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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 6
'Dunkelwelten' ist ...
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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 6
'Dunkelwelten' ist eine kostenlose Mystery & Horror Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Dunkelwelten 6 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
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Inhalt Cover von Volker Krug Der schweige für immer
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von Petra Hettich Hildas Amulett scheint nicht recht geheuer zu sein. Und Paula entdeckt noch mehr...
Das fünfte Rad am Wagen
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von Helfried Haider Bernie ist neu im Hexenzirkel. Und der einzige Mann hier...
Der Basilikaner
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von Silvia Sladek Vander fürchtet die Basilika. Dort haust das Grauen!
Jimmys Katze
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von Ralf Streitbörger Der junge Mann ist neu in New York! Und in dieser Stadt ist auch das Ungeheuerlichste möglich...
Der Philosoph des Schreckens
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von Tomas Cabi Im Turmhaus lauert ein unheimliches Wesen. Und es schickt bizarre Träume...
Die Holzkirche in B.
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von Markus K. Korb Der alte Pfarrer entdeckt ein besonders Buch. Und in der Kirche ist es fortan nicht mehr geheuer...
Die Warnung
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von Michael Schmill Um Drei Uhr Dreißig wacht er auf. Und der Alptraum beginnt!
Der Albtraum
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von Annika Ruf Howard wird von einem Monster gejagt. Ist es Traum oder Wirklichkeit?
Jagt
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von Sahra Muratidis Die Dämmerung kommt. Und SIE weiß, was SIE will...
Göttliche Mächte von Nicole Rensmann Der Tod trennt die Lebenden und schmerzt. Wer wird diesen Kummer brechen?
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Der schweige für immer von Petra Hettich
Hildas Amulett scheint nicht recht geheuer zu sein. Und Paula entdeckt noch mehr...
Paula fühlte sich unbehaglich; die Ehre, als Hildas Trauzeugin bestellt zu sein, schmei-chelte ihr keineswegs. Sie kannte den Bräutigam gar nicht, der erst seit kurzem gefunden war. Hilda hat es doch nicht nötig, Hals über Kopf zu heiraten, dachte Paula, während sie das Verlobungsfoto betrachtete, das mit der Hochzeitseinladung aus handgeschöpftem Papier zum Briefkasten hinaus geragt hatte, als Viktor und sie von der Reise zurückkehr-ten. Das Foto war im Saal aufgenommen, den Hildas reiche Eltern ihr Wohnzimmer nannten. Die schwarzhaarige Hilda, eine herbe Schönheit, saß selbstbewusst, wie immer das markante Kinn in die Höhe gereckt, auf einem barocken Sofa vor einem mittelalterli-chen Wandteppich. Sie beugte sich vor, wohl im Gespräch mit jemandem, der auf dem Bild nicht zu sehen war, so dass sie den Bräutigam halb verdeckte. Obwohl dieser zu-sammengekauert und klein dasaß, war offensichtlich, dass er ein großer, molliger Mann war. Mit rundem, weichen Gesicht, das durch seine Glatze noch runder und weicher wirk-te. Er hieß Alf und schaute ergeben, fast dümmlich, aus seinem biederen Pullover. War Hilda vor Liebe blind? Oder mit ihren 29 Jahren von solcher Torschlusspanik geritten, dass sie jeden zum Ehemann nahm, der sich willig ergab? Vielleicht verbarg dieser Alf beste Qualitäten im Inneren. Man sollte niemanden nach dem Äußeren beurteilen, schon gar nicht nach einem Foto. Paula kannte ihn ja gar nicht und wusste auch über Hilda wenig. Wie sollte sie guten Herzens diese Trauung bezeugen? Müsste sie nicht warnen – lange bevor der Pfarrer fragen würde, ob jemand jetzt reden oder für immer schweigen wolle –, das Brautpaar solle nichts überstürzen? Schon oft hatte Hilda von diesem oder jenem Mann ihres Lebens und vom Heiraten geschrieben. Doch dann tauchten in ihren Briefen, von denen alle zwei, drei Monate einer bei Paula eintraf, wieder neue Namen von neuen Männern auf. Vor drei Jahren war Paula schon einmal zu Hildas Hochzeit geladen, damals als Brautjungfer, nach Moskau, wo Hilda gerade lebte. Der damalige Bräutigam, ein drahtiger, junger Russe mit markanten Gesichtszügen, passte zumindest auf dem Verlobungsfoto besser zu Hilda als nun der runde Alf. Noch bevor Paula damals kalkuliert hatte, ob sie sich die Reise nach Moskau würde leisten können, traf Hildas Brief ein, in dem sie empört über den unzuverlässigen Russen schimpfte: „Seit er über Nacht spurlos verschwand, hat er jeden Kontakt zu mir abgebrochen! Angeblich wissen nicht einmal seine Eltern, wo er steckt.“ In Hildas Briefen ging es oft um Geschichten über treulose Männer. Auch all ihre reichen Freundinnen, die an wechselnden internationalen Standorten lebten, strafte das Schicksal mit unzuverlässigen Männern, die plötzlich in Nacht und Nebel verschwanden. Paula fühlte insgeheim Verständnis für das Reißaus der Männer. Sie war erstaunt, wie langfristig sich die Brieffreundschaft zur reichen Hilda entwickelt hatte. Vor einem Jahrzehnt lernte sie die einzige Erbin bester Familie beim Sommer-sprachkurs in einem englischen College kennen. Paula hatte lange für den Kurs gespart und wohnte in einer Stube im College, während Hildas Eltern für ihre Tochter ein Haus mieteten. Hilda reiste mit beeindruckendem Gepäck aus erlesener Literatur und ge-schmackvollster Kleidung an. Während dieses Sommers saß Paula oft mit ihr auf Wiesen, und hörte zu, wie Hilda über Kräuterheilkunde erzählte. Nach dem Vorbild ihres Vaters, erfolgreicher Chef einer globalen Rechtsanwaltskanzlei, führte Hilda, auch heute noch, permanent Kräuterkuren durch, in denen sie mehrere Tage oder Wochen nur einen be-stimmten Sud zu sich nahm. Paula stellte verwundert fest, dass Hilda trotz der zahlreichen Phasen ohne jegliche feste Nahrung nicht 5
schlank wurde, und ihr Vater, der regelmäßig auch seine Geschäftsfreunde von diesen Kuren überzeugte, auf Fotos kugelrund wirkte. Damals im englischen Sommer war Paula insgeheim froh, nie eine Schwester oder gar ein Ehemann der selbstbewussten Hilda sein zu müssen, weil diese sogar ihr, einer flüchtigen Bekannten, gegenüber erdrückend besitzergreifend war. Hilda musste bestimmen: Wo man was aß, wo man wen sah oder auch nur wo man wie saß. „Komm zu mir in den Schatten“, befahl sie Paula. „Ich vertrage die ungesunde Sonne nicht, für dich mit deiner hellen Haut und den hellen Haaren sind die Strahlen noch viel gefährlicher.“ Und so fröstelte Paula unter schattigen Bäumen bei Hilda, wenn die wärmende Sonne über Englands Wiesen schien, und wunderte sich, warum sie nicht widersprach. Und war-um die reiche Hilda sich mit ihr abgab. Hilda hatte sogar ein gemeinsames Foto machen lassen und ihr einen gerahmten Abzug geschenkt. Sowie ein großes Teepaket mit der Aufschrift „Leas Kräuter“. Gesehen hatte sie die geschäftige Hilda seit jenem Sommer selten. Etwa alle drei Jahre, wenn Hilda auf einer Reise am Flughafen in Paulas Stadt umstieg, bestellte sie Paula zu einem kurzen Wiedersehen, das jedes Mal nichts als ein eiliger Lauf vom Flugsteig zur Passkontrolle war. Immer hatte Hilda, die in perfekter Eleganz reiste, ein großes Paket Kräutertee von „Lea“ für Paula dabei, das in den nächsten drei Jahren kaum aufzubrau-chen war. Paula nahm Hilda nicht übel, dass diese nie einer gemeinsamen Teestunde zu-liebe den Weiterflug um eine Maschine verschob. Hilda war eine reiche Persönlichkeit aus einer anderen Welt, mittlerweile erfolgreiche Managerin einer Telekommunikationsfirma, obwohl sie doch bis vor kurzem noch alte Sprachen studiert hatte. Paula, eine Grafikerin aus einfacher Familie, kam gar nicht auf die Idee, die geschäftige Hilda mit einer Einla-dung zu ihrer Hochzeit zu belästigen, als sie Viktor in der Kirche ihres Heimatdorfs ehe-lichte. Auf die Zusendung der Trauanzeige zusammen mit der jährlichen Weihnachtskarte antwortete Hilda in einem empörten Brief: „Ich hätte bei Deiner Hochzeit dabei sein sollen und fühle mich sehr verletzt und ausgeschlossen.“ Sie schlug vor, gemeinsam mit Paula das anstehende Silvester zu verbringen, um Viktor kennen zu lernen. Paula sagte diesen Wunsch ab, denn Silvester lag mitten in den Flitterwochen, die sie weit weg verbringen würden. Hilda schickte darauf einen mit Familienwappen versiegelten, großen Umschlag, den Paula in der Silvesternacht unter Sternen-himmel öffnen solle: „Damit ich in Gedanken bei euch sein kann.“ Paula hatte den Brief, der in ihrem Reiserucksack nur zerknittert wäre, in eines von Hildas Kräuterteepaketen gelegt. Sie wollte den dicken Umschlag nach der Reise öffnen und Hilda mit einem Dankschreiben ein Souvenir schicken. Nun aber könnte sie das Souvenir – zwei handgefertigte Kerzenleuchter, Hilda liebte Kerzenschein – bald als Hochzeitsge-schenk persönlich überreichen. Und guten Mutes als Trauzeugin vor den Altar tre-ten? Obwohl Paula neugierig auf Hildas reiche Familie und Wohnsitz war, sagte sie die Reise zur Hochzeit ab. Hilda und ihre Familie reagierten empört. Hilda schrieb, dass Paulas Ab-sage ihr Glück trübe – gerade jetzt, wo sie doch nun endlich, zufällig in einem Restaurant, die Liebe auf den ersten Blick gefunden habe! Zu ihrem Erstaunen erhielt Paula nun auch Briefe von Hildas Eltern, die dann sogar zum persönlichen Gespräch in ihre Stadt reisten. Sie traf Hildas Eltern in einem Park. Beide waren von rundlicher Statur und erlesener Ele-ganz; als Gruß ihrer Tochter überreichten sie ein Teepaket der Marke „Lea“. Zudem hatten sie ein Kräutersäckchen dabei: „Zum Nachfüllen für das Amulett!“ Paula lächelte verwirrt: „Welches Amulett?“ Sie heuchelte, Bescheid zu wissen, als die Eltern besorgt auf den Umschlag verwiesen, den 6
