W. von Renteln-Kruse (Hrsg.)
Medizin des Alterns und des alten Menschen
W. von Renteln-Kruse (Hrsg.)
Medizin des Alterns und des alten Menschen Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage, mit 22 Abbildungen und 63 Tabellen
Prof. Dr. med. Wolfgang v. Renteln-Kruse Medizinisch Geriatrische Klinik Albertinen-Haus Zentrum für Geriatrie und Gerontologie Wiss. Einrichtung an der Universität Hamburg Sellhopsweg 18–22, 22459 Hamburg
ISBN 978-3-7985-1726-4 Steinkopff Verlag Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Steinkopff Verlag ein Unternehmen von Springer Science+Business Media www.steinkopff.com © Steinkopff Verlag 2004, 2009 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Reaktion: Dr. Annette Gasser Herstellung: Klemens Schwind Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg Umschlagphoto: Carina Markström, Stockholm Satz: K+V Fotosatz GmbH, Beerfelden SPIN 11902010
85/7231-5 4 3 2 1 0 – Gedruckt auf säurefreiem Papier
Statt einer Widmung
„Der Sinn, den die Menschen ihrer Existenz geben, ihr globales Wertsystem: Das ist es, was Sinn und Wert des Alters bestimmt. Umgekehrt: Durch die Art, wie sich eine Gesellschaft gegenüber ihren Alten verhält, enthüllt sich unmissverständlich die Wahrheit – oft sorgsam verschleiert – über ihre Grundsätze und Ziele.“ S. de Beauvoir (1977) Das Alter. Reinbek bei Hamburg 1977 (französische Erstausgabe, Paris)
„Age is something that doesn’t matter, unless you are a cheese.“ B. Burke zit. 2002; Harkins K.: Social gerontology. In: Rai GS, Mulley G (eds) Elderly medicine – A training guide. Martin Dunitz, London
Geleitwort zur 1. Auflage
Zu Recht stellen wir uns die Frage, warum erst jetzt den medizinischen Fakultäten vorgeschrieben wird die „Medizin des Alterns und des alten Menschen“ in ihren Kanon aufzunehmen. Die Beziehung zwischen Alter und Krankheit ist keine neue Erkenntnis. Senectus ipsa est morbus galt schon im alten Rom. Einer der Begründer der modernen klinischen Medizin, Charcot, publizierte in Paris 1868 die „Leçons sur les maladies des vieillards et les maladies chroniques“. Der Begriff Geriatrie wurde von Nasher zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt und doch scheint erst unter dem Eindruck des demographischen Wandels an den medizinischen Fakultäten ein Umdenken einzusetzen. Nur allmählich werden Lehrstühle für Geriatrie und Gerontopsychiatrie geschaffen. Es ist wohl weniger die demographische Pression, die, obwohl nicht unerheblich, zu diesem Wandel führt. Vielmehr ist es ein subtiler Paradigmenwechsel in der klinischen Medizin selbst, der zu einem anderen Verständnis der Krankheiten und den möglichen therapeutischen Ansätzen führt. Die Erkenntnis, dass sich im Laufe des Alterns krankhafte Veränderungen einstellen, die nicht einfach dem „Zahn der Zeit“ zuzuschreiben sind, sondern Folgen bestimmter Voraussetzungen wie z. B. Übergewicht, Hypertonus, Hyperlipidämien und diese wiederum das Resultat genetischer Prädisposition, Ernährung, Lebensweise und Umweltfaktoren sind, hat zu einer neuen Sichtweise geführt. Gerade die Identifikation und wissenschaftliche Analyse dieser Krankheiten hat zum großen Fortschritt der Medizin beigetragen und die heutigen Grundlagen der evidenzbasierten Medizin gelegt. Die Operationalisierung dieses Prozesses ist am effektivsten, wenn eine Krankheit als einzige Störung bei einem Patienten auftritt. Dies ist typischerweise beim jüngeren Patienten der Fall. Indes, die Mehrzahl der Patienten ist heute betagt und leidet, wie Franke mit einer Untersuchung der Klientel der Würzburger Poliklinik zeigte, im Durchschnitt an vier bis fünf Krankheiten gleichzeitig, nicht selten sind es sieben und mehr. Die Multimorbidität und physiologischen Altersveränderungen führen dazu, dass die Symptome und Krank-
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Geleitwort zur 1. Auflage
heitsverläufe häufig atypisch sind, länger dauern und sich Krankheiten oft erst in fortgeschrittenem Stadium als unspezifisches Syndrom, z. B. als Delir, manifestieren. Dies erschwert die Vermittlung medizinischen Wissens und medizinischer Fertigkeiten und mag einen Teil des Widerstandes erklären, die heutige tägliche Realität des Krankseins im Alter fest in die Lehre einzubinden. Dabei eröffnen gerade geriatrische Patienten den heutigen Ärztinnen und Ärzten die Chance, in der Diagnostik nicht von Apparaten und Laborresultaten geführt zu werden, sondern durch sorgfältige Exploration von Anamnese, Informationen aus dem Umfeld, dem klinischen Befund und dem Bewerten von durch multidimensionales Assessment erhobenen Behinderungen im Alltagsleben, die Diagnosen in ihrer Bedeutung für den Patienten einzuschätzen und die relevanten Therapien festzulegen. Schon vor Jahren meinte der Berner Psychiater Klaesi in einer Rektoratsrede: „Die ärztliche Kunst beginnt dort wo die Behandelbarkeit einer Krankheit aufhört“. Auch diese Erfahrung gehört zur Geriatrie bei der Begleitung der Menschen durch chronisches Leiden und auf ihrem letzten Lebensabschnitt. Für die Studierenden ist es essentiell, schon früh mit den heutigen Anforderungen im Arztberuf vertraut zu werden und zu lernen, wie das Idealtypische einer Krankheit sich auch beim älteren Menschen mit seiner vielfältigen sozialen und medizinischen Biographie darstellt. Das Vertrautsein mit diesen Prozessen erlaubt erst der Ärztin und dem Arzt, den hilfesuchenden älteren Patienten im Ganzen und nicht nur ihrer Krankheit zu begegnen. Geriatrische Universitätsklinik, Basel im Mai 2004
Prof. Dr. med. emerit. Hannes B. Stähelin
Vorwort zur 2. Auflage
Die Autoren freuen sich, dass nunmehr die 2. Auflage dieser Einführung in die Geriatrie erscheinen kann. Das Konzept der 1. Auflage wurde beibehalten, denn es entspricht den Inhalten der europäischen Definition geriatrischer Medizin der Sektion Geriatrie der U.E.M.S. in der Fassung vom 3. 5. 2008. Darin wird die Notwendigkeit und die große Bedeutung der mehrdimensionalen Beurteilung und des interdisziplinären Arbeitens betont, um funktionale Kompetenz, Lebensqualität und Autonomie älterer Patienten zu verbessern oder zu erhalten. Der demographische Wandel führt zu erhöhtem Bedarf geriatrischer Diagnostik und Behandlung 1, geriatrische Syndrome erlangen – epidemiologisch betrachtet – die Häufigkeit wichtiger chronischer Erkrankungen 2, und es gibt Hinweise für die erforderliche Verstärkung geriatrischer Inhalte in der ärztlichen Ausbildung 3. Dazu soll dieses Buch auch weiterhin beitragen. Alle Kapitel wurden überarbeitet und z. T. mit neuen und zusätzlichen Referenzen versehen, die Struktur und die gesetzten Schwerpunkte jedoch nicht verändert. Die Autoren danken Lesern für ihre Anmerkungen und Studierenden für viele Fragen in Seminaren und Vorlesungen. Bei Frau Sabine Ibkendanz und Frau Dr. Annette Gasser vom Steinkopff Verlag bedanken sich die Autoren für die bewährt kompetente und ausgesprochen angenehme Zusammenarbeit. Hamburg, im März 2009 1
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Wolfgang von Renteln-Kruse für die Autoren
Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg) (2008) Demografischer Wandel in Deutschland Auswirkungen auf Krankenhausbehandlungen und Pflegebedürftige im Bund und in den Ländern. Statistisches Bundesamt Cigolle CT, Langa KM, Kabeto MU, Tian Z, Blaum CS (2007) Geriatric conditions and disability: The Health and Retirement Study. Ann Intern Med 147:156–164 Lübke N, Ziegert S, Meinck M (2008) Geriatrie. Erheblicher Nachholbedarf in der Weiter- und Fortbildung. Dtsch Ärztebl 105(21):A1120– 1122
Vorwort zur 1. Auflage
Mit Inkrafttreten der reformierten Approbationsordnung für Ärzte besteht für die medizinischen Fakultäten der Universitäten erstmals die Verpflichtung, Lehrinhalte des Querschnittsbereichs „Medizin des Alterns und des alten Menschen“ im Medizinstudium anzubieten. Die Voraussetzungen hierfür sind sehr unterschiedlich, da es in Deutschland bislang nur in sehr wenigen Ausnahmen altersmedizinische Universitätsabteilungen gibt und nur wenige geriatrische Abteilungen bzw. Kliniken mit Universitäten formal assoziiert sind und zusammenarbeiten. Verbindliche und präzisierte Vorgaben für Lernziele existieren nicht. Unsere Einführung soll und wird umfassende Lehrbücher der Gerontologie, Geriatrie und Gerontopsychiatrie nicht ersetzen. Es ist keine Abhandlung von „Alterskrankheiten“ und erhebt auch nicht den Anspruch eines Vademekums für jeden Fall und sämtliche Besonderheiten von Erkrankungen im Alter. Der beabsichtigte Zweck ist hingegen, Merkmale und Bedürfnisse alt gewordener Patienten in den Mittelpunkt und an den Ausgangspunkt von Überlegungen zu ihrer medizinischen Versorgung zu stellen. In der Praxis ergeben sich bei alt gewordenen Patienten besonders häufig wiederkehrende klinische Herausforderungen. Diese sind übergreifend und unabhängig vom jeweiligen spezifischen, ambulanten oder stationären Behandlungsrahmen. Sie beruhen in der Regel nicht auf einzelnen Krankheiten, sondern haben den Charakter von Syndromen. Neben unabdingbaren differenzialdiagnostischen und -therapeutischen Erwägungen erfordern sie deshalb einen problemorientierten Arbeitsansatz. Die dafür erforderliche systematische Sicht und strukturierte Vorgehensweise ist der eigentliche Leitfaden dieses Buches. Die Autoren haben der Konzentration auf eine möglichst kompakte thematische Einführung wegen eine Auswahl treffen müssen. Diese Auswahl ist – vor dem Hintergrund klinischer Erfahrung – natürlich persönlich geprägt, orientiert sich jedoch am Studienziel der klinischen Ausbildung, der allgemeinen Arztreife. In diesem Zusammenhang danken wir unseren Kolle-
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Vorwort zur 1. Auflage
ginnen und Kollegen der anderen Fächer der Kurrikulum-Gruppe für den Ausbildungsblock V am Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf für intensive Gespräche und konstruktive Anregungen. Unser ausdrücklicher Dank gilt Herrn Dr. Thomas Thiekötter, Geschäftsführer des Steinkopff Verlags in Darmstadt, der die Idee zu diesem Buch mit Begeisterung aufgriff und damit an frühes, über 20 Jahre zurückliegendes Engagement seines Verlags 1 anknüpft. Frau Vera Herkommer, Medizinisch-Geriatrische Klinik, Albertinen-Haus in Hamburg, danken wir für ihre stets freundliche und tatkräftige Unterstützung beim Korrekturlesen und der Erstellung von Tabellen und Abbildungen, Herrn Tom Krause, Albertinen-Haus, für wertvolle Hinweise und Korrekturen. Frau Sabine Ibkendanz und Herrn Oliver Frohmeyer vom Steinkopff Verlag danken wir schließlich für die kompetente und ermunternde Zusammenarbeit, die in ausgesprochen kurzer Zeit die Fertigstellung des Buches überhaupt ermöglichte. Wir haben uns bemüht, aktuelle Informationen, Referenzen und Informationsquellen in den Text einzubringen und dabei, wo immer möglich, Ansprüche an Evidenz – verstanden als wissenschaftlich belegbare Aussagekraft – zu berücksichtigen. Zu bedenken ist jedoch, dass die Halbwertszeit des Wissens sich auch in der Altersheilkunde rasch weiter verkürzt, da Forschungsanstrengungen auf diesem Gebiet intensiver werden. Die systematische Vermittlung altersmedizinischer Inhalte im Medizinstudium steht jedoch am Anfang. Rückmeldungen sowohl von Lernenden als auch Lehrenden sind uns besonders wichtig. Wir erhoffen uns deshalb Kommentare, Anregungen und Vorschläge der Leser. Hamburg, im Mai 2004
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Wolfgang von Renteln-Kruse für die Autoren
Brocklehurst/Hanley/Martin: Geriatrie für Studenten. UTB Steinkopff, 1980
Inhaltsverzeichnis
z Teil I
Grundlagen und Methoden
1
Der alternde Mensch (J. Anders) . . . . . . . . . . . . . . . .
3
2
Die alternde Bevölkerung (W. v. Renteln-Kruse) . . . .
12
3
Erfolgreiches Altern durch Gesundheitsförderung und Prävention (U. Dapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
4
Geriatrische Methodik und Versorgungsstrukturen (W. v. Renteln-Kruse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
z Teil II 5
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40
Geriatrische Syndrome
Geriatrische Syndrome – eine diagnostische und therapeutische Herausforderung (W. v. Renteln-Kruse) . . . . . . . . . .
63
Iatrogene Störungen (W. v. Renteln-Kruse) . . . . . . . .
70
Mobilität im Alter und Immobilitätssyndrom (J. Anders) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
8
Sturz-Syndrom (P. Dieckmann) . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
9
Inkontinenz (P. Dieckmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
10
Demenzen (A. Rösler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
11
Verwirrtheitszustände und Delirien (A. Rösler) . . . . 140
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Inhaltsverzeichnis
Depression und Suizidalität im Alter (R. Lindner, A. Rösler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
13
Ernährung und Mangelernährung im höheren Lebensalter (J. Anders) . . . . . . . . . . . . . . 160
14
Flüssigkeitshaushalt und Exsikkose (P. Dieckmann) . . 173
z Teil III
Geriatrisches Management
15
Geriatrische Rehabilitation (W. v. Renteln-Kruse) . . . 185
16
Qualitätsmanagement (W. v. Renteln-Kruse) . . . . . . . 197
17
Pflegebedürftigkeit und Pflegeversicherung (W. v. Renteln-Kruse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
18
Medizin im Altenpflegeheim (W. v. Renteln-Kruse) . . 214
19
Lebensende und medizinische Versorgung (W. v. Renteln-Kruse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Auswahl von Screening- und Untersuchungsverfahren zur Beurteilung gesundheitlicher Probleme älterer Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Geriatrisches Screening . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Assessment der Aktivitäten des täglichen Lebens . . . . z Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens . . . . z Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Depressions-Screening . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Kognitives Screening . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Mini Nutritional Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Aspirationsskala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Sozialfragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . z Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
. . . . . . . . . . . . . .
241 241 243 247 248 250 251 255 256 265 267 267 270 272 273
Autorenverzeichnis
Dr. med. Jennifer Anders Dipl. geogr. Ulrike Dapp Dr. med. Petra Dieckmann * Priv.-Doz. Dr. med. Reinhard Lindner Prof. Dr. med. Wolfgang. v. Renteln-Kruse Priv.-Doz. Dr. med. Alexander Rösler Medizinisch Geriatrische Klinik Albertinen-Haus Zentrum für Geriatrie und Gerontologie Wiss. Einrichtung an der Universität Hamburg Sellhopsweg 18–22 22459 Hamburg
* Klinik für Geriatrische Rehabilitation „Maria Frieden“ Am Krankenhaus 1, 48291 Telgte
Teil I:
Grundlagen und Methoden
1 Der alternde Mensch
Bedeutung Vielfach wird höheres menschliches Lebensalter gleichgesetzt mit Krankheit und körperlichem Verfall. Diese Annahme trifft selten so eindeutig und ausschließlich zu. Deshalb ist es wichtig für jeden, der ältere Menschen medizinisch betreut, so genannte „normale“ (physiologische) Alterserscheinungen von Erkrankungen und Krankheitsfolgen zu unterscheiden [18].
Definition Der Begriff „alt“ geht zurück auf den indogermanischen Wortstamm „al-“= wachsen, reifen. Die damit verbundene positive Wertung steht der geläufigen Auffassung vom Altern als etwas Negativem entgegen. Das naturwissenschaftliche Verständnis beschreibt Altern wertfrei als eine der Zeit unterworfene Veränderung. Altern betrifft alle Lebewesen und beginnt mit der Entstehung eines Organismus [17]. Wie andere Reifungsprozesse auch, z. B. die Entwicklung eines Charakters, sind dabei gewisse Abläufe genetisch determiniert, andere aber von äußeren Einflüssen abhängig. Daher altern Menschen individuell in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Ausprägung [8]. Abhängig davon, ob innerhalb des Organismus aufbauende oder abbauende Prozesse dominieren, entsteht ein Gesamteindruck von Wachstum oder Verfall. Dabei gibt es keinen Stillstand, sondern einen kontinuierlichen Alterungsprozess. Im Folgenden wird kurz auf die heute bekannten Theorien zu endogenen und exogenen Einflüssen auf das menschliche Altern eingegangen.
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1 Der alternde Mensch
Genetische Determinanten Da menschliche Zellkulturen in vitro eine lange Lebensdauer zeigen, verneinte die Biologie des frühen 20. Jahrhunderts zunächst eine im Körper verankerte Determinante des Alterns. Doch mit neuen Erkenntnissen anhand verschiedener menschlicher Zellsysteme zeigte sich, dass Körperzellen eine begrenzte Anzahl von Teilungen durchlaufen. Diese Hayflick-Zahl ist für jede Spezies festgelegt und korreliert mit der maximalen Lebenserwartung der jeweiligen Art [14]. Der zugrunde liegende molekulare Mechanismus wird mit der Telomer-Theorie beschrieben. Telomere, die Endabschnitte menschlicher Chromosomen, verkürzen sich bei jeder Zellteilung ungleichmäßig. Stress wie Entzündungen oder Mangelernährung gehen mit einem beschleunigten Abbau von Telomeren einher [22]. Sind diese DNAAbschnitte gewissermaßen aufgebraucht, stirbt die Zelle. Die genetische Begrenzung des zellulären Lebens könnte einen Schutzmechanismus vor Krebserkrankungen darstellen (Programmtheorie) [12], denn Kennzeichen bösartiger Tumoren ist häufig unkontrolliertes Wachstum mit beliebig vielen Zellteilungen. Weitere Hinweise auf genetisch bestimmtes Altern über explizit dafür angelegte „Regulatorgene“ geben uns Erberkrankungen mit vorzeitigen Alterszeichen, wie die seltene Progeria infantilis, das WernerSyndrom oder die Trisomie 21 [23]. Bereits auf molekularer Ebene sind keinesfalls alle Abläufe des Alterns in unseren Erbanlagen festgeschrieben. Genetisches Alterungsprogramm und tatsächliche körperliche Alterung unterscheiden sich wie Genotyp und Phänotyp eines Individuums. Äußere Einflüsse wie Genuss- und Umweltgifte oder Strahlung beschleunigen das Altern, sobald körpereigene Reparaturund Schutzmechanismen versagen oder überfordert werden (Reparaturund Fehlertheorien) oder epigenetische Strukturen blockieren [11]. Die Eigenschaft von Vitaminen in vitro, als Antioxidanzien freie Radikale abzufangen, führte zu der Hoffnung, durch eine erhöhte Zufuhr von Vitaminen die Zellalterung verlangsamen zu können (Radikaltheorie) [15]. Doch bisher stehen In-vivo-Beweise für eine gezielte Verlangsamung sowohl genetischer als auch zytogener Alterungsprozesse aus. Im Gegenteil – hochdosierte Vitamingaben (z. B. Carotinoide) gehen sogar mit einem erhöhten Krankheitsrisiko einher. Solange die intra- und interzellulären Regulationsmechanismen des Alterns nicht genau verstanden werden, birgt jede versuchte Modifikation von außen auch ungeahnte Risiken. Darüber hinaus ergeben Untersuchungen an alternden Organismen, dass Zellen nicht isoliert, sondern stets als Gewebeverband und Organsystem betrachtet werden sollten. Die Organsysteme des Menschen reifen, altern und involieren nicht synchron, sondern in aufeinander folgenden Zeitfenstern mit erheblichen interindividuellen Unterschieden [20]. So bildet sich die Thymusdrüse schon kurz nach der Pubertät zurück, während die Herzleistung aufgrund kompensatorischer Mechanismen (z. B. Herzwandverdickung bei Abnahme der Herzschlagfrequenz) im Laufe des Lebens oft
Soziokulturelle Einflüsse
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nur unwesentlich abnimmt – solange keine spezifische Erkrankung des Herzens vorliegt. Knochen nehmen an Umfang zu, verlieren aber an Dichte. Eine anhand der Knochendichte als krankhaft diagnostizierte Osteoporose gilt inzwischen als umstritten. Vielmehr scheint die weitaus geringer abnehmende Knochenmasse entscheidend für die Häufigkeit von pathologischen Frakturen als dem eigentlichen Krankheitswert [5, 25]. Die einzelnen Organsysteme kommunizieren über Reizleitungsbahnen und chemische Botenstoffe miteinander. Wenn alle Kompensationsmechanismen versagen, tritt ein Organversagen in mehreren Systemen und folgend der Tod des Organismus ein [21]. Die Beobachtungen von der Konzentrationsabnahme einiger Hormone mit zunehmendem Alter legte den Schluss nahe, durch ihre Substitution Jugend erhalten und das Altern aufhalten zu können [10]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt fehlen aber Erfahrungen zu altersbezogenen Normwerten und möglichen unerwünschten Wirkungen derartiger „Anti-Aging-Maßnahmen“. Die Besorgnis, hormonabhängige Tumoren wie das Mamma- oder Prostatakarzinom zu stimulieren, wächst aufgrund neuerer Langzeituntersuchungen zur „Hormon-Replacement-Therapie“ (HRT) mit Östrogenen nach Eintritt der Menopause [7].
Soziokulturelle Einflüsse Die Bezeichnung „Anti-Aging“ weist auf eine „Allotherapie“ des natürlichen Vorganges „Altern“ hin. Demgegenüber stehen soziologische und gerontologische Modelle, die Altern als eine besondere, einzigartige und damit auch positive Lebenserfahrung wertschätzen. Diese Fachrichtungen betrachten sowohl psychische (siehe folgender Abschnitt) als auch soziokulturelle Einflüsse auf das persönliche Altern. Angestrebt wird nicht eine Verhinderung des Alterns, sondern erfolgreiches, beschwerdefreies Altern. Unterstützt wird eine solche Betrachtungsweise durch Theorien, die den biologischen Sinn des Alterns als Ergebnis der menschlichen Evolution untersuchen. Die Natur gesteht, wie oben erläutert, den einzelnen Spezies höchst unterschiedliche Lebenserwartungen zu. Bei Wirbeltieren dominiert dabei die Gleichsetzung der Reproduktionsphase mit der Lebensspanne. Das bedeutet, dass unwesentliche Zeit nach der erfolgreichen Weiterleitung der Gene und damit Vermehrung der Art das Individuum stirbt. Doch sozial lebenden Arten – wie Elefanten oder Primaten – wird ein weitaus längeres Leben zugestanden. Ältere Tiere dienen der Art und ihrer Gruppe dann häufig durch die Weitergabe von gelernten Verhaltensweisen und Erfahrungen. Eine Theorie besagt nun, dass höhere, sozial lebende Arten – und allen voran der Mensch – nicht nur stofflich greifbare Informationen in Form der Gene, sondern auch ideelle Informationen und kulturelle Errungenschaften als so genannte Meme an die Nachkommen weitergeben:
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1 Der alternde Mensch
Abb. 1.1. Maximale menschliche Lebenserwartung und individuelle Lebenserwartung unter dem Einfluss von Genen und Memen
„A meme contains behavioral instructions that are passed from one generation to the next, social artifacts, and value-laden symbols that glue together social systems. Like an intellectual virus, a meme reproduces itself through concepts like dress styles, language trends, popular cultural norms, architectural designs, art forms, religious expressions, social movements, economic models, and moral statements of how living should be done“ [3]. Abbildung 1.1 gibt diese Zusammenhänge von maximaler menschlicher Lebenserwartung und individueller Lebenserwartung unter dem Einfluss von Genen und Memen schematisch wieder. Damit erhält das menschliche Altern einen hohen Stellenwert als besondere Anpassung, eine Lebensnotwendigkeit unserer Art wie das Lernen und Schaffen von Kulturen. Unterstützt wird diese These zum einen durch die Beobachtung, dass bei gesunden Individuen das Sprachverständnis, die kristalline Intelligenz und die Fähigkeit zu lernen (neuronale Plastizität) lebenslang erhalten bleiben, während die körperliche Leistungsfähigkeit stärkere „Einbußen“ verzeichnet [4, 24]. Zum anderen übernehmen in den meisten ursprünglichen Kulturen, den Naturvölkern, die Ältesten Funktionen als Lehrende oder Herrschende. Häufiger als von den biologischen Eltern werden Kinder dieser Völker von den Großeltern in handwerklichen und kulturellen Fähigkeiten sowie ethischen Normen unterwiesen. Damit verbunden ist eine hohe Wertschätzung und hervorragende soziale Integration älterer Menschen in vielen dieser Gesellschaften [9].
Psychologie des Alterns
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Psychologie des Alterns Jedes Individuum verfügt über unterschiedliche, teils angeborene und teils erworbene Strategien, sich mit dem persönlichen Reifen und Altern auseinanderzusetzen. Die theoretisch-gerontologische Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb hauptsächlich Verluste und Beeinträchtigungen durch das Altern als ein Defizitmodell. Diese Defizite würden zu einem Rückzug der Älteren aus dem Erwerbsleben und anderen sozialen Funktionen führen (Disengagement-Theorie): „The elderly disengage from productive social roles to reliquish these roles to younger members of society“ [13]. Im Gegensatz dazu stellen zahlreiche empirische Untersuchungen Altern als eine positive Herausforderung dar. Die Ausführungen in diesem Kapitel besagen, dass bereits Unterschiede in den Erbanlagen den Prozess des Alterns interindividuell unterschiedlich ablaufen lassen. Noch erheblich mehr exogene Variablen beeinflussen Geschwindigkeit und Art der menschlichen Alterung, so dass ältere und hochaltrige Menschen sich stärker voneinander unterscheiden als jüngere Individuen voneinander. Die Dritte Bundesberichterstattung zur Situation der älteren Generation spricht in diesem Zusammenhang von einer aktiven, selbstbewussten und vielschichtigen Bevölkerungsgruppe: „In unserer Bevölkerung gibt es kaum eine Altersgruppe, die so differenziert, so heterogen und so stark im Umbruch begriffen ist wie die der Älteren. Ältere Menschen verfügen über erstaunliche Kompetenzen zur Problembewältigung und vermögen mit Unterstützung durch geeignete Maßnahmen ein hohes Maß an Autonomie, an Lebensqualität und an Lebenszufriedenheit zu bewahren oder zurückzugewinnen. Geeignete Ressourcen im sachlichen und personellen Umfeld gilt es optimal zu erschließen. In diesem Sinne sollte Alter auch als Chance begriffen werden“ [6]. Das „Kompetenzmodell“ beschäftigt sich mit der individuellen Fähigkeit, das eigene Altern aktiv zu bewältigen (Aktivitätstheorie). Altern wird dabei nicht als allmähliche „Auflösung“ verstanden, sondern als zunehmende Erweiterung und Ausdifferenzierung einer Person. Dies setzt die erfolgreiche Integration von Erfahrungen voraus. Ziel ist „erfolgreiches“ Altern, wobei sich Erfolg an persönlichen Werten und Zielen, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit im Alter sowie persönlicher Lebenszufriedenheit misst. Persönliche Kompetenz drückt sich aus im verfügbaren Handlungspotenzial trotz eventueller körperlicher Einschränkungen. Berücksichtigt werden die biologische, sensomotorische und kognitive Leistung. Kürzer formuliert gilt, dass weniger Kompetente (Ältere) von der Umgebung kontrolliert werden, während Kompetente (Ältere) ihre Umgebung kontrollieren [16]. Dem Alterungsprozess als Reifung liegt eine Entwicklungsdynamik zugrunde,
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1 Der alternde Mensch
Tabelle 1.1. Alter unter der Perspektive von möglichen Gewinnen und Verlusten. (Eigene Zusammenstellung nach Baltes [2]) Gewinnchancen im Alter
Verlustrisiken im Alter
z z z z z z
z z z z z z
Anpassung Kompensation Neue Verhaltensmerkmale Soziokulturelle Fortschritte Nutzung technischer Fortschritte Lebenspraktische Intelligenz
Fähigkeitseinschränkungen Verluste im sozialen Netz Krankheit Einschränkung von Perspektiven Verlust von Ansehen Behinderung der sozialen Teilhabe
die eine Minimierung von Verlusten und Maximierung von Gewinnen anstrebt. In Tabelle 1.1 sind mögliche Verluste und Gewinne beispielhaft aufgeführt [2]. Menschen haben dabei unterschiedliche Möglichkeiten, sich an physiologische und pathologische Veränderungen im Alter anzupassen. Beobachtet werden Verhaltensweisen, die sich unter den Begriffen Selektion, Optimierung und Kompensation zusammenführen lassen. z Selektion bezieht sich auf die Auswahl, Eingrenzung und Veränderung von Zielen und Verhaltensbereichen, z Optimierung meint die Stärkung und Nutzung vorhandener zielrelevanter Handlungsmittel und Ressourcen, und z Kompensation zielt auf die Schaffung, das Training und die Nutzung neuer Handlungsmittel, um Beeinträchtigungen auszugleichen oder entgegenzuwirken. Der gelungene Einsatz dieser drei Strategien setzt innere Bereitschaft und Flexibilität, eine fördernde Umwelt sowie gute Abstimmung voraus.
Erfolgreiches Altern als persönliche und medizinische Herausforderung Altern beinhaltet also gleichzeitig in vielen Bereichen die Chance auf Entwicklung (Plastizität im weiteren Sinne), in anderen Bereichen die Gefahr von Verlusten (multidimensional) und verläuft daher immer individuell und nicht gleichsinnig, sondern multidirektional. Anders ausgedrückt, bedeutet dies, dass auch ältere Menschen sich positiv entwickeln können. Dies gilt trotz oder aufgrund eintretender Verluste körperlicher oder psychosozialer Art, wenn beizeiten eigene Reserven in diesen Bereichen gestärkt und genutzt werden [1]. Im Englischen heißt es dazu prägnant: „Use
Erfolgreiches Altern als persönliche und medizinische Herausforderung
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Tabelle 1.2. Begriffsbestimmung: Endpunkte erfolgreichen und krankhaften Alterns. (Eigene Zusammenstellung frei nach Shay et al. [23]) Pathologisches Altern
z Auftreten von Krankheiten und alltagsrelevanten Funktionseinschränkungen mit Einbuße an Autonomie, Lebensqualität und/oder Verkürzung der individuellen Lebensspanne
Normales Altern
z Erreichen der durchschnittlich in der Bevölkerung erreichbaren Lebensspanne mit geringen, kompensierten Einbußen in somatischen und psychischen Funktionen
Optimales Altern
z Erreichen der durchschnittlich in der Bevölkerung erreichbaren Lebensspanne mit weit reichender Autonomie, Wohlbefinden und dem Erreichen von persönlichen Lebenszielen
it or lose it“. Praktische Beispiele für die Nutzung und den Ausbau körperlicher, mentaler und psychosozialer Reserven im Alter gibt das Kapitel 3 zur Gesundheitsförderung und Prävention. Die Geriatrie (Altersmedizin) unterstützt ältere Menschen professionell und gezielt, um zumindest pathologisches Altern zu verhindern. Tabelle 1.2 stellt mögliche Endpunkte des persönlichen Alterns einander gegenüber. Die Begleitung älterer Menschen stellt professionelle Dienstleister vor besondere Herausforderungen, weil individuelle Ziele, Kompetenzen und Einschränkungen in mehreren Bereichen zu berücksichtigen sind. Dies gelingt effektiver in Systemen oder Einrichtungen, die unterschiedliches Expertenwissen in interdisziplinären Arbeitstechniken anbieten. Allgemein verbindliche Strategien zur Problembewältigung im Alter sind zurückhaltend zu formulieren, da nicht nur interindividuelle Unterschiede auftreten, sondern auch so genannte Kohorteneffekte. Durch die weitere Ausdehnung der Lebensdauer zählen zu den „älteren Menschen“ in Deutschland derzeit fast drei Generationen. Diese sind biographisch und kulturell unterschiedlich geprägt. Ältere Patienten werden in extrem unterschiedlichen Kontextsituatutionen angetroffen, nämlich als selbständig lebende Ältere im Rahmen der Gesundheitsvorsorge, kurzzeitig als akut Erkrankte oder längerfristig in Pflegeeinrichtungen. Dies eröffnet geriatrisch tätigen Ärzten ein breit angelegtes, interessantes Arbeitsfeld. Die Geriatrie hat Methoden entwickelt, diese unterschiedlichen Voraussetzungen in Diagnostik und Behandlungsplanung zu berücksichtigen (siehe Kap. 4). Geriatrie findet im Spannungsfeld zwischen normaler und pathologischer Alterung statt. Charakteristisch sind Wechselwirkungen zwischen akuten und chronischen Erkrankungen sowie Krankheitsfolgen. Da Heilung bei chronischen Erkrankungen nicht möglich ist, sind die Behandlung und Kompensation von Krankheitsfolgen ein besonderes Anliegen der Altersmedizin. Die wechselseitige Verschränkung dieser Ebenen des Krankheitsprozesses lässt sich dabei nicht unbedingt als zeitlich lineares Geschehen begreifen, so dass in der Altersmedizin eine strikte Trennung in Akutmedizin
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1 Der alternde Mensch
und Rehabilitation nur selten sinnvoll erscheint [19]. So wie das Verständnis von Krankheit um psychosoziale Komponenten erweitert wurde, gilt auch ein erweitertes Verständnis von Gesundheit. Gesundheit geht über die bloße Abwesenheit von Krankheit hinaus (siehe Kap. 2) und ist zu verstehen als eine wesentliche Voraussetzung für ein Altern in Zufriedenheit. Geriatrische Behandlung minimiert und kompensiert funktionelle Beeinträchtigungen mit den Zielen der persönlichen Autonomie im Alltag und der sozialen Reintegration. Eine Förderung oder Wiederherstellung von Gesundheit ist theoretisch auf allen Ebenen des Geschehens möglich. z Fazit. Zufriedenes Altern ist trotz bestehender Erkrankungen möglich, wenn funktionelle Integrität und gesellschaftliche Integration gefördert werden.
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2 Die alternde Bevölkerung
Demographische Alterung Mit dem Begriff „demographische Alterung“ wird die Zunahme des Durchschnittsalters einer Bevölkerung bezeichnet. Zur Beschreibung dieser „Alterung“ werden folgende statistische Indikatoren herangezogen: z die Lebenserwartung bei Geburt bzw. die fernere Lebenserwartung in einem bestimmten Lebensalter, z das Medianalter (Teilung der Bevölkerung in 2 Hälften, von denen die eine das Alter unter- und die andere das Alter überschreitet), z das erwartete Medianalter einer fiktiven Gruppe von z. B. 100 000 Neugeborenen, das mit der geltenden, in der Sterbetafel festgehaltenen Sterbewahrscheinlichkeit ermittelt wird (Medianalter der Sterbetafelbevölkerung), z der Altenquotient der Bevölkerung (Zahl der 60-Jährigen und Älteren auf 100 Menschen im Alter von 20 bis unter 60 Jahren), z die Prozentanteile der Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung, z. B. der Anteil der unter 20-Jährigen, der 20- bis unter 60-Jährigen und der über 60-jährigen Menschen, z die Zahl und der Anteil der Betagten und Hochbetagten (meist als 80-Jährige und Ältere definiert) bzw. die Zahl der 100-Jährigen und Älteren („Centenarians“) bzw. der über 105-Jährigen („Super-Centenarians“) [1]. Die Altersstrukturveränderungen unserer Gesellschaft sind durch folgende Prozesse gekennzeichnet: Etwa seit Ende der 1960er Jahre ist ein starker Rückgang der Geburtenrate auf ca. 1,4 Lebendgeborene pro Frau und der absoluten Geburtenzahl zu verzeichnen (Fertilitätsprozess). Der hohe Zugewinn an Lebenserwartung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beruhte auf dem Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit, während der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts jedoch vor allem auf der Abnahme der Mortalität im höheren Lebensalter (Mortalitätsprozess). In Deutschland betrug 1997/98 die Lebenserwartung eines Jungen bei Geburt 74,44 Jahre, die eines Mädchens 80,57 Jahre. 2002/2004 betrug die mittlere Lebenserwartung 81,6 Jahre für Frauen und 76 Jahre für Männer. Die Geschlechterdifferenz hat sich seit 1990 damit von 6,5 auf 5,6 Jahre ver-
Demographische Alterung
z
Tabelle 2.1. Lebenserwartung bei Geburt (in Jahren) in den deutschen Bundesländern [11]
z z z z z z z z z z z z z z z z
Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen
Mädchen
Jungen
82,56 81,92 81,19 81,11 81,03 81,44 81,82 80,83 81,51 81,16 81,28 80,35 81,87 80,78 81,42 81,01
77,40 76,47 75,69 74,60 74,73 76,18 76,43 73,84 75,75 75,64 75,88 74,81 75,43 74,02 76,02 74,77
ringert [11]. Die fernere Lebenserwartung im Alter von 80 Jahren stieg in Deutschland im Zeitraum von 1949/51 bis 1997/98 für Männer um 31,9% auf 6,91 Jahre und für Frauen um 50,3% auf 8,37 Jahre! Gleichwohl zeigt Tabelle 2.1, dass innerhalb Deutschlands bemerkenswerte Unterschiede bezüglich der Lebenserwartung bei Geburt bestehen. Warum Frauen länger leben als Männer, ist letztlich nicht geklärt [6]. Erklärungsansätze für die geschlechtsspezifischen Mortalitätsdifferenzen lassen sich in biologische sowie verhaltens- und umweltorientierte Erklärungen unterteilen. Erstere gehen davon aus, dass Frauen aufgrund biologischer bzw. genetischer Faktoren resistenter sind als Männer. Letztere nimmt dagegen an, dass Männer sich weniger gesundheitsbewusst verhalten und mehr umweltspezifischen Risiken ausgesetzt sind. Zu den Diagnosegruppen mit besonders hoher Übersterblichkeit der Männder gehören: z psyschische und Verhaltensstörungen, unter die auch der Gebrauch psychotroper Substanzen gehört; z Verletzungen und Vergiftungen, einschließlich Unfälle und Suizide; z Krankheiten des Atmungssystems. Die Übersterblichkeit bei Krankheiten des Verdauungssytems und Krebs wird vor allem durch chronische Leberschäden und Lungenkrebs verursacht. Durch einwandernde Menschen verjüngt sich die Altersstruktur kurz- bis mittelfristig, weil deren überwiegende Zahl auf die Gruppe der 25- bis
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2 Die alternde Bevölkerung
Tabelle 2.2. Vorausberechnete Veränderung der Anzahl der Gesamtbevölkerung, der Anzahl sowie des Anteils 80-jähriger und älterer Menschen. (Statistisches Bundesamt Wiesbaden 2000) Jahr
Gesamtbevölkerung
Alter ³ 80 Jahre
³ 80-Jährige [%]
2000 2010 2020 2030 2040 2050
81 946 000 81 421 900 80 151 700 77 672 400 74 155 200 69 940 000
4 863 100 4 025 700 5 266 500 5 312 600 6 436 300 7 919 600
5,94 4,94 6,57 6,84 8,68 11,32
35-Jährigen entfällt (migrationsinduzierte Verjüngung). Langfristig schwächt sich dieser Effekt jedoch wieder ab. Niedrige Fertilität und hohe Lebenserwartung zusammen bedingen den Prozess der transformationsbedingten Alterung [1]. Zukünftig werden also in Deutschland absolut wie auch relativ mehr ältere Menschen leben, unter denen mehr Hochaltrige, sog. alte Alte (80 Jahre und älter), sein werden als je zuvor, da dieser Bevölkerungsanteil am stärksten wächst (Tabelle 2.2). Die Zahl der 100-Jährigen betrug im Mai 1987 2197 und stieg bis 2000 auf schätzungsweise 9500. Deutschland verzeichnet zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach Japan die weltweit stärkste demographische Alterung (Abb. 2.1). Bis 2050 wird sich das Medianalter auf 52 Jahre erhöhen, die Zahl der 20- bis unter 60-Jährigen sinken 1, was die Alterspyramide erheblich verändert (Abb. 2.2). Durch diese gegenläufigen Entwicklungen wird der Altenquotient von 38,6 (1998) voraussichtlich um mehr als das Doppelte ansteigen [1]. Es ist unschwer erkennbar, dass dies enorme Herausforderungen an die sozialen Sicherungssysteme stellen wird. Weitere Veränderungen, die mit der veränderten Altersstruktur der Bevölkerung einhergehen, sind Feminisierung und Singularisierung des Alters. Noch vor 100 Jahren gab es ungefähr gleich viele alte Frauen und Männer. Unsere heutige Altersgesellschaft ist bei den über 60-Jährigen zu zwei Dritteln, bei den über 75-Jährigen sogar zu drei Vierteln eine Frauengesellschaft. Mit zunehmendem Lebensalter nimmt der Anteil Alleinstehender zu [14]. Dies gilt besonders für ältere Frauen, die bei Verlust ihrer Selbstständigkeit ihre Unabhängigkeit schwerer bewahren können und in höherem Maß von ambulanten und stationären Hilfen abhängig werden. In Altenheimen wohnen vor allem Frauen, die auch die Struktur besonders der Pflegeheime 1
Dies gilt auch unter der Annahme, dass die Zahl der Zuwandernden höher ist als die der Auswandernden.
Demographische Alterung
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Abb. 2.1. Entwicklung des Altenquotienten (= Zahl der 65-Jährigen und Älteren auf 100 Menschen im Alter von 15–64 Jahren) von 1950–1955 bis 1995–2000 und Projektionsrechnungen bis 2050 [1]
Abb. 2.2. Veränderung der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung 2000 bis 2050 [1]
prägen (siehe Kap. 18). Der Anteil der Einpersonenhaushalte wird in fast allen höheren Altersgruppen zunehmen, wozu gestiegene Scheidungsquoten beitragen. Dies betrifft auch die Männer, um die sich die Altenhilfe in absehbarer Zukunft stärker wird kümmern müssen. Deutlich größer ist gleichzeitig der Anteil der Zweipersonenhaushalte, weil es mehr (Ehe-)Paare in höherem Alter gibt. Dagegen haben die Zwei-, Drei- und Mehrgenera-
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2 Die alternde Bevölkerung
tionenhaushalte weiter abgenommen. Als gesellschaftliche Entwicklung ist bei jüngeren Menschen der nachwachsenden Altersgeneration ein Trend zum Alleinleben festzustellen. Am 31. Dezember 1999 betrug der Anteil von Einpersonenhaushalten beispielsweise in Hamburg 47,9% [13].
Lebenserwartung und aktive Lebensjahre Mit den demographischen Veränderungen geht einher, dass aufgrund medizinischen Fortschritts mehr Menschen mit chronischen Erkrankungen ein höheres Lebensalter erleben. Das Krankheitsspektrum verschiebt sich zunehmend von akuten zu degenerativen Erkrankungen („epidemiologic transition“). Chronische Krankheit bedeutet, dass medizinische Interventionen hierbei statt auf Heilung mehr auf Krankheitsmanagement und Umgang der Patienten mit diesen Situationen ausgerichtet sein müssen. Heilung und verringerte Mortalität sind nicht mehr unbedingt die entscheidenden Erfolgskriterien [9]. Für den individuellen Patienten ist dabei von ausschlaggebender Bedeutung, ob der Zugewinn an Lebensjahren mit Lebensqualität erfüllt ist oder nicht! Bezugsrahmen der Altersmedizin ist deshalb ein biopsychosoziales Modell, das zusätzliche Dimensionen wie Lebensqualität und Kriterien wie Aufrechterhaltung oder Wiedergewinnung von unabhängiger Lebensführung grundsätzlich einschließt. Dieser Arbeitsansatz geht in seiner Sichtweise über das biomedizinische Modell hinaus, welches darauf beruht, einzelne Krankheiten zu vermeiden bzw. zu heilen. Bereits vor über 30 Jahren wurde das Konzept der „health state expectancy“ (HSE) beschrieben [8]. Als neuer, aussagefähigerer Indikator, der Morbidität und Mortalität berücksichtigt, wurde die „disability-free life expectancy“ (DFLE) bzw. „active (healthy) life expectancy“ (ALE) entwickelt, um die Qualität gewonnener Lebensjahre insbesondere alter Menschen zu erfassen. Kriterium aktiver Lebensjahre ist das selbstständige Vermögen oder die funktionelle Kompetenz, alltägliche Aktivitäten oder sog. Alltagsaktivitäten („activities of daily living“, ADL) ohne Hilfe auszuführen. Krankheiten und insbesondere chronische Erkrankungen können funktionelle Kompetenz in sehr unterschiedlichem Ausmaß beeinträchtigen und so über Fähigkeitsstörungen zu Behinderungen führen. Im Jahr 2002 betrug die Lebenserwartung in Gesundheit für Frauen 74,0, für Männer 69,6 Jahre, und weitere 7,6 bzw. 5,9 Jahre wurden mit gesundheitlichen Beschwerden verbracht [18]. Die Berücksichtigung dieser letztlich entscheidenden Krankheitsfolgen erfordert ein erweitertes Verständnis von Krankheit. Tabelle 2.3 zeigt die erweiterte Konzeption in Form der Internationalen Klassifikation von Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH), die also Krankheitsfolgen beinhaltet [15, 17].
Störung der biologischen und psychischen Struktur und Funktion
Schädigung
fi (auch: individuelle funktionelle Einschränkung) Störung der Fähigkeiten der Person zur Ausführung zweckgerichteter Handlungen
Fähigkeitsstörung
Gesundheitsproblem fi (Krankheit/Störung)
Ein Schaden ist ein Verlust oder eine Abnormalität der Körperstruktur oder einer physischen oder psychischen Funktion.
Schaden
fi Die Aktivität ist die Art und das Ausmaß der gesundheitlichen Integrität auf der Ebene der Person. Die Aktivität kann in ihrer Art, Dauer und Qualität gestört sein.
Aktivität
z International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps (ICIDH-2)
Gesundheitsstörung fi
z International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps (ICIDH-1)
fi
fi
Die Partizipation ist die Art und das Ausmaß der Teilhabe oder des Einbezogenseins einer Person an bzw. in Lebensbereichen in Hinblick auf Schäden, Aktivitäten, gesundheitliche Situation und Kontextfaktoren. Die Partizipation kann in Art, Dauer und Qualität eingeschränkt sein.
Partizipation
Störung der sozialen Stellung der Person und ihrer Fähigkeit zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben
Beeinträchtigung
Tabelle 2.3. Konzeption der Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Behinderungen (ICIDH-1 und ICIDH-2)
Lebenserwartung und aktive Lebensjahre z
17
18
z
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Von der WHO wurde 2001 die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als Nachfolge der ICIDH verabschiedet (deutsche Fassung unter www.dimdi.de). In einem Modell der Wechselwirkungen mit sog. Kontextfaktoren berücksichtigt dieses weiterentwickelte Konzept stärker den individuellen Lebenshintergrund (siehe auch Kap. 15). Folgende Begriffe sind definiert: z Funktionsfähigkeit ist ein Oberbegriff für Körperfunktionen und Körperstrukturen, Aktivitäten und Teilhabe. Er bezeichnet die Fähigkeit einer Person zur Ausführung zweckgerichteter Handlungen im Kontext des gesamten Lebenshintergrundes. z Behinderung ist ein Oberbegriff für Schädigungen sowie Beeinträchtigungen der Aktivität und der Teilhabe. Er bezeichnet also die Störung von Funktionsfähigkeit im Kontext des gesamten Lebenshintergrundes. z Kontextfaktoren stellen den gesamten Lebenshintergrund einer Person dar. Sie umfassen zwei Komponenten: Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren. Diese können einen positiven oder negativen Einfluss auf eine Person mit einem bestimmten Gesundheitszustand haben. z Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt ab. z Personenbezogene Faktoren sind der individuelle Hintergrund des Lebens und der Lebensführung einer Person (Eigenschaften und Attribute) und umfassen Gegebenheiten, die nicht Teil eines Gesundheitsproblems oder -zustandes sind, z. B. Alter, Geschlecht, Lebensstil, Coping, sozialer Hintergrund, Bildung/Ausbildung, Beruf und Erfahrung. z Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich psychischer Funktionen). z Körperstrukturen sind anatomische Teile eines Körpers wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile. z Schädigungen sind Beeinträchtigungen einer Körperfunktion oder Körperstruktur wie z. B. eine wesentliche Abweichung oder ein Verlust. z Aktivitäten bezeichnen die Durchführung von Aufgaben oder Handlungen durch einen Menschen. z Beeinträchtigungen der Aktivität sind Schwierigkeiten, die ein Mensch bei der Durchführung einer Aktivität haben kann. z Teilhabe ist das „Einbezogensein“ in eine Lebenssituation oder einen Lebensbereich. z Beeinträchtigungen der Teilhabe sind Probleme, die ein Mensch beim „Einbezogensein“ in eine Lebenssituation oder einen Lebensbereich erlebt.
Die Bedeutung der Funktion
z
Die Bedeutung der Funktion Der Begriff der Funktion erhält damit für die Geriatrie eine zentrale Bedeutung. Das chronologische Alter selbst ist wenig hilfreich und spielt bei der Funktionsbeurteilung keine entscheidende Rolle. Biologisches Alter kann bekanntlich erheblich von chronologischem oder kalendarischem Alter abweichen. Das komplexe Zusammenwirken von physiologischen Altersveränderungen sowie physischen, psychischen und sozialen Krankheitsfolgen begründet die ausgeprägte Heterogenität älterer Patienten. Funktionelle Kompetenz variiert von völlig selbstständig bis komplett pflegebedürftig. Eine wachsende Zahl von Daten aus Querschnitts- und Langzeitstudien an älteren Bevölkerungsstichproben und Krankenhauspatienten belegt eindrücklich die überragende Bedeutung von Fähigkeitsstörungen für Aussagen zum Risiko von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, zur Prognose, zum Ausmaß der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen sowie zur Mortalität [5, 10]. Deshalb sind Verfahren zur qualitativen und/oder quantitativen Untersuchung von Funktionen zusätzlich zur erforderlichen krankheitsbezogenen Diagnostik in der Geriatrie von essenzieller Bedeutung (siehe Kap. 4). Berechnungen der gesetzlichen Krankenversicherung zur Bestimmung des Anteils chronisch Kranker im ambulanten und stationären Versorgungsbereich ermittelten Anteile von 40–50% [2]. Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl chronisch Kranker, ebenso die Zahl der Menschen mit mehreren Erkrankungen (Multimorbidität), häufiger für über 60-jährige Frauen als für gleichaltrige Männer. Leidet ein Mensch gleichzeitig an mehr als einer medizinisch definierten Krankheit, so liegt Mehrfacherkrankung vor. Es wird auch – mit Schwerpunktsetzung auf eine Leitkrankheit – von Komorbidität gesprochen. Die Komorbidität ist ein bedeutender Risikofaktor für Fähigkeitsstörungen, weshalb deren Häufigkeit stark mit dem Lebensalter assoziiert ist (Abb. 2.3) [7]. Die Prävalenz von Funktionsstörungen ist bei Männern geringer als bei Frauen derselben Altersgruppe. Bei gleicher Inzidenz (Neuauftreten) ist aufgrund der höheren Lebenserwartung die Prävalenz bei Frauen höher. Als weitere wichtige Information zeigt Abb. 2.3 jedoch auch, dass die Mehrzahl der Hochbetagten keine oder nur leichte funktionelle Beeinträchtigungen aufweist! Neben der Erfassung objektiver Befunde ist auch die subjektive Selbsteinschätzung des eigenen Gesundheitszustandes durch Patienten (siehe Kap. 5) von prognostischem Wert, z. B. für die Mortalität [3]. Mit steigendem Lebensalter geht die positive Selbsteinschätzung zurück. In der Altersgruppe über 65 Jahren bewerten Frauen ihren Gesundheitszustand häufiger ungünstig als Männer (Tabelle 2.4).
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Abb. 2.3. Beziehung zwischen höherem Lebensalter und funktioneller Beeinträchtigung: a keine oder leichte Beeinträchtigung, b schwere Beeinträchtigung [10]
Tabelle 2.4. Selbsteinschätzung der Gesundheit nach Alter und Geschlecht (%; n = 8318). (Telefonischer Gesundheitssurvey 2003, Robert Koch-Institut [zit. in 11]) Männer
Frauen
Alter (Jahre)
18–29 30–44 45–64 ³ 65 Gesamt 18–29 30–44 45–64 ³ 65 Gesamt
z Sehr gut
33,6
28,0
15,7
9,3 21,8
33,6
27,4
17,3
7,6 20,4
z Gut
56,5
58,9
53,0
44,8 54,1
53,1
55,7
50,3
36,4 49,0
z Mittelmäßig 9,0
10,3
22,4
34,3 18,2
11,4
13,6
25,7
42,1 23,8
z Schlecht
0,7
2,3
7,4
9,6
4,9
1,6
2,7
5,5
10,8
5,3
z Sehr schlecht
0,1
0,5
1,5
2,1
1,0
0,3
0,8
1,3
3,1
1,4
Hypothesen zu Mortalität, Morbidität und Behinderung im Alter
z
Hypothesen zu Mortalität, Morbidität und Behinderung im Alter Aus den o. g. demographischen und epidemiologischen Veränderungen ergibt sich folglich die Frage, ob nicht der Zugewinn an Lebensjahren mit ebenfalls längeren Lebensabschnitten in Krankheit und Beeinträchtigungen (Behinderung) bezahlt wird. Die Beziehung zwischen Morbidität, Behinderung und Mortalität ist komplex und keineswegs einfach und eindeutig. Abbildung 2.4 zeigt schematisch eine Überlebenskurve (Mortalität) sowie eine hypothetische Morbiditäts- und eine hypothetische Behinderungsüberlebenskurve nach [16]. Diese Kurven repräsentieren die Anzahl der Personen einer bestimmten Gruppe oder Kohorte, die überhaupt überleben, die ohne Behinderung und die ohne Morbidität überleben. Die Fläche unter der Mortalitätskurve repräsentiert die gesamte Lebenserwartung, während die Fläche unterhalb der Behinderungs- bzw. Morbiditätskurve entsprechend jeweils die Lebenserwartung ohne Behinderung bzw. ohne Morbidität darstellt. Die Fläche zwischen der Mortalitäts- und der Behinderungskurve entspricht der Lebenserwartung mit Behinderung. Bestimmt werden die Kurvenverläufe von altersspezifischen Raten für Morbidität, Behinderung und Mortalität. Änderungen können zu unterschiedlichen Kurvenverläufen und damit zu unterschiedlichen Gesamtlebenserwartungen bzw. Lebenserwartungen mit Morbidität und Behinderung führen. Die drei Überlebenskurven müssen sich jedoch nicht unbedingt gleichsinnig und in gleichem Ausmaß in dieselbe Richtung verändern. Zur Entwicklung der Beziehung dieser Indikatoren – Mortalität, Morbidität und Behinderung – zueinander existieren 3 unterschiedliche Hypothesen [8], die im Folgenden erläutert werden.
Abb. 2.4. Beziehung zwischen Morbidität, Behinderung und Mortalität als veränderliche Überlebenskurven [16]
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2 Die alternde Bevölkerung
z „Compression-of-morbidity-Hypothese“ Diese Hypothese nimmt an, dass sich die Lebenserwartung des Menschen ihrer genetisch determinierten Grenze nähern wird und dass chronische Krankheiten und Behinderung in höhere Lebensalter hinausgeschoben oder sogar verhindert werden können. Dazu tragen Präventionsmaßnahmen und gesunder Lebensstil bei (siehe Kap. 3). Durch diese positive Beeinflussung von Morbidität und Behinderung wird sich die Überlebenskurve nicht wesentlich verändern, aber die Fläche zwischen dieser und der Morbiditätsbzw. Behinderungskurve (siehe Abb. 2.4) wird sich verschmälern („compression of morbidity“). Als Resultat dieser Hypothese käme es also zu einem Zugewinn an krankheits- und behinderungsfreier Lebenserwartung.
z „Expansion-of-morbidity-Hypothese“ Diese Hypothese geht hingegen davon aus, dass es durch Reduktion von Mortalität zu einem Mehr an Jahren in Krankheit und Behinderung kommt. Medizinischer Fortschritt führt unter anderem dazu, dass insbesondere schwer chronisch Erkrankte länger überleben, sich die Mortalitätskurve also nach außen bewegt, während sich die Morbiditätskurve jedoch kaum verändert (siehe Abb. 2.4). Dadurch vergrößert sich die Fläche zwischen den Kurven („expansion of morbidity“). Durch Senkung der Mortalität überleben außerdem mehr Menschen bis in ein hohes Lebensalter mit dann erhöhtem Risiko für nicht fatale Erkrankungen mit folgender Behinderung.
z „Dynamic-equilibrium-Hypothese“ Die dritte Hypothese schließlich geht davon aus, dass sich zwar die Überlebenszeit in Krankheit und Behinderung durch Reduktion der Mortalität vergrößert, es aber durch medizinische Maßnahmen und positive Änderungen des Lebensstils zu einer Verlangsamung der Progression chronischer Krankheiten kommt. Dadurch bleibt der Anteil der Überlebenszeit in schwerer Krankheit und Behinderung relativ konstant. Bezogen auf die Überlebenskurven (siehe Abb. 2.4) bedeutet dies dann, dass sich die Mortalitätskurve rascher nach außen bewegt als die Morbiditätskurve. Dadurch vergrößert sich die Fläche zwischen diesen beiden Kurven, während sich die Fläche zwischen Morbiditäts- und Behinderungskurve – entsprechend der Hypothese – nicht vergrößert („dynamic equilibrium“). Wie sich der Gesundheitszustand der wachsenden Zahl älter werdender Menschen insbesondere im sehr hohen Alter entsprechend der o. g. Hypothesen verändert, wird unterschiedlich eingeschätzt. Untersuchungen unter Anwendung des Konzepts der active life expectancy kommen in Ländern
Literatur
z
mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen zu abweichenden, z. T. widersprüchlichen Ergebnissen [12]. Analysen über drei Geburtskohorten (1917, 1922, 1927) ergaben für Deutschland erkennbare Verbesserungen des Gesundheitszustands älterer Menschen, gemessen am Rückgang inaktiver Zeit an der gesamten Überlebenszeit [4].
Schlussfolgerungen Es ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: z Ältere Menschen sind – als Gruppe gesehen – ausgesprochen heterogen; biologisches Alter und kalendarisches Alter können erheblich differieren. z Altern ist nicht gleichzusetzen mit Krankheit, aber hohes Lebensalter ist assoziiert mit v. a. chronischer Krankheit, Multimorbidität und Krankheitsfolgen. z Funktionelle Beeinträchtigungen und daraus folgende Behinderung bestimmen wesentlich die Lebensqualität älterer Menschen und schränken ihr Selbsthilfepotenzial sowie ihre Möglichkeiten unabhängiger Lebensgestaltung entscheidend ein. z Die Lebenserwartung wird voraussichtlich weiter ansteigen. z Ein Zugewinn an krankheits- bzw. behinderungsfreien Jahren ist wichtiger als steigende Lebenserwartung an sich („Add life to years but not just years to life.“). Für die Altersmedizin wird sich ein steigender Behandlungsbedarf ergeben. Dies betrifft den Bedarf für akute Behandlung sowie geriatrische Rehabilitation. Darüber hinaus wird die Entwicklung präventiver und im Alter gesundheitsfördernder Konzepte eine Aufgabe der Geriatrie mit wachsender Bedeutung werden.
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2 Die alternde Bevölkerung
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3 Erfolgreiches Altern durch Gesundheitsförderung und Prävention Bedeutung
Mit dem Begriff „Gesundheit“ werden sehr unterschiedliche Ansichten verbunden (siehe Kap. 1). Die Vorstellung von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit ist jedoch die vorherrschende Sichtweise und prägt die Auffassung von dem, was unter Gesundheitsförderung verstanden wird. Somit ist mit Gesundheitsförderung häufig nur Krankheitsprävention gemeint. Dies geschieht in der Regel durch die Identifizierung von Bevölkerungsgruppen oder Individuen (Risikogruppen), die einem höheren Risiko ausgesetzt sind, eine spezifische Krankheit zu entwickeln (durch Risikoverhaltensweisen). Diese pathogenetische Konzentrierung auf die Erkrankungsursachen führte zur Betonung der Risikofaktoren und Risikogruppen. Im Mittelpunkt standen nicht die mit dem Risiko zusammenhängenden tiefer liegenden Ursachen der Erkrankung. Antonovsky [1] plädiert hingegen für einen salutogenetischen Ansatz, der danach fragt, warum Menschen gesund bleiben. Er beschreibt Bewältungungsmechanismen, die es Menschen trotz widriger Umstände, Veränderungen oder Stress ermöglichen, gesund zu bleiben. Ein wichtiger Gesundheitsfaktor, den Antonovsky als „Kohärenzsinn“ bezeichnet, umfasst die drei Aspekte der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit von Veränderungen. Dies sind Fähigkeiten der Menschen, die durch das soziale Umfeld gefördert oder behindert werden können. So sind soziale Faktoren bei der Entstehung von Gesundheit und Krankheit sowie die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Behandlung von Bedeutung [10]. Ergänzend zu den traditionellen Konzepten der Sozialhygiene, Gesundheitserziehung und Prophylaxe wurden in den vergangenen Jahrzehnten Strategien zur Gesundheitsförderung („health promotion“) entwickelt. Begriffe wie Gesundheitserziehung, Gesundheitsaufklärung, Gesundheitsbildung, Gesundheitspflege, Gesundheitsberatung, Gesundheitstraining und Gesundheitsförderung wurden bislang in Deutschland häufig synonym benutzt. Im Zusammenhang mit dem WHO-Programm „Gesundheit für alle“ entwickelte sich ein neues lebensweisenbezogenes Verständnis von „health
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3 Erfolgreiches Altern durch Gesundheitsförderung und Prävention
promotion“, das im Deutschen heute als „Gesundheitsförderung“ bezeichnet wird [5]. Für den älteren Menschen bedeutet Gesundheitsförderung, bestehende Reserven auszubauen, verloren gegangene Fähigkeiten wiederzugewinnen oder psychosoziale Benachteiligung durch körperliche Einschränkungen zu verhindern. Gesundheitsförderung ist ein übergeordneter Begriff, der es erlaubt, gleichzeitig bei einer Person Maßnahmen der primären, sekundären oder tertiären Prävention und/oder der Rehabilitation anzuwenden. Um sowohl Reserven als auch Defizite standardisiert zu erfassen, stehen verschiedene valide Instrumente zur Verfügung. Ihre Anwendung, Interpretation und Umsetzung in einen (Be-)Handlungsplan sind wichtige Voraussetzungen geriatrischen Handelns (siehe Kap. 4). Es spricht also vieles für die Entwicklung spezieller präventiver altersmedizinischer Instrumentarien und Konzepte. Epidemiologische Untersuchungen zeigen eine hohe Prävalenz von Risikofaktoren für die Entstehung von Krankheit und Behinderung in der älteren Bevölkerungsgruppe. An eine positive Beeinflussung dieser Risikofaktoren knüpft sich die Hoffnung, auf diesem Wege die Entstehung von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder zumindest zu verzögern [12].
Definition Bisher gibt es keinen einheitlichen Sprachgebrauch für die Begriffe „Gesundheitsförderung“ und „Prävention“ mit ihrer Unterscheidung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention, obwohl die Begriffe in der Literatur definiert sind. Nachfolgend werden die Definitionen ausgeführt, die sich in der aktuellen Literatur durchgesetzt haben.
z Gesundheitsförderung Die auf der ersten internationalen Conference on Health Promotion 1986 verabschiedete Resolution – die sog. Ottawa-Charta – wurde in Deutschland breit diskutiert und wird inzwischen von allen wesentlichen Organisationen und Institutionen im Gesundheitswesen als richtungsweisend akzeptiert. Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl das Individuum als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirk-
Definition
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lichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können [5]. In diesem Sinne ist Gesundheit ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens und nicht als vorrangiges Lebensziel zu verstehen. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen ebenso betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden (www.deutscher-praeventionspreis.de).
z Prävention Die Definition der nachfolgenden Begriffe zur Prävention basiert auf dem Gutachten des Sachverständigenrats für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen [12]. z Primärprävention. Primärprävention umfasst alle spezifischen Aktivitäten vor Eintritt einer fassbaren biologischen Schädigung zur Vermeidung auslösender oder vorhandener Teilursachen. Gesundheitspolitisches Ziel ist es, die Inzidenzrate (Neuauftreten) einer Erkrankung in einer Population (oder die Eintrittswahrscheinlichkeit bei einem Individuum) zu senken. z Sekundärprävention. Sekundärprävention umfasst alle Maßnahmen zur Entdeckung klinisch symptomloser Krankheitsfrühstadien (Früherkennungsmaßnahmen, Gesundheits-Check-up, Vorsorgeuntersuchungen) asymptomatischer Krankheitsstadien und ihrer erfolgreichen Frühtherapie. Zentral ist die Forderung nach gesichertem Zusatznutzen der Frühbehandlung gegenüber einer später einsetzenden Normalbehandlung, da andernfalls Früherkennung unnötige Kosten, unnötiges Leid und unnötige Risiken verursacht. Als Sekundärprävention wird in jüngster Zeit auch die Verhinderung einer Wiederholungserkrankung bzw. einer identischen Zweiterkrankung nach behandelter Ersterkrankung bezeichnet (z. B. Reinfarkt nach Herzinfarkt). Gesundheitspolitisches Ziel ist die Inzidenzabsenkung manifester oder fortgeschrittener Erkrankungen. z Tertiärprävention. Tertiärprävention kann im weiteren Sinne verstanden werden als die wirksame Behandlung einer symptomatisch gewordenen Erkrankung mit dem Ziel, ihre Verschlimmerung zu verhüten. Engere Konzepte der Tertiärprävention subsumieren die Behandlung manifester Erkrankungen unter Kuration und bezeichnen lediglich bestimmte Interventionen zur Verhinderung bleibender, insbesondere sozialer Funktionseinbußen als Tertiärprävention. Gesundheitspolitisches Ziel von Tertiärprävention im Sinne von Rehabilitation ist es diesem Verständnis nach, die Leistungsfähigkeit soweit wie möglich wiederherzustellen, sie zu erhalten und bleibende Einbußen bzw. Behinderungen zu verhüten.
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3 Erfolgreiches Altern durch Gesundheitsförderung und Prävention
Tabelle 3.1. Begriffbildung um den Terminus „Prävention“. (Eigene Zusammenstellung, modifiziert auf der Grundlage von Laaser et al. [7]) Kategorie
Primordial
z Synonyma
GesundheitsPrävention förderung Stärkung der Risikoreduktion eigenen Reserven vor Einsetzen der Erkrankung
z Ansatz
z Zielgruppe
Gesunde (und Kranke!)
Primär
Träger von Risikofaktoren
Sekundär
Tertiär
Kuration
Rehabilitation
Erkennung und Behandlung im Krankheitsfrühstadium Medizinische Patienten
Wiederherstellung nach Einsetzen der Erkrankung Rehabilitanden
z Synonyme Begriffsbildung Zusammengefasst ist primäre Prävention durch die Information und Beratung bestimmter Risikogruppen auf die Vorbeugung des ersten Auftretens einer Störung bzw. Entstehung einer Erkrankung ausgerichtet. Sekundäre und tertiäre Prävention zielen darauf ab, eine vorhandene Krankheit in ihren Folgen durch Früherkennung und angemessene Behandlung zum Stillstand zu bringen oder zu verzögern oder das Auftreten von Rückfällen und die Ausbildung chronischer Zustände zu reduzieren, z. B. durch wirksame Rehabilitation. Eine Übersicht über Begrifflichkeiten, Synonyma und Zielgruppen gibt Tabelle 3.1.
Ziele und Zielgruppen für Gesundheitsförderung und Prävention Sowohl der krankheitsorientierte Ansatz der Prävention als auch der ressourcenorientierte Ansatz der Gesundheitsförderung zielen – wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit verschiedenen Strategien – auf die verbesserte Gesundheit des Einzelnen sowie der Bevölkerung ab und sollten als einander ergänzend betrachtet werden. Gesundheitsförderung im Speziellen zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie dadurch zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. In diesem Zusammenhang stellt die WHO fünf Kernziele der Gesundheitsförderung mit den dazugehörigen Handlungsfeldern heraus [10]:
Ziele und Zielgruppen für Gesundheitsförderung und Prävention
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z Kernziel 1: Gesundheitsförderung umfasst die gesamte Bevölkerung und nicht nur die Menschen mit einem spezifischen Krankheitsrisiko. Handlungsfeld 1: Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik. z Kernziel 2: Aktivitäten der Gesundheitsförderung zielen auf die Ursachen und Rahmenbedingungen der Gesundheit, um zu gewährleisten, dass die gesamte Umwelt der Gesundheit förderlich ist, auch die, auf die der Einzelne keinen direkten Einfluss hat. Handlungsfeld 2: Schaffung unterstützender Umwelten für Gesundheit. z Kernziel 3: Gesundheitsförderung verbindet unterschiedliche, aber einander ergänzende Methoden. Dazu gehören Kommunikation, Erziehung, Gesetzgebung, steuerliche Maßnahmen, Veränderungen von Organisationen, Kommunalentwicklung und Gemeinwesenarbeit sowie spontane lokale Aktionen gegen Gesundheitsgefährdungen. Handlungsfeld 3: Entwicklung von Kompetenzen des Einzelnen im Umgang mit Gesundheit und Krankheit, inklusive Informations- und Bewältigungsstrategien. z Kernziel 4: Gesundheitsförderung zielt auf die aktive Mitarbeit der Bevölkerung, unterstützt die Selbsthilfebewegung und fördert die Kompetenzen der Menschen, damit sie auf die Gesundheit ihrer unmittelbaren Umgebung mehr Einfluss nehmen können. Handlungsfeld 4: Stärkung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen, inklusive der sozialen Unterstützung und Netzwerkbildung. z Kernziel 5: Gesundheitsförderung ist nicht nur eine Aufgabe für die im Gesundheits- und Sozialbereich Tätigen, sondern für alle gesellschaftlichen Bereiche relevant. Dennoch fällt den Gesundheitsberufen, insbesondere den in der primären Gesundheitsversorgung Tätigen, eine besonders wichtige Rolle bei der Unterstützung und Ermöglichung der Gesundheitsförderung zu. Handlungsfeld 5: Neuorientierung der Gesundheitsdienste über die medizinisch-kurativen Betreuungsleistungen hinaus und Verbesserung des Zugangs zu den Gesundheitsdiensten. Maßnahmen der Gesundheitsförderung und -prävention sind somit in jedem Alter wirksame Strategien, um die Gesundheitspotenziale der Bevölkerung zu fördern. Gesamtgesellschaftliches Ziel ist es, die Gesundheit zu erhalten und damit Lebensqualität, Mobilität und Leistungsfähigkeit der Bevölkerung nachhaltig zu verbessern. Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention sind als vierte eigenständige Säule des Gesundheitssystems neben den drei Säulen Behandlung, Rehabilitation und Pflege zu begreifen. 1984 startete die WHO ihr Programm zur Gesundheitsförderung, das durch nachfolgende Konferenzen weiterentwickelt wurde. In dem Programm „Gesundheit für alle“ definierte die WHO [18] insgesamt 21 Ziele. Einige dieser Ziele sind: z gesundheitliche Chancengleichheit (Ziel 2), z Altern in Gesundheit (Ziel 5),
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z z z z z z
3 Erfolgreiches Altern durch Gesundheitsförderung und Prävention
Verringerung übertragbarer Krankheiten (Ziel 8), gesünder Leben (Ziel 11), Settings zur Förderung der Gesundheit (Ziel 13), Qualifizierung von Fachkräften für gesundheitliche Aufgaben (Ziel 18), Forschung und Wissen zur Förderung der Gesundheit (Ziel 19), Konzepte und Strategien zur „Gesundheit für alle“ (Ziel 21).
Ansätze und Modelle der Gesundheitsförderung und Prävention z Vergleich verschiedener Ansätze Unterschiedliche gesundheitliche Sichtweisen und Einflussfaktoren auf die Gesundheit sowie die Methoden ihrer Erfassung und Messung haben zu entsprechend unterschiedlichen Ansätzen der Gesundheitsförderung geführt. Naidoo und Wills [10] stellen 5 Ansätze der Gesundheitsförderung vor, die z. T. unterschiedliche Strategien verfolgen: z Ansatz: präventiv-medizinisch – Ziele: Feststellung von Personen mit einem Erkrankungsrisiko. – Methoden: Präventionsberater, z. B. Messung des Body-mass-Index. – Beziehung zum Klienten: expertengeleitet, passiver Klient, befolgt Anweisungen. z Ansatz: Verhaltensänderung (verhaltensorientiert) – Ziele: Ermutigung des Einzelnen, mehr Verantwortung für seine Gesundheit zu übernehmen und sich gesünder zu verhalten. – Methoden: Überzeugung durch Massenkampagnen (Raucherentwöhnung, gesunde Ernährung, regelmäßige körperliche Betätigung), Informationen (Broschüren, TV-Spots etc.) und Einzelberatung. – Beziehung zum Klienten: expertengeleitet; in der Regel nur dann erfolgversprechend, wenn beim Klienten eine entsprechende Handlungsbereitschaft vorliegt; „Top-down“-Strategie, bei der die Bevölkerung von Experten beraten wird. z Ansatz: Gesundheitsaufklärung und -erziehung – Ziele: Verbesserung des Wissens und der Fähigkeiten, sich gesünder zu verhalten. Der Ansatz unterscheidet sich von der Verhaltensänderung, weil er nicht versucht, das Verhalten der Menschen in eine ganz bestimmte Richtung zu verändern.
Ansätze und Modelle der Gesundheitsförderung und Prävention
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– Methoden: Information, Aufklärung, Erfassung der Einstellungen durch Kleingruppen, Kompetenzentwicklungen. – Beziehung zum Klienten: kann expertengeleitet sein, aber auch klienteninvolvierend bei der Themenauswahl für eine Diskussion. z Ansatz: Empowerment – Ziele: Arbeit mit Klienten oder mit dem Gemeinwesen zur Lösung ihrer Probleme (Selbstbestimmung über ihre Gesundheit). – Methoden: Interessenvertretung, Vermittlung und Vernetzungen, Erleichterungen. – Beziehung zum Klienten: Gesundheitsförderer agieren als Unterstützer, „Bottom-up“-Strategie, Klienten werden zum selbstbestimmten Handeln befähigt („empowerment“). Der Experte sorgt dafür, dass der gesundheitsfördernde Prozess in Gang kommt, und zieht sich dann wieder zurück. z Ansatz: soziale Veränderung (verhältnisorientierter Ansatz) – Ziele: Aufgreifen gesundheitlicher Chancenungleichheiten entsprechend der Zugehörigkeit zu Sozialschichten, ethnischen Minderheiten, Geschlecht und geographischer Lage. – Methoden: Organisationsentwicklung (z. B. Schaffung und Vernetzung gesundheitsfördernder Angebote), gesetzliche Regelungen (z. B. Kennzeichnungspflicht von Lebensmitteln, Präventionsgesetz). – Beziehung zum Klienten: führt zu gesellschaftlichen Eingriffen, die „top down“ verlaufen. Diese fünf zitierten Ansätze der Gesundheitsförderung [10] überlappen sich teilweise und sind kombiniert einsetzbar. Darüber hinaus sind die folgenden beiden Ansätze, die sich aus der Geriatrie ableiten, von besonderer Wichtigkeit für die Gesundheitsförderung speziell bei älteren Menschen: z Multidimensionaler Ansatz – Ziele: Für den älteren Menschen bedeutet Gesundheitsförderung, bestehende Reserven auszubauen, verloren gegangene Fähigkeiten wiederzugewinnen oder psychosoziale Benachteiligung durch körperliche Einschränkungen zu verhindern. – Methoden: Standardisierte Erfassung sowohl von Reserven als auch von Defiziten anhand valider Instrumente; ihre Anwendung, Interpretation und Umsetzung in einen Handlungsplan sind wichtige Voraussetzungen geriatrischen Handelns (siehe Kap. 4). – Beziehung zum Klienten: expertengeleitet und klienteninvolvierend.
