gab ihr Gretel einen Stoß, daß sie weit hineinfuhr, machte die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor. Hu! Da fing sie an zu heulen, ganz grauselich; aber Gretel lief fort, und die gottlose Hexe mußte elendiglich verbrennen. Gretel aber lief schnurstracks zum Hänsel, öffnete sein Ställchen und rief: ‚Hänsel, wir sind erlöst, die alte Hexe ist tot’“ (a. a. O.: 84).
Unmissverständlich lernen die lieben Kleinen, auch da orientiert sich das Märchen ganz am Hexenhammer, was denn der richtige Umgang mit einer Hexe ist: elendiglich verbrennen. Und die Moral von der Geschicht’? „Wie haben sie sich gefreut und sind sich um den Hals gefallen“ (ebd.). Wie vor 300 Jahren, so sollen auch heute noch unsere Kinder lernen, dass die adäquate Praxis im Umgang mit Hexen deren Verbrennung ist, und sich fröhlich an der Hexenverbrennung ergötzen. Ob sie sich in 250 Jahren an ähnlichen Erzählungen über die Vergasung von Juden, Andersdenkenden und Menschen, die ihren Zeitgenossen asozial, psychisch krank oder behindert vorkamen, ebenso delektieren werden? Nichts anderes widerfährt jedenfalls den früher als Hexen verfolgten Menschen tagtäglich, wenn das Märchen „Hänsel und Gretel“ in Kindergärten und Schulen aufgeführt wird und das ganze Publikum begeistert klatscht, wenn die Hexe in den Ofen geschoben wird. Ein weiteres Beispiel für die Verharmlosung der Hexen-Inquisition: Unter der Überschrift „Guildo hat alle lieb, doch die freche Hexe wird verbrannt“, berichtet die Oberhessische Presse vom 8. Juni 1998 ganzseitig über die jährlich am Wochenende nach Pfingsten stattfindende Trinitatis-Kirmes in Neustadt376. Höhepunkt ist immer ein Festumzug, der 1998 laut Pressebericht 50 Zugnummern umfasste: „Von der Augsburger Puppenkiste über die Sesamstraße, aussterbende Hasen, die Hexenverbrennung und Marsmenschen bis zum selbsternannten Schlager-‚Meister’ Guildo Horn reichen die Beiträge.“ Eines der Fotos zum Bericht zeigt eine junge Frau in langem weißen Gewand an einen Pfahl gebunden, um den herum Brennholz geschichtet ist. Ihr gegenüber steht mit einem ihn überragenden Stab in der Hand eine dunkel gekleidete Gestalt, deren Gesicht mit einer großen, lediglich mit Sehschlitzen versehenen Kapuze verhüllt ist. Bildunterschrift: „Auf dem Scheiterhaufen bittet die ‚Hexe’ um Gnade, doch der Henker bleibt hart und führt seinen Befehl aus.“ Das und noch mehr berichtet auch der dazugehörige Zeitungsartikel: „Keine Gnade kannte der Scharfrichter mit einer Hexe, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte – eine schöne Idee der Kolpingfamilie.“
Noch 1998 inszenierte also eine Organisation der katholischen Kirche, von der man seit mehreren hundert Jahren vergeblich wenn schon nicht auf eine Wiedergutmachung, so doch
375 Wörtlich: „Eine steinalte Frau, die sich auf eine Krücke stützte“ (Grimm & Grimm 1837: 83). Auch hier zeigt sich der enge Zusammenhang, zwischen Alter, Gebrechlichkeit und Hexeneigenschaft. 376 Das ist eine Stadt mit ca. 7 000 Einwohnern am Ostrand des Landkreises Marburg-Biedenkopf.