Hilda für Silvester geschickt hatte. Während eines Spaziergangs durch den Park über-redeten Hildas Eltern sie zur Zusage als Trauzeugin; wütend über ihre Nachgiebigkeit ging Paula nach Hause. Sie öffnete den versiegelten Umschlag, den sie mit auf ihre Hochzeits-reise hätte nehmen sollen, und fand darin ein antikes, silbernes Amulett. Ein schlechtes Gewissen überkam sie, so ablehnend gegenüber Hilda zu sein, die ihr ein teures Ge-schenk schickte. Aus dem Amulett rochen dieselben Kräuter wie aus dem Säckchen, das Hildas Eltern mitgebracht hatten. „Leas Mönchspfeffer“ stand auf der Tüte. Paula wurde vom Geruch übel, sie warf die Kräuter in den Müll. Das leere Amulett legte sie zurück in den Umschlag; im Gegensatz zur eleganten Hilda trug sie ungern Schmuck. Doch zu Eh-ren der Braut wollte sie es an deren Hochzeitstag umhängen. Bis zur Hochzeit hörte Paula von Hilda und ihrer Familie nichts mehr. Niemand holte sie und Viktor bei ihrer Ankunft am Festtag vom Flughafen ab. Ihr Hotelzimmer war noch be-legt, so dass die beiden in einer Besenkammer die auf der Einladung geforderte festliche Kleidung anzogen. Pünktlich erreichten sie, beladen mit den Kerzenleuchtern im Ge-schenkpaket, Hildas Haus. Paula war beeindruckt von der prächtigen Eleganz und ver-wirrt, weil die Familie irritiert über ihr Eintreffen war: „Wir dachten, euch erst im Rathaus zu sehen.“ Einige von Hildas internationalen Freundinnen eilten in edlen Abendkleidern die Treppen hinauf und hinab. Paula durfte nicht zur Begrüßung ins Brautzimmer und fragte sich, weshalb nicht eine dieser Freundinnen Trauzeugin war. Viktor blieb draußen vor der Haustür und plauderte mit Alfs Bruder, der sich erfreut wunderte, wie ein Mitglied seiner einfachen Familie in solch ein reiches Haus heiraten konnte. Alf war auch da, noch runder und wei-cher als auf dem Foto, aufgeregt und tollpatschig. Dann rauschte Hilda herbei, elegant, ganz in Weiß, schritt sie zum Konvoi vierzehn dunkler Limousinen. Sie winkte Paula kurz zu, bevor einer der Chauffeure die Wagentür hinter ihr schloss. Die Familie, zumeist alte Tanten und Onkel, sowie Hildas Freundinnen stiegen in die Wagen, auf die letzten zwei Plätze pferchten sich Alfs Eltern und Bruder. Die Trauzeugin und ihr Mann sollten zu Fuß zum Rathaus eilen, was auf einer Abkürzung durch die schmalen Gassen der Altstadt möglich war, während die Limousinen einen Umweg über breite Alleen fuhren. „Geht es durch das schwarze Tor am Haupteingang zum Standesamt?“ rief Paula, die das hiesige Rathaus von Ansichtskarten her kannte, durch ein offenes Wagenfenster Hildas Vater zu. Er nickte kurz, und weg war der Konvoi. Paula und Viktor eilten durch die engen Straßen der Altstadt. Während Viktor schimpfte, weil es für die Trauzeugin keinen Platz im Konvoi gab, war Paula froh, nicht mit Hildas Tanten, Onkeln und Freundinnen in einem der Wagen sitzen zu müssen. Zum Glück wa-ren ihre Schuhe nicht so festlich, als dass sie damit nicht mehr über Kopfsteinpflaster hätte rennen können. Kurz vor dem Rathaus kamen sie an einem winzigen Laden vorbei: „Leas Kräuterstube“! Trotz aller Eile blieb Paula stehen, um durch die offene Ladentür zu schau-en. Ein kleines Mädchen blickte ihr böse entgegen, rannte aus dem Laden und riss Paulas Handtasche weg. Paula jagte ihr hinterher und schnappte die Kleine, die schon die Handtasche geöffnet und Hildas Amulett herausgezogen hatte. Wie ein kleiner Teufel grinste das Mädchen und stopfte das Amulett in den Mund. Paula zerrte ihre Handtasche zurück, packte die Kleine fest, hob sie hoch über sich in die Luft und schüttelte sie. Knapp wich sie aus, als ihr das Mädchen das Amulett ins Gesicht spuckte. Mitsamt der Kette rasselte der Schmuck auf das Kopfsteinpflaster, und während die Kleine danach grapschte, kickte Paula, gepackt von Ekel und Wut, das Schmuckstück angewidert in den Gully. Sie schaute sich um, Viktor eilte suchenden Blickes auf sie zu. „Hast du die kleine Hexe gesehen? Reißt meine Tasche weg!“, schrie Paula und zeigte in Richtung des Mädchens. Doch niemand war in der Gasse zu sehen. Zeit zum Wundern blieb nicht, die beiden rannten 7
weiter zum Rathaus. Der Konvoi war noch nicht eingetroffen, sie warteten vor dem großen, schwarzen Tor. Da hastete einer der Onkel um die Ecke, zog die beiden zu einem Seiteneingang. Sie rannten durch lange Gänge und keuchten schließlich in einen Saal. Hohe Wände, behängt mit mittelalterlichen Wandteppichen; die Hochzeitsgesellschaft saß steif auf barocken Sofas und Stühlen. Wie ähnlich zu den Fotos von diesem Wohnzimmer, dachte Paula erstaunt. Hilda starrte Paula ungeduldig an: „Wir warten! Wo ist das Amu-lett?“ Sie lächelte zufrieden, als Paula log: „Unter meinem Kleid.“ Eine ältere, rotblonde Frau hielt die kurze Trauzeremonie. Paula, noch außer Atem vom Rennen durch Gassen und Gänge, musste in drei großen Büchern unterzeichnen. Sie grübelte nicht mehr, ob sie die-se Hochzeit guten Gewissens bezeugen solle. Es fragte auch niemand, ob jemand jetzt reden oder für immer schweigen wolle. Nach der Trauung machte ein Fotograf Aufnahmen von allen, außer von Paula und Viktor. Nachdem der Konvoi gefahren war, gingen beide zu Fuß zum Landgut jenseits der Alt-stadt, in dem das Festessen stattfand. Hilda war damit beschäftigt, die mehr als 300 gela-denen Geschäftsfreunde ihres Vaters zu begrüßen, und hatte kein Wort für Paula übrig. Zum Essen wurden sie und Viktor weit entfernt vom Brautpaar platziert, an einem kleinen Tisch zusammen mit Alfs Freunden. Paula war hungrig, legte aber das Besteck weg, als ein Silberfisch von ihrem Teller kroch. Ihr Dessert hatte Alfs inzwischen betrunkener bester Freund verspeist, nachdem sie von einem kurzen Gang an die frische Luft zurückkam. Hildas Patenonkel, Besitzer einiger Zeitungen, nannte den Bräutigam in seiner Rede „wahrlich keinen Adonis“. Zu Paulas Verwunderung lachte Hilda – wie alle Gäste, außer Alfs Familie – darüber herzlich. Paula fühlte sich unbehaglich; Viktor schlug vor, bald zu gehen. Alfs betrunkener Freund wollte zum Abschied verraten, wie sich das Brautpaar kennen lernte. „Weiß ich, in einem Restaurant, Liebe auf den ersten Blick“, sagte Paula. Der Freund lallte kichernd: „Aber nein! Sie hat auf seine Kontaktanzeige geantwortet!“ Fröhlich wankte er zur Tanzfläche. Paula beschloss, über dieses Geheimnis zu schwei-gen, und suchte den Tisch des Brautpaares für einen Abschiedsgruß auf. Aber Hilda tanzte gerade glücklich mit ihrem Vater, und Alf mit seiner Mutter, keiner vermisste die Trauzeugin, die am frühen Morgen abreiste. In den Tagen darauf feilte Paula an einem Brief, um Hilda zu fragen, warum sie kaum ein Wort mit ihr sprach, ob sie als Trauzeugin etwas falsch gemacht habe. Doch dann warf sie den Entwurf zusammen mit den restlichen Paketen von „Leas Kräutertee“ kurzerhand weg. Einige Wochen später entdeckte sie auf einem Flohmarkt in einer staubigen Kiste ein dünnes Büchlein mit dem Titel „Leas Kräuterwissen“. Sie blätterte und las „Ratschläge für erfülltes Leben“: Gefügig werde jeder, der einen bestimmten Sud trinke; Leas Kräuterladen bereite die Zutaten individuell zu. Das Glück eines Paares ziehe man auf von diesem weg auf sich, indem die Jungfer die eigene Hochzeit unter hausgetrocknetem Mönchspfeffer bezeuge. Zauber verstärke man durch Bespucken von Schwurträgern. Jeglichen Mann beherrsche, wer bei einer Mahlzeit gemeinsam mit Löwen seinen ersten Gemahl verzehre. Entsetzt lies Paula das Büchlein in die Kiste fallen und wich vor dem Staub zurück, der daraus aufstob. Zu Hause fand sie eine Karte von Hilda im Briefkasten. Diese meldete sich – „überglücklich, seid ihr auch so verliebt wie wir“ – von der Hochzeitsreise mit Alf, in Afrika auf Safari.
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Das fünfte Rad am Wagen von Helfried Haider
Bernie ist neu im Hexenzirkel. Und der einzige Mann hier...