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z Interdisziplinärer Ansatz – Ziele: Vermittlung von Zusammenhängen innerhalb des komplexen Wirkungsgefüges der Themen „Gesundheit“ und „normales Altern“. – Methoden: Einsatz eines interdisziplinär arbeitenden Expertenteams für die Vermittlung gesundheitsfördernder Beratung und Maßnahmen für ältere Menschen in verschiedenen Bereichen des „gesunden Alterns“ auf der Basis unterschiedlicher Lebensstile. Interdisziplinäre Teams werden seit vielen Jahren erfolgreich in der Geriatrie eingesetzt (siehe Kap. 4). – Beziehung zum Klienten: expertengeleitet und klienteninvolvierend.
z Ausgewählte Modelle mit verschiedenen Ansätzen z Kampagnen zur Gesundheitsaufklärung. Kampagnen zur Gesundheitsaufklärung zielen auf Bewusstmachung und Überzeugung durch Massenkampagnen (Broschüren, TV- und Radiokampagnen etc.) zu Themen der Gesundheitsgefährdung, wie z. B. AIDS oder Schlaganfall, und Aufzeigen von Verhaltensweisen, die für die Gesundheit förderlich sind, wie z. B. Kampagne „5 Einheiten Obst und Gemüse am Tag“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) (siehe Kap. 13) oder Aufruf zu mehr körperlicher Bewegung und Einrichtung von „Trimm-dich-Pfaden“ (siehe Kap. 7). Zu Kampagnen dieser Art können auch gesetzgeberische Maßnahmen gezählt werden, wie z. B. das Versehen von Zigarettenverpackungen mit Merksätzen wie „Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit“. z Vorsorge und Früherkennung (Impfungen und Gesundheitsuntersuchungen). Die Früherkennung von Krankheiten ist seit 1971 wesentlicher Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung (§ 73 SGB V, Abs. 2, Ziffer 3). Welchen Ansprüchen diese Leistungen der Früherkennung genügen müssen, regelt der Gesetzgeber in SGB V § 92, Abs. 1, Satz 2, Nr. 3. Hinzu kommen für unser Klientel der älteren Menschen Regelungen im SGB V für „Medizinische Vorsorgeleistungen“ (§ 23), „Gesundheitsuntersuchungen“ (§ 25) und „Ärztliche und zahnärztliche Behandlung“ (§ 28). Impfungen sind als Satzungsleistung der Kassen im § 23 SGB V vorgesehen und Aufgabe der Bundesländer. Die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) werden von den Landesgesundheitsverwaltungen in Empfehlungen übernommen. Aktuell wird insbesondere älteren Personen ab 60 Jahren empfohlen, sich der Grippeschutzimpfung (jährlich) und der Impfung gegen Lungenentzündung (alle 10 Jahre) zu unterziehen. In § 25 SGB V „Gesundheitsuntersuchungen“ sind sowohl der sog. „Check-up 35“ als auch Maßnahmen zur Krebsfrüherkennung eingebunden. Der „Check-up 35“ umfasst Anamnese, klinische Untersuchung (Ganzkörperstatus) und folgende Laboruntersuchungen:
Ansätze und Modelle der Gesundheitsförderung und Prävention
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z Bestimmung des Gesamtcholesterinspiegels und der Glukosekonzentration im Blut, z Untersuchungen des Urins auf Eiweiß, Glukose, Erythrozyten, Leukozyten und Nitrit. Die derzeit in der GKV vorgehaltenen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen für Versicherte umfassen folgende Tumorentitäten (Stand 2003): Zervix-, Mamma-, Haut-, Prostata- und Darmkarzinom. Zahnärztliche Untersuchungen werden in jährlichen Abständen empfohlen, insbesondere Personen mit Zahnprothesen. Die Teilnahme an der Früherkennung ist in den 1990er Jahren gestiegen und liegt derzeit bei ca. 50% für Frauen und 20% für Männer. Dennoch müssen diese Zahlen als unbefriedigend bezeichnet werden. Zur Optimierung der Inanspruchnahme werden in der ärztlichen Versorgung sog. Recall-Systeme für Auffrischimpfungen und Vorsorgeuntersuchungen als hilfreich erachtet. Die Krankenkassen sollten durch gezielte Anschreiben an gemäß Alter und ggf. Krankheiten definierte Versichertengruppen die Bereitschaft zu Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen unterstützen. z Chronikerprogramme und Selbsthilfegruppen. Die WHO fordert seit über 20 Jahren den „Patienten als Partner“. Auch die Ottawa-Charta von 1986 zielt in erster Linie auf die Steigerung von Kompetenz und Einfluss in allen Fragen der eigenen Gesundheit und Krankheit. Seit dem 1. Juli 2002 gibt es sog. Disease-Management-Programme. Als „Disease-Management“ wird eine Form der medizinischen Versorgung bezeichnet, mit der unter anderem die Prävention und die Behandlung einer Krankheit verbessert werden können. Die Krankenkassen erhoffen sich hierdurch mehr Qualität in der gesundheitlichen Versorgung chronisch kranker Personen. In diese Programme können nur Patienten aufgenommen werden, die unter einer der folgenden Erkrankungen leiden: Diabetes mellitus, Mammakarzinom, koronare Herzkrankheit, chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung (www.bundesregierung.de, 29. 12. 2003). Da Chronikerprogramme (z. B. Diabetes-Sprechstunde) und Selbsthilfegruppen aus der Betroffenheit heraus entstehen, hat die weit überwiegende Zahl dieser Programme und Selbsthilfegruppen den Schwerpunkt im kurativen und im tertiärpräventiv-rehabilitativen Bereich. Dennoch entstehen auch präventive Forderungen aus den Chronikerprogrammen und Selbsthilfegruppen, wie z. B. die Entwicklung von Informationen über Krebserkrankungen und Möglichkeiten der Vorbeugung bzw. Krankheitserkennung. Primärpräventive Aufgaben übernehmen z. B. Nichtraucherinitiativen. Mit der Stärkung von Kompetenz und Selbstbestimmung der Betroffenen zielt die Selbsthilfe auch auf den Empowerment-Ansatz in der Gesundheitsförderung. Anreize zur Stärkung der Eigenverantwortung der Versicherten werden bei den Krankenkassen seit Wiedereinführung des sog. Präventionsparagraphen in der Neufassung des § 20 SGB V „Prävention und Selbsthilfe“ verwirklicht. Dies geschieht u. a. durch das Bonusheft in der Zahnpro-
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phylaxe oder die Rückerstattung von Beiträgen an Versicherte, die an Seminaren/Kursen der Primärprävention teilnahmen (www.bvpraevention.de, www.gkv.info). Inwieweit sich diese Praxis mit der Einführung des Gesundheitsfonds ab dem Jahr 2009 verändern wird, bleibt abzuwarten. z Modell des „Gesundheitszentrums für ältere Menschen“. Grundlage ist die 1975 vom National Council on the Aging’s Institute of Senior Centers (NCOA) der USA vorgestellte Konzeption eines Gesundheitszentrums für Ältere [4]: „Ein Seniorenzentrum ist ein Anlaufpunkt innerhalb einer Gemeinde zu Fragen des Alters und Alterns, an dem ältere Personen zusammenkommen, um individuell oder in Gruppen Angebote und Aktivitäten wahrzunehmen, die ihre Würde wahren, ihre Unabhängigkeit unterstützen und ihre Einbindung in die Gemeinschaft fördern.“ Diese Gesundheitszentren sind eine Anlaufstelle innerhalb der Kommune für ältere Personen, die gefährdet sind, ihre Selbstständigkeit zu verlieren, sowie für Familienmitglieder und pflegende Angehörige. Das Programm kann verschiedene Angebote und Aktivitäten in Einzel- und Gruppensituation umfassen. Hilfeangebote: Sie umfassen Angebote zur Unterstützung oder Verbesserung des individuellen Zustands oder Umfelds mit dem Ziel, so lange wie möglich selbstständig in der eigenen Häuslichkeit zu verbleiben. Diese Angebote umfassen alle Maßnahmen der Basisversorgung älterer, zuhause lebender Menschen, wie z. B. Fahrdienste, häusliche Pflege und „Essen auf Rädern“. Hilfeangebote können auch im Gesundheitszentrum vorgehalten werden, wie z. B. Friseur, Fußpflege und Duschen mit Hilfsperson. Zur Ermittlung des individuellen Unterstützungsbedarfs wird in Großbritannien ein „primary care visiting service“ durch eine „nurse“ in jährlichen Abständen angeboten, um bei 75-Jährigen und älteren Bürgern der Kommune das sog. 75 + assessment durchzuführen. Aktivitäten: Es werden alle Arten von körperlicher, intellektueller und sozialer Aktivität in Einzel- oder Gruppenbeschäftigung angeboten, z. B. Gymnastik, Ausflüge, Gedächtnistraining und Theatergruppe. Gesundheitszentren für ältere Menschen haben sich bisher in den USA unter der Bezeichnung „senior center“ und in Großbritannien als „age concern day centres“ etabliert. Diese Einrichtungen werden auf kommunaler Basis organisiert und überwiegend mit ehrenamtlichem Personal betrieben. Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien wurde am AlbertinenHaus Hamburg, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie, ein Gesundheitszentrum etabliert, das unter einem Dach Bestandteil der medizinischen Regelversorgung im klinischen Bereich ist sowie Anbieter gesundheitsfördernder Maßnahmen für den ambulanten Bereich durch professionelle Gesundheitsberufe (vgl. Programm „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“). Synergetische Effekte zu anderen Professionen des Gesundheitswesens wie z. B. Hausärzte und ihre Arzthelferinnen werden durch geriatrische Qualitätszirkel gefördert [3, 9].
Ansätze und Modelle der Gesundheitsförderung und Prävention
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z Modell der „präventiven Hausbesuche“. Hilfs- und Pflegebedürftigkeit im Alter entstehen als unmittelbare oder mittelbare Folgen von Krankheiten und funktionellen Beeinträchtigungen. Bekannte Risikofaktoren, die diese Entwicklung begünstigen, und protektive Einflüsse werden im mehrdimensionalen geriatrischen Assessment erfasst. Diese Befunde sind Ausgangslage für gezielt vorbeugende Maßnahmen [13, 14]. Während in der Klinik die funktionellen Beeinträchtigungen und Reserven älterer Patienten in einem artifiziellen Umfeld gesehen werden, erlauben Hausbesuche, die funktionelle Kompetenz älterer Personen im individuellen Lebensumfeld zu beurteilen. So stoßen sog. präventive Hausbesuche bei älteren Menschen durch Ärzte, Pflegekräfte oder Sozialarbeiter als Methode der Prävention international auf breites Interesse. Vorgehensweise, Zielgruppen und Effekte sind bisher nicht einheitlich. Es zeigt sich jedoch, dass für die Planung gesundheitsfördernder und präventiver Maßnahmen ein Screening und geeignete Assessment-Verfahren nützlich sind. Inwieweit diese – aufgrund der noch offenen Fragen nach Zielgruppen, Praktikabilität, Effizienz und strukturellen Voraussetzungen – in präventiven Hausbesuchen zum Einsatz kommen können, bedarf weiterer Forschung. Ein Beispiel zu präventiven Hausbesuchen in Deutschland inklusive der angewendeten Screening- und Assessment-Instrumente sowie der Evaluation und des Curriculums für die Fortbildung zur Durchführung präventiver Hausbesuche beschreiben MeierBaumgartner et al. [8] und von Renteln-Kruse et al. [11]. Präventive Hausbesuche zielen auf die Erhaltung der Selbstständigkeit und die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit bei älteren, noch selbstständigen Menschen durch ein multidimensionales Assessment und anschließende wiederholte risikoorientierte Beratung. Diese Vermeidung von Verschlimmerung oder Chronifizierung einer oder mehrerer Erkrankungen sowie Verhütung bleibender sozialer Funktionseinbußen ist der klassische Aufgabenbereich der Tertiärprävention oder Rehabilitation. Dabei lernt der Rehabilitand, mit seinen Belastungen zu leben, weitere Komplikationen zu vermeiden und weitgehend selbstständig zu bleiben. z Programm „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“. Im Gegensatz zu „präventiven Hausbesuchen“ greift das Programm „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“ früher und zielt auf die Investition in die gesundheitlichen Ressourcen (Gesundheitsförderung und Primärprävention). Angesprochen werden auch hier ältere Menschen im Vorruhe- und Ruhestand, die noch selbstständig leben und keine Pflege im Alltag benötigen. Im Unterschied zur Klientel der präventiven Hausbesuche (Bringstrukturen) fühlt sich die Klientel der „Aktiven Gesundheitsförderung im Alter“ mobil genug (geistig, körperlich und sozial), um zur Teilnahme an einem gesundheitsfördernden Programm in Kleingruppen in ein geriatrisches Zentrum zu kommen (Kommstrukturen) [3]. Beraten wird durch ein interdisziplinäres Team von Gesundheitsberatern unter ärztlicher Leitung in denjenigen drei Gesundheitsbereichen, die primär der Eigenverantwortung und nach-
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Abb. 3.1. Wirkungsweise der Gesundheitsförderung im Alter
weisbar Wechselwirkungen unterliegen sowie die individuelle Gesundheit maßgeblich beeinflussen (Abb. 3.1): z körperliche Aktivität im Alter (Beratung durch Physiotherapeuten), z Ernährung im Alter (Beratung durch Ökotrophologen), z psychosoziales Wohlbefinden im Alter (Beratung durch durch Sozialpädagogen). In diesem Programm werden verschiedene Ansätze der Gesundheitsförderung und Prävention miteinander kombiniert. Durch einen eigenen didaktischen Ansatz in Kleingruppen wird die Eigenverantwortung des älteren Menschen zielgerichtet gestärkt und unterstützt (Ansatz: Empowerment) und durch das interdisziplinäre Gesundheitsberaterteam (interdisziplinärer Ansatz) die Kompetenz für die eigenständige Umsetzung gesundheitsfördernder Maßnahmen vermittelt. Als Hilfsmittel für individuelle Beratungen in Kleingruppen dienen besonders strukturierte Instrumente und Informationsmaterialen (verhaltensorientierter Ansatz und Ansatz der Gesundheitsaufklärung). Das Gesundheitsberaterteam nutzt bestehende personelle und strukturelle Ressourcen des geriatrischen Zentrums. Darüber hinaus werden durch den Kontakt zu Seniorenorganisationen, Sport- und Freizeitvereinen sowie Anbietern kultureller Veranstaltungen gezielt wohnortnahe weiterführende Angebote in einem gesundheitsfördernden Netzwerk empfohlen (verhältnisorientierter Ansatz). Durch dieses Vorgehen können die multidimensionalen Maßnahmen effektiv durch das interdisziplinär arbeitende Gesundheitsberater-Team koordiniert werden (multidimensionaler Ansatz). Planung, Durchführung, Ergebnisse und Erfolge des neuartigen Programms der „Aktiven Gesundheitsförderung im Alter“ können nachgelesen werden bei Dapp et al. und Meier-Baumgartner et al. [2, 9].
Ausblick
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Ausblick Das deutsche Gesundheitssystem war lange Zeit primär auf die Behandlung von Krankheiten ausgerichtet. Dies verdeutlichen die Gesamtausgaben für Gesundheit. Noch in den 1990er Jahren wurde der überwiegende Anteil der Ausgaben für Behandlung und für Krankheitsfolgen aufgewendet, während der Anteil für vorbeugende und betreuende Maßnahmen deutlich geringer ausfiel. Lange Zeit waren ältere Menschen keine Zielgruppe für Gesundheitsförderung und Prävention. Dies scheint sich aktuell zu ändern. Ein Indiz hierfür ist der Deutsche Präventionspreis, der im Jahr 2005 erstmalig für Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention in der zweiten Lebenshälfte ausgeschrieben wurde [www.deutscher-praeventionspreis.de]. Preisträger ist das oben beschriebene Modell „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“ [2, 9]. Gerade in der älteren Bevölkerungsgruppe sind günstige psychologische Voraussetzungen für Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention gegeben. Gesundheit ist der führende Wert in dieser Altersgruppe und liegt in der individuellen Hierarchie vor anderen persönlichen Werten wie z. B. Familie oder Beruf [17]. Die Umsetzung und der Erfolg präventiver Maßnahmen im höheren Lebensalter wurden erst in wenigen Studien untersucht [3, 6, 9, 11, 13]. Methodik, konzeptionelle Rahmen sowie Zielgruppen dieser untersuchten Interventionen waren sehr unterschiedlich. Ihre Anpassung an deutsche Gegebenheiten ist nicht geklärt, weitere Untersuchungen sollten folgen. Auch das am 1. Januar 2000 in Kraft getretene GKV-Gesundheitsreformgesetz versucht, einem Mangel an klaren gesundheitlichen Zielen und Zielgruppenorientierungen zu begegnen. In der Neufassung des § 20 SGB V „Prävention und Selbsthilfe“ wird eine Ausrichtung der Gesundheitsvorsorge an Bedarf, Zielgruppen, Methoden und Zugangswegen gefordert [15]. Der Bundesgesundheitsrat verabschiedete 1989 mehrere Voten zur WHOStrategie „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000“. Dort wurde „gesundes Altern“ als das Erreichen eines hohen Lebensalters bei gleichzeitiger Erhaltung der physischen, emotionalen und kognitiven Fähigkeiten beschrieben. Im Wesentlichen wird zum Erhalt dieser Kompetenz darauf gesetzt, schon in jüngeren Lebensjahren Reserven und Fähigkeiten zu entwickeln, auf die im Alter zurückgegriffen werden kann. Angesichts der aktuellen demographischen und sozialen Entwicklung (siehe Kap. 2) darf dies jedoch nicht dazu verleiten, die jetzt schon älteren Generationen von präventiven Konzepten auszuschließen. Gesundheitsfördernde Konzepte für verschiedene Alters- und Zielgruppen müssen entwickelt und erprobt werden. Ganzheitliches (multidimensionales), gesundheitsorientiertes und interdisziplinäres Denken und Handeln bestimmen die Auswahl geeigneter Ansätze und die erfolgreiche Durchführung von Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention im Alter.
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3 Erfolgreiches Altern durch Gesundheitsförderung und Prävention
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15. Schwartz FW (1999) Strukturelle Einbettung und Qualität von Gesundheitsförderung und Selbsthilfeförderung: GKV-konforme Ansätze und Strategien. In: Ländereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. (Hrsg) Gesundheitsförderung, Prävention und Selbsthilfe als Zukunftsaufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung. Gesundheitspolitische Perspektiven, Hannover, S 7–14 16. Schwartz FW, Bitzer EM, Dörning H, Grobe TG, Krauth C, Schlaud M, Schmidt T, Zielke M (1999) Gutachten Gesundheitsausgaben für chronische Krankheit in Deutschland – Krankheitskostenlast und Reduktionspotenziale durch verhaltensbezogene Risikomodifikation. Pabst, Lengerich 17. Stiksrud HA (1976) Diagnose und Bedeutung individueller Werthierarchien. Lang, Frankfurt 18. Weltgesundheitsorganisation WHO (Hrsg) (1999) Gesundheit 21: Das Rahmenkonzept „Gesundheit für alle“ für die Europäische Region der WHO. Europäische Schriftenreihe Nr. 6. WHO, Kopenhagen
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4 Geriatrische Methodik und Versorgungsstrukturen
Ziele und systematisches Vorgehen Die ganzheitliche Erfassung und Berücksichtigung von Gesundheitsproblemen des individuellen Patienten auf physischer, psychischer und sozialer Ebene bedingt einen hohen Anspruch bezüglich der Diagnostik und Behandlung. Um diesem Anspruch zu genügen, ist eine strukturierte Vorgehensweise unerlässlich. Dies bedeutet zunächst einmal systematische Sammlung vieler Informationen. Systematisch deshalb, weil Wichtiges sonst sehr leicht vergessen und deshalb unbeachtet wird. So muss die Frage, welche Aussichten ein Patient für seine weitere Lebensführung haben könnte, bereits relativ rasch nach Beginn einer stationären Behandlung im Krankenhaus bedacht und angesprochen werden. Beispielsweise hängt es von der wieder erreichten oder nicht erreichten Fähigkeit Treppen steigen zu können ab, ob eine allein und bisher selbstversorgende Patientin in ihre Altbauwohnung im 2. Stock eines Mehrfamilienhauses ohne Fahrstuhl zurückkehren kann oder nicht. Die Perspektive „Umzug in eine Form betreuten Wohnens oder ein Altenwohnheim“ verändert nachvollziehbar das gesamte Gefüge der Kontextfaktoren (siehe Tabelle 4.1) dieser Frau, die vielleicht schon seit über 30 Jahren im selben Haus in „ihrem Viertel“ wohnt. Die ausgesprochen enge Bindung (Attachment 1) an ihr Zuhause ist eine sehr häufig zu beobachtende, motivierende Triebkraft gerade älterer Frauen, möglichst schnell wieder aus dem Krankenhaus heraus zu gelangen. Für die Erhebung der Anamnese gilt, dass alte Patienten in ihrem langen Leben u.U. eben auch eine „lange Anamnese“ mit vielen Erkrankungen, Krankenhausaufenthalten, Operationen und medizinischen Behandlungen 1
Die Attachment-Theorie stammt aus der Entwicklungspsychologie des Kindes. Lebenslang können emotionale Bindungen das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit vermitteln und die eigene Identität fördern und stabilisieren. In der Gerontologie und Gerontopsychologie wurde der Attachment-Begriff erweitert. Emotionale Bindungen bestehen nicht ausschließlich mit Personen, sondern können sich auch auf das eigene Zuhause, auf Orte, Dinge, auf Haustiere sowie auf Ideen und Lebensanschauungen beziehen (z. B. [3])
Körper (Körperteile)
Körperfunktionen Körperstruktur
Funktionelle und strukturelle Integrität (Unversehrtheit)
Schaden
Schweregrad, Lokalisation, Dauer
z Ebene der gesundheitlichen Integrität
z Charakteristika
z Positiver Aspekt
z Negativer Aspekt
z Zusatzkennungen
Schäden
Tabelle 4.1. Übersicht der Dimensionen der ICIDH-2
Ausmaß der Schwierigkeiten bei Ausführungen, Assistenz, Dauer Perspektive
Aktivitätsstörung
Aktivität
Aktivitäten des täglichen Lebens einer Person
Person (als Ganzes)
Aktivität
Ausmaß der Partizipation, begünstigende Faktoren oder Hindernisse in der Umwelt
Einschränkung der Partizipation
Partizipation
Einbezogensein in die Vielfalt der Lebenssituationen
Gesellschaft (Beziehungen zur Gesellschaft)
Partizipation
Keine
Hindernisse/Erschwernisse
Begünstigende Faktoren
Merkmale der physikalischen und sozialen Umwelt sowie der Einstellungen
Umweltbedingte Faktoren (äußere Einflüsse auf die gesundheitliche Integrität) persönliche Faktoren (innere Einflüsse auf die gesundheitliche Integrität)
Kontextfaktoren
Ziele und systematisches Vorgehen z
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Abb. 4.1. Wirkungsgefüge der Dimensionen der ICIDH-2
haben. Es ist wichtig zu wissen, was ihnen gut und was ihnen nicht gut getan hat (vermeidbare Komplikationen, siehe Kap. 6). Oft muss nach vielem gezielt gefragt werden, um es herauszubekommen. Gründlichkeit und Zeit für die Anamneseerhebung sind nützliche „Investitionen“ für die Planung des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens. Man muss viel wissen und bedenken, um das Richtige zu empfehlen, zu tun oder eben auch (entschieden) nicht oder nicht mehr zu tun. Systematik ist auch erforderlich, um die Krankheitsfolgen bezüglich der o.g. Dimensionen zu erfassen. Der nach der Informationssammlung folgende Schritt besteht in der Ordnung und Interpretation der Informationen, um Fragen für die Diagnostik und Ziele für die Behandlung festlegen zu können. Wie im Kapitel 2 beschrieben wurde, beruht die zentrale geriatrische Sicht- und Handlungsweise auf der Beurteilung von Krankheitsfolgen und -interaktionen bei Mehrfacherkrankung (Multimorbidität). Tabelle 4.1 gibt eine Übersicht der Dimensionen der ICIDH-2 (siehe Kap. 2), die auf drei Konzepten zur Beschreibung gesundheitlicher Integrität beruhen, nämlich den Konzepten der Schädigung, der Aktivität und der Partizipation. In Tabelle 4.1 sind die Begriffe der Konzepte erläutert. Abbildung 4.1 verdeutlicht schematisch das Zusammenwirken dieser Dimensionen. Das Modell zur Erfassung von Krankheitsfolgen hat die Erforschung von Behinderung im höheren Lebensalter maßgeblich beeinflusst und zur Identifizierung wichtiger Risikofaktoren für die Entwicklung von Funktionseinschränkungen geführt [32], woraus präventive Strategien ableitbar sind (siehe Kap. 3).
Geriatrisches Assessment
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Geriatrisches Assessment Umfassendes geriatrisches Assessment („comprehensive geriatric assessment“), sozusagen die Technik, das hierfür geeignete Instrumentarium, wurde in angloamerikanischen Ländern als diagnostischer Prozess entwickelt. Es wird in Anlehnung an Rubenstein folgendermaßen definiert: „Unter umfassendem geriatrischen Assessment versteht man einen multidimensionalen und interdisziplinären diagnostischen Prozess mit dem Ziel, die medizinischen, psychosozialen und funktionellen Probleme und Ressourcen des Patienten zu erfassen und einen umfassenden Behandlungs- und Betreuungsplan zu entwickeln“. Funktionsbeurteilungen sind wichtige Grundlage sowie auch Bestandteil laufender geriatrischer Behandlung. Deshalb sollte auch besser von geriatrischem Assessment und Behandlungsplanung gesprochen werden [20]. Geriatrisches Assessment als Methodik dient der Verbesserung diagnostischer Präzision, und es unterstützt die Formulierung von Therapiezielen. Es kann wertvolle Grundlagen liefern, um Prioritäten für einen Therapieplan zu erstellen (Dringlichkeit, Umfang und Intensität zu ergreifender Maßnahmen). Entscheidungen für oder auch gegen Maßnahmen können aufgrund „objektiver“ Ergebnisse von Assessment-Verfahren besser nachvollziehbar begründet werden. Die Verwendung von standardisierten Funktionsbewertungen ermöglicht und erleichtert außerdem die Kommunikation innerhalb eines interdisziplinären Teams (siehe S. 51). Assessment kann hilfreich dabei sein, ein Rehabilitationspotenzial praktisch zu ermitteln (siehe Kap. 15), und es kann Hinweise für Ansatzpunkte von Präventionsmaßnahmen sowie für prognostische Aussagen (z. B. zur Entwicklung von Hilfsbedürftigkeit) liefern (siehe Kap. 3). In geeigneter Form kann es Behandlungsergebnisse im Verlauf dokumentieren bzw. quantifizieren und so auch zu einem Bestandteil von Qualitätsmanagement werden (siehe Kap. 16). Der Einsatz von standardisierten Assessment-Verfahren ist der klinischen Beurteilung beginnender und leichtgradiger (präklinischer) funktioneller Einschränkungen überlegen [25]. Auch für wissenschaftliche Zwecke werden standardisierte Assessment-Verfahren eingesetzt, um z. B. verschiedene Studienpopulationen miteinander zu vergleichen [21]. AssessmentProgramme sind obligatorischer Bestandteil kontrollierter Studien zum Nachweis der Wirksamkeit geriatrischer Versorgungsformen und -konzepte [31]. Übergreifende Ziele von geriatrischem Assessment sind: z Optimierung medizinischer Behandlung und Versorgung, z verbesserte Behandlungsergebnisse, z Erreichung und Erhalt größtmöglicher Selbstständigkeit, z Verbesserung funktioneller Fähigkeiten und von Lebensqualität, z optimierte Lebensbedingungen (geigneter Ort angemessener Versorgung), z Vermeidung unnötiger Versorgungsleistungen.
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Die Resultate von Testungen mit standardisierten Assessment-Instrumenten sind kein Selbstzweck und für sich genommen ohne Sinn. Die Bedeutung derartiger Ergebnisse muss in der Zusammenschau mit den übrigen Befunden und der klinischen Beobachtung interpretiert werden. Unterschiedliche Fragestellungen bestimmen die Auswahl des geeigneten Verfahrens. Es muss bedacht sein, dass das eingesetzte Verfahren tatsächlich das erfasst oder misst, was es messen soll (Kriterium der Validität). Dies muss auch bei wiederholter Anwendung sowie Anwendung durch unterschiedliche Untersucher (Kriterium der Reliabilität) erfüllt sein.
z Dimensionen umfassender Beurteilung Die umfassende Beurteilung eines älteren Patienten fußt immer, wie sonst auch, auf Anamnese und körperlicher Untersuchung. Informationen zu den fünf Dimensionen von Gesundheit (WHO) – physische, psychische, soziale Gesundheit, ökonomischer Status und Selbsthilfefähigkeit – sind teilweise bereits bei der Erhebung der Anamnese zu integrieren. Informationen aus folgenden Bereichen sollten erhoben werden. z Physische Gesundheit. Hierzu zählen neben der medizinischen Diagnostik (körperliche Untersuchung, Labor- und andere Zusatzuntersuchungen) Informationen zum Ernährungszustand (Gewicht, Gewichtsverlauf, Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr), eine gründliche Medikamentenanamnese (ggf. Fremdanamnese) unter Einschluss auch frei verkäuflicher Medikamente (Selbstmedikation), ggf. Inspektion mitgebrachter Arzneimittel sowie des Verordnungsplans (wenn vorhanden), Informationen zu sensorischen Funktionen und Kommunikationserschwernissen (Sehen, Hören, Sprache; Seh- und Hörhilfen?) sowie Informationen zu Arztbesuchen, Krankenhausaufenthalten und Nutzung gesundheitlicher Dienstleistungen (z. B. ambulanter Pflegedienst, Therapeuten). Ältere Patienten tendieren nicht selten zur Überschätzung ihrer funktionellen Kompetenz und neigen trotz objektiver Befunde zum Dissimulieren (Herunterspielen von Beschwerden/Problemen) aus Furcht vor Konsequenzen, z. B. nicht in die eigene Wohnung zurückkehren zu können. Depressive Patienten unterschätzen ihre funktionellen Fähigkeiten eher. Eine Fremdanamnese ist oft hilfreich oder zur Verifizierung der Angaben sogar unverzichtbar. z Psychische Gesundheit. Hierbei werden Depressivität und kognitive Funktionen geprüft: Gedächtnis, Orientierung, Aufmerksamkeit, Kommunikation und visuell-räumliche Fähigkeit. Beim Einsatz von Testverfahren zur „orientierenden“ Prüfung kognitiver Funktionen ist zu beachten, dass die Instrumente nur eine Einschätzung der globalen Fähigkeiten, aber keine Aussage zu Störungsursachen erlauben. Unterschiedliche Kulturen, unter-
Geriatrisches Assessment
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schiedliches Bildungsniveau sowie beeinträchtigte Möglichkeiten zur Kommunikation sind bei der Interpretation unbedingt zu beachten. Es darf nicht vorschnell und fälschlicherweise der Schluss „Demenz“ gezogen werden. z Selbsthilfestatus. Hierbei handelt es sich um eine Funktionsbeurteilung im engeren Sinne, d. h. um Befunde zu grundlegenden (basalen) Aktivitäten des täglichen Lebens („activities of daily living“, ADL) und zu instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens („instrumental activities of daily living“, IADL). Ergänzt wird dies durch weitere Informationen zum funktionellen Status mit Hilfe sog. Performance-Testverfahren. Dies sind leistungsbezogen standardisierte Testverfahren z. B. zur Mobilität. Dabei wird die zu untersuchende Person gebeten, eine entsprechende Aufgabe durchzuführen, z. B. eine bestimmte Strecke zu gehen, wobei die dafür benötigte Zeit gemessen wird. Performance-Tests geben z.T. genaue Leistungsvorgaben, deren Grad der Erfüllung gemessen werden kann. Im Gegensatz zu Fragebögen sind Performance-Messungen in der Regel aber zeitaufwändiger. Nicht alle Ergebnisse haben einen direkt umsetzbaren Nutzen. Ein Vorteil ist ihre Sensitivität für Veränderungen über die Zeit, z. B. als Resultat therapeutischer Interventionen oder wirksamer Prävention (siehe Kap. 15, 16). Der Patient soll bei der Befragung und Durchführung von Funktionsuntersuchungen in einem medizinisch stabilen Zustand sein. Beurteilt werden sollen hier nämlich seine grundsätzlichen Fähigkeiten und Einschränkungen und nicht der Einfluss von Akuterkrankungen auf diese Fähigkeiten. Das Ausmaß möglicher Aufmerksamkeit, Kooperations- und Leistungsbereitschaft der zu untersuchenden Person muss bei der Durchführung berücksichtigt werden. Die Untersuchungen eines umfangreichen Assessments, die von verschiedenen Mitgliedern des interdisziplinären Teams durchgeführt werden, müssen ggf. auf mehrere Tage verteilt werden. Geläufige Untersuchungsverfahren sind im Anhang aufgeführt. z Soziale Gesundheit. Im ICIDH- Konzept (siehe Kap. 2) nimmt die soziale Dimension einen wichtigen Platz ein. Zweifelsohne beeinflussen soziale Faktoren den Gesundheitszustand. Fehlende oder nur spärlich vorhandene soziale Kontakte stellen einen Risikofaktor im Alter für die Entwicklung von Hilfsbedürftigkeit dar [32]. Krankheitsfolgen können andererseits zu erheblichen Veränderungen der Lebensgestaltung der Betroffenen führen, z. B. zum Umzug in ein Altenpflegeheim. z Soziales Netz. Ein wichtiger Einflussfaktor ist das soziale Netz. Darunter versteht man die Verbindungen und Kontakte, über die eine Person verfügt. Mögliche Funktionen eines sozialen Netzes sind vielfältig und sehr individuell geprägt. Zu wichtigen Angaben zählen Informationen zur Biographie (Ausbildung, früherer Beruf, familiäre Situation, Verwitwung, Wohnungswechsel, ökonomische Verhältnisse) und Informationen zum Grad sozialer
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Unterstützung (tatsächlich genutzt und potenziell mobilisierbar). Ergänzt wird dies durch Informationen zum Vorliegen oder zur Beantragung einer Pflegestufe (siehe Kap. 17), zur Wohnsituation, zur Umgebung und zur Zukunftsplanung. z Informationen zu Wertvorstellungen. Informationen zu Wertvorstellungen, persönlichen Wünschen und Ressourcen (verstanden als körperliche und geistige Reserven, aber auch verfügbare Unterstützung) von Patienten sind für eine Behandlungsplanung wichtige Informationen. Sie sollen ebenfalls routinemäßig in Erfahrung gebracht werden, da hiervon die Motivation entscheidend bestimmt wird. Dies betrifft die eigenen Wünsche und Vorstellungen des Patienten zur Behandlung (persönliche Behandlungsziele), insbesondere auch zu lebensverlängernden Maßnahmen sowie zur subjektiven Einschätzung des weiteren Verlaufs und möglicher Perspektiven (subjektive Prognose) (siehe Kap. 19).
z Dokumentation Dokumentation ist ein leidiges Thema im ärztlichen Alltag. Ohne Zweifel sind die Ansprüche an Dokumentation und der hiermit verbundene Aufwand, der ärztliche Arbeitszeit in Anspruch nimmt, deutlich gestiegen. Es gibt jedoch außer der gesetzlichen Verpflichtung zur Dokumentation im Zusammenhang mit Gesichtspunkten des Qualitätsmanagements (siehe Kap. 16) weitere gute Gründe, die Dokumentation als Hilfe bei der Arbeit anzusehen. Angesichts der vielen und vielschichtigen Probleme multimorbider alter Patienten (Diagnosen, Befunde, identifizierte Problembereiche, Komplextherapien, Zeitkoordination und Entlassungsplanung etc.) ist eine übersichtlich geordnete Dokumentation essenziell. Ein einfaches, laufend aktualisiertes Dokumentationsmittel ist z. B. eine „Problemliste“ des Patienten. Dort werden alle Probleme notiert und nach Klärung bzw. Abarbeitung abgehakt. Das strukturierte Vorgehen geriatrischer Diagnostik ist hierfür hervorragend geeignet und fördert das Denken in Zusammenhängen. Wer seine Arbeit dokumentiert, kommt auch nicht umhin, sich dabei noch einmal zu vergegenwärtigen, was er mit welchen Mitteln für welches Ziel tut (schriftliche Formulierung von Behandlungsziel und Zwischenzielen). Der Arzt leitet das interdisziplinäre Team (siehe S. 51), ordnet an, integriert und bewertet Befunde, informiert sich über den Behandlungsfortgang, verantwortet letztlich die Gesamtheit der einzelnen angeordneten Maßnahmen und muss deshalb unbedingt hierüber für sich selbst und für die anderen Teammitglieder einen Überblick herstellen können und erhalten. Deshalb ist es erforderlich, darüber eine Dokumentation zu führen und die Ergebnisse der regelmäßig stattfindenden Teambesprechungen schriftlich zu dokumentieren. Die Ergebnisse der routinemäßig durch ver-
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schiedene Teammitglieder eingesetzten Assessment-Verfahren können auf vorgefertigten Bögen, u. U. auch EDV-basiert, eingetragen werden. Optimalerweise sind sie bereits Bestandteile von EDV-Systemen zur integrierten Befundschreibung und können dann auch bei der Arztberichtschreibung und Pflegeüberleitung automatisiert integriert werden. Unvollständige, fehlende oder falsche Informationsweiterleitung kann Patienten anlässlich Entlassung oder Verlegung in andere Abteilungen/Kliniken erheblich gefährden! Nicht oder in falscher Dosierung fortgeführte Medikamentenbehandlung kann z. B. eine Ursache für Komplikationen sein [24, 27, 33].
Nutzen von geriatrischem Assessment Randomisiert-kontrollierte Studien belegten den Nutzen systematisch strukturierter Vorgehensweise unter Verwendung von Assessment-Verfahren [28]. Sie zeigen, dass geriatrische Assessment-Programme, in bestimmten Situationen angewendet, den Grad der Selbstständigkeit älterer Patienten verbessern, deren Verbleib in der Häuslichkeit erhöhen und die Mortalität reduzieren können. Die Kontinuität der Betreuung und Einflussnahme auf die Umsetzung von Therapieempfehlungen, die sich aus den Ergebnissen des Assessments ergeben, sind wichtige Komponenten für den Erfolg. Eine Analyse aus dem Jahr 2004 schloss ausschließlich Studien ein, die Assessment-Programme im Krankenhaus zum Gegenstand der Untersuchung hatten [4]. Zwei konzeptionelle Formen von Assessment-Programmen im Krankenhaus wurden untersucht: „Geriatric Evaluation and Management Unit“ (GEMU): Dabei handelt es sich um spezielle Stationen, die ältere Patienten für ein umfassendes Assessment und eine Behandlung durch ein interdisziplinäres Team aufnehmen. „In-patient Geriatric Consultation Service Team“ (IGCS): Ein multidisziplinäres Team untersucht mittels standardisierter Assessment-Verfahren, bewertet die Ergebnisse und führt Beratungen zur Behandlungsplanung alter Krankenhauspatienten durch. Es wurde ermittelt, dass jene Patienten, die in CGA-Programme (CGA = „comprehensive geriatric assessment“) auf speziellen Stationen im Krankenhaus eingeschlossen worden waren, am Ende der Follow-up-Periode sich häufiger als Kontrollpatienten in der eigenen Häuslichkeit befanden. Programme auf der Basis eines Konsiliarservices hingegen waren nicht mit einem signifikant besseren Ergebnis verbunden. Eine Studie an geriatrischen Krankenhauspatienten setzte bei den Patienten der Interventionsgruppe umfassendes Assessment und eine Übergangsbetreuung direkt im Anschluss an die Entlassung aus dem Krankenhaus ein [22]. Diese Form der Intervention führte zur Verkürzung des ini-
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tialen Krankenhausaufenthaltes, zur zeitlichen Verzögerung des Umzugs ins Pflegeheim, zur Reduktion der Krankenhaustage (bei Wiederaufnahmen) und zu besseren funktionellen Fähigkeiten (IADL) der Patienten. In der Interventionsgruppe wurden mehr ambulante Hilfen genutzt.
Indikationen für umfassendes geriatrisches Assessment Die Zielgruppen für ein umfassendes geriatrisches Assessment sind charakterisiert durch die Kombination von höherem Lebensalter, körperlicher Krankheit, dem Vorliegen von geriatrischen Syndromen und Einschränkungen funktionaler Kompetenz. Diese Fokussierung soll sicherstellen, dass diejenigen Patienten erfasst werden, die eine möglichst hohe Wahrscheinlichkeit dafür aufweisen, von geriatrischer Behandlung zu profitieren. Ausschlusskriterien sind einerseits Akuterkrankungen ohne drohende Einschränkung der Selbstständigkeit, andererseits terminale Erkrankungen, terminale Demenz, medizinisch instabile Situation (intensivpflichtig) und eine Erkrankung ohne wirksame Behandlung. Es wird davon ausgegangen, dass zwischen 10–40% der älteren Krankenhauspatienten in Akutkrankenhäusern die Zielgruppe für ein geriatrisches Assessment darstellen [20]. Der Bedarf für ein Assessment und/oder Behandlung durch mindestens eines oder mehrere Mitglieder des interdisziplinären Teams (s. u.) wurde an einem Stichtag bei allen stationären Patienten in sechs englischen Krankenhäusern erhoben, darunter auch auf 46 Akutstationen [10]. Ein entsprechender Bedarf wurde bei 69% der erfassten Patienten (889/1324 Pat.) ermittelt. Im Bereich der Akutstationen (61%) war dies mehr als jeder zweite Patient. Der Selbsthilfestatus, gemessen anhand grundlegender Alltagsaktivitäten, sank mit steigendem Lebensalter der Patienten, während der Bedarf für interdisziplinäre Versorgung entsprechend anstieg. Bereits der Zeitaufwand für Anamnese und körperliche Untersuchung bei älteren Patienten ist erheblich und nimmt mit steigendem Komplexitätsgrad des Assessments zu (Tabelle 4.2). Zur Indikationsstellung für ein umfassendes geriatrisches Assessment müssen deshalb geeignete Patienten, die davon profitieren können, zunächst erkannt werden. Das Verfahren, mit dem geeignete Patienten mit typischen Problemkonstellationen identifiziert werden können, wird als geriatrisches Screening bezeichnet (s. u.). Situationen für den Einsatz eines Screenings sind beispielsweise die Aufnahme in einer Notfallambulanz oder Aufnahmestation im Krankenhaus sowie die geriatrische Konsiliaruntersuchung im Krankenhaus, die Aufnahme in einer geriatrischen Abteilung, die Anmeldung für geriatrische Rehabilitationsbehandlung und die Beurteilung von Pflegebedürftigkeit.
Empfehlungen zum Vorgehen
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Tabelle 4.2. Zeitaufwand in Minuten für geriatrisches Assessment (Beispiel: Hausbesuch mit Assessment) Bekannter Patient Durchschnittlich z Anamnese und 30–45 körperliche Untersuchung z Kognitiver und 20 affektiver Status z Funktioneller Status ADL, 15 IADL z Häusliche Umgebung 15 z Sozioökonomischer 20 Status und Fremdanamnese z Gesamt 100–115
Neuer Patient Komplex
Durchschnittlich
Komplex
45–60
45–60
60–75
20
20
20
20
15
20
15 20
15 20
15 20
120–130
115–130
135–150
Empfehlungen zum Vorgehen Von der deutsch-schweizerischen Arbeitsgruppe „Geriatrisches Assessment“ (AGAST) wurde 1995 eine Empfehlung zur Durchführung eines sog. Basis-Assessments erarbeitet [2, 9]. Teile hiervon wurden vom Bundesverband Geriatrie e.V. übernommen. Sie sind auch im „Geriatrischen Minimum Data Set“ (GEMIDAS) [4] enthalten, der von vielen im Bundesverband organisierten Kliniken erhoben wird (siehe Kap. 16). Eine Arbeitskommission der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) und der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) hat gemeinsame Empfehlungen formuliert [23]. Diese Empfehlungen sehen in der ersten Stufe die Durchführung eines erweiterten Screenings vor. Dieses nach Lachs et al. [13] modifizierte Screening-Verfahren dient der Identifikation geriatrischer Problemkonstellationen und Risiken. In der Version nach Lachs et al. beinhaltet es 11 Bereiche und wurde für den ambulanten Einsatz bei asymptomatischen Patienten konzipiert. In der Version nach AGAST sind die Bereiche ADL/IADL und häusliche Umgebung modifiziert, zusammengefasst und vier Risikofaktoren hinzugefügt. Nach Empfehlung der o. g. Kommission sollten folgende Problembereiche ergänzend ebenfalls angesprochen werden: z Liegt eine relevante Störung der sprachlichen Kommunikation vor? z Bestehen Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Unruhezustände, Aggressivität, mangelnde Kooperation)? z Droht oder besteht ein Dekubitus? z Droht oder besteht Pflegebedürftigkeit oder deren Verschlimmerung? z Besteht eine Indikation zu qualifizierten geriatrischen Maßnahmen? z Möchte der Patient auch entsprechende Maßnahmen?
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Mögliche Konsequenzen für weitergehende Untersuchungen aus dem Ergebnis dieses Screenings werden unter Gesichtspunkten klinischer Relevanz entschieden. Diese Entscheidung richtet sich nach der klinischen Gesamtbeurteilung. Eine bestimmte Anzahl von identifizierten Problemen im Screening kann hierfür nicht angegeben werden. Für ein Assessment wird in der 2. Stufe die Erhebung des Barthel-Index (ADL; basale Aktivitäten des täglichen Lebens), die Feststellung des Mini-Mental-Status (MMSE; kognitive Funktion) und eine Einordnung auf der geriatrischen Depressionsskala (GDS; Depression) empfohlen. Zusätzlich werden Fragen sowohl zur Wohnsituation als auch zur sozialen Situation (soziale Kontakte, Unterstützung sowie soziale Aktivität) gestellt. Neben der Durchführung des Aufsteh- und Gehtests (timed „up and go“; Mobilität) sollen zusätzlich ein Semitandem-Stand und ein Tandem-Stand durchgeführt werden, um auch die Balance zu erfassen, die zur Abklärung des Sturzrisikos wichtig ist (siehe Kap. 8). Ausgewählte Assessment-Instrumente und dazugehörige Handlungsanleitungen finden sich im Anhang. Ein für den Bereich ambulanter Versorgung entwickeltes ambulantes geriatrisches Screening (AGES) wurde in allgemeinärztlichen Praxen probeweise durchgeführt. Damit konnten bei 713 Patienten im Alter von 70 Jahren und älter im Durchschnitt 4,8 neue, bis dahin nicht bekannte Gesundheitsprobleme aufgedeckt werden [11]. Das von einer europäischen Arbeitsgruppe (STEP-Project) entwickelte ambulante evidenzbasierte präventive Assessment [12] liegt auch in deutscher Fassung.
Fazit Ältere Patienten sind sehr häufig mehrfach erkrankt, mit u. U. komplexen und weitreichenden, physischen, psychischen und sozialen Krankheitsfolgen. Zur Erfassung und Beurteilung dieser Krankheitsfolgen und zur sinnvollen Planung der Behandlung ist eine systematische Vorgehensweise erforderlich. Die medizinische Diagnostik wird deshalb ergänzt durch standardisierte Untersuchungsverfahren, die Krankheitsfolgen abbilden bzw. messbar machen. Der Prozess, der diese umfassende (Funktions-)Beurteilung und Behandlungsplanung beschreibt, wird als umfassendes geriatrisches Assessment bezeichnet. An diesem multidimensionalen Prozess ist ein interdisziplinäres Team beteiligt.
Interdisziplinäres Team
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Interdisziplinäres Team Umfassende (mehrdimensionale) Beurteilung, Befunderhebung, Planung und Durchführung der in der Regel komplexen Behandlungen erfordern die Methoden und Fähigkeiten mehrerer Berufe, also mehrerer Disziplinen. Ein essenzieller Bestandteil des geriatrischen Konzepts ist der interdisziplinäre Arbeitsansatz. In der klinischen Geriatrie ist das interdisziplinäre therapeutische Team die diagnostizierende und therapierende Einheit. Für unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte bzw. Versorgungsaufträge kann die Zusammensetzung der Disziplinen eines Teams wechseln. Als geriatrisches Kernteam wird die Kombination aus ärztlichem und pflegerischem Dienst sowie Sozialdienst benannt. Den Teammitgliedern, insbesondere Ärzten als Verantwortliche für den gesamten Behandlungsverlauf, sollten Grundzüge der Tätigkeiten der anderen Disziplinen bekannt sein. Im Folgenden werden deshalb die Aufgabenbereiche stichwortartig aufgeführt.
z Teammitglieder und ihre Aufgaben z Krankenschwester/Krankenpfleger/Altenpfleger. Die Krankenpflegeausbildung erfolgt an Krankenpflegeschulen, die Altenpflegeausbildung an Altenpflegeschulen oder Berufsfachschulen. Letztere ist auf Altersaspekte ausgerichtet und beinhaltet neben pflegerisch-medizinischen auch sozial-pflegerische Inhalte. Aufgaben umfassen u. a. die pflegerische Beurteilung des Funktionsstatus bei Alltagsaktivitäten der Patienten, die fortlaufende Krankenbeobachtung, die Pflegeplanung und die Durchführung von Grundpflege auf der Grundlage aktivierender Konzepte, rehabilitative Pflege (Erhaltung und Förderung des Selbstpflegepotenzials), Behandlungspflege, Unterstützung von Angehörigen durch Beratung und Anleitung, im stationären Bereich 24-stündige pflegerische Verantwortung (Grundlage des therapeutischen Milieus) und Begleitung bis zum Tod. z Ärzte. Die 24-stündige Verantwortung des ärztlichen Dienstes im stationären Bereich betrifft die medizinische Gesamtverantwortung. Aufgaben umfassen u. a. medizinische Diagnostik und Therapie, Indikationsstellung für diagnostische und therapeutische Maßnahmen, Leitung der gemeinsamen Dokumentation, Integration und Bewertung der Diagnostik, Diagnosenstellung, Beurteilung des Behandlungsverlaufs, Leitung des therapeutischen Teams, Dasein als konstante Bezugsperson für Patient und Angehörige, Beratung, ärztliche Dokumentation und Dialog mit Kostenträgern. z Physiotherapeut (Krankengymnastik). Die Ausbildung erfolgt an staatlich anerkannten Schulen. Physiotherapeuten arbeiten gemäß ärztlicher Verordnung mit ärztlicher Diagnose. Sie führen aufgrund differenzierter Befund-
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aufnahme eine individuelle Behandlung durch, um ein funktionelles, d. h. alltagsrelevantes Ziel zu erreichen. Hier kommen verschiedene Behandlungsverfahren und Konzepte zur Anwendung, die spezielle Fort- und Weiterbildungen erfordern. Ein Beispiel ist das Bobath-Konzept zur Behandlung neurologischer Erkrankungen. Physiotherapie dient u. a. der Prävention, z. B. von Erkrankungen des Bewegungsapparats, der Schmerzlinderung und der Wiedererlangung funktioneller Bewegungsmöglichkeiten. Ein neuerer Arbeitsbereich ist die medizinische Trainingstherapie unter Anwendung spezieller Trainingsgeräte zur gezielten Kräftigung von Muskeln bzw. Muskelgruppen. Auch dies setzt die vorherige Befundaufnahme voraus. Häufig gehören Hilfsmittelversorgung sowie Patienten- und Angehörigenberatung ebenfalls zum Aufgabenbereich der Physiotherapeuten. z Masseurin, medizinischer Bademeister. Die Ausbildung erfolgt an staatlich anerkannten Schulen. Aufgaben sind die Durchführung verschiedener Massageformen, die manuelle Lymphdränage, die Anwendung von Thermo-, Elektro-, Hydro- und Balneotherapie. Behandlungsziele sind z. B. Schmerzlinderung, Verbesserung der Durchblutung, Abbau von Schwellungen, Tonusregulierung zur Förderung von Beweglichkeit und Elektrostimulation zur Behandlung peripherer Nervenschädigungen. z Ergotherapeut. Die Ausbildung erfolgt an staatlich anerkannten Schulen. Die therapeutischen Aufgaben sind an ärztlicher Verordnung orientiert und setzen eine differenzierte Befunderhebung und Behandlungsplanung durch die Ergotherapeuten voraus. Behandlungsziele sind die Verbesserung körperlicher und geistiger Funktionen durch gezielte therapeutisch-konstruktive Aktivitäten. Hierzu zählen z. B. das Training alltagspraktischer Fertigkeiten und das Training erweiterter Tätigkeiten etwa in Form von Küchenoder Citytraining. Die Behandlungskonzepte von Bobath und Affolter finden ihre Anwendung v. a. bei der Diagnostik und Therapie von neuropsychologischen Störungen. Durchgeführt werden ebenfalls Hilfsmittelberatung, -anpassung und -training, Hausbesuche, Wohnungsanpassungen sowie Beratung von Patienten und Angehörigen. z Logopäde/Sprachheiltherapeut. Die logopädische Ausbildung erfolgt an staatlich anerkannten Schulen. Sprachheiltherapeuten haben Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Sprachtherapie studiert. Aufgaben sind Diagnostik und Therapie von Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen. Zur Anwendung kommen z. T. lerntheoretische und kommunikationstheoretische Behandlungskonzepte. Ziele sind z. B. Verbesserung von Sprachverständnis und Sprachproduktion sowie Lesen und Schreiben. Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Diagnostik und Behandlung von Kau- und Schluckstörungen. Auch Erkrankungen im orofazialen Bereich und im Kehlkopfbereich werden logopädisch behandelt.
Interdisziplinäres Team
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z Diplomsozialarbeiter/Diplomsozialpädagoge. Sozialarbeiter/-pädagogen absolvieren ein Fachhochschulstudium. Aufgaben in der Klinik betreffen Patienten- und Angehörigenberatung durch klärende und unterstützende Gespräche zur Krankheits- und Konfliktbewältigung und in sozialmedizinischen Fragen. Sozialarbeiter/-pädagogen sind häufig entscheidend beteiligt an der Planung der Entlassungsvorbereitung durch Beratung und Vermittlung sowie Klärung der Kosten ambulanter Hilfen und stationärer Versorgung. Sie arbeiten deshalb eng mit Einrichtungen des Gesundheits- und sozialen Versorgungssystems zusammen und sind z.B. auch bei der Klärung zu treffender Regelungen im Zusammenhang mit dem Betreuungsgesetz tätig. z Diplompsychologe. Diplompsychologen und approbierte psychologische Psychotherapeuten haben ein Hochschulstudium absolviert. Als Klinische Psychologen oder spezialisierte Neuropsychologen (nach 3-jähriger weiterführender Zusatzausbildung) sind ihre Aufgaben in geriatrischen Kliniken insbesondere die Diagnostik und Therapie neuropsychologischer Störungen (vorwiegend mit psychometrischen Testverfahren) im Bereich Intelligenz, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Raumverarbeitung, Praxie, Problemlösungsfähigkeit und Planungsvermögen. Sie führen therapeuten- und computergestützte Therapien sowie psychotherapeutische Gespräche und Beratungen von Angehörigen durch. z Diätassistent. Die Ausbildung erfolgt an staatlich anerkannten Schulen. Aufgaben in der Klinik sind Ernährungsberatung und Schulung von Patienten und Angehörigen. Diätassistenten erstellen Rezepte, Speisepläne und Nährwertberechnungen und beraten Küchen bei der Planung, Organisation und Kontrolle spezieller Kostformen. Sie führen neben Informationsund Beratungsgesprächen z.T. auch praktische Übungen mit Patienten in der Lernküche durch. Ein zunehmend wichtig werdender Bereich in geriatrischen Kliniken ist die Beratung von Patienten mit Kau- und Schluckstörungen und deren Angehörigen bezüglich geeigneter Kostformen (Aufklärung über geeignete und ungeeignete Kost, Möglichkeiten der Andickung von Flüssigkeiten). z Seelsorger. Zum Team in der geriatrischen Klinik gehört auch der Seelsorger, insbesondere mit der Zusatzausbildung „Klinische Seelsorge“. Neben den Gottesdiensten hilft die Seelsorge Patienten und Angehörigen durch ihr Angebot geistlicher und anteilnehmender Begleitung. Auch Mitarbeitern steht sie in persönlichen oder ethischen Fragestellungen zur Verfügung. Seelsorger besuchen Kranke und helfen bei der Krankheitsverarbeitung, trösten und stehen Sterbenden und ihren Angehörigen bei.
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z Ehrenamtliche Helfer. Ehrenamtliche Laienhelferinnen und Helfer, z. B. sog. „grüne oder blaue Damen“, leisten in Kliniken vielfältige Hilfe für Patienten im Rahmen eines Besuchsdienstes, übernehmen z. B. regelmäßig Lotsendienste im Krankenhaus oder betreuen die Patientenbibliothek.
z Zusammenarbeit im therapeutischen Team Ein Team besteht aus Mitgliedern, deren Fähigkeiten sich gegenseitig ergänzen und deren Arbeit sich auf den Patienten zentriert. Voraussetzung hierfür ist eine funktionierende Kommunikation. Sie betrifft die Ergebnisse der spezifischen Befunderhebung (Assessment), die Formulierung von Behandlungszielen, die Beurteilung des Fortgangs der laufenden Behandlung mit ggf. erforderlichen Veränderungen im Vorgehen sowie die Entlassungsplanung. Grundlage hierfür sind die Dokumentationsunterlagen, die von den einzelnen Disziplinen verwendet werden. Das organisatorische Gerüst dieser interdisziplinären Teamarbeit sind tägliche Kurzbesprechungen am Morgen (z. B. Probleme während der Nacht, flexible Terminabsprachen) und eine wöchentliche Teambesprechung, bei der alle Teammitglieder anwesend sind. Sie dient neben dem Informationsaustausch (s. o.) der Absprache und Koordination therapeutischer Maßnahmen sowie der Entscheidungsfindung über Fortsetzung bzw. Beendigung der Behandlung.
Geriatrische Versorgungsstrukturen z Entwicklung Unter dem Motto „vom geriatrischen (Krankenhaus-)Block zum integrierten geriatrischen Service“ könnte man die Entwicklung beschreiben, die die stationäre geriatrische Versorgung v. a. im angloamerikanischen Raum genommen hat. Die Argumentation Dr. Marjory Warrens, einer britischen Pionierin der Geriatrie, für die eigenständige organisatorische Etablierung der Geriatrie im Jahre 1943 ist immer noch bedenkenswert. Geriatrie sei ein wichtiger Bereich im Kurrikulum der Medizinstudenten und die spezifische Pflege essenzieller Bestandteil der Ausbildung von Krankenschwestern. Für die diagnostische und therapeutische Versorgung sowie die Förderung der Forschung seien die Möglichkeiten eines Krankenhauses erforderlich. Die Integration einer solchen Abteilung sollte den Zugang geriatrischer Patienten zu anderen Spezialabteilungen sicherstellen (Konsiliardienste) [35]. Heute wird man hinzufügen, dass umgekehrt auch keinem alten Patienten, der von der Versorgung durch ein multidisziplinäres geriatrisches Team profitieren könnte, der Zugang dazu erschwert oder vorenthalten werden sollte. Direkter Zugang zu geriatrischer Abklärung und Behandlung
Geriatrische Versorgungsstrukturen
Primärdiagnostik u. geriatr. Screening
Erweitertes Assessment
verstorben
Direkteinweisung
Interdisziplinäre Notaufnahme
Sterbebegleitung
Geriatrische Fachabteilung
Regelung d. Versorgung
akutmed. u. rehabil. Behandlung
amb./teilstat./stat. Pflege
Entl.
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Verlegung aus akutmed. Abteilung
erweit. Abklärungsbedarf
primär rehab. Behandlungsbedarf
Akutmed. Fachabteilung
amb./teilstat./stat. geriatr. Rehabilit.
Abb. 4.2. Integration einer geriatrischen Fachabteilung im Akutkrankenhaus [15]
ist ein integrierter Bestandteil medizinischer Versorgung, die im Krankenhaus möglichst in der Notaufnahme oder Aufnahmestation beginnt [7, 15]. Dies war auch die schlussfolgernde Forderung einer Nachbeobachtung der Internistischen Notaufnahme der Baseler Medizinischen Universitätsklinik. Von initial als „Pflegeheimkandidaten“ beurteilten Patienten (mittleres Alter 83 ± 7 Jahre) konnten 56% (!) nach geriatrischer Behandlung in ihre häusliche Umgebung zurückkehren [29]. Abbildung 4.2 zeigt modellhaft die Integration einer geriatrischen Fachabteilung im Akutkrankenhaus. In den USA spielte das geriatrische Assessment die entscheidende Rolle bei der Etablierung entsprechender Versorgungseinrichtungen. Dies führte zunächst zu sog. Geriatric Research Education and Clinical Centers (GRECC). Deren Aufgaben waren die Entwicklung modellhafter klinischer Versorgung, altersbezogene Forschung sowie die Aufstellung von Programmen für die Ausbildung von Experten. Nachdem der Beweis der Effizienz des Konzepts geführt worden war, wurden weitere Abteilungen (Geriatric Evaluation and Management/GEM Units) eingerichtet [6]. In Deutschland wurde erst 1968 die erste Fachklinik für geriatrische Rehabilitation in Hofgeismar eröffnet und 1980 mit dem Albertinen-Haus in Hamburg erstmals eine geriatrische Klinik mit Fördermitteln des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung eingerichtet. Die weitere Entwicklung v. a. geriatrischer Rehabilitationseinrichtungen wurde durch die Politik des Bundes und der Länder maßgeblich gefördert [8]. Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ wurde 1989 im Gesundheitsreformgesetz verankert. Auf Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung wurde 1993 die Bundesarbeitsgemeinschaft der geriatrischen Rehabilitationseinrichtungen e.V. gegründet. Diese Trägervereinigung berücksichtigte zunächst ausschließlich Träger von Rehabilitationskliniken/-abteilun-
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gen, später als Bundesarbeitsgemeinschaft der Klinisch-Geriatrischen Einrichtungen e.V. (BAG) auch Träger geriatrischer Krankenhausabteilungen [18]. 2008 erfolgte die Umbenennung der BAG in Bundesverband Geriatrie. Informationen finden sich unter: http://www.bv-geriatrie.de.
z Bestand geriatrischer Einrichtungen Geriatrische Versorgungsleistungen werden in Krankenhäusern (§§ 107 Abs. 1 i. V. m. 39 SGB V) und in Rehabilitationseinrichtungen (§§ 107 Abs. 2 i. V. m. 40 SGB V) erbracht. Im Krankenhausbereich bestehen stationäre und teilstationäre Versorgungsstrukturen in Form geriatrischer Tageskliniken, im Rehabilitationsbereich stationäre und ambulante Einheiten. Übersichten zum Bestand geriatrischer Versorgungsstrukturen wurden wiederholt erstellt [8, 14, 33]. Dabei lagen unterschiedliche methodische Ansätze sowie unterschiedlich umfangreiche Erhebungen zugrunde. Die letzte Zusammenfassung wurde 2006 durch das Kompetenz-Centrum Geriatrie beim MDK Nord erstellt [19]. Diese berücksichtigte die 2005 veröffentlichten Grunddaten der Krankenhausstatistik für das Jahr 2003 sowie eine gesonderte Recherche zu ambulanten geriatrischen Rehabilitationseinrichtungen für das Jahr 2003. Danach standen 2003 in Deutschland insgesamt 388 geriatrische Versorgungseinrichtungen zur Verfügung (245 stationäre, 97 teilstationäre, 46 ambulante). Von diesen waren über zwei Drittel leistungsrechtlich im Krankenhausbereich angesiedelt. Auf Grundlage der Daten des Statistischen Bundesamtes wurde 2003 für 7,8% aller 2197 Krankenhäuser eine eigene geriatrische Fachabteilung erfasst. Der Anteil geriatrischer Tageskliniken (teilstationäre Versorgung) betrug 8,9% aller 16 234 Tages- und Nachtklinikplätze und der Anteil der geriatrischen Rehabilitationsbetten 2,3% der insgesamt 179 789 für das Jahr 2003 ausgewiesenen Rehabilitationsbetten. Die Durchführung einer teilstationären Behandlung in Tageskliniken (von Montag bis Freitag) setzt voraus, dass Patienten während der Nacht sowie an Wochenenden und Feiertagen zu Hause zurecht kommen bzw. versorgt sind. Für die Behandlung werden sie von zu Hause abgeholt, zur Tagesklinik und nach Beendigung der Behandlung zurück nach Hause befördert. Die zweite Voraussetzung für tagesklinische Behandlung ist deshalb die Transportfähigkeit. Der Patientenzugang erfolgt unterschiedlich, sowohl als Selbsteinweisung oder Direktaufnahme via Notaufnahme oder Aufnahmestation als auch als Verlegung aus anderen Krankenhausabteilungen bzw. Kliniken. Als Besonderheit ist vor der Aufnahme in ambulante, teilstationäre oder stationäre geriatrische Rehabilitation die Kostenübernahmeerklärung des Kostenträgers erforderlich. Die Anmeldung erfolgt über spezielle Anmeldebögen, die neben Diagnosen und angestrebtem Rehabilitationsziel auch Angaben zum basalen Selbsthilfestatus enthalten. Das Verfahren beinhaltet die Überprüfung des Rehabilitationsantrags und die daraus resultierende
Geriatrische Versorgungsstrukturen
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Empfehlung des MDK an den über die Antragsgenehmigung entscheidenden Kostenträger (siehe Kap. 15). Die Frührehabilitation ist Bestandteil der akutstationären Behandlung im Krankenhaus. Möglichst frühzeitig werden Leistungen zur Frührehabilitation (§ 39 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 107 Abs. 1 SGB V) bereits während akutmedizinisch-kurativer Behandlung erbracht. Sie haben das Ziel, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern (§ 11 Abs. 2 SGB V). Im Unterschied zur weiterführenden Rehabilitation ist die Frührehabilitation dadurch gekennzeichnet, dass bei vordringlich bestehendem akut stationären Behandlungsbedarf gleichzeitig Rehabilitationsbedarf besteht, die Rehabilitationsfähigkeit erheblich eingeschränkt sein kann und die Rehabilitationsprognose oftmals unsicher ist. Im Rahmen des DRG-Systems sind die Mindestvoraussetzungen der diagnostischen Kriterien und Behandlungskriterien festgelegt. Die so definierte „geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung“ wird von der fachübergreifenden Frührehabilitation unterschieden. Sie ist durch spezielle Bedingungen bzw. Behandlungsanforderungen definiert (Operationen- und Prozedurenschlüssel OPS, Nr. 8.550; jeweils aktuell gültige OPS-Version), die die Prinzipien geriatrischer Versorgung durch Festlegung der fachlichen Qualifikation sowie durch definierte Vorgaben für Struktur und Abläufe im Behandlungsprozess berücksichtigen. Für das Jahr 2003 wurden als mittlere Versorgungsquote 12,3 geriatrische Betten bzw. Behandlungsplätze pro 10.000 Personen im Alter ab 65 Jahren berechnet [19]. Zwischen den Bundesländern besteht eine erhebliche Variabilität mit hohen Versorgungsquoten in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg sowie im Saarland (23,3–28,9) und niedrigen Versorgungsquoten für Sachsen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz (5,8–7,2). „Strukturstandards für geriatrische und gerontopsychiatrische Einrichtungen“ sowie „Empfehlungen für die klinisch-geriatrische Behandlung“ wurden 1998 von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Klinisch-Geriatrischen Einrichtungen e.V. veröffentlicht. Ausgehend von den Zielen geriatrischer Behandlung beruhen diese auf den hierfür erforderlichen Rahmenbedingungen (strukturelle, räumliche und fachlich personelle Bedingungen, interdisziplinäre Versorgungsprozesse) [18]. Die Entwicklung führt zu integrierten geriatrischen Behandlungseinheiten im Krankenhaus [1, 15, 16] und, den Aufgaben des Querschnittsfaches entsprechend, zur Wahrnehmung integrativer Funktionen im Sinne eines geriatrischen Case-Managements (siehe Tabelle 4.3). Die Aufgaben einer geriatrischen Klinik/Krankenhausabteilung sind in Tabelle 4.4 aufgeführt. Deren mögliche Realisierung ist von den jeweiligen Rahmenbedingungen einer Klinik bzw. Abteilung abhängig. Bezüglich der Aufgaben im Bereich der Ausbildung ist festzustellen, dass ärztliche Ausund Weiterbildung im Gebiet Geriatrie fast ausschließlich außeruniversitär stattfindet [17, 26, 27].
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Tabelle 4.3. Eckpunkte eines medizinisch-geriatrischen Casemanagements [16] z Patientenidentifikation und Zuweisung zu einem geriatrischen Behandlungsteam z Multiprofessionelles Assessment ? Behandlungspriorisierung ? Behandlungsplanung z Berücksichtigung des geriatriespezifischen Behandlungsfokus z Medizinische Behandlungsführung (inkl. abgestimmter Pharmakotherapie und ggf. Rückgriff auf Spezialisten) z Kontinuierliche Patientenbegleitung auch bei zeitweilig anderem fachspezifischen Behandlungsschwerpunkt z Systematisches Risikomanagement z Vorhalten frührehabilitativer Behandlungsmöglichkeiten und deren Einsatz und Kontrolle nach individuellem Bedarf z Planung und Umsetzung von Maßnahmen der Weiterversorgung – ggf. auch unter Nutzung teilstationärer Übergangsbehandlung – in Abstimmung mit Angehörigen, Pflegediensten und Hausarzt
Tabelle 4.4. Mögliches Aufgabenspektrum einer geriatrischen Krankenhausabteilung z Diagnostik und Behandlung
– Berücksichtigung von Multimoridität und spezifischen Risiken
Geriatrische Abklärung und Konsiliartätigkeit
– – – –
umfassendes Assessment, spez. Assessment Rehabilitationsbedürftigkeit, -potenzial, -fähigkeit Findung optimaler Versorgungsoption interdisziplinär: Stroke-Unit, perioperativ etc.
Geriatrische Rehabilitation
– Frührehabilitation – stationär, teilstationär, ambulant
Prävention
– Entwicklung von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, iatrogene Störungen
Palliation
– Linderung von Schmerzen, Symptomkontrolle unter prioritärer Berücksichtigung von Lebensqualität
z Aus-, Fort- und Weiterbildung
– Medizinstudenten, Ärzte, Berufe des interdisziplinären Teams
z Zusammenarbeit
– intern: interdisziplinär mit med. Fachabteilungen – extern: z. B. Institutionen der Altenhilfe, Behörden, Seniorenverbände, „Runder Tisch“ usw.
z Klinisch-geriatrische Forschung
– interdisziplinär und im Verbund
Literatur
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Teil II:
Geriatrische Syndrome
5 Geriatrische Syndrome – eine diagnostische und therapeutische Herausforderung Anamneseerhebung Diagnostisch sind bei älteren und sehr alten Menschen einige Charakteristika zu berücksichtigen. Nicht selten besteht eine erstaunliche Gelassenheit bis Indolenz von Patienten, gelegentlich auch von deren familiären Umfeld, was gesundheitliche Veränderungen anbelangt. Der „Gesundheitsoptimismus“ alt gewordener Menschen korrespondierte in zahlreichen Untersuchungen mit positiver Selbsteinschätzung des Gesundheitszustands. Im Extremfall erreicht diese „Zufriedenheit“ das Ausmaß ausgeprägter Selbstvernachlässigung. Unter der Bezeichnung „Diogenes-Syndrom“ mit der Folge katastrophaler Verwahrlosung wurde dies 1975 erstmals als geriatrische Entität beschrieben [5]. Positive Selbsteinschätzung kann dazu verleiten, wichtige Befunde zu übersehen. Dieses Risiko nimmt bei Multimorbidität, dem Vorliegen mehrerer Erkrankungen zu [32] und steigt deshalb auch mit höherem Lebensalter [24]. Aufgrund der Chronizität vieler Erkrankungen werden Exazerbationen selbstverständlich erwartet, neu hinzukommende Störungen und Symptome jedoch gerade bei lang bekannten Patienten schwieriger erkannt oder verpasst. Die Kommunikation mit und die Anamneseerhebung bei alten Kranken können ausgesprochen schwierig sein; sie beanspruchen Ruhe und in der Regel mehr Zeit als bei jüngeren Patienten. Als altersspezifisches „underreporting“ wird der Umstand bezeichnet, dass körperliche, psychische und soziale Probleme von alten Menschen häufig nicht spontan geäußert werden [26]. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig (Tabelle 5.1). Erstaunlich häufig werden auch gravierende Symptome wie Blut im Stuhl, Gangunsicherheit und Stürze, Phasen von Desorientiertheit, Vergesslichkeit oder Appetitmangel nicht mitgeteilt [4]. Eine finnische Untersuchung zeigte eine längere Latenzzeit vom Auftreten erster Symptome bis zur Diagnosestellung kolorektaler Karzinome bei älteren Personen [15]. Die Anamnese sollte deshalb gezielte Fragen enthalten und Informationen durch eine Fremdanamnese nutzen. Die Bedeutung der gründlichen körperlichen Untersuchung ist überhaupt nicht zu überschätzen, da sie oft entscheidende Hinweise für das weitere diagnostische Vorgehen und die Behandlung liefert [21].
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5 Geriatrische Syndrome – eine diagnostische und therapeutische Herausforderung
Tabelle 5.1. Ursachen des altersspezifischen „underreportings“ z Nichtwahrnehmen eines langsam, aber stetig voranschreitenden Funktionsverlustes z Verleugnen von Problemen aus Furcht vor eingreifender Diagnostik und Therapie sowie sozialen Folgen (Umzug ins Pflegeheim) z Erachtung von Problemen als Tabuthemen, z. B. Inkontinenz und Demenz z Wahrnehmung von Erkrankungen nicht als Krankheit, sondern als Altersfolge z Vermutung, dass Krankheiten nicht behandelbar sind z Ratlosigkeit, wer überhaupt bei unspezifischen Problemen ansprechbar ist z Scheu oder falscher Stolz bei Inanspruchnahme medizinischer und sozialer Dienste
Multimorbidität und unspezifische Manifestation von Krankheit Viele Diagnosen und pathologische Befunde können den Blick für das Dringende verstellen. Diese Komplexität verführt einerseits zu polypragmatischem Aktionismus, während andererseits gleichzeitig potenziellen Gefahren paradoxerweise ungenügende Aufmerksamkeit gewidmet und unzureichend vorgebeugt wird (siehe Kap. 6). Insbesondere alte Patienten im Krankenhaus sind aufgrund von Komorbidität komplex erkrankt und weisen häufig mehrere Risiken gleichzeitig auf (Tabelle 5.2) [6–8, 11, 23]. Die Gemengelage aus Multimorbidität und funktionellen Alternsveränderungen wird als üblicher Bestandteil eines „Verfalls“ im Alter verallgemeinert [9]. Das hiermit verbundene negative Dogma betrachtet diesen „Verfall“ (Synonyma: Gebrechlichkeit, Hinfälligkeit, Senilität etc.) als nicht spezifisch verursacht und deshalb auch nicht (spezifisch) behandel- und verbesserbar. Hierin liegt eine grundlegende Problematik, die vor allem mit Annahmen, jedoch immer noch zu wenig validen Daten verbunden ist. Ein weiteres, wichtiges Charakteristikum alter Patienten ist die außerordentlich große Variabilität. In keiner anderen Gruppe von Patienten sind vergleichbar ausgeprägte individuelle Variationen festzustellen. Die Ergebnisse aus gerontologischen Langzeitstudien belegen dies z. B. für biomedizinische Parameter [28, 30]. Es wird zunehmend deutlich, dass Veränderungen, die bislang Alternsfaktoren zugeordnet wurden, im Wesentlichen krankheitsbestimmt sind. Beispiele hierfür sind Parameter der Herz- und Nierenfunktion [12, 16, 25]. Unterschiedliche Untersuchungsergebnisse stammen häufig noch aus Vergleichen gesunder junger Menschen mit mehr oder weniger kranken alten Personen. Fehlschlüsse stammen auch aus Querschnittsuntersuchungen, ohne dass longitudinale Daten vorlägen. Die übliche klinische Problemlösung versucht, verschiedene Symptome pathophysiologisch möglichst auf eine einzelne spezifische Krankheit (Ursache) zurückzuführen. Bei Patienten im hohen Alter mündet jedoch die Summe
Multimorbidität und unspezifische Manifestation von Krankheit
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Tabelle 5.2. Auffällige Befunde/Risiken im geriatrischen Screening (nach AGAST) bei 250 Patienten (mittleres Alter: 81 Jahre) bei Krankenhausaufnahme [23] z z z z z z z z z z z z z z z a
Sehen eingeschränkt Hören eingeschränkt Armfunktion beeinträchtigt Beinfunktion beeinträchtigt Harninkontinenz Stuhlinkontinenz Reduzierter Ernährungszustand Kognitive Funktion eingeschränkt ADL a/IADL b beeinträchtigt Depressivität Fehlende soziale Unterstützung Krankenhausaufenthalt (< 3 Monate) Sturzereignis (vor < 3 Monaten) Multimedikation (³ 5 Medikamente) Häufig Schmerzen
69 (27,6%) 124 (49,6%) 73 (29,2%) 173 (69,2%) 166 (66,4%) 63 (25,2%) 105 (42,0%) 199 (79,6%) 221 (88,4%) 133 (53,2%) 65 (26,0%) 81 (32,4%) 117 (44,8%) 112 (44,8%) 73 (29,2%)
ADL Aktivitäten des täglichen Lebens, b IADL instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens
zahlreicher Ursachen (Krankheiten und altersbedingte Funktionsänderungen) zunehmend häufiger in phänomenologisch unspezifischer Symptomatik. Dies bedeutet, dass sich bei Hochbetagten eine neue, zusätzliche Krankheit, Gesundheitsstörung oder Verschlechterung oft durch atypische Symptomatik (nicht wie im Lehrbuch!) oder unspezifisch manifestiert, z. B. durch unruhige, agitierte Verwirrtheit als spektakuläre Manifestation oder relativ „still“, aber ebenfalls uncharakteristisch („es geht irgendwie nicht mehr“). Beide Situationen sind ebenso typisch wie diagnostisch tückisch! Im ersten Fall besteht das Risiko, dass vorschnell die evtl. falsche Diagnose „Demenz“ gestellt wird. Im zweiten Fall wird u. U. gar keine Diagnose gestellt, sondern das „geht nicht mehr“ wird auf das hohe Lebensalter geschoben. Bei beiden Typen von Kranken besteht die Gefahr, dass sich ihr Zustand infolge falscher oder gar keiner Behandlung aufgrund inadäquater Beurteilung weiter verschlechtert, statt sich zu verbessern. Geriatrische Syndrome sind also multifaktoriell verursacht. Systematische mehrdimensionale Diagnostik (medizinisch und funktionell) kann zur Lösung dieser komplexen Probleme und zu effektiven Therapiekonzepten führen [19] (siehe Kap. 4). Geriatrische Strategien wurden daher als beispielhaft für die Herangehensweise an komplexe Probleme bzw. Systeme angesehen [20].
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5 Geriatrische Syndrome – eine diagnostische und therapeutische Herausforderung
Das Konzept der Instabilität Ein Merkmal von Multimorbidität im hohen Lebensalter besteht darin, dass bereits geringfügige Anlässe (körperliche oder psychosoziale Belastungen oder geringe Veränderungen der Medikation) genügen können, um grenzwertig kompensierte homöostatische Gleichgewichte zum Zusammenbruch zu bringen. Beispiele hierfür sind Glukosetoleranz, Wasser-/Elektrolythaushalt, Blutdruck- und Gleichgewichtsregulation, sensorische und kognitive Funktion sowie der Erhalt minimaler Mobilität. Insbesondere Pharmaka können labile Regulationsmechanismen weiter destabilisieren. Die im höheren Alter erhöhte Komplikationsrate wird hierdurch teilweise erklärt (siehe Kap. 6) [6, 17, 18, 22]. Diese durch eingeschränkte Kompensationsmechanismen bzw. funktionelle Reserven begründete „Labilität“ bzw. „Anfälligkeit“ wird als „Syndrom der Instabilität“ bezeichnet. Instabilität ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Merkmal „gebrechlicher“ alter Menschen und geht mit Fluktuationen im Grad funktioneller Behinderung einher [3]. Behinderung ist ein Indikator für Funktionseinschränkungen, Instabilität ein Indikator für drohenden oder weiteren Funktionsverlust. Essenzielle Komponenten funktioneller Kompetenz sind die muskuloskelettale Funktion, die aerobe Kapazität als Maß für Ausdauer bzw. Belastbarkeit (siehe Kap. 7), kognitive und integrative neurologische Funktionen sowie der Ernährungszustand. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sowohl durch Krankheiten als auch durch Altersveränderungen beeinträchtigt werden [27, 31]. Diese Schlüsselkomponenten funktioneller Kompetenz (Tabelle 5.3) sind Prädiktoren für Funktionsverlust und Mortalität. Weiterhin sind sie durch Prävention positiv zu beeinflussen (siehe Kap. 2 und 3). Diese Zusammenhänge begründen ebenfalls die Erfordernis einer systematischen Vorgehensweise, an deren Beginn ein geriatrisches Assessment steht [10,14] (siehe Kap. 4). Ohne Frage können sich alte Patienten wähTabelle 5.3. Merkmale von Schlüsselkomponenten a funktioneller Kompetenz. (Modifiziert nach [3]) z z z z
Ermöglichen die Interaktion mit der Umwelt Werden von der Interaktion mit der Umwelt beeinflusst Sind wesentlich für die Adaptation an Belastungen und Schädigungen Klinische Dekompensationen können durch geringfügige körperliche oder psychosoziale Belastungen herbeigeführt werden z Schädigungen können vor klinischen Manifestationen erkannt werden z Schädigungen können verhindert werden z Die Komponenten sind miteinander verbunden a
Muskuloskelettale Funktion, aerobe Kapazität, kognitive und integrative neurologische Funktionen, Ernährungszustand (-reserve)
Das Konzept der Instabilität
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rend eines Krankenhausaufenthaltes funktionell im Selbsthilfestatus z. T. erheblich verschlechtern. Die bedeutsamsten Risiken hierfür zu kennen und zu beachten, trägt wesentlich dazu bei, Behandlungsergebnisse auch bei schwer Erkrankten zu verbessern. Andernfalls wird das Ergebnis einer bestmöglichen medizinischen Intervention, beispielsweise die erfolgreiche antibiotische Pneumoniebehandlung oder die operative Versorgung, letztlich infrage gestellt. Herausragende Bedeutung kommt dabei der Mobilität zu, die bei ungünstigem Outcome einer Krankenhausbehandlung erheblich reduziert sein kann; Folge ist eine Verschlechterung in alltagsrelevanten Fähigkeiten, der Bedarf für institutionelle Pflege sowie gar der Tod [2]. Folgenschwere Immobilität durch Bettruhe ist noch überaus häufig im Krankenhaus und in der Mehrzahl nicht indiziert [1,2] (siehe Kap. 7). Als eigenes geriatrisches Syndrom wird in der angloamerikanischen Literatur die verminderte Belastbarkeit gegenüber externen Stressoren mit dem Begriff „Frailty“ bezeichnet [29]. Klinische Kennzeichen von Frailty sind physische und psychische Erschöpfung, körperliche Schwäche, verlangsamte Gehgeschwindigkeit sowie verminderte körperliche Aktivität. Zugrunde liegende Ursachen hierfür werden auf genetische sowie erworbene Faktoren (Entzündungsprozesse) zurückgeführt. Der Rückgang von Muskelmasse bzw. muskulärer Leistung wird in Verbindung mit der Abnahme anabol und dem Anstieg katabol wirksamer Hormone gebracht. Das Frailty-Syndrom ist zum wesentlichen Bestandteil der Definition des geriatrischen Patienten geworden, die 2007 gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG), der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) sowie dem Bundesverband Geriatrie, ehem. Bundesarbeitsgemeinschaft Geriatrischer Einrichtungen (BAG) ausgearbeitet wurde (http://www.dggeriatrie.de). Danach sind geriatrische Patienten definiert durch: z geriatrietypische Multimorbidität, z höheres Lebensalter (überwiegend 70 Jahre und älter), oder durch: z Alter ³ 80 Jahre; z alterstypisch erhöhte Vulnerabilität („frailty“; z. B. wegen Auftretens von Komplikationen und Folgeerkrankungen, der Gefahr der Chronifizierung sowie des erhöhten Risikos eines Verlustes der Autonomie mit Verschlechterung des Selbsthilfestatus). Geriatrietypische Multimorbidität ist vorrangig gegenüber dem kalendarischen Alter. Im Folgenden werden geriatrische Syndrome dargestellt sowie Demenzen und Depression als besonders häufige Erkrankungen im Alter. Mangelernährung und Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts sind ebenfalls häufige klinische Probleme bei älteren Patienten. Besonders häufige Komplikationen sind arzneimittelbedingte Störungen, Stürze, neu auftretende Verwirrtheit und Infektionen sowie funktionelle Verschlechterung.