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wenigstens auf eine Entschuldigung wartet,377 ungeniert eine Hexenverbrennung zur allgemeinen Volksbelustigung als Happening auf einer Kirmes. Die Verharmlosung der Inquisition durch den organisierten Katholizismus lässt sich bis zu den höchsten Würdenträgern aufzeigen. Drei Wochen vor der soeben dokumentierten Verhöhnung der Opfer der Hexen-Inquisition beantwortete Joseph Kardinal Ratzinger in einem Interview mit August Everding, das am 16. April 1998 in der Sendung „( forum“ vom Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wurde, die Frage, wie er darauf reagiere, in seiner damaligen Funktion als Präfekt der früheren, zwischenzeitlich umbenannten heiligen römischen Inquisition zuweilen als Großinquisitor bezeichnet zu werden, wie folgt: „‚Großinquisitor’ ist eine historische Einordnung. Irgendwo stehen wir in der Kontinuität, aber wir versuchen auch, das, was nach damaligen Methoden zum Teil kritisierbar wurde, jetzt aus unserem Rechtsbewußtsein heraus zu tun. Aber man muß doch sagen, daß Inquisition der Fortschritt war, daß nichts mehr ohne ‚Inquisitio’ verurteilt werden durfte, das heißt, daß Untersuchungen stattfinden mußten. Ein Rechtsbewußtsein steckte auch darin“ (zit. nach dem Sendemanuskript, online abrufbar unter: www.br-online.de/download/pdf/alpha/r/ratzinger_2.pdf, Zugriff 09. September 2010).
Ratzingers Aussage ist nicht einfach nur falsch. Mit Einführung der Inquisition waren tatsächlich auch verfahrensrechtliche Veränderungen, nicht nur kirchlicher, sondern auch weltlicher Gerichtsprozesse verbunden. Während frühere, nach dem sogenannten Akkusationsprinzip geführte Strafprozesse allein aufgrund der Anklage eines klageberechtigten Mannes378 zustande kamen,379 hatten die Gerichte im Inquisitionsprozess bei vorliegenden Verdachtsmomenten ex officio zu ermitteln und Anklage zu erheben. In beiden Verfahren kam es nur dann zur Verurteilung, wenn die Schuld der Angeklagten nachgewiesen wurde. Gelang dies nicht, drohte im Akkusationsverfahren dem Ankläger seinerseits eine Strafe. Anders als im Akkusationsprozess, bei dem neben dem Geständnis der Beschuldigten oder überführenden Indizien auch sogenannte Gottesurteile, wie Zweikämpfe, Feuer-, Wasserund andere Proben, als Beweismittel eingesetzt wurden, waren diese im Inquisitionsprozess nicht zugelassen. Das war für sich genommen tatsächlich ein rechtshistorischer Fortschritt. Dieser wurde allerdings bekanntlich in der Praxis dadurch konterkariert, ja in sein genaues Gegenteil verkehrt, dass die im Inquisitionsprozess als Beweis unentbehrlichen Geständnisse fast durchweg unter Einsatz brutalster Foltermethoden erpresst wurden. Hier verharmlosend von „Untersuchungen“ zu reden, in denen ein „Rechtsbewusstsein“ stecke, erscheint als geradezu zynisch. Hier offenbart sich ein schwer bzw. nur unter kirchen- oder vielleicht genauer: machtpolitischem Kalkül nachvollziehbarer Mangel an Geschichts- und Verantwortungsbewusstsein des damaligen Präfekten der früheren Inquisitionsbehörde und heutigen Papstes und damit der Institution und ihrer Subinstitutionen, die er damals repräsentiert hat und heute repräsentiert, welcher sich allerdings wie ein roter Faden durch die Geschichte dieser Institution zieht.
377 Immerhin gibt es seit 2000 das offizielle Eingeständnis des Provinzkapitels der Dominikanerprovinz Teutonia, dass deutsche Dominikaner aktiv an der Inquisition beteiligt waren. Im Internet unter: http://www.dominikaner.de/geschichte/inquisition.htm (Zugriff: 10.09.2010). 378 Frauen, Juden, „Heiden“ oder auch Männer, die von dem Beklagten abhängig waren, waren nicht klageberechtigt. 379 So, wie Zivilprozesse heute noch, allerdings ohne die in vorstehender Fußnote vermerkten Einschränkungen.