Das Lächeln gefror auf dem Gesicht von Tina als sie die Tür aufmachte, um die letzte Schwester zu begrüßen, die den Zirkel vollständig machen würde. Nur stand da nicht nur Nicole, neben ihr stand auch noch ein gutaussehender junger Mann, den Tina zuvor noch nie gesehen hatte. „Das ...“ sagte Nicole mit etwas Stolz, als sie auf ihren Begleiter deutete. „... ist Bernie.“ „Was macht Bernie hier?“ fragte Tina leicht ungläubig. „Er nimmt auch teil.“ Meinte Nicole, als sie hereinkam, Bernie an der Hand mit sich schleppend, bereits die ihr wohlbekannte Treppe ansteuernd, die nach oben in den „Ritualraum“ führte, wie er von den Mitgliedern des Zirkels liebevoll getauft worden war. „Das wird er nicht!“ rief Tina entsetzt (und etwas zu laut), Bernie zuckte zusammen und blieb daraufhin stehen. „Oh doch, das wird er.“ Am Ende der Treppe erschien Sara, die einen fragenden Blick nach unten warf. „Hallo Nicole! Wir haben schon auf dich ... wer ist das?“ „Das neueste Mitglied unseres Zirkels.“ Meinte Nicole stolz und präsentierte wieder einmal Bernie; schob ihn förmlich zum Fuß der Treppe hin. „Ein Mann?“ Fragte Sara mit einem sehr zweifelndem Gesichtsausdruck „Scharf erkannt.“ Erwiderte Nicole schnippisch. Tina hatte erkannt, dass die Diskussion sich wohl noch etwas ziehen würde, und schloss einmal die Tür, die Nachbarn mussten nicht unbedingt alles mit anhören, was sich hier tat. Nicole wollte Bernie mit nach oben schleppen, allerdings wurde die Treppe von Sara verstellt. „Hey, du hättest uns wenigstens fragen sollen! Du kannst doch nicht einfach mit einem Mann hier aufkreuzen und ihn unterjubeln.“ Nicole winkte ab. „Ach, warum denn nicht? Bernie interessiert sich auch schon seit längerem dafür, und Hexer und Magier gab es wohl zu allen Zeiten, nicht nur Frauen!“ „Ich weiß nicht so recht ...“ meinte Sara, war aber abgelenkt genug, dass Nicole sich an ihr vorbeischummeln konnte. Bernie versuchte ihr zu folgen, wurde aber nun von Sara aufgehalten, die ihn treuherzig ansah. „Hallo Bernie! Es würde dir doch sicher nichts ausmachen, mal kurz hier zu warten, während wir Mädchen was ausdiskutieren, oder?“ Bernie warf Nicole einen fragenden Blick zu, die daraufhin mit den Schultern zuckte, und ihn entschuldigend ansah, während Sara sie in den nächsten Raum hineinzerrte. Tina folgte langsam die Treppe hoch, auf der Bernie verwirrt stand. „Wird nicht allzu lange dauern.“ „Du hast ihm nicht zufällig erzählt, dass wir uns hier ausziehen und um den Ritualkreis herumtanzen?“ fragte Tessalia beiläufig nach, die gerade die letzten Vorbereitungen traf. Eigentlich wäre der Zirkel bereits komplett, aber es ging nun auch noch um Bernie. „Ich zieh mich nicht vor einem fremden Mann aus, den ich nicht mal kenne!“ protestierte Sara, die beleidigt in einem zur Seite geschobenen Sofa saß. „Aber wenn ich ne neue Freundin mitgebracht hätte, wär’s kein Problem gewesen, oder?“ versuchte Nicole ihre Verteidigungsstrategie aufzubauen. „Das kann man doch nicht vergleichen!“ „Ich muss Sara und Tessalia beipflichten, du hättest uns wirklich auf jeden Fall vorher fragen sollen!“ „Seid ihr jetzt alle gegen mich? Also, ich mag Bernie und er hat sich schon immer für solche 9
Sachen interessiert, und als er mich fragte, warum ich heute keine Zeit habe, da habe ich ihm halt alles erzählt. Er hat sich wirklich sehr interessiert, und ich habe nicht erzählt, was genau wir hier heute eigentlich machen wollen.“ Langsam sah Nicole ihre Felle davonschwimmen, aber die Hoffnung war noch immer da. „Bitteeeeeeee!“ „Also ich weiß nicht ...“ meinte Tina, deren Haus es auch immerhin war. „Hexer gab es schon zu früheren Zeiten auch eine ganze Menge, von dem Standpunkt her wär’s kein Problem.“ Warf Tessalia ein, die gerade mit ihren Vorbereitungen fertig war. „Im Internet gibt’s auch viele männlicher Interessenten, welche die Sache durchaus ernst nehmen.“ Sara schien nach wie vor nicht begeistert. „Ich mag mich nach wie vor nicht vor ihm ausziehen.“ „Ach, sie es doch positiv.“ Versuchte Nicole aufzumuntern. „Er muss sich schließlich auch vor dir ausziehen.“ Es folgte eine kurze Schweigepause, aber immerhin hatte Nicole es geschafft, die anderen zum nachdenken zu bewegen. „Und wenn er nicht mitmachen kann, dann will ich auch nicht!“ „Also gut, du stellst dich dort drüben hin, wir haben nicht mehr viel Zeit, also pass gut auf.“ Bernie nickte, als Tina begann, ihn zu belehren. „Wir haben schon eine gewisse Routine, auch wenn wir unsere Zirkel nicht so oft machen, nur bei den passenden Gelegenheiten.“ „Halloween, Walpurgisnacht, Beltane, die Sonnenwenden, Tag- und Nachtgleichen und so weiter.“ Warf Nicole ein. “Genau. Danke, Nicole. Also, wir stellen uns hier auf und beginnen dann unseren Tanz – dafür gibt es keine vorgeschriebenen Tanzschritte, am besten folgst du uns einfach bis du deinen eigenen Rhythmus findest. Lass dich einfach von der Musik mittreiben.“ „Ach ja, wegen der Musik!“ Tessalia sprang von ihrem Sessel auf und lief aufgeregt zu ihrer Tasche. „Ich hab noch was neues gefunden!“ „Ein neues Lied? Aber wir haben doch unsere ...“ protestierte Sara kleinlaut, aber Tessalia zog schon eine CD aus der Tasche. „Ja, aber das hier ist so cool, das ist tatsächlich ein wiederaufbereitetes Lied eines babylonischen Hexenrituals!“ „Zeig mal!“ meinte Nicole und nahm die CD in die Hand, wurde aber enttäuscht, da nichts draufstand. „Selbstgebrannt.“ Entschuldigte Tessalia sich. „Lass mich raten, aus dem Internet?“ hakte Sara nach, ihr Gesicht in ihre rechte Hand vergraben. „Klar.“ „Das machen wir uns dann nachher noch aus.“ versuchte Tina zu schlichten, die vor allem Bernie jetzt endlich einmal belehren wollte, und wandte sich ihm wieder zu. „Wir huldigen damit der Natur und ...“ „Soll ich mal auflegen?“ Tessalia schien ungeduldig zu sein und startete in Richtung des CDPlayers. „Wart noch ein wenig. Ich möchte jetzt zuerst einmal Bernie hier erklären, wie wir das alles machen.“ „Machen wir dann eigentlich das Mondritual auch? Das ist ja eigentlich das Ritual, das den weiblichen Aspekt des Himmels anruft.“ Kam nun von Saras Seite die Frage, die gerade in einem der vielen Bücher blätterte, die am Rand aufgestapelt waren. „Können wir ja mal auslassen.“ Meinte wiederum Nicole, Sara über die Schulter blickend. „Gibt’s nicht auch eines, das Geschlechtsunspezifisch ist?“ „Könnte ich mal die Sache mit Bernie regeln, damit wir rechtzeitig anfangen können?“ Tina sah Sara und Nicole strafend an. 10
„Entschuldigung! Klar, mach nur.“ Meinte Sara und klappte das Buch zu, das ihr daraufhin von Nicole entwendet wurde, die begann in dem Buch zu blättern. „Nun gut, wo waren wir?“ fragte Tina bei Bernie nach, der kurz nachzudenken schien. „Wir waren bei ...“ In diesem Moment wurden alle erschüttert, als die ersten Takte des Liedes begonnen, das Tessalia in der Zwischenzeit in den CD-Player eingeschoben hatte. Die Gläser auf dem Tisch begannen heftig zu vibrieren. Tina wollte irgend etwas rufen, aber es ging in dem Getöse, das von der Stereoanlage ausging, unter, während Tessalia hektisch versuchte den richtigen Knopf zu finden. Erst ein paar Sekunden später herrschte wieder Ruhe, und die Musiklautstärke wurde auf ein erträgliches Ritual reduziert. Tessalia blieb schuldbewusst stehen wo sie war und versuchte sich mit einem Lächeln zu verteidigen. „Techno?“ fragte Sara etwas zweifelnd nach. „Das ist doch nicht Techno ...“ meinte Tessalia entschuldigend, auch wenn sie sich nicht sicher war, welcher Musikrichtung dieses Lied zuzuweisen war. Nicole, Tina und Bernie selbst standen still da, obwohl es Bernie anzusehen war, dass er sich ein Lachen verkneifen musste. „Irgendwie habe ich mir eure Hexenzirkel etwas anders vorgestellt.“ „Hast du jetzt schon ein paar passende Rituale ausgesucht?“ rief Tina zu Sara aus dem Bad. Tina nahm den Zirkel immer sehr ernst und legte sich ihre eigene „Kriegsbemalung“, wie es die anderen schon genannt hatten, an. „Also von unserem regulärem Programm können wir getrost die Hälfte streichen. Die meisten Sachen würden ein neues Mitglied hoffnungslos überfordern, bei manchen haben ja wir schon Schwierigkeiten mitzukommen.“ Sara seufzte. „Willst du wirklich diesen mesopotamischen Hexentanz aufführen, von dem Tessalia schwärmt?“ Tina kam, ihre Haare bürstend, aus dem Bad. „Ich weiß es nicht, sie scheint sich ziemlich darüber zu freuen, aber eigentlich passt es nicht wirklich zum Rest unserer Ritualtänze.“ Sie stoppte kurz und wippte mit der Bürste in ihrer Hand auf und ab. „War das nicht babylonisch?“ Sara zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, du kannst ja Tessalia fragen. Ist das Bad schon frei?“ „Sehe ich etwa schon fertig aus?“ fragte Tina schockiert, die tatsächlich noch (beinahe) ungeschminkt war. „Schon gut, aber beeil dich, ich mag mich ja auch noch herrichten. Oder leg dir einmal ein zweites Badezimmer zu.“ „Ich mache mich ja schon wieder an die Arbeit!“ Verteidigte Tina und verschwand wieder im Bad. „Bin ja gespannt, wie das Ritual heute wird. Ich hoffe, dass bei diesem Zirkel alles klappt!“ „Wird schon schief gehen.“ „Genau das befürchte ich.“ Nach einer weiteren Stunde der Vorbereitungen waren Tina und Sara endlich so weit. Tessalia schminkte sich nie vor den Ritualen – und Nicole legte ohnehin nur dezente Schminke auf, die sie bereits zu Hause applizierte. Bernie hatte in der Zwischenzeit geduldig gewartet und sich einige der Bücher von Tina angesehen, die sich fast alle mit dem Okkultismus beschäftigten. Natürlich behandelten die meisten davon auch Hexen, in all ihren klassischen und manchen modernen Varianten. Am Boden des Raumes war ein Kreis aufgezeichnet, der mit komplexen Zeichen von Tessalia versehen worden war, die sie geduldig aus einem Buch nachgezeichnet hatte. Auch die schwarzen Duftkerzen waren reihum aufgestellt worden. Als Tina aus dem Bad kam, stockte Bernie beinahe der Atem, denn sie hatte sich umgezogen 11