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5 Geriatrische Syndrome – eine diagnostische und therapeutische Herausforderung
Für diagnostische Maßnahmen gilt, dass zunächst möglichst nichtinvasive Verfahren eingesetzt werden sollen. Vor dem Einsatz anstrengender und invasiver Untersuchungstechniken sind die sich daraus ergebenden möglichen Konsequenzen für die Behandlung, z. B. Operation, mit eigenen Risiken abwägend zu bedenken. Wegen der Häufigkeit wird folgend vor allem auf arzneimittelbedingte Störungen eingegangen.
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6 Iatrogene Störungen
Definitionen Im Pschyrembel wird unter iatrogen „durch den Arzt verursacht“ verstanden, „z. B. infolge diagnostischer oder therapeutischer Einwirkungen“. Eine andere Definition für iatrogene Krankheit („iatrogenic illness“) versteht hierunter allgemein jeden krankhaften Zustand, der aus einer diagnostischen oder irgendeiner therapeutischen Maßnahme folgt. Dies schließt schädigende Ereignisse ein, die nicht als „natürliche Folge“ der Erkrankungen des Patienten anzusehen sind, z. B. Stürze und Dekubitalulzera. Synonym wird auch der Begriff „iatrogene Komplikation“ verwendet. Eine neuere Definition beruht auf der Zugrundelegung von 3 Kriterien: 1. der Kausalität, 2. der messbaren Behinderung und 3. der fehlenden Absicht. Diese Definition versteht unter dem Begriff „widriges Ereignis“ („adverse event“) jene eindeutig beschreibbare Schädigung, z die wenigstens teilweise auf medizinisches Management zurückzuführen ist (Kausalität), z deren daraus resultierende Behinderung/funktionelle Einschränkung („disability“) zur Verlängerung des Krankenhausaufenthalts oder eingeschränkter Funktion zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Krankenhaus führt, z die unbeabsichtigt ist (fehlende Intention). Der Sturz aus einem Krankenhausbett wird ebenso als unerwünschtes Ereignis gewertet wie eine Unterlassung, z. B. eine nicht erfolgte Diagnosestellung [18]. Eine iatrogene Schädigung als „Folge von Nachlässigkeit“, verstanden als ungenügende oder fehlende Sorgfalt, wird bei dieser Definition angenommen, wenn „zu erwartende Standards eines durchschnittlichen Arztes, eines anderen Leistungserbringers oder einer Institution nicht gewährleistet waren“.
Anzahl unerwünschte Ereignisse
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
z
1000 900 800 700
Unerwünschte Ereignisse Gesamtzahl Anzahl vermeidbarer Ereignisse Anzahl der Ereignisse mit bleibenden Schädigungen
600 500 400 300 200 100 0
0 –14
15–29
30–44
45–64
≥65
Alter [Jahre]
Abb. 6.1. Lebensalter von Krankenhauspatienten und unerwünschte Ereignisse [19]
Häufigkeit und Art iatrogener Störungen Die Informationen zu dieser Thematik stammen fast ausschließlich aus dem stationären Bereich medizinischer Versorgung. Die retrospektive Harvard Medical Practice Study ermittelte an über 30 000 Krankenhausaufnahmen in 3,7% der Fälle unerwünschte Ereignisse. Deren Folgen dauerten zu 70% weniger als 6 Monate an, waren in 2,6% der Fälle Dauerfolgen und endeten zu 13,6% tödlich [4]. Knapp 30% der unerwünschten Ereignisse wurde als vermeidbar beurteilt. Die Häufigkeit vermeidbarer Komplikationen bei medizinischen Eingriffen (z. B. durch zentrale Venenkatheter), durch Arzneimittel und bei Stürzen im Krankenhaus steigt mit einem höheren Grad komplexer Komorbidität (Begleiterkrankungen) und ist bei über 65-Jährigen deutlich häufiger als bei jüngeren Patienten [18, 28]. Eine australische Untersuchung fand bei 16,6% der im Krankenhaus behandelten Patienten unerwünschte Ereignisse, von denen 51% als vermeidbar eingeschätzt wurden (Abb. 6.1).
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen Nach der ursprünglichen WHO-Definition ist eine unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) jede unerwünschte Reaktion, die auf ein Arzneimittel ursächlich zurückgeführt werden kann, das in Dosierungen, die beim Menschen zur Prophylaxe, Diagnose oder Therapie üblich sind, verabreicht wurde. Eine neue Definition lautet: „an appreciably harmful or unpleasant reaction, resulting from an intervention related to the use of a medicinal product, which predicts hazard
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6 Iatrogene Störungen
from future administration and warrants prevention or specific treatment, or alteration of the dosage regimen, or withdrawal of the product“ [7]. Danach ist eine unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) also „eine nennenswert schädliche oder unangenehme Reaktion, die durch den Gebrauch eines Arzneimittels hervorgerufen wird, und die auf eine Gefahr durch zukünftigen Gebrauch weist, welche Prävention, eine spezielle Therapie, eine Änderung des Dosierungsschemas oder ein Absetzen des Präparates erforderlich macht“ [2]. Es wird zwischen dosisabhängigen und dosisunabhängigen UAW unterschieden, die auch als Typ-A- bzw. Typ-B-Reaktionen bezeichnet werden. Typ-A-Reaktionen sind häufig, beruhen auf der Verstärkung der erwünschten Wirkung bei gewöhnlichen therapeutischen Dosen und sind deshalb vorhersehbar. Beispiele hierfür sind die Hypotonie bei antihypertensiv wirkenden Medikamenten oder die Hypoglykämie bei Insulin. TypB-Reaktionen sind hingegen selten, weisen keinen Bezug zu einer pharmakologischen Wirkung auf und sind deshalb unvorhersehbar. Ein Beispiel hierfür ist die immunologische Reaktion nach Penicillin. Weiter werden unerwünschte Arzneimittelwirkungen in schwere und nicht schwere UAW eingeteilt. Gemäß der Definition der europäischen Arzneimittelbehörde ist eine UAW schwer, „wenn sie z tödlich oder lebensbedrohlich ist, z zur Arbeitsunfähigkeit oder einer dauerhaften Behinderung führt, z eine stationäre Behandlung oder ihre Verlängerung zur Folge hat, z zu einer kongenitalen Anomalie führt oder z beinahe zu einer der oben angeführten Situationen geführt hätte“ [2]. Von einer UAW wird das unerwünschte Ereignis („adverse event“) unterschieden. Damit werden alle Befindlichkeitsstörungen, subjektiven und objektiven Krankheitssymptome bezeichnet, die während einer medikamentösen Therapie unabhängig von einer möglichen Kausalität beobachtet werden. Unter einem so genannten Medikationsfehler („medication error“) versteht man gewöhnlich einen vermeidbaren Fehler bei der Arzneimittelanwendung. Medikationsfehler werden z. B. verursacht durch fehlerhafte Dosierungen, Kommunikationsfehler oder fälschliche Bezeichnung des Arzneimittels. Eingeschlossen ist auch die durch Patienten unbeabsichtigt fehlerhafte bzw. von ärztlicher Verordnung abweichende Arzneimittelanwendung. Medikationsfehler sind in der WHO-Definition für UAW nicht eingeschlossen. Sie zählen zu den Arzneimittel-bezogenen Problemen. Die Metaanalyse der Ergebnisse von 39 prospektiven UAW-Studien (ausschließlich Kliniken in den USA und ausschließlich sichere UAW-Fälle nach WHO-Definition) bezifferte die Inzidenz von UAW aller Schweregrade bei Krankenhauspatienten mit 15,1%. Die Inzidenz schwerwiegender UAW (definiert als notwendige Krankenhausbehandlung, Verlängerung des stationären Aufenthalts, bleibende Behinderung oder tödlicher Ausgang) betrug 6,7%, die aller tödlich verlaufenden Nebenwirkungen 0,32%. Es über-
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
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wogen mit drei Vierteln dosisabhängige Nebenwirkungen [17]. Im Krankenhaus gehen unerwünschte Arzneimittelwirkungen mit erhöhter Sterblichkeit, verlängerter Behandlungsdauer sowie erhöhten Behandlungskosten einher. Über 65-jährige Patienten weisen bei Aufnahme und während stationärer Behandlung zu 6 bis über 30% UAW auf. In einer geriatrischen Rehabilitationsklinik erhielten Patienten (mittleres Alter: 80 Jahre; durchschnittlich 7 Diagnosen) während ihres stationären Aufenthalts durchschnittlich 14 Medikamente. Bei 99 von 163 Patienten (60,7%) wurden insgesamt 153 leicht- (61%) bis mittelschwere (39%) UAW identifiziert. Die Mehrzahl der UAW war aufgrund der pharmakologischen Wirkung der Medikamente vorhersagbar, 17% beruhten auf Arzneimittelinteraktionen (Wechselwirkungen) [8]. Das Risiko für Arzneimittelinteraktionen steigt erwartungsgemäß mit der Zahl gleichzeitig verordneter Medikamente exponenziell an. Bei 169 Patienten mit der Diagnose „Koronare Herzkrankheit“ und/oder „chronisch-obstruktive Lungenerkrankung“ fanden sich pro Patient 1,5 Interaktionen bei Entlassung aus der Klinik. Die am häufigsten an Interaktionen beteiligten Arzneimittelgruppen waren Diuretika, ACE-Hemmer, Antikoagulanzien, Thrombozytenaggregationshemmer und Digitalisglykoside [16]. Als potenziell lebensbedrohlich wurden ca. 1–2%, als klinisch bedeutsam 70% und als therapeutisch günstig, z. B. als synergistische Wirkungsverstärkung ca. 18%, beurteilt. Erwähnenswert sind Wechselwirkungen zwischen Spironolakton, ACEHemmern und AT1-Rezeptor-Blockern mit dem Risiko für lebensbedrohliche Hyperkaliämien [32]. Gefährdet sind herzinsuffiziente Patienten, bei denen diese Medikamente häufig eingesetzt werden, besonders jene mit eingeschränkter Nierenfunktion (ein normaler Serumkreatininwert schließt dies nicht aus!) und Diabetes mellitus Typ 2. Für ca. 10% der stationären Aufnahmen in geriatrische Kliniken sind UAW als direkter oder mit entscheidender Anlass verantwortlich [24]. Krankenhausaufnahmen insgesamt wurden zu 3,4% als UAW-bedingt beurteilt (70% über 65-jährige Patienten, 964 von 28 411 Aufnahmen). Gastrointestinale Symptome, Stoffwechselstörungen und Blutungen waren die häufigsten Manifestationen von UAW. Diuretika, Kalziumantagonisten, nichtsteroidale Antiphlogistika und Digoxin waren die am häufigsten involvierten Arzneimittel. Der wichtigste unabhängige Risikofaktor war die Anzahl verordneter Medikamente! Von schwerwiegenden unerwünschten Wirkungen (19,3%; Blutungen, hämatologische UAW, kardiale Arrhythmien) waren ältere und schwerer erkrankte Patienten häufiger betroffen. Drei Viertel aller UAW beruhten (dosisabhängig) auf verstärkten Wirkungen der betreffenden Medikamente und waren vorhersehbar [22]. Ein Beispiel vermeidbarer UAW betrifft die häufige Behandlung mit Digitoxin, indem fehlende Berücksichtigung von niedrigem Körpergewicht älterer Menschen zur Überdosierung (>1 lg/kg Körpergewicht) führen kann [25]. Über 65-jährige Patienten suchen wegen unerwünschter Ereignisse im Zusammenhang mit ihrer Arzneimittelbehandlung häufiger eine Notfallam-
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6 Iatrogene Störungen
bulanz auf als jüngere Patienten. Sie benötigen dann auch häufiger eine stationäre Krankenhausbehandlung [5] Zur Häufigkeit von UAW im Bereich der ambulanten Versorgung liegen noch wenige und aufgrund unterschiedlicher Erfassungsmethodik auch unterschiedliche Angaben vor [10]. Zwischen 15 und 20% über 65-jähriger, ambulant behandelter Patienten führten auf Befragen einen Teil ihrer Beschwerden auf eingenommene Arzneimittel zurück oder sahen hier einen Zusammenhang [15]. Auch im ambulanten Bereich sind viele UAW im Prinzip vermeidbar [10]. Die im höheren Lebensalter überdurchschnittlich häufig durch Arzneimittel verursachten oder verschlechterten Symptome sind: z Verwirrtheitszustände, z Depression, z Stürze, z Orthostasestörung, z Obstipation, z Harninkontinenz, z Parkinsonismus. Diese Symptome sind uncharakteristisch und können ohne weiteres Krankheiten zugeordnet werden. Schlimmstenfalls werden sie auch als „Alterserscheinungen“ abgetan (siehe Kap. 5). Es ist deshalb absolut wichtig, vor dem Hintergrund der Multimorbidität alter Patienten überhaupt an unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu denken und dann aufmerksam danach zu suchen. Man diagnostiziert nur das, was man weiß! Deshalb ist es erforderlich, die Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen der Arzneimittel, die man einsetzt, zu kennen. Erschwert wird die Aufdeckung von UAW im Alter dadurch, dass ältere im Vergleich zu jüngeren Patienten selbst weniger aufmerksam und mitteilsam bezüglich vermeintlicher und selbst gravierender Nebenwirkungen sind. Auch unter den Bedingungen einer Langzeitbehandlung muss die Entwicklung unerwünschter Arzneimittelwirkungen bedacht werden. So können anticholinerg wirkende Medikamente über längere Zeit die Symptome eines milden kognitiven Defizits verursachen [1]. Es ist deshalb nicht selten, dass die Nebenwirkung eines Medikaments mit einem weiteren, zusätzlichen Medikament „behandelt“ wird. Hierdurch wird der Zustand des Patienten in der Regel nicht verbessert, sondern weiter verschlechtert (Kaskadeneffekt). Das Spektrum der für betagte Patienten verordneten Medikamente und ihrer möglichen Nebenwirkungen ist ausgesprochen vielfältig. Auf die in den Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) Versicherten ab 60 Jahren (26,1%) entfielen 2002 insgesamt 55% des gesamten GKV-Fertigarzneimittelumsatzes. Im Durchschnitt erhält jeder GKV-Versicherte über 60 Jahren täglich ca. 2,7 Arzneimittel als Dauerbehandlung. Die große Häufigkeit Arzneimittel-bedingter Störungen und Schäden bei älteren Patienten führte zur Entwicklung des Begriffs der nicht für alte Pa-
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
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tienten geeigneten Medikation („inappropriate medication“). Eine Arzneitherapie wird allgemein als nicht geeignet oder unangemessen beurteilt, wenn deren (unerwünschte) Risiken die gesundheitlichen Vorteile überwiegen [26]. Mittlerweile existieren verschiedene Zusammenstellungen von Kriterien, mit deren Hilfe Arzneimittelverordnungen für ältere Patienten bezüglich ihrer Angemessenheit bzw. Unangemessenheit beurteilt werden. Unter den bekannteren Verfahren sind die in den USA entwickelten sog. Beers-Kriterien zu nennen. Sie wurden ursprünglich in ihrer ersten Version aus dem Jahr 1991 ausschließlich für die Anwendung bei Bewohnern von Pflegeheimen erarbeitet und verwendet. Später erfuhren sie Erweiterungen (1997) und wurden dann auch im ambulanten Behandlungsbereich eingesetzt. Die letzte Überarbeitung enthält Feststellungen zu einer Reihe von Medikamenten, die grundsätzlich bei Patienten im Alter über 65 Jahren zu vermeiden sind, und eine Liste von Medikamenten, die bei älteren Patienten mit bestimmten Gesundheitsstörungen nicht eingesetzt werden sollten [9]. Die klinische Relevanz der als ungeeignet bewerteten Arzneimittelverordnungen der Liste und ihr mittelbarer Nutzen zur Verbesserung medikamentöser Behandlung konnten bislang jedoch nicht überzeugend gezeigt werden [27]. Aus klinischer Sicht fehlt das wichtige Kriterium der unzureichenden Behandlung. Dies betrifft z. B. häufiger die Schmerzbehandlung und die antidepressive Behandlung. Die Entwicklung neuer Instrumente und der mögliche Nutzen EDV-gestützter Systeme zur Verbesserung der Verordnungspraxis zeichnen sich ab.
z Multimedikation Aufgrund der Multimorbidität im Alter sind verständlicherweise Mehrfachbehandlungen häufig. Besonders häufig ist eine Multimedikation – die Verordnung von 5 und mehr Medikamenten gleichzeitig – bei älteren Patienten im Krankenhaus und in Altenpflegeheimen (siehe Kap. 18). Prädiktoren hierfür sind insbesondere die Diagnosen Herzinsuffizienz und arterielle Hypertonie, aber auch häufige Arztbesuche. Unerwünschte Effekte ergeben sich besonders häufig bei Mehrfachbehandlung mit Medikamenten, die in ihrer Summe gleichsinnig hypotensiv wirken (Schwindel, Benommenheit, Unsicherheit, Orthostasestörung) und bei Kombinationen mehrerer zentralvenös wirksamer Medikamente, z. B. Psychopharmaka und Sedativa (uncharakteristische Symptomatik, Schwindel, Steh- und Gangunsicherheit, Stürze, akute Verwirrtheit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Benommenheit, aber auch Unruhe und Bild wie bei einer Demenz). Multimedikation ist ein möglicher Indikator für ein hohes Maß an Multimorbidität, der wichtigste Risikofaktor für unerwünschte Arzneimittelwirkungen sowie ein Risikofaktor für Stürze und Verwirrtheitszustände im Alter (siehe Kap. 8 und 11). Deshalb sind ältere Patienten mit Multimedikation als Risikopatienten anzusehen!
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z Probleme bei der praktischen Arzneimittelbehandlung Einflussfaktoren für die praktische Arzneimittelbehandlung sind in Tabelle 6.1 zusammengefasst. Für Einzelheiten wird auf Lehrbücher der Pharmakologie und der Klinischen Pharmakologie verwiesen. Eine ungenügende Berücksichtigung der aufgeführten Faktoren erhöht die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten unerwünschter Effekte mit teilweise lebensbedrohlicher Gefährdung der Patienten [33]. Deshalb liegt in ihrer Vermeidung ein beträchtliches präventives Potenzial! Tabelle 6.2 enthält ergänzend die Stadieneinteilung der chronischen Nierenerkrankung. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang noch, dass der Serumkreatininwert nicht mehr als einziger Parameter genutzt werden sollte, um die Nierenfunktion zu beurteilen. Einige Laboratorien stellen neben dem Serumkreatininwert bereits die nach der MDRD-Formel oder der modifizierten MDRD-Formel (siehe Erläuterungen zu Tabelle 6.1) abgeschätzte glomeruläre Filtrationsrate (GFR) automatisch zur Verfügung. Die häufigsten verbesserungsfähigen Aspekte ärztlicher Medikamentenverordnungen sind erfahrungsgemäß: z ungenügende Berücksichtigung einer eingeschränkten Nierenfunktion, eines niedrigen Körpergewichts sowie von Kontraindikationen, z unzureichende Verlaufsbeobachtung nach Behandlungsbeginn und über längere Zeiträume ohne Überprüfung von Indikation und Dosis, z fehlendes Erkennen oder Fehlinterpretation aufgetretener Nebenwirkungen. Systematische Fehleranalysen zeigen, dass die wichtigsten Ursachen bzw. Gründe hierfür in folgenden Bereichen liegen: z Verfügbarkeit von Wissen zu Arzneimitteln, z Überprüfung von Identität und Dosierung der Medikamente, z verfügbares Wissen zu Patientendaten, z Übertragung von Verordnungen in den Unterlagen der Patientenkurve, z Warnung vor bekannten Allergien des Patienten, z Prozess der Weiterleitung von der Verordnung bis zur Anwendung und Kommunikation zwischen Verordnenden und Patienten selbst sowie zwischen den an der Patientenversorgung Beteiligten. Ihnen gemeinsam ist als Grundproblem die fehlerhafte, unvollständige oder nicht verfügbare Information, wenn sie gebraucht wird. Computerisierte Sammlungen von Arzneimitteldaten sind geeignet, vermeidbare unerwünschte Wirkungen und mögliche Wechselwirkungen zu erkennen. Verfügbare Softwareprogramme sind jedoch derzeit für ihren praktischen Einsatz noch nicht genügend ausgereift [8]. Aber auch die überlegteste, individuell angepasste Arzneimittelverordnung ist nur dann wirksam, wenn sie auch vom Patienten umgesetzt wird bzw. umgesetzt werden kann.
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
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Tabelle 6.1. Einflussfaktoren für die Arzneimittelbehandlung älterer Patienten Möglicher Einflussfaktor beim älteren Patienten
Konsequenz für die Arzneimittelbehandlung
z Eingeschränkte Nierenfunktion a, b
Verringerte renale Clearance, Risiko für toxische Arzneimittelkonzentrationen Risiko sowohl für Überwässerung als auch für Exsikkose (verstärkt durch nicht angepasste Medikamentenbehandlung) Risiko für Exsikkose (verstärkt durch nicht angepasste Medikamentenbehandlung) Risiko für Überdosierung, verringerte hepatische Clearance, Risiko für toxische Arzneimittelkonzentrationen Risiko für absolute oder relative Kontraindikationen, Risiko für schwerwiegende unerwünschte Wirkungen Risiko für pharmakokinetische und pharmakodynamische Wechselwirkungen Risiken für unerwünschte Wirkungen, Wechselwirkungen, Medikationsfehler und Noncompliance Risiko für Medikationsfehler und/oder Noncompliance, dadurch Risiko sowohl für unerwünschte als auch für ausbleibende Wirkungen („Therapieversagen“)
z Verlangsamte oder eingeschränkte Regulation des Wasser- und Elektrolythaushalts z Vermindertes Durstempfinden z Schlechter Ernährungszustand, niedriges Körpergewicht, eingeschränkte Leberfunktion z Multimorbidität (Mehrfacherkrankung) z Begleitmedikation z Multimedikation (³ 5 Arzneimittel) z Funktionelle Beeinträchtigungen, z. B. bei Gedächtnis, Sehen, Hören und Händigkeit sowie beginnende Demenz a
Trotz Einschränkungen der Nierenfunktion können bei alten Patienten normale Serumkreatininwerte gemessen werden (geringe Muskelmasse!). Mit der Formel nach Cockroft und Gault (1976) kann eine Abschätzung der Kreatinin-Clearance erfolgen: Clearance = (140–Alter) ´ Gewicht (kg)/72 ´ Serumkreatininkonzentration (mg/dl) für Männer; Clearance = (140–Alter) ´ Gewicht (kg)/85 ´ Serumkreatininkonzentration (g/dl) für Frauen. Bei komplett bettlägerigen Patienten können sich Abweichungen um mehr als 20% zur laborchemisch bestimmten Kreatinin-Clearance ergeben. b Genauer gelingt die Einschätzung der glomerulären Filtrationsrate (GFR) mit der MDRD-Formel (Modification-of-Diet-in-Renal-Disease-Studie) [7]: GFRm = 170 ´ (KreatininSerum)–0,999 ´ (Alter)–0,176 ´ (Harnstoff-NSerum)–0,17 ´ (AlbuminSerum)0,318 (ml/min) ´ 0,762 für Frauen bzw. ´ 1,180 für Patienten mit schwarzer Hautfarbe. Die modifizierte Version [19] lautet: GFR (in ml/min/1,73 m2 KOF) = 186 ´ (KreatininSerum)–1,154 ´ (Alter)–0,203 ´ 0,742 für Frauen bzw. ´ 1,210 für Patienten mit schwarzer Hautfarbe. „Die MDRD-Formel wurde noch nicht für Patienten mit diabetischer Nierenerkrankung, schweren Begleiterkrankungen sowie Patienten über 70 Jahre validiert. Klinische Situationen, die die Messung der GFR mittels Clearance-Verfahren erfordern, können sein: extrem hohes oder niedriges Körpergewicht, schwere Malnutrition oder Adipositas, Muskelerkrankungen, Paraplegie oder Tetraplegie, vegetarische Diäten, rasche Veränderungen der Nierenfunktion sowie Dosis-Berechnungen von potenziell toxischen, renal eliminierten Medikamenten“ [20]. Die mittels der MDRD-Formeln rechnerisch bestimmten Werte der GFR können erheblich differieren! Die Formeln sind von Vorteil, wenn bei bettlägerigen Patienten kein Gewicht verfügbar ist, können jedoch nicht ohne Weiteres gegen die Formel nach Cockroft und Gault ausgetauscht werden. Außerdem zeigten die Ergebnisse mittels der nichtmodifizierten MDRD-Formel die bessere Übereinstimmung mit den nach Cockroft und Gault bestimmten Werten [23].
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6 Iatrogene Störungen
Tabelle 6.2. Stadien der chronischen Nierenerkrankung. (Nach [21])
a
Stadium
Beschreibung
GFR a (ml/min/1,73 m2 KOF)
1
Schädigung mit normaler oder erniedrigter GFR
> 90
2
Schädigung mit milder Einschränkung der GFR
60–89
3
Moderate Einschränkung der GFR
30–59
4
Schwere Einschränkung der GFR
5
Nierenversagen
15–29 < 15 oder Dialysepflichtigkeit
GFR glomeruläre Filtrationsrate
Medikamenten-Compliance Die am häufigsten verwendete Definition des Begriffs „Compliance“ stammt von Haynes [11] und lautet in der deutschen Übersetzung: „Unter dem Begriff Compliance versteht man den Grad, in dem das Verhalten einer Person in Bezug auf die Einnahme eines Medikamentes, das Befolgen einer Diät oder die Veränderung des Lebensstiles mit dem ärztlichen oder gesundheitlichen Rat korrespondiert.“ Synonym wird der Begriff „Adherence“ benutzt, neuerdings auch „Concordance“, um auch begrifflich den Wandel von der herkömmlichen, eher direktiven Arzt-Patienten-Beziehung zu einem partnerschaftlichen Behandlungsverhältnis mit dem gemeinsamen Ziel der erfolgreichen Behandlung auszudrücken. Noncompliance bezeichnet entsprechend das Verhalten, von ärztlichen oder gesundheitlichen Verordnungen bzw. Empfehlungen abzuweichen. Formen von Noncompliance bei der Medikamentenanwendung sind Tabelle 6.3 zu entnehmen. Zu unterscheiden sind beabsichtigte und unbeabsichtigte Noncompliance. Erstere kann Ausdruck „vernünftigen“, selbstregulatorischen Verhaltens sein, z. B. beim Auftreten von Nebenwirkungen oder auch aus Furcht davor, letztere Folge von Vergessen, Medikationsfehlern oder auch erschwertem Zugang zum Arzneimittel. Ältere Patienten sind a priori nicht geringer compliant als jüngere! Im höheren Lebensalter liegen jedoch häufiger und dazu oft kombiniert Faktoren vor, die eine verordnungsgemäße und regelmäßige Arzneimittelanwendung ungünstig beeinflussen können. Hierzu zählen unzureichendes Krankheits- und Therapiewissen, Gedächtnisstörungen und andere Einschränkungen kognitiver Leistungen. Auch funktionelle Behinderungen sind wichtig, z. B. nicht ausreichende Sehschärfe, unzureichende Fähigkeit zur Farbdiskriminierung und gestörte Händigkeit. Schwierigkeiten beim Öffnen kindersicherer Behältnisse, beim Teilen von Tabletten, beim effektiven Gebrauch von Inhalatoren oder auch bei der korrekten Handhabung von Dosetten (Behältnisse
Medikamenten-Compliance
z
Tabelle 6.3. Phänomenologie der Noncompliance bei der Arzneimittelanwendung z z z z z
Mindereinnahme (Unterdosierung) häufiger als Mehreinnahme (Überdosierung) Auslassen einzelner Dosen (Vergessen!), auch bei täglicher Einmaldosierung Abweichen von verordneter Einnahmezeit und vorgegebenen Dosierungsintervallen Morgendliche Einnahme regelmäßiger als abendliche Einnahme Durch Patienten initiierte „drug holidays“ (Einnahmepausen mit einer Dauer von ³ 2 Tagen) z Abbruch jeglicher Einnahme z Weniger regelmäßige Einnahme im Intervall zwischen Arztbesuchen, jedoch regelmäßige Einnahme in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Arztbesuch (sog. „ToothbrushEffekt“, „Whitecoat-Compliance“)
für einen Medikamentenvorrat für einen Tag oder eine Woche) sind häufiger als angenommen. Mit steigendem Lebensalter der Patienten ist mit einer höheren Wahrscheinlichkeit hierfür zu rechnen. Probleme bei der Arzneimittelanwendung selbst sind ebenfalls zu berücksichtigen. Das Schlucken großer Tabletten oder Kapseln gelingt mit weicher Nahrung, z. B. Joghurt, häufig leichter. Mögliche Alternativen können flüssige Zubereitungsformen sein. Auch trotz eines hohen Maßes an Kompetenz und Aktivität verlassen sich ältere Menschen bei der Medikamenteneinnahme häufig auf andere Personen, z. B. Familienangehörige. Es bestehen positive Beziehungen zwischen sozialer Unterstützung und Compliance. Nach Schätzungen benötigen über 40% der alten Personen mit regelmäßigem Pflegebedarf in privaten Haushalten Unterstützung bei der Arzneimittelanwendung [6]. Die Güte der wechselseitig funktionierenden Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist einer der wichtigsten Faktoren für eine gute Compliance. Diesbezüglich ausgeprägte Fähigkeiten und konkrete Anweisungen mit eindeutigen Terminabsprachen für Kontrollen des Behandlungsergebnisses sind wahrscheinlich wichtiger für die Zufriedenheit und die Compliance der Patienten als die Quantität angebotener Information. Auch der Therapieplan selbst beeinflusst die Compliance. Komplizierte Dosierungsschemata und eine umfangreiche Medikation sind mit geringer Compliance und einer höheren Fehlerrate verknüpft. Möglichkeiten zur Vereinfachung der Therapie sollen deshalb wahrgenommen werden.
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z Hinweise für Noncompliance Probleme mit der Medikamentenanwendung erfährt man am einfachsten durch Befragung des Patienten. Bei ausbleibendem Behandlungseffekt muss an Noncompliance gedacht werden! Hinweise können sich bereits bei der Medikamentenanamnese ergeben (siehe Kap. 4). Gefragt werden muss nach allen eingenommenen Medikamenten, deren Dosierung und Applikationsfrequenz sowie der Selbstmedikation (frei verkäufliche Medikamente). Diskrepanzen zwischen Patientenangaben und Verordnungsplan sind häufig, bedürfen der Klärung und sind ein guter Einstieg in ein weiterführendes Gespräch. Dies gilt auch für Gespräche mit versorgenden Angehörigen, wenn Patienten selbst nicht in der Lage sind, Auskunft zu geben. Es ist sehr nützlich, sich sämtliche vorhandenen Medikamente mitbringen und zeigen zu lassen (Horten nicht mehr gebrauchter Arzneien, Gefährdung durch Verwechslung!). Erkannte Probleme sollen unter dem Gesichtspunkt der Behandlungssicherheit besprochen werden. Ältere Menschen sind besonders zugänglich für Maßnahmen mit ganz konkreten Hilfestellungen. Bestandteile wirksamer Maßnahmen zur Schaffung und zum Erhalt von Compliance sind in Tabelle 6.4 aufgeführt. Iso-
Tabelle 6.4. Einzelkomponenten erfolgreicher Interventionsmaßnahmen, um Patienten bei der verordnungsgemäßen Einnahme/Anwendung von Medikamenten zu helfen. (Unter Berücksichtigung von [13]) z Identifikation der individuellen Probleme und individualisierte Maßnahmen z Informationen/Instruktionen des Patienten: mündlich, schriftlich und visuell z Beratung des Patienten bzgl. Behandlungszweck, Therapie, Nebenwirkungen und Notwendigkeit von Compliance-Verhalten z Vorteile durch vereinfachtes Dosierungsschema nutzen z Geeignete Applikationsform wählen z Erinnerungshilfen nutzen, z. B. spez. Kalenderpackungen z Technische Hilfen nutzen, z. B. Dosette z Tägliche Gewohnheiten („Ritualisierung“) bilden z Möglichkeiten zum Feedback nutzen, z. B. Blutdruck- und Blutzuckerselbstmessung (ggf. direkte Beobachtung der Einnahme) z Kontinuität der Versorgung sichern z Wiederholungseffekt nutzen z Regelmäßige Überprüfung des Behandlungsergebnisses z Engmaschigere Wiedervorstellung nach Therapiebeginn z Einbeziehung der an der Versorgung Beteiligten (z. B. Angehörige, amb. Pflegedienst) z Interdisziplinäre Ansätze nutzen (Verstärker; pharmazeut. Service)
Literatur
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Tabelle 6.5. Allgemeine Empfehlungen zur Arzneimittelbehandlung im Alter z z z z z z z z z z
Umfassende Medikamentenanamnese vor Verordnung neuer Medikamente Keine neue Verordnung ohne sichere Indikation Medikamente einsetzen, deren Wirkungen und mögliche Nebenwirkungen man kennt In regelmäßigen Abständen die Notwendigkeit von Verordnungen überprüfen Nicht oder nicht mehr notwendige Medikamente absetzen und bei neuer Verordnung das Absetzen eines überflüssigen Medikaments erwägen Medikamentöse Dauertherapie mit niedriger Dosis beginnen und Dosis nach gewünschter Wirkung und Verträglichkeit steigern Die wirksame Dosis eines Medikaments anstreben, bevor erwogen wird, ein weiteres Medikament hinzuzufügen Vermeiden, Nebenwirkungen von Medikamenten mit zusätzlichen Medikamenten zu „behandeln“ Eindeutige Verordnungen mit Angabe von Dosisstärke, Anwendungsart und -frequenz Neben ausreichender mündlicher Information (auch über wichtigste Nebenwirkungen) möglichst schriftliche Information mit Dosis und Angabe des Zweckes der Verordnung; ggf. auch für versorgende Angehörige und als Information für weitere Verordnende (häufig mehrere behandelnde Ärzte)
lierte Maßnahmen, die auf Teilaspekte abzielen, haben erfahrungsgemäß wenig oder keine Aussicht auf nachhaltige Auswirkungen. Allgemeine Empfehlungen für die Arzneimittelbehandlung im Alter sind abschließend in Tabelle 6.5 zusammengefasst. Das Setzen von Behandlungsprioritäten ist jedoch bei Vorliegen von Mulitmorbidität im Einzelfall nicht immer einfach; Therapieempfehlungen mit Bezug zum höheren Lebensalter liegen häufig nicht vor oder enthalten keine Empfehlungen zu Multimorbidität [3, 29].
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7 Mobilität im Alter und Immobilitätssyndrom
Mobilität im Alter z Bedeutung Die Fähigkeit zur selbständigen Fortbewegung ist eine Voraussetzung für unabhängige Lebensführung. Eng verbunden ist Mobilität in unserer Gesellschaft mit der Fähigkeit, soziale Kontakte und persönliche Lebensqualität aufrechtzuerhalten.
z Definition Der Begriff Mobilität stammt von mobil (lat.= beweglich). Mobilität im Sinne von Fortbewegung beschreibt die Fähigkeit und Entscheidung einer Person, mit eigener Körperkraft und/oder der Nutzung von Verkehrsmitteln Entfernungen zu überwinden. Im Folgenden wird der Begriff Mobilität in diesem Sinne verwendet. In der Soziologie wird der Terminus geographische Mobilität für Migrationsbewegungen von Völkern oder Bevölkerungsgruppen verwendet. Unter sozialer Mobilität werden Bewegungen von Personen(-gruppen) zwischen verschiedenen sozialen Klassen oder Schichtungsdimensionen wie sozialer Status, Beruf oder auch der Wohngegend verstanden.
z Fortbewegung im Alter Mit steigendem Alter wird der tatsächlich genutzte Bewegungsradius geringer. Das tägliche Leben beschränkt sich in der Altersgruppe ab 55 Jahren überwiegend auf einen Umkreis von maximal 3 km um die eigene Häuslichkeit. Dies gilt insbesondere für die städtische Bevölkerung, die Einrichtungen des täglichen Bedarfs wie Geschäfte, Arztpraxen und Apotheken im nahen Umfeld vorfindet. Obwohl diese gut ausgebaute städtische Infrastruktur den Alltag erleichtert, fehlen aber gleichzeitig bestimmte körperliche Trainingsanreize. So ist es mit Hilfe privater Kraftfahrzeuge, öffentli-
Mobilität im Alter
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cher Verkehrsmittel, Aufzügen und Rolltreppen möglich, kilometerweite Entfernungen zügig zurückzulegen, sich aber eigenständig nur wenige Schritte zu bewegen [17]. Das private Kraftfahrzeug als ein Werkzeug der Mobilität nimmt bei den kommenden Generationen alter Menschen eine wichtige Stellung ein. Mehr als 80% der über 60 bis 64-jährigen Personen in Deutschland besitzen eine Fahrerlaubnis. Bei den 70- bis 74-Jährigen sind es noch über 60%. Hiermit korrespondiert, dass der Anteil der täglichen Strecken, die aus eigener Kraft zurückgelegt werden, bei erwachsenen Bundesbürgern kontinuierlich abnimmt. So wurden 1976 noch fast 43% der täglichen Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewältigt, im Jahr 2002 – zulasten des privaten Kraftverkehrs – nur noch knapp 31% [7]. Insbesondere in kleineren Gemeinden der neuen und alten Bundesländer führten die Abwanderung junger Menschen, der Abbau von Lebensmittel- und Postfilialen in Verbindung mit unzureichenden Angeboten des öffentlichen Nahverkehrs zur Beeinträchtigung des räumlichen und sozialen Verkehrs älterer Menschen. Der Begriff „Verkehr“ bezeichnet dabei die zweckbestimmte Bewegung oder Beförderung von Personen, Fahrzeugen und Gütern; den Austausch von Nachrichten und Daten sowie den Kontakt zwischen Menschen. Der Zusammenhang zwischen sozialen Kontakten, Lebensqualität und Mobilität wird künftig noch an Bedeutung gewinnen, da in den letzten Jahrzehnten die Anzahl der Ein-Personen-Haushalte ständig zugenommen hat (siehe Kap. 2). Eine mobilitäts-fördernde Umwelt ist als ein verhältnisorientierter Ansatz der Gesundheitsförderung zu verstehen (siehe Kap. 3). Besonders ältere Personen mit körperlichen Einschränkungen profitieren von Behinderten-gerechten Anpassungen des Wohnraumes, der Gehwege, der öffentlichen Gebäude, der Transportmittel sowie auch der technischen Geräte. In diesen Bereichen ist politisches Engagement gefragt, um eine soziale Benachteiligung körperlich behinderter Menschen zu vermeiden [7].
z Körperliche Aktivität im Alter Der in den USA regelmäßig erhobene National Health Survey ergab für das Jahr 1987, dass bei den 70- bis 74-Jährigen bereits ein knappes Drittel der Befragten gar nicht oder nur noch mit Schwierigkeiten in der Lage war, zu Fuß eine Strecke von 0,4 km zu bewältigen. Über die Hälfte der befragten Frauen dieser Altersgruppe berichtete, mit dem Tragen eines Gewichtes von 11 kg (entspricht etwa zwei Einkaufstüten) überfordert zu sein [24]. Bei mobilen, nicht behinderten über 70-jährigen Menschen sind eingeschränkte funktionelle Leistungen, die teilweise kraftbestimmt sind, z. B. Stehen, Gehen und Hinsetzen, in hohem Maß mit zukünftiger Behinderung assoziiert, ebenso koordinative Schwächen der statischen und dynamischen Balance [11]. Geringe Hand- und Beinkraft sowie geringe Gehgeschwindigkeit waren in einer Längsschnittuntersuchung auch mit erhöhter Mortalität verbunden [15].
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7 Mobilität im Alter und Immobilitätssyndrom
Vom 40. bis zum 70. Lebensjahr beträgt die Verringerung der Kraft ca. 1% pro Jahr [12]. Dieser Verlust wird durch körperliche Inaktivität erheblich beschleunigt. Die erforderliche Trainingszeit zum Ausgleich des Kräfteverfalls ist dabei deutlich länger als z. B. die Zeit der Bettruhe, die zum Kraftverlust geführt hat! Es ist wahrscheinlich, dass sich nach dem 50. Lebensjahr nicht nur endogene Alterungsprozesse beschleunigen, sondern auch Effekte der ruhigeren, evtl. schon eingeschränkten Lebensführung sichtbar werden. Die Abnahme der skelettalen Muskelmasse und nachlassende Kraft (Sarkopenie) führen zur Aufgabe gewohnter körperlicher Verrichtungen. Es entfällt damit der fordernde Reiz, der bisher den weiteren Abbau der Muskulatur verhinderte. Der Kraftabbau beschleunigt sich in einer Abwärtsspirale aus Muskelabbau, geringerer körperlicher Aktivität und damit weiterem Kraftverlust. Der hierdurch bedingte körperliche Trainingsmangel, Folgen chronischer Erkrankungen und akute Ereignisse wie Stürze können die Situation weiter verschlechtern. Liegen die klinisch fassbaren Zeichen akkumulierender Risikofaktoren für eine drohende Verschlechterung des Selbsthilfestatus vor wie langsame Gehgeschwindigkeit, ungewollter Gewichtsverlust, Kraftmangel, schnelle Erschöpfung und erhöhte Vulnerabilität, so spricht der Geriater von Gebrechlichkeit (engl. „frailty“), die über den normalen Alterungsprozess hinausgeht [23]. Gezieltes sensomotorisches Balance- und Krafttraining beugt dem Abbau von Knochenmasse und Muskelkraft vor und ist bis ins höchste Alter möglich [9]. Angaben zur Häufigkeit der Sarkopenie sind abhängig von der Untersuchungsmethode und der Auswahl der untersuchten Personengruppen. Im Rahmen des Third National Health and Nutrition Surveys (NHANES III) wurde die Skelettmuskelmasse mittels Bioimpedanzmessung bestimmt. Eine höhergradige Sarkopenie (bezogen auf geschlechtsspezifische Mittelwerte junger Erwachsener) wiesen danach 10% der untersuchten Frauen und 7% der Männer im Alter ab 60 Jahren auf [14]. Obwohl ältere Menschen den Werten „Gesundheit“ und „körperliche Aktivität“ hohe Bedeutung beimessen, setzen nur wenige diese Erkenntnis für sich persönlich in Form von regelmäßigem körperlichen Training um. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und häufig psychologischen Ursprungs. Es fehlen teilweise Übungsleiter, die Trainingsmodalitäten an die besonderen Bedürfnisse älterer Menschen anpassen könnten. Der Deutsche Sportbund reagierte darauf mit der Etablierung der Gütesiegel „Sport pro Reha“ und „Sport pro Gesundheit“ sowie der B-Lizenz „Sport der Älteren“. Zur Unterstützung der Mobilität älterer Menschen dienen deshalb auch verhaltens-orientierte Maßnahmen der Gesundheitsförderung. Häufig werden die Auswirkungen des endogenen Alterungsprozesses überschätzt und führen zu einem grundsätzlichen Nihilismus: „Das ist eben das Alter, die Altersschwäche. Da kann man nichts machen.“ Eine wachsende Zahl von Untersuchungen belegt dagegen positive Auswirkungen moderater, regelmäßiger körperlicher Bewegung gerade im höheren Lebensalter. Tabelle 7.1 beschreibt eine Auswahl förderlicher Effekte durch körperliches Training bei älteren und hochaltrigen Menschen [13, 23].
Mobilität im Alter
z
Tabelle 7.1. Effekte von körperlichem Training im höheren Lebensalter Zielorgan
Effekt bei gezieltem Trainingsanreiz
z Blut
Abnahme der Thrombozytenaggregation
z Gehirn
– Zunahme der Durchblutung – Zunahme des Energiestoffwechsels – Zunahme der Ausschüttung von Serotonin, Dopamin und Noradrenalin im limbischen System (antidepressiv); teilweise auch von Endorphinen – Förderung der zentralen Koordination
z Gewebe
– Zunahme der Lymphdränage (Muskelpumpe) – Zunahme der Superoxiddismutase (körpereigener intrazellulärer Radikalfänger)
z Herz
Ökonomisierung: gleiches Schlagvolumen bei niedrigerer Schlagfrequenz
z Hormone
Abnahme der Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin
z Immunsystem
Zunahme der Zahl und Qualität von T-Lymphozyten und Makrophagen
z Lunge
Zunahme der Atemkapazität
z Muskulatur
– – – –
Zunahme der Durchblutung Zunahme des Energiestoffwechsels (Mitochondrienzahl) Zunahme der Faserdicke (Kraftzuwachs) Verbesserung der peripheren Koordination
z Vestibularorgan
Größere Toleranz gegen Lagewechsel
z Psyche
Abnahme von Ängstlichkeit und Depression, Zunahme von Selbstvertrauen und Selbstachtung
Die Bandbreite körperlicher Fitness ist im höheren Lebensalter enorm weit. Sie reicht vom sporttreibenden bis zum komplett pflegebedürftigen Menschen. Gezieltes körperliches Training ist immer individuell anzupassen und muss Leistungsfähigkeit und spezifische Risiken berücksichtigen. Es muss deshalb auch professionell angeleitet sein. Der relative Zugewinn motorischer Leistungen durch gezieltes Training kann bei älteren Menschen sogar ausgeprägter sein als bei jüngeren [9, 12]. Geeignete Trainingsprogramme integrieren alltägliche Bewegungsabläufe, z. B. Treppengehen, und führen zu erkennbaren Verbesserungen der körperlichen Leistung. Eine Kombination von Kraft- und Balancetraining (z. B. Tai Chi Chuan) ist geeignet, Mobilität zu erhalten und Stürzen vorzubeugen [2, 8, 10].
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7 Mobilität im Alter und Immobilitätssyndrom
Immobilitätssyndrom z Bedeutung Ruhigstellung, Schonung und/oder Beeinträchtigungen der Mobilität aufgrund unterschiedlicher Ursachen sowie deren Folgeerscheinungen werden unter dem Begriff „Immobilitätssyndrom“ zusammengefasst. Immobilität als sich selbst verstärkende Störung ist u. a. assoziiert mit sozialer Isolation, kognitiven Funktionseinschränkungen und Mangelernährung.
z Definition Unter Immobilität (lat. im-mobilitas = Un-Beweglichkeit) wird die Unbeweglichkeit des Körpers verstanden. Die Bezeichnung Immobilitätssyndrom beschreibt eine durch längere Ruhigstellung des Körpers, meist durch Bettlägerigkeit, hervorgerufene Erschwerung des Grundleidens durch Muskelund Knochenatrophie, Gelenksteife, Marasmus und/oder psychische Alteration. Vollständige Immobilität ist gegeben, wenn Lagewechsel im Liegen oder Sitzen nicht mehr eigenständig ausgeführt werden können [5]. Folge ist die Entwicklung von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit. Immobilität ist neben dem Hilfebedarf bei der Körperpflege und der Ernährung ein wichtiges Kriterium bei der Begutachtung für die Bewilligung von Leistungen der Pflegeversicherung (siehe Kap. 17).
z Ursachen Es lassen sich grob folgende Ursachen unterscheiden, von denen viele auch das Sturzrisiko erhöhen (siehe Kap. 8): z Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates führen zu Kraftmangel, Schmerzen und Bewegungseinschränkungen der Gelenke. z Neurologische Defizite gehen einher mit Lähmungen, Sensibilitäts- und Koordinationsstörungen sowie auch mit Gleichgewichtsproblemen. z Kardiopulmonale Erkrankungen mindern die körperliche Leistungsfähigkeit. Es treten Symptome auf wie Atemnot und Schwindel. Bei peripheren Durchblutungsstörungen können Schmerzen als Claudicatio intermittens hinzukommen. z Psychische Störungen beeinträchtigen vor allem den Antrieb (Depression) und die Orientierung (Demenz, Delir). z Beeinträchtigungen des Seh- und Hörvermögens führen zu Defiziten bei der Kommunikation sowie der Orientierung. Sie sind ebenfalls häufig an der Entstehung von Schwindelsymptomatik beteiligt.
Immobilitätssyndrom
z
z Iatrogene Ursachen sind auf die unkritische Verordnung von Bettruhe, Fixierung oder sedierende Medikamente zurückzuführen. z Sturzereignisse können als Sekundärfolgen von Grunderkrankungen wie z. B. Arthrosen einen beschleunigenden Einfluss auf die Entwicklung eines Immobilitätssyndroms nehmen (siehe Kap. 8). Aus Angst und Unsicherheit werden bisher mögliche körperliche Aktivitäten aufgegeben (Post-Fall-Syndrom). Dadurch kommt es zur Verschlechterung des körperlichen Zustandes, und das Risiko für weitere Sturzereignisse steigt. Da die Entstehung von Immobilität meist mehrere Ursachen hat und keinen gesetzmäßigen Verlauf zeigt, wird die Bedeutung dieses funktionellen Verlustes häufig unterschätzt. Das ausgeprägte Immobilitätssyndrom ist ein Beispiel für eine sich selbst unterhaltende funktionelle Störung. Beteiligte Risikofaktoren unterliegen einer sich verstärkenden Rückkopplung, so dass an sich geringfügige Beeinträchtigungen sich in der Kombination zur ausgeprägten Einschränkung der Mobilität potenzieren können [8].
z Diagnostik Der Schweregrad von Mobilitätseinschränkungen kann im anamnestischen Gespräch und durch einfache Untersuchungen wie eine standardisierte Gehprobe erfasst werden (siehe Kap. 4). Der Gebrauch von Gehhilfen ist zu erfragen. Ein bedeutsamer Befund ist die Fähigkeit, Transferleistungen zwischen Bett und Stuhl/Rollstuhl bzw. von und zur Toilette eigenständig und sicher auszuführen. Ergeben sich Hinweise auf Beeinträchtigungen der Mobilität, schließt sich eine multidimensionale Evaluierung möglicher Ursachen an. Durch die gezielte Modifikation der erkannten Risikofaktoren kann das sich selbst unterhaltende Immobilitätssyndrom durchbrochen werden. Wichtige differentialdiagnostische Überlegungen sind in Abb. 7.1 als Flussdiagramm aufgeführt.
z Therapie Durch mehrdimensionale Therapie mit den Schwerpunkten körperliche Rehabilitation und Prophylaxe von Komplikationen lassen sich ernste Auswirkungen der Immobilität vermeiden. Ziel ist die Wiederherstellung der Fortbewegung aus eigener Kraft ohne oder auch mit Hilfsmitteln. Hilfsmittel können zu Lasten der Krankenkassen nur verordnet werden, wenn sie notwendig sind. Sie dienen dem Zweck, den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, Behinderung auszugleichen oder abzumildern, die Selbständigkeit behinderter und kranker Menschen ganz oder teilweise wiederherzustellen und Folgeschäden vorzubeugen. Derartige Hilfsmittel müssen von
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7 Mobilität im Alter und Immobilitätssyndrom
Abb. 7.1. Differenzialdiagnostische Überlegungen bei Immobilität
der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen erfasst und im Hilfsmittelverzeichnis der Spitzenverbände der Krankenkassen aufgelistet sein. Drohende Immobilität ist eine eindeutige Indikation für die Durchführung eines geriatrischen Assessments bzw. einer geriatrischen Konsiliaruntersuchung (siehe Kap. 4). Diagnostizierte Grunderkrankungen und Risikofaktoren sind durch spezifische Behandlung positiv zu beeinflussen. Hierzu gehört auch die individuell angepasste und ausreichende Schmerzmedikation. Grundlage von Prävention, kurativer Behandlung und Rehabilitation ist die Bewegungsförderung. Im Einzelnen ist zu prüfen, ob z kurzfristig Maßnahmen der passiven Bewegungsförderung anzuordnen sind (Lagerung, Kontrakturprophylaxe, Atemgymnastik, Kolonmassage); z die Indikation für geriatrische Rehabilitation gegeben ist (ambulant, teilstationär oder stationär). Im Zweifelsfall sollte ein zeitlich befristeter Therapieversuch eingeleitet werden. Dies gilt auch für bereits pflegebedürftige Patienten, um Komplikationen oder Verschlimmerungen zu verhindern (siehe Kap. 15); z die Umgebung an die Bedürfnisse des Patienten angepasst werden muss (Sicherung von rutschgefährdenden Teppichen, Ausräumung von Stolperfallen, Anbringung von Handgriffen und Handläufen, Bau von Rampen) oder ob der Umzug in eine behindertengerechte Wohnung von Vorteil wäre; z die Verordnung von Hilfsmitteln (Gehhilfen) angezeigt ist (siehe Kap. 8 und 15); z psychische Erkrankungen eine psychiatrische Behandlung erfordern bzw. fachärztlicher Rat eingeholt werden sollte;
Gefahren durch Immobilisierung
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z eine befriedigende Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sichergestellt ist (siehe Kap. 13); z eine psychosoziale Notlage die Einschaltung des klinischen Sozialdienstes oder der Bezirksaltenhilfe erfordert oder z im Rahmen der Sekundärprävention ambulant durchgeführte Physiotherapie, medizinische Trainingstherapie oder auch die Teilnahme an so genannten „Reha-Sportgruppen“ empfohlen werden sollte.
Fallbeispiel Frau M. ist 78. Jahre alt. Aufgrund einer Coxarthrose bereitet ihr das Gehen groûe Schmerzen. Gerne låsst sie sich alle Gånge auûer Haus von ihren Kindern abnehmen. Nachdem diese aber aus beruflichen Grçnden in eine andere Stadt ziehen, ist Frau M. kaum noch in der Lage, ihren Alltag zu bewåltigen. Infolge einer Pneumonie hçtet sie zwei Wochen das Bett. Ihr Gangbild verschlechtert sich zusehends. Der Hausarzt weist sie in eine geriatrische Klinik ein. Nach medikamentæser und physikalischer Schmerzbehandlung ist Frau M. in der Lage, an Physio- und Ergotherapie aktiv teilzunehmen. Nach drei Wochen wird sie re-mobilisiert entlassen. Die Begleitung zum Wocheneinkauf durch einen Zivildienstleistenden wurde organisiert. Kleinere Besorgungen bewåltigt Frau M. mit Hilfe eines vierrådrigen Gehwagens (Rollator).
Gefahren durch Immobilisierung z Bedeutung Jede Immobilisierung birgt für ältere Menschen erhebliche Risiken. Untersuchungen zur Bettlägerigkeit zeigten bereits bei jungen, gesunden Menschen nach wenigen Wochen deutlich negative Auswirkungen auf den Stoffwechsel, den Bewegungsapparat, den Kreislauf und den psychischen Zustand. Die möglichen Komplikationen durch Immobilität reichen von der Verstärkung der ursächlichen Risikofaktoren bis zu lebensbedrohlichen Erkrankungen. Die Indikation für Bettruhe ist daher sehr kritisch zu stellen und bezieht sich im Wesentlichen auf intensiv-pflichtige Patienten oder Patienten mit instabilen Frakturen [1]. Eine Übersicht zu pathophysiologischen Veränderungen während Immobilisierung gibt Tabelle 7.2.
z Pathophysiologie Längere Bettlägerigkeit induziert eine katabole Stoffwechsellage mit gleichzeitiger Verringerung des Appetits. Mangelernährung, Eiweiß- und Gewichtsverluste sowie Hyperglykämien werden beobachtet. Durch verringer-
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7 Mobilität im Alter und Immobilitätssyndrom
Tabelle 7.2. Pathophysiologische Veränderungen durch Immobilisierung und geeignete Gegenmaßnahmen. (Mod. n. [20]) Direkte Auswirkungen der Immobilisierung Stoffwechsel z z z z z
Katabolie Eiweißverlust Antidiurese Glukoseintoleranz Obstipation
Mögliche Komplikationen Prophylaxen und der Immobilisierung therapeutische Ansätze (Auswahl) z z z z z
Gewichtsverlust Mangelernährung Urininkontinenz Hyperglykämien Koprostaseileus
z Gabe hochkalorischer Proteinsupplemente z Mobilisierung z Kolonmassage z Stuhlmanagement z Gesteigerte Flüssigkeitszufuhr
Kreislauf
z Periphere Perfusions- z Tiefe Venenthrombosen, z minderung Lungenembolien z z Orthostase z Hypotonie, Schwindel z Verminderte Belüftung z Basale Pneumonien z und Durchblutung z der Lungen
Bewegungsapparat
z Inaktivitätsatrophie und Muskelverkürzung z Sarkopenie z Minderung von lokaler Innervation, Perfusion und Ernährung z Verlust von Knochenmasse
z Muskelschwund und Kraftverlust, Kontrakturen z Trophische Störung z Abnahme der Gelenkbeweglichkeit z Osteoporotische Frakturen
z Krafttraining (im Liegen isometrisch oder mit Manschetten) z Mobilisierung, passive Bewegung z Gabe von Kalzium, Vitamin D und K, evtl. Biphosphonate
Haut
z Minderung von lokaler Perfusion und Ernährung
z Druckinduzierte Nekrosen (Dekubitalgeschwüre)
z Lagerung z Mobilisierung z Druckverteilende Hilfsmittel
Psyche
z Apathie, Isolation z Reizverarmung
z Depression z Mobilisierung z Delir, kognitiver Abbau z Aktivierende Pflege
Antikoagulation Antithrombosestrümpfe Mobilisierung Atemgymnastik
te ADH-Sekretion kann eine Urininkontinenz begünstigt werden. Die Motorik des Darmes nimmt ab und begünstigt Obstipation bis hin zum Koprostase-Ileus. Während Blutdruck, Herzzeitvolumen und Fließgeschwindigkeit des Blutes sinken, erhöht sich die Blutviskosität mit der Folge erhöhten Risikos für tiefe Venenthrombosen und Lungenembolien. Diese entwickeln sich bei älteren Menschen häufig ausgesprochen symptomarm. Bei Sektionen werden wesentlich mehr Lungenembolien diagnostiziert als klinisch zuvor vermutet waren. Geeignete Prophylaxen (möglichst früh einsetzende Bewegungsförderung, Anti-Thrombose-Strümpfe, medikamentöse Thromboseprophylaxe) sind daher bereits bei partieller Immobilität indiziert. Bei der
Gefahren durch Immobilisierung
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therapeutischen Remobilisation nach längerer Bettruhe ist eine orthostatische Dysregulation (Blutdruckabfall) mit und ohne Schwindelsymptomatik unbedingt zu berücksichtigen. Muskelschwund und Kraftverlust sind bei Bettlägerigkeit und katabolem Stoffwechsel besonders ausgeprägt. Ist ein kritischer Anteil von etwa 35% der ursprünglich angelegten Muskelmasse unterschritten, sind selbst einfache Verrichtungen wie Sitzen oder Stehen nicht mehr selbstständig möglich. Weitere Begleiterscheinungen sind trophische Störungen der Knochen, der Haut und der Nägel mit erhöhtem Risiko für mykotische Infektionen [20]. Auch bei kognitiv zunächst unauffälligen Personen wird infolge der Reizverarmung bei längerer Hospitalisation und/oder Immobilisierung nicht selten eine Abnahme der kognitiven Leistung beobachtet. Insbesondere bei Patienten mit zerebralen Vorschädigungen können gehäuft Orientierungsstörungen oder Verwirrtheitszustände auftreten (siehe Kap. 11).
z Komplikationen am Beispiel Dekubitus Dauerhafte Einschränkung der Beweglichkeit von Gelenken (Kontrakturen) und druckinduzierte Nekrosen (Druckgeschwüre, Dekubitus) sind folgenschwere, jedoch meist vermeidbare Komplikationen von Immobilität. Beide Erkrankungen mindern nachhaltig die Lebensqualität, erzeugen Schmerzen und erschweren jede weitere Rehabilitation und Pflege. Immobilität ist die Hauptursache für die Entstehung von Dekubitus. Druckgeschwüre werden in verschiedene Schweregrade eingeteilt. Besonders bekannt ist die Einteilung nach Shea [21], bei der die Tiefenausdehnung des geschädigten Gewebes berücksichtigt wird [5]: z Grad 1: Umschriebene Rötung der intakten Haut, die nach zweistündiger Entlastung nicht verschwunden ist. z Grad 2: Schädigung oder Blasenbildung in den obersten Hautschichten. Grad 2 a hat eben die Basalmembran der Epidermis durchbrochen, Grad 2 b umfasst die Dermis (Epidermis und Korium) vollständig. z Grad 3: Schädigung aller Gewebeschichten mit sichtbaren Anteilen von Unterhautfettgewebe (Subkutis), Sehnen und/oder Muskeln. z Grad 4: Beteiligung von Knochenhaut (Periost) und/oder Knochen im Sinne einer Entzündung (Osteomyelitis). Bevorzugt über Knochenvorsprüngen oder Partien mit wenig subkutanem Fett können einwirkende Drücke nicht auf größere Flächen verteilt werden. Durch andauernde Kompression der Weichteile kommt es zu Ernährungsstörungen des umliegenden Gewebes, und Stoffwechselprodukte reichern sich an. Um die Nekrosezone kommt es zur Entzündungsreaktion mit den klinischen Zeichen Schwellung, Rötung, Überwärmung und Schmerzhaftigkeit. Wird dieser Mechanismus nicht unterbrochen, breitet sich das Geschwür in tiefere Schichten aus [18]. Die Prädilektionsstellen für Dekubitus zeigt Abb. 7.2 [5].
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7 Mobilität im Alter und Immobilitätssyndrom
Abb. 7.2. Prädilektionsstellen für Dekubitus [4]
Der stetige Verlust von Flüssigkeit und Nährstoffen über eiweißreiche Wundexsudate (ähnlich den Vorgängen bei Verbrennung) bedingt eine katabole, die Heilung behindernde Stoffwechsellage. Die offene Wundoberfläche ist eine Eintrittspforte für Erreger, die zu Entzündungen tieferer Stukturen (Weichteile, Osteomyelitis) und u. U. septischem Verlauf mit Todesfolge führen können. Der Dekubitus ist ein Beispiel für eine sich selbst unterhaltende Erkrankung mit hoher Gefahr des Rezidivs. Eine dauerhafte Heilung kann nur gelingen, wenn alle Risikofaktoren erkannt und ihre Einflüsse konsequent unterbrochen werden. Standardisierte Risikoskalen (z. B. Norton-, Braden- und Waterloo-Skala) erleichtern die Einschätzung der Gefährdung und dienen der Dokumentation, ersetzen jedoch nicht die klinische Beurteilung. Jede anhaltende Rötung der Haut ist ein Dekubitus Grad 1 und zwingt zur sofortigen Einleitung von Maßnahmen der Druckentlastung und Bewegungsförderung [3, 4]: z Effektiv und sicher ist die Anwendung geeigneter Lagerungstechniken wie die 308-Schräglagerung, die 1358-Lagerung und die 5-Kissen-Methode. z Lagerungsintervalle lassen sich nicht pauschal, sondern nur nach der individuellen Situation bestimmen. Entscheidend ist das Verschwinden der Hautrötung. z Druckverteilende Systeme reichen allein nicht aus, sondern haben ergänzenden Charakter: Wechseldruckmatratzen und vor allem Luftstrombet-
Literatur
z
ten („Air-Flow-Systeme“) minimieren den Auflagedruck wesentlich besser als Superweichmatratzen, stören allerdings auch stärker die Eigenwahrnehmung und die Spontanbewegung. Ihre Anwendung unterliegt daher einer individuellen therapeutischen Entscheidung. Sitzen in Stühlen oder Rollstühlen länger als eine Stunde birgt ein hohes Risiko für Dekubitus der Sitzbeine. z Die Indikation zur Verordnung rehabilitativer Therapien sollte großzügig gestellt werden [19]. Grundlage jeder erfolgreichen Behandlung eines Dekubitus sind die Ausschaltung bekannter Risikofaktoren und die konsequente Fortführung der beschriebenen prophylaktischen Maßnahmen. Die praktische Vorgehensweise bei der Behandlung chronischer Wunden sollte sich an folgenden einfachen Prinzipien orientieren: z Frühzeitige und vollständige Nekrosenentfernung – am einfachsten und effektivsten durch chirurgisches Debridement. Enzymatische Wundreiniger sind allenfalls in der Lage, dünne Fibrinbeläge rasch und vollständig aufzulösen. Bei längerem Gebrauch stört ihre zytotoxische Wirkkomponente die Wundheilung. Um den kritischen Zeitpunkt nicht zu verpassen und um die Therapie dem Heilungsverlauf anzupassen, muss die Wunde engmaschig angesehen werden. Infektionen sind systemisch, aber niemals lokal durch Antibiose zu behandeln. z Feuchte Wundbehandlung, angepasst an die jeweilige Phase der Wundheilung. Die angebotenen Produkte erleichtern den Aufbau eines feuchten Milieus zur Förderung der Granulation und damit die sekundäre Wundheilung. Immunkompetente Zellen, körpereigene wundreinigende Enzyme und die Einwanderung neuer Deckzellen (Epithel) werden hierdurch unterstützt. Die Behandlung ist schmerzlindernd und atraumatisch. Der Verbandswechsel unter sterilen Bedingungen erfolgt abhängig von der Art der Wundauflage (Hydrokolloide, -polymere, -gele und Alginate) alle 24 bis 72 Stunden. Damit wird erreicht, dass das feuchtwarme Mikroklima und das neu gebildete Gewebe nicht gestört wird. Dieser Therapieempfehlung liegt eine hohe wissenschaftliche Evidenz zugrunde [6].
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7 Mobilität im Alter und Immobilitätssyndrom
4. 5. 6.
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8 Sturz-Syndrom
Bedeutung Stürze sind im Alter relativ häufig und nicht selten Anlass für die Aufnahme in unfallchirurgischen oder geriatrischen Kliniken [10]. Ein Drittel der zuhause lebenden über 65-Jährigen stürzt einmal pro Jahr, unter den über 80-Jährigen sind es bereits 50% [19], bei Pflegeheimbewohnern liegt die Rate noch höher [2]. Im Gegensatz zu jungen Erwachsenen ist nur selten eine starke äußere Gewalteinwirkung Ursache für den Sturz. Etwa 5% der Stürze bei zuhause lebenden über 65-Jährigen führt zu einer Fraktur [14]. Bei jüngeren Senioren sind dies oft Radius-, bei älteren Schenkelhalsfrakturen. Weitere 5% der Gestürzten ziehen sich gravierende Weichteilverletzungen zu, die zu Immobilisation oder Krankenhausaufenthalt führen [16]. Ca. 47% der Gestürzten können nach einem Sturz nicht alleine wieder aufstehen [20]. Stürze und Frakturen sind mit einer erhöhten Letalität verknüpft. 24% der Hüftfrakturpatienten sterben innerhalb von 12 Monaten nach der Fraktur; 41% werden aus dem Akutkrankenhaus ins Pflegeheim entlassen [21]. Frakturfolgen und vor allem die Angst vor einem erneuten Sturz führen dazu, dass 6 Monate nach dem Frakturereignis nur 15% alleine und ohne Hilfsmittel gehen können, obwohl 75% dazu vor dem Unfall in der Lage waren [4].
Abklärung von Sturzfolgen und Sturzursachen Einen Überblick über das Vorgehen bei der Abklärung eines Sturzes liefert Abb. 8.1. Zunächst sollte eine behandlungsbedürftige Verletzung ausgeschlossen werden. Besondere Sorgfalt erfordert dabei die Untersuchung schwer kranker, aphasischer, dementer oder verwirrter Patienten, da bei ihnen Frakturen oder innere Verletzungen nicht selten übersehen werden. Sturzhergang,
Abklärung von Sturzfolgen und Sturzursachen
z
Sturz Verletzung?
Nein oder leicht
ja
Zustand schlecht?
Verletzung behandeln
ja
nein
nach akuter Erkrankung suchen
Sturzanamnese
monokausale Ursache
multifaktorielle Genese
Bewusstseinsverlust
Bewusstsein erhalten, plötzlicher Tonusverlust
starke äußere Gewalteinwirkung
Synkope
„drop attack” 1
Unfall
unter 5 %
selten
5%
– neurologische,orthopädische, psychische Untersuchung: – Visus, Gehör, Hilfsmittel – Medikamente, Umfeld – Funktionsdiagnostik im Team 85–90 %
Abb. 8.1. Vorgehen bei der Sturzabklärung 1
„Drop attack“: plötzlicher Sturz ohne Bewusstseinsverlust und ohne Schwindel, verursacht durch einen plötzlichen Tonusverlust der Muskulatur. Als Ursache wird eine vertebrobasiläre Durchblutungsstörung vermutet.
Hämatome oder im Verlauf persistierende starke Schmerzen liefern wichtige Hinweise. Bei Schädelverletzungen muss an ein u. U. erst nach mehrwöchiger Latenzzeit auftretendes subdurales Hämatom gedacht werden. Schwere akute Erkrankungen wie eine Pneumonie oder ein Delir können Ursache einer erhöhten Fallneigung sein. Ihre diagnostische Abklärung und Therapie ist dann vorrangig. Zentrale Bedeutung in der Sturzabklärung hat die Anamnese (Tabelle 8.1). Sie muss zunächst klären, ob dem Sturz eine Synkope zugrunde liegt. Als Synkope wird ein vorübergehender, selbst-limitierender Bewusstseinsverlust bezeichnet, der in der Regel zum Sturz führt. Ursachen sind globale Minderdurchblutungen des Gehirns unterschiedlicher Ätiologie (z. B. Arrhythmien, arterielle Hypotonie). Synkopen stellen weniger als 5% aller Sturzursachen [15] und erfordern eine spezielle Diagnostik (Tabelle 8.2) [17]. Da die Patienten oft nicht angeben können, ob sie bewusstlos waren, ist die Befragung möglicher Zeugen des Sturzhergangs wichtig (Fremdanamnese). Metabolische (Hypoglykämie) und elektrische (Epilepsie) Funktionsstörungen des Gehirns können zu einer ähnlichen Symptomatik führen.
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8 Sturz-Syndrom
Tabelle 8.1. Fragen zum Sturz Aktueller Sturz (wann, wo, wie?) z Wann sind Sie gestürzt? (tags? nachts?) z Wo sind Sie gestürzt? Wohin sind Sie gefallen? z Was haben Sie gerade getan, als Sie stürzten? z Ist Ihnen vor dem Sturz etwas Besonderes aufgefallen? Fühlten Sie sich wohl? z Haben Sie das Bewusstsein verloren? Können Sie sich an alles erinnern? z Haben Sie sich verletzt? Schmerzen? z Wie lange hat es gedauert, bis Sie aufstehen konnten/Ihnen geholfen wurde? z Wie gut konnten Sie vor dem Sturz gehen? Frühere Stürze (wann, wo, wie?) z Waren die einzelnen Stürze ähnlich? Fremdanamnese
Neurologische und psychiatrische Erkrankungen wie Hemiparese nach Schlaganfall, Parkinsonsyndrom, Normaldruckhydrozephalus, zervikale Myelopathie, Polyneuropathie und Demenz gehen mit einem erhöhten Sturzrisiko einher. Demenzkranke stürzen dreimal häufiger als geistig kompetente Personen. Zu erhöhter Sturzgefahr führen auch sedierende und muskelrelaxierende Medikamente wie Antidepressiva, Benzodiazepine, Neuroleptika, sedierende Antihistaminika, zentral wirksame Analgetika sowie Alkohol. Eine orthostatische Hypotension als Sturzursache kann durch Medikamente (z. B. Antihypertensiva, Diuretika, Antiparkinsonmittel, Neuroleptika, Antidepressiva) oder eine Exsikkose ausgelöst oder verstärkt werden. Die Einnahme von vier oder mehr Medikamenten ist mit einem erhöhten Sturzrisiko verbunden ist. Die wichtigsten Risikofaktoren für Stürze finden sich in Tabelle 8.3.
Tabelle 8.2. Ursachen und Differentialdiagnostik von Synkopen Ursachengruppen
Mechanismen
Ursachen
Diagnostik
Kardial (ca. 33%)
Herzrhythmusstörungen
bradykarde und tachykarde Rhythmusstörungen Sick-Sinus-Syndrom
EKG, Langzeit-EKG
(transiente) kardiale Dysfunktion
Ischämie (Infarkt) Aortenklappenstenose HOCM, Vorhofmyxom
EKG, Herzenzyme, Echokardiogramm
Abklärung von Sturzfolgen und Sturzursachen
z
Tabelle 8.2 (Fortsetzung) Ursachengruppen
Mechanismen
Ursachen
Diagnostik
Vaskulär
regionaler Druckabfall
Lungenembolie pulmonale Hypertonie Subclavian-steel-Syndrom Aortenbogensyndrom vertebrobasiläre Durchblutungsstörung
Echokardiogramm, Beinvenendopplerunters., Lungenszintigramm, Spiral-CT
Hypertonus lokales Hirnödem?
Hypertensive Krise
RR-Messung
Hypotonus
Carotissinussyndrom
Carotisdruckversuch nach Halsgefäßdopplerunters.
hypersensitiver Carotissinus vasovagal spezielle Arten
Orthostatischer Hypotonus
RR-Differenz an den Armen Dopplerunters., Angio-CT meist Herdsymptome, Doppleruntersuchung
Anamnese Hustensynkope Miktionssynkope Defäkationssynkope Schlucksynkope Frühdumping nach Magenresektion
Anamnese
Neuropathie des autonomen Nervensystems medikamentös bedingter Volumenmangel
Schellong-Test, ggf. Kipptischuntersuchung
durch Medikamente
Sulfonylharnstoffe Glinide, Insulin
Anamnese, BZ-Profil
spontan
reaktiv (z. B. Spätdumping)
Synkope selten
sekundär
Insulinom Leberschädigung Addison-Krankheit maligne Erkrankungen
Ungeklärt (30%) Hypoglykämie
Epilepsie
EEG, Schädel-CT
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8 Sturz-Syndrom
Tabelle 8.3. Sturzrisikofaktoren im Alter z z z z z z z z z z z z z z z z z z
Weibliches Geschlecht Untergewicht Alter >80 Jahre Arterielle Hypotonie (systolisch < 90 mmHg), orthostatische Hypotonie Fraktur innerhalb der letzten 5 Jahre, vorausgegangene Stürze Hilfs- und Pflegbedürftigkeit (ADL-Hilfsbedarf a) Visusminderung (Lesen einer Zeitungsüberschrift) Demenz (MMSE b < 21 Punkte) Morbus Parkinson/Parkinsonsyndrom Neurologisches Defizit nach Schlaganfall Einnahme von Psychopharmaka/sedierenden Medikamenten Einnahme von 4 und mehr Medikamenten Alkoholabhängigkeit Balancetest (Semitandemstand oder Tandemstand nicht möglich) Einbeinstand > 5 s nicht möglich, 3 Versuche erlaubt Timed-Up-and-Go-Test c > 20 s Mobilitätstest nach Tinetti d < 18 Punkte Häusliche Gefahrenquellen
Assessmentinstrumente, s. Anhang Aktivitäten des täglichen Lebens = Barthel-Index b Mini-Mental-State-Examination nach Folstein c Timed-up-and-go-Test nach Podsiadlo und Richardson d Mobilitätstest nach Tinetti a
Die körperliche Untersuchung überprüft die für Haltung, Motorik und Orientierung wichtigen Systeme (Kreislauf, neurologischer und orthopädischer Status, Visus, Gehör und mentale Funktion) (Tabelle 8.4). Zusätzliche Funktionstests wie der Timed Up and Go Test, der Mobilitätstest nach Tinetti und die Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL oder Barthel-Index) geben wertvolle Hinweise auf sturzrelevante Störungen und Ressourcen für die Alltagsbewältigung (siehe Anhang).
Therapie
z
Tabelle 8.4. Untersuchungen bei multifaktoriellen Stürzen z Neurologischer Status Motorik, Reflexe, Oberflächen- und Tiefensensibilität (Lagesinn, Vibration), bei Gleichgewichtsstörungen u./o. Schwindel: Schwindelanamnese, Nystagmus, Gehör, Lagerungsmaneuver nach Semont a, ggf. Vestibularisprüfung (HNO), FNV, KHV, Beweglichkeit und Druckschmerz der Nackenmuskulatur z Orthopädischer Status Sind Gelenke stabil und frei beweglich? Sind die Beine gleich lang? Bestehen Schmerzen? Beinmuskelatrophien? Fußdeformitäten? Schuhe? Form und Beweglichkeit der Wirbelsäule, v. a. der HWS? z Funktionstests Vom Stuhl aufstehen und gehen (timed up and go), Blindstand (Romberg), Semitandemstand, Tandemstand, Tandemgang, Tinetti-Test, vorhandene Hilfsmittel? Ängstlichkeit beim Gehen? Barthel-Index (ADL) z Sehen Fernvisus, Gesichtsfeld (Fingerperimetrie), Okulomotorik, Brille (bifokal?) z Kreislauf RR, Puls, Schellong-Test (möglichst früh morgens oder nach dem Essen), evtl. Langzeit-RR z Psyche und mentale Funktionen Geriatrische Depressionsskala, Minimentalstatus, Ängstlichkeit nach Sturz (Post-fall-Syndrom)? a
Lagerungsmaneuver nach Semont: klinischer Test und Behandlungsmethode für den benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel. Plötzliche Lageveränderung (Kopfdrehung um 45 Grad zur Seite und plötzliches Hinlegen zur Seite aus dem Sitzen) führt zu passagerem Nystagmus und Schwindelgefühl.