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Die angeführten Bibelzitate sind an den entsprechenden Textstellen in der üblichen Zitierweise belegt. Wenn dort nichts anderes vermerkt ist, wurde die in gemeinsamem Auftrag der katholischen Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich und des Bischofs von Bozen-Brixen heraus- und für das Neue Testament und die Psalmen auch vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Evangelischen Bibelwerkes in Deutschland in Auftrag gegebene Einheitsübersetzung zugrunde gelegt (Lizenzausgabe für den Herder-Verlag Freiburg 2005). Für folgende Texte werden diese Abkürzungen verwendet: Civ. Dei: Augustinus, Aurelius (um 420): De Civitate Dei. Vom Gottesstaat. 2 Bde. Zürich: Artemis 1955 KKK (2005): Katechismus der Katholischen Kirche. (2005). München: R. Oldenburg – Libreria Editrice Vaticana KKK-K (2005): Katechismus der Katholischen Kirche. Kompendium (2005). Übersetzung aus dem Italienischen im Auftrag der Deutschen Bischofkonferenz. München: Pattloch S. Th.: Thomas von Aquin (1266-1273): Summa theologica (Summe der Theologie). Zitiert wird, soweit verfügbar, aus der vollständigen, ungekürzten lateinisch-deutschen Ausgabe, Salzburg, Leipzig: Pustet 19XX, von der aber noch nicht alle Bände erschienen sind, ansonsten aus der dreibändigen Thomasausgabe, Stuttgart: Alfred Kröner 31985 Um das Auffinden der Belege auch mit anderen Ausgaben zu erleichtern, wurde im Text sowohl die in theologischen Texten übliche Zitierweise angewandt als auch die Seitenzahl der verwendeten Ausgabe angegeben. Bei historischen Texten wurde in den Belegstellen, um eine bessere historische Einordnung zu gewährleisten, nach Möglichkeit das Erscheinungsjahr der Erstveröffentlichung angegeben. Im Literaturverzeichnis wird zusätzlich das Erscheinungsjahr der Ausgaben, aus denen zitiert wird, angegeben. Ackerknecht, Erwin H. & Murken, Axel H. (71992): Geschichte der Medizin. Stuttgart: Ferdinand Enke Ackerknecht, Erwin H. (31985): Kurze Geschichte der Psychiatrie. Stuttgart: Ferdinand Enke Adelfels, Marie von (Pseudonym für Jakob Stern) (1884): Des Kindes Anstandsbuch. Stuttgart: Schwabacher’sche Verlags-Buchhandlung AG gegen Rassenkunde (Hrsg.) (1998): Deine Knochen – Deine Wirklichkeit. Texte gegen rassistische und sexistische Kontinuität in der Humanbiologie. Hamburg, Münster: Unrast Albertus Magnus (ca. 1260): Quaesiones super De animalibus. Liber XV, Quaestiones 1-9; 11. lat./deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Burkhard Mojsisch. In: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 3/1998: 146-185 Allenstein, Hendrik (1995): Leben auf eigene Gefahr. In: fib e. V. (Hrsg.): Leben auf eigene Gefahr. München: AG SPAK: 30-37 Altner, Günther (1981): Einleitung. In: Altner, Günther (Hrsg.): Der Darwinismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Anstötz, Christoph (1988): Heilpädagogische Ethik auf der Basis des Präferenz-Utilitarismus. Rationale Grundlegung einer Pädagogik für Schwerstbehinderte im Rahmen einer Tier-Mensch-Ethik. In: Behindertenpädagogik 27. Jg.: 368-382 Anstötz, Christoph (1990): Ethik und Behinderung. Ein Beitrag zur Ethik der Sonderpädagogik aus empirischrationaler Perspektive. Berlin: Marhold Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe. Herausgegeben und übersetzt von Paul Gohlke. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1959 Ayaß, Wolfgang (1995): „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart: Klett-Cotta Augustinus von Hippo, Aurelius (um 400): Bekenntnisse. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Lateinischen von Joseph Bernhart. Frankfurt a. M.: Insel Taschenbuch 1987 Augustinus von Hippo, Aurelius (vermutlich 411/12): Predigten zum Weihnachtsfest (Sermones 184-196). Frankfurt a. M u. a.: Peter Lang Bach, Heinz (1966): Idee und Gestalt der Sonderschule für geistig behinderte Kinder. In: Bundesvereinigung „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e. V.“ (Hrsg.): Die schulische Förderung des geistig behinderten Kindes. Marburg: Selbstverlag: 9-19 Bach, Heinz (1974): Geistigbehinderte unter pädagogischem Aspekt. In: Deutscher Bildungsrat (Hrsg.): Gutachten
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