und trug nun nur mehr einen gold-glitzernden Slip mit dazupassendem BH, darüber ein seidenes Tuch, das so durchsichtig war, dass man es beinahe nur wahrnehmen konnte, wenn Tina sich bewegte. Auch die „Kriegsbemalung“ war nun fertig, die Konturen des Gesichts wurden mit schwarzer Schminke hervorgehoben, besonders die Augen und der Mund waren betont. Auch Sara hatte sich umgezogen, war jedoch wesentlich schlichter als Tina gekleidet, in ein schwarzes, kaum merkbar mit ebenfalls schwarzen Zeichen besticktem Kleid. „Dann beginnen wir mal mit dem Einführungsritual, würde ich vorschlagen.“ Meinte Tina und sah die anderen an, die ihr aufmunternd zunickten. Für die Mädchen war dies schon ein wenig Routine, das Ritual diente hauptsächlich dazu die Stimmung einzufangen. Die meisten Rituale basierten ohnehin auf moderneren Aufzeichnungen und Ideen, an die man sich halten konnte, aber nicht unbedingt musste. Die wirklich alten Rituale waren in Büchern verzeichnet, die kein Mitglied des Zirkels sich auch nur annähernd leisten konnten (der Geldzauber hatte nicht sonderlich gewirkt, von einem Dreier im Lotto abgesehen, den Nicole gewonnen hatte). Die ersten drei kleinen Rituale verliefen reibungslos, selbst Bernie stellte sich erstaunlich geschickt an, wie Tina und Sara neidlos anerkennen mussten. Wenn er so weitermachte, war ihm tatsächlich ein Platz in dem Zirkel sicher. Die Kerzen flackerten leicht in dem leichten Wind, der durch das geöffnete Fenster hereinkommen sollte und der einzige Beobachter war Tinas (natürlich) schwarze Kater Azazael, der geduldig in einer Ecke hockte und sich über die Bräuche der Menschen zu wundern schien. Nach dem dritten Ritual (welches „dës zirkels wundernstarke innern krefte manecvalt mêren sult, ûf daz gelücke zuokünftic die ruofe segene.“) warf Tessalia einen fragenden Blick in die Runde. Tina seufzte leicht auf, nickte ihr aber dann zu; die Mitglieder des Zirkels hatten einander immer respektiert, und wenn es Tessalias Wunsch war, dann wollte Tina es ihr nicht verderben. So huschte Tessalia zum CD-Spieler und schaltete ihr Lied ein, begab sich dann schnell zu den anderen zurück, um den gemeinsamen Tanz beginnen zu können. Sara hatte leichte Probleme, sich so zwanglos wie immer zu bewegen, sie konnte ab und zu die Blicke von Bernie sehen, als er in ihre Richtung sah, und sie war sich nicht sicher, ob er nicht doch einfach gekommen war, um ein paar für ihn Verrückte nackt tanzen zu sehen. Tessalia und Nicole, selbst Tina, schienen damit wesentlich weniger Probleme zu haben, sie begannen sich im Takt zu wiegen und langsam im Kreis herumzuschreiten. Es war der erste Tanz an diesem Abend, und Bernie schien noch leicht verunsichert zu sein, aber er tat sein bestes, und bewegte sich mit den anderen Mädchen mit, versuchte ihre Schritte zu imitieren, was allerdings leicht grotesk anmutete, wie Sara fand. Die zwangloseste war sicherlich Tessalia, die in diesem Lied förmlich aufzugehen schien (und die sicherlich zu Hause auch schon gehörig trainiert hatte). Sie war auch die erste, die begann, ihre Kleidung abzustreifen, wie es bei ihren Treffen üblich war, um die Erdverbundenheit der selbsternannten Hexen zum Ausdruck zu bringen. (Von Nicole bei ihrem ersten gemeinsamen Treffen liebevoll mit der Frage „Erdverbundenheit im ersten Stock?“ angezweifelt.) Bernie, der direkt vor Tessalia tanzte, schien dies nicht zu bemerken, oder konnte tatsächlich gut damit umgehen. Auch Nicole begann bei dem Tanz mit ihrer Entkleidung, und das ohnehin kaum sichtbare Tuch von Tina flatterte vorsichtig an den Kerzen vorbei in eine Ecke. Dennoch fühlte Sara sich ein wenig unbehaglich und ließ sich noch ein wenig mehr Zeit, aber als Nicole und Tessalia sich schon beinahe aller Sachen entledigt hatten, und Bernie sich noch immer nicht ungebührlich benahm, wollte sie ihren Schwestern nicht nachstehen, schloss die Augen und schob die Träger ihres Kleides über ihre Schultern, das daraufhin malerisch zu 12
Boden glitt. Da Sara darunter nichts anhatte, war sie nun auch nackt wie Tessalia bereits war und Nicole und Tina bald sein würden – allerdings war das auch der Moment, wo Bernie zum ersten Mal seit einer Minute die Augen wieder öffnete, kurz ungläubig Sara ansah, und prompt vor Überraschung elegant über seine eigenen Füße stolperte. Danach überschlugen sich die Ereignisse – Bernie fiel gegen Nicole, die vor ihm tanzte und brachte auch sie aus der Bahn. Tina, die sich gerade ihres Oberteiles entledigen wollte, blieb eine Schrecksekunde stehen und starrte dann ungläubig auf Bernie und Nicole, welche sich im Moment auch nicht auskannte, als sie zu Boden ging. Sara errötete innerhalb von wenigen Sekunden und griff hastig nach ihrem schwarzen Kleid, um es wieder anzuziehen, übersah jedoch, als sie es zu sich zog, eine Kerze, die umkippte, woraufhin der trockene Stoff leicht zu brennen begann. Nur Tessalia schien davon nichts mitzubekommen, sie tanzte sogar noch elegant um Bernie und Nicole herum, die gerade versucht waren, sich wieder aufzurappeln. „Vielleicht wird es wirklich Zeit, dass wir uns einen neuen Zirkel suchen.“ Meinte Tina beruhigend zu Sara, die sich gerade die Tränen aus dem Gesicht wischte. Aus dem Nebenzimmer hörten sie Nicole und Bernie streiten; plötzlich war Nicole anscheinend auch nicht mehr so überzeugt von den ehrbaren Motiven von Bernie. Tessalia war noch immer gut aufgelegt und tanzte weiterhin nackt um den Ritualkreis. Sie hatte ihr Lied auf eine Endlosschleife gestellt und hatte ihren Spaß. „Wir könnten woanders noch einmal von vorne beginnen.“ „Ich weiß nicht so recht.“ Meinte Sara und zupfte noch ein wenig an dem schwarzen Kleid herum, dass sie sich wieder angezogen hatte, nachdem sie die Ausbreitung der Feuerbrunst durch beherztes Pusten verhindert hatte. „Komm, wir gehen auf jeden Fall einmal, bevor Bernie und Nicole wieder rauskommen.“ Sara nickte zaghaft und verließ, noch immer leise schluchzend, den Raum. Tina nahm Azazael in ihre Arme und folgte Sara, nicht vergessend an der Türschwelle noch einmal auszuspucken, dann schritt sie die Treppe hinab. Als Tessalia das Brummen eines Motors hörte, wurde ihr doch bewusst, dass etwas gehörig schiefgegangen war. Sie hastete zum Ausgang des Raumes, sie wollte doch ihre Schwestern nicht alleine lassen, rannte jedoch verblüfft in eine unsichtbare Mauer, die sie schmerzhaft am Verlassen des Raumes hinderte und sich genau an der Türschwelle befand. Ungläubig rieb sie sich ihre schmerzende Nase, als sie zum Fenster ging, nicht sicher, was gerade vor sich ging und sah Sara mit ihrem Auto davonfahren. Hätte sie nach oben geblickt, hätte sie auch Tina gesehen, die auf ihrem Besen gerade in die Lüfte aufstieg und Sara folgte, die sich eher an ihr Auto hielt als an ihren Besen, weil sie schlicht und ergreifend an Höhenangst litt.
ENDE
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Der Basilikaner von Silvia Sladek
Vander fürchtet die Basilika. Dort haust das Grauen!
Hämisch grinste der steinerne Dämonenschädel vom Dachfirst und streckte dem Eindringling die lange Zunge entgegen. Beunruhigt fiel Vanders Blick auf das fensterlose Seitenschiff der Basilika. Schlangen, Drachen und andere Fabelwesen krochen über das schwarze Gemäuer, das zwischen den wuchernden Ranken des Efeus zu sehen war. Nur das eisenbeschlagene Tor war von dem Kraut verschont, als wage es die Pflanze nicht, den Eingang zu berühren. Tor der Albträume – sein Großvater nannte es so, seit Vander denken konnte. Wer immer die Schwelle übertreten hatte, war nicht derselbe geblieben. Einige waren gar als Idioten zurückgekehrt. Der Gedanke daran ließ Vander schaudern. Welkes Laub raschelte leise auf den abgeschlagenen Steinplatten zu seinen Füßen. Der eisige Wind blies ihm das schulterlange schwarze Haar ins Gesicht und kroch unter den hochgestellten Kragen. Vander fröstelte und zog den Hals ein. Ehrfürchtig schweifte sein Blick an dem schmalen Glockenturm des Hauptschiffes nach oben. Zwischen den hohen Fichten des Waldes sah es so aus, als verschmelze die Spitze mit dem dunklen Grau des wolkenverhangenen Himmels. „Nur wem es gelingt, die Glocke zu schlagen, kann von dem Grauen berichten.“ Seine Stimme war so leise, dass Vander sie selbst kaum hörte. Unschlüssig stand er da. Seine schlanken Finger schlossen sich fest um den hölzernen Griff der Fackel, dessen Feuer vom Wind längst gelöscht worden war. Er konnte in seinem Rücken das Schlagen der verwitterten Vorgartentür hören, die hin und her gerissen wurde. Wild pochte das Herz in seinem Hals. „Du bist echt verrückt!“ Findels dünne Stimme zitterte. Mit verkniffener Miene und übereinandergeschlagenen Armen sah er Vander von der Seite her an. „Nicht verrückter als sie.“ „Wen meinst du? Die Basilikaner? Was willst du denen überhaupt beweisen?“ Frierend hopste Findel von einem Fuß auf den anderen. Seine hagere Gestalt wirkte seltsam verloren in dem düsteren Zwielicht. „Ach, sei still! Wer sagt, dass ich das nötig habe? Ich weiß schon was ich tue!“ Vander streckte seinen Rücken durch und reckte das spitze Kinn. So selbstbewusst, wie er sich gab, fühlte er sich keineswegs. Gwendl fiel ihm ein. Er war der letzte gewesen, der den Dämonen trotzen wollte. Zurückgekehrt war er nie. „Du weißt bestimmt nicht, was du da treibst!“ Findels vorwurfsvoller Blick musterte Vanders hochgewachsene Gestalt. „Wozu das Ganze? Versuchst du so zu werden wie Bertholt, oder was?“ „Lass meinen Großvater aus dem Spiel! Bist du nur mitgekommen, um mir auf die Nerven zu gehen?“ „Denk an Gwendl!“ Vanders dunkle Augen streiften den struppigen Blondschopf seines Freundes. „Wer weiß, ob dieser Feigling die Basilika je betreten hat. Vielleicht ist er ja weggelaufen.“ Verächtlich spuckte er auf den Boden. Gwendl war nie feige gewesen, das wusste Findel so gut wie er. Wie also sollte er etwas schaffen, das nicht einmal dem Sohn des Schmieds gelungen war? Doch es stand bereits zuviel auf dem Spiel. Wollte er von den Dorfbewohnern jemals geachtet werden, musste er sich den Dämonen stellen. Der Himmel verdüsterte sich, während der Wind auffrischte. „Es ist unheimlich hier. Lass uns verschwinden!“ Ungeduldig zupfte Findel an Vanders 14