Therapie Liegt – wie bei einer Synkope oder einer starken äußeren Gewalteinwirkung – eine monokausale Ursache für den Sturz vor, so erfolgt eine entsprechende Therapie oder Beratung (z. B. Schrittmacherimplantation, Anleitung zur Unfallverhütung). Dies ist im höheren Lebensalter jedoch eher die Ausnahme. Die Mehrzahl der Stürze alter Menschen ist multifaktoriell bedingt und kommt durch eine Kombination mehrerer körpereigener Funktionsdefizite ohne oder mit nur geringfügigen äußeren Störfaktoren (Bagatellauslöser) zustande. Diese Sturzform wird – in Abgrenzung zur Synkope – oft auch als „lokomotorischer Sturz“ bezeichnet. Zur Prophylaxe weiterer Sturzereignisse wird eine Reduktion oder Beseitigung möglichst vieler sturzrelevanter Funktionsdefizite bzw. Sturzrisikofaktoren angestrebt (Prinzip der Risikominimierung). Grundlage für die Therapieentscheidung sind Anamnese, körperliche Untersuchung, Funktionstests, ggf. fachspezi-
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8 Sturz-Syndrom
fische Zusatzuntersuchungen und die Beobachtungen verschiedener Therapeuten (Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie). Zentrales Element der Behandlung ist das Kraft- und Balance-Training im Rahmen einer krankengymnastischen Übungsbehandlung. Kraftminderungen sind auch im hohen Alter noch durch Training reversibel [8]. Neben funktionellen Veränderungen wie Zunahme der Gehgeschwindigkeit konnten einige Untersuchungen auch eine Abnahme der Sturzhäufigkeit und eine Zunahme der täglichen Spontanaktivität nach einem Krafttraining nachweisen. Neben der Kraft ist die Balance ein entscheidender Faktor für die Vermeidung von Stürzen. Visueller, vestibulärer und propriozeptiver Input, Reaktionsgeschwindigkeit und motorischer Output wirken bei der Balance zusammen. Dieses Zusammenspiel ist auch im Alter trainierbar. Als Hilfsmittel können dabei ein Schaukelbrett oder eine Kraftmessplattform dienen. Ganz ohne Hilfsmittel und besonders effektiv ist dieses Training aber auch in Form von Tai-Chi-Übungen möglich. 15 Wochen Tai-Chi reduzierten in der FICSIT-Studie die Häufigkeit multipler Stürze um 47,5% [22]. Gangunsicherheit und Immobilität werden verstärkt durch die Angst, erneut zu stürzen. Bei einem Drittel bis der Hälfte älterer Sturzopfer, häufiger bei Frauen, ist diese Angst so ausgeprägt und anhaltend, dass sie als eigenes Krankheitsbild bezeichnet wird: das so genannte Post-fall-Syndrom. Beruhigende Gespräche, Gehschule in vertrauensvoller Atmosphäre, Balancetraining und evtl. Entspannungs- und Aufstehübungen sind geeignete Maßnahmen, um eine dauerhafte Immobilität, sozialen Rückzug und zunehmende Pflegebedürftigkeit zu verhindern. Weitere Maßnahmen zur Sturzvorbeugung können sein: z sturzbegünstigende Medikamente, soweit möglich, absetzen, z Erprobung, Anpassung und Verordnung von Hilfsmitteln (z. B. Rollator, Nachtstuhl, Greifzange zum Vermeiden von Bücken, Brille, Hörgerät), z feste, geschlossene Schuhe und z Patienten- und Angehörigenberatung zur Wohnsituation (Treppen, Schwellen, Teppiche, Lichtverhältnisse, Haltegriffe u. ä.) Zur Verbesserung des Wohnumfeldes kann ein Hausbesuch gemeinsam mit dem Patienten sinnvoll sein – häufig eine Aufgabe der Ergotherapeuten. In vielen Städten gibt es Beratungseinrichtungen für Senioren, die diese Dienstleistung anbieten. Tabelle 8.5 listet häufige häusliche Gefahrenquellen auf. Tabelle 8.6 gibt einen Überblick über die Wirksamkeit verschiedener Strategien zur Sturzprävention. Bleibt trotz der o. g. Maßnahmen ein deutliches Sturzrisiko bestehen, können folgende Maßnahmen größere Traumata verhindern: z Ein Hausnotrufgerät ermöglicht es der am Boden liegenden Person, sich rasch bei Angehörigen oder einem Hilfsdienst zu melden. Lange Liege-
Therapie
z
Tabelle 8.5. Häufige häusliche Gefahrenquellen für Stürze. (Nach [33]) z Beleuchtung: zu schwach, zu hell (blendend), Lichtschalter schwer zu finden oder zu erreichen, keine Nachtbeleuchtung z Fußböden: rutschende Teppiche/Läufer, rutschige Fußböden (v. a. Badezimmer), Fußbodenbelag in schlechtem Zustand, Verlängerungsschnüre quer auf dem Fußboden, Schwellen z Erreichbarkeit: Schränke, Regale oder Armaturen zu hoch oder zu niedrig, Seife oder Shampoo schlecht erreichbar z Handgriffe/Handläufe: fehlend in Toilette, Bad oder an der Treppe z Toilette/Bad: Glastüre ohne Sicherheitsglas, Öffnung nach innen, Toilettensitz zu niedrig, Toilette außerhalb der Wohnung, hoher Duschwannenrand, Seife/Shampoo schlecht erreichbar z Treppen: zu steil, reparaturbedürftig, ohne Handlauf, wackeliger Handlauf, Stufenränder schlecht zu sehen, schlechte Beleuchtung z Unsichere Stühle: wackelige Stühle, fehlende Armlehnen, zu kurze Rückenlehnen z Insgesamt bergen Toilette und Bad die meisten Gefahrenquellen.
Tabelle 8.6. Wirksame Strategien kontrollierter Studien zur Reduktion von Stürzen bei zuhause lebenden älteren Menschen. (Nach [18]) Strategie
Risikoreduktion [%]
Medizinisches Versorgungssystem a z Balance- und Gangtraining sowie Übungen zur Kräftigung
14–27
z Reduktion häuslicher Risiken nach Krankenhausaufenthalt
19
z Beendigung psychotroper Medikation
39
z Multifaktorielles Risikoassessment mit gezielter Interventionsmaßnahme
25–39
Bevölkerungsbasiert b z Spezielles Balance- und Krafttraining a
29–49
Teilnehmer rekrutiert im klinischen Rahmen, Interventionen durch Mitglieder professioneller medizinischer/therapeutischer Berufe, Rekrutierung aufgrund anamnestischer Stürze oder wegen Problemen bei Balance und Gang. b Teilnehmer bevölkerungsbasiert rekrutiert, Interventionen nicht durch Mitglieder professioneller medizinischer/therapeutischer Berufe, Rekrutierung nicht aufgrund anamnestischer Stürze und wegen Problemen bei Balance und Gang.
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8 Sturz-Syndrom
zeiten mit Auskühlung, Dekubitusentstehung, Exsikkose, Rhabdomyolyse, Hilflosigkeit, Schmerzen und Angst werden so vermieden. z Ein Schlüpfer mit integrierten Kunststoffschalen oder Schaumgummipolstern über den Hüften (z. B. Safe hip® Hose oder safety pants®) reduzierte in mehreren Studien das Risiko einer Schenkelhalsfraktur deutlich [1]. Nachteile derartiger Hüftprotektoren sind ihre geringe Akzeptanz und die vermehrten Schwierigkeiten beim selbstständigen Anziehen oder beim Gang zur Toilette [9], was die Tragehäufigkeit und damit deren Wirksamkeit reduziert, so dass insgesamt nur bei Bewohnern von Pflegeheimen statistisch eine Reduktion der Hüftfrakturrate beobachtet werden kann [11]. z Besteht eine Osteoporose, so kann die Frakturgefahr durch Gabe von Vitamin D und Kalzium in Kombination mit Bisphosphonaten oder anderen Osteoporose-Medikamenten reduziert werden [6]. Ein Vitamin-DMangel ist v. a. bei Pflegeheimbewohnern häufig. Seine Beseitigung wirkt sich auch positiv auf die Muskelkraft aus. Ein Umzug in ein Pflegeheim verhindert Stürze nicht generell. Er lässt sich jedoch bei allein lebenden, stark gefährdeten Personen bisweilen nicht vermeiden, insbesondere wenn sie sich auch per Hausnotruf nicht melden können. Gerade bei den gebrechlicheren Bewohnern von Pflegeheimen sind Stürze besonders häufig. Auch das Krankenhaus ist für alte Patienten ein sehr sturzträchtiger Ort. Abhängig u. a. von der Patientenklientel und der Vollständigkeit der Erfassung werden sehr unterschiedliche Sturz- und Verletzungsraten berichtet. Insgesamt zählen Stürze zu den häufigsten unerwünschten Ereignissen älterer Patienten während des Aufenthaltes im Krankenhaus oder der Rehabilitationsklinik. Stürze häufen sich in den ersten Tagen der Hospitalisierung. Desorientierte Patienten und Patienten mit beginnendem, aber noch unsicherem Transfer- und Gehvermögen sind besonders gefährdet [12, 13]. Schmerzhafte Folgen für die Patienten, Kosten durch Verlängerung des stationären Aufenthaltes, Imageschäden für die Kliniken und rechtliche Konsequenzen führten in den letzten Jahren zu vermehrter Aufmerksamkeit für die Sturzproblematik in stationären Einrichtungen. Im durch das Bundesministerium für Gesundheit geförderten Benchmarking-Projekt „GEMIDAS-QM“ erarbeiteten 22 geriatrische Kliniken u. a. Maßnahmenpakete zur Reduktion von Sturzraten und sturzbedingten Verletzungen [5]. Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege hat einen Expertenstandard zur Sturzprophylaxe entwickelt [7]. Für den ambulanten Bereich wird Hausärzten mit der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin ein Instrumentarium zur Risikoerfassung und Prophylaxe von Stürzen bei älteren Patienten an die Hand gegeben.
Literatur
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Fallbeispiele Unfall – Synkope – multifaktorieller Sturz: 3 Patientengeschichten Der 77-jåhrige Herr F. geht mit seinem groûen Hund spazieren. Als dieser einer Katze nachjagen will, verliert Herr F. das Gleichgewicht und bricht sich beim Sturz das Handgelenk. Frau A. ist eine rçstige, unternehmungslustige 69-jåhrige Dame. In der letzten Zeit traut sie sich aber kaum noch aus dem Haus. Sie ist in diesem Jahr nåmlich schon dreimal gestçrzt, und jedes Mal kann sie çber den Hergang des Sturzes nichts Genaues berichten. Mæglicherweise sei sie bewusstlos gewesen. Beim 3. Mal haben Bekannte im Altenclub den Sturz vom Stuhl beobachtet und gesehen, dass sie dabei ¹gezucktª hat. Im Krankenhaus wird ein EEG durchgefçhrt und eine neu aufgetretene Epilepsie festgestellt. Mit einem cMRT wird ein Tumor ausgeschlossen. Unter antiepileptischer Therapie verschwinden die Krampfanfålle, und Frau A. kann wieder ihre gewohnten Ausflçge unternehmen. Die 87-jåhrige Frau S. lebt trotz ihrer Sehbehinderung, einer Arthrose in den Knien und einem medikamentæs eingestellten Morbus Parkinson allein. Heute fållt sie schon zum zweiten Mal in diesem Sommer. Wie es zu dem Sturz im Wohnzimmer kam, weiû sie nicht genau, obwohl sie nicht bewusstlos war. Sie hatte an diesem Tag etwas mehr Schmerzen in den Knien und fçhlte sich unsicherer als sonst. Mæglicherweise sei sie çber die Kante des Låufers gestolpert. Erst nach 4 Stunden hært eine Nachbarin das Rufen der vællig entkråfteten, verångstigten Frau, die mit einer Schenkelhalsfraktur ins Krankenhaus gebracht wird.
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9 Inkontinenz
Harninkontinenz z Definition Die neue Definition der International Continence Society (ICS) unterscheidet unter Berücksichtigung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF; siehe Kap. 15) zwischen Harninkontinenz als Symptom und Harninkontinenz als Befund („sign“): Auf der Symptomebene bezeichnet Harninkontinenz den vom Patienten oder seiner Umgebung angegebenen unkontrollierten Urinabgang an ungewolltem Ort oder zu ungewollter Zeit, auf der Befundebene den vom Arzt durch einfache diagnostische Maßnahmen verifizierten Urinverlust außerhalb einer gezielten Miktion. Entsprechende Ergebnisse urodynamischer Untersuchungen ergänzen das Störungsbild zu einer „condition“[1]. Harninkontinenz stellt für viele Symptomträger eine erhebliche Belastung dar. Wer inkontinent ist, wird oft als unsauber oder „geistig beschränkt“ eingeschätzt [4]. Betroffene vermeiden es aus Angst oder Scham, auszugehen, und ziehen sich zurück. Angehörige sind durch die Geruchsbelästigung angewidert, mit zusätzlicher Arbeit belastet und erleben das Einnässen als persönlichen Affront oder als Umkehr des Eltern-KindVerhältnisses. Bei mangelnder Pflege steigt durch die ständige Nässe das Risiko für Hautmazerationen oder -infektionen. So wird die Harninkontinenz nicht selten zum entscheidenden Anlass für den Umzug ins Pflegeheim [9]. Dort gehen ca. 25% der Dienstzeit auf die Inkontinenzversorgung zurück. Inkontinenz bedeutet eine finanzielle Bürde für die Betroffenen und das Gesundheitssystem. Die gesetzlichen Krankenversicherungen gaben 2004 allein für inkontinenzspezifische Arzneimittel 106 Millionen Euro aus. Bei der Gmünder Ersatzkasse mit 1,4 Millionen Versicherten betrugen die Ausgaben für Inkontinenzhilfsmittel im Jahr 2003 2,8 Millionen Euro. Schwierig zu schätzen sind die erheblichen Kosten für Inkontinenzhilfsmittel, die von den Betroffenen selbst aufgebracht werden, ferner die Kosten für Diagnostik, nicht medikamentöse Behandlung, stationäre und ambulante Pflege sowie Folgeschäden wie Stürze, Hautschädigungen, psychosoziale Folgen
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etc. [14]. Die Kosten werden mit zunehmender Lebenserwartung weiter steigen, wenn es nicht gelingt, die Prävalenz der Harninkontinenz durch adäquate Diagnostik und Therapie zu senken.
z Epidemiologie Harninkontinenz ist ein Tabuthema. Angaben zu ihrer Häufigkeit schwanken daher stark, abhängig von der verwendeten Definition, Art der Befragung und Untersuchung. Sicher ist, dass ihre Häufigkeit mit zunehmendem Alter und zunehmender Pflegebedürftigkeit ansteigt. So sind rund 6% der erwachsenen Bevölkerung Nordamerikas und Mitteleuropas inkontinent [6]. Unter den über 70-jährigen, zu Hause lebenden Personen sind es etwa 30% und in Pflegeheimen 50–60% [5, 12, 19]. Während in jüngerem Alter vor allem Frauen an Harninkontinenz leiden, verschiebt sich dies mit zunehmendem Alter und bei Heimbewohnern zuungunsten der Männer [15, 18].
z Anatomie Zum Verständnis der verschiedenen Harninkontinenzformen, ihrer Entstehungsmechanismen und Therapieoptionen sind Grundkenntnisse der Anatomie und Physiologie des Harntraktes erforderlich. Abbildung 9.1 stellt schematisch die anatomischen Strukturen und deren Zusammenspiel bei Harnspeicherung und -entleerung dar.
Abb. 9.1. Nervale Steuerung der Harnspeicherung und -entleerung. (Aus [21])
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Die dehnbare glatte Detrusormuskulatur der Harnblasenwand ermöglicht unter dem Einfluss hemmender Sympathikus-Impulse (b-Rezeptoren) eine Speicherung kleiner und mittlerer Urinvolumina ohne wesentliche Erhöhung des Blaseninnendrucks. Über a-Rezeptoren tonisiert der Sympathikus gleichzeitig den glatten inneren Harnblasensphinkter und gewährleistet so zusammen mit dem quergestreiften, willkürlich über den Nervus pudendus innervierten Musculus spincter externus den Blasenverschluss. Größere Füllungsvolumina lösen Dehnungsreize aus, die über das Sakralmark zum Hirnstamm und den übergeordneten Zentren im Gehirn weitergeleitet und als Harndrang bewusst wahrgenommen werden. Dort erfolgt die übergeordnete Koordination von Harnspeicherung und Blasenentleerung. Während die Speicherphase über sympathische Fasern aus dem oberen Lumbalmark (Plexus hypogastricus) gesteuert wird, erfolgt die Blasenentleerung durch parasympathische Impulse aus dem Sakralmark über den Nervus pelvicus. Diese führen zur Detrusorkontraktion und zur Eröffnung des Blasenhalses. Gleichzeitig erschlaffen unter willkürlicher Steuerung Beckenboden und M. spincter externus. Nur die perfekte Koordination aller beteiligten Systeme gewährleistet vollständige Kontinenz. Zur Inkontinenz führende Störungen können auf allen Ebenen auftreten: z zerebral (z. B. Schlaganfall, Normaldruckhydrozephalus, Demenz), z spinal, nerval (z. B. Querschnittslähmung, Diabetes mellitus, Encephalomyelitis disseminata), z lokal infolge anatomischer Veränderungen (z. B. Descensus, Prostatahypertrophie), z lokal durch Reizzustände (z. B. Zystitis, Harnblasensteine) und z vorwiegend lokal durch Medikamente.
z Formen der Harninkontinenz Zum Verständnis der Pathomechanismen der Harninkontinenz kann folgende Einteilung dienen: 1. Dranginkontinenz (überaktive Blase mit Inkontinenz, „overactive bladder wet“), 2. Belastungsinkontinenz („stress urinary incontinence“), 3. Inkontinenz bei chronischer Harnretention, 4. Reflexinkontinenz, 5. extraurethrale Inkontinenz und 6. funktionelle Inkontinenz. z Die Dranginkontinenz ist die häufigste Form der Harninkontinenz im Alter. Sie ist gekennzeichnet durch häufigen, nicht unterdrückbaren Harndrang, der auch nachts auftreten kann. Der Drang ist plötzlich so stark, dass die Toilette nicht mehr erreicht wird. Psychische Belastungen können die Symptomatik verstärken.
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Die Dranginkontinenz als „overactive bladder wet“ wird mit imperativem Harndrang und Pollakisurie („overactive bladder dry“) unter dem Überbegriff der überaktiven Blase zusammengefasst. Zwei Pathomechanismen sind für ihre Entstehung verantwortlich: 1. Bei der motorischen Dranginkontinenz treten aufgrund einer mangelhaften übergeordneten Kontrolle unkontrollierte Detrusorkontraktionen auf. Typische Ursachen sind Erkrankungen des ZNS wie zerebrale Ischämie, Demenz oder Parkinson-Erkrankung. 2. Bei der sensorischen Dranginkontinenz führen vermehrte afferente Impulse aus der Blase zur ununterdrückbaren Detrusorkontraktion. Dies geschieht z. B. bei infektiösen oder strahlenbedingten Zystitiden, Koprostase, Blasensteinen oder Tumoren. Eine Belastungsinkontinenz entsteht, wenn der von außen auf die Blase wirkende Druck im Bauchraum den Druck des Blasenverschlussmechanismus übersteigt. Dies geschieht beim Husten, Niesen und Lachen, in schwereren Fällen schon bei leichter körperlicher Anstrengung wie Treppen steigen oder hüpfen. Dabei entsteht kein wahrnehmbarer Harndrang. Im Schlaf sind die Patienten in der Regel kontinent. Die Belastungsinkontinenz ist die bei weitem häufigste Harninkontinenzform bei Frauen unter 50 Jahren [16], tritt jedoch auch im höheren Alter und seltener auch bei Männern auf. Für einen dichten Blasenverschluss sind neben den beiden Schließmuskeln mit ihrer Innervation die Beckenbodenmuskulatur, die Lage der Blase und die Trophik der urogenitalen Schleimhäute unter Östrogeneinfluss verantwortlich. Mehrere Geburten, ein Descensus oder ein Östrogenmangel begünstigen bei Frauen, eine Schädigung des Sphinkters oder seiner nervalen Versorgung durch eine Prostataoperation bei Männern das Auftreten einer Belastungsinkontinenz. Begünstigend wirkt auch chronischer Husten. Bei einer Inkontinenz bei chronischer Harnretention müssen hohe Füllungsvolumina vorliegen, damit der intravesikale Druck den Blasenverschlussdruck übersteigt. Erst dann gehen kleine Mengen Urin ab, und in der Blase bleibt Restharn zurück. Teilweise kommt es zu einem verzögerten Miktionsbeginn oder zu Nachträufeln nach Miktionsende. Zwei Pathomechanismen führen zu dieser Form der Harninkontinenz: 1. ein erhöhter Blasenauslasswiderstand (Obstruktion), meist durch eine Prostatahypertrophie, seltener eine Harnröhrenstriktur oder 2. eine verminderte Kontraktilität des Detrusors, z. B. durch eine diabetische Neuropathie oder Medikamente (z. B. anticholinerge Wirkstoffe). Bei der Reflexinkontinenz ist der sakrale Reflexbogen für die Miktion intakt, die Weiterleitung zum Gehirn jedoch aufgrund einer neurologischen Erkrankung (z. B. Querschnittsverletzung des Rückenmarks) gestört. Harndrang wird nicht wahrgenommen; die Blase entleert sich reflektorisch oder nach einem äußeren Reiz wie Beklopfen der Bauchdecke. Bei der extraurethralen Inkontinenz erfolgt die Harnentleerung nicht durch die Urethra, sondern z. B. durch eine Fistel und damit kontinuier-
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lich. Auf die beiden letzten Harninkontinenzformen wird wegen ihrer Seltenheit im Alter nicht näher eingegangen. z Ursache der funktionellen Inkontinenz sind Störungen außerhalb des Harntrakts und seiner nervalen Steuerung. Betroffene erreichen die Toilette nicht rechtzeitig aufgrund einer Orientierungsstörung oder mangelnder Mobilität. Weiter Ursachen sind Störungen der Sensomotorik und Koordination der oberen Extremität oder schwierig zu öffnende Kleidung. Harninkontinenzformen können auch gemeinsam auftreten. Am häufigsten ist im höheren Alter die Kombination einer Drang- und einer Belastungsinkontinenz.
z Diagnostik Die Frage nach der Kontinenz ist Bestandteil jeder geriatrischen Anamnese. Vorausgegangene Geburten, bestehende Erkrankungen (Tabelle 9.1), Medikamente (Tabelle 9.2), situative und Umgebungsfaktoren (z. B. Weg zur ToiTabelle 9.1. Erkrankungen und Veränderungen, die zu Harninkontinenz führen können z z z z z z z z z z
Demenz Parkinson-Syndrom Gehirn- oder Rückenmarkstumor Encephalomyelitis disseminata Verwirrtheitszustand Schlaganfall Normaldruckhydrozephalus Gehirn- oder Rückenmarksverletzung Polyneuropathie (z. B. diabetisch, alkoholisch) Schwere akute Erkrankungen
z z z z z z z z z z z z
Harnwegsinfekt Strahlenzystitis Prostatahypertrophie Prostatakarzinom, Z. n. OP Zustand nach vaginalen Geburten Urethrastenose (z. B. nach Katheter) Blasenstein Blasentumor Deszensus (uteri oder vaginae) Verletzungen im Urogenitalbereich Fistel im Urogenitalbereich Chronische Obstipation
Tabelle 9.2. Medikamente, die eine Inkontinenz bei chronischer Harnretention verursachen können z z z z z z
Anticholinergika Spasmolytika Neuroleptika Zentral wirksame Analgetika Sympathomimetika Anticholinerg wirksame Antiparkinsonmittel
z Antihistaminika z Tri- und tetrazyklische Antidepressiva z Sedativa z Muskelrelaxanzien z Kalziumantagonisten (z. B. Biperiden, Trihexyphenidyl)
Harninkontinenz
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Tabelle 9.3. Fragebogen für Patienten mit Blasenschwäche. (Mod. n. [13]) Wie oft verlieren Sie ungewollt Urin? Selten, gelegentlich oder täglich, dauernd? Wie groß sind die Urinmengen, die Sie verlieren? Einige Tropfen oder größere Mengen? Bitte kreuzen Sie die zutreffenden Aussagen an: 1.
Kommt es öfter vor, dass Sie trotz starken Harndrangs nur sehr kleine Urinportionen oder gar nichts entleeren können?
*
H
2.
Haben Sie öfter das Gefühl, dass die Blase nach dem Wasserlassen nicht vollkommen leer ist?
*
H
3.
Stottert der Harnstrahl, oder kommt die Entleerung nur verzögert in Gang?
*
H
4.
Verstärken sich die Beschwerden beim Wasserlassen oder im Anschluss an das Wasserlassen?
*
I
D
5.
Ist der Harndrang bei Ihnen öfters schmerzhaft?
*
I
D
6.
Gehen Sie täglich häufiger als acht Mal zur Toilette?
*
I
D
7.
Verspüren Sie plötzlich starken Harndrang und verlieren Sie kurz darauf Urin, ohne dass Sie es verhindern können?
*
D
P
8.
Haben Sie starken Harndrang, der sich nicht unterdrücken lässt?
*
D
9.
Erreichen Sie normalerweise die Toilette oder das Bad noch trocken – und verlieren dann Urin, wenn sie gerade die Kleider öffnen oder sich der Toilette nähern?
*
P
D
10.
Unter Stress und Anspannung – müssen Sie da vermehrt zur Toilette?
*
P
D
11.
Verlieren Sie auch im Schlaf Urin?
*
D
12.
Müssen Sie nachts häufiger als zweimal Wasser lassen?
*
D
13.
Haben Sie bei längerem Stehen oder Gehen, besonders beim Bergabgehen, das Gefühl, dass „unten etwas locker ist“ oder „unten etwas herauszufallen droht“?
*
B
14.
Kommt es beim Bücken oder Heben zu Urinabgängen?
*
B
15.
Beobachten Sie, dass beim Husten, Niesen oder Lachen Urin abgeht?
*
B
16.
Wie viele Kinder haben Sie geboren?
*
B
HI
Angekreuzte Felder ergeben Hinweise auf die in den darauf folgenden Kästchen angegebenen Ursachen. B Belastungsinkontinenz, D Dranginkontinenz, H Harnretention (Obstruktion oder Detrusorschwäche), HI Herzinsuffizienz, I Infektion (sensorische Dranginkontinenz), P psychogene Komponente
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Name: Uhrzeit
Datum: Getränk und Trinkmenge in ml
07 h 08 h 09 h 10 h 11 h 12 h 13 h 14 h 15 h 16 h 17 h 18 h 19 h 20 h 21 h 22 h 23 h 24 h 01 h 02 h 03 h 04 h 05 h 06 h Abb. 9.2. Miktionsprotokoll
Wasser gelassen in ml
Dranggefühl ja/nein
Nass ja/nein +/++/+++
Bemerkungen (Medikamente, Hilfsmittel u. a.)
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lette, Art der Kleidung) haben Einfluss auf die Kontinenz und müssen daher eruiert werden. Ein Fragebogen wie in Tabelle 9.3 gibt Hinweise auf die Art und das Ausmaß der Inkontinenz. Bei Bedarf werden die Angaben durch ein über 3–5 Tage geführtes Miktionsprotokoll (Abb. 9.2) ergänzt. Darin werden Getränke (z. B. harntreibende Genussmittel wie Kaffee, Tee, Alkohol), Trinkmenge, Miktionsmengen, Häufigkeit der Miktion, zeitliches Auftreten der Inkontinenz und dabei wahrgenommener Harndrang erfasst. Zur körperlichen Untersuchung gehören ein rektaler Tastbefund (Koprostase, Prostatagröße, Sphinktertonus), die gynäkologische Inspektion (Descensus uteri, Zystozele beim Pressen), eine neurologische Untersuchung mit Prüfung der perianalen Sensibilität und die Inspektion der Haut im Genitoanal- und Sakralbereich. Bei Verdacht auf eine Belastungsinkontinenz kann man die Patientin bitten, bei voller Blase zu husten, um einen Urinabgang in eine Vorlage zu provozieren. Eine Urinanalyse und eine sonographische Untersuchung mit voller (Blasensteine, Blasentumor, Prostatagröße?) und entleerter Blase (Messung des Restharnvolumens, Nierenaufstau?) schließen die Basisuntersuchung ab. Bei der Mehrzahl der Patienten kann nach diesen Untersuchungen eine Verdachtsdiagnose gestellt und eine Therapie eingeleitet werden. In unklaren Fällen, bei Therapieversagen und vor einer geplanten Operation ist eine fachärztliche Abklärung mit Uroflowmetrie, urodynamischer Untersuchung, Urethrozystoskopie, Miktionszystourethrographie oder Perinealsonographie [17] erforderlich. Männer mit Überlaufblase sollten zum Ausschluss einer Harnröhrenstriktur und zur Abklärung einer Prostatahypertrophie in der Regel dem Urologen vorgestellt werden.
z Therapie z Dranginkontinenz. Behandelbare Ursachen einer sensorischen Dranginkontinenz (am häufigsten infektiöse Zystitis oder Koprostase) werden vorrangig therapiert. Persistiert die Dranginkontinenz danach oder liegt eine andere Ursache vor, so kann eine Besserung über Verhaltenstraining und/ oder medikamentöse Behandlung erzielt werden. Grundlage des Verhaltenstrainings ist das Miktionsprotokoll, das eine Aussage darüber liefert, wie lange ein Patient mindestens trocken bleibt. Beim Training erfolgt der Toilettengang regelmäßig und unabhängig vom Harndrang, zunächst in den durch das Miktionsprotokoll bestimmten Zeitintervallen. Bei selbstständigen, kooperativen Patienten werden die Miktionsintervalle alle 2–3 Tage um eine halbe Stunde verlängert. Dieses Blasentraining vergrößert die Harnspeicherkapazität. Kognitiv eingeschränkte Patienten, bei denen ein Blasentraining nicht möglich ist, erhalten ein Toilettentraining. Dabei werden die Miktionsintervalle so lange schrittweise angepasst, bis der Patient zwischenzeitlich trocken bleibt. Anticholinergika bessern die Dranginkontinenz über eine Hemmung der Detrusoraktivität. Bevorzugt eingesetzt wird bei älteren Patienten die hy-
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drophile, nicht liquorgängige quartäre Ammoniumverbindung Trospiumchlorid, weitere Optionen sind Oxybutynin, Tolterodin, Propiverin und Solifenacin oder das relativ M3-spezifische Anticholinergikum Darifenacin [22, 23]. Bei Engwinkelglaukom sind Anticholinergika kontraindiziert. Unter den Nebenwirkungen ist vor allem die Mundtrockenheit häufig; hier kann die transdermale Anwendung von Oxybutynin von Vorteil sein [22]. Seltener kommt es zu Tachykardien, Schwindel, Verwirrtheit, Halluzinationen, Obstipation und Restharnbildung. Die Restharnmenge muss unter der Therapie kontrolliert werden [2]. Sorgfältig zu achten ist auf eine Verschlechterung kognitiver Funktionen. Bei bestehender Demenz kann die Gabe von Trospiumchlorid oder Darifenacin unter Beobachtung versucht werden; die übrigen Substanzen sind kontraindiziert [23]. Bei depressiven Patienten kann der anticholinerge Begleiteffekt der trizyklischen Antidepressiva Imipramin, Desipramin, Nortriptylin oder Doxepin zur Behandlung der Dranginkontinenz ausgenutzt werden – allerdings unter strenger Beachtung der zentralnervösen und kardialen Nebenwirkungen [2]. z Belastungsinkontinenz. Behandlungsprinzip bei der Belastungsinkontinenz ist eine Stärkung des Blasenverschlussmechanismus. Bei kooperativen Patientinnen führt Beckenbodengymnastik in 50–70% zur Besserung oder Heilung [17]. Ihre Effektivität kann bei ungenügender Wahrnehmung der Muskelspannung durch Biofeedback, intravaginale Hilfsmittel (Vaginalkonus beim Üben) oder Elektrotherapie gesteigert werden. Der SerotoninReuptake-Hemmer Duloxetin verstärkt die Kontraktion des quergestreiften M. sphincter externus urethrae durch eine Zunahme der Aktivität des Nucleus Onuf im Rückenmark, führt allerdings häufig zu Übelkeit, Kopfschmerzen und Obstipation [22]. Bei Mukosaatrophie können intravaginale Östrogenapplikationen in niedriger Dosierung (z. B. Estriol 1 mg) eine unterstützende Wirkung haben [10]. Da eine zuverlässige Besserung der Harninkontinenz durch Östrogene nicht nachgewiesen ist, sollte ihr Einsatz zunächst auf 4–6 Wochen begrenzt und die Weiterbehandlung dann nochmals hinterfragt werden [2]. Von den zahlreichen Operationsverfahren sind die Kolposuspension nach Burch und die minimalinvasive TVT-Plastik („Tension free vaginal tape“) mit Heilungs- bzw. Besserungsraten über 70% am besten dokumentiert [3, 11]. Bei Descensus und Inoperabilität kommen Hilfsmittel wie intravaginale Pessare oder Vaginaltampons zum Einsatz, die wegen der Gefahr von Drucknekrosen und Infektionen unbedingt regelmäßig gewechselt werden müssen. z Inkontinenz bei chronischer Harnretention. Ein akuter Harnverhalt mit massiv gefüllter Blase und Unfähigkeit, Urin zu lassen, kann sich bei Älteren auch als Verwirrtheitszustand äußern. Unabhängig von der Ursache erfordert er in jedem Fall eine sofortige Harnableitung über einen Katheter. Rascher Handlungsbedarf besteht auch bei Nierenaufstau. Restharnmengen
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bis 100 ml können bei fehlenden Komplikationen (z. B. chronische Blaseninfektionen) toleriert werden. Prostatahypertrophie und Harnröhrenstriktur erfordern oft eine operative Korrektur des erhöhten Blasenauslasswiderstandes (z. B. Prostataresektion, Harnröhrenbougierung). Dabei ist zu beachten, dass zwischen Prostatagröße und Ausmaß der Obstruktion keine enge Korrelation besteht [20]. In leichteren Fällen einer durch eine Prostatahypertrophie bedingten Obstruktion kann ein konservativer Therapieversuch mit a-Rezeptorenblockern (Alfuzosin, Doxazosin, Tamsulosin, Terazosin) nach Ausschluss einer arteriellen Hypotonie und unter Blutdruckkontrollen (Cave: Hypotonie) erfolgen. 5-a-Reduktasehemmer (Finasterid 5 mg) kommen bei Prostatavolumina über 40 ml zum Einsatz, erreichen ihre volle Wirkung allerdings erst nach 3–6 Monaten. Eine Kombinationstherapie ist möglich. Bei verminderter Detrusorkontraktilität als Ursache einer chronischen Harnretention werden auslösende Medikamente soweit möglich abgesetzt (v. a. Anticholinergika und Medikamente mit anticholinerger Nebenwirkung wie manche Neuroleptika, Antidepressiva und zentral wirksame Analgetika u. a.). Cholinergika wie Bethanecholchlorid, Carbachol oder Distigminbromid verbessern die Detrusorkontraktion, haben jedoch zahlreiche Kontraindikationen und Nebenwirkungen, was ihren Einsatz bei geriatrischen Patienten einschränkt [2]. a-Rezeptorenblocker (Präparate s.o. oder Phenoxybenzamin) senken den Blasenauslasswiderstand. Bei manchen Patienten kann durch wiederholten Einmalkatheterismus, das vorübergehende Anlegen eines Dauerkatheters oder durch die Behandlung eines Harnwegsinfektes eine Reduktion der Restharnmenge erzielt werden. Bisweilen ist nur eine Kombination verschiedener Maßnahmen erfolgreich. Sind obige Maßnahmen nicht möglich oder ohne Erfolg, so kommt für kooperationsfähige Patienten das intermittierende Selbstkatheterisieren, für alle anderen die Harnableitung über einen Blasenverweilkatheter zum Einsatz. Dabei ist die suprapubische der transurethralen Katheteranlage vorzuziehen, da sie für den Patienten auf Dauer weniger störend ist und Komplikationen wie Harnröhrenstriktur, Prostatitis oder Epididymitis vermieden werden. Der Katheter kann bei mobilen Patienten durch ein auf Knopfdruck zu öffnendes Ventil verschlossen werden. z Allgemeine Maßnahmen bei Harninkontinenz. Eine Harninkontinenz kann bei immobilen oder dementen Patienten funktionell bedingt sein, weil sie die Toilette nicht finden oder zu spät erreichen. Bewegungsübungen, Gehhilfen, Markierung des Weges und der Toilette, leicht zu öffnende Kleidung, Haltegriffe, eine Urinflasche mit oder ohne Rücklaufventil oder ein Toilettenstuhl können hier Abhilfe schaffen. Gelegentlich führt das Absetzen von Diuretika, die Reduktion einer zu großen Trinkmenge (Ziel: ca. 1,5 l/Tag) oder das Meiden harntreibender Getränke (Kaffee, Tee, Alkohol) zur Besserung. Sind Inkontinenz-Hilfsmittel (z. B. Vorlagen, Windeln) erforderlich, so sollte ihre Größe nach dem Grad der Inkontinenz gewählt werden. Ein regelmäßiger Wechsel von Vorlagen oder Windeln ist zur Vermeidung von
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Hautschäden erforderlich, wobei moderne Produkte durch ihr stark saugfähiges, innen liegendes Gelkissen eine trockene Oberfläche behalten. Männer können ein Kondomurinal verwenden. Ein Blasenverweilkatheter sollte nur bei immobilen Patienten mit Dekubitus oder durch die Inkontinenz bedingten Hautproblemen und dann möglichst nur passager Verwendung finden. Gelegentlich ist er aber auch erforderlich, wenn nur so eine häusliche Pflege noch ermöglicht werden kann.
z Harninkontinenz-Management in geriatrischen Kliniken Bei der Vielzahl an Diagnosen und funktionellen Einschränkungen, die Patienten in geriatrischen Abteilungen mitbringen, gerät das für den Patienten und seine Umgebung belastende Symptom der Harninkontinenz trotz seiner Erfassung im Barthel-Index leicht in Vergessenheit. Einige geriatrische Kliniken haben daher spezielle Kontinenzberatungsstellen oder Kontinenzvisiten eingerichtet. Bei der Kontinenzvisite bespricht ein Team, dem speziell geschulte Ärzte und Kontinenzfachpflegepersonen angehören, mit dem zuständigen Arzt und der Bereichspflegekraft systematisch die Kontinenzsituation jedes Patienten und empfiehlt in Abstimmung mit dem Patienten und/oder seinen Angehörigen Abklärungs- und Therapiemaßnahmen. Bei Bedarf erfolgt vor der Entlassung eine gezielte Erprobung und Verordnung von Inkontinenz-Hilfsmitteln [8]. Auf eine Förderung der Harnkontinenz zielt auch der 5. Nationale Expertenstandard des Deutschen Netzwerks zur Qualitätsentwicklung in der Pflege [7].
Fallbeispiel Die 75-jåhrige Frau W. hat ihre bisher zahlreichen Unternehmungen wegen ihrer Harninkontinenz drastisch eingeschrånkt. Vor jedem Ausgehen çberlegt sie, wo sie im Notfall eine Toilette erreichen kænnte. Sie beschreibt einen håufigen, nur wenig schmerzhaften Harndrang mit dem Bedçrfnis, sofort zur Toilette zu gehen, die sie dann oft nicht rechtzeitig erreicht. Die Urinuntersuchung ergibt einen Harnwegsinfekt. Nach der erfolgreichen antibiotischen Therapie ist die Harninkontinenz lediglich etwas gebessert. Das Miktionsprotokoll zeigt, dass Frau W. 2 12 Liter tåglich trinkt, vorwiegend Kaffee und Tee. Man habe ihr gesagt, im Alter sei reichlich Flçssigkeit wichtig. Nach Reduktion der Trinkmenge und Umstellung auf weniger Diurese-færdernde Getrånke sowie einem Blasentraining verschwindet die Inkontinenz, und Frau W. nimmt ihre auûerhåuslichen Aktivitåten wieder auf. Diagnose: Dranginkontinenz, ausgelæst durch eine Zystitis und verstårkt durch groûe Mengen Diurese-færdernder Getrånke sowie psychogene Faktoren.
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z Wichtige Internetadressen http://www.continet.org: International Continence Society http://www.kontinenz-gesellschaft.de: Deutsche Kontinenz Gesellschaft http://www.uni-duesseldorf.de/awmf/ll/084-001.htm: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie: Harninkontinenz http://www.uni-duesseldorf.de/awmf/ll/ll_043.htm: Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Urologie
Stuhlinkontinenz z Definition und Häufigkeit Stuhlinkontinenz, der ungewollte peranale Abgang von Stuhl, ist ein Symptom, das über 3% der zuhause lebenden über 65-Jährigen und ca. 20% der über 80-Jährigen betrifft [1, 10]. In jüngeren Jahren leiden vorwiegend Frauen an einer Stuhlinkontinenz; bei den über 80-Jährigen sind beide Geschlechter gleich häufig betroffen [10]. Die Kombination einer Stuhl- mit einer Harninkontinenz ist häufiger als eine Stuhlinkontinenz alleine [10].
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z Bedeutung Stuhlinkontinenz bedeutet weit mehr als eine peinliche Angelegenheit und eine Geruchsbelästigung für Patienten, Angehörige und Pflegepersonal. Sie ist oft ein Zeichen für einen reduzierten Gesundheits- und Kräftezustand und damit ein Marker für ein erhöhtes Mortalitätsrisiko [6]. Bei Demenzkranken, bei denen eine Stuhlinkontinenz gehäuft auftritt [1], ist sie oft der Anlass für den Umzug ins Pflegeheim [8]. Stuhlinkontinente haben häufiger Harnwegsinfekte und Dekubitalgeschwüre und verursachen zusätzliche Kosten.
z Schweregrade Die Stuhlinkontinenz wird in 3 Schweregrade eingeteilt: z Grad 1: unkontrollierter Abgang von Darmwinden, z Grad 2: unkontrollierter Abgang von Winden und flüssigem Stuhl, z Grad 3: unkontrollierter Abgang auch von festem Stuhl.
z Pathophysiologie Kontinenz und gesteuerte Defäkation entstehen im Zusammenspiel von: z M. spincter ani internus (glatte Muskulatur, in Ruhe tonisch kontrahiert); z M. sphincter ani externus (quergestreifte Muskulatur, 20% Beitrag zum Ruhetonus, vermehrte reflektorische Kontraktion bei Reizen wie starker Dehnung des Rektums und Husten, willkürliche Anspannung für kurze Zeit möglich, Versorgung durch Nervus pudendus); z Beckenbodenmuskulatur (M. puborectalis, M. pubo- und ileococcygeus: willkürliche, funktionell zum M. sphincter ani externus gehörige Muskulatur); z Sensibilität der Analhaut; z Reservoirfunktion des Rektums (rektale Compliance); z Corpus cavernosum recti (am inneren Rand des Schließmuskels gelegenes Gefäßpolster, bewirkt den luft- und feuchtigkeitsdichten Verschluss. Hämorrhoiden sind eine pathologische Ausweitung dieser Gefäße); z nervaler und psychischer Steuerung. Übermäßiges Stuhlvolumen und eine flüssige Stuhlkonsistenz können diesen Kontinenzmechanismus auch bei jungen Gesunden überfordern und zu vorübergehender Stuhlinkontinenz führen. Im Alterungsprozess wird der M. sphincter internus mit Bindegewebe durchsetzt, und Kraft und Dicke des M. sphincter externus nehmen ab.
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z Ursachen der Stuhlinkontinenz Die Ursachen lassen sich einteilen in z lokale anatomische und sensomotorische Störungen, z Störungen der nervalen und psychischen Kontrolle, z funktionelle Störungen durch veränderte Stuhlkonsistenz, z Probleme mit der Mobilität und dem Zugang zur Toilette (Tabelle 9.4). Eine typische und leicht behebbare Ursache der Stuhlinkontinenz bei Älteren ist die Koprostase: Im Rektum sammeln sich bei reduzierter Sensibilität Kotballen (Skybala). Die Dehnung überfordert den Kontinenzmechanismus für weicheren, daran vorbei fließenden Stuhl. Die Diagnose wird durch eine einfache digitale rektale Untersuchung gestellt. Die Therapie besteht in einer manuellen Stuhlausräumung und Abführmaßnahmen (z. B. hoher Einlauf). Zur Prophylaxe ähnlicher Zustände sollten die Ursache geklärt, soweit möglich beseitigt (z. B. obstipierende Medikamente wie Verapamil oder Opiate, ungenügende Trinkmenge, Bewegungsmangel, Parkinson-Erkrankung, Tumor etc.) und/oder regelmäßige Abführmaßnahmen getroffen werden.
z Diagnostik Stuhlinkontinenz ist peinlich und wird selten freiwillig erwähnt. Die Anamnese umfasst daher Fragen nach Defäkationsfrequenz, Häufigkeit und Menge der Stuhlinkontinenz und Beginn der Inkontinenzsymptome. Zur Ursachenabklärung wird gezielt nach den Konditionen in Tabelle 9.4 gefragt, außerdem nach der Wahrnehmung von Stuhldrang oder unwillkürlichen Stuhlabgängen und der Abhängigkeit von bestimmten Speisen. Die klinische Untersuchung umfasst: z Inspektion (mit und ohne Pressen): Hautzustand, Narben, Hämorrhoiden Grad 2–4, Marisken, Anal- oder Rektumprolaps, Rektozele, Analfissur (bei 6 Uhr in Steinschnittlage), Fisteln; z Prüfung der perianalen Sensibilität, Analreflex; z rektaler Tastbefund: Sphinktertonus in Ruhe und bei willkürlicher Kontraktion, Schleimhaut glatt? Resistenzen, Analfissur (Schmerz in der Regel bei 6 Uhr in Steinschnittlage), Stuhlkonsistenz und -menge. Nur selten sind bei gezielten Fragestellungen weitere Untersuchungen erforderlich: z Abdomensonographie oder Röntgen-Abdomen-Übersicht: Koprostase mit Stuhl im Sigma/oberen Retum; z Rektosigmoidoskopie oder Koloskopie: Tumor, Kolitis unterschiedlicher Ursache (z. B. durch Clostridium difficile, ischämisch), nicht berichteter Laxanzienabusus;
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Tabelle 9.4. Ursachen der Stuhlinkontinenz Lokale anatomische und sensomotorische Störungen z Traumata (z. B. Geburt) z Operationen (z. B. Dilatation, Sphinkterotomie, Hämorrhoidenoperation mit ausgedehnter Resektion der sensiblen Analhaut, Fistelchirurgie, tiefe Anastomose nach Rektumresektion) z Rektum- und Analprolaps, Rektozele z Zustand nach Radiatio z Marisken, Analfissur z Proktokolitis z Neoplasien (z. B. Rektum- und Analkarzinom) Störungen der nervalen und psychischen Kontrolle z Nervenverletzungen (Prostataoperation, Geburtstrauma) z Polyneuropathien (z. B. Diabetes mellitus) z Rückenmarksläsionen (z. B. Querschnitt) z Demenz z Delir z Schwere Depression z Apoplex z Encephalomyelitis disseminata Funktionelle Störungen durch veränderte Stuhlkonsistenz z Koprostase, Skybala z Diarrhö unterschiedlicher Ursache (z. B. Kolitis, antibiotikaassoz. Diarrhö, pseudomembranöse Kolitis durch Clostridium difficile etc.) z Abführmittel, Nahrungszusätze wie Sorbit oder Mannit, magnesiumhaltige Antazida Probleme mit dem Zugang zur Toilette z Orientierungsstörung (z. B. durch Demenz) z Fehlende Toilette z Gangstörung (z. B. durch Apoplex, Arthrose, Morbus Parkinson)
z anorektale Manometrie: Quantifizierung des Sphinktertonus in Ruhe und beim Pressen, Beurteilung der anorektalen Sensorik und Compliance [9]; z Elektromyographie: neuromuskuläre Schädigung von N. pudendus und M. sphincter ani externus (z. B. durch Geburtstrauma) [9]; z Endosonographie: Defekte im M. sphincter ani internus oder externus [4], Eindringtiefe und Lymphknotenbefall bei Rektumkarzinom; z endoanales MRT: Defekte im M. sphincter ani internus oder externus [4], Eindringtiefe und Lymphknotenbefall bei Rektumkarzinom; z Defäkogramm (röntgenologische Darstellung des Defäkationsvorgangs mit Barium-Paste) zur Darstellung eines inneren Rektumprolapses (Intussuszeption) oder einer Rektozele [4], selten zur präoperativen Diagnostik verwendet.
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z Therapie Ziel der Behandlung ist eine planbare Defäkation zu passender Zeit. Dazu kann eine Regulierung der Stuhlkonsistenz erforderlich sein. Die kurative Behandlung fassbarer Ursachen (z. B. Therapie einer Koprostase, einer Clostridienkolitis oder Operation eines Rektumkarzinoms) hat Vorrang vor einer symptomatischen Therapie. Wenn Stuhldrang wahrgenommen wird und dieser nicht bis zur Toilette gehalten werden kann (Urgesymptomatik), genügen manchmal Hilfsmittel wie ein Toilettenstuhl oder leicht zu öffnende Kleidung. Eine Markierung der Toilette ist für manche Demenzkranke hilfreich. Ist die Stuhlinkontinenz durch eine Diarrhö bedingt und eine behandelbare Ursache dafür ausgeschlossen, so lassen sich Stuhlfrequenz und Zahl der Inkontinenzepisoden durch Loperamid verringern [2]. Loperamid entfaltet seine antidiarrhoische Wirkung über eine Verminderung der Peristaltik und eine erhöhte Wasserabsorption mit Reduktion des Stuhlgewichts. Der Ruhedruck des Analsphinkters wird geringfügig erhöht, die anorektale Compliance verbessert. Gegenüber anderen obstipierend wirkenden Substanzen wird es wegen seiner großen therapeutischen Breite bevorzugt. Die Dosierung erfolgt einschleichend, beginnend mit 2–4 mg täglich oder 2 mg nach jedem dünnflüssigen Stuhl. Potenzielle Nebenwirkungen sind Obstipation, Bauchschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit und Schwindel. Interessant sind Studien mit lokal applizierten Medikamenten, die zu einer Erhöhung des Sphinktertonus führen (z. B. Phenylephrin-Gel). Die klinischen Resultate sind bisher jedoch widersprüchlich, und die Substanz ist zur Behandlung der Stuhlinkontinenz in Deutschland nicht zugelassen [3]. Auch minimal-invasive Maßnahmen wie die Injektion von Silikon oder die Sakralnervenstimulation über perkutan eingebrachte feine Drahtelektroden sind noch unzureichend erforscht [5]. Motivierte und kognitiv kompetente Personen können durch regelmäßige Beckenbodengymnastik den M. sphincter ani externus und die Beckenbodenmuskulatur trainieren. Ein biofeedbackgesteuertes Training, bei dem auch die Wahrnehmung rektaler Dehnungsreize geübt wird, führt angeblich zu besseren Resultaten als die Beckenbodengymnastik alleine [9, 11]. Voraussetzung ist eine vorhandene anale Restsensibilität und eine zumindest geringe willkürliche Kontraktionsfähigkeit des M. sphincter ani externus, was sich bei der rektalen Untersuchung prüfen lässt. Zu beiden Therapieformen gibt es allerdings kaum methodisch einwandfreie Studien [7]. Dasselbe gilt für ein passives Training des Schließmuskels durch Elektrostimulation [9]. Bei gestörter nervaler und psychischer Kontrolle, z. B. bei Demenzkranken, hilft teilweise ein Verhaltenstraining mit dem Ziel einer täglichen Defäkation morgens nach dem Frühstück. Bei Bedarf können dafür auch Abführmittel eingesetzt werden. Nur selten kommt bei geriatrischen Patienten mit nachgewiesenen Defekten im M. sphincter ani externus eine operative Sphinkterrekonstruktion (anal repair) in Frage. Auch die operative Raffung der Puborektalisschlinge
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mit dem Ziel, den anorektalen Winkel zu verstärken (post anal repair) oder ausgedehnte, potenziell komplikationsträchtige und nachbehandlungsintensive Sphinkter-Ersatzoperationen (z. B. Grazilisplastik) [4] sind bei geriatrischen Patienten in der Regel nicht indiziert. Ist die Stuhlinkontinenz therapieresistent, so erhöhen regelmäßig gewechselte saugfähige Windeln den Komfort für den Patienten und mindern das Riskio einer schmerzhaften Hautmazeration. Als Hautschutz hilfreich sind zinkoxydhaltige Externa (z. B. Zinkpaste) oder Flüssigkeiten aus Polymeren, die nach Einpinseln der Haut einen Schutzfilm bilden (z. B. Cavilon). Ausgedehnte, therapieresistente Hautmazerationen, die als Ultima ratio die Anlage eines Anus praeters erforderlich machen, sollten sich damit vermeiden lassen.
Fallbeispiel Die 87-jåhrige, leicht demente Frau M. ist seit 3 Monaten stuhlinkontinent. Jetzt wird sie wegen linksseitiger Unterbauchschmerzen und Ûbelkeit ins Krankenhaus eingeliefert. Bei der klinischen Untersuchung tastet man eine druckschmerzhafte Walze im linken Unterbauch ohne Abwehrspannung. Das Rektum ist mit harten Skybala ausgemauert. Nach einer manuellen Ausråumung und einem hohen Einlauf sind Schmerzen und Stuhlinkontinenz verschwunden. Ursache fçr die Obstipation war vermutlich die Behandlung ihrer Osteoporose-Schmerzen mit Tramadol. Da diese ohne ein schwach wirksames Opiat nicht ausreichend zu lindern sind, wird ein mildes Laxans (z. B. Lactulose, Macrogol) regelmåûig verordnet.
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Begriffsbestimmung Demenz (lat. dementia: Unsinn, Wahnsinn) ist ein Syndrom, das die krankhafte, subakute oder chronische Verschlechterung der individuellen kognitiven Leistungen bezeichnet. Dabei werden zur Diagnosestellung die Betroffenheit von mindestens zwei kognitiven Teilbereichen gefordert. Diese Teilbereiche können beispielsweise Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache, visuell-räumliche Leistungen oder sogenannte exekutive Funktionen (Entscheidungsfindung, Planen) betreffen. Die kognitiven Einschränkungen müssen mit dem täglichen Leben des Betroffenen interferieren und über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten bestehen. Eine Bewusstseinsstörung darf, zur Abgrenzung gegenüber Verwirrtheitszuständen, nicht vorliegen. Darüber hinaus bestehen bei den Betroffenen vor allem in fortgeschritteneren Stadien einer Demenz Verhaltensauffälligkeiten und Veränderungen der Persönlichkeit. Im Bereich der Forschung wird versucht, die Alzheimer-Erkrankung bereits früher anhand der Kombination von Positivkriterien zu erfassen [2].
Häufigkeit und praktische Relevanz z Epidemiologische Daten Die Prävalenz demenzieller Erkrankungen bei Personen zwischen 65 und 70 Jahren wird zwischen 1 und 4% angegeben. Dabei verdoppeln sich innerhalb der Gruppe der über 65-Jährigen die Prävalenzraten etwa alle 5 Lebensjahre, das heißt, für die BRD wird der Anteil der Demenzkranken bei über 90-Jährigen auf etwa 35% geschätzt. In Deutschland wird zur Zeit mit einer Anzahl von ca. 950 000 Demenzkranken gerechnet (Übersicht bei [1]). Demenzen bei Patienten unter 65 Jahren sind seltener und müssen vermehrt an symptomatische, reversible und primär genetische Ursachen denken lassen.
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Der Anteil der Patienten mit einer Alzheimer-Erkrankung innerhalb der Gruppe der an Demenz Leidenden beträgt als größte Gruppe ca. 60–70%, der der Patienten mit vaskulärer Demenz als zweitgrößte Gruppe ca. 15%. Der Anteil der sog. „gemischten“ Formen mit Alzheimer-typischen Veränderungen und vaskulären Veränderungen des Gehirns wird in letzter Zeit höher eingeschätzt als früher. Aufgrund der demographischen Entwicklung ist mit einer Zunahme der Demenzerkrankungen zu rechnen. Die Hochrechnungen divergieren stark, u. a. aufgrund unterschiedlicher Annahmen zur Effektivität von präventiven und therapeutischen Maßnahmen. Die Lebenserwartung dieser Patienten ist deutlich eingeschränkt. Die Sterberaten sind um das 2- bis 5fache erhöht. Die durchschnittliche Dauer einer Alzheimer-Erkrankung wird mit 9–12 Jahren angegeben [7]. Die Prognose bei vaskulärer Demenz ist tendenziell schlechter.
z Entwicklung kognitiver Fähigkeiten mit zunehmendem Alter Hohes Alter ist einer der Hauptrisikofaktoren für die Entwicklung einer Demenz. Das Gehirn ist, wie alle anderen Organe des Köpers auch, vom Alterungsprozess betroffen. Die sog. Kontinuitätshypothese, die einen natürlichen Übergang von einem relativ gesunden zu einem kranken Altern nahe legt, ist weit verbreitet. Ob sich – bei theoretisch unbegrenztem Lebensalter – bei jedem Menschen eine degenerative Demenz, wie z. B. eine Alzheimer-Erkrankung, einstellen würde, ist umstritten. Den Veränderungen intellektueller Fähigkeiten mit zunehmendem Alter wurde in unterschiedlichen Konzepten Rechnung getragen. So scheint mit zunehmendem Alter „fluide“ Intelligenz – d. h. problemlösendes Denken in neuen Situationen betreffende Intelligenz – nachzulassen, wohingegen „kristalline“ Intelligenz – die häufig praktizierte, z. B. verbale Fähigkeiten beschreibt – bis ins hohe Alter hinein konstant zu bleiben scheint. Ohne Zweifel laufen kognitive Prozesse bereits bei einem 70-Jährigen durchschnittlich langsamer ab als bei einem 20-jährigen Menschen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie qualitativ gestört sind [4]. Die Unterscheidung zwischen altersbedingten Einschränkungen der Kognition und einer beginnenden demenziellen Erkrankung ist schwer zu treffen. Zahlreiche diagnostische Termini wurden entwickelt, um Patienten in der „diagnostischen Grauzone“ zwischen Altern und Demenz zu beschreiben. Am gebräuchlichsten ist der Terminus des „mild cognitive impairment“ (MCI), der Patienten beschreibt, die isolierte, über das Altersmaß hinausgehende Einschränkungen des Gedächtnisses („amnestic MCI“) aufweisen. Der Anteil dieser Patienten, die später eine Demenz entwickeln, ist deutlich erhöht.
Diagnostische Hinweise und Differenzialdiagnostik
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Diagnostische Hinweise und Differenzialdiagnostik z Anamnese Im Rahmen der Anamneseerhebung offenbart sich bei Demenzkranken häufig eine Anosognosie, d. h. eine Unfähigkeit in der Wahrnehmung der eigenen Krankheit. Diese kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und korreliert schlecht mit der Einschränkung der Kognition insgesamt. Klagen über ein nachlassendes Gedächtnis im Alter sind umgekehrt aber in jedem Fall ein Warnsymptom im Hinblick auf die Entwicklung einer Demenz, wobei in diesen Fällen auch auf eine depressive Symptomatik zu achten ist. Unerlässlich ist die Fremdanamnese durch einen nahen Angehörigen, wobei zu beachten ist, dass Patienten mit beginnenden demenziellen Erkrankungen in gewohnter Umgebung oft nur wenige Auffälligkeiten zeigen. Daher sollte auch das Verhalten in fremder Umgebung oder bei besonderer Beanspruchung (Autofahrt durch eine fremde Stadt, neue Aufgabe im Beruf etc.) erfragt werden. Bei der Fremdanamnese sind möglichst der Beginn der Symptome konkret an Beispielen zu erfragen und die Dynamik des Geschehens (eher langsam progredient oder plötzlicher Beginn mit stufenförmigem Verlauf) zu eruieren. Plötzliche Verschlechterungen können auf vaskuläre Ursachen hinweisen, eine rasche Progredienz über Wochen auf Stoffwechsel- oder Infektionskrankheiten. Ferner wichtig sind Begleitsymptome wie Gangunsicherheit, vermehrte Unbeweglichkeit und Blasenstörungen als mögliche Hinweise auf zugrunde liegende Ursachen (s. u.) und die Frage nach Schlafstörungen und depressiver Verstimmung sowie nach eingenommenen Medikamenten (Schlafmittelüberhang? Betablocker? Anticholinerge Nebenwirkungen?) und Alkoholsowie Substanzmissbrauch. Die Familienanamnese im Hinblick auf demenzielle Erkrankungen und vaskuläre Ereignisse ist ebenso wichtig wie die Sozialanamnese (hoher Bildungsstand mit etwas geringerem Demenzrisiko, Versorgungssituation zuhause).
z Körperliche Untersuchung Zu jeder Demenzdiagnose gehört eine medizinische, neurologische und psychiatrisch-klinische Beurteilung. Bei der medizinischen Untersuchung ist insbesondere auf vaskuläre Risikofaktoren zu achten (Rhythmusstörungen, Vitien, Blutdruckregulationsstörungen, Durchblutungsstörungen der Extremitäten) sowie auf Zeichen der Leber- oder Niereninsuffizienz. Bei der neurologischen Untersuchung sollte auf folgende Symptome geachtet werden: z Tonuserhöhungen der Muskulatur und Reflexdifferenzen (Hirninfarkte, zerebraler Tumor),
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z Parkinson-Syndrom (Lewy-Körperchen-Demenz, progressive supranukleäre Blickparese – asymmetrisch bei kortikobasaler Degeneration), z Gangstörungen (Normaldruckhydrozephalus oder Parkinson-Syndrome, s. o.), z aphasische Symptome (Wortfindungsstörungen bei Morbus Alzheimer, Broca-Aphasie-ähnliche Symptome bei frontotemporaler Demenz), z Primitivreflexe (z. B. Schnauzreflex bei frontotemporaler Demenz), z weitere neurologische Hinweissymptome (vertikale Blickparese bei progressiver supranukleärer Blickparese, Myoklonien bei Creutzfeld-JakobErkrankung). Die Psychopathologie umfasst insbesondere Hinweise auf depressive Symptome, visuelle Halluzinationen (Lewy-Körperchen-Demenz) und Enthemmung bei frontotemporalen Demenzen.
z Neuropsychologische Testverfahren, kognitive Profile Neuropsychologische Untersuchungsverfahren stellen weiterhin die zentrale Untersuchung bei der Diagnosestellung einer Demenz dar. Neben Diagnosestellung und Schweregradeinschätzung kann das neuropsychologische Spektrum der Ausfälle Hinweise auf die zugrunde liegende Erkrankung geben. Screening-Verfahren können von Ärzten durchgeführt werden. Eine detailliertere Untersuchung sollte Neuropsychologen vorbehalten bleiben. Wichtig sind bei der Testung eine ungestörte Atmosphäre und die Beobachtung der Motivation und der Mitarbeit des Probanden. z Screening-Verfahren z Uhrentest: Zeichnen einer Uhr, anschließend Einzeichnen der Zeiger auf „10 nach 11“. Beobachtung der Vorgehensweise. Prüft Planung, visuell räumliche Orientierung, konzeptuelles Denken und Perseverationen; gibt ggf. Anhalt für die Umsetzung von Zeit-Ziffer-Relationen. Aufschlussreich sind die Beobachtung des Vorgehens beim Zeichnen sowie die „Gestalt“ der gezeichneten Uhr. Zahlreiche Beurteilungssysteme existieren, z. B. nach Shulman, angelehnt an Schulnoten: 1 = fehlerlos, 6 = keine Uhr erkennbar (siehe Anhang). z Die sog. DEMTECT-Testbatterie enthält eine Auswahl von Tests zur Untersuchung der insbesondere beim Morbus Alzheimer frühzeitig betroffenen kognitiven Systeme: eine Wortliste zur Prüfung des verbalen Gedächtnisses mit verzögertem Abruf, eine Wortgenerierungsaufgabe, einen Test der rückwärts gerichteten Aufmerksamkeitsspanne (sog. Arbeitsgedächtnis) und eine Transkodierungsaufgabe zur Umwandlung von Zahlen in Wörter und umgekehrt [6].
Diagnostische Hinweise und Differenzialdiagnostik
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z „Mini-mental-state“-Test: Sehr weit verbreiteter Screening-Test (s. Anhang). Geringer Gedächtnisanteil. Die Sensitivität/Spezifität bei einem Cut-off-Wert von < 26/30 Punkten liegt für die Alzheimer-Erkrankung bei ca. 74/100% [8]. Als detaillierterer Test hat sich – insbesondere in Hinblick auf die Alzheimer-Erkrankung – die CERAD-Batterie („consortium to establish a registry for Alzheimer disease“) durchgesetzt. Je nach Auffälligkeiten werden weitere Tests durchgeführt.
z Weiterführende Untersuchungen Zu jeder Demenzdiagnostik gehört eine zerebrale Bildgebung, insbesondere zur Beurteilung vaskulärer Veränderungen und zum Ausschluss von Raumforderungen. Die cMRT (kraniale Magnetresonanztomographie) ist aufgrund höherer Sensitivität für chronisch-vaskuläre Prozesse, besserer struktureller Auflösung, möglicher koronarer Schnittführung zur Beurteilung der Hippocampusregion sowie fehlender Strahlenbelastung gegenüber einer CCT (kraniale Computertomographie) trotz der etwa doppelt so hohen Kosten vorzuziehen. Eine funktionelle Bildgebung wie SPECT (Single-Photon-Emissionscomputertomographie) und insbesondere die PET (Positronenemissionstomographie) kann bei schwierigen Differenzialdiagnosen hilfreich sein. Die funktionelle cMRT zur Diagnostik demenzieller Erkrankungen ist bisher nicht etabliert. Laboruntersuchungen dienen insbesondere der Diagnose „sekundärer“, oft reversibler Demenzerkrankungen. Obligate Laboruntersuchungen bei Demenzverdacht umfassen: z Differenzialblutbild, z BSG, z Transaminasenaktivitäten, z Harnstoff-/Kreatininkonzentration, z Elektrolytwerte, z Glukose- und HbA1c-Wert, z Vitamin-B12-Spiegel, z Folsäurekonzentration, z Luesserologie, z ggf. HIV-Serologie. Bei besonderen Verdachtsmomenten können ergänzend wichtig sein: Coeruloplasminkonzentration (erniedrigt bei Morbus Wilson), Parathormonspiegel (Hyperparathyreoidismus), Homocysteinkonzentration (Nüchternabnahme; u. a. vaskulärer Risikofaktor), Thiaminspiegel (Korsakow-Syndrom), antinukleäre Antikörper, Granulozyten-Zytoplasma-Antikörper (ANCA; Vaskulitiden), Liquoruntersuchungen (Ausschluss Enzephalitis, Protein 14-3-3 bei
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Creutzfeld-Jakob-Erkrankung, Liquor-PCR Tropheryma whipplei bei Morbus Whipple etc.). Zunehmend an Bedeutung gewinnt die Bestimmung von TauProtein und Beta-Amyloid 1-42 aus dem Liquor bei Verdacht auf Morbus Alzheimer (Wert für Tau-Protein erhöht, für Amyloid 1-42 erniedrigt). Das Vorliegen eines e4-Allels auf dem Apo-E-Gen (Chromosom 19) ist mit einem früheren Krankheitsbeginn assoziiert. Eine Apo-E-Genotypisierung als Baustein zur Diagnosestellung des Morbus Alzheimer wird zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht empfohlen. Genetische Analysen (z. B. bei familiären Alzheimer-Erkrankungen, Chorea Huntington, CADASIL [= cerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie]) sollten nur bei hochgradigem Verdacht auf eine familiäre Demenzerkrankung in Erwägung gezogen werden und an eine genetische Beratung gekoppelt sein.
z Algorithmus zum Vorgehen bei Verdacht auf demenzielle Erkrankung Klage über nachlassende kognitive Leistungsfähigkeit oder Persönlichkeitsveränderungen ; Ausführliche Anamnese und Fremdanamnese: u. a. zeitliche Dynamik, typische Manifestation im Alltag, Verhalten und Stimmung? Familienanamnese? Zusatzerkrankungen? Medikation? ; Körperliche, neurologische und psychiatrische Untersuchung ; Neuropsychologische Testung: 1. Screeningtest, z. B. Mini-Mental-Status oder DEMTECT 2. Bei auffälligem Ergebnis oder weiter bestehendem Demenzverdacht ausführliche Testung durch einen Neuropsychologen. Spektrum der kognitiven Einbußen? ; Diagnosestellung eines demenziellen Syndroms ; Laboruntersuchungen und Bildgebung des Gehirns ; Exakte Diagnose, z. B.: z Verdacht auf Alzheimer-Erkrankung z Vaskuläre Demenz (mit jeweiliger Unterform) z sog. „Mischdemenz“ z andere Demenzformen, z. B. frontotemporale Demenz, Lewy-Körperchen-Demenz, progressive supranukleäre Blickparese, Demenz bei Vitamin-B12-Mangel etc.
Therapie
z
Therapie z Allgemeine Maßnahmen In den Anfangsstadien einer Demenz, insbesondere der Alzheimer-Erkrankung, können Gedächtnishilfen (Uhr, Tagebuch, elektronische Erinnerungshilfen) nützlich sein. Kognitive Aktivierungen zur Nutzung der vorhandenen Fähigkeiten in Form von Ergo-, Musik- und Bewegungstherapie sind motivierend und wirken sich auf Verhaltensstörungen günstig aus, zumal insbesondere bei der Alzheimer-Erkrankung prozedurale Gedächtnisleistungen, zum Beispiel motorische Lernvorgänge, lange Zeit erhalten sind [9]. Die Wirksamkeit von zweimal wöchentlich über 10 Wochen durchgeführter Ergotherapie auf die Verbesserung der Alltagsbewältigung über 3 Monate konnte erstmalig belegt werden [3]. Auch das Einüben von regelmäßigen Tätigkeiten wie Toilettengängen sowie computergestütztes Orientierungstraining kann nützlich sein. Eine kognitive Stimulation 2- wöchentlich für je 45 min über 7 Wochen erbrachte in einer Studie mit über 200 Demenzkranken deutliche kognitive Übungseffekte [10]. Auch ein intensives Multimediatraining zeigte positive Effekte [11]. Für die Patienten oft frustrierend wirkt sich jedoch explizites Gedächtnistraining aus, dessen therapeutischer Effekt zweifelhaft ist. Weiterhin wichtig sind eine Konstanz der Betreuungspersonen, ein fester Tagesrhythmus, Strukturierung und Gestaltung der Umgebung mit Orientierungshilfen und Rückzugsmöglichkeiten [12] sowie geeignete Kommunikationstechniken wie „integrative Validation“.
z Spezifische Therapieansätze Die Anwendung spezifischer Therapieansätze hängt von der jeweiligen Demenzerkrankung ab. Tabelle 10.1 soll einen Überblick über die häufigeren Demenzerkrankungen und deren medikamentöse Therapie geben. Auf zahlreiche, v. a. seltenere (z. B. durch Syphilis, Hypothyreose, Hashimoto-Enzephalopathie, Vitamin-B12-Mangel, Creutzfeld-Jakob-Erkrankung, kortikobasale Degeneration oder Morbus Whipple bedingte) oder umstrittene Demenzformen wie bei der Alkoholenzephalopathie wird nicht eingegangen. Weitere diagnostische und therapeutische Hinweise finden sich u. a. in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (http://www.dgn.org). Hilfe für Patienten und Angehörige sind u. a. auf der Website der Deutschen Alzheimergesellschaft (http://www.deutsche-alzheimer.de) erhältlich; dort gibt es auch telefonisch Hilfe (Tel. 0 18 03-17 10 17).
135
Klinisches Bild
Langsam progredient, zunächst Gedächtnisstörungen, im Verlauf Wortfindungsstörungen, räumlichkonstruktive Störungen, selten und spät leichtes Parkinson-Syndrom oder Myoklonien
Klinisches nach unterschiedlichen Subformen, vor allem: 1. multiple Territorialinfarkte mit stufenartiger Verschlechterung und neurologischer Herdsymptomatik sowie unterschiedlichen kognitiven Beeinträchtigungen 2. subkortikale vaskuläre Demenz mit psychomotorischer Verlangsamung und exekutiven Funktionsstörungen
z Morbus Alzheimer
z Vaskuläre Demenz
Neuropsychologische Testung, cMRT (cCT), Dopplersonographie, Echokardiographie, EKG, Langzeitblutdruckmessung, Laboruntersuchungen einschließlich vaskulärer Risikofaktoren (LDL-Cholesterin-Spiegel, HbA1c-Wert)
Neuropsychologische Testung, cMRT (cCT), Laboraausschlussdiagnostik (ggf. Liquoruntersuchung auf TauProtein und Beta-Amyloid 1-42, PET)
Diagnostik
Prävention durch strenge Kontrolle vaskulärer Risikofaktoren anzunehmen; Acetylcholinesterasehemmer, evtl. Memantin („Off“-label)
Acetylcholinesterasehemmer (Donepezil, Galantamin, Rivastigmin) a; Memantin; zahlreiche in Entwicklung befindliche Therapieverfahren (z. B. Sekretasehemmer, Amyloid-Immunisierung). Gingko biloba, HMGCoA-ReduktaseHemmer, nichsteroidale Antiphlogistika und Vitamin E von fraglichem bzw. noch zu ermittelndem Nutzen für Therapie oder Prävention; Östrogene wirkungslos
Therapie
z
Erkrankung
Tabelle 10.1. Übersicht zu häufigen Demenzformen
136 10 Demenzen
Gangstörung (obligat), Demenz (Aufmerksamkeitsstörung, psychomotorische Verlangsamung) und Blasenstörungen (sog. Hakim-Trias, mindestens 2 von 3 Symptomen für Diagnosestellung)
z Normaldruckhydrozephalus
Neuropsychologische Testung; cMRT Bei erfolgreichem Liquorablassversuch (cCT): deutliche Aufweitung aller Anlage eines ventrikuloperitonealen Ventrikel bei fehlender Atrophie Shunts; Demenz selten rückläufig kortikal; Lumbalpunktion mit Ablassen von 30–50 ml Liquor: Verbesserung v. a. der Gangstörung
Positiver kognitiver Effekt belegt. Klinische Relevanz und Kosten-Nutzen-Relation umstritten [5] cCT kraniale Computertomographie, cMRT kraniale Magnetresonanztomographie, PET Positronenemissionstomographie
a
Symmetrisches akinetisch-rigides Parkinson-Syndrom, langsam progrediente Demenz mit psychomotorischer Verlangsamung, Konzentrationsstörungen, Minderung der Abstraktionsfähigkeit; vertikale Blickparese, gehäuft Stürze
z Progressive supranukleäre Blickparese
Ggf. Versuch symptomatischer Behandlung der Verhaltensauffälligkeiten mit z. B. Dopaminagonisten bei Apathie, Carbamazepin bei Aggressivität
Acetylcholinesterasehemmer mit gutem Effekt; Versuch mit L-Dopa; bei schweren Halluzinationen evtl. Clozapin oder Quetiapin, Vermeidung anderer Neuroleptika (Überempfindlichkeit)
Neuropsychologische Testung; bei cMRT Behandlungsversuche mit L-Dopa, Mittelhirnatrophie mit anterior-posterio- Amitryptilin, Amantadin rem Durchmesser von < 24 mm
Unterformen: Neuropsychologische Testung, cMRT – frontale Demenz mit Persönlichkeits- (cCT), evtl. PET zur Darstellung eines veränderungen und Antriebsstörung, fokal reduzierten Glukosemetabolismus im Verlauf z. T. Enthemmung; dominanter Erbgang in ca. 20–50% der Fälle; – seltener Primär Progressive Aphasie und Semantische Demenz
z Frontotemporale Demenz
Neuropsychologische Testung; klinische Diagnosestellung; Ausschluss anderer Demenzen
Demenzsyndrom mit z. T. deutlichen visuell-räumlichen Einbußen und Aufmerksamkeitsstörungen, Fluktuationen des kognitiven Status, visuelle Halluzinationen, nachfolgend Entwicklung eines akinetisch-rigiden ParkinsonSyndroms
z Demenz mit Lewy-Körperchen
Therapie z
137
138
z
10 Demenzen
Fallbeispiel Die 78-jåhrige verwitwete Hausfrau G.H. wird von ihrer Tochter in die Gedåchtnissprechstunde gebracht. Die Tochter berichtet, dass die in einem Haus auf gleichem Grundstçck allein lebende Mutter bereits vor ca. 2 Jahren vermehrt vergesslich gewesen sei. So habe sie damals zweimal die Schlçssel zu ihrem Haus verlegt und vor einem halben Jahr beinahe einen Kçchenbrand verursacht, indem sie die Kochtæpfe auf dem angeschalteten Herd vergessen hatte. Jetzt war die Tochter von ihrer Mutter beschuldigt worden, ihr Geld entwendet zu haben. Die Familienanamnese war im Hinblick auf Demenzerkrankungen unauffållig. Bei der Untersuchung selbst berichtete die Patientin, ihr Gedåchtnis sei ¹wie das bei anderen Alten auchª. Sie war zeitlich zu Tag und Monat nicht orientiert, ansonsten orientiert, im Kontakt freundlich und kooperativ. Auffållig waren einzelne semantische Paraphasien. Auf die Frage, ob die Tochter ihr Geld entwendet habe, antwortete sie, man kænne nie wissen. Der kærperliche und neurologische Untersuchungsbefund war unauffållig. Hinweise auf eine depressive Stærung fanden sich nicht, ebenfalls kein sicherer Anhalt fçr Wahnvorstellungen oder Halluzinationen. Beim Mini-mental-state-Test ergab sich eine Punktzahl von 22 von 30 mæglichen, beim DEMTECT-Test und bei nachfolgender Durchfçhrung der CERADBatterie (s. o.) fanden sich insbesondere Stærungen des Gedåchtnisses und der konstruktiven Praxis. Eine cMRT zeigte eine beidseits bitemporal betonte Atrophie. Die weiteren Zusatzuntersuchungen waren unauffållig, sodass die Diagnose einer Alzheimer-Erkrankung gestellt wurde. Eine Therapie mit einem Acetylcholinesterasehemmer wurde mit der Zielvorstellung einer Verzægerung der kognitiven Verschlechterung begonnen. Die Tochter bot an, zunåchst zweimal tåglich nach der Mutter zu sehen. Eine Kontrolluntersuchung nach 6 Monaten zeigte einen stabilen Untersuchungsbefund und im Wesentlichen gleichbleibende Test-Scores.
Literatur 1. Bickel H (2005) Epidemiologie und Gesundheitsökonomie. In: Wallesch CW, Förstl H (Hrsg) Demenzen. Thieme, Stuttgart, S 1–15 2. Dubois B, Feldmann HH, Jacova C et al (2007) Research criteria fort he diagnosis of Alzheimer’s disease: revising the NINCDS-ADRDA criteria. Lancet 20:853–855 3. Graff MJ, Vernooij-Dassen MJ, Thijssen M, Dekker J, Hoefnagels WH, Rikkert MG (2006) Community based occupational therapy for patients with dementia and their care givers: randomised controlled trial. BMJ 333:1196 ff 4. Horn JL, Catell RB (1967) Age differences in fluid and crystallized intelligence. Acta Psychol 26:107–129 5. Kaduszkiewicz H, Zimmermann T, Beck-Bornholdt HP, van den Bussche H (2005) Cholinesterase inhibitors for patients with Alzheimer’s disease: systematic review of randomised clinical trials. BMJ 331:321–327 6. Kalbe E, Kessler J, Calabrese P, Smith R, Passmore AP, Brand M, Bullock R (2004) DemTect: a new, sensitive cognitive screening test to support the diagnosis of mild cognitive impairment and early dementia. Int J Geriatr Psychiatry 19:136-143. 7. Knopman D, Ritchie K, Polge C et al (2002) Evidence-based dementia practice. Blackwell Science, Oxford, pp 228–259
Literatur
z
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139
11 Verwirrtheitszustände und Delirien
Begriffsbestimmung Unter Verwirrtheitszuständen und Delirien, die nicht durch Alkohol oder psychotrope Substanzen ausgelöst werden, versteht man in Anlehnung an die ICD-10 F05 ätiologisch unspezifische hirnorganische Syndrome, die durch die folgende, gleichzeitig bestehende Symptomatik gekennzeichnet sind: z Störung der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins, z globales kognitives Defizit, z Störungen der Psychomotorik, dementsprechend sowohl hyperaktive als auch hypoaktive klinische Erscheinungsbilder, z Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, z emotionale (affektive) Störungen. Im deutschen Sprachraum wird der Begriff des Delirs in der Regel vom Verwirrtheitszustand abgegrenzt durch zusätzlich bestehende z produktiv-psychotische Elemente wie Halluzinationen und z vegetative Störungen. Der Begriff Delir wird zumeist auf durch Intoxikationen und Substanzentzug bedingte Störungen angewandt. Die Diagnosestellung eines Verwirrtheitszustandes wird klinisch anhand der obigen Kriterien gestellt. Mehrere Assessmentinstrumente wurden validiert. Im deutschen Sprachraum sind die NEECHAM-Skala zur Erfassung verwirrter Patienten und die CSE (Confusional State Evaluation) übersetzt und verbreitet (Übersicht bei [6]). Die globale Aufmerksamkeitsstörung ist das Kardinalsymptom des Verwirrtheitszustandes [5]. Die anderen kognitiven Defizite gehen wahrscheinlich darauf zurück. Die Entität des Verwirrtheitszustandes im o.g. Sinn subsummiert andere, in der psychiatrischen Literatur gebräuchliche Begriffe, so den „akuten exogenen Reaktionstyp“ (Karl Bonhoeffer), „hirnorganische“ und „psychoorganische“ Syndrome sowie die Psychose bei Infektionskrankheiten. Der Verlauf ist oft fluktuierend, zumeist bestehen Verwirrtheitszustände über Stunden und Tage, aber auch ein deutlich längerer Verlauf ist möglich.
Häufigkeit und praktische Relevanz
z
Häufigkeit und praktische Relevanz Die Inzidenz von Verwirrtheitszuständen und Delirien, die sich bei älteren, hospitalisierten Patienten entwickelt, wird zwischen 10 und 20% angegeben. Die angegebenen Zahlen beziehen sich jedoch auf klinische Studien mit gezielter Untersuchung, wohingegen im Klinikalltag davon ausgegangen wird, dass bis zu 2/3 der Verwirrtheitszustände/Delirien nicht erkannt werden [4]. Bei Verwirrtheitszuständen hospitalisierter Patienten wird in über der Hälfte der Fälle von einer beginnenden oder zugrundeliegenden Demenz ausgegangen. Das Risiko, bei einer vorliegenden Demenzerkrankung einen Verwirrtheitszustand zu entwickeln, ist um das 2- bis 5fache erhöht. Zahlreiche Faktoren prädisponieren zur Entwicklung eines Verwirrtheitszustandes, Alter ist einer der wichtigsten. Eine Übersicht gibt Tabelle 11.1. Verwirrtheitszustände im Krankenhaus ziehen im Durchschnitt einen längeren Krankenhausaufenthalt, eine höhere Mortalität und eine erhöhte Rate an Wiederaufnahmen ins Krankenhaus nach sich [7].
Tabelle 11.1. Die 10 wichtigsten prädisponierenden Faktoren für Verwirrtheitszustände (Intoxikationen und Alkoholentzug ausgenommen) z z z z z z
z z z z
Alter Demenz Komorbidität Operation (peri- oder postoperativ), besonders Notfalloperationen und Operationen mit nachfolgender längerer Immobilisation Depression Medikamente [2], insbesondere: – Kombination mehrerer Medikamente – Antidepressiva (v. a. trizyklische Antidepressiva) – Neuroleptika (anticholinerg, a-Blockade mit Blutdruckabsenkung) – Lithium – Benzodiazepine – Dopaminagonisten – H2-Blocker (z. B. Cimetidin und Ranitidin) – Antiepileptika (alle) Infekt Störungen im Elektrolyt- und Wasserhaushalt Hör-/Sehstörungen Umgebungsfaktoren: Isolation, Umgebungswechsel
141
142
z
11 Verwirrtheitszustände und Delirien
Diagnostische Hinweise und Differentialdiagnostik Eine große Anzahl verschiedener Grunderkrankungen können zu einer klinisch ähnlichen symptomatischen Endstrecke führen. Nach Lipowski [3] kann man zerebrale, extrazerebrale, exogen-toxische und entzugsbedingte Ursachen unterscheiden. Zahlreiche zerebrale Ursachen wie Hirninfarkte, subdurale Hämatome, Schädel-Hirn-Traumata und raumfordernde Läsionen zeigen i. d. R. fokalneurologische Ausfälle, und die kognitive Störung ist spezifischer. So können z. B. transkortikal-sensorische oder Wernicke-Aphasien als Verwirrtheitszustand missgedeutet werden. Bei zerebralen Läsionen ohne fokal-neurologische Zeichen, wie z. B. Enzephalitiden, ist die klinische Diagnose schwieriger. Eine CMRT- oder CCT-Untersuchung des Gehirns und eine Liquorpunktion sind bei Verdacht nötig. Extrazerebrale Ursachen umfassen vor allem internistische Erkrankungen wie hypertensive Enzephalopathie, metabolische Störungen, Nieren-/Leberinsuffizienz oder Elektrolytentgleisungen. Auf Intoxikationen wird aus Platzgründen nicht eingegangen, die Symptomatik, Diagnostik und die Therapie des Alkoholentzugsdelirs zeigt Tabelle 11.2.
Praktisches Vorgehen z Anamnese/Fremdanamnese. z Klinisches Bild (s. o.) mit subakutem (Stunden bis Tage) Beginn und oft fluktuierendem Verlauf, Aufmerksamkeitsstörungen mit Desorientiertheit und Ablenkbarkeit, gestörtem formalen Denkablauf, wechselnder Bewusstseinslage, Antriebssteigerung mit Nesteln und Unruhe, aber auch hypoaktive Bilder mit Rückzug, Apathie und Ängstlichkeit möglich. Halluzinationen möglich. z Ausschluss neurologischer Herdsymptomatik, z Bed-side Tests: – Orientierung zu Zeit (ein Tag Abweichung normal), Ort, Situation und Person. – Aufmerksamkeit: Monate vorwärts schnellstmöglich: höchstens 8 s, Monate rückwärts (Arbeitsgedächtnis) höchstens 16 s, Aufmerksamkeitsspanne rückwärts (Zahlenfolge vorsagen, Patient soll Zahlenfolge rückwärts wiedergeben): auch im Alter noch 4 Zahlen möglich. Patienten mit Verwirrtheitszustand schneiden schlechter ab, sind ablenkbar und perseverieren.
Antriebssteigerung, keine Bewusstseins- Psychopathologisches Bild, keine schwer störung, affektive Enthemmung, Konwiegende Aufmerksamkeitsstörung; trollverlust, zum Teil Gewaltanwendung kommt bei unterschiedlichen Grunderkrankungen vor, z. B. akuter Belastungsreaktion, Persönlichkeitsstörung, schizophrener Psychose, Manie, agitierter Depression
z Psychogener Erregungszustand
Anamnese (Alkohol, Verkehrsdelikte, Arbeitslosigkeit), Lebervergrößerung, Ikterus, Muskelatrophie, Teleangiektasien, Stammfettsucht; Labor (hyperchrome Anämie, Leberwerte, Gerinnungsstörungen)
Desorientiertheit, Übererregbarkeit, epileptische Anfälle v. a. im beginnenden Delir, illusionäre Verkennungen oder optische (v. a. Tiere), seltener taktile Halluzinationen, Suggestibilität; Fieber, Hyperhidrosis, Tachykardie, Tremor
z Alkoholentzugsdelir
Therapie
„Talking down“; nach Grunderkrankung mit Haloperidol 2–5 mg oral, i.v. oder i.m.; ggf. Wiederholung oder Lorazepam 1–5 mg oral oder i.v. Cave: bei Intoxikationen keine Sedativa!
Vitalfunktionen sichern (Letalität unbehandelt 15%), Flüssigkeitsgabe, VitaminB1-Gabe, Sedierung mit Clomethiazol (max. 2 Kps/2 h) oder Benzodiazepinen, Clonidin oder Carbamazepin
Anamnese, kognitive Testung, LaborBehandlung der Ursache, Modifizierung untersuchungen, Liquorpunktion bei von Umgebungsfaktoren, niederpotente Entzündungszeichen (Fieber, NackenNeuroleptika, z. B. Melperon 3 ´ 25 mg steifigkeit); ggf. CCT, v. a. bei neurologischen Ausfällen; EEG bei ca. 80% verlangsamt
Aufmerksamkeitsstörung, globales kognitives Defizit, hyperaktive und hypoaktive Bilder, Störung des SchlafWach-Rhythmus, affektive Störungen
Diagnostik/Differentialdiagnose
z Verwirrtheitszustand
Symptome
Tabelle 11.2. Wichtige Differentialdiagnosen des Verwirrtheitszustands
Praktisches Vorgehen z
143
Angstsymptomatik mit vegetativen Zeichen, Gefühl des Kontrollverlusts
Starke Einschränkung des Antriebs und der Kommunikation; zusätzlich evtl. Manirismen, Stereotypien, Flexibilitas cerea, Ambitendenz
Zumeist komplex-partieller Status z. T. mit bizarrem Verhalten, „zombie-like activity“, Bewusstseinseinengung, Nesteln, Automatismen, gelegentlich einzelne Myoklonien
z Stupor/Katatonie
z Nonkonvulsiver Status epilepticus
Symptome
Therapie
Beobachtung einzelner Myoklonien, plötzlicher Beginn; EEG
Fremdanamnese; Ausschluss organischer Erkrankungen durch Labor, zerebrale Bildgebung und EEG bei Erstdiagnose notwendig; verschiedene zugrundeliegende Erkrankungen, meist katatone Schizophrenie oder depressiver Stupor. Differentialdiagnose: Locked-in-Syndrom, frontale Hirntumoren, Morbus Addison, malignes Neuroleptikasyndrom (Fieber)
Lorazepam 2–5 mg i.v., ggf. Phenytoin oder Valproat i.v.
z. B. Lorazepam 2–5 mg oral, bei Schizophrenie z. B. Haloperidol 5–10 mg i.v. oder i.m., bei depressivem Stupor auch Antidepressiva i.v., z. B. Clomipramin (Cipramil®) initial 20, dann 40 mg/Tag
Typische Symptomatik, keine Bewusst- Reizabschirmung, z. B. Lorazepam seinsstörung 1–2 mg oral, längerfristig SSRI Cave: gelegentlich zugrundeliegende internistische Erkrankung (z. B. Herzrhythmusstörungen, Hypoglykämie etc.)
Diagnostik/Differentialdiagnose
z
z Angst-/Panikstörung
Tabelle 11.2 (Fortsetzung)
144 11 Verwirrtheitszustände und Delirien
Verwirrtheit, Amnesie, Bewusstseinstrübung, Okulomotorikstörungen mit Nystagmus und Augenmuskelparesen, (v. a. M. rectus lateralis); Rumpfataxie, evtl. begleitend Polyneuropathie
Langsame Entwicklung, Progredienz, einzelne kognitive Defizite, geringeres globales Aufmerksamkeitsdefizit
z Wernicke-KorsakowSyndrom
z Demenz
Neuropsychologische Testung; Vit. B12, TSH, TPHA; zerebrale Bildgebung
Oft bei Alkoholikern oder Mangelernährten; meist plötzlicher Beginn; CMRT: in ca. 60% in T2 hyperintense, Kontrasmittel-aufnehmende Läsionen periventrikulär III/IV. Ventrikel, Thalamus, Corp. mamillaria
Je nach Ätiologie, keine Notfallmedikation, häufig zusätzliche Verwirrtheitszustände
Bei jedem Verdacht: 50 mg i.v. und 50 mg i.m. Thiamin, dann bis Besserung 50 mg i.m./Tag Cave: allergische Reaktionen!
Klinisch typisches Bild; meist 50–70Keine spezifische Therapie, spontane Jährige; zwischen 20 und 80% voranRückbildung, meist 6–8 h, maximal 24 h gehende starke emotionale oder vege- Dauer; Rezidive selten (ca. 10%) tative Reize; CMRT: Signalveränderungen im linken medialen Temporallappen beschrieben; EEG zur Abgrenzung von Temporallappenepilepsie
CCT kraniale Computertomographie; EEG Elektroenzephalographie; SSRI „selective serotonine reuptake inhibitors“ (selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer); TPHA Treponema-pallidum-Hämagglutination; TSH Thyreoidea-stimulierendes Hormon
Plötzlicher Beginn eines isolierten amnestischen Syndroms; meist repetitive Fragen, z. T. ängstliche Tönung
z Transitorische globale Amnesie
Praktisches Vorgehen z
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z
11 Verwirrtheitszustände und Delirien
z Labordiagnostik: Glukose, Blutbild, Elektrolyte, Nieren- und Leberwerte, CRP, ggf. toxikologische Untersuchungen, Ammoniak. z Bei jeglichem Zweifel an der Diagnose (keine ausreichende Erklärung, anamnestische Lücken, neurologische Herdsymptomatik): – CCT – EEG – Liquorpunktion z Jeder Verwirrtheitszustand ist eine Indikation zur stationären Aufnahme!
Therapie (siehe auch Tabelle 11.2) z Behandlung zugrunde liegender Ursachen (Dehydratation, Infekt); oft multifaktoriell. z Neuroleptika, z. B. 10–50 mg Melperon, (Cave: Hypotonie!) Bei starker psychotisch-halluzinatorischer Symptomatik Haloperidol 0,5–1 mg i.v., ggf. auch i.m. oder oral (i.v. seltener extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen), alternativ Risperidon 1–2 mg oral, ggf. wiederholen. z Insbesondere bei Entzugsdelirien und stark ängstlich getönter Symptomatik: Benzodiazepine, z. B. Lorazepam 1–2 mg i.v. oder als Expedit-Tablette (Cave: Atemdepression!). Mit Flumazenil antagonisierbar. Eine Übersicht über den Umgang mit verwirrten Patienten gibt Tabelle 11.3. Tabelle 11.3. Umgang mit verwirrten Patienten. (Nach [8]) Sicherstellen z Orientierungshilfen (Begrüßung mit Namen, Kontinuität der Bezugspersonen, Seh- und Hörhilfen) z Mobilisieren z Regelmäßiger Stuhlgang z Flüssigkeitsbilanz z Vermeidung von Komplikationen (Stürze, Immobilität, Übersedierung, Decubiti) z Einbindung von Angehörigen
Vermeiden z Konfrontation/Streit mit Patient z Harnblasenkatheter z Fixierung z Routinesedierung
Prävention
z
Prävention Die Prävention ist erwiesenermaßen effektiv bei älteren, hospitalisierten Patienten mittels nichtpharmokogener Kontrolle folgender Faktoren [1]: 1. Orientierungshilfen und kognitive Stimulation bei kognitiver Beeinträchtigung, 2. Umgebungsruhe u. a.m. bei Schlafstörungen, 3. frühe Mobilisation, 4. ausreichende Hydratation, 5. Hör- und Sehhilfen.
Fallbeispiel Der 76-jåhrige ehemalige Sachbearbeiter K.H. unterzieht sich einer transurethralen Prostataresektion wegen einer Prostatahyperplasie. Vorbekannt ist ein seit 5 Jahren bekannter Morbus Parkinson, der mit L-Dopa und Pramipexol befriedigend eingestellt ist. Der Eingriff dauert mit 100 min långer als geplant. Zwei Stunden nach der Operation erscheint Herr H. unruhig. Er versucht aus dem Bett zu steigen, nestelt an der Bettdecke und spricht unzusammenhångende Såtze. Bei der Untersuchung ist er somnolent, dann wieder wach und unruhig, zu Zeit, Ort und Situation desorientiert. Er wirkt leicht ablenkbar, antwortet zum Teil direkt, dann schaut er nach einer Frage beispielsweise zwischen Tçr und Fenster hin und her, ohne den Untersucher zu beachten. Die Aufmerksamkeitsspanne rçckwårts liegt bei 3, bei der Aufforderung, die Monate rçckwårts aufzuzåhlen, wiederholt er dreimalig ¹Dezemberª, sagt dann ¹Silberª und schweigt anschlieûend. Der Blutdruck liegt bei 70/45 mmHg, die Herzfrequenz bei 55/min ohne weitere elektrokardiographische Auffålligkeiten. Eine Notfalllaboruntersuchung zeigt einen Natriumwert von 113 mmol/l. Es wird die Diagnose eines Verwirrtheitszustandes bei einem ¹TURP-Syndromª (Transurethrale Resektion der Prostata) gestellt. Der Natriumwert soll langsam normalisiert werden, um die Komplikation einer Zentralen Pontinen Myelinolyse zu verringern (siehe Kap. 14). Der Patient verbleibt auf der Ûberwachungsstation, seine regulåre Parkinsonmedikation wird fortgefçhrt. Der Natriumwert normalisiert sich langsam bis zum nåchsten Morgen, so dass auf eine Gabe hypernatriåmer Læsung verzichtet werden kann. Im Laufe des nåchsten Tages hat sich auch der kognitive Befund des Patienten normalisiert, Herr H. kann auf die Normalstation verlegt werden.
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z
11 Verwirrtheitszustände und Delirien
Literatur 1. Inouye SK, Bogardus ST, Charpentier PA, Leo-Sumers L, et al (1999) A multicomponent intervention to prevent delirium in hospitalized older patients. N Engl J Med 340:669–676 2. Karlsson I (1999) Drugs that induce delirium. Dementia and Ger Cogn Dis 10: 412–415 3. Lipowski ZJ (1990) Delirium: acute confusional states. Oxford University Press, New York 4. Meagher DJ (2001) Delirium: optimising management. Br Med J 322:144–149 5. Mesulam MM (2000) Attentional Networks, Confusional States and Neglect Syndromes. In: Mesulam MM (ed) Principles of Behavioral and Cognitive Neurology. 2nd ed. Oxford University Press, New York, pp 175–256 6. Robertsson B (2002) The instrumentation of delirium. In: Lindsay J, Rockwood K, Macdonald A (eds.) Delirium in old age. Oxford University Press, New York, pp 9–26 7. de Rooij SE, Schuurmans MJ, van der Mast, Levi M (2005) Clinical subtypes of delirium and their relevance for daily clinical practice: a systematic review. Int J Geriatr Psychiatr 20:609–615 8. Royal College of Physicians und British Geriatric Society (2006) Concise Guidance to Good Practice, No 6. The prevention, diagnosis and management of delirium in older people
12 Depression und Suizidalität im Alter
Begriffsbestimmung Als Hauptsymptome einer Depression gelten nach ICD-10 beim älteren Patienten wie beim jüngeren: z eine depressive Verstimmung für die meiste Zeit des Tages, z deutlicher Verlust von Freude und Interesse, sowie z ein Gefühl des Energieverlusts und vermehrter Müdigkeit. Häufige andere Symptome sind z Gefühle der Wertlosigkeit, z übermäßige Schuldgefühle, z reduzierter Appetit mit Gewichtsverlust, z verringerte Konzentrations- und Entscheidungsfähigkeit, z Schlafstörungen, z psychomotorische Verlangsamung, aber auch psychomotorische Unruhe sowie z vermehrte Gedanken an den Tod bis hin zu konkreten Suizidplanungen. Die Einteilung depressiver Störungen wird unterschiedlich nach Symptomen, Schweregrad, Auslösern und Verlauf gehandhabt. Nach ICD-10 werden in erster Linie depressive Episoden mit unterschiedlichen Schweregraden und Zusatzsymptomen, organisch-affektive Störungen, Dysthymien (chronifizierte, mildere Form) und Anpassungsstörungen mit depressiver Reaktion unterschieden.
Häufigkeit und praktische Relevanz Frauen sind auch in höherem Lebensalter häufiger von Depressionen betroffen als Männer (Verhältnis ca. 2:1). Insgesamt sind depressive Episoden im höheren Lebensalter nicht häufiger als in anderen Altersgruppen. Nur ca. 10% der Erstmanifestationen depressiver Episoden erfolgt nach dem 60.
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12 Depression und Suizidalität im Alter
Lebensjahr. Bei Älteren, die nicht in Alten- und Pflegeheimen leben oder hospitalisiert sind, liegt die Prävalenz schwerer Depressionen bei ca. 4% und damit nicht höher als bei jüngeren Menschen. Die Prävalenz leichterer Formen der Depression beträgt bei Älteren jedoch etwa 15%. Noch höher wird der Prozentsatz depressiver Symptome bei Komorbidität mit häufigen Erkrankungen wie Demenz, Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz oder Morbus Parkinson, Anämie bei Vitamin B12-, Eisen- oder Folsäuremangelzuständen, Hypothyreose, Addison-Syndrom, Leber-, Nierenund Herzkreislauferkrankungen sowie bei Alkoholismus mit bis zu 50% angegeben. Umgekehrt scheinen depressive Symptome ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen zu sein und die Morbidität und Mortalität bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung zu erhöhen. Gerade aufgrund dieser bisher nicht geklärten komplexen Wechselwirkungen erfordert die Diagnostik und Therapie von Depressionen im Alter eine besonders differenzierte Vorgehensweise. Zwei wesentliche Aspekte sind bei der Beurteilung depressiver Symptome älterer Menschen zu beachten. Depressionen älterer Menschen haben häufig altersspezifische Auslöser. Hierzu zählen die Umstellung des sozialen Umfeldes mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses, ein vermehrter Verlust von körperlicher und sozialer Selbstständigkeit und gehäufte Verluste von Partnern, gleichaltrigen Freunden und Bekannten, die zu vermehrter seelischer Belastung führen können. Die körperlichen Veränderungen im Alter beeinflussen die psychischen Veränderungen stärker als in den mittleren Lebensjahren [14]. Des weiteren führen intrazerebrale Veränderungen, z.B der cholinergen und monaminergen Neurotransmission („Monoaminmangel-Hypothese“ und „Imbalance-Hypothese“), zu einem erhöhten Risiko negativer Selbstwahrnehmung und vermehrter Anfälligkeit für kognitive und affektive Dysfunktion. Dennoch kann das Vorurteil des „lebensmüden alten Menschen“ zum Beispiel nach den Ergebnissen der repräsentativen Berliner Altersstudie nicht bestätigt werden. 70% der Teilnehmer an dieser Studie gaben an, das Gefühl zu haben ihr Leben selbst bestimmen zu können, und 94% der Befragten machten Pläne für die Zukunft. Das Thema Tod und Sterben hatte niedrige Priorität [16]. Während 23% der über 70-Jährigen eindeutig als psychisch krank eingestuft wurden, haben weitere 16% psychopathologische Symptome ohne und 17% solche mit Krankheitswert, dabei meist affektive Störungen [12].
Diagnostische Hinweise und Differentialdiagnose Bei älteren ist die Phänomenologie der Depressionen heterogener als bei jüngeren Menschen. Neben der Tatsache, dass häufig nicht das vollständige psychopathologische Bild einer Depression vorliegt, ist die depressive He-
Diagnostische Hinweise und Differentialdiagnose
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rabgestimmtheit bei Älteren oft im Hintergrund; Gefühle der Gefühllosigkeit, Freudlosigkeit und ein defizitäres inneres Erleben sind hingegen vorherrschend. Häufiger ist auch die Neigung zu Klagsamkeit, aber auch zu apathischem Rückzug. Depressive Episoden können nicht mehr so klar von Phasen der Symptomfreiheit abgegrenzt werden, häufig sind auch depressiver Wahn und ein direkt oder indirekt selbstdestruktives Verhalten. Dem Hausarzt werden oftmals diffuse körperliche Beschwerden geschildert. Bei bestehenden körperlichen Erkrankungen führt dies zu besonderen diagnostischen Problemen [29]. Häufig bestehen somatische Beschwerden wie Obstipation, Kopfschmerzen, Ohrgeräusche, Übelkeit oder Herzbeschwerden, die eine Zusatzdiagnostik zum Ausschluss einer anderen Ursache erfordern. Trotz etwas erschwerter Anwendbarkeit im Alter werden Depressionen anhand internationaler Klassifikationssyteme diagnostiziert (ICD-10; DSMIV). Zum Screening und für wissenschaftliche Fragestellungen werden psychometrische Verfahren wie die Geriatrische Depressionsskala (vgl. Anhang) und die Hamilton-Depressionsskala eingesetzt. Bei fehlenden kognitiven Einschränkungen kommen auch Selbstevaluationsverfahren wie das BeckDepressionsinventar in Frage. Bei geringem Zeitaufwand können geeignete Screeningfragen („Waren Sie in den letzten Monaten oft niedergeschlagen, depressiv oder hoffnungslos?“ oder „Hatten Sie in den letzten Monaten oft wenig Interesse und Vergnügen, etwas anzugehen oder zu unternehmen?“) mit einer Sensitivität von 97% und einer Spezifität von 67% für eine depressive Störung gestellt werden [1]. Sie ersetzen jedoch nicht die ausführliche Eigen- und Fremdanamnese. Differentialdiagnostisch sollte eine Depression von der Trauer um den Verlust eines nahen Menschen, aber auch eigener Fähigkeiten, Funktionen und Möglichkeiten abgegrenzt werden. Immer noch gilt die Feststellung von Freud: „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst“ [9]. Gemeinsam sind Trauer und Depression Gefühle der Niedergeschlagenheit und Interesselosigkeit sowie Schlafstörungen. Bei der Depression kommen jedoch selbstbezogene Symptome hinzu, wie Gefühle der Wert- und Hoffnungslosigkeit und eine starke psychomotorische Hemmung [14]. Andauernde Suizidgedanken mit Handlungsdruck sind auch nicht mit einer Trauerreaktion allein zu erklären. Eine weitere, oftmals schwer zu treffende differentialdiagnostische Unterscheidung ist die zwischen Depression und Demenz, denn leicht demente Patienten leiden oftmals unter depressivem Erleben ihrer Einschränkungen und Unzulänglichkeiten. Aus klinischer Perspektive gelten als Anhaltspunkte für eine Depression ein eher rascher Beginn, anamnestisch erfragbare auslösende Belastungsfaktoren oder Lebensereignisse und eine interaktionell erhebbare Psychodynamik [29].
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Praktisches Vorgehen und Therapie z Grundsätzliche Überlegungen Die meisten depressiven älteren Patienten werden in der allgemeinärztlichen Praxis behandelt. Dabei werden Depressionen bei Älteren zu selten diagnostiziert und häufig zu kurz und zu niedrig dosiert behandelt. Einige grundsätzliche Regeln sind beachtenswert: z Besonders in der Hausarztpraxis ist es wichtig, an die Möglichkeit einer Depression im Alter überhaupt zu denken. Die „diagnostische Leerstelle“ bezeichnet ein Phänomen, bei dem der Arzt die geschilderten Beschwerden nicht somatisch einzuordnen vermag, zu Verlegenheitsdiagnosen wie „vegetative Dystonie“ greifen möchte, sich aber nicht „traut“, an das Vorliegen einer Depression zu denken [17]. z Besondere Aufmerksamkeit sollten auch solche Patienten erhalten, die sich im Alter zunehmend sozial und psychisch zurückziehen, seltener zum Arzt kommen, sich weniger über ihre Befindlichkeiten äußern, ohne explizit über depressive Symptome zu klagen [18]. z Der Patient sollte in diagnostische und therapeutische Entscheidungen mit einbezogen werden, da dies die Compliance und die therapeutischen Erfolgsaussichten verbessert. Aufforderungen, „sich zusammen zu reißen“, sind kontraproduktiv. Kleine therapeutische Fortschritte sollten auch benannt werden. z Die Behandlung sollte besonders bei alten Menschen unter Berücksichtigung anderer Erkrankungen bzw. Behinderungen und des sozialen Umfeldes erfolgen. z Das Behandlungsziel ist die komplette Remission, da residuelle depressive Symptome wiederum ein Risikofaktor für erneute depressive Episoden sind. z Wichtig ist auch, im Kontakt mit älteren, depressiven Patienten ein besonderes Gespür für ihre erhöhte Kränkbarkeit zu entwickeln und dies, wenn nötig, auch direkt anzusprechen. Eine Klärung von Kränkungsund Zurückweisungserlebnissen belebt die Patient-Arzt-Beziehung eher, als dass sie sie bedroht. z Die Überweisung zum Psychiater oder die Einweisung in eine psychiatrische Klinik sollten erfolgen, wenn Zweifel an der Diagnose bestehen (zum Beispiel bei Überlappung mit demenziellen Symptomen), bei psychotischer Symptomatik, bei schwerer Ausprägung oder Anzeichen einer Suizidgefahr sowie bei Ausbleiben des Behandlungserfolges. z Betablocker, Prazosin, Clonidin, Kortikosteroide, Cimetidin, manche Antibiotika wie z. B. Gyrasehemmer und Digitalisglykoside sowie einzelne andere, seltener eingesetzte Medikamente können depressive Symptome auslösen bzw. verstärken. Ein Ersatz sollte im Zweifelsfall erwogen werden.
Praktisches Vorgehen und Therapie
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z Medikamentöse Therapie (Tabelle 12.1) Die Wirksamkeit von Antidepressiva ist evidenzbasiert. Wesentliche Unterschiede in der antidepressiven Wirksamkeit zwischen den trizyklischen Antidepressiva und den Serotoninwiederaufnahme-Hemmern („selective serotonin reuptake inhibitors“, SSRI) als Hauptgruppen bestehen nicht [2]. Allerdings erscheint gerade bei multimorbiden oder komedizierten älteren Patienten die Medikation mit SSRI vorteilhaft (weniger kardiale Nebenwirkungen von SSRI gegenüber trizyklischen Antidepressiva, weniger anticholinerge Nebenwirkungen). Ungeeignet sind Antidepressiva, die CytochromP-450-Isoenzyme stark inhibieren, wie z. B. Fluoxetin oder Fluvoxamin. Die Auswahl eines Antidepressivums richtet sich zudem nach eher antriebssteigernden oder sedierenden Effekten der Einzelsubstanzen. Mirtazapin weist zum einen wenige Nebenwirkungen auf und bietet zum anderen eine sedierende Komponente, die bei Schlafstörungen, Agitiertheit und innerer Unruhe oftmals angenehm empfunden wird. Als Faustregel zur Therapie mit Antidepressiva im Alter gilt „start low, go slow“ [15]. Die Dauer der antidepressiven Therapie sollte mindestens sechs Wochen betragen, um einen Effekt abschätzen zu können. Bei effektiver Therapie sollte diese bei einer ersten depressiven Episode 12 Monate, bei einem Rezidiv bis zu drei Jahre, bei Hochrisikopatienten auch länger beibehalten werden. Bei rund 75% der Patienten mit einer schweren depressiven Episode kann eine Remission erreicht werden. Je nach Präparat kann es zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen wie Unruhe, Agitiertheit, Schlafstörungen, orthostatischer Hypotonie, Übelkeit, Gewichtszunahme und EKG-Veränderungen kommen. Bei Älteren ist zudem die Möglichkeit der Auslösung eines Syndroms der inadäquaten ADHSekretion (SIADH) zu beachten. Eine Augmentationstherapie mit Lithium, Lichttherapie bei saisonalen Depressionen, Schlafentzugstherapie oder Elektrokonvulsionstherapie bei psychotischen und therapieresistenten Depressionen sind Indikationen, die der fachärztlichen psychiatrischen Entscheidung vorbehalten bleiben.
z Psychotherapie Es gibt inzwischen eine breite Basis an Forschungsergebnissen, die die Effektivität der Psychotherapie mit älteren Menschen belegt. In den letzten Jahren ist besonders durch die Arbeiten von Radebold [z. B. 24, 25] in der Fachöffentlichkeit das Bewusstsein gewachsen, dass Ältere bei Anpassungsstörungen im Alterungsprozess von Psychotherapie und psychosomatischen Behandlungen profitieren können, um damit länger autonom und ausreichend kompetent leben zu können. Unter einer Anpassungsstörung (ICD 10: F43) versteht man eine Reaktion auf einmalige oder fortbestehende belastende Ereignisse, z. B. eine Trau-
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reversible Hemmung der Monoaminoxidase A
dual auf noradrenerges und serotonerges System
z MAO-Hemmer
z Atypika
SSRI Serotoninwiederaufnahmehemmer
Serotoninwiederaufnahme- geringere Toxizität, hemmung weitgehend fehlende kardiale, orthostatische und anticholinerge Wirkung
z SSRI
günstiges Nebenwirkungsprofil
evtl. besonders bei atypischen Depressionen mit Angstsymptomatik, Schlafneigung und Gewichtszunahme geeignet
multiple Wirkmechanismen lang bewährt, gut wirksam, („dirty drug“), v. a. kompreiswert binierte Noradrenalin/ Serotoninwiederaufnahmehemmung
z Trizyklische Antidepressiva
Vorteile
Wirkmechanismus
je nach unterschiedlicher Einzelsubstanz, z. B. Sedierung, Gewichtszunahme; teurer als Trizyklika
i. d. R. keine Kombinationstherapie mit anderen Antidepressiva; bei Umsetzen 1 Woche Wash-outPhase; Unruhe, Schlafstörungen; reife Käse meiden
innere Unruhe, Sexualfunktionsstörungen, Diarrhoe; teurer als Trizyklika
anticholinerge Wirkung, kardiale Überleitungsstörungen, selten Herzrhythmusstörungen, orthostatische Hypotonie
Nachteile
Mirtazapin, Venlafaxin, Duloxetin, Sertralin, Paroxetin
Moclobemid
Citalopram, Fluoxetin, Sertralin
Amitryptilin, Doxepin (sedierend), Desipramin (eher antriebssteigernd, rel. geringe anticholinerge Wirkung)
Beispielsubstanz
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Substanzklasse
Tabelle 12.1. Übersicht über Antidepressiva
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Praktisches Vorgehen und Therapie
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erreaktion, aber auch eine neurotische oder eine reaktive Depression. Auch im deutschsprachigen Raum konnte nachgewiesen werden, dass Psychotherapie bei Älteren durchführbar, sinnvoll, erforderlich und langfristig erfolgreich ist. Outcome-Studien im ambulanten und stationären Bereich konnten die Wirksamkeit belegen (Übersicht bei [25]). Damit ist das alte Diktum von Freud [8, 10] entkräftet worden, dass Personen über 50 Jahre einer psychotherapeutischen Behandlung nicht zugeführt werden sollten, weil sie sich nicht mehr in ihrer psychischen Verfasstheit ändern könnten und die Behandlungen zu lange dauerten. Empirische Studien zur Effektivität psychotherapeutischer Behandlungen im Alter sind selten. Daten von Fallstudien zeigen, dass Methoden in der Behandlung jüngerer auch bei älteren Personen anwendbar sind, obwohl die Behandlung in einer langsameren Geschwindigkeit voranzukommen scheint. Die Ergebnisse kontrollierter Studien weisen darauf hin, dass kognitive Therapie, Verhaltenstherapie und kurzzeit-psychodynamische Psychotherapie gleich effektiv in der Behandlung der Depression Älterer sind. Es ist allerdings zu beachten, dass, wie bei den Jüngeren auch, 30% der Patienten mit Depression im Alter durch keine Behandlung eine Besserung erleben, auch nicht durch eine psychopharmakologische Behandlung [30]. Vor dem Hintergrund der eingeschränkten Wirksamkeit von Antidepressiva, besonders bei Hochaltrigen, gibt es empirische Hinweise darauf, dass eine kombinierte Behandlung der Depression im Alter mit Psychotherapie und Antidepressiva effektiv ist. Die klinischen und empirischen Erkenntnisse haben sowohl bei den psychoanalytisch orientierten als auch bei den verhaltenstherapeutischen Psychotherapien zu spezifischen Konzepten in der Behandlung Älterer geführt [14, 19]. Auch andere Formen der psychosozialen Betreuung sind wirksam, wie ein in den USA praktiziertes „Care management“ oder ein „Treatment initiation program“, eine persönliche Betreuung der pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlung mit dem Ziel, effektiv depressive Symptome und Suizidalität zu reduzieren [27].
z Suizidalität im Alter In Deutschland steigen wie in den meisten westlichen Ländern die Suizidziffern mit dem Lebensalter an (zuerst beschrieben in Ungarn, daher sog. „ungarisches Muster“). Die Suizidziffern der über 60-jährigen Männer liegen um das 1,7fache, die der über 60-jährigen Frauen um das 2fache höher als die Gesamtsuizidziffern der jeweiligen Geschlechtsgruppe. Jede zweite Frau, die sich in Deutschland das Leben nimmt, ist über 60 Jahre alt [6]. Seit 1952 nimmt der Anteil an Älteren an der Gesamtheit der Suizide deutlich zu. Unter Berücksichtigung der demographischen Entwicklung in Deutschland (Zunahme des Anteils älterer Menschen in der Gesellschaft) kann für die Zukunft eine weitere Zunahme der absoluten Anzahl von Suiziden älterer Menschen erwartet werden. Ältere Menschen benutzen signifi-
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kant mehr harte Suizidmethoden (wie z. B. Erhängen und Erschießen) als jüngere [22]. Betrachtet man einschneidende Lebensereignisse kurz vor einem Suizid, so finden sich deutlich mehr körperliche Erkrankungen im Vorfeld als bei Jüngeren. Keine Unterschiede in den Altersgruppen finden sich bezüglich des Erlebens von Einsamkeit, des Alleinlebens und dem Fehlen von Freunden oder Vertrauten. Dies gilt besonders für Männer [11]. Bei den Suizidversuchen, über deren Häufigkeit aus Datenschutzgründen keine amtliche Statistik geführt wird, zeigt sich ein gegenläufiges Bild: Über 60-Jährige waren nach der WHO/Euro-Multicenter-Study of Suicidal Behavior nur zu 7% an Suizidversuchen beteiligt; wird also ein älterer Mensch suizidal, dann ist die Wahrscheinlichkeit eines Suizids deutlich höher als in jüngeren Lebensjahren. Allerdings gilt, dass Ältere, die einen Suizidversuch unternommen haben, eine hohe Mortalitätsrate bezüglich Suizid und körperlichen Erkrankungen haben. Einen Suizidversuch im Alter wiederholen 5,4% der Betroffenen pro Jahr, 1,5% sterben pro Jahr durch Suizid [13]. Als Risikofaktoren für Suizid im Alter sind seit längerer Zeit Einsamkeit, somatische Krankheit und finanzielle Probleme bekannt [z. B. 23]. Neuere empirische Arbeiten zu Risikofaktoren weisen insbesondere auf Faktoren der psychischen Verarbeitung und der interpersonellen Konflikte hin. Übergeordnete Risikofaktoren sind weiterhin psychische Erkrankungen, insbesondere Depressionen, und die Zunahme der somatischen Multimorbidität im höheren Lebensalter, insbesondere neurologische Störungen und maligne Erkrankungen [3, 4], verbunden mit funktionellen Störungen/Einbußen wie Schmerzsyndrome, Immobilität und Sehbehinderung. Die häufig unabänderlichen Auswirkungen im Körperselbsterleben führen zu sozialen Defiziten und Abhängigkeiten, vor allem aber zu Veränderungen in der Beziehungsqualität. Unabhängig davon zählen intrafamiliäre Konflikte und Schwierigkeiten in langen Paarbeziehungen zu den Risikofaktoren für Suizidalität bei Älteren [5, 16]. In größeren Studien konnte nachgewiesen werden, dass körperliche Einbußen sich weniger stark auf eine suizidale Entwicklung auswirken als psychische Belastungen [3, 4], soziale Einschränkungen und die Qualität der Bewältigungsstrategien [28]. Ein besonderes Augenmerk sollte auf Beziehungsprobleme gelegt werden, die durch die psychische Erkrankung (z. B. eine Depression oder eine Demenz) eines Lebenspartners ausgelöst werden können [31]. Mittelman et al. [20] beschrieben in einer Follow-up-Studie den positiven Effekt von Beratung auf depressive Symptome bei Lebenspartnern von dementen Personen. Der Effekt blieb bei beiden Geschlechtern auch in der Katamnese nach 3 Jahren und nach Aufnahme des dementen Partners in ein Pflegeheim erhalten. Die Behandlung der Suizidalität erfolgt meist mit einem multimodalen Ansatz. Sie ist differenziert nach Art und Ausprägung der Suizidalität, dem Vorhandensein psychiatrischer Erkrankungen und den real vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten. Psychiatrische Behandlungsmethoden sind demnach
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1. die pharmakologische Behandlung akuter Symptome, die mit der Suizidalität einhergehen (z. B. Erregung, Depressivität, Schlafstörungen oder psychotische Symptome) und 2. die pharmakologische Behandlung einer psychiatrischen Grunderkrankung mit Antidepressiva und/oder Neuroleptika, sowie 3. bei affektiven Störungen die Behandlung mit Stimmungsstabilisierern. Die Krisenintervention findet in psychiatrischen Kliniken sowohl ambulant als auch in Beratungszentren oder durch Laienhilfsdienste statt. Bisher konnte noch kein Nachweis einer dauerhaft wirksamen psychiatrischen Intervention gefunden werden [29]. Unter der Vorstellung, dass derartige Behandlungen ein suizidales Restpotenzial nicht erreichen können und deshalb bei entsprechenden äußeren oder intrapsychischen Auslösern die Suizidalität nach einer zunächst stabilisierenden Behandlung erneut sehr akut werden kann, wurden u. a. Konzepte der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie (notfallinduzierte psychodynamische Psychotherapie) der Suizidalität entwickelt und evaluiert [7].
Fallbeispiel Die 73-jåhrige alleinlebende ehemalige Krankenschwester wird nach einer dreimonatigen stationår-psychiatrischen Behandlung einer schweren depressiven Episode in ambulante, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie vermittelt. Zur Aufnahme in die Klinik fçhrte ein massiver psychosozialer Rçckzug. Die Patientin fand nicht mehr die Entschlusskraft, vor die Haustçr zu gehen, ihr Denken kreiste nur noch um Todeswçnsche und Suizidphantasien. Auch kærperlich ging es ihr schlechter: Eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung bei Nikotinabusus (GOLD III±IV) drohte zu entgleisen. Die Anamnese ergibt mehrere stationåre und ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen in den letzten 30 Jahren, meist mit depressiven Dekompensationen und parasuizidalem Agieren bei Partnerschaftskrisen und Trennungen. Die Beziehungen in der Kindheit waren charakterisiert durch traumatische Verlusterfahrungen (nach Geburt von der Mutter zur Adoption freigegeben, Adoption durch eine wenig Halt bietende Familie, frçhe sexuelle Traumatisierung, dann Stabilisierung durch altruistische Aufopferung im Beruf). Aus ihren Schilderungen geht hervor, dass sie die bisherigen therapeutischen Beziehungen in einem Muster erlebte, die Therapeuten zunåchst zu idealisieren und dann, mit einem Gefçhl des Fallengelassen-Seins, sehr enttåuscht zu werden. Medikamentæs wurde sie durchgehend mit Escitalopram behandelt. Zu Beginn der Psychotherapie ist die Antriebslosigkeit deutlich gebessert; die Patientin nimmt begleitend ambulante Ergotherapie in Anspruch und kommt regelmåûig zu den Sitzungen. Zu ihrer Suizidalitåt sagt sie: ¹Ob ich noch ein Jahr lang lebeª ± so lange war die Psychotherapie abgesprochen ± ¹weiû ich nicht. Vielleicht hilft die Therapie mir ja, ein Jahr durchzuhalten. Wenn sich nichts bessert, werde ich mich vorher umbringen. Ich denke viel darçber nach, wie ich es tun wçrde.ª Die çber ein Jahr laufende Therapie (einmal pro Woche, 50 Min., insgesamt 43 Sitzungen) konzentriert sich auf die innere Leblosigkeit verbunden mit einer Angst, als grauenvoll und gråsslich abgelehnt zu werden. Dabei steht das Erleben in der Therapie im Vordergrund. Erst nachdem sie somatisierend mit einem Subileus (¹Stuhl, monatelang, verfault in meinem Darmª) internistisch behandelt wird, kommt es çber ein Gegen-
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çbertragungserleben, in dem der Therapeut eine Ahnung von ihrer Schænheit und Lebendigkeit als junge Frau bekommt, zur spçrbaren Belebung ihrer Gefçhle und einer Zunahme ihrer sozialen Aktivitåten, die wieder zu positiven Erfahrungen mit anderen Menschen fçhrt. Das Ende der Behandlung ist einerseits von erneuten, allerdings formulierbaren Gefçhlen geprågt, ¹in die Wçste geschickt zu werdenª, andererseits bleibt die Offenheit fçr neue Erfahrungen erhalten.
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13 Ernährung und Mangelernährung im höheren Lebensalter Besonderheiten der Ernährung im höheren Lebensalter Grundsätzlich ist der ältere Mensch auf die gleichen Nährstoffe angewiesen wie ein junger. Allerdings nimmt die Masse der Energie-verbrennenden Muskulatur mit steigendem Alter ab, so dass spätestens ab dem 5. Lebensjahrzehnt der Energiebedarf abnimmt [4, 9, 10]. Ein älterer Mensch sollte daher die Energiezufuhr an seine tatsächlichen Bedürfnisse anpassen, muss aber mindestens genau so viele Nährstoffe zu sich nehmen wie ein junger. Dabei ist zu beachten, dass bei einer durchschnittlichen Zufuhr von weniger als 1500 Kalorien pro Tag eine ausreichende Zufuhr von Nährstoffen nicht mehr gewährleistet ist [11]. Eine Orientierungshilfe für die tägliche Nährstoffzufuhr bieten die Vorgaben der D-A-CH (D-A-CH = D: Gesellschaft in Deutschland [DGE], A: Österreich [ÖGE] und CH: Schweiz [SGE/SVE]). Die Vorgaben der verschiedenen Expertengremien und Gesellschaften für Ernährung variieren zu einzelnen Punkten [4]. Anzuwenden sind daher die seit 2005 angepassten Empfehlungen der Fachgesellschaften für gesunde Erwachsene sowie die Ausführungen zur Kampagne „Fit im Alter – gesund essen, besser leben“, die vom Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 2003 initiiert wurde. Weitere Informationen zu Fragen der gesunden Ernährung für ältere Bürger finden sich über das Forum Prävention der Bundesregierung Deutschlands (http://www.forumpraevention.de) oder in der evidenzbasierten Leitlinie der DGE von 2006: „Fettkonsum und Prävention ausgewählter ernährungsmitbedingter Krankheiten“ (http:// www.dge.de/modules.php?name=St&file=w_leitlinien). Für eine den Bedürfnissen und dem Energieverbrauch (durch körperliche Aktivität) angepasste Ernährung ist es wichtig, dass die drei Hauptnährstoffe Kohlenhydrate, Fette und Proteine in einem bestimmten Verhältnis vorliegen. Nach den Empfehlungen der D-A-CH-Referenzwerte sollte die anteilige Zufuhr von Kohlenhydraten bei 50%, von Fetten bei 30% und von Eiweiß bei ca. 15% liegen [4]. Eine praxisnahe Übersicht über empfohlene Anteile der Hauptnährstoffgruppen an der täglichen Ernährung zeigen sog. Nahrungspyramiden. Abbildung 13.1 zeigt eine adaptierte Version für Menschen ab dem 60. Lebensjahr, die nachfolgend beschrieben wird [17].
Besonderheiten der Ernährung im höheren Lebensalter
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Maximal 1 Portion pro Tag: Süßigkeiten
Maximal 2 Portionen pro Tag: sichtbares Fett (Öle,Butter) 2–3 Portionen pro Tag: fettarme Milch, Milchprodukte
2–3 Portionen pro Woche: Fisch,Fleisch,Eier
2–3 Portionen pro Tag: stärkehaltige Lebensmittel (Getreideprodukte und Kartoffeln) „Fünf am Tag” 3 Portionen pro Tag: Gemüse 2 Portionen pro Tag: Obst
Abb. 13.1. Praktische Empfehlungen für eine ausgewogene Ernährung älterer Menschen am Beispiel einer adaptierten Nahrungspyramide
Die Pyramide teilt Lebensmittel nach Nährstoffhauptgruppen und empfohlenen Verzehrsmengen in Segmente ein. Die dargestellten Portionsgrößen sind dem Bundesschlüssel für Lebensmittel entlehnt [3]. Notwendig für den körperlichen Stoffwechsel ist die ausreichende Zufuhr von Flüssigkeit. Die offiziellen Empfehlungen zur Flüssigkeitszufuhr reichen von 1,5 bis zu 3 l pro Tag [9]. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) empfiehlt für den gesunden Älteren eine tägliche Flüssigkeitszufuhr von 2,25 l, wobei ca. 0,75 l auf feste Nahrung (z. B. Obst, Gemüse, Salate, Milchprodukte) und 1,5 l auf geeignete Getränke entfallen. Da im Alter weniger Kalorien verbrannt werden und der Flüssigkeitsbedarf mit diesem Energieverbrauch positiv korreliert (1 ml pro Verbrauch von 1 kcal), andererseits Flüssigkeit nicht nur aus Getränken, sondern auch aus Nahrungsmitteln bezogen wird, werden bei gemäßigten Temperaturen (bis 21 8C) und moderater körperlicher Aktivität ca. 1,6 l Flüssigkeitszufuhr pro Tag aus Getränken wie Früchtetee, Obstschorlen und Mineralwässern als ausreichend angesehen. Getränke wie Kaffee oder Tee sind in Maßen als Genussmittel erlaubt und werden bei nur geringer harntreibender Wirkung auf die Flüssigkeitszufuhr angerechnet. Auf die möglichen Komplikationen von Flüssigkeitsverarmung wird in Kapitel 14 eingegangen.
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13 Ernährung und Mangelernährung im höheren Lebensalter
Obst und Gemüse liefern außer Kohlenhydraten auch Flüssigkeit, Vitamine, Nährstoffe und sekundäre Pflanzenstoffe bei gleichzeitig wenig Kalorien und sind daher in jedem Alter die Basis für eine gesunde Ernährung. Besonders die günstigen Wirkungen sekundärer Pflanzen- und Ballaststoffe lassen sich durch die Gabe von Vitaminpräparaten nicht erzielen. Gegenwärtig werden täglich mindestens 3 Portionen Gemüse und 2 Portionen Obst empfohlen [25]. Gemäß den kürzlich revidierten Empfehlungen hätten 7-8 Portionen stärkehaltiger Getreideprodukte oder Kartoffeln einem Kohlenhydratanteil von 55% an der täglichen Energiezufuhr durch die Nahrung entsprochen. Aufgrund des geringeren Energiebedarfs im Alter und abnehmender Glukosetoleranz ist es ernährungsphysiologisch nicht unbedingt wünschenswert, täglich mehrmals in größeren Mengen Kohlenhydrate in Form stärkehaltiger Lebensmittel zu essen. Zur Deckung des Energiebedarfes im Alter sind bereits 2–3 Portionen ausreichend, wenn zusätzlich genügende Mengen von Obst und Gemüse verzehrt werden. Da zur Vorbeugung oder Behandlung der diabetischen Stoffwechsellage eine Kostform mit niedrigem glykämischen Index (geringe blutzuckersteigernde Wirkung) günstiger ist, sind auch im Alter Vollkornprodukte zu bevorzugen. Die darin enthaltenen Ballaststoffe fördern die Verdauung und verlangsamen die Aufnahme von Glukose und Fetten aus dem Darm [17]. Zudem wird älteren Menschen der Verzehr von mindestens einer bis zu drei Portionen natürlich fettarmer Milchprodukte (z. B. Joghurt, Kefir) oder Milch pro Tag empfohlen. Diese enthalten hochwertige Proteine und Kalzium für den Knochenstoffwechsel. Bei Vorliegen einer Laktoseintoleranz oder Milcheiweißallergie sind alternative Kalziumquellen zu empfehlen. Immerhin 13–14% der Bevölkerung Deutschlands sind von einer Laktoseintoleranz bei endemisch vorkommendem Laktasemangel nach der Phase des Abstillens betroffen; weltweit ist es der häufigste Enzymmangel [15]. Auch nicht weiter verarbeitetes Fleisch (keine Wurstwaren) liefert hochwertige Proteine sowie Eisen. Allerdings ist der Verzehr nicht täglich erforderlich. Fische liefern darüber hinaus hochwertige, ungesättigte Fettsäuren (Omega-3-Fettsäuren) und sollten daher mindestens zweimal wöchentlich verzehrt werden. Eier sind eine preiswerte und kalorienarme, aber nährstoffreiche Alternative. Zusammenhänge mit Hypercholesterinämie werden inzwischen kontrovers diskutiert, weil das im Ei gleichfalls enthaltene Lecithin bei Gesunden die Cholesterinaufnahme begrenzt. Bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ II scheint dieser Mechanismus nicht mehr zu greifen. Langzeituntersuchungen wie die Nurse’s Health Study zeigen zwar einen Zusammenhang zwischen Hypercholesterinämie und Mortalität, aber nicht zwischen dem Verzehr von Eiern und kardiovaskulärer Mortalität [12, 14]. Bekannt ist mittlerweile, dass eine geringfügig höhere Zufuhr sichtbarer Fette (Pflanzenöle) bis zu 40% nicht unbedingt zu einer Erhöhung des Risikos von Herz-Kreislauf-Erkrankungen führt, sofern nicht zusätzliche Risikofaktoren vorliegen und vorausgesetzt, dass die Zufuhr ungesättigter Fettsäuren überwiegt. Zu begrenzen sind gesättigte Fettsäuren; versteckt in Kä-
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se, Wurstwaren und Süßigkeiten [5]. Eine gesunde Ernährung ist also in erster Linie abwechslungsreich. Von einseitigen Kostformen oder Energiereduzierten Diäten im Alter wird prinzipiell abgeraten, da die Appetitsteuerung über die Hormone Leptin und Ghrelin nur noch eingeschränkt gelingt. Speziell für ältere Patienten mit Stoffwechselerkrankungen werden gegenwärtig Leitlinien verfasst; z. B. für ältere Diabetiker (Deutsche Diabetes Gesellschaft und Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (Hrsg.): http:// www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/redaktion/mitteilungen/leitlinien/ Leitlinien04_Alter.pdf).
Mangelernährung im Alter z Bedeutung Während im Kindes- und jüngeren Erwachsenenalter Formen der Fehlund insbesondere Überernährung (Hyperalimentation) sowie in Folge die Adipositas zunehmen, rückt im höheren Lebensalter ein für Industrieländer ungewohntes Problem in den Mittelpunkt des Interesses. Es handelt sich um unterschiedlich ausgeprägte Formen von Fehl- und Mangelernährung. Häufiger als eine tatsächliche kalorische Unterernährung werden bei älteren Menschen versteckte Mangelzustände beobachtet. Je nach untersuchter Stichprobe und Setting werden zwischen 10% und 55% älterer Menschen mit unterschiedlichsten akuten Erkrankungen als mangelernährt bezeichnet [2]. Bei älteren Personen kann eine Vielzahl ungünstiger Umstände zu einseitiger Kost und damit langfristig zu Mangelerscheinungen führen. Verglichen mit bekannten Formen klassischer Hypovitaminosen wie z. B. dem Skorbut sind die Symptome häufig unspezifisch. Zu nennen sind: Abgeschlagenheit, Infektanfälligkeit und Kraftmangel. Dabei sind multimorbide Patienten mit funktionellen Einschränkungen, wie sie in geriatrischen Kliniken und Langzeit-Pflegeeinrichtungen gesehen werden, besonders gefährdet [22]. Mangelernährung geht einher mit längerer Verweildauer im Krankenhaus und einer deutlich erhöhten Morbidität und Mortalität [16]. Mangelernährung im Alter ist assoziiert mit Gewichtsverlust, Immobilität und Sturz, kognitiver Leistungsminderung, Dekubitus und verzögerter Wundheilung sowie herabgesetzter Immunabwehr [1]. Für die Praxis ist zu beachten, dass ein Heilungs- oder Rehabilitationsprozess durch unzureichende Ernährung aufgehalten oder verzögert werden kann [6].
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z Definition Mangelernährung liegt vor, wenn weniger Nährstoffe als benötigt aufgenommen werden: z Mangelernährung im weiteren Sinne (engl. „undernourishment“) beschreibt eine Ernährungssituation mit negativer Energiebilanz (Hypoalimentation). z Mangelernährung im engeren Sinne (engl. „malnutrition“) bezeichnet eine energetisch (kalorisch) ausreichende, jedoch einseitige Ernährung mit unzureichendem Gehalt an Eiweiß, Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen. Diese Form der Mangelernährung kann längere Zeit ohne klinische Symptome bleiben, da im Körper einige Nährstoffe wie Eisen, Kupfer und fettlösliche Vitamine gespeichert werden. Im Verlauf können Mangelkrankheiten (z. B. Hypovitaminosen, Mangelanämie, Hungerdystrophie) auftreten. Ursächlich beteiligt sein können mangelhafte Nahrungszufuhr, gestörte Verdauungsleistung oder Verwertungsstörungen [19]. Cave: Im Alter gehen beide Formen der Mangelernährung fließend ineinander über, da bei kalorisch unzureichender Ernährung aufgrund eines niedrigen Grundumsatzes und geringer körperlicher Aktivität spürbare Gewichtsverluste verspätet einsetzen.
z Ursachen Bereits weitgehend physiologische Alterungsprozesse wie das Nachlassen der Speichelsekretion und des Geschmackssinnes beeinträchtigen den Appetit [27]. Akute Erkrankungen können durch gesteigerte Stoffwechselrate und erhöhten Nährstoffbedarf zu mangelnder Versorgung führen. Beispiele für Erkrankungen mit erhöhtem Grundumsatz zeigt Tabelle 13.1. Tabelle 13.1. Ausgewählte Erkrankungen mit erhöhtem Grundumsatz z Erkrankungen der inneren Organe
– – – – – –
z Erkrankungen der Haut
– Dekubitus – Venöse Ulzera
z Erkrankungen des Nervensystems
– Demenz – Chorea Huntington – Morbus Parkinson
Herzinsuffizienz COPD Hyperthyreose Maligne Tumoren Infektionen, insbesondere bei Fieber und Sepsis Autoimmunerkrankungen
z Erkrankungen – Frakturen des Bewegungsapparats – Morbus Paget
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z Entzündungen und Erkrankungen der Verdauungsorgane, aber auch im höheren Lebensalter gehäufter Verbrauch von Laxanzien können trotz ausreichender Nahrungszufuhr zu Mangelerscheinungen aufgrund von Malabsorption führen. Zu nennen sind hier v. a. die atrophische oder Helicobacter-pylori-induzierte Gastritiden. Typische Symptome wie Sodbrennen, Schmerzen oder Übelkeit fehlen bei älteren Patienten öfter, so dass Appetitmangel oder Abneigung gegen spezielle Speisen (Fleisch, Fett) Anlass für eine klärende gastroskopische Untersuchung sind. z Als unerwünschte Wirkung häufig verordneter Medikamente, wie z. B. Antibiotika, Psychopharmaka oder Antihypertensiva können im Alter Übelkeit, verringerter Appetit oder Mundtrockenheit eintreten. Beim nephropatischen Syndrom werden Nährstoffe, in erster Linie Proteine, über die Niere verloren. z Kaustörungen aufgrund nicht sanierter oder fehlender Zähne, schlecht sitzender Zahnprothesen sowie Entzündungen im Mundraum bedingen ebenfalls eine unzureichende Ernährung. Leider werden diese Missstände zu häufig schicksalhaft hingenommen. z Allein oder im Zusammenwirken mit organischen Ursachen sind psychosoziale Probleme Auslöser von Malnutrition. Demenz, Depression, Vereinsamung oder ein nicht erkannter Hilfebedarf bei alltäglichen Verrichtungen werden häufig gefunden. z Mangelernährung selbst ist wiederum ein Risikofaktor für einige andere geriatrische Syndrome (siehe Kap. 5.12). Das Fallbeispiel und die Abb. 13.2 erläutern diesen Circulus vitiosus.
Fallbeispiel Herr H. ist 87 Jahre alt. Nach dem Tod seiner Ehefrau vereinsamt er zusehends und verlåsst das Haus nicht mehr. Er stçrzt dort mehrfach und zieht sich dabei zahlreiche Håmatome zu. Der Hausarzt beobachtet anlåsslich eines Hausbesuches Zeichen der Verwahrlosung und schimmelnde Lebensmittel im Kçhlschrank. Nåheres Nachfragen ergibt, dass Herr H. hauptsåchlich Weiûbrot und Kaffee zu sich nimmt. Die zeitliche Orientierung und das Kurzzeitgedåchtnis sind beeintråchtigt. Um das Selbsthilfedefizit zu kompensieren und die Aufrechterhaltung der Haushaltsfçhrung zu unterstçtzen, wird die bezirkliche Altenhilfe eingebunden. Herr H. wird einmal tåglich von einem ambulanten Pflegedienst in der Grundpflege unterstçtzt. Tagsçber besucht er nun eine Senioren-Tagesståtte und nimmt dort seine Hauptmahlzeit ein. Sein Zustand stabilisiert sich.
Zur Früherkennung durch Screeningmaßnahmen, Differentialdiagnostik und Behandlung von Mangelernährung im Alter liegen drei geriatrische Leitlinien vor (zum Stoffwechsel im Alter: http://www.dgem.de/leitlinien/ 01ernstat100804.pdf, zur enteralen Ernährung: http://www.dgem.de/leitlinien/01geriatrie100804.pdf oder http://www.espen.org/Education/documents/ ENGeriatrics.pdf). Wesentliche Impulse gehen dabei von der European Society for Clinical Nutrition and Metabolism (www.espen.org) aus.
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Abb. 13.2. Assoziation von Mangelernährung und geriatrischen Syndromen
z Diagnostik Zur Beurteilung des Ernährungszustandes sind anthropometrische Daten (Körpergewicht und Körpergröße) hilfreich, aus denen das relative Körpergewicht (Body-Mass-Index = das Köpergewicht [kg] dividiert durch die quadrierte Körperhöhe [m]: (BMI = kg/m2)) ermittelt werden kann. Tabelle 13.2 zeigt die Einteilung in Gewichtsklassen entsprechend dem relativen Körpergewicht. Da ein mäßig erhöhter BMI im höheren Lebensalter positiv mit der Lebenserwartung assoziiert ist, sollte für Personen über 60 Jahre der Richtwert modifiziert werden. Wünschenswert wäre die Anhebung des Normalwertes von 24 auf 29 [10, 18]. Ein ungewollter Gewichtsverlust von 1% des Körpergewichtes pro Woche bzw. 5% pro Monat oder 10% in sechs Monaten gilt als deutlich pathologisch. Aber Vorsicht: Ein gleichbleibendes Körpergewicht schließt eine Mangelernährung nicht aus. Die Abnahme der Fett- und Magermasse (Muskulatur) kann durch Ödeme kaschiert werden. Zur Risikoeinschätzung helfen standardisierte Instrumente (s. u.) und Ernährungsprotokolle, um ein sog. „Under-Reporting“ der Nahrungsaufnahme zu umgehen. Bei pflegebedürftigen Patienten sind der tatsächliche Verzehr und die Flüssigkeitszufuhr fremdanamnestisch einzuschätzen bzw. durch Pflegepersonal zu protokollieren [22]. Bei älteren Patienten und Bewohnern von Langzeit-Pflegeeinrichtungen sowie älteren Menschen, die von ambulanten Pflegediensten versorgt werden, sollte die Gefährdung für eine Mangelernährung bei akuter Verschlechterung ihres Zustandes oder erstem ärztlichen Kontakt bzw. bei der Aufnahme in ein Krankenhaus ermittelt werden. Dazu hat sich das Mini Nutritional Assessment (MNATM) besonders bewährt (siehe Anhang). Es ist zeitlich nicht aufwändig und erfasst grundlegende Ernährungsgewohnhei-
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Tabelle 13.2. Einteilung in Gewichtsklassen nach dem Body-Mass-Index für gesunde Erwachsene [10, 18] Body-Mass-Index
Gewichtsklasse
<17 <19 19–24 25–29 30 und mehr
z z z z z
Auszehrung (Kachexie) Untergewicht Normalgewicht Übergewicht (Adipositas I) Übergewicht (Adipositas II–III)
Abb. 13.3. Ursachen von Mangelernährung im Alter. (Mod. n. [8])
ten, begleitende Umstände wie Depressionen sowie anthropometrische Daten (z. B. BMI). Aus der Summe der Abweichungen ergeben sich Hinweise auf eine Mangelernährung oder Unterernährung sowie eine erste Einschätzung zugrunde liegender Probleme [7]. Weitere klinische Testinstrumente sind bei Volkert beschrieben [22]. Besteht der Verdacht auf Mangelernährung, können weitere Untersuchungen die Mangelerscheinungen und ihre Ursachen näher eingrenzen. Abbildung 13.3 gibt einen Überblick über die vielfältigen Ursachen von Mangelernährung und Überlegungen zur Differentialdiagnostik. Zahnerkrankungen, Kau- und Schluckstörungen sind häufig bei geriatrischen Patienten. Die visuelle und ggf. taktile Befundung des Mundraumes gehören daher zur klinischen Untersuchung. Druckstellen, Entzündungen, Pilzbeläge und Tumoren im Kieferbereich, der Pflegezustand des Gebisses
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und lockere oder schadhafte Zähne sind zu vermerken. Auffälligkeiten sollten zu einem zahnärztlichen Konsil führen. Eine qualitative Beurteilung der Kaufunktion erlaubt der Möhren-Test [26]. Eine standardisierte Möhrenscheibe von 2 ´ 1 cm Durchmesser wird vom Probanden 45 Sekunden lang gekaut; dann ausgespuckt und das Kaugut anschließend visuell nach dem Grad der Zerkleinerung beurteilt. Ergänzend kann die Kaukraft mit einem einfachen Hand-Gnathometer oder einem geeichten Dynamo-Gnathometer bestimmt werden. Ihr Einsatz erbringt Hinweise, ob im Rahmen einer Kaustörung auch nachlassende Beisskraft ursächlich beteiligt ist. Die Anpassung lockerer Zahnprothesen und der Einsatz von handelsüblichen Haftcremes unterstützen die Kaufunktion [23]. Vorausgegangene Schlaganfälle oder Folgen neurodegenerativer Erkrankungen begünstigen Schluckstörungen (Dysphagien). Warnzeichen sind belegte oder gurgelnde Stimme, häufiges Verschlucken mit oder ohne Husten, rezidivierende Pneumonien, angegebenes Globusgefühl und/oder ein verlangsamter Schluckakt mit verzögerter Hebung des Kehlkopfes bei Palpation (Schluckprobe). Auch Speisereste im Mundraum, Schleimansammlungen und Regurgitation sind verdächtig. Eine potenziell lebensgefährliche Komplikation ist die Aspiration. Da der komplexe Schluckakt auf neuronaler, struktureller oder psychogener Ebene gestört sein kann, sind zur Klärung sowohl eine logopädische Untersuchung als auch apparative Verfahren wie z. B. die flexible fiberoptische Endoskopie (FFE) oder die Video-Fluoroskopie sinnvoll sowie die Anwendung einer klinischen Einteilung (siehe auch Anhang) wie die Penetration-Aspiration Scale [20]. Für die Behandlung von Schluckstörungen spezialisierte Logopäden bzw. Therapeuten für den faziooralen Trakt (F.O.T.T. = „facio-oral-tract-therapy“) vermitteln dem Patienten Schlucktechniken zur Vermeidung von Aspirationen. Die Kost wird durch Zerkleinerung und Andicken von Flüssigkeiten speziell angepasst (Dysphagiekost). Bei Dysphagie oder einer anderweitig begründeten, besonderen diätetischen Kost (z. B. Diabetes mellitus, Zöliakie, orale Antikoangulation) ist eine Ernährungsberatung durch klinische Diätassisstent/Innen oder niedergelassene Ökotropholog/Innen zu erwägen. Angehörige sind in diese Beratungen nach Möglichkeit zu integrieren. Die standardisierte Erhebung der Ernährungsgewohnheiten anhand eines 1-Tages-Ernährungsprotokolles liefert hierfür wertvolle Informationen zu aufgenommenen Nährstoffen und Flüssigkeiten sowie auch zu Ernährungsvorlieben und -abneigungen [21]. Im Serum können manifeste Mangelzustände wie Hypovitaminosen oder Eisenmangelanämie diagnostiziert werden. Zu beachten ist, dass für viele Nährstoffe körpereigene Speichersysteme vorhanden sind. Bis sich ein Mangel klinisch oder als erniedrigter Blutwert manifestiert, können Monate (Vitamin D, Folsäure) bis Jahre (Vitamin B12) vergehen. Tabelle 13.3 fasst die wichtigsten Untersuchungen bei Mangelernährung zusammen.
Mangelernährung im Alter Tabelle 13.3. Diagnostik bei Malnutrition Diagnostische Möglichkeiten bei Mangelernährung
Symptome
z Anamnese
Appetitmangel Kauprobleme Schluckstörung Isolation Depression Probleme beim Einkauf/Kochen Schmerzen Leistungsabfall Ernährungsgewohnheiten
z Klinische Befunde
Body-Mass-Index Gewichtsverlust Trizeps-Hautfalten-Messung Wadenumfang Gebiss-Schau Glossitis Perlèche Blässe der Konjunktiven Ödeme Periphere sensorische Defizite Handkraftmessung Exsikkosezeichen
z Laboruntersuchungen: ernährungsabhängige Parameter im Serum
Serumprotein/Albumin Vitamine (v. a. B6, B12 und D) Lymphozyten Cholesterin Eisen, Transferrin Zink Elektrolyte
z Risikofaktor-Screening
Mini Nutritional Assessment Geriatrisches Screening: – Depression – Demenz – Dysphagie – Disability (Defizite bei alltäglichen Fähigkeiten) – Multimedikation – Schmerz
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z Therapie Vielfältig wie die Ursachen von Malnutrition sind auch die therapeutischen Optionen. Im multidimensionalen Assessment identifizierte Risikofaktoren und Folgeerscheinungen sind gezielt, Grunderkrankungen möglichst kausal zu behandeln. Darüber hinaus sind ggf. folgende Maßnahmen einzuleiten: z Milieugestaltung: Die Einnahme von Speisen sollte nach Möglichkeit in aufrechter Haltung erfolgen, um die Bewegungsfreiheit zu fördern und Verschlucken sowie einem Reflux vorzubeugen. Essen in Gesellschaft und optisch abwechslungsreich gestaltete, gut gewürzte (Lieblings-)Speisen fördern den Appetit. z Demenzielle Erkrankungen: Demenzkranke profitieren von regelmäßigen, über den Tag verteilten kleinen Mahlzeiten und verbaler Motivation im Rahmen aktivierender Pflege. Kleine (energiedichte) Volumina mit viel versteckten Kalorien z. B. in Süßspeisen sind häufig nötig, um eine kalorisch ausreichende Ernährung zu erreichen. z Gebissfunktion: Zahnersatz ist optimal einzupassen, ggf. ist eine zahnärztliche oder kieferorthopädische Diagnostik und Behandlung erforderlich. Vorübergehend kann die mechanische Zerkleinerung der Kost helfen, langfristig ist dies jedoch eher Appetit-hemmend! z Behinderung: Bei funktionellen Einschränkungen ist die Indikation zu einer geriatrischen Rehabilitation zu prüfen. Wenn die Selbständigkeit im Alltag nicht oder nur teilweise wiederhergestellt werden konnte, sind kompensierende Hilfen in Zusammenarbeit mit dem zuständigen Sozialdienst oder der behördlichen Altenhilfe einzuleiten. Häufig genutzt werden z. B. Seviceleistungen wie Einkaufsbegleitung durch Zivildienstleistende oder „Essen auf Rädern“. z Ergotherapeutisch angepasste Hilfsmittel wie ergonomische Bestecke, EinHand-Hilfen sowie Armaturaufsätze können bei Hemiplegie, Einschränkungen der Handfunktion und Gelenkdeformitäten nutzbringend eingesetzt werden. z Nahrungsergänzung: Hypovitaminosen sind durch geeignete Präparate auszugleichen. Ältere Menschen mit Malnutrition zeigen oft eine ungenügende Aufnahme von Proteinen. Eingesetzt werden Nahrungssupplemente in Trinkform, die bei geringem Volumen (100–200 ml) hochwertiges Eiweiß (meist Soja), Kalorien und Vitamine enthalten. Sie werden zusätzlich zur normalen Kost 1- bis 2-mal täglich gegeben und sollen daher nicht sättigen. Verschiedene Geschmacksrichtungen können je nach Vorliebe als Kaltgetränk oder Suppenmahlzeit gegeben werden. z Dysphagie-Kost: Schluckgestörte Patienten benötigen spezielle Kost, deren wesentliches Merkmal eine erhöhte Konsistenz durch das Andicken von Flüssigkeiten ist und Aspirationen vorbeugt. z Künstliche Ernährung: Zur Überbrückung weniger Tage etwa im Rahmen intensiv-medizinischer Behandlung eignen sich die künstliche Ernährung über Magensonden (enteral) oder intravenöse Gaben (parenteral). Häufiger im Alter anzutreffen sind allerdings chronische Formen der
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Mangelernährung. Wenn möglich, sind die oben beschriebenen, physiologischen Formen der Nahrungsergänzung und/oder Nahrungsaufbereitung zu bevorzugen. Ist längerfristig eine perorale Ernährung nicht oder nicht ausreichend möglich, so ist die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG-Sonde) zu erwägen. Diese hat den Vorteil, dass parallel ein peroraler Nahrungsaufbau und eine Behandlung von Schluckstörungen, z. B. nach zerebraler Ischämie, möglich sind. Eine retrospektive Analyse zeigte, dass in geriatrischen Kliniken PEG-Sonden am häufigsten bei Schlaganfallpatienten eingesetzt wurden [24]. Die Indikation zu dieser ggf. lebenslangen Form künstlicher Ernährung ist sehr sorgfältig zu stellen, da nicht alle Patienten davon profitieren [13].
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14 Flüssigkeitshaushalt und Exsikkose
Physiologische Veränderungen des Wasserhaushaltes im Alter Im Rahmen des Alterungsprozesses kommt es zu zahlreichen physiologischen Veränderungen, die den Wasser- und Elektrolythaushalt beeinflussen. Die wichtigsten davon sind: z Abnahme des Wasseranteils am Körpergewicht von ca. 60% bei jungen Erwachsenen auf ca. 50% im Alter; Zunahme des Fettanteils [5]; z Abnahme des Durstempfindens, auch bei erheblichem Flüssigkeitsmangel [3]; z Abnahme des renalen Plasmaflusses und der glomerulären Filtrationsrate mit Störung der Natriumexkretion; z Abnahme der Konzentrationsfähigkeit der Niere mit schlechter Salzkonservierung. Auf hormoneller Ebene kommt es zu folgenden altersassoziierten Veränderungen, die alle zu einer Hyponatriämie prädestinieren: z Zunahme der basalen und stimulierten Sekretion von antidiuretischem Hormon (ADH; auch Arginin-Vasopressin, AVP), Stimuli sind Hypovolämie und erhöhte Plasmaosmolalität; z Zunahme der basalen und stimulierten Sekretion von atrialem natriuretischem Hormon (ANH); z verminderte Sekretion bzw. Wirkung von Renin, Angiotensin und Aldosteron [6, 12]. Diese Veränderungen machen alte Menschen anfällig für Störungen der Wasser- und Elektrolythomöostase. Dehydratation und Überwässerung, Hyper- und Hyponatriämie in unterschiedlicher Kombination sind wesentlich häufiger als bei jungen Erwachsenen. Besonders anfällig für ein Flüssigkeitsdefizit sind untergewichtige Personen und Pflegebedürftige, die ihre Flüssigkeitszufuhr infolge Immobilität, Demenz, Depression, Sedierung, Dysphagie oder Aphasie nicht mehr adäquat steuern können. Verstärkt werden diese Störungen der Homöostase durch Erkrankungen, Medikamente und Umgebungsbedingungen (z. B. Hitze) [2]. Störungen des Natrium- und Wasserhaushaltes können gravierende Folgen haben. Typische und häufige Folgen des Flüssigkeitsdefizits sind Ver-
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14 Flüssigkeitshaushalt und Exsikkose
wirrtheit, Adynamie, Verstärkung einer Obstipation, Stürze infolge orthostatischer Hyoptonie und prärenales Nierenversagen, im Extremfall mit letalem Ausgang.