Wolljacke und sah auffordernd an ihm hoch. Der achtete nicht darauf, sondern schwelgte in Gedanken an seine Zukunft. „Vielleicht erhalte ich dieselben Kräfte wie Waller.“ „Waller, die Kräuterhexe?“ „Sie kann den Mond beeinflussen, sagen die Leute. Ihre Magie ist zwar nicht so stark wie die von Großvater ...“ Gedankenverloren holte Vander tief Luft. „Oder ich bekomme Zukunftsvisionen, wie der alte Vetl.“ „Vetl ist ein ekelhafter Miesepeter. Wer sich mit ihm anlegt, kann sich gleich um einen Sarg kümmern. Wie der willst du doch wohl nicht werden?“ Verächtlich stieß Findel Luft durch die Nase. „Vetl ist sehr angesehen.“ „Alle fürchten ihn. Ist das dein Ziel, oder was?“ „Besser, als herumgestoßen zu werden!“ Verbittert spie Vander die Worte geradezu aus. „Magie zwingt sie in die Knie, diese Feiglinge.“ Seine Rechte ballte sich zur Faust. „Du tust ihnen unrecht.“ „Bastard schimpfen sie mich! Weil ich unehelich geboren bin.“ „Sogar deine Mutter hat vor Bertholt Angst. Dein Großvater ist ein Hexer!“ Nervös fuhr sich Findel über das Kinn und zupfte an dem lächerlich dünnen Spitzbart. „Großvater besitzt heilende Kräfte und unbegrenztes Wissen. Er hat seine Magie nie gebraucht, um jemandem zu schaden, das weißt du sehr wohl.“ „Den Basilikanern kann keiner trauen. Du darfst keiner von ihnen werden. Hör auf mit diesem idiotischen Spiel. Die Dämonen werden dich sowieso in der Luft zerfetzen.“ „Quatsch!“ Mit einer kraftvollen Bewegung schleuderte Vander die nutzlos gewordene Fackel von sich. Nicht einmal vor sich selbst wollte er zugeben, dass er vor Angst wie gelähmt war. Findel hopste immer noch hin und her wie ein Kaninchen. „Sag ja nicht, du hast keine Angst.“ „Sollte ich die haben?“ Mühsam unterdrückte Vander ein Zittern seiner Stimme. Sein Herz raste. Allmählich ging ihm Findel auf die Nerven. Aber wann tat er das nicht? „Du kannst das nicht tun! Du kannst keiner von ihnen werden! Ich kann dann nicht mehr dein Freund sein!“ Gereizt fuhr Vander herum. „So, das kannst du also nicht? Gut, dass du mir das rechtzeitig sagst! Verschwinde, bevor ich die Geduld mit dir verliere!“ Eine drohende Armbewegung ließ Findel zurückzucken. Sein zorniger Blick traf Vander. „Geh doch zum Teufel, du Idiot!“ Mit verengten Augen sah Vander dem Schatten hinterher, der mit raschen Schritten zwischen den Bäumen des Waldes verschwand. Er spürte das Blut durch die Schläfen pochen, als er sich dem Tor vor ihm zuwandte. Seine Hand tastete an den Gürtel, wo er den kalten Griff des Dolches spüren konnte, den er mitgenommen hatte. Ob er gegen Dämonen nützlich war, blieb dahingestellt. Dennoch vermittelte er Vander etwas wie ein Gefühl der Sicherheit. Nur wenige Schritte, dachte er. Obwohl die Basilika seit Ewigkeiten leer stand, war sie erstaunlich gut erhalten. Zögernd trat Vander auf den Eingang zu. Seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte, um die breite Klinke zu berühren. Der Wind heulte laut über die Steinplatten des Vorgartens. Vander fröstelte. Bebend schloss er die Augen und sprach sich Mut zu. Mit angehaltenem Atem drückte er die Klinke nieder und schob das schwere Tor mit aller Kraft ein Stückweit auf. Der Geruch von Moder und Staub schlug ihm entgegen. Schwach fiel das Zwielicht der einsetzenden Dämmerung durch den Spalt. Im Innern der Basilika konnte Vander ein Schimmern erkennen. Durch winzige Öffnungen direkt unter der Krümmung des Daches drangen spärliche Lichtstrahlen in die Leere des Raumes und zeichneten ein undeutliches Muster auf den gesprungenen Marmorboden. Vander konnte spüren, dass er nicht allein war. Etwas war da. Es spürte seine Anwesenheit 15
ebenso deutlich wie er. Mit heftig klopfendem Herzen beobachtete er die Schatten, die sich hinter den Säulen des Seitenschiffs zusammenzuballen schienen. Er konzentrierte sich auf jede noch so winzige Bewegung, doch da war nichts. Zögernd schob er sich durch den Türspalt und ging ein Stück in die Dunkelheit hinein. Er hasste nichts mehr als Dunkelheit. Sein Verstand setzte beinahe aus, als die Schritte ungewöhnlich laut durch das hohe Hauptschiff hallten. Alle Glieder angespannt hielt er inne. Rund um ihn waren nichts als Schatten, unheimliche gespenstische Schatten hinter jeder steinernen Statue, die ihn aus der Dunkelheit heraus zu beobachten schien. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Blitzschnell warf er sich zwischen die Reihen der vermoderten Sitzbänke und hielt den Atem an. Nichts war zu hören, nur das Blut rauschte laut in seinen Ohren. Langsam zog er den Dolch aus der Scheide und umklammerte mit zitternden Fingern den kalten Griff. Er vermeinte Angst zu verspüren, die nicht seine eigene war. Der Geruch von Tod stieg in die Nase. Hektisch sah er sich um. Schwärze kroch aus den dunklen Wänden, berührte seine Seele und umfing sie mit kaltem Griff. Panik erfasste Vander. Er wollte hier raus, aber er konnte nicht. Er war wie erstarrt. Es gab kein Zurück mehr. Er würde sich lächerlich machen. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Es gab keine Zukunft für ihn in dem Dorf seiner Mutter. Sein Großvater war das einzige, das ihn dort noch hielt – ihn, Vander, den Bastard. Aber vor Vander, dem Basilikaner, der den Dämonen getrotzt und ihre Magie geraubt hatte, würden sich die Dorfbewohner in den Staub werfen. Vander grinste innerlich. Mit aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit. Rund um ihn erhoben sich dunkle Gebilde, die sich auf ihn zu bewegten. Ihm war, als glitt etwas Riesiges auf ihn zu. Ein eisiger Luftzug traf ihn. Hysterisch sprang er auf und rannte schreiend durch die Basilika, direkt auf den Altar zu. Er übersah die Stufe und stolperte. Der Dolch entglitt seinen Fingern und schlitterte über den Boden bis in eine dunkle Ecke hinein. Ekel überkam ihn, als er mit der Hand auf den feuchten Moder des Opfersteins griff. Der Geruch von Schimmel stieg ihm in die Nase. Angewidert wich er zur Seite, prallte gegen eine zerborstene Säule und fiel. Schmerz schoss durch sein Knie. Hektisch robbte er auf die kleine Tür zu, die sich zu seiner Rechten erhob. Er wagte nicht, sich umzusehen. Das Grauen kroch über seinen Nacken den Rücken hinab. Rund um ihn geriet die Dunkelheit in Bewegung. Kalte Feuchtigkeit traf ihn, als er die Tür aufriss und auf die Wendeltreppe zuhechtete, die in den Glockenturm führte. Wem es gelingt, die Glocke zu schlagen ... Dann waren die Schatten über ihm. *** „Du bist dortgewesen, nicht wahr?“ Der gütige Blick seines Großvaters musterte ihn besorgt. Eine faltige Hand schob sich über den Eichentisch und berührte ihn sanft am Arm. „Ja.“ „Nun bist du einer von uns, das weißt du doch? Du darfst nicht über das Grauen sprechen.“ Vanders dunkler Blick war seltsam verstört, als er schweigend den Kopf hob. Er hielt die schmalen Hände an die Schläfen gepresst. „Das verstehst du doch, Junge?“ „Woher hast du deine Macht, Großvater?“ Ein nachsichtiges Lächeln stahl sich in Bertholts Gesicht, während er sich hinter dem Tisch hervorquetschte. „Ich trage sie in mir. Wie du auch. Kannst du sie denn nicht sehen? Jetzt?“ „Alles Lüge.“ 16
„Oh nein, Vander, das ist es nicht. Jeder Mensch sieht nur das, was er sehen will.“ Hölzerne Pantoffel klapperten durch die Stube. Bertholts stattliche Gestalt beugte sich über die Holzscheite und warf einige davon in den offenen Kamin. Man sah ihm sein hohes Alter nicht an, nur das schlohweiße Haar verriet ihn. „Du meinst, ich habe mir alles nur eingebildet? Die Furcht, die Dämonen ...“ „Oh nein, deine Furcht war echt. Auch die Dämonen. Sie sind in dir. Sie sind in jedem von uns. Lass sie heraus, und sie werden dich das Fürchten lehren. Sie sind das Böse in uns, mein Junge.“ Mit einem eisernen Schürhaken stocherte Bertholt in der Glut des Kamins, um die Scheite zum brennen zu bringen. „Aber die Basilika ... dort ist nichts! Alles Einbildung!“ „Wer sagt dir das? Frag die Menschen hier im Dorf. Jeder wird dir bestätigen, dass dort Dämonen hausen. Kaum jemand, der sich überhaupt in die Nähe der Basilika wagt. Du hast Mut bewiesen. Du warst dort, egal was man über die Basilika sagt.“ „Die Basilikaner ... eure Magie ... ihr seid nichts als Scharlatane? All deine Macht ist nur ein Spiel.“ Ungläubig schüttelte Vander den Kopf. Er griff nach dem Humpen Gerstensaft, den ihm sein Großvater unter die Nase schob. „Nun, ein wenig Zauberei ist schon dabei. Die Menschen sind aber recht leichtgläubig. Es ist nicht schwieriger als ein Pferd zu beschlagen.“ Lächelnd setzte sich Bertholt seinem Enkel gegenüber und führte einen Krug Bier an die Lippen. „Zum Wohlsein, mein Junge.“ Vander tat einen Schluck. Der Gerstensaft war frisch gebraut und schmeckte herrlich. „Aber Waller ... und Vetl ... Ich dachte, sie seien etwas Besonderes.“ Mit dem Handrücken wischte sich Bertholt den Schaum aus dem dichten Bart. „Das sind sie auch. Niemand kennt sich besser mit Kräutern aus als Waller. Niemand kennt die Menschen und ihre Natur besser als Vetl. Lerne bei ihnen, wie ich es getan habe. Du bist nun ein Basilikaner, einer von uns. Klugheit, Wissen, Schlauheit und Mut, mehr braucht es nicht, um ein Magier zu sein.“ Eine Weile starrte Vander gedankenverloren aus dem Fenster, das zur Straße zeigte. Auf der anderen Seite konnte er Findel erkennen. Sein nervtötender Freund Findel, der nichts mehr fürchtete als die Macht der Basilikaner. So wie alle hier im Dorf. Doch was sie wirklich fürchteten, war der Mut, den sie selbst nicht hatten. Ein boshaftes Lächeln trat auf Vanders Lippen, als er über seine Zukunft nachdachte. ENDE
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Jimmys Katze von Ralf Streitbörger
Der junge Mann ist neu in New York! Und in dieser Stadt ist auch das Ungeheuerlichste möglich...