Exsikkose z Ursachen Die häufigste Störung des Wasser- und Elektrolythaushaltes im Alter ist der Flüssigkeitsmangel, die Exsikkose. Sie entsteht durch unzureichende Flüssigkeitszufuhr (Ursachen s. o.) und/oder übermäßige Flüssigkeitsverluste. Flüssigkeit geht verloren über z den Magen-Darm-Trakt (z. B. bei Erbrechen, Diarrhoe, (Sub-)Ileus mit Flüssigkeitssequestrierung im Darmlumen, Peritonitis und Pankreatitis mit Flüssigkeitssequestrierung im Abdomen), z die Niere (z. B. durch Diuretika, polyurische Phase einer Niereninsuffizienz, osmotische Diurese bei Hyperglykämie oder hoch konzentrierter Sondenkost), z die Haut (z. B. bei Schwitzen, Verbrennung, großen Wundflächen, Fisteln), z die Atmung (infolge Tachypnoe z. B. bei Fieber, Sepsis). Pro Grad Fieber müssen 500 ml Flüssigkeit zusätzlich verabreicht werden.
z Klinische Zeichen Klinische Zeichen des Flüssigkeitsdefizits sind eine trockene Zunge und ein erniedrigter Hautturgor, am ehesten zu erkennen als stehenbleibende Hautfalte über dem Sternum. Weitere Zeichen sind trockene Mundschleimhäute, Sprechschwierigkeiten mit einer tonlosen, heiser wirkenden Stimme, fehlende Füllung der Halsvenen im Liegen, in ausgeprägteren Fällen eine arterielle und/oder orthostatische Hypotonie, Tachykardie, Verwirrtheit und prärenales Nierenversagen mit Oligurie oder Anurie. Die meisten dieser Hinweise sind jedoch mehrdeutig (z. B. trockener Mund durch Medikamente mit anticholinerger Wirkung oder Nebenwirkung) und gerade bei Älteren nur in der Zusammenschau zu interpretieren. Die genauere Bestimmung des Flüssigkeitsdefizits über den zentralen Venendruck ist meist nicht erforderlich. Im Labor ist der Hämatokritwert erhöht, sofern nicht gleichzeitig eine Anämie vorliegt. Im Verlauf steigen Kreatinin und Harnstoff im Serum an als Zeichen des prärenalen Nierenversagens. Alte Menschen sind hier be-
Exsikkose
z
sonders gefährdet, da die Nierenfunktion mit dem Alter abnimmt. Näherungsweise berechnen lässt sich die mit dem Alter abnehmende glomeruläre Filtrationsrate nach der Formel von Cockcroft und Gault: GFR
140 Alter K orpergewicht kg 72 Serumkreatinin mg=dl
(bei Frauen mal 0,85). Labors berechnen zunehmend die GFR automatisch nach der Gewichts-unabhängigen MDRD-Formel: GFRml=min=1;73m2 186
Kreatinin
1;154
Alter
0;203
(bei Frauen mal 0,742).
z Isotone, hypotone und hypertone Dehydratation Flüssigkeitsverluste können zu isotoner, hypo- und hypertoner Dehydratation führen – abhängig davon, ob Wasser, Elektrolyte und andere osmotisch wirksame Substanzen in proportionaler oder unproportionaler Menge verloren gehen. Isotonie oder Isoosmolalität liegt bei einer Serumosmolalität von 280–295 mosm/kg vor. Sie wird berechnet nach der Formel: Serumosmolalitat 2 Natrium mmol=l Glukose mg=dl=18 Harnstoff mg=dl=6 : Natrium ist dabei mengenmäßig das wichtigste osmotisch wirksame Molekül im Extrazellulärraum und damit auch im Serum. Bei normalen Glukose- und Harnstoffkonzentrationen sind diese zu vernachlässigen. Näherungsweise gilt dann: Serumosmolalitat 2 Serumnatrium mmol=l : Hyponatriämie bedeutet damit in der Regel erniedrigte, Hypernatriämie erhöhte Serumosmolalität (Ausnahmen siehe S. 178). Die isotone Dehydratation die häufigste Form des Flüssigkeitsdefizits. Sie entsteht durch den proportionalen Verlust von Natrium und Wasser. Potentiell kommen alle auf S. 174 angeführten Entstehungsmechanismen in Frage. Besonders häufige Ursachen im Alter sind ungenügendes Trinken, Erbrechen, Diarrhoe oder zu hohe Diuretikadosen. Diese Faktoren können – kombiniert mit körpereigenen oder externen Korrekturversuchen – auch eine hypotone (Natrium und Plasmaosmolalität erniedrigt) oder hypertone Dehydratation auslösen. Zur Dehydratation mit Hypernatriämie (Natrium > 150 mmol/l) kommt es, wenn bei Wassermangel die Wasserzufuhr über den Durst nicht mehr
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selbstständig geregelt werden kann. Eine typische Ursache ist Fieber, welches zu einem Wasserverlust über Atmung und Schwitzen mit nur geringem Natriumverlust führt. Die erhöhte Natriumkonzentration im Serum verursacht einen Wasserausstrom aus der Zelle. Bei Natriumwerten über 150 mmol/l tritt Lethargie oder Unruhe auf, höhere Werte führen zu Muskelzuckungen, Hyperreflexie, Krämpfen, Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Koma und evt. irreversiblen neurologischen Schäden. Zu beachten ist, dass eine Hypernatriämie auch durch erhöhte Natriumzufuhr, z. B. iatrogen durch die Gabe natriumreicher Penicillinlösungen oder sogar isotoner Kochsalzlösungen (154 mmol Na+/l) entstehen kann.
z Therapie Die Therapie jeder Exsikkose besteht neben der Beseitigung der Ursache in einer ausreichenden Flüssigkeitsgabe. Der Ausgleich des Flüssigkeitsdefizits und der gestörten Natriumkonzentration muss um so rascher erfolgen, je schneller die Abweichung entstanden ist und je ausgeprägter die Symptome sind. Entsprechend ist auch die Applikationsart zu wählen: Bei ausgeprägter Symptomatik und Dringlichkeit, v. a. bei hämodynamisch instabilen Patienten, Flüssigkeitsgabe nur i.v.! In leichten Fällen kann die Flüssigkeitssubstitution bei nicht ausreichend trinkenden Patienten auch als langsame subkutane Infusion isotoner Lösungen (z. B. Ringer, NaCl 0,9%, Glukose 5%) erfolgen, z. B. am Bauch, Oberschenkel oder Rücken (Hypodermoclysis) [9]. Diese Methode ist auch in Pflegeheimen oder zu Hause durchführbar und dient bei geringer Trinkmenge auch als Exsikkoseprophylaxe. Kaum Anwendung findet die langsame Flüssigkeitsgabe über einen Rektaltropf. Die Art der Infusionslösung wird nach der begleitenden Elektrolytstörung ausgewählt. Unabhängig von der Natriumkonzentration im Serum gilt: Volumenmangelschockzustände erfordern bis zu einem systolischen Blutdruck von 100 mm Hg immer die rasche intravenöse Gabe physiologischer NaCl-Lösung. Erhöhte oder erniedrigte Natriumkonzentrationen sollen auch bei ausgeprägter Symptomatik maximal mit einer Geschwindigkeit von 1 mmol/l pro Stunde bzw. 8 mmol/l pro Tag [1] dem Normbereich angenähert werden; nur initial und kurzfristig ist bei schwerster Hyponatriämie mit neurologischen Symptomen ein Ausgleich um 5–6 mmol/l indiziert [7]. Die Korrektur muss um so langsamer erfolgen, je langsamer die Störung entstanden ist und je näher die Werte dem Normbereich kommen. Engmaschige Laborkontrollen sind obligat. Bei zu raschem Ausgleich einer Hyponatriämie droht die zentrale pontine Myelinolyse mit Tetraparese und Pseudobulbärparalyse, bei zu raschem Ausgleich einer Hypernatriämie das Hirnödem [7]. Bei Hypernatriämie und einem systolischen Druck von ³ 100 mmHg wird Glukose 5% oder NaCl-Lösung 0,45% infundiert. Das Flüssigkeitsdefizit ergibt sich aus:
Hyponatriämie
z
Wasserdefizit 0;5 K orpergewicht kg
1 140=Plasmanatrium (altersadaptiert nach [7]). Davon wird die Hälfte in den ersten 24 Stunden ersetzt, der Rest am zweiten Tag. Gleichzeitig muss der Tagesbedarf an Flüssigkeit verabreicht und ggf. Kalium substituiert werden. Bei Volumenmangel mit normaler Natriumkonzentration wird Ringerlösung verabreicht. Die Gabe von isotoner Kochsalzlösung ist in den meisten Fällen ebenfalls möglich, führt jedoch bei ausschließlicher Gabe über mehrere Tage gelegentlich zur Hypernatriämie. Bei Volumenmangel mit Hyponatriämie erfolgt der Flüssigkeitsersatz in der Regel durch isotone Kochsalzlösung. Meist genügt eine Abschätzung der benötigten Infusionsmenge anhand von Tagesbedarf und Flüssigkeitsdefizit. Nur bei nachweislich rasch (<48 h) entstandener Hyponatriämie mit schwerer neurologischer Symptomatik (Krampfanfälle, Koma) muss zusätzlich 3%ige NaCl-Lösung gegeben werden, um durch einen rascheren Ausgleich die Letalität zu senken (s.u.). Die Infusionsmenge zur Korrektur der Hyponatriämie wird dann nach folgender Formel berechnet [1]: Natriumveranderung im Serum mmol=l Natrium in der Infusionsl osung mmol=l Natrium im Serum mmol=l :
0;5 K orpergewicht kg Die angestrebte Natriumveränderung dividiert durch die mit obiger Formel errechnete Natriumveränderung ergibt die benötigte Infusionsmenge in Litern. Der Faktor 0,5 in der Formel entspricht – wie in der Formel zum Wasserbedarf bei Hypernatriämie – dem Wasseranteil am Körpergewicht. Als Erfolgskontrolle für einen ausreichenden Flüssigkeitsersatz dienen Kreislaufparameter (Pulsfrequenz, Blutdruck), Urinvolumen und -konzentration, Hautturgor und Schleimhäute. Die exaktere Messung über den Venendruck ist dafür meist nicht erforderlich. Tägliche Kontrollen sind vor allem bei Patienten mit Herz-, Nieren- oder Leberinsuffizienz notwendig, um eine Überwässerung zu vermeiden.
Hyponatriämie Eine Hyponatriämie tritt bei zahlreichen im Alter häufigen Störungen wie dekompensierte Herzinsuffizienz, chronische Niereninsuffizienz, Diarrhoe, Diuretikagabe oder SIADH-Syndrom (siehe S. 179), aber auch bei seltenen Erkrankungen wie Gluko- oder Mineralokortikoidmangel auf. Ihre Inzidenz von bis zu 50% pro Jahr unter Pflegeheimbewohnern [11] und ihre Prävalenz von 11% bei Patienten einer geriatrischen Ambulanz [6] sind hoch.
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Hyponatriämie führt zum Wassereinstrom in die Zellen. Symptome entstehen v. a. infolge der Schwellung der Hirnzellen. Sie sind um so gravierender, je schwerer die Hyponatriämie und je kürzer ihre Entstehungszeit sind. Bei langsamer Entwicklung werden initiale Symptome wie Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Gangunsicherheit bei Natriumkonzentrationen von ³ 125 mmol/l leicht fehl gedeutet. Nicht selten ist bei alten Patienten eine mäßiggradige Hyponatriämie die Ursache für Übelkeit und Erbrechen. Mit zunehmender Verschlechterung kommt es zu Kopfschmerzen, Lethargie, Verwirrtheit, Delir, Krampfanfällen, Einklemmung des Hirnstammes mit zerebralen Dauerschäden, Koma und Atemstillstand. Bei einer Entstehungszeit von weniger als 48 Stunden und Natriumkonzentrationen unter 110 mmol/l steigt die Mortalität auf bis zu 50% [6]. Da die kausale Therapie – abhängig von der Ursache – unterschiedlich ist, sollten die wichtigsten Abklärungsschritte und Differentialdiagnosen bekannt sein.
z Differentialdiagnose der Hyponatriämie [7] Erhöhte Glukose- und Harnstoffkonzentrationen im Serum führen aufgrund ihrer osmotischen Wirkung mit Wasserausstrom aus den Zellen zu einer „physiologischen“ Hyponatriämie bei erhöhter Serumosmolalität (Formel siehe S. 175). Bei einer Lithiumtherapie kommt es ebenfalls zur Hyponatriämie, da das Kation Lithium ausgleichend zu einer relativen Konzentrationsabnahme des Kations Natrium führt. Osmotisch wirksame Substanzen im Blut wie Mannitol führen ebenfalls zur Hyponatriämie bei erhöhter oder normaler Serumosmolalität [1]. Im Flammenphotometer, einer zunehmend seltener angewandten, älteren Natriumbestimmungsmethode, wird die Natriumkonzentration bei hohem Serumeiweiß oder -lipiden falsch niedrig gemessen [1, 7]. Alle anderen Hyponatriämien gehen mit einer Serumhypoosmolalität einher und sind pathologisch. Zur weiteren Differenzierung helfen z die Bestimmung der Natriumkonzentration im Spontanurin (Diuretika mindestens 24 Stunden vorher absetzten): Ein Urinnatriumgehalt über 20 mmol/l ist ein Hinweis auf renale oder hormonelle Ursachen; z die Schätzung des Extrazellulärvolumens: Geht die Hyponatriämie mit einer Hypo-, Eu- oder Hypervolämie einher? (Tabelle 14.1) Hyponatriämien mit Hypervolämie, erkennbar an Ödemen und Gewichtszunahme, sind durch dekompensierte Herz- oder Leberinsuffizienz oder durch Nierenerkrankungen (akutes Nierenversagen, chronische Niereninsuffizienz, nephrotisches Syndrom) verursacht, die in der Regel bereits bekannt oder leicht zu diagnostizieren sind. Die Therapie richtet sich nach der Grunderkrankung und besteht bei der dekompensierten Herz- und Leberinsuffizienz in einer Flüssigkeitsrestriktion, ggf. in Kombination mit einem Schleifendiuretikum. Eine Natriumsubstitution ist nicht indiziert, da
Hyponatriämie
z
Tabelle 14.1. Ursachen einer hypoosmolaren Hyponatriämie [7] Urinnatruim < 20 mmol/l + Hypovolämie
+ Euvolämie
+ Hypervolämie
Extrarenaler Natrium(und Wasser-)Verlust:
Spülungen mit hypotonen Lösungen, z. B. bei Prostataresektionen, Darmeinlauf
Dekompensierte Herzinsuffizienz
z Erbrechen, Diarrhoe
Polydipsie (im Alter selten)
Dekompensierte Leberinsuffizienz
z Schwitzen mit Trinken hypotoner Lösungen
Nephrotisches Syndrom
z Verbrennungen z Pankreatitis z Plasmaexpander Urinnatruim > 20 mmol/l + Hypovolämie
+ Euvolämie
+ Hypervolämie
Renaler Natrium(und Wasser-)Verlust:
SIADH
Akutes Nierenversagen
z Diuretika
Glukokortikoidmangel
Chronische Niereninsuffizienz
z Mineralokortikoidmangel
Schwere Hypothyreose
z Salzverlustniere
Schwere Hypokaliämie
z Metabolische Alkalose z Renal-tubuläre Acidose
das Gesamtkörpernatrium erhöht ist (relative Hyponatriämie durch vermehrte Wasserretention). Hyponatriämien mit Hypovolämie wurden auf S. 174 ff. besprochen.
z Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion Die im Alter wichtigste Hyponatriämie mit normalem Extrazellulärvolumen ist das Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH), erstmals 1967 beschrieben von Bartter und Schwartz. ADH (antidiuretisches Hormon) wird in den supraoptischen und paraventrikulären Kernen des Hypothalamus synthetisiert, im Hypophysenhinterlappen gespeichert und bei Serumhyperosmolalität vermehrt freigesetzt. In den distalen Tubuli und Sammelrohren der Niere bewirkt es eine vermehrte Reabsorption von freiem Wasser. Zur Minderung des dadurch vermehrten Blutvolumens wird über die Niere vermehrt Natrium (und Wasser) ausgeschieden. Die Na-
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triumkonzentration im Urin steigt auf über 20 mmol/l, die Natriumkonzentration im Serum sinkt. Die Steuerung der ADH-Produktion und -Freisetzung erfolgt über Osmorezeptoren im Hypothalamus, aber auch über Dehnungsrezeptoren im linken Vorhof des Herzens, über Barorezeptoren im Aortenbogen und über das limbische System, das z. B. bei Schmerz, Übelkeit, Angst und größeren Traumata aktiviert wird. Physiologische Veränderungen der ADH-Sekretion und -Wirkung im Alter wurden auf S. 173 erwähnt. Alter per se stellt einen Risikofaktor für eine Hyponatriämie dar. Daher sollte älteren Hypertonikern keine Salzrestriktion verordnet werden, zumal deren blutdrucksenkender Effekt gering ist. Die häufigste Ursache für ein SIADH im Alter sind Medikamente, v. a. Thiazid-Diuretika und Antidepressiva (SSRI). Oft führt das alleinige Absetzen dieser Medikamente zu einer Normalisierung der Natriumkonzentration und macht eine weitere Ursachensuche überflüssig. Die Gefahr eines SIADH besteht – unabhängig vom Alter – auch in den ersten 9 Tagen nach Operationen. Zu einer erhöhten ADH-Sekretion führen einige Tumorerkrankungen, darunter v. a. das kleinzellige Bronchialkarzinom, das selbst ADH produzieren kann [11]. Zahlreiche andere Lungenkrankheiten, ZNSErkrankungen, Stress (postoperativ, Schmerz), Infektionen oder eine schwere Hypothyreose können die ADH-Sekretion ebenfalls pathologisch erhöhen oder – im Falle einiger Medikamente – die ADH-Wirkung in der Niere verstärken. Die wichtigsten Ursachen im Alter sind in Tabelle 14.2 aufgelistet, eine Übersicht findet sich bei [6, 7, 11]. Tabelle 14.2. Ursachen eines SIADH. (Nach [4, 6, 7, 11]) z Medikamente (im Alter besonders häufig Thiazid-Diuretika, SSRI, Oxcarbazepin, außerdem Neuroleptika [z. B. Haloperidol], trizyklische Antidepressiva, Antikonvulsiva [z. B. Carbamazepin, Lamotrigin], MAO-Inhibitoren [Selegilin, Moclobemid], Metolopramid, Bromocriptin, Omeprazol, Ciprofloxacin, selten Schmerzmittel [NSAR, Paracetamol, Morphin], Ecstasy, Mannit, einige Chemotherapeutika, selten Schleifendiuretika, ACE-Hemmer) z Tumoren (v. a. kleinzelliges Bronchialkarzinom, aber auch Pankreas, Kolon, lymphatisches Gewebe, Thymus, Prostata, Gehirn, Harnblase) z Lungenerkrankungen (z. B. bakterielle Pneumonien, Tuberkulose, COPD, Lungenabszesse, Bronchiektasen, PEEP-Beatmung) z Hypothyreose z Lupus erythematodes z Arteriitis temporalis z Myokardinfarkt z Zerebrale Erkrankungen (z. B. Schädelfraktur, subdurales Hämatom, Sinusvenenthrombose, Subarachnoidalblutung, Hirninfarkt, Enzephalitis, Meningitis, Guillain-Barré-Syndrom, Hydrozephalus, Psychosen) z Starke Schmerzen z Stress, Angst z Trauma, Operationen
Hyponatriämie
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Zur Diagnose eines SIADH gehört neben einer Hyponatriämie mit Serumhypoosmolalität ein erhöhter Natriumwert im Spontanurin (> 20 mmol/l) mit einer erhöhten Urinosmolalität. Potentielle andere Ursachen für diese Laborkonstellation wie eine Hypothyreose, eine Hypokaliämie oder ein Glukokortikoidmangel sollten ausgeschlossen werden (Patienten nach vorheriger, evt. im Rahmen einer Operation plötzlich abgesetzter Dauerbehandlung mit Glukokortikoiden fragen!). Die Therapie richtet sich primär nach der Ursache (z. B. OP eines Tumors, auslösende Medikamente absetzen, effektive Schmerztherapie). Die symptomatische Therapie besteht bei leichter Hyponatriämie (125– 135 mmol/l) in einer Flüssigkeitsrestriktion auf 800–1000 ml pro Tag [11]. Natrium- und proteinreiche Kost (Essen zusalzen!) vermehrt bei Hyponatriämie die Wasserausscheidung. Eine Natriumgabe ist auch in Form von Tabletten („Schwedentabletten“, in der Regel Gabe von 3 ´ 1 g/Tag) möglich. Sind diese Maßnahmen alleine nicht erfolgreich, werden zusätzlich Schleifendiuretika, das Tetrazyklin-Derivat Demeclocylin (Ledermycin 2–4 ´ 300 mg/Tag; nur über internationale Apotheke zu beziehen) oder Lithium eingesetzt. Letztere inhibieren die ADH-Wirkung am Sammelrohr [11]. Bei schwerer Hyponatriämie mit neurologischen Symptomen ist aufgrund der Dringlichkeit initial und nur bis zu einem Serumnatriumwert von 120 mmol/l die Gabe von 3%iger Kochsalzlösung, ggf. in Kombination mit einem Schleifendiuretikum, erforderlich. 1–2 ml/kg Körpergewicht pro Stunde einer 3%igen NaCl-Lösung erhöhen die Natriumkonzentration im Serum um 1–2 mmol/l. Zu Ausgleichsgeschwindigkeit und Risiken siehe S. 177. Eine neue Therapiemöglichkeit stellen in Zukunft voraussichtlich Aquaretika wie Tolvaptan und Lixivaptan dar, die über eine Blockierung der V2-Rezeptoren für ADH in der Niere zur Ausscheidung von Wasser ohne gleichzeitigen Elektrolytverlust führen [6, 8].
Fallbeispiel Eine seltene Ursache einer Hyponatriämie im Alter (nach [10]). Ein 93-jåhriger Mann wird innerhalb von 18 Monaten mehrfach stationår und ambulant wegen Gewichtsverlust, Ûbelkeit und Erbrechen untersucht. Klinisch besteht eine Exsikkose. Im Serum fållt wiederholt eine Hyponatriåmie mit Werten zwischen 121 und 134 mmol/l und teilweise auch eine Hyperkaliåmie mit Werten zwischen 5,0 und 5,8 mmol/l auf. Mehrere Gastroskopien sind ohne wegweisenden Befund. Medikamente nimmt er nicht ein. Das Thorax-CT, das wegen Verdacht auf ein SIADH durchgefçhrt wird, ist unauffållig. Mehrere morgendliche Kortisolwerte liegen im Normbereich. Unter symptomatischer Therapie (Flçssigkeitssubstitution, Antiemetika) bessert sich sein Zustand jeweils nur vorçbergehend. Nach einem håuslichen Kollaps wird er als Notfall dehydriert, abgemagert und mit niedrigem Blutdruck wieder aufgenommen. Die Haut ist jetzt leicht hyperpigmentiert. Ein ACTH-Kurztest fçhrt zu einem unzureichenden Kortisolanstieg bei gleichzeitig hohem Serum-ACTH. Das Abdomen-CT zeigt atrophierte, verkalkte Nebennieren. Unter Gabe von Hydrokortison und Fludrokortison und Infusion von NaCl 0,9% bessert sich sein Zustand rasch. Zwei Monate spåter hat er auch wieder Gewicht zugenommen.
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Teil III:
Geriatrisches Management
15 Geriatrische Rehabilitation
Definitionen Nach der Definition der WHO schließt Rehabilitation alle Maßnahmen ein, die darauf gerichtet sind zu verhüten, dass eine Fähigkeitsstörung eine Beeinträchtigung verursacht, außerdem alle Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, das Ausmaß von Fähigkeitsstörungen oder Beeinträchtigungen zu verringern [37] (siehe Kap. 2 und 4). Damit gründet jede Form von Rehabilitation auf dem Konzept der ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps) bzw. der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, DIMDI/ www.dimdi.de). Dieses Konzept bildet auch die Grundlage für den Begriff und den Gegenstandsbereich der Rehabilitationswissenschaften [28]. Medizinische Rehabilitation ist ein wichtiger Bestandteil geriatrischer Versorgung. Das Ziel geriatrischer Rehabilitation besteht darin, eine Behinderung einschließlich Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern. Damit sind geriatrische Rehabilitationsziele die dauerhafte Wiedergewinnung, die Verbesserung oder der Erhalt der Selbstständigkeit bei den alltäglichen Verrichtungen („activities of daily living“, ADL; siehe Kap. 2). Ein konkretes Ziel wäre beispielsweise das Verbleiben in der Häuslichkeit, das durch die Verbesserung der Mobilität oder die Vermeidung bzw. Verringerung der Abhängigkeit von Pflegepersonen angestrebt wird. Alltagsrelevante Teilschritte (-ziele) könnten sein: z Erreichen der Stehfähigkeit, z Erreichen des Bett-Rollstuhl-Transfers, z Verbesserung der Rollstuhlfähigkeit, z Erreichen des Toilettengangs oder der selbstständigen persönlichen Hygiene, z selbstständige Nahrungsaufnahme, z selbstständiges An- und Auskleiden, z Gehfähigkeit über mehrere Treppenstufen, z Gehfähigkeit innerhalb der Wohnung, z Tagesstrukturierung [29].
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15 Geriatrische Rehabilitation
Gesetzliche Grundlagen Die Grundlagen für Leistungen medizinischer Rehabilitation sind die gesetzlichen Regelungen des SGB V und des SGB XI. Dabei gelten die Grundsätze „Rehabilitation vor Pflege“ 1 (§ 31 SGB XI) sowie „ambulant vor stationär“. Im Unterschied zur indikationsspezifischen Rehabilitation ist in der Regel die gesetzliche Krankenkasse Kostenträger für die geriatrische Rehabilitation. Leistungen der medizinischen Rehabilitation werden auf Antrag des Versicherten erbracht. Über die Leistung entscheiden die Krankenkassen nach Begutachtung des Antrags durch den MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung; siehe Kap. 4). Ambulante und stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind zuzahlungspflichtig (§ 40 Abs. 5 SGB V). Bei einer Anschlussrehabilitation – eine Leistung zur Rehabilitation, die in unmittelbarem Anschluss an eine Krankenhausbehandlung erfolgt – ist die Zuzahlungsdauer auf längstens 28 Tage je Kalenderjahr eingeschränkt. Als unmittelbar gilt, wenn die Leistung innerhalb von 14 Tagen nach einer Krankenhausbehandlung beginnt.
Voraussetzungen für geriatrische Rehabilitation 2004 traten die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (Rehabilitationsrichtlinien) in Kraft (§ 92 SGB V). Damit wurde ein standardisiertes Verfahren für die Beratung und Einleitung notwendiger Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im vertragsärztlichen Bereich geschaffen. Die „Arbeitshilfe zur geriatrischen Rehabilitation“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) gibt einen Überblick über die Verfahrensweise [3].
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Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ gilt auch dann, wenn ein älterer Mensch bereits als pflegebedürftig eingestuft wurde. Die Pflegekassen prüfen im Einzelfall, welche Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und welche ergänzenden Leistungen geeignet und zumutbar sind, um Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. Wird vonseiten der Pflegekasse festgestellt, dass im Einzelfall Leistungen zur medizinischen Rehabilitation angezeigt sind, teilt sie dies dem Versicherten und dem zuständigen Rehabilitationsträger unverzüglich mit. Die Pflegekassen unterstützen die Versicherten bei der Inanspruchnahme, insbesondere auch bei der Antragstellung.
Voraussetzungen für geriatrische Rehabilitation
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In Ergänzung zu den „Begutachtungs-Richtlinien Vorsorge und Rehabilitation“ des MDS (Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen) [14] wurden eine Begutachtungshilfe „Geriatrische Rehabilitation“ sowie „Rahmenempfehlungen zur ambulanten geriatrischen Rehabilitation“ [29] entwickelt. Diese enthalten neben Definitionen zum geriatrischen Patienten und zur geriatrietypischen Multimorbidität auch Indikationskriterien für die geriatrische Rehabilitation. Im Sinne der o. g. Rahmenempfehlungen ist ein geriatrischer Patient charakterisiert durch „geriatrietypische Multimorbidität und höheres Lebensalter (in der Regel 70 Jahre oder älter; Abweichungen von diesem strikten Kriterium sind möglich, bedürfen jedoch der Begründung)“. Geriatrietypische Multimorbidität ist die Kombination von Multimorbidität und geriatrietypischen Befunden bzw. Sachverhalten. „Ein Patient ist multimorbide, wenn er multiple strukturelle oder funktionelle Schädigungen (nach ICIDH/ICF) bei mindestens zwei behandlungsbedürftigen Erkrankungen aufweist“ [3]. Behandlungsbedürftig in diesem genannten Sinn bedeutet, dass die aus diesen Erkrankungen entstehenden medizinischen Probleme während der Rehabilitation engmaschig ärztlich überwacht und bei der Therapie berücksichtigt werden müssen. Das „Geriatrietypische“ der Multimorbidität ist eine Kombination folgender Merkmalkomplexe sowie relativ hoher Risiken (siehe Teil II: Geriatrische Syndrome): z Immobilität, z Sturzneigung und Schwindel, z kognitive Defizite, z Inkontinenz (Harninkontinenz, Stuhlinkontinenz), z Dekubitalulzera, z Fehl- und Mangelernährung, z Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt, z Depression, Angststörung, z chronische Schmerzen, z Sensibilitätsstörungen, z herabgesetzte körperliche Belastbarkeit/Gebrechlichkeit, z starke Sehbehinderung, z ausgeprägte Schwerhörigkeit. Für das geriatrische Syndrom relevante Sachverhalte – außerhalb der Systematik der Schädigungen und Fähigkeitsstörungen nach ICIDH/ICF – sind: z Mehrfachmedikation (siehe Kap. 6), z herabgesetzte Medikamententoleranz, z häufige Krankenhausbehandlungen („Drehtüreffekt“). Typische antragsrelevante Hauptdiagnosen beim geriatrischen Patienten sind: z Zustand nach Schlaganfall, z Zustand nach hüftgelenknahen Frakturen,
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z Zustand nach operativer Versorgung mit Totalendoprothese von Hüfte oder Knie, z Zustand nach Gliedmaßenamputation bei peripherer arterieller Verschlusskrankheit oder diabetischem Gefäßleiden. Als spezifische Risiken sind benannt: z relativ hohes Risiko – gegenüber nichtgeriatrischen Patienten – der Einschränkung der Selbstständigkeit im Alltag bis hin zur Pflegebedürftigkeit, z relativ hohes Risiko – gegenüber nichtgeriatrischen Patienten – von Krankheitskomplikationen (Thrombosen, interkurrente Infektionen, Frakturen, verzögerte Rekonvaleszenz u. a.). Maßnahmen der Rehabilitation zeichnen sich aus durch: z Individualität (individueller Behandlungsplan), z Komplexität (Komplexbehandlung unter Einbezug verschiedener Therapieformen), z Interdisziplinarität (Rehabilitationsteam). Drei weitere Begriffe sind im Zusammenhang mit der Indikationsstellung zu nennen und werden im Folgenden erläutert.
z Rehabilitationsbedürftigkeit Rehabilitationsbedürftigkeit besteht, wenn aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Schädigung z voraussichtlich nicht nur vorübergehende alltagsrelevante Beeinträchtigungen der Aktivitäten vorliegen, durch die in absehbarer Zeit Beeinträchtigungen der Teilhabe drohen oder z Beeinträchtigungen der Teilhabe bereits bestehen und z über die kurative Versorgung hinaus ein mehrdimensionaler und interdisziplinärer rehabilitativer Ansatz erforderlich ist. Entsprechende Beeinträchtigungen der Aktivitäten sind beispielsweise die Selbstversorgung, die Fortbewegung, das Verhalten (z. B. Folgen vorübergehender Verwirrtheit) und die Kommunikation.
z Rehabilitationsfähigkeit Der Begriff der Rehabilitationsfähigkeit bezieht sich auf die somatische und psychische Verfassung des Rehabilitanden (Motivation/Motivierbarkeit und Belastbarkeit) für die Teilnahme an einer geeigneten Rehabilitation.
Voraussetzungen für geriatrische Rehabilitation
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Im Unterschied zu Patienten, für die eine indikationsspezifische Rehabilitation infrage kommt, zeichnen sich geriatrische Patienten vor allem durch größere Hilfsbedürftigkeit aus und verfügen in der Regel über eine geringere Belastbarkeit. Geriatrische Rehabilitationsfähigkeit ist normalerweise dann gegeben, wenn z die vitalen Parameter stabil sind, z Begleitkrankheiten, Schädigungen und typische Komplikationen vom ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Personal behandelt werden können und z die kardiopulmonale Stabilität sowie die physische und psychische Belastbarkeit erlauben, dass Patienten mehrmals täglich aktiv an rehabilitativen Therapien teilnehmen. Rehabilitationsfähigkeit ist nicht gegeben bei z fehlender Zustimmung, Motivation und Motivierbarkeit des Patienten, z fehlender oder nicht ausreichender Belastbarkeit, die eine aktive Teilnahme an Therapien verhindert, z Stuhlinkontinenz, wenn diese Symptom einer weit fortgeschrittenen geistigen und körperlichen Erkrankung ist, sowie z schweren psychischen Störungsbildern, die z. B. mit gravierender Desorientiertheit, akuter Wahnsymptomatik oder Weglauftendenz einhergehen. Aufgrund der epidemiologischen Veränderungen wird der Anteil älterer Patienten, die zusätzlich an einer demenziellen Erkrankung (Komorbidität) leiden, zunehmen. Abhängig vom Schweregrad werden gezielte physio- und ergotherapeutische Behandlungen durch eine demenzielle Erkrankung in der Regel erschwert. Dann bedarf es des besonderen Einfühlungsvermögens und größerer Flexibilität der Therapeuten. Außerdem müssen die Behandlungen in besonderem Maß an der Alltagsrelevanz orientiert sein. Eine Metaanalyse von Studien zur Physiotherapie bei älteren Patienten mit kognitiven Leistungseinschränkungen kam zu dem Ergebnis, dass sowohl körperliche als auch kognitive Funktionen und Verhaltensparameter auch bei diesen Patienten positiv beeinflusst werden [9]. Im Rahmen der Behandlung kognitiver Störungen kann geeignetes Training des semantischen Gedächtnisses bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung frustrierend sein. Allerdings können über drei Monate anhaltende Verbesserungen durch intensives Training unter gleichzeitiger medikamentöser Therapie mit Acetylcholinesterasehemmern erreicht werden. Noch günstiger ist möglicherweise das Potenzial bei Training prozeduraler, d. h. vor allem motorische Abläufe betreffender Gedächtnisvorgänge bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung, da die verantwortlichen Hirnareale erst im späteren Krankheitsverlauf betroffen werden. Die grundlegende Ablehnung von kognitiver Therapie erscheint jedenfalls nicht berechtigt.
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z Rehabilitationsprognose Die Rehabilitationsprognose ist eine medizinisch begründete Wahrscheinlichkeitsaussage auf der Basis der Erkrankung, des bisherigen Verlaufs und der Rückbildungsfähigkeit unter Beachtung und Förderung der persönlichen Ressourcen (Rehabilitationspotenzial) für die Erreichbarkeit eines festgelegten Rehabilitationszieles [14]. Die positive Rehabilitationsprognose ist anzunehmen, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien zutrifft: z Beseitigung/Verminderung alltagsrelevanter Beeinträchtigungen der z Aktivitäten/Teilhabe durch Verbesserung der Selbsthilfefähigkeit ist erreichbar, z Kompensationsmöglichkeiten zur Alltagsbewältigung sind mit Aussicht auf nachhaltigen Erfolg anzuwenden/trainierbar oder z aussichtsreiche Adaptionsmöglichkeiten sind vorhanden und nutzbar. Der unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren anzustrebende Grad der Selbstständigkeit ergibt sich aus der Alltagskompetenz in den Grundbedürfnissen, die vor Auftreten der Beeinträchtigung der Aktivitäten und der Teilhabe bestand. Dies begründet die aktuelle Rehabilitationsbedürftigkeit.
Formen geriatrischer Rehabilitation Geriatrische Rehabilitationsbehandlung wird in drei verschiedenen Behandlungssettings vorgehalten: stationär, teilstationär und als ambulante geriatrische Rehabilitation (AGR). Ausführungen zum stationären Bereich und zum interdiszipliären Team, das in allen drei Organisationsformen tätig ist, wurden bereits in Kap. 4 dargelegt. Im Folgenden wird deshalb auf die Geriatrische Tagesklinik und Formen der AGR eingegangen. Beide Organisationsformen fallen unter den Begriff „ambulante medizinische Rehabilitation“ [29]. In einem 2003 vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Verzeichnis sind geriatrische Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen in Deutschland u. a. spezifiziert mit ihrem jeweiligen Behandlungsspektrum aufgeführt [4].
z Geriatrische Tagesklinik Tageskliniken stellen die teilstationären Behandlungs- und Rehabilitationsangebote der Geriatrie dar. Im letzteren Fall, als ausschließliche klinische Einrichtung der Rehabilitation, muss vor Aufnahme eines Patienten die Kostenzusage durch die Krankenkasse vorliegen (siehe Kap. 4). In der Ta-
Formen geriatrischer Rehabilitation
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gesklinik erhalten Patienten eine umfassende Diagnostik (geriatrisches Assessment) und Behandlung, die der stationären Situation prinzipiell entspricht. Der Unterschied zur vollstationären Behandlung besteht darin, dass sich die betreffenden Patienten abends sowie an Wochenenden und Feiertagen zuhause befinden. Entsprechend gelten prinzipiell identische Indikationen für eine tagesklinische Behandlung, mit der Bedingung, dass die Versorgung zuhause gewährleistet und Transportfähigkeit des Patienten gegeben ist. Die Patienten werden morgens vom Wohnort abgeholt und am Nachmittag dorthin zurückgebracht, in der Regel durch einen von der Klinik selbst organisierten bzw. durch sie beauftragten Transportdienst. Auch rollstuhlabhängige Patienten sind hiervon nicht ausgenommen (Einsatz spezieller Fahrzeuge mit Hubeinrichtung zum Rollstuhltransport). Aufgrund der vorgehaltenen aktivierend-pflegerischen und therapeutischen Kapazität kann in einer Tagesklinik nur eine hierdurch bestimmte maximale Anzahl von „Rollstuhlfahrern“ behandelt werden. Durch die Entfernung der Tagesklinik vom Wohnort der Patienten ist eine „logistische“ Begrenzung ihres möglichen Einzugsgebiets vorgegeben, da die Fahrtzeit – zu normalen Verkehrsbedingungen – maximal 45 min nicht überschreiten sollte bzw. den Patienten auch nicht zumutbar ist. Die Entwicklung von Tageskliniken reicht in die 1940er Jahre zurück. 1946 entstand in Montreal, Kanada, die erste Tagesklinik für psychiatrische Patienten, später entwickelten sich dann auch spezielle gerontopsychiatrische Tagesspitäler. In Oxford (Großbritannien) entstand 1952 das erste geriatrische Tageshospital. Anfang der 1970er Jahre gab es in England bereits über 100 Tageskliniken [5], während die erste geriatrische Tagesklinik in der Bundesrepublik Deutschland erst Anfang 1978 in Frankfurt Höchst/ Main eröffnet wurde. Vorteile der teilstationären Behandlung bestehen in der ausgesprochenen „Alltagsnähe“, die auf zuhause praktisch auftretende Probleme gezielt und zeitnah eingehen kann. Stationäre Rehabilitation findet größtenteils in einem relativ „artifiziellen“ Rahmen mit behindertengerechten Bädern, Toiletten, Übungsküchen etc. statt. Die „Nagelprobe“ jeder rehabilitativen Behandlung besteht allerdings darin, dass der Patient ja wieder in seinem persönlichen Wohn- und Lebensbereich „zurechtkommen“ soll oder muss. Behindertengerechte Verhältnisse in Wohnungen bzw. Häusern älterer Menschen sind indes noch eher die Ausnahme als die Regel. Ein aus klinisch-geriatrischer sowie gerontologischer Sicht bedeutsamer Vorteil der geriatrischen Tagesklinik besteht also einerseits in der aktiven Aufrechterhaltung sozialer Kompetenz und andererseits in der Nutzung der gesamten diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten einer geriatrischen Klinik. Insbesondere funktionell höhergradig beeinträchtigte Patienten (z. B. mit ausgeprägten Apraxien, Wahrnehmungs- oder Orientierungsstörungen) profitieren von der alltagsrelevant übenden Ablauf- und Tagesstrukturierung sowie der in einer Tagesklinik ausgeübten aktivierend-therapeutischen Pflege (z. B. wichtig für das Blasentraining, siehe Kap. 9). Die Ablauf- bzw. Tagesstrukturierung ist in anderen ambulanten Settings nicht
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bzw. nicht mehr gegeben oder kann nicht unbedingt gewährleistet werden. Neben diesen therapeutischen Vorteilen geht eine tagesklinische Komplexbehandlung mit der Vermeidung oder Verkürzung kostenintensiverer stationärer Behandlungszeiten einher. Sie stellt deshalb eine zu Recht etablierte „wohnortnahe“ Form geriatrischer Versorgung bzw. Rehabilitation für hierfür geeignete Patienten dar, die eines vollstationären Settings nicht oder nicht mehr bedürfen [24]. Die Ergebnisse von Untersuchungen zu verschiedenen Aspekten der Effizienz der tagesklinischen Behandlung sind uneinheitlich [5, 7], jedoch wegen unterschiedlich selektierter Patientengruppen sowie schwerpunktmäßiger Betrachtung bestimmter Teilaspekte auch schwierig zu interpretieren. Ein Beispiel für eine ausgesprochen erfolgreiche, randomisiert-kontrollierte Intervention im Rahmen einer tagesklinischen Routineversorgung in London (PROFET-Studie) ist die hierdurch erreichte Reduktion von Stürzen bei kognitiv nicht beeinträchtigten Patienten [6]. Eine Überlegenheit der tagesklinischen Versorgung verglichen – mit anderen Formen ambulanter Versorgung, die ebenfalls auf umfassender Konzeption (umfassende geriatrische Beurteilung und interdisziplinärer Behandlungsansatz mit definierten Zielen) beruhen – ist auf der Grundlage entsprechender Studien nicht belegt. Jedoch existiert Evidenz dafür, dass die tagesklinische Versorgung wirksamer ist als eine übliche, d. h. nicht umfassende ambulante Versorgung [8]. Dies stützt die Sinnhaftigkeit des Konzepts systematischen und umfassenden, d. h. multiprofessionellen Vorgehens geriatrischer Medizin (siehe Kap. 4).
z Ambulante geriatrische Rehabilitation Sehr wenige ambulante Organisationsformen geriatrischer Rehabilitation wurden bislang im Rahmen von Modellversuchen in Betrieb genommen. Zwei Formen können unterschieden werden. Im einen Modellansatz sucht ein mobiles Rehabilitationsteam mit Anbindung an eine geriatrische Klinik seine Patienten an deren Wohnort auf, um sie eben dort auch zu behandeln. Der andere Modellansatz sieht vor, dass geeignete Patienten in eine klinisch-geriatrische Einrichtung kommen, um dort in einer speziellen Abteilung für ambulante geriatrische Rehabilitation (AGR) entsprechend komplex behandelt zu werden. Zu beiden Organisationsformen sind bislang neben Beschreibungen der Modellversuche lediglich erste empirische Daten veröffentlicht worden [18, 27]. Neben Anforderungen für Einrichtungen der AGR an die personelle Besetzung, an erforderliche Qualifikationen, zur Strukturqualität sowie zur apparativen Ausstattung, zu der auch Geräte der medizinischen Trainingstherapie zählen (Muskel- bzw. Krafttraining, siehe Kap. 7), wurden Empfehlungen für die Indikationsstellung formuliert [29]. Grundlagen für die Beurteilung sowie für die Befund- und Behandlungsverlaufsdokumentation sind Assessment-Verfahren (siehe Kap. 4 und 16). Vor dem Beginn einer
Geriatrische Rehabilitation am Beispiel von Schlaganfallpatienten
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ambulanten geriatrischen Rehabilitationsbehandlung muss, wie üblich für den Bereich der Rehabilitation, die Kostenzusage vorliegen, über die von der zuständigen Krankenkasse nach erfolgter Begutachtung des Rehabilitationsantrags durch den MDK entschieden wird.
Geriatrische Rehabilitation am Beispiel von Schlaganfallpatienten z Schlaganfallhäufigkeit im höheren Lebensalter Der Schlaganfall ist eine Erkrankung mit hoher Inzidenz (Neuerkrankungsrate), langfristigen funktionellen Einschränkungen für die Mehrzahl der Betroffenen und damit auch großer volkswirtschaftlicher Bedeutung (siehe Kap. 17). Gemäß verschiedener Erhebungen ereignen sich in Deutschland jährlich 185 000–220 000 erste Schlaganfälle [35]. Die Prävalenzrate von Erstund Rezidivschlaganfällen wird auf 500–800 Personen pro 100 000 Einwohner geschätzt. Hiervon leiden ca. zwei Drittel an den Folgen eines ischämischen Hirninfarkts. Die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls steigt mit zunehmendem Lebensalter deutlich an. Während die Inzidenzrate bei 60- bis 64-Jährigen zwischen 200 und 400 pro 100 000 Personen liegt, beträgt sie bei über 75-jährigen Menschen deutlich über 1000 pro 100 000 Personen [16]. Zur Pathophysiologie und zum Krankheitsbild des Schlaganfalls wird auf Lehrbücher der Neurologie verwiesen. Auch bei über 65-jährigen Patienten sind „klassische Risikofaktoren“ wegbereitend. Insbesondere absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern, vorangegangene transitorische ischämische Attacken (TIA; zerebrale Durchblutungsstörungen), Rauchen, kardiovaskuläre Erkrankungen und arterielle Hypertonie erhöhen das Risiko älterer Menschen, einen Schlaganfall zu erleiden [26].
z Rehabilitation älterer Schlaganfallpatienten Obwohl bei Patienten mit einem Schlaganfall ein höheres Lebensalter mit größerer Wahrscheinlichkeit für einen ungünstigen Verlauf mit höherer Mortalität und Aussicht auf geringere funktionelle Verbesserungen verknüpft ist [25, 35, 36], belegt eine steigende Zahl von Studien die Wirksamkeit der Rehabilitationsbehandlung älterer Patienten [1, 15, 17, 20, 33]. Systematisches Assessment, koordinierte Zusammenarbeit des interdisziplinären Teams mit individuell zielorientierten therapeutischen Maßnahmen sowie auch die sehr wichtige proaktive Erfassung und die frühzeitige Behandlung von Komplikationen sind essenzielle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung [10, 11, 23].
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Für die rehabilitative Behandlung von Schlaganfallpatienten ist ein interdisziplinäres Team erforderlich [19]. Für die Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen liegen mittlerweile ebenfalls fundierte Belege vor, wenngleich hierzu weiterhin ein großer Forschungsbedarf besteht [2, 21, 30, 31]. Die Behandlung von Schlaganfallpatienten ist aus den genannten Gründen besonders personalintensiv und teuer [34]. Insbesondere Kostenaspekte treiben deshalb die Suche nach kostengünstigen Behandlungsformen voran [32]. Hierbei spielen teilstationär und ambulant organisierte Rehabilitationsformen (s. o.) eine Rolle. Die Herausforderung besteht darin, dass die in einem gestuften System für die unterschiedlichen Behandlungsformen geeigneten Patienten diese auch erhalten und gemäß ihrem Rehabilitationspotenzial behandelt werden können. Auch die Etablierung von sog. „clinical pathways“, die Gestaltung klinischer Versorgungsprozesse gemäß evidenzbasierter Erkenntnisse, ist ein weiteres Forschungsgebiet. Bislang liegen Erkenntnisse über die Beziehung zwischen Prozessen und Behandlungsergebnissen bei Schlaganfallpatienten nur begrenzt vor und sind widersprüchlich [12, 13]. Aufgrund von Kostendruck und Verweildauerverkürzung sollte es nicht zu Qualitätseinbußen der Behandlung bei älteren Patienten kommen.
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Gründe für die Beschäftigung mit Qualitätsfragen Die Begriffe Qualität, Qualitätsmanagement, Qualitätssicherung, Effektivität und Effizienz wurden während der letzten Jahre zu zentralen gesundheitspolitischen Themen und Schlagworten. Wegen geringer werdender Finanzmittel ist die Qualität medizinischer Versorgungsleistungen zunehmend zur Diskussion und zu Recht auch auf den Prüfstand gekommen. Vorhandene Mittel müssen optimal eingesetzt werden – ohne nachträgliche Auswirkungen auf die Qualität der Versorgung. Auch aus diesem Grund ist es notwendig, die Wirksamkeit medizinischer Versorgung im höheren und hohen Lebensalter intensiver als bisher zu erforschen. Der Zweck ist letztlich, klinische Entscheidungen zum Nutzen des Einzelnen auf der Grundlage wissenschaftlich bestmöglich abgesicherten Wissens treffen zu können. Zwischen Effektivität (wirksame Behandlung) und Effizienz (kostengünstigste Behandlung), zwischen medizinischen und ökonomischen Belangen also, wird medizinische Qualitätssicherung als „objektiver Interessensausgleich“ gesehen [8]. Die Beschäftigung mit Qualitätsfragen geschieht also einerseits unter Gesichtspunkten der Kosten, andererseits sind auch übergreifende gesundheitspolitische Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Mit Augenmerk auf die Versorgung der älteren Bevölkerung zählen hierzu z. B. Intentionen bzw. gesetzliche Vorgaben wie „Rehabilitation vor Pflege“ und „ambulant vor stationär“. Die Verpflichtung zur Qualitätssicherung ist bereits berufsrechtlich und seit 1993 durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) und das Sozialgesetzbuch (SGB V §§ 135–139) vorgeschrieben. Die Erbringer ambulanter Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen sowie stationärer Leistungen im Krankenhaus (nach §108 SGB V) oder in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen (nach § 111 SGB V) sind verpflichtet, sich an Maßnahmen zur Qualitätssicherung zu beteiligen. Hiermit sind Maßnahmen der externen, d. h. betriebsvergleichenden Qualitätssicherung (Benchmarking) gemeint. Durch die gesetzlichen Auflagen zur Erstellung von Qualitätsberichten für Einrichtungen im Gesundheitswesen und den Trend zur Zertifizierung von Kliniken werden mittelfristig alle Einrichtungen im Gesundheitswesen und damit natürlich auch deren Mitarbeiter mit Qualitätsmanagement-Systemen wie beispielsweise dem EFQM-Modell (European Foundation for
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Quality Management) oder Zertifizierungen z. B. nach DIN ISO oder KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen) in Berührung kommen. Weitere Gründe für die Notwendigkeit, sich mit Qualitätsfragen zu beschäftigen, sind u. a. auch spektakuläre Behandlungsskandale, verändertes Patientenverhalten mit steigenden Erwartungen an Güte und modernsten Stand der Behandlung, wirtschaftliche Faktoren (z. B. wachsender Wettbewerbsdruck unter privatisierten Einrichtungen im Gesundheitswesen) und rascher Wissenszuwachs (z. B. sehr kurze Innovationszeiten bei neuen Methoden). Es ist auf Dauer nicht absolut auszuschließen, dass kranke alte Menschen gefährdet sind, bei wachsendem Kostendruck diskriminiert (herabgesetzt) zu werden aufgrund der Annahme, sie verursachten überhaupt nur noch Kosten.
Definitionen Bevor auf Entwicklungen zur Qualitätssicherung im Bereich geriatrischer Versorgung eingegangen wird, sollen einige Begriffe im Zusammenhang mit Qualitätsmanagement erwähnt und erläutert werden. z Qualität. Qualität ist die Gesamtheit der Merkmale bezüglich ihrer Eignung, festgelegte und vorausgesetzte Erfordernisse zu erfüllen (DIN EN ISO-Norm 8402). z Qualität in der medizinischen Versorgung. Versorgungsqualität ist der Grad, in welchem Gesundheitsleistungen für Einzelne oder ganze Bevölkerungen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass angestrebte Ergebnisse unter Anwendung des derzeitigen professionellen Wissens erreicht werden (Quality of care, Institute of Medicine, 1990). z Qualitätssicherung ist ein Teil des Qualitätsmanagements, der Vertrauen darauf erzeugen und sichern soll, dass Qualitätsanforderungen erfüllt werden. Unterschieden werden externe Qualitätssicherung (externe Qualitätsbeurteilung oder Qualitätsvergleiche) und interne Qualitätssicherung (Nutzung institutsinterner Qualitätsmaßstäbe). z Qualitätsmanagement. Dies sind alle Tätigkeiten des Gesamtmanagements, die im Rahmen des Qualitätssystems Qualitätspolitik, -ziele und -verantwortungen festlegen sowie diese durch Qualitätsplanung, -lenkung, -sicherung und -verbesserung verwirklichen (DIN EN ISO 8402).
Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität
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Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität Die Operationalisierung des Qualitätsbegriffs von Donabedian [3] für die Pflege und Medizin führt zu den folgenden drei Dimensionen: z Versorgungsstruktur (Strukturqualität), z Behandlungsprozess (Prozessqualität), z Behandlungsergebnis (Ergebnisqualität). Strukturstandards 1 für geriatrische und gerontopsychiatrische Einrichtungen sind 1995 von einer Expertenkommission der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie erstellt worden [4]. Angaben zu den Voraussetzungen der Arbeit in geriatrischen Abteilungen bezüglich Struktur- und Prozessqualität wurden von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Klinisch-Geriatrischen Einrichtungen e.V. (Bundesverband Geriatrie) veröffentlicht [12]. Merkmale der Strukturqualität betreffen die Räumlichkeiten, die apparativ-technische Ausstattung und die Stellenpläne sowie die beruflich-fachliche Qualifikation der Mitarbeiter (siehe Kap. 4). Beispielsweise ist in geriatrischen Abteilungen der Flächenbedarf im Funktionsbereich der Pflege um 20–25% höher als sonst üblich im Krankenhaus. Dies trägt dem überdurchschnittlich hohen Behinderungsgrad hier behandelter Patienten (notwendige Zugänglichkeit des Krankenbettes von beiden Seiten) sowie dem häufigen Einsatz von Hilfsmitteln, insbesondere Mobilitätshilfen, Rechnung. Merkmale der Prozessqualität ergeben sich aus dem geriatrischen Diagnostik- und Behandlungskonzept, das multidimensional und interdisziplinär auf dem Assessment-Prozess gründet (siehe Kap. 4). Dies stellt organisatorische Anforderungen an Dokumentation und Kommunikation aller an diesem Prozess Beteiligten. Für die Dokumentation werden in der Regel von den einzelnen Berufsgruppen eigene Befundbögen verwendet. Zusammen mit diagnostischen Ergebnissen bildet diese Dokumentation die Grundlage für die Behandlungsplanung und die Beurteilung der Ergebnisse. Zusätzlich werden die Behandlungsmaßnahmen dokumentiert. Bestandteil der abschließenden Beurteilung des Behandlungsergebnisses (Ergebnisqualität) ist in der Regel der Vergleich (Differenz) von funktionellem Ausgangs- und Endbefund.
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Ein Standard ist das Kriterium und die Angabe des Erfüllungssolls, also in der Regel die maßgebliche Aussage über minimal akzeptable Versorgungsprozesse und Versorgungsergebnisse.
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Qualitätssicherungsinstrumente in der Geriatrie Voraussetzung für die Qualitätssicherung ist die Verwendung standardisierter Dokumentationsverfahren, die eine Vergleichbarkeit herstellen. Hierfür können Assessmentinstrumente herangezogen werden. Die Durchführung von Basis-, Verlaufs- und Abschlussdokumentation für sich genommen stellt jedoch noch keine Qualitätssicherung dar. Diese Dokumentationen sind lediglich die notwendige Grundlage für eine Qualitätssicherung. Qualitätsindikatoren für den Bereich geriatrischer Versorgung sind bislang in Deutschland noch nicht allgemeingültig definiert worden. Unter einem Indikator versteht man ein quantitatives Maß, dessen Ausprägung oder Vorhandensein die gesundheitliche Versorgung (in der Regel wertfrei) beschreibt oder abbildet. Ein Beispiel für einen Indikator ist die Rate erfasster nosokomialer Infektionen. Von 2004 bis 2006 arbeiteten 23 geriatrische Kliniken in Deutschland im Verbund eines gemeinsamen Forschungsvorhabens zusammen (GEMIDAS-QM: Benchmarking in der geriatrischen Patientenversorgung) [5]. Das übergeordnete Ziel dieses Modellprojekts war eine Verbesserung der Ergebnisqualität durch Erreichen einer gezielten Optimierung definierter Problembereiche im Rahmen stationärer Behandlung.
z Qualitätssicherungsinstrumente Derzeit werden in Deutschland im Bereich der geriatrischen Rehabilitation sieben standardisierte Verfahren der externen Qualitätssicherung eingesetzt [10]. Dabei handelt es sich um fünf fallbezogene Evaluationsverfahren und zwei einrichtungsbezogene Verfahren. Die Schwerpunkte der einrichtungsbezogenen Verfahren (Qualitätssiegel Geriatrie) liegen in den Qualitätsdimensionen Struktur und Prozess. Das Qualitätssiegel Geriatrische Rehabilitation in Rheinland-Pfalz ist ein Akkreditierungsverfahren durch den MDK Rheinland-Pfalz, der Landesverbände der Krankenkassen und der geriatrischen Rehabilitationseinrichtungen des Landes. Das Qualitätssiegel Geriatrie des Bundesverbandes Geriatrie ist eine spezifische Ergänzung und kann nur erworben werden, wenn bereits ein allgemeines Gütesiegel (z. B. KTQ) erteilt oder ein vollständiges EFQM-Assessment durchlaufen wurde. Es ist ein zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie erarbeitetes Zertifizierungsverfahren. Das Geriatrische Minimum Data Set (GEMIDAS) des Bundesverbandes Geriatrie (ehemals Bundesarbeitsgemeinschaft der Klinisch-Geriatrischen Einrichtungen e. V.) enthält demographische Stammdaten, Rahmendaten zur Behandlungsform, Hauptdiagnose und relevante Nebendiagnosen sowie Informationen zum funktionellen Status [2]. Die Kliniken, die an diesem
Qualitätssicherungsinstrumente in der Geriatrie
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Programm teilnehmen, senden ihre erhobenen Daten an die zentral auswertende Stelle. Von dort erhalten sie dann die Auswertungen, die die eigenen Daten im Vergleich der Gesamtdaten darstellen. Das Programm steht allen geriatrischen Krankenhaus- und Rehabilitationseinrichtungen offen, bundesweit sind über 80 Kliniken beteiligt, davon ca. 25% Rehabilitationseinrichtungen. Jährlich werden etwa 70 000 Datensätze geliefert. In Hessen wurde 1999 das GEMIDAS-Programm obligatorisch für alle klinisch-geriatrischen Einrichtungen des Landes eingeführt [6]. Im Freistaat Bayern wird in geriatrischen Kliniken eine Datenerhebung mittels der „Geriatrie in Bayern Datenbank, GIB-DAT“ (http://www.gibdat.de) durchgeführt, die 2000 begann und von der Ärztlichen Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Geriatrie in Bayern e. V. (AFGIB) getragen wird [1]. Grundlage dieser Datenbank sind Bestandteile des GEMIDAS-Programms sowie weitere Daten, die z. T. optional erhoben werden und Assessment-Instrumente beinhalten. Jährlich werden ca. 24 000 Datensätze geliefert. Die Datenauswertung erfolgt über einen Datenbeauftragten unter Aufsicht der AFGiB [15, 16]. Im Jahr 2002 haben sich neurologische und geriatrische Rehabilitationskliniken in Rheinland-Pfalz zu einem Benchmark-Verbund zusammengeschlossen [13, 14]. Daraus entstand EVA-Reha®, ein seit 2004 obligatorisch verwendetes Verfahren, das gemeinsam vom MDK Rheinland-Pfalz, den Krankenkassenverbänden und den Arbeitsgemeinschaften der neurologischen und geriatrischen rehabilitativen Leistungserbringer des Landes entwickelt wurde. Die Daten werden vom MDK Rheinland-Pfalz ausgewertet. KODAS ist ein seit 2001 eingesetztes Verfahren der Landesarbeitsgemeinschaft der geriatrischen Rehabilitationskliniken Baden-Württembergs. Etwa 25 Kliniken nehmen teil und liefern ca. 3500 Datensätze pro Jahr. In Sachsen wird seit 2000 eine Evaluation geriatrischer Rehabilitationseinrichtungen anhand eines definierten Rasters vorwiegend administrativer Daten durchgeführt. Ein Schwerpunkt liegt auf der systematischen Erhebung komplizierender Faktoren bzw. die Rehabilitation beeinträchtigende Probleme. Für den Bereich stationärer Pflege in Altenpflegeheimen existiert ein Assessment-Instrument zur Beurteilung von Heimbewohnern, das seit 1989 in den USA gesetzlich vorgeschrieben ist. Es muss in allen Heimen durchgeführt werden, in denen Bewohner leben, die über Medicare bzw. Medicaid finanziell unterstützt werden. Auf Initiative der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart, und des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA), Köln, wurde dieses Assessment-Instrument, das sog. Resident Assessment Instrument (RAI), für Deutschland verfügbar gemacht [9]. Es ist ein multidisziplinäres und pflegekoordiniertes Instrument, das aus vier Teilen besteht: z Minimum Data Set (MDS), z Hinweise auf geriatrische Problembereiche, z spezielle Abklärungshilfen zum weiteren Vorgehen bei identifizierten Problemen (Resident Assessment Protocol, RAP), z Kostenanalyse (Resource Utilization Groups, RUG).
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Im Bereich der ambulanten und stationären Pflege prüft der MDK im Auftrag der Landesverbände der Pflegekassen die Qualität in Form von Einzel-, Stichproben- und vergleichenden Prüfungen. Die Prüfungen erstrecken sich auf die Qualität, Versorgungsabläufe, die Ergebnisse der Leistungen sowie deren Abrechnung. Gemessen an der Anzahl aller Qualitätsprüfungen in ambulanten und stationären Pflegediensten im Jahr 2006 lag die Prüfquote auf Bundesebene bei ca. 13,5% bzw. 24,4% [11]. Grundlage der Bewertung bei der Ergebnisdarstellung einer angemessenen Versorgung in der Pflege sind die gemeinsamen Grundsätze und Maßstäbe nach § 80 SGB XI sowie die MDK-Anleitungen zur Prüfung der Qualität. Identifizierte Problembereiche betrafen 2006 im Bereich der ambulanten Pflege die Dekubitusprophylaxe, die Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, die Inkontinenzversorgung sowie die angemessene Versorgung von Personen mit gerontopsychiatrischen Beeinträchtigungen; im stationären Bereich zusätzlich den Umgang mit freiheitseinschränkenden Maßnahmen sowie den Umgang mit Medikamenten [11]. Interne Qualitätssicherungsmaßnahmen führten 2006 70,9% der ambulanten und 89,6% der stationären Pflegeeinrichtungen durch.
Externe Qualitätssicherung am Beispiel Dekubitusprophylaxe Als Beispiel für ein wirksames System externer Qualitätssicherung im Bereich der Versorgung vorwiegend alter Patienten soll das Programm zur Erfassung der Prävalenz und Inzidenz von Dekubitalgeschwüren in Hamburg genannt werden. Dekubitus ist ein vordringliches Pflegeproblem in allen Bereichen der Versorgung älterer Menschen (siehe Kap. 7). Sowohl in Krankenhäusern als auch im Bereich ambulanter und stationärer Pflege werden diesbezügliche Daten durch die EQS (Externe Qualitätssicherung) bzw. durch die Geschäftsstelle equip (externe Qualitätsimpulse für die Pflege) der Hamburgischen Pflegegesellschaft erhoben, ausgewertet und an die beteiligten Einrichtungen zurückgemeldet [7]. Zusammen mit begleitenden Qualitätssicherungsmaßnahmen hat diese seit 1999 kontinuierliche Erhebung bewirkt, dass die Prävalenz von Dekubitus insgesamt von knapp 8% auf unter 6% gesunken ist. Fazit: Die Bemühung um Verbesserung und Erhalt qualitativ guter Versorgung älterer Patienten im Rahmen von Qualitätsmanagement ist eine genuine ärztliche Aufgabe. Die Formulierung allgemein gültiger Qualitätsindikatoren für bestimmte Versorgungsbereiche ist aufgrund von Mehrfacherkrankungen und der daraus folgenden Erfordernis komplexer, interdisziplinär durchgeführter Behandlungen nicht einfach, aber notwendig. Qualitätssicherung ist deshalb auch weiterhin ein wichtiges Thema klinisch geriatrischer Forschung.
Literatur
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203
17 Pflegebedürftigkeit und Pflegeversicherung
Definitionen Pflegebedürftigkeit ist kein medizinischer, sondern ein sozialrechtlicher Begriff und wird in der sozialen Pflegeversicherung im § 14 Sozialgesetzbuch (SGB) XI folgendermaßen definiert: „Pflegebedürftige sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen.“ Der Antrag auf Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu einer Pflegestufe sind grundsätzlich Sache der zuständigen Pflegekasse. Der Antrag kann formlos von jedem Bürger, dessen Angehörigen, anderen Personen oder Institutionen gestellt werden, wenn der Eindruck von Pflegebedürftigkeit nach o. g. Definition besteht. Die Feststellung und Einstufung in eine Pflegestufe erfolgen auf Empfehlung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MDK) nach dessen Begutachtung. Grundlage für die Begutachtung durch den MDK sind die „Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des SGB in der Fassung vom 27. 8. 2001“. Entsprechend dieser Richtlinien ist Pflegebedürftigkeit regelmäßig kein unveränderbarer Zustand, sondern ein Prozess, der durch präventive, therapeutische bzw. rehabilitative Maßnahmen und durch aktivierende Pflege beeinflussbar ist [3]. In diesem Zusammenhang sind zwei Begriffe der Begutachtungsrichtlinie erwähnenswert. Der Begriff aktivierende Pflege ist dort folgendermaßen definiert: „Unter aktivierender Pflege ist eine Pflegepraxis zu verstehen, die die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Patienten fördert. Diese berücksichtigt ständig die Ressourcen des Patienten, so dass dieser unter Beaufsichtigung bzw. Anleitung selbst aktiv sein kann. Sie hat die Erhaltung bzw. Wiedergewinnung der Selbständigkeit des zu pflegenden Menschen im Rahmen des medizinisch und pflegerisch Notwendigen zum Ziel. Aktivierende Pflege setzt eine bestimmte Geisteshaltung der Pflegenden voraus, nämlich die Abkehr vom Bild des passiven, zu verwahrenden pflegebedürftigen Menschen. Sie hat eine nachvollziehbare Pflegedokumentation und -planung zur Voraus-
Definitionen
z
setzung. Die aktivierende Pflege soll gemeinsam mit den Rehabilitationsmaßnahmen dem Pflegebedürftigen helfen, trotz seines Hilfebedarfs eine möglichst weitgehende Selbständigkeit im täglichen Leben zu fördern, zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Dabei ist insbesondere anzustreben, z vorhandene Selbstversorgungsaktivitäten zu erhalten und solche, die verloren gegangen sind, zu reaktivieren, z bei der Leistungserbringung die Kommunikation zu verbessern, z dass geistig und seelisch Behinderte, psychisch Kranke und geistig verwirrte Menschen sich in ihrer Umgebung und auch zeitlich zurechtfinden.“ Die Definition des Begriffes pflegerisches Defizit lautet: „An ein pflegerisches Defizit ist insbesondere zu denken, wenn folgende Sachverhalte zutreffen bzw. Befunde zu erheben sind: z Hinweise auf mögliche Gewalteinwirkung, z nicht ärztlich verordnete Sedierung, z kachektischer und/oder exsikkotischer Allgemeinzustand, z unterlassene Pflegeleistung nach Einkoten und Einnässen, z Kontrakturen, z Dekubitalgeschwüre, z unterlassene Beaufsichtigung von geistig Behinderten oder umtriebigen Dementen (im Zusammenhang mit den definierten Verrichtungen), z Vernachlässigung der Körperhygiene, z verschmutzte Wäsche, z Vernachlässigung des Haushalts.“ Der für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit bzw. der Pflegestufe maßgebliche Hilfebedarf bei insgesamt 21 Verrichtungen der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) und hauswirtschaftlichen Versorgung (Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln/Waschen der Kleidung und Wäsche, Beheizen der Wohnung) ergibt sich aus z der individuellen Ausprägung von funktionellen Einschränkungen und Fähigkeitsstörungen durch Krankheit und Behinderung, z der individuellen Lebenssituation (Wohnverhältnisse, soziales Umfeld), z der individuellen Pflegesituation unter Zugrundelegung der Laienpflege. Die drei Pflegestufen sind folgendermaßen definiert:
z Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) In Körperpflege, Ernährung oder Mobilität ist mindestens bei zwei Verrichtungen aus diesen Bereichen täglich Hilfe erforderlich sowie mehrfach in einer Woche Unterstützung in der Hauswirtschaft. Der Zeitaufwand im Tagesdurchschnitt muss mindestens 90 min betragen, und davon müssen mehr als die Hälfte (> 45 min) auf die Grundpflege entfallen.
205
206
z
17 Pflegebedürftigkeit und Pflegeversicherung
z Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) Hilfe in Körperpflege, Ernährung oder Mobilität ist mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten und außerdem mehrfach pro Woche bei der hauswirtschaftlichen Versorgung erforderlich. Der tägliche Zeitaufwand muss mindestens 3 h betragen und hiervon mindestens 2 h für die Grundpflege.
z Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) Schwerstpflegebedürftige sind Personen, die bei der Körperpflege, Ernährung oder Mobilität täglich 24 h, also auch nachts, Hilfe und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand muss mindestens 5 h betragen, davon mindestens 4 h für die Grundpflege.
Leistungsarten der Pflegeversicherung Wenn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind und Pflegebedürftigkeit durch den MDK festgestellt ist, können pflegebedürftige Personen und deren Pflegepersonen folgende Leistungen erhalten:
z Leistungen bei häuslicher Pflege Es kann zwischen Sach- und Geldleistungen gewählt werden, ggf. ist auch eine Kombination beider Leistungen möglich (Tabelle 17.1). Bei den Sachleistungen werden die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Hilfe durch ambulante Pflegedienste durchgeführt, die Versorgungsverträge mit den Pflegekassen abgeschlossen haben. Geldleistungen werden den Versicherten zur Verfügung gestellt, wenn diese ihre Pflegehilfen (z. B. Angehörige, Freunde oder Nachbarn) selbst beschaffen. Bei außergewöhnlich hohem Pflegeaufwand, der das übliche Maß der Pflegestufe III übersteigt, können weitere Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von 1918 1 monatlich gewährt werden (Härtefallregelung). Voraussetzung dafür ist, dass die Hilfe bei der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung oder Mobilität) mindestens 6 Stunden täglich, davon mindestens dreimal in der Nacht, erforderlich ist. Bei Pflegebedürftigen in vollstationären Pflegeeinrichtungen ist dabei auch die auf Dauer bestehende medizinische Behandlungspflege zu berücksichtigen, oder die Grundpflege für den Pflegebedürftigen muss auch nachts nur von mehreren Pflegekräften gemeinsam (zeitgleich) erbracht werden können. Wenigstens bei einer Ver-
Leistungsarten der Pflegeversicherung
z
Tabelle 17.1. Ausgewählte Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung [2] Häusliche Pflege
Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Härtefall 1918,00
z Sachleistung bis zu . . . 1 mtl.
420,00
980,00
1470,00
z Geldleistung mtl. . . . 1
215,00
420,00
675,00
420,00 a 1470,00
675,00 a 1470,00
1279,00
1470,00
z Pflegevertretung Pflegeaufwendungen für bis zu 4 Wochen/ Jahr bis zu . . . 1 – durch nahe Angehörige 215,00 a – durch sonstige Personen 1470,00 z Vollstationäre Pflege Pflegeaufwendungen pauschal . . . 1 mtl. a
1023,00
1750,00
Auf Nachweis werden den nahen Angehörigen notwendige Aufwendungen (Verdienstausfall, Fahrtkosten usw.) bis zum Gesamtbetrag von 1432,00 1 erstattet
richtung tagsüber und des Nachts muss dabei neben einer professionellen mindestens eine weitere Pflegeperson tätig werden, die nicht bei einem Pflegedienst beschäftigt sein muss (z. B. Angehörige). Zusätzlich muss in jedem Fall ständige Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung erforderlich sein. Gemäß den Bestimmungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) können Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz nach entsprechend positiver Begutachtung zusätzlich 100 1 (Grundbetrag) oder bis zu 200 1 monatlich (erhöhter Betrag) an Zuschüssen (Entlastung der Pflegepersonen, zusätzliche Betreuungsangebote s. u.) erhalten. Anspruch darauf haben Pflegebedürftige der Pflegestufen I, II und III sowie Personen, die zwar im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung einen Hilfebedarf haben, der nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht, die jedoch einen auf Dauer bestehenden erheblichen Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung aufweisen. Für jene Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz in stationären Pflegeeinrichtungen haben die Einrichtungen Anspruch auf die Vereinbarung leistungsgerechter Zuschläge zur Pflegevergütung, wenn ein zusätzliches, über das normale Betreuungsangebot hinausgehendes Angebot der Betreuung und Aktivierung vorgehalten wird.
z Ersatz- und Verhinderungspflege Ersatzpflege kann auf Kosten der Pflegekassen für längstens 4 Wochen im Kalenderjahr in Anspruch genommen werden, wenn durch Urlaub, Krankheit oder andere Gründe die Pflegepersonen vorübergehend nicht zur Verfügung stehen.
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z
17 Pflegebedürftigkeit und Pflegeversicherung
z Pflegehilfsmittel Zur Erleichterung der häuslichen Pflege können Pflegehilfsmittel angewendet werden, deren Kosten von den Pflegekassen getragen werden können. Technische Hilfsmittel sollen sowohl von Kranken- als auch Pflegekassen vorzugsweise leihweise den betreffenden Kranken oder Pflegebedürftigen überlassen werden. Das Hilfsmittelverzeichnis wird gemeinsam von den Spitzenverbänden der Krankenkassen erstellt. Es erscheint etwa vierteljährlich (auch auf CD-ROM) und kann über verschiedene Verlage sowie über die Krankenversicherungen bezogen werden.
z Tages- und Nachtpflege Tages- und Nachtpflege kommen dann in Frage, wenn sich die häusliche Pflege nicht ausreichend sichern lässt. Dieser Fall kann bei erforderlicher Entlastung von Pflegepersonen oder bei vorübergehender Abwesenheit von pflegenden Angehörigen oder Nachbarn eintreten. Je nach Pflegestufe werden bis zu 420 1, 980 1 bzw. 1470 1 pro Monat bezahlt.
z Kurzzeitpflege Kurzzeitpflege findet in Kurzzeitpflegeeinrichtungen statt, in einer Übergangszeit im Anschluss an eine stationäre Behandlung, wenn weder häusliche noch teilstationäre Pflege möglich ist. Sie ist auf höchstens 4 Wochen im Kalenderjahr begrenzt. Die Aufwendungen dürfen 1470 1 im Kalenderjahr nicht überschreiten.
z Vollstationäre Pflege Die Pflegestufenbeträge für Heimeinrichtungen betragen bis zu 1470 1 für Pflegestufe III sowie im Härtefall bis zu 1750 1. Bis zu diesem Höchstbetrag kann die Pflegekasse die Kosten für Grund- und Behandlungspflege übernehmen. Die „Hotelkosten“ (Unterkunft und Verpflegung) müssen die Versicherten selbst übernehmen.
z Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen Die Pflegekassen bieten zur Anleitung, Beratung und Unterstützung Pflegekurse an.
Zur Häufigkeit von Pflegebedürftigkeit
z
z Niedrigschwellige Betreuungsangebote und Modellvorhaben Anerkannte niedrigschwellige Betreuungsangebote sind z. B.: z Betreuergruppen für demente Pflegebedürftige, z Helferinnenkreise zur stundenweisen Entlastung pflegender Angehöriger, z Tagesbetreuung in Klein- und Kleinstgruppen, z Einzelbetreuung durch anerkannte Helfer, z familienentlastende Dienste.
Zur Häufigkeit von Pflegebedürftigkeit Im Dezember 2005 waren entsprechend der Pflegestatistik 2,13 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes, davon mehrheitlich Frauen (68%). Über 80% der Pflegebedürftigen waren 65 Jahre und älter, ein Drittel (33%) 85 Jahre alt. Die Pflegequote steigt mit höherem Lebensalter und etwa ab dem 80. Lebensjahr besonders ausgeprägt deutlich, insbesondere bei den Frauen an (s. Kap. 2). Während von den 70- bis unter 75-Jährigen etwa jeder Zwanzigste (5%) pflegebedürftig war, betrug die Pflegequote der Bevölkerungsgruppe im Alter ab 90 Jahren etwa 60%. Die überwiegende Mehrheit pflegebedürftiger Menschen wird zu Hause ausschließlich durch Angehörige gepflegt; 2005 waren es 980 000. Weitere 472 000 pflegebedürftige, zu Hause lebende Menschen wurden zum Teil oder vollständig durch ambulante Pflegedienste betreut. Knapp ein Drittel (32%) wurden in Altenpflegeheimen versorgt. Die Tabelle 17.2 zeigt, dass Frauen in den drei Kategorien als Leistungsempfänger von Pflegegeld, ambulanter sowie stationärer Leistungen der Pflegeversicherung häufiger vertreten sind als gleichaltrige Männer und dass der Häufigkeitssprung im Zeitabschnitt zwischen dem 75. und 85. Lebensjahr zu verzeichnen ist. Weiter ist erkennbar, dass sich das Verhältnis ambulanter zu stationärer Pflege bei den Hochaltrigen zugunsten der stationären Versorgung verschiebt. Die Tabelle 17.3 zeigt die gutachterlichen MDK-Empfehlungen aufgeschlüsselt für die drei Pflegestufen im Verlauf von 1999 bis 2006. Die Häufigkeit erforderlicher stationärer Pflege steigt (Tabelle 17.4). Fehlende Pflegepersonen und die Überforderung Pflegender sind Gründe für stationäre pflegerische Versorgung. Der Anteil Personen mit höherer Pflegestufe ist erwartungsgemäß im stationären Versorgungsbereich deutlich höher. Eine Querschnittserhebung in Pflegeeinrichtungen mittels eines Assessment-Instruments (Resident Assessment Instrument, RAI) erfasste bei Bewohnern häufig vorhandene funktionelle Einschränkungen und Probleme [1]. Von den 769 Untersuchten (79% Frauen) wiesen z. B. 608 (79%)
209
210
z
17 Pflegebedürftigkeit und Pflegeversicherung
Tabelle 17.2. Pflegebedürftige Frauen und Männer im Alter ab 70 Jahren in Deutschland, 2007 70 < 75 Jahre
75 < 80 Jahre
80 < 85 Jahre
,
<
,
<
,
<
111 801
92 721
190 025
113 421
324 972
113 766
z Ambulante Pflege
26 274
19 311
48 202
28 262
83 947
31 846
z Stationäre Pflege
29 725
22 552
57 744
27 075
118 179
29 786
z Pflegegeld
55 802
50 858
84 079
58 084
122 846
52 134
z Leistungsempfänger/innen
85 < 90 Jahre
90 < 95 Jahre
³ 95 Jahre
,
<
,
<
,
<
359 275
88 029
189 313
35 925
88 716
14 103
z Ambulante Pflege
88 901
26 486
42 476
10 689
18 584
4176
z Stationäre Pflege
152 311
26 614
93 352
12 953
48 963
5436
z Pflegegeld
118 063
34 929
53 485
12 283
21 163
4491
z Leistungsempfänger/innen
Quelle: www.gbe-bund.de, 22. 1. 2009
Tabelle 17.3. Gutachterliche MDK-Empfehlung ambulante und stationäre Erstbegutachtung 1999 z Erstgutachten gesamt
2000
1 678 792
2005
679 588
2006
674 101
686 033
z Nicht pflegebedürftig (%)
29,6
30,1
29,3
29,0
z Pflegestufe I (%)
31,4
43,8
47,1
47,9
z Pflegestufe II (%)
26,5
20,7
19,1
19,0
z Pflegestufe III (%)
12,5
5,5
4,5
4,2
Quelle: Begutachtungsstatistik (Pflegeversicherung), MDS e.V., 22. 1. 2009 unter www.gbe-bund.de
Pflegebedürftigkeit und begründende Erkrankungen
z
Tabelle 17.4. Pflegebedürftige Frauen und Männer in Deutschland der Jahre 1999, 2003 und 2007
z Leistungsempfänger/innen
1999
2003
2007
2 016 091
2 076 935
2 246 829
z Ambulante Pflege (%)
415 289 (20,6)
450 126 (21,7)
504 232 (22,4)
z Stationäre Pflege (%)
573 211 (28,4)
640 289 (30,8)
709 311 (31,6)
z Vollstationäre Pflege
554 217
612 183
671 080
8545
10 999
15 002
z Tagespflege
10 276
17 078
23 196
z Nachtpflege
173
29
33
1 027 591 (51,0)
986 520 (47,5)
1 033 286 (46,0)
z Kurzzeitpflege
z Pflegegeld (%) Quelle: www.gbe-bund.de, 22. 1. 2009
Einschränkungen der Mobilität und 461 (60%) Harninkontinenz auf. Mehr als 4 Medikamente waren 361 Bewohnern verordnet (47%). Demenz und Schlaganfall waren die beiden häufigsten medizinischen Diagnosen.