New York, die Stadt seiner Träume. Jimmy blickte aus dem Fenster seiner Wohnung auf das pulsierende Leben der 54 Strasse. „Keine gute Gegend , aber für den Anfang“ dachte er . Es war sein erster Tag in dieser Stadt der Städte . Sein Appartement war klein und ein wenig schmuddeliger als er es aus Montreal gewohnt war. „Dafür aber etwas teurer“ seufzte er und blickte auf die schäbige Möblierung aus den siebziger Jahren. Mit einer lauwarmen Flasche Whisky in der Hand betrat er den Zweiten Raum der Wohnung. Er nahm einen Schluck aus der Flasche und setzte sich auf das Bett. „Das ist also meine Einstandsparty“ murmelte er vor sich hin. Die beginnende Dämmerung verstärkte das Gefühl von Einsamkeit in ihm.“ Einsamkeit ist ein Kind der Nacht“ dachte er laut und nahm den letzten Schluck von dem störrischen Fusel, der auch im Angetrunkenen Zustand nicht besser schmecken wollte. Morgen musste er sich einen Job suchen in diesem zu Beton gewordenen Wahnsinn. „Ein Königreich für einen Fernseher“ fluchte er laut und warf die leere Flasche in den Papierkorb.“ Ein Zimmer ohne Fernseher war nicht Möbliert. Ohne Bett und Schränke, ja , das wäre zu ertragen gewesen , aber nicht ohne Fernseher. Dann schlief er ein. Der muffige Geruch der Matratze begleitete ihn bis in seine Träume. Etwas desorientiert erwachte er am nächsten Morgen . „Neues Spiel, neues Glück“ dachte er und ging ins Badezimmer. Das Badezimmer war ein geschickter Schachzug seines Vermieters. Verließ man es nach der Morgenwäsche , erschienen einem die anderen Räume für den Rest des Tages geradezu luxuriös . Das Toilettenbecken war überzogen mit Urinstein, den Generationen von Mietern über jahrzehnte hinweg produziert hatten. „Wer so etwas entfernt, bricht auch Stalagtiten aus einer Tropfsteinhöhle“ dachte er und blickte fast ehrfurchtsvoll auf die gelblichen Gebilde . Der Badezimmerspiegel hatte nur am äußeren unteren Rand eine kleine intakte Fläche, in welcher man in gebückter Haltung einen Einblick bekommen konnte, wie man denn so aussah in den frühen Morgenstunden. „Ein kaputter Spiegel ist ein gnädiger Spiegel „ ging es ihm durch den Kopf als er versuchte sich seinen Vormieter vorzustellen. Wenn er auch nur halbwegs zu den Nachbarn passte, die er gestern im Hausflur traf, verstand man warum er ihn nie ausgewechselt hatte. Frisch gewaschen und rasiert verließ er das Appartement. Er war gespannt was ihn heute erwarten würde. Mit seinen knapp 30 Jahren und seiner mehrjährigen Erfahrung als Kameramann konnte er durchaus optimistisch in die nähere Berufliche Zukunft blicken. Drei Redaktionen würde er heute kontaktieren. Die Aussicht das schäbige Appartement gegen eine moderne Komfortwohnung eintauschen zu können war ein zusätzliche Motivation bei der Jobsuche. Bereits das zweite Gespräch brachte den gewünschten Erfolg . Als Arbeitloser hatte er den Tag begonnen und als Mitarbeiter von „NY Sport TV“ würde er ihn beenden. Nach dem Einkaufen überteuerter Lebensmittel kaufte er noch einen überteuerten Kleinfernseher und machte sich gutgelaunt auf den Weg in sein überteuertes Appartement. Mit einer prall gefüllten Einkaufstüte in der linken und dem Fernseher in der rechten Hand quälte er sich in den Dritten Stock . Jede der hölzernen Stufen auf die er trat verwarnte ihn mit einen bedrohlichen Knarren, „ Vorsicht junger Mann, gleich breche ich und du saust mit deinem 400 $ Fernseher in die Tiefe“ Erleichtert betrat er seine Behausung. Als erstes schloss er den Fernseher an und stellte fest, dass selbst dieses Wunderwerk der Technik schäbig wirkte in dieser Umgebung. 18
Nach ein paar Stunden Zapping , diversen Donuts und Getränken wurde er müde und legte sich aufs Bett. Vor sich hindösend lauschte er auf das was ihm die dünnen Trennwände des Wohnblocks offenbarten. Auch in New York gab es untalentierte Saxophonisten ,Ehekrach und unglückliche Hunde. Grinsend dacht er an die Geräusche, welche die Nacht wohl bringen würden. Plötzlich vernahm er ein Kratzten an der Wohnungstür. Zuhause in Montreal hätte er es wohl nicht einmal bemerkt, doch die fremde Umgebung sensibilisierte seine Sinne, ließ ihn wachsamer sein. Langsam öffnete er die Tür seines Appartements . Auf der Fußmatte vor der Wohnungstür erblickte er eine Rabenschwarze Katze die sich harmonisch ins unheimliche halbdunkel des alten hölzernen Treppenhauses einfügte. Zuerst fielen ihm ihre unnatürlich dunkelroten Augen auf, die ihn ruhig und klar anblickten. Er wehrte sich in seinem Innern gegen die aufkommende Angst, war er doch ein aufgeklärter Mensch der jede Form von Aberglauben ablehnte.“ Nur eine Hauskatze, eine ganz normale Hauskatze. Vermutlich mit einer Augenkrankheit“ beruhigte er sich. Zuhause in Kanada war er von Kind auf an den Umgang mit Katzen und Hunden gewohnt, konnte sich ehrlichen Herzens als Tierfreund bezeichnen. „ Na dann komm rein „ sagte er zu der Katze. Seine anfänglichen Bedenken waren Neugier und dem Wunsch eines einsamen Mannes nach Geselligkeit gewichen .Das Tier nahm sein Angebot mit der Selbstverständlichkeit an, wie dies nur Katzen zu tun Pflegen. Zielstrebig lief sie in den Wohnraum und sprang auf das schäbige rote Sofa in der linken Zimmerecke. „ Schwarz und rot , einen gute Kombination „ dachte Jimmy lächelnd und blickte auf die Katze die sich wohlig in der Mitte des Sofas räkelte. Nachdem er sie mit Donutresten und Milch gefüttert hatte, ging er ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Er ließ die Tür einen Spalt weit offen und erwartete gespannt die Reaktion seiner neuen Mitbewohnerin. Es dauerte nicht lange und der Kopf der Katze erschien im Türrahmen. „Dacht ich’s mir doch“ ging es ihm lächelnd durch den Kopf als die Katze aufs Bett sprang und sich zu seinen Füssen zusammenrollte“ ihr seid doch alle gleich“. Ihr beruhigendes leises Schnurren begleitete auf angenehme Weise seinen Weg in den Schlaf. Am nächsten Morgen um sieben Uhr riss ihn sein Wecker aus der Nachtruhe. Er hatte einen ekelerregenden, fremdartigen Modergeschmack im Mund und ein Intensives Gefühl von Unwohlsein und Angst zeugte von der dunklen Natur der Träume dieser Nacht. „Albträume, ausgerechnet heute, vor meinem ersten Arbeitstag „ murmelte er leise vor sich hin. Als er die Funktionstüchtigkeit seiner Videokamera, die er auf dem Nachttisch neben dem Bett gelegt hatte, kontrollierte musste er feststellen, das es nicht das Schnurren der Katze war welches ihn nachts in den Schlaf begleitet hatte, sondern das Surren der Kamera. Sie war zur Seite gekippt und durch sein silbernes Sturmfeuerzeug in gang gesetzt worden. Entnervt warf er die bespielte Kassette in die Zimmerecke und tauschte sie gegen eine neue aus. Jimmy zog es vor mit seiner eigenen Camera zu arbeiten. Es war von Vorteil, wenn einem in einer neuen Umgebung wenigstens das Gerät vertraut ist. Heute würde er seine Einweisung erhalten und gerade heute müsste er eigentlich einen besonders freundlichen ausgeruhten Eindruck auf seine neuen Kollegen machen. „ Wird schon schief gehen“ sagte er zur Katze während er ihr den Rest seiner Frühstücksmilch auf einen Teller goss. Dann ging er. Die folgenden Wochen standen für ihn ganz im Zeichen der Arbeit. Früh musste er aufstehen und spät kam er Heim . Oft legte er sich nach der Arbeit bekleidet aufs Bett und wachte morgens auch so wieder auf. Schuld an dieser Mattigkeit waren die immer wiederkehrenden 19
Albträume in der Nacht, die immer von diesem furchtbaren Geschmack im Mund begleitet wurden. „ Vielleicht will mich diese Stadt einfach nicht“ dachte er manchmal und bezweifelte immer öfter die Richtigkeit seiner Entscheidung das eher gemütliche Montreal gegen diesen Moloch einzutauschen“ größer ist halt nicht immer besser“. Die Wochen vergingen und genauso plötzlich wie sie gekommen waren, hörten die dunklen Träume auf , die für ihn aus so mancher Nacht ein Martyrium gemacht hatten. Das Verhältnis zur Katze, die er inzwischen Rotauge nannte, hatte sich über die Zeit intensiviert. Aus anfänglicher Neugier und Sympathie war ein Vertrauensverhältnis mit eingespielten Regeln gewachsen. Irgendwann an einem lauen Sommerabend bemerkte er es . Rotauges Bauch wurde dicker. Was anfänglich nur eine Vermutung war, wurde mit jedem Zentimeter Bauchumfang zur Gewissheit. Rotauge war schwanger. „ Unmöglich „ dachte Jimmy während er ihr eindeutig schwangeres, haariges Bäuchlein streichelte. Unweigerlich musste er an die unbefleckte Empfängnis denken. Aber es war eine schwarze Katze die er im Arm hielt und nicht die Jungfrau Maria. „Wie konnte ein lüsterner Kater in ein Appartement gelangen, dessen Tür tagsüber verschlossen ist? „ fragte er sich , den Kopf aus dem Wohnzimmerfenster gelehnt“ Liebeshunger öffnet keine Türen“. Rotauge setzte sich neben ihn aufs Fensterbrett und beobachtete das Treiben in der Tiefe unter ihnen. „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter! „ rief er ihr zu und musste Grinsen bei dem Gedanken die Katze hätte lange Blonde Zöpfe, an dessen Ende sich ein Romeo in Katzengestalt den Weg nach oben bahnte. In den folgenden Tagen bemühte er sich intensiv um das Wohl der Katze und dessen was in ihrem Bauch heranreifte. Er wusste nicht so recht wie er die neue Situation für sich und Rotauge werten sollte . Einerseits freute er sich auf die kleinen possierlichen Babykatzen, andererseits war ihm klar, das er sie der Mutter irgendwann nehmen musste, um sie in andere Hände zu geben. Das Appartement war klein und er konnte sich nicht um drei oder vier Haustiere kümmern. Eines abends bemerkte er zufällig die bespielte Videokassette , die er vor Wochen aus der Kamera entnommen hatte. „ Ich habe mich noch nie selbst beim Schlafen gesehen“ dachte er und legte die Kassette in den Recorder. „Optimaler Bildausschnitt, Mann und Katze gut getroffen! „ bemerkte er mit dem fachmännischen Blick des professionellen Kameramannes. Rotauge saß neben ihm auf dem roten Sofa und starrte auf den Fernseher. Jimmy war neugierig wie sie auf den eigenen Anblick reagieren würde. Er sah sich selbst schlafend im Bett, leise schnarchend und gelegentlich vor sich hinwispernd, an seinem Fußende die schlafende Katze. „Verschwendung von Bildmaterial“ murmelte er vor sich hin “langweilig!“. Er hatte den Finger schon am Ausschalter des Videorecorders, als sich doch noch etwas tat. Die Katze streckte sich und sprang auf den Boden. Dann lief sie aus dem Bild in Richtung Nachbarzimmer. „ Musstest wohl mal aufs Klo“ flüsterte Jimmy und kraulte Rotauge liebevoll den Kopf. Plötzlich erschien am linken Bildrand ein Schatten. Jimmy erstarrte. Dieser Schatten war nicht der einer Katze. Gebannt starrte er auf den Bildschirm , nervös klammerten sich seine zittrigen Finger haltsuchend an das Glas in seinen Händen. Mit weit aufgerissenen Augen erblickte er voller Entsetzen die Gestalt , welche nun durch das zum Fenster scheinende fahle Mondlicht deutlich erkennbar wurde. Es war eine unbekleidete alte Frau. Er musste an seine über neunzig Jahre alte Großmutter denken, aber diese Frau war älter, viel älter. Ihre lederne Haut hing faltig über ihren hageren Körper. Jeder Knochen war deutlich zu erkennen. Ihr ganzer Körper war haarlos und mit schwarzen runenartigen Tätowierungen übersäht. Das furchtbarste an ihr waren aber ihre stechenden leuchtend roten Augen . Sie 20
bewegte sich auf sein Bett zu und begann zu singen, nein es war eher ein schauderliches krächzen das da ihrem Halse entronn. Jimmy sah sich selbst, die Augen weit aufgerissen in einem Tranceartigen Zustand auf dem Bett liegen. Er sprang auf, wollte sich warnen.“ Wach auf, wach auf „ brüllte er in den Fernseher bis ihm seine zurückkehrende Vernunft offenbarte „ Es ist eine Videoaufzeichnung. Was du da siehst ist längst geschehen“. Geschockt und voller Ekel beobachtete er das weitere Geschehen auf dem Bildschirm. Die Alte zog ihm die Pyjamahose herunter und setzte sich auf ihn. Während dieser Prozedur sang sie weiter in einer ihm unbekannten fremdartigen Sprache , die offenbar eine Hypnotische Wirkung auf ihn hatte. Dann beugte sie sich vornüber und steckte ihm ihre bläulich schimmernde Zunge in den Mund. Erst jetzt bemerkte er ihr einziges Kleidungsstück das sie um den dürren faltigen Halse trug. Es war das schwarze Halsband seiner Katze. „Genug“ schrie er und warf sein Glas in den Bildschirm, der mit einem Krachen implodierte. „Die Katze“ war sein nächster Gedanke“ wo ist die Katze“ . Der Platz neben ihm war leer. Nie hatte sich das Bild eines vertrauten Wesens in ihm so schlagartig verändert. Aus dem geschätzten Freund war in Minuten ein hassenswerter Feind geworden. Was immer es auch war, dieses Wesen war gefährlich und hatte ihn benutzt um sich zu paaren. Er musste das, was wie eine Katze auszusehen vermochte und das was es in sich trug, töten . Vorsichtig schlich er in die Küche und nahm sich das größte Messer aus der Schublade das er finden konnte, unbewaffnet wollte er diesem Teufel nicht begegnen. Trotz des kühlen Sommerabends lief ihm kalter Schweiß die Stirn hinunter. Von zahllosen Adrenalinschüben zitternd, mit weit aufgerissenen Augen und dem Messer in der Vorhalte, bot er das Bild eines Wahnsinnigen als er begann die Wohnung zu durchsuchen. Nur langsam wandelte sich die lähmende Angst in wütende Entschlossenheit. Vorsichtig öffnete er die knarrende Tür des muffigen Kleiderschrankes. Er beugte sich vor und versuchte angestrengt ein Bild vom halbdunklen Inneren des Schrankes zu bekommen. Zu spät vernahm er das Geräusch hinter sich .Ein glühender Schmerz durchfuhr ihn. Die schwarze Katze verbiss sich fauchend in seinem Nacken und vergrub eifrig ihre scharfen Krallen in seinem Rücken. Warmes Blut durchtränkte sein dunkelblaues Hemd und tropfte auf den Boden. Brüllend lief er nun rückwärts gegen die gegenüberliegende Zimmerwand um so die Katze zu zerquetschen. Diese zeigte gute Reaktionen und rettete sich in letzter Sekunde mit einem Sprung über seinen Kopf. Jimmy konnte seinen Lauf nicht mehr stoppen und prallte mit seinem zerschnittenen Rücken gegen die Wand. Er hinterließ einen großen, dunkelroten Blutfleck auf der vergilbten Tapete. Jetzt sprang ihm die Katze kreischend frontal ins Gesicht. Nur knapp verfehlte sie seine Augen, fügte ihm aber eine tiefe lange Feischwunde auf der Stirn zu. Sofort begann das Blut in Rinnsalen in seine Augen zu laufen und ihm das Sehen zu erschweren. Für Sekunden erschien ihm alles wie durch einen dunkelroten Schleier. Panisch riss er sich das Hemd vom Leib und band es sich um die Stirn. Die Katze hatte die Zeit genutzt und auf dem Sofa in Blickweite platzgenommen. So bewundernswert ihre Kampfkünste auch waren, ihre wahre Stärke war eine Andere. Jimmy sah ihr kurz in die glutroten Augen. Ein Fehler . Verzweifelt versuchte er in eine andere Richtung zu sehen doch ihre Blicke waren wie miteinander verschweißt. Sekunde um Sekunde brach sein Wiederstand und er wurde zu dem was er schon so oft für sie war, einem willenlosen Stück Fleisch. Ein kräftiges Rot holte ihn ins Bewusstsein zurück. Das Blut das seinen Stirnverband durchsickerte lief in seine Augen und unterbrach nur für eine Sekunde den lähmenden Blick der Katze. Jimmy reagierte blitzschnell und warf sich auf sie. Die unter ihm begrabene Katze begann sirenengleich zu kreischen und fügte ihm mit unnatürlicher Kraft eine Serie von Kratz -und Bisswunden zu. Jimmy spürte das nicht mehr. Er befand sich in jenem Zustand der Schmerzlosigkeit und Agression in den Menschen verfallen , wenn sie erkennen das der Ausgang einer Auseinandersetzung eine Frage von Leben und Tod ist . Schreiend bäumte er sich auf, packte die zappelnde, kratzende Katze am Halse und schlitze ihren Bauch in voller 21
Länge auf . Hatte er diesen Teufel wirklich besiegt ? Ungläubig wischte er sich das Blut aus den Augen und blickte auf seinen geschlagenen Gegner. Was er sah würde ihn in seinen Träumen nie mehr loslassen. Die zuckende Katze lag rücklings auf den Sofa. Aus ihrer riesigen Bauchwunde tropfte schwarzes dickflüssiges Blut auf den roten Samt . Das furchtbarste jedoch waren die haarlosen Köpfe zweier Ungeborener welche ihn mit glutroten Augen aus dem Bauch der Mutter ansahen. Verzweifelt kämpfte er gegen seine Bauchmuskulatur an, die ihm seinen Mageninhalt in den Mundraum zu drücken versuchte. Schnell erkannte er die Sinnlosigkeit seine Tuns, rannte in das Badzimmer und erbrach. „ Zu viel, das ist viel zuviel für mich“ sprach er laut mit sich und begann zu weinen. Ein unsichtbarer Schutzwall um seinen Verstand ließ den Gedanken, das es ich bei den Ungeborenen um sein eigen Fleisch und Blut handelte, an sich zerschellen, sonst wäre er wohl dem Wahnsinn verfallen. Jimmy rappelte sich auf. Er wusste das er diese Sache jetzt zu Ende bringen musste, wollte er in seinem Leben jemals Frieden finden . Vor Entkräftung wankend wie ein Betrunkener zwang er sich Schritt für Schritt ins Wohnzimmer. Langsam näherte er sich der toten Katze, die einen eigentümlich süßlichen Geruch im Zimmer verbreitete. Die Ungeborenen waren verschwunden. Nur eine schwarze Spur kleiner Tatzen führte vom Kadaver der Mutter bis zum Ende der Fensterbank „ Das können sie nicht überlebt haben „ sagte er aus dem Fenster blickend zu sich. Ein rational denkender Mensch hätte ihm wohl zugestimmt, aber zu dieser Species gehörte Jimmy seit einer guten Stunde nicht mehr und so begann er an seinen eigenen Worten zu zweifeln. Er blickte sich im Appartement um, das gerade begonnen hatte sich in ein vertrautes Heim zu wandeln, und es war ihm als täten ihm Wände und Möbel zurufen„verschwinde!“ Eilig hastete er ins Schlafzimmer, nahm seine Brieftasche und stolperte die Treppen hinunter auf die Strasse. Videokamera und Fernseher ließ er in der Wohnung zurück in der Hoffnung diese verfluchte Stadt verschwände gegen diesen Obolus für immer aus seinem Gedächtnis. Am liebsten hätte er am Flughafen ein Ticket zum Mars gebucht, doch er wusste das selbst diese räumliche Entfernung die Wirkung der vorangegangenen Ereignisse, die sich in sein Herz gebohrt hatten, nicht schmälern konnte. Die Schwarze Katze blieb ihm lange treu und spielte ihre dunklen Spiele mit ihm in seinen Träumen . Kein Traum jedoch, vermochte mit dem realen Schrecken jener unheilvollen Nacht zu konkurrieren . Irgendwo in New York kratzen zwei kleine Katzenbabys an eine schäbige Appartementtür. Wer schon könnte ihnen den Eintritt verwähren?
ENDE
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Der Philosoph des Schreckens von Tomas Cabi
Im Turmhaus lauert ein unheimliches Wesen. Und es schickt bizarre Träume...