Pflegebedürftigkeit und begründende Erkrankungen Das Pflegeversicherungsgesetz verknüpft Pflegebedürftigkeit mit Krankheiten oder Behinderungen, die ursächlich für die Pflegebedürftigkeit sind. Dabei geht es vor allem um Erkrankungen, die als Ursache für funktionelle Einschränkungen und Fähigkeitsstörungen geltend gemacht werden (siehe Kap. 2). In Pflegegutachten werden gemäß pflegebegründende Hauptdiagnosen und wichtige Begleitdiagnosen gemäß der International Classification of Diseases (ICD-10; Krankheitseinteilung in Gruppen) angegeben. Fast 80% aller Pflegebedürftigen hatten 2002 [7] eine pflegebegründende Hauptdiagnose aus den folgenden 5 Krankheitsgruppen (ICD-10), aufgeführt in der Rangfolge ihrer Häufigkeit: z Krankheiten des Kreislaufsystems (9), darunter am häufigsten zerebrale Infarkte und Schlaganfallfolgen, andere zerebrovaskuläre Krankheiten und Herzinsuffizienz; z psychische und Verhaltensstörungen (5), darunter am häufigsten Demenzen; z Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, nicht klassifizierbar (18) darunter am häufigsten „Senilität“; z Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (13), darunter am häufigsten Polyarthrose und Osteoporose; z Neubildungen (2), darunter am häufigsten solche in Bronchien/Lunge, Brustdrüse, Dickdarm und Prostata.
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212
z
17 Pflegebedürftigkeit und Pflegeversicherung
Erwartungsgemäß finden sich in dieser Auflistung die Gruppen chronischer Erkrankungen. Die Rangfolgen der häufigsten Diagnosegruppen bei Frauen und Männern decken sich annähernd. Bemerkenswert ist die hohe Zahl nicht klassifizierbarer Symptome und Befunde, die in der Altersgruppe der über 80-Jährigen an 3. Stelle stehen [4]. Eine gesundheitsökonomische Studie aus den Niederlanden ordnete insgesamt 15 Diagnosen nach deren höchsten Kostenanteilen an den gesamten Gesundheitskosten fünf Altersklassen zu [5]. Auf die mit der Bundesrepublik Deutschland vergleichsweise niedrige Anzahl über 65-jähriger Menschen (13,1%) entfielen 1994 [5] 42,2% der gesamten Gesundheitskosten. In der Reihenfolge der kostenintensivsten Diagnosen bei 65- bis 84-Jährigen standen Demenz, Schlaganfall und muskuloskelettale Erkrankungen an der Spitze, gefolgt von Malignomen und schlecht definierbaren Symptomen. Die Rangfolge für über 85-Jährige lautete Demenz vor Schlaganfall und Stürzen, muskuloskelettalen Erkrankungen und ebenfalls schlecht definierbaren Symptomen. Pflegebedürftigkeit betrifft also nicht ausschließlich, aber in erster Linie Menschen in hohem und höchstem Lebensalter, häufiger Frauen als Männer. Die Ursachen sind Fähigkeitsstörungen bei den alltäglichen Verrichtungen aufgrund funktioneller Einschränkungen infolge chronischer Krankheiten. Dabei stehen zerebro- und kardiovaskuläre Erkrankungen (insbesondere Schlaganfall und Herzinsuffizienz), Demenzen, degenerative muskuloskelettale Krankheiten und Krebserkrankungen an der Spitze. Ein erheblicher Teil dieser Erkrankungen ist der Vorbeugung zugänglich, weshalb der Umsetzung gesundheitsfördernder und präventiver Maßnahmen große Bedeutung zukommt (siehe Kap. 3).
Annahmen zur zukünftigen Entwicklung Die demographische Entwicklung wird zu einem Anstieg der Zahl hochbetagter und pflegebedürftiger Menschen führen (siehe Kap. 2). Seit 1999, der Einführung der Pflegestatistik, stieg die Zahl der Pflegebedürftigen um 6% von 2,02 auf 2,13 Millionen im Jahr 2005. Damit nahm der Anteil an der Gesamtbevölkerung von 2,5 auf 2,6% zu. Unter den Annahmen der unveränderten Definition von Pflegebedürftigkeit und eines „Status-quo-Szenarios“ (konstante Pflegequote) erwarten Vorausberechnungen eine weitere Steigerung des Anteils pflegebedürftiger Menschen. Danach wird deren Zahl von 2,13 Mio. im Jahr 2005 um ein Drittel auf 2,91 Mio. im Jahr 2020 und um 58% auf 3,36 Mio. im Jahr 2030 ansteigen [6]. Dieser erwartete Zuwachs wird mit 74% bei den Männern höher sein als bei den Frauen (50%). Nahezu die Hälfte der Pflegebedürftigen (48%) wird dann 85 Jahre und älter sein, während es 2005 noch 33% waren. Das Szenario „sinkende
Literatur
z
Pflegequote“ geht hingegen von der Annahme aus, dass das Pflegerisiko im Alter abnimmt, kommt in der Vorausberechnung jedoch ebenfalls zum Anstieg der Pflegebedürftigen auf 2,68 Mio. im Jahr 2020 und 2,95 Mio. im Jahr 2030 mit einem Anteil 85-jähriger und älterer Menschen von 42 bzw. 51%. Gleichzeitig ist deshalb die Sicherstellung quantitativ und auch qualitativ ausreichender Angebote ambulanter sowie stationärer pflegerischer Versorgung eine dringende Aufgabe.
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213
18 Medizin im Altenpflegeheim
Epidemiologie von Pflegebedürftigkeit Nach Angaben der Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes gab es im Dezember 2005 in Deutschland insgesamt 2,13 Mio. Pflegebedürftige, von denen die überwiegende Mehrzahl, 1,45 Mio., zu Hause und 677 000 (32%) in Heimen versorgt wurden [27]. Von den zu Hause Lebenden wurden 980 000, also knapp 68%, von Angehörigen und 472 000 mit der Hilfe ambulanter Pflegedienste versorgt. Tabelle 18.1 zeigt die Verteilung der Pflegestufen (siehe Kap. 17) auf die o. g. drei Personengruppen. Bei den zu Hause versorgten pflegebedürftigen Menschen überwog der Anteil der Frauen mit 63%, in Heimen betrug er 77%. Während bei den 70- bis 75-Jährigen knapp jeder 20. (5%) pflegebedürftig war, lag die Quote bei den 90- bis 95-Jährigen bei 61%. Etwa ab dem 80. Lebensjahr ist die Pflegequote bei Frauen deutlich höher als bei gleichaltrigen Männern (siehe Kap. 2 und 17) – 65% gegenüber 44% der 90- bis 95-jährigen Menschen. 67% aller Pflegebedürftigen waren 2005 älter als 75 Jahre, ein Drittel (33%) waren über 85 Jahre alt. Regional bestehen Unterschiede bezüglich der Pflege in Heimen, die z. B. in Schleswig-Holstein 40%, in Hessen hingegen nur 26% der Pflegebedürftigen betrafen. Die Versorgung durch ambulante Pflegedienste erfolgte besonders häufig in Hamburg (30%), Bremen (29%) und Brandenburg (27%). Bundesweit betrug der Anteil der durch ambulante Pflegedienste betreuten Menschen 22% [28]. Tabelle 18.1. Pflegestufen der ambulant und in Heimen versorgten Pflegebedürftigen in den Jahren 2001 und 2005. (Nach [27]) Pflegestufe
z z z z
Zu Hause durch Angehörige versorgt
Zu Hause durch ambulante Pflegedienste versorgt
In Heimen versorgt
2001
2005
2001
2005
2001
2005
61,0% 30,8% 8,3%
48,2% 38,4% 13,4%
50,9% 36,7% 12,4%
32,5% 44,5% 21,2% 1,7%
34,2% 43,4% 20,9% 1,6%
Stufe I 57,4% Stufe II 33,6% Stufe III 9,0% ohne Zuordnung
Strukturmerkmale von Pflegeheimen
z
Gegenüber 2003 stieg die Zahl der Pflegebedürftigen insgesamt um 52 000 bzw. 2,5% an, und zwar mit 40 000 (3,9%) überdurchschnittlich innerhalb der Pflegestufe I, in den Pflegestufen II und III um 0,5% bzw. 1,7%. Gestiegen ist die Zahl der durch ambulante Pflegedienste betreuten Personen um 4,8% (21 000) sowie die Zahl der in Heimen Lebenden um 5,7% (36 000), während der Anteil zu Hause Versorgter von 69,2% auf 68,2% geringfügig sank.
Strukturmerkmale von Pflegeheimen In Deutschland gab es im Dezember 2005 insgesamt rund 10 400 nach SGB XI zugelassene Pflegeheime, in denen über 676 000 pflegebedürftige Menschen lebten [27]. Die Mehrzahl der Heime (55%) befand sich in freigemeinnütziger, 38% in privater und 7% in öffentlicher Trägerschaft. Die meisten der vorgehaltenen Plätze entfallen auf den Bereich vollstationärer Dauerpflege, der zu 88% ausgelastet war. Tabelle 18.2 fasst einige Merkmale der Pflegeheime zusammen. Bei etwa jedem 4. Pflegeheim ist ein Altenwohnheim oder/und ein Bereich des Betreuten Wohnens organisatorisch angeschlossen, wo alte Menschen wohnen, die in der Regel keine Leistungen Tabelle 18.2. Ausgewählte Merkmale von Pflegeheimen in Deutschland 2005 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes. (Nach [27])
z Pflegeheime + sonstige ambulante Hilfeleistungen + Wohneinrichtungen + Anbindung z. B. an Krankenhaus + Ambulanter Pflegedienst z Anzahl Pflegebedürftige/Heim 1–50 51–100 101–200 201–300 301 und mehr z Durchschnitt
Gesamt
Private Träger
Freigemeinnützige Träger
Öffentliche Träger
10424 648
3974 (38,1%) 254 (39,2%)
5748 (55,1% ) 363 (56,0%)
702 (6,7%) 31 (4,8%)
1993 491
568 (28,5%) 111 (22,6%)
1277 (64,1%) 260 (52,9%)
148 (7,4%) 120 (24,4%)
999
408 (40,8%)
525 (52,5%)
66 (6,6%)
4649 3789 1856 114 16
2364 (50,8%) 1123 (29,6%) 455 (24,5%) 29 (25,4%) 3 (18,7%)
2041 (43,9%) 2406 (63,5%) 1227 (66,1%) 67 (58,8%) 7 (43,8%)
244 (5,2%) 260 (6,9%) 174 (9,4%) 18 (15,8%) 6 (37,5%)
65
53
71
80
215
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18 Medizin im Altenpflegeheim
nach dem Pflegegesetz erhalten. Das Leben im Bereich des Betreuten Wohnens setzt in diesem System abgestufter Hilfe- und Pflegeleistungen ein hohes Maß an Selbstständigkeit voraus. Die Größe der Pflegeeinrichtungen variiert erheblich, kleinere Pflegeheime (1–50 Plätze) befinden sich häufig in privater Trägerschaft. Ersichtlich ist das herausragende Engagement freigemeinnütziger Träger, deren stationäre Pflegeeinrichtungen häufig im Verbund mit anderen Organisationsformen ambulanter oder stationärer Hilfen arbeiten (siehe Tabelle 18.2). Die Anzahl stationär dauerversorgter Pflegebedürftiger stieg seit 2003 um 5,2% an, die Anzahl der stationär versorgten pflegebdürftigen Menschen insgesamt um 5,7%. Korrespondierend hiermit stieg vom Jahr 2003 bis 2005 ebenfalls die Zahl der Heime um 700 (7%). Insgesamt waren 546 397 Personen in Heimen beschäftigt, in der Mehrzahl Frauen (85%) und mehrheitlich im Bereich Pflege und Betreuung (68%). Von den in diesem Bereich Tätigen hatte annähernd jeder Zweite (48%) Ausbildungsabschluss als Altenpfleger/-pflegerin (32%), Krankenschwester/-pfleger (15%) oder Kinderkrankenschwester/-pfleger (1%). Zusammen mit den Beschäftigten im Bereich der sozialen Betreuung, ohne Altenpflegehelfer/-helferinnen, betrug die sog. Fachkraftquote ca. 51%. Teilweise sind in Pflegeheimen auch Sozialarbeiter/-pädagogen und Ergotherapeuten angestellt. Weitere therapeutische Leistungen werden ggf. durch externe Therapeuten erbracht, die auf ärztliche Verordnung hin tätig werden. Die ärztliche Versorgung erfolgt durch Hausärzte. In den neuen Bundesländern und in der Freien und Hansestadt Hamburg gab es teilweise ein Heimarztsystem, das in Folge der Einführung der Pflegeversicherung wegen mangelnder Finanzierbarkeit abgeschafft wurde [4]. Entsprechend werden die Bewohner eines Pflegeheims von zahlreichen Hausärzten betreut, Pflegeheime arbeiten in der Regel mit mehreren Hausärzten zusammen. Der Pflegesatz für vollstationäre Dauerpflege in der Pflegestufe III betrug durchschnittlich 70 1 pro Tag, der für Unterkunft und Verpflegung 19 1 pro Tag. Die monatliche Vergütung in dieser Pflegestufe betrug somit im Durchschnitt 2710 1 monatlich, wobei noch Ausgaben für Zusatzleistungen und gesondert berechenbare Investitionsaufwendungen hinzukommen können [28].
Medizinische Probleme bei Pflegeheimbewohnern Eine Repräsentativerhebung zur Frage der Gründe für einen Heimeintritt über 60-jähriger Personen in Deutschland zeigte, dass sich die höhere Eintrittsrate von Frauen durch deren häufigere Verwitwung erklärte, während der exponentielle Anstieg mit höherem Lebensalter interessanterweise zu einem eher geringem Teil mit sich verschlechterndem Gesundheitszustand oder dem Überleben von Familien- und Sozialbeziehungen erklärbar war
Medizinische Probleme bei Pflegeheimbewohnern
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[12]. Die Häufigkeit von Heimeintritten aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigung von Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL; siehe Kap. 2) verringerte sich, wenn weitere Personen im Haushalt lebten. Andererseits reduzierte sich der Einfluss, den weitere Personen im Haushalt auf die Senkung der Heimeintrittsrate hatten, wenn keine starke Beeinträchtigung der ADL gegeben war. Die Einführung der Pflegeversicherung führte dazu, dass sich während der letzten Jahre die Bewohnerstruktur der Heime drastisch veränderte – mit deutlich gestiegenem Anteil von Bewohnern mit höherem Pflegebedarf (siehe Kap. 17). Im Rahmen dieser Entwicklung hat sich die Überlebenszeit der Bewohner nach Einzug ins Heim deutlich verkürzt. Hiermit geht einher, dass insbesondere die Betreuung unheilbar schwerstkranker alter Menschen in Pflegeheimen zunimmt. Wenn ausgeprägte Heterogenität die Gruppe der alt gewordenen Menschen sowie auch alte Patienten charakterisiert (siehe Kap. 5), dann gilt dies umso mehr für Personen, die im Bereich institutionalisierter Betreuung bzw. Pflege leben. Die Häufigkeit ausgeprägter funktioneller Einschränkungen im Bereich grundlegender Alltagsaktivitäten sowie die Häufigkeit der im Abschnitt II aufgeführten geriatrischen Syndrome sind bei Bewohnern von Pflegeheimen besonders hoch. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind als Beispiele für häufig vorkommende Syndrome sowie medizinische Probleme zu nennen: z kognitive Beeinträchtigung, Verwirrtheit und Demenz [11] mit Verhaltensauffälligkeiten, z Schlafstörungen, z ausgeprägte Seh- und Hörbehinderung [5, 29], z chronische Schmerzen, z Einschränkungen der Mobilität [5], z Immobilität, Gangstörungen und Stürze [24], z Inkontinenz, z Mangelernährung und Risikofaktoren hierfür [16, 19, 30], z Dehydratation, z ungeeignete und nicht angepasste Arzneimittelbehandlung [7, 10, 18, 20], z Multimedikation, z medikamentöse Unter- und Fehlbehandlung. Insofern findet sich bei Bewohnern von Pflegeheimen die gesamte Bandbreite komplexer geriatrischer Herausforderungen in konzentrierter Form. Abzulesen ist dies bei Patienten, die aus Pflegeheimen sehr häufig auch im Krankenhaus aufgenommen werden [13]. Von 250 Patienten einer retrospektiv untersuchten Krankenhauskohorte einer geriatrischen Fachabteilung waren dies 15% [21]. In einer prospektiven Untersuchung waren die führenden Ursachen für die im Krankenhaus verbrachten Behandlungstage Stürze und Sturzfolgen (45%), kardiovaskuläre Ereignisse (26%), Infektionen (11%) und Ernährungsprobleme (6%) [26].
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18 Medizin im Altenpflegeheim
Tabelle 18.3. Risikofaktoren für die Besiedelung mit MRSA (Methicillin-resistente Staphylococcus aureus) bei Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen. (Nach [22]) Dispositionelle Faktoren
Mit Behandlungsmaßnahmen assoziierte Faktoren
z Bettlägerigkeit, geringe Mobilität z Hohes Lebensalter z Ausgedehnte Hautläsionen (offene Wunden, Dekubiti, Ulzera, nässende Dermatiden, Ekzeme) z Diabetes mellitus z Periphere Durchblutungsstörungen z Resistenzminderung durch chronische Erkrankungen, funktionelle Störungen und Multimorbidität
z z z z
Hospitalisierung innerhalb der letzten 6 Monate Langdauernde Antibiotikabehandlung Hohe Pflegestufe Invasive Maßnahmen, Fremdkörperimplantate (z. B. PEG-Sonde, Infusionen, Endoprothesen) Harnwegskatheter, insbesondere offene Harnableitungssysteme z Längerer Heimaufenthalt
Ein zunehmendes praktisch-klinisches Problem im Krankenhaus ist die Häufigkeit nosokomialer Infektionen mit MRSA (methicillinresistenter Staphylococus aureus). Deren Prävalenz bei Pflegeheimbewohnern bewegt sich gemäß verschiedener Erhebungen in Deutschland zwischen 1,2–3,1% und höher, jedoch auf deutlich niedrigerem Niveau als beispielsweise in den USA und Großbritannien [22]. Tabelle 18.3 fasst Risikofaktoren für die Besiedelung mit MRSA bei Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen zusammen. Die Verringerung sowohl manifester Infektionen als auch der Ausbreitung von MRSA ist durch die konsequente Einhaltung von Standardhygienemaßnahmen erfolgreich möglich [22]: z hygienische Händedesinfektion vor und nach Pflege und Behandlung jedes Bewohners/Patienten; z Tragen von Schutzhandschuhen und patientengebundenen Schutzkitteln bei Kontakt mit infektiösen Körpersekreten; z Entsorgen der Handschuhe nach jedem Kontakt mit MRSA-besiedelten Bewohnern/Patienten und Belassen des Kittels im Zimmer, anschließende Händedesinfektion; z Verbinden oder Abdecken offener Wunden, Ableiten der Harnwegskatheter in geschlossene Systeme, bei inkontinenten Patienten Auffangen der Fäzes in Vorlagen. Nosokomiale Infektionen finden sich bei insgesamt etwa 3–8% aller Krankenhauspatienten [23]. Nosokomiale Erkrankungen durch Noroviren treten im gesamten Jahresverlauf auf, zeigen jedoch einen ausgeprägten saisonalen Gipfel in den Herbst- und Wintermonaten. Insbesondere in Krankenhäusern sowie Alten- und Krankenpflegeeinrichtungen verursachen Noroviren Gastroenteritisausbrüche, die erhebliche Ausmaße annehmen können. Im Winter 2007/2008 wurde eine deutliche Zunahme festgestellt. Ausbrüche betrafen
Zur medizinischen Versorgungsqualität von Alten- und Pflegeheimbewohnern
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zu jeweils 37% Krankenhäuser bzw. Altenpflegeheime und in 16% Kindergärten. Beim ersten Hinweis auf einen Norovirus-bedingten Gastroenteritisausbruch in einer Gemeinschaftseinrichtung sollten – ohne virologische Ergebnisse abzuwarten – unverzüglich notwendige Maßnahmen zur Verhütung weiterer Infektionen eingeleitet werden [23].
Zur medizinischen Versorgungsqualität von Alten- und Pflegeheimbewohnern Aus den vorausgegangenen Ausführungen lässt sich ohne weiteres ableiten, dass bei der medizinischen Versorgung alter und höchstbetagter Bewohner von Pflegeeinrichtungen Kenntnisse der Altersmedizin nicht nur nützlich, sondern eigentlich dringend geboten sind. Unterstützt wird diese Forderung durch Ergebnisse von Untersuchungen zur Versorgungsqualität in diesem Bereich, der in Deutschland bislang – zumindest medizinisch – so gut wie kein wissenschaftliches Interesse auf sich zog. Aus Sicht der Altersheilkunde schließt sich hier in gewisser Weise ein Kreis, der mit ersten systematischen ärztlichen Untersuchungen – als Anfang eines geriatrischen Assessments – bei Bewohnern im Pflegeheim begann (siehe Kap. 4). Pflegeheimbewohner stellen eine wachsende Population dar, die in bedeutendem Ausmaß auf medizinische Leistungen angewiesen ist [17]. Es mehren sich Untersuchungen, die auf diesbezüglich erforderliche und mögliche Verbesserungen hinweisen [z. B. 10, 18, 26]. Studien zur Arzneimittelbehandlung von Pflegeheimbewohnern, v. a. aus den USA sowie Skandinavien, belegten ein hohes Potential für Verbesserungen (tertiäre Prävention!) [z. B. 3, 7]. Auch im Krankenhaus sind erstaunliche qualitative Unterschiede, z. B. bezüglich Diagnostik und Behandlung der Herzinsuffizienz, zwischen Pflegeheimbewohnern und nicht im Pflegeheim Lebenden beschrieben worden [1]. Im Rahmen von Interventionsstudien war die Reduktion von Mehrfachverordnungen ohne gesundheitliche Verschlechterung der Betroffenen möglich [z. B. 3]. Auch einfache Maßnahmen wie die regelmäßige ärztliche Durchsicht der Medikamentenverordnungen sind möglich [15]. Derartige Interventionen schlossen z. T. Fortbildungsmaßnahmen für Pflegeheimpersonal ein. Ein Beispiel für offensichtlichen Wissensbedarf ist die Vorgehensweise bei Prävention und Behandlung von Dekubitalulzera [14]. Andere Beispiele erfolgreicher Interventionen im Heimbereich zielten auf die Reduktion von Sturzereignissen und deren Folgen [6]. Weitere Ansätze zur Verbesserung der Versorgungsqualität haben als Ausgangspunkt umfassendere Dokumentationssysteme (siehe Kap. 16) oder auch neue Konzeptionen, z. B. mit einem Schwerpunkt speziell für die Versorgung Demenzkranker [8, 9].
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18 Medizin im Altenpflegeheim
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221
19 Lebensende und medizinische Versorgung
Vorbemerkungen Dieses Kapitel steht am Ende, hätte jedoch aus guten Gründen auch durchaus im 1. oder 2. Teil dieses Buches seinen Platz haben können. Medizinische Versorgung älterer Patienten ist häufig auch Palliation, verstanden als die therapeutisch vorrangige Linderung von Symptomen. Die Linderung von Symptomen, unter denen Patienten leiden, ist essenzieller Teil der Medizin – nicht nur für alte Menschen. Darüber hinaus erfolgt ärztliche und pflegerische Betreuung alter Menschen in Anbetracht der Endlichkeit des Lebens. Sie sollte sich deshalb auch der „Todesnähe“ [11] bewusst sein. Eine umfassende Darstellung der vielschichtigen Ebenen der Thematik und – wichtiger – ihres notwendigen Diskurses [13] ist an dieser Stelle auch nicht annähernd möglich. In den folgenden Abschnitten werden deshalb lediglich einige „Befunde“ – verstanden als Teile einer Situationsskizze – zitiert, die vielleicht geeignet sein können, zu einer vertiefenden persönlichen Auseinandersetzung anzuregen. Neben der Nennung einiger Fakten waren Auswahl und Schwerpunktlegung wesentlich davon bestimmt, möglichst die Sichtweise alter Menschen darzustellen.
Palliative Medizin Nach der Definition der WHO (1990) ist Palliativmedizin „die aktive Gesamtbehandlung von Kranken, deren Leiden auf kurative Behandlung nicht anspricht. Kontrolle von Schmerzen, von anderen Symptomen sowie psychischen, sozialen und spirituellen Problemen ist von entscheidender Bedeutung. Das Ziel der palliativen Behandlung ist es, die bestmögliche Lebensqualität für Patienten und deren Familien zu erreichen.“ Die vergleichende Übersicht in Tabelle 19.1 fasst die zentralen Elemente der Palliativmedizin und ihre korrespondierenden Elemente der Altersmedizin zusammen. Beiden gemeinsam ist der Grundsatz einer aktiven Gesamtbehandlung, die nicht endet, wenn kurative Behandlungsoptionen nicht mehr gegeben sind [12].
Palliative Medizin
z
Tabelle 19.1. Zentrale Elemente der Palliativ- und Altersmedizin Altersmedizin
Palliativmedizin [24]
z Gesamtbehandlung Mehrdimensionaler Ansatz (geriatrisches Assessment) Interdisziplinäres Team
z Gesamtbehandlung
z Prävention, Therapie, Rehabilitation* und Palliation (*Adaptation, Optimierung und Kompensation) Die Möglichkeiten kurativer Behandlung sind oft begrenzt.
z Ende kurativer Behandlungmöglichkeiten
z Schmerzkontrolle
z Schmerzkontrolle
z Aktive Behandlung physisch, psychisch und sozial
z Kontrolle psychischer, sozialer und spiritueller Symptome
z Orientierung an Lebensqualität – Diagnostik erfolgt unter Beachtung therapeutischer Konsequenzen – Prävention geriatrischer Risiken (Tertiärprävention) – Berücksichtigung des Patientenwillens (Selbstbestimmung)
z Orientierung an Lebensqualität
z „Soziales Netzwerk“, Einbezug von Angehörigen
z Mitbehandlung der Familie
Das Konzept der Palliativmedizin umfasst nach Klaschik [25] folgende Inhalte [26]: z „exzellente Schmerz- und Symptomkontrolle; z Integration der psychischen, sozialen und seelsorgerischen Bedürfnisse der Patienten, der Angehörigen und des Behandlungsteams sowohl bei der Krankheit als auch beim Sterben und in der Zeit danach; z Akzeptanz des Todes als ein Teil des Lebens; durch eine deutliche Bejahung des Lebens soll der Tod weder beschleunigt noch hinausgezögert werden; Palliativmedizin ist eine eindeutige Absage an die aktive Sterbehilfe; z Kompetenz in den wichtigen Fragen der Kommunikation und Ethik“. Zu den Symptomen, die durch aktive Behandlung kontrolliert werden müssen, zählen neben Schmerzen auch Angst, Atemnot, Übelkeit, Erbrechen und Obstipation. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass es für eine erfolgreiche Schmerzbehandlung unabdingbar ist, Patienten zu befragen, zu beobachten und ggf. die Schmerzsituation auch engmaschig neu zu bewerten. Die allermeisten Patienten können einfache Fra-
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z
19 Lebensende und medizinische Versorgung
gen nach Schmerzen beantworten. Es gibt keine Hinweise dafür, warum den Schmerzangaben von kommunikationsfähigen Patienten – auch mit kognitiven Funktionseinschränkungen – nicht geglaubt werden sollte [32]. Allerdings bestehen z. T. erhebliche Unsicherheiten bei der Erkennung von Schmerzen durch professionelle Helfer [39]. Beispiele für spezielle palliativmedizinische Einrichtungen sind das Hospiz und die Palliativstation. Stationäre Hospize sind eigenständige Einrichtungen, in denen unheilbar Kranke während der letzten Lebensphase palliativmedizinisch betreut werden. Voraussetzungen für die Aufnahme sind, dass der Patient an einer Erkrankung leidet, die progredient verläuft und bereits ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat, bei der eine Heilung ausgeschlossen und eine palliativmedizinische Behandlung notwendig oder vom Patienten erwünscht ist und die lediglich eine begrenzte Lebenserwartung von Wochen oder wenigen Monaten zulässt und keine Krankenhausbehandlung im Sinne von § 39 SGB V erforderlich macht [25]. Eine Palliativstation ist hingegen in einem Krankenhaus integriert oder einer Klinik angegliedert. Die Vorteile gegenüber einem Hospiz liegen in diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten sowie der konsiliarischen Einbindung anderer Fachdisziplinen. Eine Übersicht stationärer und ambulanter Palliativ- und Hospizeinrichtungen in Deutschland ist in einem informativen Führer zusammengestellt [35]. In palliativmedizinischen Einrichtungen werden nicht mehr ausschließlich, aber überwiegend Tumorpatienten behandelt. Tatsächlich zeigt die Hospiz- und Palliativerhebung HOPE (2002–2005), an der die Mehrzahl der Palliativstationen in Deutschland teilnahmen, dass lediglich 147 von insgesamt 4182 dort behandelten Patienten (3,5%) an nichtonkologischen Grunderkrankungen litten. Bezüglich ihrer Symptome und Versorgungsprobleme unterschieden sich diese Patienten erheblich von den Tumorpatienten. Nichtonkologische Palliativpatienten wiesen bei häufiger erniedrigtem Funktionsstatus und Pflegestufe III signifikant häufiger pflegerischen Unterstützungsbedarf im Bereich der Alltagsaktivitäten auf. Häufiger als Tumorpatienten litten sie an Luftnot, Schwäche und Müdigkeit und waren auch häufiger desorientiert bzw. verwirrt [30, 31]. Im Bereich der ärztlichen Weiterbildung existieren erste Angebote, die die palliative Geriatrie und hausärztliche Palliativmedizin berücksichtigen. Aufgrund der demographischen Veränderungen wird die Erweiterung von Versorgungsangeboten auch für alte Patienten gefordert [36, 45]. Vor dem Hintergrund steigenden Bedarfs ist das Angebot palliativmedizinischer Inhalte auch in der Ausbildung noch unzureichend [24]. Praktisch dürfte die Umsetzung der „Gemeinsamen Empfehlungen nach § 132 d Abs. 2 SGB V für die spezialisierte ambulante Palliativversorgung“ zur Verbesserung der Versorgungssituation führen (http://www.aok-bv.de/08/2008).
Sterben im Alter
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Sterben im Alter Nahezu 80% aller Sterbefälle in Deutschland betreffen über 65-jährige Menschen, und das Sterben hat sich in Institutionen, d. h. wesentlich in Krankenhäuser und Heime verlagert, wo schätzungsweise 70% aller Sterbefälle eintreten [38]. Eine repräsentative Untersuchung in Mannheim zeigt dies beispielhaft für die städtische Bevölkerung (Tabelle 19.2) [5]. Die Hälfte der Sterbefälle ereignete sich im Krankenhaus (49,7%), gefolgt von Sterbefällen außerhalb von Institutionen (29,1%) und in Alten- bzw. Altenpflegeheimen (21,1%). Mit höherem Sterbealter wurde dabei die Wahrscheinlichkeit verringert, im Krankenhaus zu sterben, dagegen wurde das Sterben im Heim wahrscheinlicher. Verwitwete, ledige und geschiedene ältere Menschen verstarben häufiger im Alten- oder Pflegeheim. Ältere Menschen, die bis zum Lebensende in einem Privathaushalt lebten, starben häufiger in einem Krankenhaus als Heimbewohner, und Bewohner von Altenheimen starben häufiger im Krankenhaus als Bewohner von Pflegeheimen. Mehr als drei Viertel dieser Verstorbenen waren während ihres letzten Lebensjahres mindestens einmal stationär in einem Krankenhaus behandelt worden (Tabelle 19.3). Die Verweildauer im Krankenhaus sank oberhalb eines Sterbealters von 80 Jahren deutlich ab, während die Verweildauer in Heimen mit dem Sterbealter kontinuierlich zunahm. Der Anteil der VerTabelle 19.2. Sterbeort, Lebensalter, Geschlecht und Familienstand. (Nach [5]) Sterbeort Nicht in Institution [%]
Krankenhaus [%]
Alten-/Pflegeheim [%]
Sterbealter 65–69 Jahre 70–79 Jahre 80–89 Jahre ³ 90 Jahre ³ 65 Jahre insges.
34,4 32,1 26,4 27,6 29,1
61,1 58,5 45,8 29,3 49,7
4,6 9,4 27,8 43,2 21,2
Geschlecht Männer Frauen
32,2 27,3
55,6 45,5
12,2 27,3
Familienstand Verheiratet Verwitwet Ledig Geschieden
33,2 27,8 20,0 30,3
59,1 43,9 45,6 49,7
7,7 28,2 34,4 20,0
225
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19 Lebensende und medizinische Versorgung
Tabelle 19.3. Ausgewählte Merkmale verstorbener, über 65-jähriger Menschen in Mannheim im letzten Lebensjahr. (Nach [5]) Bewohner von Privathaushalten Heimbewohner Männer [%] Frauen [%]
Männer [%] Frauen [%]
Ohne informelle Hilfspersonen
1,6
3,2
6,2
7,8
Ohne einen Angehörigen als Hilfsperson
5,5
7,9
9,2
13,8
2,6 14,5 82,9
2,8 16,8 80,4
3,8 5,8 90,4
1,9 4,9 93,7
Krankenhausbehandlung 85,5 z Mittlere Zahl der Episoden 1,69 z Mittlere Gesamtdauer (Wochen) 5,29
82,0 1,61 4,78
76,4 1,62 6,04
71,2 1,30 4,20
Sterbeort z Außerhalb einer Institution z Krankenhaus z Heim
38,6 61,4 –
42,7 57,3 –
0,6 27,4 72,0
0,6 25,3 74,1
Mittleres Sterbealter (Jahre)
76,9
79,9
82,8
85,1
Hausarztkontakte z Keine z Vierteljährlich z Mehrmals im Quartal
storbenen, die während des letzten Lebensjahrs weder stationär im Krankenhaus noch im Heim waren, betrug nur 11,4% und der Anteil der Verstorbenen, die auch keine ambulanten professionellen Dienste in Anspruch genommen hatten, lediglich 7,4%. Die von nächsten Angehörigen genannten mutmaßlichen Todesursachen betrafen Krankheiten des Kreislaufsystems (39,4%), Neubildungen (23,2%), Krankheiten der Atmungsorgane (9,9%), der Verdauungs-, Harn- und Geschlechtsorgane (7,0%), Stoffwechselerkrankungen (5,7%) und Suizide (1,6%). Menschen mit Atemwegs- und Kreislauferkrankungen starben häufiger im Krankenhaus. In 18,1% der Fälle wurden auch schlecht definierte Zustände wie „Altersschwäche“ oder „Gebrechlichkeit“ genannt. Verstorbene mit den Todesursachen Altersschwäche oder Demenzerkrankungen waren während ihres letzten Lebensjahrs seltener im Krankenhaus behandelt worden [5]. Bei gebrechlichen alten Menschen verschlechtert sich die funktionelle Abhängigkeit (siehe Kap. 2 und 5), gemessen an vier ADL-Bereichen (Baden, Essen, Mobilität und Kontinenz), über viele Monate sehr allmählich fortschreitend ohne deutlich erkennbare Beschleunigung vor dem nahenden Tod. Bei alten Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung beginnt dieser Prozess des fortschreitenden Verlusts funktioneller Kompetenz früher und erreicht bis zum Zeitpunkt des Todes ein vergleichsweise höheres Ausmaß [17].
Was ist ein guter Tod?
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Was ist ein guter Tod? Im Sommer 2003 führte das British Medical Journal eine Online-Befragung durch, die dazu einlud, die drei persönlich wichtigsten Merkmale eines „guten Todes“ zu nennen. Insgesamt 692 Personen, und zwar 171 medizinische Laien und 521 Professionelle aus dem medizinischen/gesundheitlichen Bereich, hatten daraufhin ihre Auffassungen mitgeteilt [14]. Für die Laien waren die drei wichtigsten Nennungen: die Freiheit von belastenden Symptomen wie Schmerzen und Atemnot (80%), gefolgt von der Wahl, den Zeitpunkt des Todes (42%) und des Sterbeorts (32%) zu bestimmen. Die drei wichtigsten Punkte, die von Professionellen genannt wurden, waren Freiheit von belastenden Symptomen (77%), keine „heroischen medizinischen Interventionen“ (35%) sowie die Wahl des Sterbeorts (30%). Die Auflistung einzelner Nennungen soll hier in der originalen englischen Sprache wiedergegeben werden (Tabelle 19.4).
Tabelle 19.4. Merkmale eines „guten Todes“ im Spiegel der Ergebnisse einer Online-Befragung des British Medical Journals, 2003. (Aus [14]) Non-healthcare Healthcare professionals [%] professionals [%] What are your three most important characteristics of a good death? z Choice over where I die
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z Choice over when I die (with possibility of bringing my death forward) z Choice over with whom I die
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27
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z Freedom of unpleasant symptoms (pain, shortness of breath)
80
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z Freedom from heroic medical interventions – With specialist palliative care services available – With my spiritual needs addressed – With psychological support available – With my financial matters resolved – With bereavement care for my family
20 15 19 15 18 26
35 17 28 10 22 24
z Where would you prefer to die? – Home – Hospice – Hospital – No preference
67 7 2 23
76 6 12 15
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Auch die Mehrzahl der Befragten einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe (77%; 644 Personen über 18 Jahre) in Thüringen wünschten ebenfalls, zu Hause sterben zu können, nur 8% gaben das Krankenhaus als Sterbeort an [42]. Die große Mehrheit der Befragten wünschte, dass Angehörige der eigenen Familie (93%) oder Freunde (64%) das eigene Sterben begleiten sollten, gefolgt vom Hausarzt und professionellen Pflegepersonen. Für den Fall einer unheilbaren Krankheit wünschte sich die Mehrzahl ein möglichst schmerzfreies Sterben (89%). Als Mittel zur Wahrung von Autonomie und Patientenrechten wird dabei offenbar eine Patientenverfügung (s. u.) angesehen, aber nur 4% der Befragten gaben an, bereits eine derartige Verfügung unterschrieben zu haben. Eine Patientenverfügung „sehr wahrscheinlich abschließen“ würde ein Drittel der Befragten, die bereits einmal einen Sterbenden gepflegt hatten. Befragte ohne eigene entsprechende Pflegeerfahrungen würden dies weniger häufig tun (23%). Gut zwei Drittel der Befragten würden auch einer im weiteren Sinne aktiven Form der „Sterbehilfe“ zustimmen. Bemerkenswert wichtige, mit dieser Aussage assoziierte Faktoren waren in dieser Untersuchung die fehlende Erfahrung mit einem Todesfall im näheren Umfeld (78%), Konfessionslosigkeit (71%), Ledigsein (78%), Alter zwischen 30 und 39 Jahren (75%) sowie die geäußerte Bereitschaft zum Abschluss einer Patientenverfügung (73%) [42]. Die allermeisten (älteren) Menschen wünschen sich also, nicht in einem Krankenhaus oder Pflegeheim zu sterben [38]. Wenn immer möglich, sollte dieser Wunsch in Erfüllung gehen können. Es wird deshalb in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es an vielen Orten segensreiche Initiativen gibt, in denen ehrenamtlich tätige Menschen (auch ältere und deshalb lebenserfahrene) nach entsprechender Schulung und unter geeigneter Supervision Sterbebegleitung und Unterstützung von pflegenden Angehören durchführen. Hier werden zunehmend auch Hospizinitiativen im ambulanten Bereich tätig. Vertrauensbildend für die Betroffenen beginnt eine derartige Begleitung in idealer Weise bereits im Krankenhaus. Ein treffender Begriff hierfür ist z. B. „Brückenpflege“. An diese Möglichkeiten sollte gedacht werden, um Sterben zu Hause zu ermöglichen. Die Ergebnisse einer zwischen 1987 und 1991 anhand von Mitarbeiterbefragungen (248 befragte Mitarbeiter aus 70 Kliniken) durchgeführten Untersuchung zu den psychosozialen Bedingungen des Sterbens im Krankenhaus zeigten ein bedenklich düsteres Bild [21]. Es seien nur einige Befunde hieraus erwähnt. Über die Hälfte der Mitarbeiter (57%) hielt die bestehenden räumlichen Voraussetzungen für ungeeignet, um Schwerstkranke adäquat zu betreuen. Aufgrund von Personal- und Zeitmangel glaubten nur wenige (28%), sich die notwendige Zeit für die Betreuung Sterbender nehmen zu können. Die Mehrheit der Mitarbeiter (65%) sah sich durch die Berufsausbildung sehr unzureichend auf das Sterben im Krankenhaus vorbereitet. Die Mehrzahl der Befragten (75%) sprach sich für offene Gesprächsführung mit Patienten aus. Aber nach Aussagen der Mitarbeiter waren nur ein Drittel der Patienten über ihre Prognose und den wahrscheinli-
Auffassungen älterer Menschen vom Sterben
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chen Krankheitsverlauf orientiert. Nach Einschätzung von 72% der Mitarbeiter waren die Bedingungen des Sterbens an ihrem Arbeitsplatz im Krankenhaus zu häufig mit der menschlichen Würde nicht vereinbar. Knapp ein Drittel gaben schließlich an, aufgrund ihrer Erfahrungen mehr Angst vor dem Sterben zu haben als andere Menschen.
Auffassungen älterer Menschen vom Sterben Nach Sichtung psychologischer Arbeiten zur Thematik „Sterben und Tod im Alter“ kam Baltes [2] zu folgenden Schlussfolgerungen [zitiert bei 38]: z „Es existieren sehr große Unterschiede hinsichtlich der Einstellungen zum Tod bei alten Menschen. z Die Bedeutungen, die der Tod für alte Menschen haben kann, variieren ebenfalls sehr stark. z Auch die Bewältigungsformen in der Auseinandersetzung mit Sterben und Tod zeigen im Alter eine sehr große Heterogenität.“ Im Rahmen einer Longitudinalstudie in Groningen, Niederlande, wurden die Einstellungen älterer Menschen zu Sterben und Tod in zwei aufeinander folgenden Jahren erhoben und untersucht [41]. Dazu wurden 632 bzw. im Folgejahr noch 575 in Privathaushalten lebende Personen befragt. Die Mehrzahl waren Frauen (72%) im mittleren Alter von 73 Jahren, von denen 40% verwitwet waren. Knapp ein Viertel der Befragten waren bezüglich grundlegender oder instrumenteller Aktivitäten des täglichen Lebens bereits eingeschränkt. Intensive Beschäftigung mit dem Tod war insgesamt selten und wenn, dann sehr eng mit Angst vor dem Sterben verbunden. Bei diesen geäußerten Ängsten überwogen – in beiden Jahren der Befragung – Befürchtungen, von jemandem abhängig zu sein oder jemandem zur Last zu fallen sowie nahe Personen zu verlieren (20–24%). Direkt persönlich bezogene Angst, etwa von Maschinen abhängig zu werden oder zu leiden, wurde deutlich weniger häufig genannt. Ein Drittel dieser befragten älteren Menschen stimmten u. a. der Auffassung zu, ein Arzt sollte zulassen, dass ein Mensch, der sich seit mehreren Monaten im Koma befindet, sterben könne. Anlässlich der Wiederholungsbefragung im zweiten Jahr stimmten allerdings signifikant weniger der Befragten der Auffassung zu, dass unter Annahme bestimmter Bedingungen auch die Beschleunigung des Todes möglich sein sollte! Ein wichtiger Befund dieser Studie ist, dass sich in beiden Erhebungsjahren gleichermaßen wenige ältere Menschen mit Gedanken an den Tod oder Ängsten vor dem Sterben beschäftigten. Den engsten Zusammenhang mit Überlegungen, den Tod zu beschleunigen, wiesen dabei soziokulturelle Faktoren auf. Geäußerte Ängste vor Tod und Sterben hingegen zeigten ei-
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nen Zusammenhang am ehesten mit Merkmalen des Gesundheitszustands, insbesondere der psychischen Gesundheit (z. B. Depressivität) [41]. Ergebnisse der Berliner Altersstudie erbrachten, dass sich 70% der befragten alten Menschen – bei Vorgabe von 10 Lebensbereichen und -themen – stark oder sehr stark mit dem Wohlergehen ihrer Angehörigen beschäftigen (s. o.). Das Thema Sterben und Tod wurde hingegen nur von 30% genannt [3].
Einstellungen älterer Patienten zu lebensverlängernden Maßnahmen Untersuchungen zu Einstellungen von Patienten zu lebenserhaltenden oder -verlängernden Interventionen sind methodisch schwierig. Sie ermitteln in der Regel Antworten auf umschriebene hypothetische Szenarien, die der häufigen Komplexität der tatsächlich im Alltag auftretenden Problemlagen nicht unbedingt ähnlich sind, und sie werden aus ethischen Gründen natürlich nicht in tatsächlich akut lebensbedrohlichen Situationen durchgeführt. Dies ist bei der Deutung der Ergebnisse derartiger Studien zu bedenken. Folgende drei Studien werden angeführt, weil sie exemplarische, bei der Betreuung alter Patienten auftretende Konstellationen beleuchten.
z 1. Studie Schweizerische Pflegeheimbewohner, bei denen keine offensichtliche Demenz vorlag, wurden bezüglich ihrer Einstellungen zu lebensverlängernden Maßnahmen im Falle einer angenommenen, akut lebensbedrohlichen Lungenentzündung befragt. 1997 wünschten 19 von 50 Befragten eine antibiotische Behandlung (38%), 15 lehnten diese ab (30%) und 16 waren unentschlossen (32%) [7]. Anschließend wurden der betreuende Arzt und eine Pflegeperson befragt. Falls vom Patienten jemand aus dem Kreis seiner Angehörigen als etwaiger Patientenvertreter vorgeschlagen worden war, wurde diese Person mit Einverständnis des Pflegeheimbewohners telefonisch interviewt. Von den Bewohnern wurden 22 Personen entsprechend benannt, die dann befragt wurden, ob sie der Meinung seien, dass die lebensverlängernden Maßnahmen beim Auftreten einer lebensbedrohenden Erkrankung im Sinne des Patienten wären. Zwischen den Aussagen der Pflegeheimbewohner selbst und denen ihrer Angehörigen fand sich ein hoch signifikanter Grad der Übereinstimmung. Die Aussagen der Angehörigen, der Pflegekräfte und der Ärzte unterschieden sich in ihrer Tendenz nicht signifikant von denen der Bewohner. Die Gegenüberstellung der ärztlichen und pflegerischen Meinungen offenbarte jedoch signifikante Unterschiede, indem die Ärzte die lebensverlängernde Maßnah-
Einstellungen älterer Patienten zu lebensverlängernden Maßnahmen
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me eher befürworteten, die Pflegekräfte diese jedoch eher ablehnten. Drei Jahre später konnten noch 19 überlebende Pflegeheimbewohner abermals in identischer Weise befragt werden. 10 wünschten eine antibiotische Behandlung (53%), 2 lehnten sie ab (11%) und 7 waren ambivalent (37%) [8].
z 2. Studie Die allerwenigsten Bewohner von Pflegeheimen verfügen über eine schriftliche Verlautbarung zur gewünschten oder nicht gewünschten Intensität möglicher medizinischer Maßnahmen im Fall einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Vor diesem Hintergrund untersuchte eine dänische Studie die Wünsche von Pflegeheimbewohnern, ihren Angehörigen und dem Heimpersonal in einem solchen angenommenen Fall sowie den Grad der Übereinstimmung zwischen diesen drei beteiligten Personengruppen [29]. Grundlage für die Auswahl der befragten Bewohner waren die Angaben zur Einstufung des Grads von Gedächtnisfunktion und Entscheidungsfähigkeit gemäß Resident Assessment Instrument (RAI; siehe Kap. 18). An der Untersuchung nahmen Bewohner teil, die diesbezüglich die höchste Kompetenz aufwiesen sowie Bewohner, die die geringste Kompetenz besaßen. Durchgeführt wurden Interviews bei 101 kompetenten und 106 Bewohnern mit stark eingeschränkter Kompetenz, 142 Angehörigen und 207 Personen des Pflegepersonals. Die erste Frage war, ob im Fall einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung eine Verlegung ins Krankenhaus gewünscht wurde oder nicht. Wurde dies bejaht, so wurde gefragt, ob eine Beatmung für einige Tage erwünscht sei, wenn dies für das Überleben notwendig sei. Wurde keine Verlegung ins Krankenhaus gefordert, so wurde weiter gefragt, ob eine antibiotische Behandlung, wie üblich unter Routinebedingungen im Pflegeheim durchgeführt, erwünscht sei. Danach ergaben sich Antwortmöglichkeiten, die auf folgende vier Kategorien entfielen: 1. keine Verlegung und keine antibiotische (kurative), aber palliative Behandlung im Heim, 2. keine Verlegung, aber antibiotische Behandlung und palliative Behandlung im Heim, 3. kurative und palliative Behandlung im Krankenhaus, aber keine Beatmung, 4. kurative und palliative Behandlung im Krankenhaus und Beatmung. Von den insgesamt 3451 in Frage kommenden Pflegeheimbewohnern in Kopenhagen (durchschnittliches Alter 86 Jahre, 76% Frauen) hatten 2,8% eine schriftlich vorliegende Erklärung zu „Lebensend-Entscheidungen“; 1,5% wollten entschieden keine Wiederbelebungsmaßnahmen, 1,2% keine Verlegung ins Krankenhaus im Falle einer akuten Erkrankung und 0,8% weder intravenöse Infusionen noch Ernährungssonden.
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Die Verteilung der Antworten der Bewohner mit sehr hoher und sehr niedriger Gedächtnis- und Entscheidungskompetenz auf die vier Kategorien zeigte keinen statistisch signifikanten Bezug zu Alter oder Geschlecht. Der statistisch signifikant höchste Grad der Diskrepanz ergab sich beim Vergleich der gegebenen Antworten der Angehörigen von Bewohnern mit niedrigster Kompetenz für Gedächtnis und Entscheidungsfähigkeit und dem Pflegepersonal, indem gut ein Drittel dieser Angehörigen eine intensivere Behandlung wünschten als das Pflegepersonal.
z 3. Studie In der dritten Studie wurden 226 Patienten (durchschnittliches Alter 73 Jahre, 43% Frauen) mit absehbar beschränkter weiterer Lebenserwartung aufgrund einer Krebserkrankung, kongestiver Herzinsuffizienz oder chronisch obstruktiver Lungenerkrankung in ihrem Zuhause zu Behandlungswünschen befragt [19]. Hierfür wurden jeweils zwei Behandlungsformen vorgelegt, die sich im Intensitätsgrad der Belastung unterschieden: 1. wenig belastend: wenige Tage bis eine Woche Krankenhausaufenthalt, Untersuchungen inklusive Röntgen etc. und Behandlungen mit intravenöser Antibiotikabehandlung und Sauerstoffgabe, 2. stark belastend: mindestens ein Monat Krankenhausaufenthalt, auch komplexere Untersuchungen, Behandlungen inkl. Intensivstation, Operation und Beatmung. Zu jeder Behandlung wurden außerdem Angaben zum Grad der Belastung, zu den möglichen Ausgängen der Behandlung sowie zur Wahrscheinlichkeit des Eintretens möglicher Ausgänge vorgelegt. Weiterhin wurde angenommen, dass keinerlei Behandlung in jedem Fall tödlich ausginge. Es wurden die vier folgenden Szenarien angeboten: 1. Wenig belastende Behandlung stellt derzeitigen Gesundheitszustand wieder her. 2. Stark belastende Behandlung stellt derzeitigen Gesundheitszustand wieder her. 3. Wenig belastende Behandlung führt zu schwerer funktioneller Beeinträchtigung (Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit). 4. Wenig belastende Behandlung führt zu schwerer kognitiver Beeinträchtigung (Umgebung und Familienangehörige werden nicht mehr erkannt). Zunächst wurde nach der Präferenz gefragt, wenn der geschilderte Behandlungsausgang als sicher angenommen wurde. Dann wurden die Fragen wiederholt, indem sich die Wahrscheinlichkeit für einen ungünstigen Behandlungsausgang erhöhte. Die Ergebnisse der Befragungen waren wie folgt: 98,7% der Patienten entschieden sich für die wenig belastende Behandlung (Alternative: Tod bei keiner Behandlung). Der Anteil der Patienten, die die Szenarien 2, 3 und 4
Die Bedeutung der Kommunikation mit den Patienten
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mit ungünstigen Ausgängen im Vergleich mit dem Szenario 1 nicht mehr wünschten, stieg von 11 auf 74 und 89%. Mit zunehmender Wahrscheinlichkeit eines ungünstigen Ausgangs sank die Zahl der Patienten, die diese Behandlungen wünschten. Für den Fall des Todes als ungünstigen Ausgang sank die Zahl derer, die eine derartige Behandlung wünschten, allerdings erst ab einer Todeswahrscheinlichkeit von 90%! Für die Szenarien mit Pflegebedürftigkeit und schwerer kognitiver Einschränkung hingegen sank die Zahl der Patienten, die eine derartige Behandlung wünschten, bereits deutlich ab einer 50%igen Wahrscheinlichkeit für den ungünstigen Ausgang! Es ist also offenkundig, dass die Behandlungswahl der befragten älteren Patienten stark vom Behandlungsausgang bestimmt wurde. Außerdem trafen die Patienten eindeutig Abwägungen zwischen Belastungen aufgrund von Behandlungen und möglichen Ausgängen von Behandlungen sowie deren unterschiedlich niedrigen bzw. hohen Wahrscheinlichkeiten. Die wichtigste Schlussfolgerung aus den Ergebnissen der o. g. drei Studien heißt: Die Kommunikation zwischen behandelnden Ärzten und ihren (alten) Patienten, zwischen Ärzten und Angehörigen sowie zwischen Teammitgliedern untereinander ist von nicht hoch genug einzuschätzender Bedeutung! Weiter ist zu bedenken, dass sich einmal geäußerte Willensbekundungen im Laufe der Zeit unter veränderten Bedingungen ändern können [40].
Die Bedeutung der Kommunikation mit den Patienten Die Mehrzahl der Patienten wünscht mehr und andere Informationen, als sie vom Arzt erhält. Viele Patienten sind dazu bereit, eine aktivere Rolle im Umgang mit ihrer Krankheit zu spielen. Dazu möchten sie stärker als bisher an Entscheidungen beteiligt werden. Auch die Patienten, die sich nicht an der Entscheidung beteiligen wollen, wünschen sich mehr Informationen. Die Tendenz zur Stärkung der Position des Patienten im Gesundheitswesen findet ihren Ausdruck in der Erforschung, Entwicklung und Implementation von Modellen und Konzepten der medizinischen Entscheidungsfindung („medical decision making“). Diese Konzepte werden mit Begriffen überschrieben wie z patient-centered care, z informed choice, z informed decision making, z shared decision making (SDM), z evidence-based patient choice [27]. Eines der o. g. Konzepte zur medizinischen Entscheidungsfindung basiert auf dem patientenzentrierten Shared-decision-making-Modell, das als eine
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„patientenzentrierte klinische Methode“ die folgenden 6 Komponenten umfasst: 1. Exploration der Vorstellungen und Konzepte des Patienten von Krankheit und Gesundheit, 2. Integration dieser Konzepte zum Verständnis der ganzen Person, 3. eine gemeinsame Grundlage und Partnerschaft für das weitere Vorgehen finden, 4. Prävention und Gesundheitsförderung, 5. die Patient-Arzt-Beziehung pflegen und verbessern, 6. den realistischen Umgang mit Zeit und der erforderlichen emotionalen und physischen Energie [10]. Wie unmittelbar erkennbar ist, entsprechen diese Komponenten einer patientenzentrierten Kommunikation geradezu idealtypisch dem Ansatz der Altersmedizin, die die ganze Person mit ihren in der Regel mehrdimensionalen Problemen wahrnimmt (siehe Kap. 4). Die Elemente der informierten Entscheidungsfindung sind: z Diskussion der Rolle des Patienten in der Entscheidungsfindung, z Diskussion des klinischen Problems und der Art der Entscheidung, z Diskussion von Alternativen, z Diskussion des Für (möglicher Nutzen) und Wider (möglicher Schaden) der Alternativen, z Diskussion der Unsicherheiten, die mit der Entscheidung einhergehen, z Beurteilung des Verständnisses des Patienten, z Exploration der Präferenz des Patienten [9]. Wesentliche Informationsbedürfnisse von Patienten sind folgende (nach Coulter et al. [16]): Patienten möchten z z z z z z z z z z
verstehen, was nicht in Ordnung ist, eine realistische Vorstellung der Prognose erhalten, das Arztgespräch bestmöglich nutzen, die Abläufe und die wahrscheinlichen Ergebnisse von Untersuchungen und Behandlungen verstehen, Unterstützung und Hilfe bei der Bewältigung erhalten, darin unterstützt werden, selber etwas zu tun, ihr Hilfsbedürfnis und ihre Besorgnis rechtfertigen, andere darin unterstützen, sie zu verstehen, lernen, weitere Krankheit zu verhindern sowie wissen, wer die besten Ärzte sind.
Es gibt überhaupt keine vernünftigen Gründe, anzunehmen, dass ältere und auch hochbetagte Patienten keine eigenen Vorstellungen („Modelle“) von ihren Krankheiten oder gesundheitlichen Problemen bzw. von Wohl-
Die Bedeutung der Kommunikation mit den Patienten
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ergehen und Gesundheit haben oder keine persönlichen Erwartungen an Diagnostik und Behandlung. Es gibt auch keine vernünftigen Gründe, warum sich das Informationsbedürfnis alter Patienten grundlegend von dem jüngerer unterscheiden sollte. Der klinische Alltag zeigt, dass ältere Patienten im Vergleich mit jüngeren allerdings eher zurückhaltend in der Forderung nach Erfüllung dieser Bedürfnisse sind. Zahlreiche „Hindernisse“ (z. B. Beeinträchtigungen von Hören, Sehen, Sprechen, Schwierigkeiten der Konzentrationsfähigkeit und des Verständnisses etc.), die für alte Kranke die Kommunikation erschweren, sind deshalb unbedingt zu beachten! Des weiteren zeigten Untersuchungen wiederholt, dass die Bereitschaft, dem Arzt die wesentliche Rolle bei der Entscheidungsfindung oder die letzte Entscheidung ganz zu überlassen, mit zunehmendem Alter wächst [26]. Jüngere Patienten zeigen ein höheres Bedürfnis nach Autonomie und können dieses auch eher geltend machen. Im Praxisalltag sind es dann auch Angehörige, die häufig die Interessen alter Patienten wahrnehmen. Ebenso wie die Fremdanamnese nicht nur ausgesprochen nützlich, sondern häufig auch erforderlich ist (siehe Kap. 5), sollte die Kommunikation mit Angehörigen sowie mit dem Patienten zusammen mit seinen Angehörigen genutzt werden, um Informationen, Empfehlungen und ärztlichen Rat nachhaltig zum alten Patienten zu bringen! Eine entsprechend ernst zu nehmende und häufig auch zeitintensive ärztliche Aufgabe besteht in der Aufklärung, der Informationsvermittlung und der Beratung von Angehörigen. Ihre Ängste, Sorgen und Bedürfnisse nach Informationen über ihren angehörigen Patienten sollten möglichst berücksichtigt werden, denn sie sind – z. B. nach Abschluss einer stationären Behandlung – sehr häufig diejenigen, die verantwortlich sind für die Bürden der weiteren Versorgung [34]. Informiertheit und verbessertes Verständnis durch ärztliche Beratung können ohne Zweifel auch dazu beitragen, dass diese belastenden Aufgaben für Angehörige „tragbarer“ werden. Für Angehörige von Patienten im Krankenhaus sind auch die anderen Berufsgruppen im Team wichtige Ansprechpartner in Sachen Information. Es ist deshalb wichtig, dass die Mitglieder eines Behandlungsteams möglichst kongruente Informationen an Patienten und Angehörige abgeben, also sinngemäß „mit einer Stimme“ sprechen [34]. Die Pflege einer „Informationskultur“ mit Patienten und deren Angehörigen sollte selbstverständlich werden. Je professioneller und selbstverständlicher informiert wird, desto komplikationsloser sind erfahrungsgemäß auch gemeinsame Wege mit Patienten aus schwierigen Situationen zu finden und zu gehen. Aus dem bisher Gesagten lässt sich zwanglos ableiten, dass es zu Problemen kommen kann, und – wie der klinische Alltag zeigt – dass es besonders in sehr komplizierten Situationen geradezu regelhaft auch zu Problemen kommt, wenn die o. g. Prinzipien funktionierender Kommunikation unberücksichtigt, vergessen oder gar in ignoranter Weise missachtet werden. An dieser Stelle soll besonders auf die Einrichtung eines Klinischen Ethikkomitees hingewiesen werden, zu dessen Standardaufgaben neben
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ethischer Weiterbildung und Leitlinienarbeit vor allem die ethische Einzelfallberatung zählt [37]. Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, dass Kommunikationsprobleme mindestens die Hälfte aller Beschwerden ausmachen, die alte Patienten im Krankenhaus betreffen, und dass sie in der Mehrzahl von deren Angehörigen vorgebracht werden [1]. Dabei geht es nicht unbedingt immer um (missverständliche oder missverstandene) Kommunikationsinhalte, sondern um unangemessene Formen von Kommunikation. Hierin kommen – bedauerlicherweise immer noch zu oft – völlig inadäquate und überhaupt gar nicht zu tolerierende Haltungen gegenüber alten Patienten und alten Menschen schlechthin zum Ausdruck. Was hat Kommunikation mit dem Inhalt dieses Kapitels zu tun? Die Bedeutung patientenzentrierter Kommunikation betrifft grundsätzlich das Verhältnis zu Patienten und beschränkt sich natürlich nicht auf Situationen, in denen Entscheidungen anstehen, die möglicherweise durch die Alternative zwischen Leben oder Tod zu beschreiben sind. Eine häufige Situation besteht aber darin, gemeinsam mit dem Patienten die für ihn bestmögliche Behandlungsoption zu wählen [39]. Oft müssen Ärzte traurige, schlechte oder schwierige Nachrichten überbringen oder vermitteln [18]. Um dieses gut, d. h. professionell und kompetent tun zu können, muss man sich darum bemühen, es zu lernen. In dem Spektrum der vielfältigen ärztlichen Tätigkeiten ist die Betreuung und Begleitung sterbender Menschen etwas Besonderes. Wenn die Kommunikation als wichtigstes tragendes Element im Verhältnis zum Patienten zu Lebzeiten nicht gekennzeichnet ist durch Ehrlichkeit, Authentizität und Bemühen um Verständnis und Vertrauen, wie soll dann in der Situation des Sterbens, wenn Worte vielleicht nicht mehr verstanden werden können, kommuniziert werden? Deshalb ist dieser Abschnitt als ein Plädoyer für offene Kommunikation zu verstehen, die die überwiegende Zahl der Patienten sich von uns wünscht. Dies bedeutet nicht, dass Patienten sowie auch Angehörige stets in jeder Situation „alles“ gesagt bekommen möchten [20]. Häufig wird dies dann signalisiert, freilich nicht immer durch sofort verständliche Worte, sondern manchmal in Bildwörtern oder auch ganz ohne ein gesprochenes Wort. Es muss allerdings wahrgenommen und verstanden werden.
Patientenrechte und Willensbezeugungen Selbstbestimmung, Kontrolle, Autonomie, die Würde der Identität und Menschenrechte sind u. a. Bestandteile eines Konzepts von Würde, wie sie von alten Menschen selbst beschrieben oder umschrieben worden ist [46]. Es gibt sehr vielfältige Situationen, in denen die Würde von Patienten und
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das, was damit – für den Einzelnen – verbunden ist, potenziell gefährdet sein kann oder tatsächlich nicht gewahrt wird. Die überwiegende Mehrzahl auch älterer Patienten ist – in angemessener Situation und Form – dazu bereit, offen über ihre Wünsche der medizinisch-pflegerischen Versorgung, insbesondere bezüglich lebenserhaltender bzw. -verlängernder Maßnahmen zu sprechen und Fragen hierzu zu beantworten [22, 23]. Hilfen bei Entscheidungsfindungen in der letzten Lebensphase können schriftliche Willensbezeugungen sein, z. B. die Patientenverfügung:. „Patientenverfügungen sind schriftliche oder mündliche Willensäußerungen eines entscheidungsfähigen Patienten zur zukünftigen Behandlung für den Fall der Äußerungsunfähigkeit. Mit ihr kann und soll der Patient unter anderem bestimmen, ob und in welchem Umfang bei ihm in bestimmten, näher umrissenen Krankheitssituationen medizinische Maßnahmen ergriffen oder auch unterlassen werden sollen. Eine Patientenverfügung ist gewissermaßen ein in die Zukunft hinein wirkender Patientenwille für den Fall fehlender Entscheidungs- und Willensfähigkeit. Ihre rechtliche Bedeutung ist inzwischen unbestritten: Sie bindet grundsätzlich die behandelnden Ärzte [6, 28].“ Die Alltagserfahrung zeigt, dass derartige Patientenverfügungen bislang in den seltensten Fällen vorliegen. Abschließend soll deshalb eine Möglichkeit genannt werden, die eine Hilfe sein kann, den Patientenwillen zu ermitteln. Es handelt sich um die sog. Wertanamnese. Darunter versteht man die systematische Erfassung der Wertvorstellungen von Patienten (siehe Kap. 4) (Lambert et al. 1990; zitiert bei [4]).
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26. Klaschik E (2003) Schmerztherapie und Symptomkontrolle in der Palliativmedizin. In: Husebø S. Klaschik E (Hrsg) Palliativmedizin, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg, S 181–287 27. Klemperer D (2003) Wie Ärzte und Patienten Entscheidungen treffen. Konzepte der Arzt-Patient-Kommunikation. Veröffentlichungsreihe der Arbeitsgruppe Public Health Forschungsschwerpunkt Arbeit, Sozialstruktur und Sozialstaat, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) 28. Klie T (2003) Sterben in Würde – zwischen Autonomie und Fürsorge. Ein Beitrag zur aktuellen juristischen Diskussion. Z Gerontol Geriat 36:347–354 29. Moe C, Schroll M (1997) What degree of medical treatment do nursing home residents want in case of life-threatening disease? Age Ageing 26:133–137 30. Ostgathe C, Lindena G, Radbruch L, Voltz R (2008) Nicht-onkologische Patienten in der spezialisierten stationären Palliativversorgung in Deutschland – HOPE 2002–2005. Palliativmedizin 9:159–160 31. Osgathe C, Lindena G, Radbruch L, Voltz R (2008) Symptome und Probleme von nicht-onkologischen Palliativpatienten – HOPE 2002–2005. Palliativmedizin 9:159 32. Parmelee P, Smith B, Katz I (1993) Pain complaints and cognitive status among elderly institution residents. J Am Geriatr Soc 41:517–522 33. Radbruch L, Zech D (Hrsg) Grundlagen der Palliativmedizin. In: Aulbert E, Zech D (Hrsg) Lehrbuch der Palliativmedizin. Schattauer, Stuttgart, S 1–11 34. Renteln-Kruse W von, Nogaschewski K (2002) Krankheitswissen, Erwartungen und Urteile zur Behandlung älterer Schlaganfallpatienten und ihrer nächsten Angehörigen – Eine prospektive Untersuchung im Verlauf stationärer Behandlung. Z Gerontol Geriat 35:241–249 35. Sabatowski R, Radbruch L, Müller M, Nauck F, Zernikow B (2002) Hospizund Palliativführer 2003. Stationäre und ambulante Palliativ- und Hospizeinrichtungen in Deutschland. MediMedia, Neu-Isenburg, 2002 36. Sandgathe Husebø B (2003) Palliativmedizin in der Geriatrie. In: Husebø S, Klaschik E (Hrsg) Palliativmedizin, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg, S 363–395 37. Scheffold N, Paoli A, Kern M, Böhringer S, Berentelg J, Cyran J (2006) Etablierung eines Klinischen Ethikkomitees an einem nichtkonfessionellen Schwerpunktklinikum Erste Erfahrungen und Perspektiven. Med Klin 101: 584–589 38. Schmitz-Scherzer R (1992) Sterben und Tod im Alter. In: Baltes PB, Mittelstraß J (Hrsg) Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung. De Gruyter, Berlin, S 544–562 39. Schuler M, Neuhauser T, Hauer K, Oster P, Razus D, Hacker M (2001) Schmerzerkennung bei geriatrischen Patienten durch ein interdisziplinäres Team: Urteilssicherheit und Einflussfaktoren. Z Gerontol Geriat 34:376–386 40. Straton JB, Wang N-Y, Meoni LA, Ford DE, Klag MJ, Casarett D, Gallo JJ (2004) Physical functioning, depression and preferences for treatment at the end of life: The Johns Hopkins Precursors Study. J Am Geriatr Soc 52:577– 582 41. Sullivan M, Ormel J, Kempen GI, Tymstra TJ (1998) Beliefs concerning death, dying, and hastening death among older functional impaired Dutch adults: a one-year longitudinal study. J Am Geriatr Soc 46:1252–1257 42. Van Oorschot B, Dreßel G, Erdmann B, Hausmann Ch, Hildebrand B (2002) Sterben in Thüringen. Z Palliativmed 3:30–33
239
240
z
19 Lebensende und medizinische Versorgung
43. Van Oorschot B (2004) Zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Patienten und Ärzten in der letzten Lebensphase – Erste Ergebnisse und Perspektiven eines Modellvorhabens. Z Ärztl Fortbild Qual Gesundh 98:121–125 44. Wedding U, Höffken K (2002) Entscheidungsprozesse bei alten Patienten mit Tumorerkrankungen. In: Höffken K, Kolb G, Wedding U (Hrsg) Geriatrische Onkologie. Springer, Berlin Heidelberg, S 369–385 45. Wilmsen-Neumann J, Sandgate-Husebø B, Husebø S (2002) Palliativmedizin auch für die sterbenden Alten! Klinikarzt 31:257–261 46. Woolhead G, Calnan M, Dieppe P, Tadd W (2004) Dignity in older age: what do older people in the United Kingdom think? Age Ageing 33:165–170
z Weiterführende Literatur Koch U, Lang K, Mehnert A, Schmeling-Kludas C (2006) Die Begleitung schwer kranker und sterbender Menschen. Grundlagen und Anwendungshilfen für Berufsgruppen in der Palliativversorgung. Schattauer, Stuttgart Lang K, Schmeling-Kludas C, Koch U (2007) Die Begleitung schwer kranker und sterbender Menschen. Das Hamburger Kursprogramm. Schattauer, Stuttgart Nationaler Ethikrat (2006) Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Berlin. (www.ethikrat.org) Tolmein O (2006) Keiner stirbt für sich allein. Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung. Bertelsmann
Anhang
Auswahl von Screening- und Untersuchungsverfahren zur Beurteilung gesundheitlicher Probleme älterer Patienten Diese Auswahl von Screening- und Untersuchungsverfahren berücksichtigt etablierte Instrumente, die größtenteils als Bestandteil des so genannten geriatrischen Basisassessments, in Deutschland als Arbeitsgruppe Geriatrisches Assessment (AGAST [1]) bereits seit Jahren empirisch Eingang in die Praxis klinisch geriatrischer Versorgung gefunden haben (siehe auch Kap. 4). Für Einzelheiten sei auf die jeweils angegebenen Originalquellen verwiesen. Positiv ausfallende Ergebnisse bei Durchführung der hier aufgeführten Screening-Verfahren liefern keine nosologische Zuordnung bzw. Diagnosestellung. In diesem Fall soll jeweils die weiterführende und spezifizierende Diagnostik eingeleitet werden, die z. T. von Mitgliedern des interdisziplinären Teams durchgeführt wird (Beispiel: neuropsychologische Diagnostik bei Verdacht auf demenzielle Erkrankung im Screening).
Geriatrisches Screening (AGAST 1997; mod. n. Lachs et al. 1990 [1]) Das geriatrische Screening (Tabelle 1) liefert Hinweise auf beeinträchtigte Funktionen sowie wichtige geriatrische Risiken. Es sollen alle 15 Bereiche (Items des Bogens) angesprochen bzw. durchgeführt werden. Die Fragen und Aufgaben sind im Bogen enthalten. Mögliche Konsequenzen für weiterführende Untersuchungen aus dem Ergebnis des geriatrischen Screenings sind nach Gesichtspunkten klinisch-geriatrischer Relevanz zu entscheiden.
242
z
Anhang
Tabelle 1. Geriatrisches Screening. (Mod. n. [1]) Problem
Untersuchung
Pathologisches Ergebnis
1. Sehen
Fingerzahl mit Brille in 2 m Entfernung erkennen Nahvisus oder Lesen einer Überschrift Frage: Hat sich Ihre Sehfähigkeit in letzter Zeit verschlechtert?
Kein korrektes Erkennen bzw. Lesen möglich oder die Frage wird mit Ja beantwortet
2. Hören
Flüstern der folgenden Zahlen in ca. 50 cm Entfernung nach Ausatmung in das angegebene Ohr, während das andere zugehalten wird. 6 1 9 linkes Ohr 2 7 3 rechtes Ohr
Mehr als eine Zahl wird falsch erkannt
3. Armfunktion
Bitten Sie den Patienten, 1. beide Hände hinter den Kopf zu legen und 2. einen Kugelschreiber von Tisch/Bettdecke aufzuheben
Mindestens eine Aufgabe wird nicht gelöst
4. Beinfunktion
Bitten Sie den Patienten aufzustehen, einige Schritte zu gehen und sich wieder zu setzen
Patient ist nicht in der Lage, eine dieser Tätigkeiten selbstständig auszuführen
5. Blasenkontinenz
Frage: Konnten Sie in letzter Zeit den Urin versehentlich nicht halten?
Antwort des Patienten: Ja
6. Stuhlkontinenz
Frage: Konnten Sie in letzter Zeit den Stuhl versehentlich nicht halten?
Antwort des Patienten: Ja
7. Ernährungsstatus
Schätzen Sie das Patientengewicht
Nicht normalgewichtig Untergewichtig?
8 a. Kognitiver Status
Nennen Sie dem Patienten die folgenden Begriffe und bitten ihn, sie sich zu merken: Apfel Pfennig Tisch Bitten Sie den Patienten, die Begriffe zu wiederholen
9. Aktivität
Fragen Sie den Patienten: „Können Sie sich selbst anziehen? Können Sie mindestens eine Treppe steigen? Können Sie selbst einkaufen gehen?“
Eine oder mehr Fragen mit Nein beantwortet
Assessment der Aktivitäten des täglichen Lebens
z
Tabelle 1 (Fortsetzung) Problem
Untersuchung
Pathologisches Ergebnis
10. Depression
Fragen Sie den Patienten: „Fühlen Sie sich oft traurig oder niedergeschlagen?“
Bei Antwort Ja oder ggf. Eindruck des Arztes
8 b. Kognitiver Status
Fragen Sie die Begriffe aus 8 a ab: Apfel Pfennig Tisch
Einen oder mehrere Begriffe vergessen
11. Soziale Unterstützung
Frage: „Haben Sie Personen, auf die Sie sich verlassen und die Ihnen zu Hause regelmäßig helfen können?“
Bei Antwort des Patienten: Nein
12. Risikofaktor Krankenhausaufenthalt
Frage: „Wann waren Sie zum letzten Mal im Krankenhaus?“
Ja, vor weniger als 3 Monaten (ungeplant)
13. Risikofaktor Sturz
Frage: „Sind Sie in den letzten 3 Monaten gestürzt?“
Antwort: Ja
14. Risikofaktor Multimedikation
Frage: „Nehmen Sie regelmäßig mehr als 5 verschiedene Medikamente?“
Antwort: Ja
15. Risikofaktor häufig Schmerzen
Frage: „Leiden Sie häufig unter Schmerzen?“
Antwort: Ja
Assessment der Aktivitäten des täglichen Lebens z Barthel-Index gemäß Hamburger Einstufungsmanual der Arbeitsgruppe „Barthel-Index“ der RAG Hamburg der BAG (Lübke et al. 2001 [10]) Der Bartel-Index erfasst die in Tabelle 2 aufgeführten Komponenten. Eine volle Punktzahl darf nur für eine völlig selbstständige und sichere Durchführung der beobachteten Tätigkeiten vergeben werden. Bewertet wird nur, was der Patient tatsächlich aus eigenem Antrieb in seiner aktuellen Situation tut, nicht was er von seiner Motorik theoretisch oder unter anderen äußeren Bedingungen tun könnte. Hilfsweise, wenn keine Beobachtung möglich ist, kann eine Befragung erfolgen (Anamnese, Fremdanamnese). Die Summe möglicher Summenscores reicht von 0–100. Der Barthel-Index wird i. d. R. durch Pflegekräfte verwendet. Auf die methodischen Probleme dieses weit verbreiteten Instruments kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Es wird jedoch auf eine ausführliche Erörterung hierzu hingewiesen [11].
243
244
z
Anhang
Tabelle 2. Barthel-Index. (Nach [10]) z Essen 10 Komplett selbstständig oder selbstständige PEG-Beschickung/-Versorgung 5 Hilfe bei mundgerechter Vorbereitung, aber selbstständiges Einnehmen oder Hilfe bei PEG-Beschickung/-Versorgung 0 Kein selbstständiges Einnehmen und keine MS/PEG-Ernährung z Aufsetzen und Umsetzen 15 Komplett selbstständig aus liegender Position in (Roll-)Stuhl und zurück 10 Aufsicht oder geringe Hilfe (ungeschulte Laienhilfe) 5 Erhebliche Hilfe (geschulte Laienhilfe oder professionelle Hilfe) 0 Wird faktisch nicht aus dem Bett transferiert z Sich Waschen 5 Vor Ort komplett selbstständig inklusive Zähneputzen, Rasieren und Frisieren 0 Erfüllt 5 nicht z Toilettenbenutzung 10 Vor Ort komplett selbstständige Nutzung von Toilette oder Toilettenstuhl inklusive Spülung/Reinigung 5 Vor Ort Hilfe oder Aufsicht bei Toiletten- oder Toilettenstuhlbenutzung oder deren Spülung/Reinigung erforderlich 0 Benutzt faktisch weder Toilette noch Toilettenstuhl z Baden/Duschen 5 Selbstständiges Baden oder Duschen inklusive Ein-/Ausstieg, sich reinigen und abtrocknen 0 Erfüllt 5 nicht z Aufstehen und Gehen 15 Ohne Aufsicht oder personelle Hilfe vom Sitz in den Stand kommen und mindestens 50 m ohne Gehwagen (aber ggf. mit Stöcken/Gehstützen) 10 Ohne Aufsicht oder personelle Hilfe vom Sitz in den Stand kommen und mindestens 50 m mit Hilfe eines Gehwagens gehen 5 Mit Laienhilfe oder Gehwagen vom Sitz in den Stand kommen und Strecken im Wohnbereich bewältigen; alternativ: im Wohnbereich komplett selbstständig mit Rollstuhl 0 Erfüllt 5 nicht z Treppensteigen 10 Ohne Aufsicht oder personelle Hilfe (ggf. mit Hilfe von Stöcken/Gehstützen) mindestens ein Stockwerk hinauf- und hinuntersteigen 5 Mit Aufsicht oder Laienhilfe mindestens ein Stockwerk hinauf und hinunter 0 Erfüllt 5 nicht
Assessment der Aktivitäten des täglichen Lebens
z
Tabelle 2 (Fortsetzung) z An- und Auskleiden 10 Zieht sich in angemessener Zeit selbstständig Tageskleidung, Schuhe (und ggf. benötigte Hilfsmittel, z. B. ATS, Prothesen) an und aus 5 Kleidet mindestens den Oberkörper in angemessener Zeit selbständig an und aus, sofern die Utensilien in greifbarer Nähe sind 0 Erfüllt 5 nicht z Stuhlkontinenz 10 Ist stuhlkontinent, ggf. selbstständig bei rektalen Abführmaßnahmen oder AP-Versorgung 5 Ist durchschnittlich nicht mehr als 1 ´ pro Woche stuhlinkontinent oder benötigt Hilfe bei rektalen Abführmaßnahmen/AP-Versorgung 0 Ist durchschnittlich mehr als 1 ´ pro Woche stuhlinkontinent z Harnkontinenz 10 Ist harnkontinent oder kompensiert seine Harninkontinenz/versorgt seinen DK komplett selbstständig und mit Erfolg (kein Einnässen von Kleidung oder Bettwäsche) 5 Kompensiert seine Harninkontinenz selbstständig und mit überwiegendem Erfolg (durchschnittlich nicht mehr als 1 ´ pro Tag Einnässen von Kleidung oder Bettwäsche) oder benötigt Hilfe bei der Versorgung seines Harnkathetersystems 0 Ist durchschnittlich mehr als 1 ´ pro Tag harninkontinent z Gesamtpunktescore: 0–100
z Ergebnisinterpretation. Erreicht der Proband 100 Punkte, so ist er in den Basisaktivitäten des täglichen Lebens weitgehend selbstständig und i. Allg. von Pflege unabhängig; hauswirtschaftliche Hilfen können jedoch erforderlich sein. Da der Barthel-Index keine kontinuierliche Skala ist, kann er, als alleiniges Verfahren angewandt, den Grad der Hilfsbedürftigkeit nicht quantifizieren. Bei der Beurteilung pflegebedürftiger alter Menschen können einzelne Items eine größere Bedeutung haben als die im Summenscore erreichte Punktzahl. Der Barthel-Index ist nicht geeignet zur Erfassung leichterer Behinderungen und besitzt eine sehr geringe Unterschiedssensitivität. Verschiebungen der Punktwerte für einzelne Items bei konstantem Gesamtpunktwert sind bei Verlaufsmessungen möglich. Dieser Umstand ist deshalb bei einer Bewertung zu berücksichtigen, weshalb für eine sinnvolle Aussage eben auch die Punktwerte der Einzelitems angegeben werden sollten. z Frühreha-Barthel-Index (Schönle 1996) [17]. Um den Schweregrad und pflegerischen Versorgungsaufwand funktional schwer beeinträchtigter Patienten mit Hirnschädigung in der neurologischen Rehabilitation abzubilden und zu quantifizieren, wurde der Frühreha-Barthel-Index entwickelt
245
246
z
Anhang
Tabelle 3. Frühreha-Barthel-Index (Schönle 1996 [17])
z Intensivmedizinisch überwachungspflichtiger Zustand (z. B. vegetative Krisen) z Absaugpflichtiges Tracheostoma z Intermittierende Beatmung z Beaufsichtigungspflichtige Orientierungsstörung (Verwirrtheit) z Beaufsichtigungspflichtige Verhaltensstörung (mit Eigen- und/oder Fremdgefährdung) z Schwere Verständigungsstörung z Beaufsichtigungspflichtige Schluckstörung
Nein
Ja
0
–50
0 0 0 0
–50 –50 –50 –50
0 0
–25 –50
[17]. Er enthält Items, die mit erhöhtem Versorgungsaufwand verbunden sind und mit einer negativen Punktzahl bewertet werden (Tabelle 3).
z Functional Independence Measure (FIM) (FIM-Arbeitskreis 1997 [5]) Der FIM ist ein Instrument zur Einschätzung der funktionalen Selbstständigkeit. Er erfasst Aktivitäten des Lebens in insgesamt 18 Items. Anhand einer Ordinalskala zu jedem Item wird der gegenwärtige Grad der Selbständigkeit in Stufen von 1–7 bewertet (1 = komplette Hilfestellung bis 7 = vollständige Unabhängigkeit). Die Summe möglicher Punktescores reicht von minimal 18 bis maximal 126 Punkten. Die Items beziehen sich auf fünf Bereiche: z Selbstversorgung (Essen/Trinken, Körperpflege, Baden/Duschen/Waschen, Ankleiden Ober- und Unterkörper, Toilettenhygiene), z Kontinenz (Blasen-, Darmkontrolle), z Transfer (Bett/Stuhl/Rollstuhl, Toilettensitz, Badewanne/Dusche), z Fortbewegung (zu Fuß, Rollstuhl, Treppensteigen), z Kommunikation (Verstehen, Ausdruck) und z sozialkognitive Fähigkeiten (soziales Verhalten, Problemlösung, Gedächtnis). Die Anwendung erfordert Schulung mit dem ausführlichen Manual. Das Instrument wird im Bereich der Rehabilitation z. B. von Ergotherapeuten angewendet.
Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL)
z
Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) (Nach Lawton u. Brody 1969 [9] in der Übersetzung von Nikolaus 1999 [14]) Bei der Erfassung von Alltagskompetenzeinbußen mittels IADL-Skala wird für jede Tätigkeit, die selbstständig geleistet werden kann, ein Punkt vergeben (Tabelle 4). Die Skala erfasst grobe Veränderungen. Die Antworten sind z. T. abhängig von der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung, die Beurteilungen sind z. T. sehr subjektiv. Das Ergebnis wird als Quotient von 8 angegeben.
Tabelle 4. Erfassung der IADL. (Nach [9, 14]) z Telefon Benutzt Telefon aus eigener Initiative Wählt einige bekannte Nummern Nimmt ab, wählt nicht selbstständig Benutzt das Telefon überhaupt nicht
1 1 1 0
z Einkaufen Kauft selbstständig die meisten benötigten Sachen ein Tätigt wenige Einkäufe Benötigt bei jedem Einkauf Begleitung Unfähig zum Einkaufen
1 0 0 0
z Kochen Plant und kocht erforderliche Mahlzeiten selbstständig Kocht erforderliche Mahlzeiten nur nach Vorbereitung durch Drittpersonen Kocht selbstständig, hält aber benötigte Diät nicht ein Benötigt vorbereitete und servierte Mahlzeiten z Haushalt Hält Haushalt instand oder benötigt zeitweise Hilfe bei schweren Arbeiten Führt selbstständig kleine Hausarbeiten aus Führt selbstständig kleine Hausarbeiten aus, kann aber die Wohnung nicht rein halten Benötigt Hilfe in allen Haushaltsverrichtungen Nimmt überhaupt nicht teil an täglichen Verrichtungen im Haushalt
1 0 0 0
1 1 1 1 0
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248
z
Anhang
Tabelle 4 (Fortsetzung) z Wäsche Wäscht sämtliche eigene Wäsche Wäscht kleine Sachen Gesamte Wäsche muss auswärts versorgt werden z Transportmittel Benutzt unabhängig öffentliche Verkehrsmittel, eigenes Auto Bestellt und benutzt selbstständig Taxi, benutzt aber keine öffentlichen Verkehrsmittel Benutzt öffentliche Verkehrsmittel in Begleitung Beschränkte Fahrten in Taxi oder Auto in Begleitung Reist überhaupt nicht z Medikamente Nimmt Medikamente in genauer Dosierung und zum korrekten Zeitpunkt eigenverantwortlich Nimmt vorbereitete Medikamente korrekt Kann korrekte Einnahme von Medikamenten nicht handhaben z Geldhaushalt Regelt finanzielle Geschäfte selbstständig (Budget, Schecks, Einzahlungen, Gang zur Bank) Erledigt täglich kleine Ausgaben, benötigt Hilfe bei Einzahlungen, Bankgeschäften Ist nicht mehr fähig, mit Geld umzugehen z Gesamtscore
1 1 0
1 1 1 0 0
1 0 0
1 1 0 /8
Sehen z Nahvisus-Prüfung mit Jäger-Tafel (Mangione et al. 1992 [13]) Die Karte (Abb. 1) wird bei bei guten Lichtverhältnissen in Lesedistanz vom Auge entfernt gehalten, und zwar für jedes Auge einzeln, mit und ohne Brille. z Beurteilung: £ 20/40: wahrscheinliche Sehstörung
Sehen
Abb. 1.
z
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250
z
Anhang
Hören z Flüstertest (Macphee, Growther, McAlpine 1988 [12]) Nach Ausatmen werden folgende Zahlen aus 50 cm Entfernung in das bezeichnete Ohr geflüstert, während das andere Ohr zugehalten wird: 6 2
1 7
9 3
linkes Ohr rechtes Ohr
z Beurteilung: ³ 1 falsche Zahlenwiedergabe: mögliche Hörstörung
z Hearing Handicap Inventory for the Elderly (HHIE-S) (Ventry, Weinstein 1982 [21]) Um Handicaps beim Hören zu evaluieren, eignet sich der in Tabelle 5 wiedergegebene Fragenkatalog. Tabelle 5. Hearing Handicap Inventory for the Elderly. (Nach [21])
1. Verunsichert Sie Ihr Hörproblem, wenn Sie mit anderen Leuten zusammentreffen? 2. Sind Sie wegen Ihres Hörproblems manchmal frustriert, wenn Sie mit Familienangehörigen sprechen? 3. Haben Sie Schwierigkeiten, jemanden zu verstehen, der nur flüstert? 4. Fühlen Sie sich durch Hörprobleme behindert? 5. Macht Ihnen Ihr Hörproblem beim Besuch von Freunden, Verwandten oder Nachbarn Schwierigkeiten? 6. Gehen Sie wegen Ihres Hörproblems seltener zur Kirche, als Sie es möchten? 7. Führt Ihr Hörproblem zu Auseinandersetzungen mit Familienmitgliedern? 8. Macht Ihnen Ihr Hörproblem beim Fernsehen oder Radiohören Schwierigkeiten? 9. Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Hörproblem Ihr persönliches oder soziales Leben einschränkt oder beeinträchtigt? 10. Macht Ihnen Ihr Hörproblem bei einem Restaurantbesuch mit Angehörigen oder Freunden Schwierigkeiten?
Ja
Manchmal
4
2
4
2
4
2
4 4
2 2
4
2
4
2
4
2
4
2
4
2
Nein
Mobilität
z
z Gesamtscore: 0–40 Punkte > 8 Punkte: einschränkende Hörstörung z Bewertung: 0–8 Punkte: kein Handicap; 10–24 Punkte: leichtes bis mäßiges Handicap; 26–40 Punkte: schweres Handicap
Mobilität z Tandem-Stand (statische Balance) Der Proband wird aufgefordert, mindestens 10 s in drei Positionen zu stehen. Es wird gemessen, wie lange die Stellung eingehalten werden kann. 1. Position: Füße Seite an Seite (berühren sich) 2. Position: Ferse des einen Fußes neben Großzehe des anderen (Semi-Tandem-Stand) 3. Position: Ferse des einen Fußes direkt vor den anderen Fuß (TandemStand) z Bewertung: Wird eine Position weniger als 10 s eingehalten, besteht eine Balance-Störung.
z Timed-up and go (basale funktionelle Beweglichkeit) (Podsiadlo, Richardson 1991 [15]) Der zu Untersuchende sitzt auf einem Stuhl mit Armlehne (Sitzhöhe ca. 46 cm). Die Arme liegen locker auf den Armlehnen, der Rücken liegt an der Rückenlehne an. Bei Aufforderung soll der Proband mit normalem und sicherem Gang bis zu einer Linie gehen, die 3 m vom Stuhl entfernt auf dem Boden markiert ist, sich dort umdrehen und wieder zum Stuhl gehen und sich zurück in die Ausgangsposition begeben. Es darf ggf. ein Hilfsmittel, z. B. ein Stock, benutzt werden. Die Zeit (in Sekunden gemessen) wird gestoppt vom Beginn des Aufstehens bis zum Hinsetzen, und es darf ein Probelauf gemacht werden. z Beurteilung: < 20 s:
Mobilität für den Alltag uneingeschränkt;
20–29 s: Mobilität eingeschränkt, funktionelle Auswirkungen wahrscheinlich; > 30 s:
ausgeprägte Mobilitätseinschränkung
251
252
z
Anhang
Bei 65- bis 85-jährigen zu Hause lebenden Frauen erwies sich die Zeit von 12 s als Schwellenwert für eingeschränkte Mobilität [2]. Deshalb wurde der Timed-up-and-go-Test als Screening-Verfahren empfohlen. Ab 12 s sollte ein weiterführendes Assessment, daraufhin ggf. Interventionen (z. B. Hilfsmittel) erwogen werden.
z Motilitätstest nach Tinetti (Balance, Stand und Gangbild) (Tinetti 1986 [20]) Der Motilitätstest nach Tinetti (Tabelle 6) analysiert und quantifiziert die Bereiche Balance, Stand und Gangbild. Er beschreibt auch ein erhöhtes Sturzrisiko. z Gesamtscore: 0–28 Punkte z Beurteilung: < 20 Punkte: Sturzrisiko deutlich erhöht; 20–23 Punkte: Sturzrisiko leicht erhöht Der Proband hat verschiedene Aufforderungen des Untersuchers zu befolgen. Art und Sicherheit der Ausführung werden bewertet. Hilfsmittel, z. B. ein Gehstock, dürfen verwendet werden und werden notiert. Die Prüfung von Stand und Balance beinhaltet die Einzelschritte Aufstehen, Stehen in den ersten Sekunden, Stehen mit geschlossenen Augen, Drehen auf der Stelle und wieder Hinsetzen. Weiter wird die Standfestigkeit des Probanden durch mehrere leichte Stöße gegen die Brust geprüft. Der Untersucher soll bei diesem Manöver in unmittelbarer Nähe des Probanden sein. Beim Aufstehen soll beurteilt werden, ob dies dem Probanden beim ersten Anlauf gelingt oder ob er z. B. die Armlehne des Stuhls als Stütze braucht. Beim Stehen wird beurteilt, ob der Proband einen Halt benötigt und ob die Füße geschlossen sind. Zur Beurteilung des Gehens wird das Gangbild nach Schrittauslösung, Schrittlänge, Schritthöhe, Schrittsymmetrie, Gangkontinuität, Wegabweichung, Schrittbreite und Rumpfstabilität analysiert.
Mobilität Tabelle 6. Erhebungsbogen Motilitätstest nach Tinetti. (Nach [20]) Hilfsmittel: nein ____
ja ____
Welches? ______________________
I. Balancetest z Gleichgewicht im Sitzen 0 Unsicher 1 Sicher, stabil z Aufstehen vom Stuhl 0 Nicht möglich 1 Nur mit Hilfe 2 Diverse Versuche, rutscht nach vorn 3 Braucht Armlehne oder Halt (nur 1 Versuch) 4 In einer fließenden Bewegung z Balance in den ersten 5 s 0 Unsicher 1 Sicher, mit Halt 2 Sicher, ohne Halt z Stehsicherheit 0 Unsicher 1 Sicher, aber ohne geschlossene Füße 2 Sicher, mit geschlossenen Füßen z Balance mit geschlossenen Augen 0 Unsicher 1 Sicher, ohne Halt z Drehung 3608 mit offenen Augen 0 Unsicher, braucht Halt 1 Diskontinuierliche Bewegung, bd. Füße am Boden vor dem nächsten Schritt 2 Kontinuierliche Bewegung, sicher z Stoß gegen die Brust (3 ´ leicht) 0 Fällt ohne Hilfe oder Halt 1 Muss Füße bewegen, behält Gleichgewicht 2 Gibt sicheren Widerstand z Hinsetzen 0 Lässt sich plumpsen, unzentriert, braucht Lehne 1 Flüssige Bewegung
z
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z
Anhang
Tabelle 6 (Fortsetzung) II. Gehprobe z Schrittauslösung (Patient wird aufgefordert zu gehen) 0 Gehen ohne fremde Hilfe nicht möglich 1 Zögert, mehrere Versuche, stockender Beginn 2 Beginnt ohne Zögern zu gehen, fließende Bewegungen z Schritthöhe (von der Seite beobachtet) 0 Kein selbstständiges Gehen möglich 1 Schlurfen, übertriebenes Hochziehen 2 Fuß total vom Boden gelöst, maximal 2–4 cm über Grund z Schrittlänge (von Zehen des einen bis Ferse des anderen Fußes) 1 Weniger als Fußlänge 2 Mindestens Fußlänge z Schrittsymmetrie 0 Schrittlänge variiert, Hinken 1 Schrittlänge beidseits gleich z Gangkontinuität 0 Kein selbstständiges Gehen möglich 1 Phasen mit Beinen am Boden, diskontinuierlich 2 Beim Absetzen des einen wird der andere Fuß gehoben, keine Pausen z Wegabweichung 0 Kein selbstständiges Gehen möglich 1 Schwanken, einseitige Abweichung 2 Füße werden entlang einer imaginären Linie abgesetzt z Rumpfstabilität 0 Abweichung, Schwanken, Unsicherheit 1 Rücken und Knie gestreckt, kein Schwanken, Arme werden nicht zur Stabilisierung gebraucht z Schrittbreite 0 Breitbeinig oder über Kreuz 1 Füße berühren sich beinahe Punkte Balance: _____ Punkte Gehprobe: _____ Gesamtpunktzahl: _____
Depressions-Screening
z
Depressions-Screening z Geriatrische Depressionsskala (GDS) (Yesavage et al. 1983 [23]) Tabelle 7. Geriatrische Depressionsskala. (Nach [23]) 1 Sind Sie grundsätzlich mit Ihrem Leben zufrieden?
Ja
Nein
2 Haben Sie viele Ihrer Aktivitäten und Interessen aufgegeben?
Ja
Nein
3 Haben Sie das Gefühl, Ihr Leben sei unausgefüllt?
Ja
Nein
4 Ist Ihnen oft langweilig?
Ja
Nein
5 Sind Sie die meiste Zeit guter Laune?
Ja
Nein
6 Haben Sie Angst, dass Ihnen etwas Schlimmes zustoßen wird?
Ja
Nein
7 Fühlen Sie sich die meiste Zeit glücklich?
Ja
Nein
8 Fühlen Sie sich oft hilflos?
Ja
Nein
9 Bleiben Sie lieber zu Hause, anstatt auszugehen und Neues zu unternehmen?
Ja
Nein
10 Glauben Sie, mehr Probleme mit dem Gedächtnis zu haben als die meisten anderen?
Ja
Nein
11 Finden Sie, es sei schön, jetzt zu leben?
Ja
Nein
12 Kommen Sie sich in ihrem jetzigen Zustand ziemlich wertlos vor?
Ja
Nein
13 Fühlen Sie sich voller Energie?
Ja
Nein
14 Finden Sie, dass Ihre Situation hoffnungslos ist?
Ja
Nein
15 Glauben Sie, dass es den meisten Leuten besser geht als Ihnen?
Ja
Nein
Der zu Untersuchende ist darauf hinzuweisen, dass sich die Fragen darauf beziehen, wie er sich in der letzten Woche gefühlt hat. Für die Fragen 1, 5, 7, 11, 13 gibt es für die Antwort „Nein“, für die übrigen Fragen für die Antwort „Ja“ jeweils einen Punkt. z Beurteilung: ³ 6 Punkte sprechen für das Vorliegen einer depressiven Symptomatik. Eine Punktzahl von weniger als 6 schließt eine Depression jedoch nicht vollständig aus. Sind kognitive Leistungen stark eingeschränkt, ist das Ergebnis der GDS nicht verwertbar. Verschiedene Verfahren zum Screening stehen für ihren Gebrauch in der ärztlichen Praxis zur Verfügung [22]). Aus Gründen größerer Praktikabilität wurde im Klinikbereich auch bereits eine einzelne Frage als Screening für Depression eingesetzt [4].
255
256
z
Anhang
Kognitives Screening z Mini-Mental-Status (Folstein et al. 1975 [6]) Die Mini-Mental-State-Examination ist ein Screening-Verfahren für kognitive Funktionseinschränkungen. Es prüft Orientiertheit zeitlich und räumlich, Merkfähigkeit und Kurzzeitgedächtnis, Kopfrechnen, Benennen, Lesen und Schreiben sowie visuell-konstruktive Fähigkeiten. Das Verfahren beinhaltet insgesamt 30 Fragen bzw. Aufgaben.
Tabelle 8. Mini-Mental-Status-Test (MMST). (Nach [6]) Name: ______________
Datum ______________
Score: ______________
A. Orientierung Zeit (z. B. Welchen Tag haben wir heute?)
Ort (z. B. Wo sind wir?)
Score 1. Jahr 2. Jahreszeit 3. Datum 4. Wochentag 5. Monat 6. Land/Staat 7. Bundesland 8. Stadt/Ortschaft 9. Klinik Praxis/Altersheim 10. Stockwerk
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Summe (max. 10): B. Merkfähigkeit Der Untersucher nennt folgende drei Gegenstände und fordert den Patienten auf, die Begriffe zu wiederholen (1 Punkt für jede richtige Antwort). Der Untersucher wiederholt die Wörter so lange, bis der Patient alle drei gelernt hat (höchstens 6 Wiederholungen)
1 1 1
1. „Auto“ 2. „Blume“ 3. „Kerze“
Summe (max. 3):
Kognitives Screening Tabelle 8 (Fortsetzung) Name: ______________
Datum ______________
Score: ______________
C. Aufmerksamkeit und Rechenfähigkeit Von 100 an sind jeweils 7 abzuziehen. Falls ein Rechenfehler gemacht wird und die darauf folgenden Ergebnisse „verschoben“ sind, so wird nur ein Fehler gegeben oder Falls der Patient die Aufgabe nicht durchführen kann oder will, „RADIO“ rückwärts buchstabieren lassen: O-I-D-A-R
1. 2. 3. 4. 5.
„93“ „86“ „79“ „72“ „65“
1 1 1 1 1
1. 2. 3. 4. 5.
O I D A R
1 1 1 1 1 Summe (max. 5):
D. Erinnerungsfähigkeit Der Untersucher fragt nach den drei zuvor genannten Wörtern
1 1 1
1. „Auto“ 2. „Blume“ 3. „Kerze“ Summe (max. 3):
E. Sprache Der Untersucher zeigt zwei Gegenstände und fordert den Patienten auf, sie zu benennen
1. Armbanduhr 2. Bleistift
Der Untersucher fordert den Patienten auf, nachzusprechen
3. „Sie leiht ihm kein Geld mehr“ 1
Der Untersucher lässt den Patienten folgendes Kommando befolgen
4. „Nehmen Sie dieses Blatt in 1 die rechte Hand“ 5. „Falten Sie es in der Mitte“ 1 6. „Legen Sie es auf den Boden“ 1
Der Untersucher bittet den Patienten,
7. die Anweisung auf der Rückseite zu befolgen
1
Der Untersucher dreht das Blatt um und fordert den Patienten auf,
8. einen vollständigen Satz zu schreiben (Rückseite)
1
1 1
Der Untersucher lässt den Patienten die in Abb. 2 9. Nachzeichnen (Rückseite) 1 vorgegebene Figur malen (1 Punkt, wenn alle Seiten und Winkel stimmen und die sich überschneidenden Linien ein Viereck bilden) (siehe Abb. 2, S. 262) Summe (max. 3): Gesamtsumme bitte oben eintragen
z
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Anhang
z Erläuterungen zum Vorgehen z 1–5: Zuerst soll nach dem Datum gefragt werden, dann nach den weiteren Punkten. z 6–10: Zuerst nach dem Namen der Klinik, dann nach Station/Stockwerk, Stadt/Stadtteil usw. fragen. In Großstädten sollte nicht nach Stadt und Landkreis, sondern nach Stadt und Stadtteil gefragt werden, in jedem Fall nach dem aktuellen Aufenthaltsort und nicht nach dem Wohnort. z 11-13: Der Untersucher muss zunächst fragen, ob der zu Untersuchende mit einem kurzen Gedächtnistest einverstanden ist. Er wird darauf hingewiesen, dass er sich 3 Begriffe merken soll. Die Begriffe langsam und deutlich – im Abstand von jeweils 1 s nennen. Direkt danach die 3 Begriffe wiederholen lassen. Der erste Versuch bestimmt die Punktzahl; ggf. wiederholen lassen, bis alle 3 Begriffe gelernt wurden. Die Anzahl der notwendigen Versuche wird notiert (maximal 6 Versuche zulässig). Wenn nicht alle 3 Begriffe gelernt wurden, kann der Gedächtnistest nicht durchgeführt werden. z 14–18: Beginnend bei 100 muss 5-mal jeweils 7 subtrahiert werden. Jeden einzelnen Rechenschritt unabhängig vom vorhergehenden bewerten, damit ein Fehler nicht mehrfach bewertet wird. Alternativ (z. B., wenn der zu Untersuchende nicht rechnen kann oder will) kann in Ausnahmen das Wort „Radio“ rückwärts buchstabiert werden. Das Wort sollte zunächst vorwärts buchstabiert und – wenn nötig – korrigiert werden. Die Punktzahl ergibt sich aus der Anzahl der Buchstaben, die in der richtigen Reihenfolge genannt werden (z. B. OIDAR = 3 Punkte). z 19–21: Der Untersuchte muss die 3 Begriffe nennen, die er sich unter 11–13 merken sollte. z 22, 23: Eine Uhr und ein Stift werden gezeigt, der Untersuchte muss diese richtig benennen. z 24: Der Satz muss unmittelbar nachgesprochen werden, nur ein Versuch ist erlaubt. Es ist nicht zulässig, die Redewendung „Kein wenn und aber“ zu benutzen. z 25–27: Der zu Untersuchende erhält ein Blatt Papier, die dreistufige Aufforderung wird nur einmal erteilt. Einen Punkt gibt es für jeden Teil, der korrekt befolgt wurde. z 28: Die Buchstaben (Augen zu) müssen so groß sein, dass sie auch bei eingeschränktem Visus noch lesbar sind. Ein Punkt wird nur dann gegeben, wenn die Augen wirklich geschlossen werden. z 29: Es darf kein Satz diktiert werden. Die Ausführung muss spontan erfolgen. Der Satz muss Subjekt und Prädikat enthalten und sinnvoll sein. Korrekte Grammatik und Interpunktion sind nicht gefordert. Das Schreiben von Namen und Anschrift ist nicht ausreichend.
Kognitives Screening
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Bitte schließen Sie die Augen!
Abb. 2. Frage 30
z 30: Auf einem Blatt sind 2 sich überschneidende Fünfecke (Abb. 2) dargestellt. Der Untersuchte soll diese so exakt wie möglich abzeichnen. Alle 10 Ecken müssen widergegeben sein und 2 davon sich überschneiden. Nur dann wird der Punkt gegeben. z Interpretation. Maximal können 30 Punkte erreicht werden. Es wird angenommen, dass 24 oder weniger Punkte mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine kognitive Einschränkung hinweisen. Bei der Interpretation sind Bildungsgrad und Lebensalter zu berücksichtigen. Probanden mit höherem Bildungsgrad bzw. anzunehmendem höherem intellektuellem Niveau sollten bis ins hohe Alter 27 Punkte und mehr erreichen. Für jede Altersdekade kann die Reduktion des Erwartungswerts um einen Punkt nach unten angepasst werden. Mögliche Ursachen für falsch-niedrige Punktwerte sind z. B. Unaufmerksamkeit, akute Erkrankung oder andere akute Umstände wie Unruhe, Depression oder fehlende Motivation.
z DemTect® 1 (Kessler et al. 2000 [8]) Das Testverfahren ist ebenfalls ein Screening-Verfahren für kognitive Beeinträchtigungen und besteht aus insgesamt 5 Einzelaufgaben (Abb. 3 a, b): drei Gedächtnistests, eine Zahlenumwandlungsaufgabe, bei der Ziffern zu Zahlwörtern und Zahlwörter zu Ziffern umgeschrieben werden müssen, sowie einer verbalen Flüssigkeitsaufgabe, bei der 1 min lang Gegenstände genannt werden müssen, die es in einem Supermarkt zu kaufen gibt. Da die 1
Der DemTect® kann kostenlos bei der Eisai GmbH, Frankfurt bezogen werden
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Anhang
Abb. 3 a
Kognitives Screening
Abb. 3 b
Altergemäße kognitive Leistung
Nach 12 Monaen bzw. bei Auftreten von Problemen erneut testen
Leichte kognitive Beeinträchtigung
Nach 6 Monaten erneut testen – Verlauf beobachten
Demenzverdacht
Weitere diagnostische Abklärung, Therapie einleiten
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Anhang
Testleistungen z. T. alterssensitiv sind, wird eine separate Auswertung für 60-Jährige und Ältere sowie für unter 60-Jährige vorgenommen. Die Ergebnisse der Einzelaufgaben werden in Punkte umgerechnet. Die Summe der Punkte (maximal 18) ergibt entweder Hinweise auf einen Demenzverdacht oder aber weist darauf hin, dass altersentsprechende Leistungen vorliegen. Patienten unter 40 Jahren sollten mit dem DemTect nicht getestet werden.
z Instruktion zur Durchführung z Wortliste: „Ich werde Ihnen jetzt langsam eine Liste mit 10 Worten vorlesen. Danach wiederholen Sie bitte möglichst viele dieser Worte. Auf die Reihenfolge kommt es nicht an.“ (Erste Wortliste) „Vielen Dank. Nun nenne ich Ihnen die gleichen 10 Worte ein 2. Mal. Auch danach sollen Sie wieder möglichst viele Worte wiederholen.“ (Zweite Wortliste) Auswertung: Es wird die Summe (aus beiden Durchgängen) aller korrekt genannten Begriffe gewertet (maximal 20 Punkte). z Zahlenumwandeln: „Wie Sie in dem Beispiel sehen können, kann man die Ziffer „5“ auch als Wort „fünf“ schreiben und das Wort „drei“ auch als Ziffer „3“. Ein Teil der Aufgabe ist so, wie wenn Sie einen Scheck ausfüllen würden. Ich bitte Sie nun, die Ziffern in Worte und die Worte in Ziffern zu schreiben.“ Auswertung: Jede korrekte Umwandlung wird gewertet. Einzelne Rechtschreibfehler und leichte Wortentstellungen (z. B. hunert, fünzig) werden trotzdem als richtig gewertet. Bei allen anderen Fehlern wird die Umwandlung nicht gewertet, wie z. B. Verwendung des falschen Zahlensystems (z. B. 209 ? 2hundert9), schrittweise Verarbeitung (z. B. sechshunderteinundachtzig ? 60081) oder Auslassungen (z. B. 209 ? zweihundert) (maximal 4 Punkte). z Supermarktaufgabe: „Nennen Sie mir bitte so viele Dinge wie möglich, die man im Supermarkt kaufen kann. Sie haben dafür 1 min Zeit.“ Auswertung: Kreuzen Sie für jeden genannten Begriff ein Kästchen an. Wiederholungen werden nicht gezählt. Stoppt der Patient, so kann darauf verwiesen werden, dass er noch Zeit hat, weitere Begriffe zu nennen. Bitte zeitgenau stoppen (Armbanduhr mit Sekundenzeiger genügt) (maximal 30 Punkte).
Kognitives Screening
z
z Zahlenfolge rückwärts: „Ich werde Ihnen jetzt eine Zahlenreihe nennen, die Sie mir dann bitte in umgekehrter Reihenfolge wiederholen sollen. Wenn ich beispielsweise ,vier – fünf‘ sage, dann sagen Sie bitte ,fünf – vier‘.“ Auswertung: Wird die erste (links stehende) Folge richtig rückwärts wiederholt, so ist mit der nächst längeren Folge (eine Zeile tiefer) fortzufahren. Wird ein Fehler gemacht, erhält der Patient einen 2. Versuch (rechts stehende Folge). Wird auch diese Folge nicht richtig rückwärts wiedergegeben, wird die Aufgabe beendet. Gewertet wird die Anzahl der Zahlen in der längsten, richtig rückwärts wiederholten Folge (maximal 6 Punkte). z Erneute Abfrage der Wortliste: „Ganz am Anfang dieses Tests habe ich Ihnen 10 Worte genannt. Können Sie sich noch an diese Worte erinnern?“ Auswertung: Die Anzahl der richtig erinnerten Worte wird gewertet (maximal 10 Punkte). z Auswertung und Interpretation: Die Ergebnisse aus den einzelnen Aufgaben werden – unter Berücksichtigung des Alters – in Punkte umgerechnet (transformiert). Tragen Sie dazu in die Umrechnungstabellen (Tabelle 9) erst die erzielten Einzelergebnisse (z. B. Anzahl Worte) ein und dann die Punkte für diese Aufgabe. Zählen Sie anschließend alle Punkte aus den 5 Einzelaufgaben zusammen. Die Beurteilung der Gesamtpunktzahl wird der Tabelle „Testergebnis“ entnommen.
z Uhren-Test mod. n. Shulman (Shulman et al. 1986 [18], Shulman 1993 [19] und Brodaty, Moore 1997 [3]) Die zu untersuchende Person wird gebeten, in einem vorgezeichneten Kreis (Durchmesser 10 cm) die Ziffern einer Uhr einzuzeichnen. Danach soll die Uhrzeit „10 nach 11“ eingezeichnet werden. Voraussetzung ist ein korrigierter Nahvisus von mindestens 0,2. In der Bewertung nach Shulman ist ein Punktwert von 1 = ohne Fehler bis 6 = keine Uhr erkennbar möglich. Ein Punktwert von 3 und mehr Punkten ist als pathologisch anzusehen und weist auf das Vorliegen einer kognitiven Beeinträchtigung hin.
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Anhang
Tabelle 9. Umrechnungstabellen DemTect (Umrechnung der Einzelergebnisse in Punkte) Zahlen umwandeln
verzögerter Abruf
Mini Nutritional Assessment
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Tabelle 10. Uhren-Test Punkte
Beschreibung
1
„Einwandfrei“ – Ziffern 1–12 richtig eingezeichnet – 2 Zeiger, die die richtige Uhrzeit (10 : 11) anzeigen
2
Leichte visuell-räumliche Fehler – Abstände zwischen den Ziffern nicht gleichmäßig – Ziffern außerhalb des Kreises – Blatt wird gedreht, so dass Ziffern auf dem Kopf stehen – Patient verwendet Linien („Speichen“) zur Orientierung
3
Fehlerhafte Uhrzeit bei erhaltener visuell-räumlicher Darstellung der Uhr – Nur 1 Zeiger – „10 nach 11“ (o. ä.) als Text hingeschrieben
4
Mittelgradige visuell-räumliche Desorganisation, so dass ein korrektes Einzeichnen der Uhrzeit unmöglich wird – Unregelmäßige Zwischenräume – Ziffern vergessen – Perseveration: wiederholt in den Kreis, Ziffern jenseits der 12 – Rechts-Links-Umkehr (Ziffern gegen den Uhrzeigersinn) – Dysgraphie – keine lesbare Darstellung der Ziffern
5
Schwergradige visuell-räumliche Desorganisation – Wie unter 4 beschrieben, aber stärker ausgeprägt
6
Keinerlei Darstellung einer Uhr
Mini Nutritional Assessment Das Mini Nutritional Assessment, ein Anamnesebogen zur Bestimmung des Ernährungszustandes älterer Menschen, ist in Abb. 4 wiedergegeben.
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Anhang
Abb. 4. Mini Nutritional Assessment. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fa. Nestlé)
Sozialfragebogen nach Nikolaus et al.
z
Aspirationsskala (nach Rosenbek et al. 1996 [16]) Im Rahmen der rhinolaryngoskopischen Schluckdiagnostik kann der Schweregrad einer Penetration bzw. Aspiration in Anlehnung an die Aspirationsskala von Rosenbek et al. [16] beschrieben werden: 1 = kein Materialübertritt (MÜ) in die Luftwege 2 = MÜ nur oberhalb der Stimmlippen, komplette spontane Reinigung 3 = MÜ nur oberhalb der Stimmlippen, keine komplette spontane Reinigung 4 = MÜ bis auf die Stimmlippen, komplette spontane Reinigung 5 = MÜ bis auf die Stimmlippen, keine komplette spontane Reinigung 6 = MÜ bis unterhalb der Stimmlippen, komplette spontane Reinigung 7 = MÜ bis unterhalb der Stimmlippen, vorhandene, aber ineffiziente Schutzreaktion 8 = MÜ bis unterhalb der Stimmlippen, keine Schutzreaktion
Sozialfragebogen nach Nikolaus et al. 1994 [14] Der Sozialfragebogen erfasst die soziale Situation älterer Patienten und beinhaltet Angaben zu sozialen Kontakten und zur Unterstützung, zu Aktivitäten, zu den wirtschaftlichen Verhältnissen sowie zur Wohnsituation. Die Skala umfasst 25 Items. Werden weniger als 17 Punkte erreicht, besteht Anlass, die soziale Gesamtsituation zu klären. Gegebenenfalls ist auch ein therapeutischer Hausbesuch indiziert. Für die übersichtliche und einheitliche Dokumentation der Ergebnisse bzw. der aufgedeckten Probleme anlässlich eines Hausbesuchs ist eine „HausbesuchCheckliste“ entwickelt worden (Tabelle 11).
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Anhang
Tabelle 11. Sozialfragebogen: Hausbesuch-Checkliste. (Nach [7]) Teil 1: Soziale Kontakte und Unterstützung 1. Wie leben Sie? z Schon lange allein z Seit kurzem allein (< 1 Jahr) z Bei Familienangehörigen oder mit rüstigem Partner z Mit Lebenspartner, der selbst Hilfe braucht
1 0 1 0
2. Haben Sie Personen (auch professionelle Helfer), auf die Sie sich verlassen und die Ihnen zu Hause regelmäßig helfen können? (aufzählen) z Bezugsperson(en) vorhanden z Keine Bezugsperson vorhanden (weiter mit Frage 5)
1 0
3. Wie oft sehen Sie diese Person(en)? z Mehrmals täglich/jeden Tag z Ein-/mehrmals in der Woche z Selten (ein- bis zweimal im Monat) z (Fast) Nie
1 1 0 0
4. Wie ist Ihr Verhältnis zu o. g. Person(en)? z Beziehung harmonisch und vertrauensvoll z Beziehung teilweise konfliktbeladen und gespannt
1 0
5. Wie haben sich in letzter Zeit Ihre Kontakte entwickelt? z Habe neue Bekannte gewonnen z Keine Veränderung z Einige Kontakte habe ich aufgeben müssen z Habe nahezu alle wichtigen Kontakte verloren (z. B. Lebenspartner verstorben)
1 1 0 0
6. Sind Sie mit diesem Zustand zufrieden? z Fühle mich rundum gut versorgt z Es geht so, man muss zufrieden sein z Fühle mich einsam und im Stich gelassen
1 0 0
Teil 2: Soziale Aktivitäten 1. Welchen Beruf haben Sie ausgeübt? ____________________________________ 2. Welche Hobbys (Handarbeit, handwerkliche Tätigkeiten, Basteln, Musizieren, Gartenarbeit, Briefmarken o. ä. sammeln etc.) oder Interessen (Vorträge, Ausflüge, Theater, Sport, Bücher, Lesen, Kirchgang, Seniorentreff, Enkel hüten etc.) haben Sie, die Sie noch regelmäßig betreiben? (aufzählen) ________________________________________________________________ z Hobbys/Interessen vorhanden z Keine Hobbys/Interessen
1 0
Sozialfragebogen nach Nikolaus et al. Tabelle 11 (Fortsetzung) 3. Haben Sie ein Haustier? z Ja z Nein
1 0
4. Wie oft verlassen Sie Ihre Wohnung? (Einkaufen, Erledigungen, Spazierengehen, (Arzt-)Besuche, Garten usw.) z Täglich z Mindestens ein- bis zweimal in der Woche z Seltener als einmal pro Woche z (Fast) nie
1 1 0 0
5. Wie haben sich in letzter Zeit Ihre Interessen entwickelt? z Habe noch neue Pläne und Interessen z Unverändert z Habe einige Interessen aufgeben müssen z Habe (fast) alle Interessen verloren
1 1 0 0
6. Sind Sie mit diesem Zustand zufrieden? z Voll und ganz, fühle mich nicht beeinträchtigt z Fühle mich schon eingeschränkt, muss zufrieden sein z Nein, bin durch Alter/Krankheit stark behindert
1 0 0
Teil 3: Wohnsituation 1. Treppen z Wohnung im Erdgeschoss oder Lift im Haus z Viele Treppen, erster Stock oder höher
1 0
2. Komfort z Wohnung eingeschossig, geräumig und rollstuhlgängig z Beengte Verhältnisse, Türschwellen, viele Teppiche z Mehrere Wohnebenen, nicht rollstuhlgeeignet
1 0 0
3. Heizung z Gut und bequem heizbar (Öl- oder Gaszentralheizung) z Schlecht und mühsam heizbar (Kohle- oder Ölöfen)
1 0
4. Wasser z Warmes Wasser in Küche und/oder Bad z Kein warmes Wasser vorhanden
1 0
5. Bad/WC z Innerhalb der Wohnung, rollstuhlgeeignet z Klein, nicht rollstuhlgängig, außerhalb der Wohnung
1 0
6. Telefon z Vorhanden z Nicht vorhanden
1 0
7. Beleuchtung z Treppenhaus und Flure hell, genügend Lichtschalter z Treppenhaus und Flure schummrig beleuchtet z Wenig Lichtschalter
1 0 0
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Anhang
Tabelle 11 (Fortsetzung) 8. Einkaufen z Alle Geschäfte des täglichen Bedarfs leicht erreichbar z Nur Bäcker/Metzger in der Nähe z Alle Geschäfte weiter entfernt
1 0 0
9. Nahverkehr z Haltestelle in der Nähe (< 1 km) z Nächste Haltestelle weiter entfernt
1 0
10. Wohndauer z Wohnt schon lange Zeit in der Wohnung (> 5 Jahre) z Hat innerhalb der letzten 5 Jahre Wohnung bezogen
1 0
11. Fühlen Sie sich in Ihrer Wohnung und der Wohngegend wohl? z Bin mit der Wohnsituation sehr zufrieden z Geht so, muss zufrieden sein z Bin unzufrieden
1 0 0
Teil 4: Ökonomische Verhältnisse (Ökon) 1. Wieviel Geld steht Ihnen monatlich zur Verfügung? __________________ 2. Kommen Sie mit Ihrem Geld gut über die Runden? z Ja z Es geht so; muss schon sehen, dass ich damit zurechtkomme z Nein, schlecht
1 0 0
3. Haben Sie Ersparnisse, Vermögen (eigenes Haus)? (aufzählen) z Ja, ausreichend z Nur wenig z Nein
1 0 0
4. Regeln Sie Ihre Finanzen selbst? z Ja z Nein
1 0
Literatur 1. Arbeitsgruppe Geriatrisches Assessment (AGAST) (Hrsg) (1997) Geriatrisches Basisassessment: Handlungsanleitungen für die Praxis, 2. Aufl. MMV, München 2. Bischoff HA, Stähelin HB, Monsch AU, Iversen MD, Weyh A, von Dechend M, Akos R, Conzelmann M, Dick W, Theiler R (2003) Identifying a cut-off point for normal mobility: a comparison of the timed ‘up and go’ test in community-dwelling and institutionalised elderly women. Age Ageing 32:315–320 3. Brodaty H, Moore CM (1997) The Clock Drawing Test for dementia of the Alzheimer’s type: A comparison of three scoring methods in a memory disorders clinic. Int J Geriatr Psychiatry 12:619–627
Literatur
z
4. Büla CJ, Wietlisbach V, Yersin B, Burnand B (2003) Does a single item questionnaire identify elderly medical inpatients who report significant depressive symptoms? Age Aging 32:231–233 5. FIM-Arbeitskreis Deutschland, Österreich, Schweiz (Hrsg) FIM Funktionale Selbständigkeitsmessung, Version 2.0 deutsch, Stand 04. Juli 1997 6. Folstein MF, Folstein SE, McMugh PR (1975) “Mini-mental state”. A practical method for grading the cognitive state of patients for the clinician. J Psychiatr Res 12:189–198 7. Girsig E (1998) Dokumentation eines Hausbesuchs – Vorstellung eines Hausbesuch-Protokollbogens. Ergotherapie & Rehabilitation 2:106–109 8. Kessler J, Calabrese P, Kalbe E, Berger F (2000) DemTect: Ein neues Screening-Verfahren zur Unterstützung der Demenzdiagnostik. Psycho 26:343–347 9. Lawton MP, Brody EM (1969) Assessment of older people: self-maintaining and instrumental activities of daily living. Gerontologist 9:179–186 10. Lübke N, Grassl A, Kundy M, Meier-Baumgartner HP, Wilk J (2001) Hamburger Einstufungsmanual zum Barthel-Index. Geriat J 1–2:41–46 11. Lübke N, Meinck M, von Renteln-Kruse W (2004) Der Barthel-Index in der Geriatrie. Eine Kontextanalyse zum Hamburger Einstufungsmanual. Z Gerontol Geriat 37:316–326 12. Macphee GJ, Growther JA, McAlpine CH (1988) A simple screening test for hearing impairment in elderly patients. Age Ageing 17:347–351 13. Mangione CM, Phillips RS, Seddon JM, Lawrence MG, Cook EF, Dailey R, Goldman L (1992) Development of the ‘Activities of Daily Vision Scale’. A measure of visual functional status. Med Care 30:1111–1126 14. Nikolaus T, Specht-Leible N, Bach M, Oster P, Schlierf G (1994) Social aspects in diagnosis and therapy of very elderly patients. Initial experiences with a newly developed questionnaire within the scope of geriatric assessment. Z Gerontol 27:240–245 15. Podsiadlo D, Richardson (1991) The timed “Up & Go”: a test of basic functional mobility for frail elderly persons. J Am Geriatr Soc 39:142–148 16. Rosenbek JC, Robbins JA, Roecker EB, Coyle JL, Wood JL (1996) A penetration-aspiration scale. Dysphagia 11:93–98 17. Schönle PW (1996) Frühe Phasen der neurologischen Rehabilitation: Differentielle Schweregradbeurteilung bei Patienten in der Phase B (Frührehabilitation) und in der Phase C (Frühmobilisation/postprimäre Rehabilitation) mit Hilfe des Frühreha-Barthel-Index (FRB). Neurol Rehabil 1:21–25 18. Shulman KI, Shedletsky R, Silver IL (1986) The challenge of time: Clockdrawing and cognitive function in the elderly. Int J Geriatr Psychiatry 1: 135–140 19. Shulman KI, Gold DP et al (1993) Clock-drawing and dementia in the community: a longitudinal study. Int J Geriatr Psychiatry 8:487–496 20. Tinetti ME (1986) Performance-oriented assessment of mobility problems in elderly patients. J Am Geriatr Soc 34:119–126 21. Ventry IM, Weinstein BE (1982) The hearing handicap inventory for the elderly: a new tool. Ear Hear 3:128–134 22. Williams JW, Hitchcock P, Cordes JA, Ramirez G, Pignone M (2002) Is this patient clinically depressed? J Am Med Ass 287:1160–1170 23. Yesavage JA, Brink TL, Rose TL et al (1983) Development and validation of a geriatric depression screening scale: A preliminary report. J Psychiatr Res 17:37–49
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272
z
Anhang: Internetadressen
Internetadressen Fachgesellschaften/Institutionen
Internetlink
In Deutschland z Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. Leitlinien für Diagnostik und Therapie
www.awmf-leitlinien.de
z Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
www.akdae.de
z Bundesverband Geriatrie e.V.
www.bv-geriatrie.de
z Bundesministerium für Bildung und Forschung
www.bmbf.de
z Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
www.bmfsfj.de
z Bundesministerium für Gesundheit
www.bmg.bund.de
z Deutsche Gesellschaft für Geriatrie e.V. (DGG)
www.dggeriatrie.de
z Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie e.V. (DGGG)
www.dggg-online.de
z Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP)
www.dnqp.de
z Forschungskolleg Geriatrie: Robert Bosch Stiftung
www.bosch-stiftung.de/content/ language1/html/13539.asp
z Kompetenz Centrum Geriatrie beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Nord
www.kcgeriatrie.de
z Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.
www.pt-dlr.de
In der Schweiz z Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie (SGG) z Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie (SFGG) z Pro Senectute e.V. (Stiftung)
www.sgg-ssg.ch www.sgg-ssg.ch www.pro-senectute.ch
In Österreich z Ludwig Boltzmann Institut für Alternsforschung
www.ludwigboltzmann.at
In Großbritannien z British Geriatrics Society
www.bgs.org.uk
In den USA z American Geriatrics Society
www.americangeriatrics.org
Deutschsprachige Datenbanken
www.dimdi/static/de/db/index.htm
Sachverzeichnis
A Abklärung, geriatrische 54 Ablaufstrukturierung 191 active (healthy) life expectancy (ALE) 16 active life expectancy 22 activities of daily living (ADL) 16, 45, 185 ADH 173 ADH-Sekretion (SIADH) 153, 179 ADH-Sekretion, inadäquate 179 Adherence 78 adverse event 70, 72 Adynamie 174 age concern centers 34 Agitiertheit 153 Air-Flow-Systeme 95 Aktionismus, polypragmatischer 64 Aktive Gesundheitsförderung im Alter 35 Aktivitäten 18, 42, 242 – Beeinträchtigung 18 – instrumentelle, des täglichen Lebens (IADL) 247 – körperliche 85 Aktivitätstheorie 7 Aldosteron 173 Algorithmus 134 Alkoholentzugsdelir 142, 143 Allotherapie 5 Alltagsbewältigung 135 Alltagsnähe 191 Alt 3 Alten- und Pflegeheimbewohner, Versorgungsqualität 219 Altenpflegeheime 75, 214 Altenpfleger 51 Altenquotient 12, 14
Altenwohnheim 215 Alter, kalendarisches 67 Altern – „erfolgreiches“ 7, 8 – normales 9 – optimales 9 – pathologisches 9 Altersmedizin 9 Alterspyramide 14 Altersschwäche 226 Altersspezifisches „underrepointing“ 63 Altersstruktur 14 Altersstrukturveränderung 12 Alterung 7 – demographische 12, 14 – transformationsbedingte 14 Alterungsprozess 3 Alzheimer-Erkrankung 129, 130, 135 Ambulantes geriatrisches Screening (AGES) 50 Ammoniak 146 Amnesie, transitorische globale 145 amnestic MCI 130 Anal- oder Rektumprolaps 124 Analreflex 124 Anamnese 114, 169 Anamneseerhebung 42, 63, 131 Anfälligkeit 66 Angehörige 214 – pflegende 209 Angiotensin 173 Angst/Panikstörung 144 Anosognosie 131 Anpassungsstörungen 153 Ansatz – Gesundheitsaufklärung 36 – interdisziplinärer 32, 36 – krankheitsorientierter 28
274
z
Sachverzeichnis
– multidimensionaler 31, 36 – präventiv-medizinischer 30 – ressourcenorientierter 28 – salutogenetischer 25 – verhaltensorientierter 30, 36 – verhältnisorientierter 31, 36 Anschlussrehabilitation 186 Anti-Aging 5 Anti-Aging-Maßnahmen 5 Anticholinergika 117 Antidepressiva 153, 155 – trizyklische 153, 154 Anurie 174 Anus praeter 127 Aphasien, transkortikal-sensorische 142 Apo-E-Genotypisierung 134 Appetitsteuerung 163 Applikationsform 80 Aquaretika 1981 Arbeitshilfe zur geriatrischen Rehabilitation 186 Arginin-Vasopressin (AVP) 173 Armfunktion 242 Arteriopathie, cerebrale autosomaldominante (CADASIL) 134 Ärztliche Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Geriatrie in Bayern e. V. (AFGIB) 201 Arzneimittelbehandlung 77 – praktische 76 Arzneimittelbehörde, europäische 72 Arzneimittelinteraktion 73 Arzneimittelverordnung, angepasste 76 Arzneimittelwirkungen, unerwünschte (UAW) 71, 74 – dosishabhängige 72, 73 – Typ-A-Reaktion 72 – Typ-B-Reaktion 72 Ärzte 51, 230 Aspirationsskala 267 Assessment 54 – geriatrisches 43, 49, 55 – – umfassendes 48 – multidimensionales 35 – systematisches 193 Assessment-Programme 43, 47 Assessment-Verfahren 43, 192 Atemdepression 146
Attachement 40 Attachment-Theorie 40 Atypika 154 Auflagedruck 95 Aufsteh- und Gehtest 50 Autonomie 10, 235, 236 B Bademeiser, medizinischer 52 Barorezeptoren 180 Barthel-Index 50, 243, 244 Beck-Depressionsinventar 151 Beckenbodengymnastik 118, 126 Beckenbodenmuskulatur 123 Bed-side Test 142 Bedürfnisse 235 Beeinträchtigung 18 – Aktivität 18 – funktionelle 20 Befindlichkeiten 152 Begleiteffekt, anticholinerge 118 Begleiterkrankungen 71 Begleitsymptome 131 Begutachtungs-Richtlinien Vorsorge und Rehabilitation 187 Behandlung 29 – belastende 232 – klinisch-geriatrisches 57 – teilstationäre 56, 191 Behandlungseffekt 80 Behandlungsprioritäten 81 Behandlungswünsche 232 Behandlungsziele, persönliche 46 Behinderung 18, 21 Behinderungskurve 22 Beinfunktion 242 Belastungsinkontinenz 112, 113, 118 Benchmarking 197 Beratungszentren 157 Bereichspflegekraft 120 Berliner Altersstudie 150, 230 Betreutes Wohnen 215 Betreuungsangebot 207 – niedrigschwelliges 209 Bewegungstherapie 135 Beziehungsprobleme 156 Beziehungsqualität 156 Bildgebung, zerebrale 133 Biofeedback 118
Sachverzeichnis Blasenauslasswiderstand 119 – erhöhter 113 Blasenkontinenz 242 Blasenschwäche 115 Blasentraining 117 Blasenverweilkatheter 119 Blickparese – progressive surpanukleäre 132, 137 – vertikale 132 Body-Mass-Index 166, 167 Bringstrukturen 35 Bronchialkarzinom, kleinzelliges 180 Brückenpflege 228 Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 186 Bundesgesundheitsrat 37 Bundesschlüssel für Lebensmittel 161
C Care management 155 Case-Management 57 – medizinisch-geriatrisches 58 CCT 146 Centenarians 12 CERAD-Batterie 133 cerebrale autosomal-dominante Arteriopahthie (CADASIL) 134 CGA-Programme 47 Check-up 35 32 Chronikerprogramme 33 clinical pathways 194 Cockroft and Gault 77 Compliance 78, 79, 80 – rektale 123 Compliance-Verhalten 80 comprehensive geriatric assessment (CGA) 47 Compression of morbidity 22 Compression-of-morbidity-Hypothese 22 Computertomographie, kraniale (CCT) 133 Concordance 78 Confusional State Evaluation (CSE) 140 Creutzfeld-Jakob-Erkrankung 132, 134
D D-A-CH-Referenzwerte 160 Daten, anthropometrische 166 Dauerbehandlung 74 Defäkation 123 Defäkationsfrequenz 124 Defäkogramm 125 Defizitmodell 7 Degeneration, kortikobasale 132 Dehnungsreize, rektale 126 Dehydratation 146, 173 – hypertone 175 – hypotone 175 – isotone 175 Dekubitus 93, 163, 202 – Komplikationen 93 Dekubitusprophylaxe 202 Delirien 140, 141 – Ursachen 146 dementia 129 Demenz 129, 145, 156 – frontotemporale 132, 137 – mit Lewy-Körperchen 137 – vaskuläre 136 Demenzerkrankung, sekundäre, oft reversible 133 Demographische Alterung 12, 14 DemTect 259 DEMTECT-Testbatterie 132 Depression 149, 156, 243 – reaktive 155 Depressions-Screening 255 Depressionsskala, geriatrische 151 Depressivität 230 Descensus 118 Determinanten, genetische 4 Detrusoraktivität 117 Detrusorkontraktilität 119 Deutsche Alzheimergesellschaft 135 – Internetadresse 135 Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) 161 Diätassistenz 53 Dienste, familiäre 209 Diogenes-Syndrom 63 Diplompsychologe 53 Diplomsozialarbeiter 53 Diplomsozialpädagoge 53 disability 70
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disability-free life expectancy (DFLE) 16 Disengagement-Theorie 7 Dissimulieren 44 Diuretika 174, 178 Dokumentation 46 Dosette 80 Dosierungsschemata 79 Dranginkontinenz 112, 117 – motorische 113 – sensorische 113 Drehtüreffekt 187 Dreigenerationenhaushalte 15 Druckgeschwüre 93 Durstempfinden 173 Dynamic equilibrium 22 Dynamic-equilibrium-Hypothese 22 Dyphagiekost 168 Dysphagie 168 Dysphagie-Kost 170 Dystonie, vegetative 152 E EEG 146 Effektivität 197 Effizienz 197 Ehrenamtliche Helfer 53 Einkaufen 247 Einmalkatheterismus 119 Einpersonenhaushalte 15 Ein-Personen-Haushalte 85 Einschränkungen, präklinische 43 Einteilung nach Shea 93 Elektrokonvulsionstherapie 153 Empowerment 31, 36 Endosonographie 125 Energiebedarf 162 Energieverbrauch 160, 161 Energiezufuhr 162 Enthemmung 132 Entscheidungsfähigkeit 237 Entscheidungsfindung 234, 235, 237 Entzugsdelirien 146 Enzephalitis 133 Enzephalopathie, hypertensive 142 epidemiologic transition 16 Epilepsie 99, 101 Episoden, depressive 149, 151 Ergebnisqualität 199
Ergotherapeut 52 Ergotherapie 135 Erkrankungen, demenzielle 170 Ernährung 160 – Internetadressen 165 – künstliche 170 – Risikoeinschätzung 166 Ernährungsprotokoll 168 Ernährungssonden 231 Ernährungsstatus 242 – psychogener 143 Ersatz- und Verhinderungspflege 207 Ethikrat – Internetadresse 240 – nationaler 240 European Foundation for Quality Management (EFQM) 197 – Modell 197 Euvolämie 178 EVA-Reha 201 Evolution 5 Expansion of morbidity 22 Expansion-of-morbidity-Hypothese 22 Exsikkose 100, 173, 174, 176 Exsikkoseprophylaxe 176 Extrazellulärraum 175 F Fachkraftquote 216 facio-oral-tract-therapy (F.O.T.T.) 168 Fähigkeitsstörungen 16 Faktoren, personenbezogene 18 Familienanamnese 131 Feedback 80 Fehleranalyse, systematische 76 Feminisierung 14 Fertilitätsprozess 12 FICSIT-Studie 104 Filtrationsrate, glomeruläre (GFR) 76, 175 Fitness, körperliche 87 Fluide Intelligenz 130 Flüssgikeitszufuhr 174 Flüssigkeitsbedarf 161 Flüssigkeitshaushalt 173 Flüssigkeitsmangel 173 Flüssigkeitsrestriktion 181 Flüssigkeitsverarmung 161
Sachverzeichnis Flüssigkeitszufuhr 161 Flüstertest 250 Formel von Cockcroft und Gault 175 Fortbewegung 84 Forum Prävention der Bundesregierung Deutschlands 160 – Internetadresse 160 fraility 67, 86 Fraility-Syndrom 67 Fremdanamnese 44, 99, 131, 142, 151, 235 Freudlosigkeit 151 Früherkennung 32 Frühreha-Barthel-Index 245 Frührehabilitation 57 Functional Independence Measure (FIM) 246 Funktion 19 Funktionsbeurteilung 43 Funktionseinschränkung 42 Funktionsfähigkeit 18 G Gastrostomie 171 Gebissfunktion 170 Gebrechlichkeit 226 Gebrechlichkeit, Geriater 86 Gedächtnishilfen 135 Gedächtnisleistungen, prozedurale 135 Gedächtnistraining 135 Gefahrenquellen, häusliche 105 Gehhilfen 90 Geldhaushalt 248 Geldleistung 206, 207 Gemeinsame Empfehlung für die spezialisierte ambulante Palliativmedizin 224 Gene 5 Genetische Determinanten 4 Geriater, Gebrechlichkeit 86 Geriatric Evaluation and Management Unit (GEMU) 47, 55 Geriatric Research Education and Clinical Centers (GRECC) 55 Geriatrie 9, 23 – Internetadressen 201 – palliative 224
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Geriatrische Depressionsskala (GDS) 151, 255 Geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung 57 Geriatrische Hausbesuche 34 Geriatrische Methodik 40 Geriatrische Rehabilitation 185 Geriatrische Syndrome 63, 65 Geriatrische Tagesklinik 190 Geriatrische Versorgungsleistungen 56 Geriatrisches Assessment (AGAT) 43, 49, 55, 241 Geriatrisches Minimum Data Set (GEMIDAS) 49, 200 Geriatrisches Screening 65, 241, 242 Gesamtbehandlung, aktive 222 Gesamtkörpernatrium 179 Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 74 – Gesundheitsreformgesetz 37 Gesunder Lebensstil 22 Gesundheit – physische 44 – Selbsteinschätzung 20 – soziale 45 Gesundheitsaufklärung 30, 32, 36 Gesundheits-Check-up 27 Gesundheitserziehung 30 Gesundheitsförderung 25, 26, 28, 29 Gesundheitsreformgesetz 55 Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 197 Gesundheitszentren 34 Gesundheitszentrum für ältere Menschen 34 Gesundheitszustand, subjektive Selbsteinschätzung 19 Gewichtsklassen 167 Gewichtsverlust 149, 163 Ghrelin 163 GIB-DAT 201 Gleichgewichte, homöostatische 66 Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) 76 Glukokortikoidmangel 181 Grundpflege 205, 206 Grundumsatz 164 Guter Tod 227
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Sachverzeichnis
H Hämatokritwert 174 Hämatom, subdurales 99, 142 Hamburger Einstufungsmanual 243 Hamilton-Depressionsskala 151 Harninkontinenz 110 Harnretention, chronische 112, 113, 114, 118 Harnröhrenstriktur 119 Harnstoff 174 Harntrakt 111 Härtefallregelung 206 Harvard Medical Practice Study 71 Hausbesuche 104 – Checkliste 268 – präventive 35 Haushalt 247 Hautschutz 127 Hautturgor 174 Hayflick-Zahl 4 health promotion 25 health state expectancy (HSE) 16 Hearing Handicap Inventory for the Elderly (HHIE-S) 250 Herdsymptomatik, neurologische 142 Heterogenität 217 Hilfs- und Pflegebedürftigkeit 19 Hilfe, hauswirtschaftliche 206 Hilfsmittel 89, 90, 170 Hirninfarkt 142 Hitze 173 Hör- und Sehhilfen 147 Hören 242 Hormon – antidiuretisches 179 – atriales natriuretisches (ANH) 173 Hormon-Replacement-Therapie (HRT) 5 Hospiz 224 Hospiz- und Palliativerhebung (HOPE) 224 Hospizinitiativen 228 Hotelkosten 208 Hüftfrakturpatienten 98 Hüftprotektoren 106 Hydratation 147 Hyperalimentation 163 Hyperämie 173 Hyperglykämie 174
Hyperkaliämie 73 Hypernatriämie 175 Hyperparathyreodismus 133 Hypervolämie 178 Hypodermoclysis 176 Hypoglykämie 99, 101 Hyponatriämie 173, 177, 178, 181 – hypoosmolare 179 – relative 179 Hypotonie, orthostatische 153, 174 Hypotonus 101 Hypovolämie 173, 178
I Identität 236 Imbalance-Hypothese 150 Immobilisierung 91 Immobilisierung, Komplikationen 92 Immobilität 88, 89, 90, 156 – Hilfsmittel 89, 90 – – Gehhilfen 90 Immobilitätssyndrom 84, 88, 89 inappropiate medication 75 Index, glykämischer 162 Indikationskriterien 187 Indikationsstellung 192 Indikator – Morbidität 16 – Mortalität 16 Infekt 146 Infektionen, nosokomiale 218 Infektionskrankheiten, Psychose 140 Informationsbedürfnisse 234 Informationssammlung 42 Informationsvermittlung 235 Informiertheit 235 Inkontinenz 110 Inkontinenz – bei chronischer Harnretention 112, 113 – extraurethrale 112, 113 – funktionelle 112, 114 Inkontinenz-Hilfsmittel 119, 120 Inkontinenzversorgung 110 In-patient Geriatric Consultation Service Team (IGCS) 47 Instrumental activities of daily living (IADL) 45, 247
Sachverzeichnis Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) 45, 247 Integrierter geriatrischer Service 54 Intelligenz – fluide 130 – kristalline 130 Intention, fehlende 70 Internationale Klassifikation von Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH) 17, 18 – Konzept 45 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) 18, 185 Internetadressen 272 Inzidenzrate 27 J 100-jährige 14 K Kachexie 167 Katatonie 144 Kau- und Schluckstörungen 167 Kausalität 70 Kaustörungen 165 Klinisches Ethikkomitee 235 Kochen 247 Kochsalzlösung, isotone 176, 177 KODAS 201 Kohärenzsinn 25 Kohorteneffekte 9 Kolposuspension 118 Kommstrukturen 35 Kommunikation 79, 233, 235 – offene 236 Kommunikationsinhalte 236 Kommunikationsprobleme 236 Komorbidität 19, 150, 189 Kompensation 8 Kompetenz, funktionelle 66 Kompetenzmodell 7 Komplexbehandlung 188 – geriatrische frührehabilitative 57 Komplikationen 47 – iatrogene 70 Konsiliardienste 54
Kontextfaktoren 18, 190 Kontinenz 112 – Internetadressen 122 Kontinenzmechanismus 123 Kontinenzvisite 120 Kontinuitätshypothese 130 Kontraindikationen 76 Kontrolle 236 Konzepte, gesundheitsfördernde 23 Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen (KTQ) 198 Koprostase 117, 124 Körperfunktonen 18 Körpergewicht 173 Körperstrukturen 18 Korsakow-Syndrom 133 Kostenträger 186 Kostenzusage 190, 193 Kraft- und Balance-Training 104 Krangengymnastik 51 Kranhkeitsprävention 25 Krankenhausaufenthalt 243 Krankenhausbereich 56 Krankenhausstatistik 56 Krankenpfleger 51 Krankenschwester 51 Krankheitsfolgen 3 Krankheitsmanagement 16 Kreatinin 174 Kreatinin-Clearance 77 Kristalline Intelligenz 130 Künstliche Ernährung 170 Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) 201 Kurzzeitpflege 208 L Labilität 66 Lagerungsmaneuver nach Semont 103 Laienhilfsdienste 157 Laktasemangel 162 Laktoseintoleranz 162 Laxanzien 165 Lebensende 222 Lebensend-Entscheidung 231 Lebenserwartung 12, 130 – fernere 12, 13
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Sachverzeichnis
Lebensstil, gesunder 22 Leerstellen, diagnostische 152 Leistungsarten 206 Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie 135 – Internetadresse 135 Leptin 163 Lernvorgänge, motorische 135 Lewy-Körperchen-Demenz 132, 137 Lichttherapie 153 Liquorpunktion 142, 146 Lithium 153 Lithiumtherapie 178 Logopäde 52 Lokomotorischer Sturz 103 Lösungen, isotone 176 Luesserologie 133 Luftstrombetten 94 M M. sphincter ani externus 123 M. sphincter ani internus 123 Magnetresonanztomographie (MRT) – endoanales 125 – kraniale (cMRT) 133 Malnutrition 164 Malnutrition, Diagnostik 169 Mangelernährung 160, 163 – Anamnese 169 – Risikofaktor-Screening 169 – Ursachen 167 Manometrie, anorektale 125 MAO-Hemmer 154 Masseurin 52 Maßnahmen, lebenslängliche 230 MDRD-Formel 76, 77, 175 Medianalter 12, 14 – erwartetes 12 medical decision making 233 Medikamente 152, 180, 248 Medikamentenanamnese 44, 80 Medikamenten-Compliance 78 Medikationsfehler 72 Medizin, palliative 222, 223 Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK) 186, 202, 204
Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) 187 Mehrfachbehandlung 75 Mehrgenerationenhaushalte 15 Meme 5, 6 Menschen, pflegebedürftige 212 Methodik, geriatrische 40 Miktionsprotokoll 117 Miktionszystourethrographie 117 mild cognitive impairment (MCI) 130 Milieugestaltung 170 Mini Nutritional Assessment (MNA) 166, 265, 266 Mini-Mental-State-Test 133 Mini-Mental-Status 256 Minimum Data Set (MDS) 202 Mobil 84 Mobilität 84, 86, 251 Mobilitätstest nach Tinetti 252 Modell – biomedizinisches 16 – biopsychosoziales 16 Möhren-Test 168 Monoaminmangel-Hypothese 150 Morbidität 21 – Indikator 16 Morbiditätskurve 22 Morbus Alzheimer 136 Morbus Whipple 134 Morbus-Wilson 133 Mortalität 21 – Indikator 16 Mortalitätsdifferenzen, geschlechtliche 13 Mortalitätskurve 22 Mortalitätsprozess 12 Mukosaatrophie 118 Multimedikation 75, 243 Multimorbidität 19, 42, 63, 64, 66, 67, 81, 187 – geriatrietypische 187 Musiktherapie 135 Muskel- bzw. Krafttraining 192 Myoklonien 132
Sachverzeichnis N Nachlässigkeit 70 Nachrichten, schlechte 236 Nährstoffhauptgruppen 161 Nahrungsergänzungsmittel 170 Nahrungspyramide 160, 161 Nahvisus-Prüfung mit Jäger-Tafel 248 Natriumkonzentration 176, 177 Natriumsubstitution 178 Natriumzufuhr 176 NEECHAM-Skala 140 Nekrosenentfernung 95 Nervus pelvicus 112 Netz, soziales 45 Nierenerkrankung, chronische 78 Nierenfunktion 76, 77 Nierenversagen, prärenales 174 Noncompliance 78, 79, 80 Normaldruckhydrozephalus 99, 137 Noroviren 218, 219 O Obstipation 174 – chronische 114 Oligurie 174 Operation- und Prozedurschlüssel (OPS) 57 Optimierung 8 Osteoporose 106 – Internetadressen 109 Ottawa-Charta 26 P Paarbeziehung 156 Palliation 222 Palliativmedizin 222, 223 – hausärztliche 224 – Internetadressen 224 Palliativstation 224 Panikstörung 144 Partizipation 42 Patient-Arzt-Beziehung 152 Patientenrecht 236 Patientenverfügung 228, 237 Patientenzentrierte klinische Methode 234 PEG-Sonde 171
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Penetration-Aspiration Scale 168 Performance-Testverfahren 45 Pessare, intravaginale 118 Pflanzenöle 162 Pflege 29, 93 – aktive 204 – Defizit 205 – häusliche 206 – vollstationäre 207, 208 Pflegebedürftige 206, 209, 212 Pflegebedürftigkeit 185, 204, 205, 214 – erhebliche 205 Pflegedienst, ambulanter 214 Pflegedokumentation 204 Pflegegesetz 216 Pflegeheim 215 – Strukturmerkmale 215 Pflegeheimbewohner 216, 219, 230 Pflegeheimpersonal 219 Pflegehilfsmittel 208 Pflegekassen 207 Pflegekräfte 206, 230 Pflegekurse für Angehörige 208 Pflegenotstand 240 Pflegepersonal, ehrenamtliches 208 Pflegepersonen 207 Pflegeplanung 204 Pflegepraxis 204 Pflegequote – konstante 212 – sinkende 212 Pflegerisiko 212 Pflegestufe 205 Pflegestufe I (erhebliche Pflegebedürftigkeit) 205 Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftigkeit) 206 Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftigkeit) 206 Pflegeversicherung 204, 217 – gesetzliche 207 – Leistungsarten 206 Pflegevertretung 207 Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG) 207 Physiotherapeut 51 Plasmaosmolalität 173 Plastizität 8 – neuronale 6 Plexus hypogastricus 112
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Sachverzeichnis
Portionsgrößen 161 Positronenemissionstomographie (PET) 133 Prädiktoren 75 Prädilektionsstellen 93, 94 Prävention 25, 26, 27, 28, 147 – tertiäre 219 Präventionsmaßnahmen 22 Primärprävention 27 primary care visiting service 34 Primitivreflex 132 Prinzip der Risikominimierung 103 Profile, kognitive 132 Progeria infantilis 4 Prognose, subjektive 46 Programme, CGA-Programme 47 Programmtheorie 4 Prostatahypertrophie 114, 119 Prozessqualität 199 Pseudobulbärparalyse 176 Psychodynamik 151 Psychopharmaka 75 Psychose bei Infektionskrankheiten 140 Psychotherapie 153, 155 – kurzzeit-psychodynamische 155 – notfallinduzierte psychodynamische 157 Puborektalschlinge 126 Q Qualität 197, 198 Qualitätsanforderungen 198 Qualitätsindikatoren 200 Qualitätsmanagement 46, 197, 198, 202 Qualitätspolitik 198 Qualitätsprüfung 202 Qualitätssicherung 197, 198, 202 – externe (EQS) 202 Qualitätssicherungsinstrumente 200 Qualitätssiegel Geriatrie 200 Qualitätszirkel, geriatrischer 34 R Radikaltheorie 4 Radiusfrakturen 98 Rahmenempfehlungen 187
Reaktionstyp, akuter exogener 140 Reflexinkontinenz 11, 113 Regulatorgene 4 Rehabilitation 27, 29, 93 – ambulante geriatrische (AGR) 190 – ambulante medizinische 190 – Formen 190 – geriatrische 23, 185 – Kostenzusage 193 – medizinische 186 – stationäre 190 – teilstationäre 190 – vor Pflege 55, 186 Rehabilitationsbedürftigkeit 188 Rehabilitationsfähigkeit 188, 189 Rehabilitationspotenzial 43, 190 Rehabilitationsprognose 190 – Kontextfaktoren 190 – Kriterien 190 Rehabilitationsrichtlinien 186 Rehabilitationsteam 188 – mobiles 192 Rehabilitationswissenschaften 185 Reintegration, soziale 10 Rektozele 124 Relevanz, klinisch-geriatrische 241 Reliabilität 44 Renin 173 Reparatur- und Fehlertheorien 4 Resident Assessment Instrument (RAI) 201, 210 Restharnmenge 118 Rezeptorenblocker, alpha-Rezeptorenblocker 119 Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen 204 Ringerlösung 177 Risikoeinschätzung 166 Risikofaktoren 25, 156 – vaskuläre 131 Risikofaktor-Screening 169 Risikogruppen 25 Risikopatienten 75 Risikoverhalten 25 S Sachleistungen 207 Sarkopenie 86 Schädel-Hirn-Traumata 142
Sachverzeichnis Schädelverletzungen 99 Schädigung 18, 42 – iatrogene 70 Schenkelhalsfrakturen 98 Schlafentzugstherapie 153 Schlafstörung 149, 151 Schlaganfall, Risikofaktoren 193 Schlaganfallhäufigkeit 193 Schlaganfallpatient 193 Schmerzen – häufige 243 – postoperativer 180 Schmerzsyndrome 156 Schmerztherapie 181 Schwedentabletten 181 Schwerpflegebedürftige 206 Schwerstpflegebedürftige 206 Screening 241 – geriatrisches 48, 65, 241, 242 – kognitives 256 Screeningfragen 151 Screening-Verfahren 49 Seelsorger 53 Sehbehinderung 156 Sehen 242 Sekundärprävention 27 Selbstbestimmung 236, 240 Selbsteinschätzung der Gesundheit 19, 20 Selbsthilfefähigkeit 44 Selbsthilfegruppen 33 Selbsthilfestatus 45 Selbstkatheterisieren, intermittierendes 119 Selbstmedikation 44 Selektion 8 Semitandem-Stand 50 senior center 34 Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) 153, 154 Serumhypoosmolalität 178 Serumosmolalität 175, 178 Shared-decision-making-Modell 233 SIADH, Ursachen 180 SIADH-Syndrom 177, 180 Single-Photon-Emissionstomographie (SPECT) 133 Singularisierung 14 Skybala 124 Sondenkost 174
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Sozialanamnese 131 Soziales Netz 45 Sozialfragebogen 267 Sphinkterrekonstruktion, operative 126 Sphinktertonus 124, 126 Spontanurin 181 Sprachtherapeut 52 Standardhygienemaßnahmen 218 Ständige Impfkommission (STIKO) 32 Staphylococcus aureus, methicillinresistenter (MRSA) 218 – Risikofaktoren 218 Status epilepticus, nonkonvulsiver 144 Status, kognitiver 242, 243 Status-quo-Szenario 212 Sterbealter 225, 228, 240 Sterbehilfe, aktive 223 Sterben 225, 229 Sterbender 228 Sterbeort 225, 227 Sterbetafel 12 Stimulation, kognitive 135 Störungen – iatrogene 70 – psychische 88 Strukturqualiät 199 Strukturstandards 199 Studien, randomisierte-kontrollierte 47 Stuhldrang 126 Stuhlinkontinenz 122, 123, 124, 127, 242 Stupor/Katatonie 144 Sturz 243 – lokomotorischer 103 – multifaktorieller 103, 107 Sturzprävention, Internetadressen 109 Sturzrisikofaktoren 102 Sturz-Syndrom 98 Sturzursache 98 Suizid, Risikofaktoren 156 Suizidalität 149, 155 Suizidgedanken 151 Suizidmethoden 156 Suizidversuche 156 Suizidziffern 155 Super-Centenarians 12
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Sachverzeichnis
Symptomatik 140 Symptome 131 – aphasische 132 – belastende 227 – depressive 132, 155 Symptomkontrolle 223 Syndrome – der Instabilität 66 – geriatrische 63, 65 – hirnorganische 140 – psychoorganische 140 – SIADH-Syndrom 177, 180 – unspezifische hirnorganische Synkopen 99, 100, 107 – Internetadressen 109
Trisomie 21 4 TVT-Plastik 118 U
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T Tabuthema 111 Tages- und Nachtpflege 208 Tagesbetreuung 209 Tageskliniken 56, 191 – geriatrische 190 – Kostenzusage 190 Tagesstrukturierung 191 Tai-Chi 104 Tandem-Stand 50, 251 Team – interdisziplinäres 43, 51 – therapeutisches 54 Teilhabe, „Einbezogensein“ 18 Telefon 247 Telomer-Theorie 4 Tertiärprävention 27 timed up and go 50 Timed-up and go 251 Tod 229 Todesnähe 222 Toilettendrang 126 Toilettenstuhl 119 Toilettentraining 117 Träger, freigemeinnütziger 216 Trägerschaft 215 Training, körperliches 86 Trainingsprogramme 87 Transportmittel 248 Trauer 151 Trauerreaktion 151 Treatment initiation program 155 Trinkmenge 119
Übergewicht 167 Überlebenskurve 22 Überwässerung 173 Uhrentest 132 Uhren-Test mod. nach Shulman 263 Umweltfaktoren 18 undernourishment 164 underreporting 64, 166 – altersspezifisches 63 Unerwünschtes Ereignis 72 Unfall 107 Unterstützung, soziale 243 Untersuchung – körperliche 63 – urodynamische 117 Urethrozystoskopie 117 Urinanalyse 117 Urinvolumen 177 Uroflowmetrie 117 V Vaginalkonus 118 Vaginaltampon 118 Validation, integrative 135 Validität 44 Vaskulitiden 133 Verhalten, selbstdestruktives 151 Verhaltensstörungen 211 Verhaltenstraining 117, 126 Verjüngung, migrationsinduzierte 14 Versorgung – hauswirtschaftliche 205, 206 – tagesklinische 192 Versorgungsaufwand 245 Versorgungsleistungen, geriatrische 56 Versorgungsqualität 198, 219 Versorgungsquote 57 Versorgungssituation, Internetadresse 224 Versorgungsstrukturen 40 – geriatrische 54 Verstimmung, depressive 149 Verwirrtheit 174
Sachverzeichnis Verwirrtheitszustände 140, 141, 143 – Ursachen 146 Verwitwung 216 Vitamin-B12-Spiegel 133 Vitaminpräparate 162 Vorsorge 32 Vulnerabilität 67 W Wäsche 248 Wasser, freies 179 Wasserhaushalt 173 Wassermangel 175 Wasserretention 179 Wechseldruckmatratze 94 Werner-Syndrom 4 Wernicke-Aphasie 142 Wernicke-Korsakow-Syndrom 145
Wertvorstellung 46, 237 WHO 18, 25, 28, 29, 33, 37, 44, 71, 72, 185, 122 WHO/Euro-Multicenter-Study of Suicidal Behavior 156 Widriges Ereignis 70 Wiederbelebungsmaßnahme 231 Willensbekundungen 233 Willensbezeugung 236 Willensfähigkeit 237 Wohnumfeld 104 Wundbehandlung, feuchte 95 Wundheilung, verzögerte163 Würde 236 Z Zweigenerationenhaushalte 15
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