Jeden Morgen auf dem Weg zur Schule und zurück sah ich es. Aber anders als meine Freunde. Ich hatte meine Frühstücksbrote eingepackt und verließ die Wohnung. Ich wusste, dass mir Mutti aus dem Fenster besorgt nachschaute. An der Ecke traf ich dann Manuel und Andreas, und wir bogen in die Högerstraße ein. Zweihundert Meter gingen wir die Straße lang, gesäumt wurde sie von ganz normalen Wohnhäusern, einige ältere Häuser waren dabei, umrankt mit Efeu, Vorgärten, in den Fenstern Art-deco-Lampen. Dann kam das flache Feldstück, durch das nur die Straße führte und immer beklemmender ragte das riesige Haus auf. Es war das höchste weit und breit, mit einem Giebel vor dem Dach, zehn oder fünfzehn Stockwerke hoch. Eine Auffahrt führte zum Eingang, der von unserem Weg her nicht einsehbar war. Mich schauderte es. Meine beiden Freunde alberten rum, erzählten Schreckgeschichten über das Haus, und ich lachte nur mit, um nicht als Weichei dazustehen. Das Haus sah aus wie ein riesiger Turm. Betrachtete man es von einer Seitenstraße aus, so schien es, als sei es nur das Vorderstück eines viel größeren Gebäudes. Vielleicht war es übriggeblieben von den Alliertenbombardements wie ein Stück Zahn. Jedenfalls war an die hintere Wand ein moderner Neubau angeklatscht worden, der nicht recht dazu passen wollte. Möglich, dass sich darin der Fahrstuhl befand oder ein Treppenhaus. Man hatte nie den Eindruck, dass es bewohnt war und doch gab es an fast allen Fenstern Gardinen. Von ganz oben musste man einen fantastischen Ausblick haben. Andreas witzelte, dass darin der Philosoph des Schreckens wohne. Manuel wollte wissen, was das bedeute. Andreas konnte nicht genau erklären, was ein Philosoph ist und doch blieb er bei dieser Formulierung und meinte, dass er das geträumt habe. Daraufhin lachte Manuel, auch wenn er selbst nicht wusste, was ein Philosoph war. Ich lachte nicht, aber meine Haare stachen mir durch die Kleidung, so steil waren sie aufgeragt, denn ich wusste, was er meinte. Die Schule lag nicht weit von dem hohen Haus, doch konnte man es durch das Fenster zum Glück nicht sehen. In den ersten beiden Schulstunden hatte ich Mühe mich zu konzentrieren. Ich dachte an den Philosophen wie er in seinem Zimmer saß und nach dem Aufstehen am Fenster stand. Er trank seinen Kaffee und starrte auf die Stadt. Nur selten ermahnte mich die Lehrerin, eigentlich war ich ganz gut in der Schule. Am Ende der Stunde knüllte ich die Zettel zusammen, auf die ich Bilder des Hauses gekritzelt hatte, denn ich wollte nicht, dass sie jemand entdeckt. Wenn es zur großen Pause klingelte, spielten die meisten Fußball. Ich beteiligte mich nicht daran, sondern suchte mir auf dem Hof einen Platz, von dem ich auf das Haus sehen konnte. Es war so gewaltig, dass ich das oberste Stockwerk ausmachen konnte. Ich winkte Andreas, der im Tor stand. Als es klingelte kam er zu mir. Erzähl mir von deinem Traum, sagte ich ihm. Welchen Traum meinst du? Wo du vom Philosophen träumst. Er grübelte. Du meintest doch heute zu Manuel, dass du vom Philosophen des Schreckens geträumt hast. Ach so, die Gruselgeschichte. Ja ja. Na, wenn es dich glücklich macht. Ich habe geträumt, dass ich alleine die Auffahrt hoch gehe. Es ist ganz still, kein Vogel ist zu hören oder so. Ich stehe an der Eingangstür und will hinein gehen. An der einen Klingel steht das: Philosoph des Schreckens. Da klingele ich und der Türsummer geht an. Ich drücke die Tür auf, steige in den Fahrstuhl und fahre in den zwölften Stock. Als die Fahrstuhltür aufgeht, da ist dann kein Flur oder so. Ich komm mir vor wie im Museum, weißt du. Da stehen ganz viele Säulen, Vorhänge und irgendwo höre ich so ein Geraschel. Ich sehe so einen bunten Mantel wie es die Zauberer tragen. Dann wache ich schon auf. Warum interessiert dich der Scheiß? Ich weiß nicht. Ich habe Angst vor dem Haus. So ein Quatsch. Lass uns doch mal 23
hingehen, du wirst sehen, das ist ein stinknormale Haus, so ganz ohne Philosophen. Was ist eigentlich ein Philosoph? Das hat mir mein Papa mal erklärt, sage ich. Das ist einer, der die Welt durchschaut hat und weise ist. Er weiß alles. Deshalb lebt er ganz zurückgezogen, weil er die Welt verstanden hat und nichts mehr braucht. Ach so. Na ja, lass uns doch heute Nachmittag treffen, sagt Andreas, dann wirst du schon sehen, dass da nichts ist. Gut. Die letzte Stunde wurde mir zur Qual. Ich zitterte und musste mitten im Unterricht auf Toilette gehen. Die letzten Meter zum Klo rannte ich, hing über der Brille und kotzte. Ich konnte einfach nicht dort hin gehen. Ich musste eine Ausrede bei Andreas finden, sonst würde er mich nicht mehr ernst nehmen. Überhaupt musste ich mich zusammen reißen, um weiterhin in der Clique zu bleiben. Mir schien, dass ich auf dem Prüfstand war und die ganze Welt mich beobachtete. Andreas` Traum entsprach der Wahrheit, das spürte ich. Das Unheimliche war, dass er das alles aber nicht einfach geträumt haben konnte, er musste wirklich dort gewesen sein. Ich wartete nach Schulschluss an der Eingangspforte auf Andreas. Er unterhielt sich noch angeregt mit Manuel, kam dann auf mich zu. Hör mal, Andreas, mir ist eingefallen, dass ich mit meiner Mutter heute noch in die Stadt fahren werde. Können wir uns nicht wann anders treffen? Willste dich drücken? Nein, wie kommst du denn darauf? Ist nur so ein Gedanke. Wo gehst du denn hin mit deiner Mutti? Wir wollen ein paar Klamotten für mich kaufen, nichts aufregendes. Na dann kannst du das ja auch verschieben oder hast du Angst? Nein, ich probiers, also na gut, treffen wir uns um vier beim Haus? Ich ging allein zurück, weil Andreas noch mit Manuel Fußball spielen wollte. Aber mir war klar, dass die beiden was ausheckten. Ich ging also die Högerstraße zurück und blieb unwillkürlich vor dem hohen Haus stehen. Ich glaube, dass der Philosoph am Fenster stand und auf die Stadt herabblickte. Ob er mich sehen konnte oder war er schon so entrückt, dass alle Menschen nur noch Gestalten waren, Schatten ihrer Selbst, die es ganz schnell zu vergessen galt? Ich wusste es nicht. Ich spürte ein bisschen Pipi in der Hose und schämte mich. Schnell lief ich den restlichen Weg nach Hause und sperrte mich gleich in der Toilette ein, um mir die Unterhose zu wechseln. Das Mittagessen gabelte ich nur sporadisch auf. Mutti fragte, was so in der Schule losgewesen sei, aber ich konnte kaum einen zusammenhängenden Satz sprechen. Ich verzog mich schnell in mein Zimmer und machte meine Hausaufgaben, spielte eine Runde am Computer Basketball und kramte meinen Philosphenordner aus. Dort hatte ich meine bisherigen Beobachtungen eingetragen und ergänzte sie um die neuesten Erkenntnisse. Misstrauisch ordnete ich die Seiten neu, denn ich bemerkte, dass einige Seiten nicht an ihrer richtigen Stelle waren. Der Ordner hatte eine ganz bestimmte Reihenfolge. Ganz vorne waren die Journale, in denen ich meine Beobachtungen während des Schulwegs notierte, dann kamen meine Theorien, auf die ich ganz stolz war, immerhin umfassten sie schon sechs Seiten. Die erste Theorie war, dass der Philosoph des Schreckens ein Magier aus dem Mittelalter ist, die zweite, dass er ein Außerirdischer ist, die dritte, dass er ein gewöhnlicher Mörder ist, mit dem Hang zum Phantastischen und die letzte, dass er nur ein Traum ist. Das deckte sich mit dem, was Andreas erlebt hatte. Abgerundet wurde die Mappe mit meinen Zeichnungen, nur mit den wirklich guten, weil ich ja die meisten vernichtete. Ich hatte sogar ein Foto gemacht. Und das irritierte mich auch, weil es eigentlich ganz zuletzt kam, jetzt aber zwischen dem Theorieteil steckte. Es musste also jemand geschnüffelt haben. Meine Mutter vielleicht, Vater würde so etwas nie tun oder aber Andreas, als er gestern hier war. Er hatte es nicht geträumt und wollte mir eine billige Falle stellen. Ich war fast erleichtert, dass er es nicht geträumt hatte und war ihm gar nicht böse deshalb. Ich steckte das Foto wieder nach hinten und schloss die Akte. Diesmal versteckte ich sie unter der Matratze. Manuel und Andreas warteten schon vor dem Haus. Es war warm und vielleicht würde es ein Gewitter geben. Wir begrüßten uns und Manuel sagte, dass er auch mitgekommen sei aus Langeweile. Gehen wir hoch? Natürlich, natürlich, obwohl mir wieder schlecht wurde. Ich 24
bleibe aber hier, sagte Manuel, ich habe keine Lust da hoch zu fahren. Was hatte er vor? Ich und Andreas gingen die Auffahrt hinauf, ich zitterte und lenkte Andreas ab, als ich ihn fragte, ob er Mathe schon gemacht hatte. Nein, das kann warten, antwortete er überraschend wortkarg. Wir kamen zu einer weiten begrünten Fläche, an die sich der Eingang anschloss. So weit hatte ich mich noch nie vorgewagt. Das Haus bestand aus dem Turm und dem angeklatschten Neubau. Dort war ein Schild angebracht, auf dem „Treppenhaus“ stand. Auf den Klingenschildern standen lauter Namen, es war also bewohnt. Auf dem obersten Etikett las ich: „Philosoph des Schreckens“. Siehst du, sagte Andreas wie in meinem Traum und schien selbst verwundert zu sein. Es schien auch gar nicht gespielt zu sein, was mich wiederum überraschte. Andreas klingelte beim Philosophen, als hätte er es schon öfter getan und der Türsummer erlaubte uns, die Tür aufzustemmen. Wir stiegen in den engen Lift, und ich musste endlich mit der Sprache rausrücken. Du verlogener Sack, du spielst mir hier doch nur etwas vor, so gib es doch zu. Ich starrte in Andreas` Augen wie in ein Meer der Leere. Gebannt starrte ich auf die Stockwerkanzeige, sechster Stock, siebter Stock und Andreas weinte! Nichts habe ich gemacht, ich habe es doch geträumt, schrie er. Seine Stimme wurde von der engen Kabine schnell geschluckt. Er wiederholte mit halb verschluckter Stimme, dass er es nicht war, dass er nichts gemacht hat. Zehnter Stock, der Lift hielt und die Tür öffnete sich. Beide blickten in den schwarzen Flur. Nichts außer Schwärze war zu sehen, vielleicht funkelten ein paar Sterne dort in den Ecken. Die Tür schloss wieder, aber ihre Münder blieben sperrangelweit geöffnet. Hast du das gesehen, dass da ... nichts war? Ja, antwortete ich, elfter Stock. Glaubst du mir jetzt, dass ich nichts gemacht habe. Ja. Wir fassten uns bei den Händen an und lehnen uns an die Wand, der Tür gegenüber. Der Fahrstuhl kam zum Stehen und öffnete seine Tür. Andreas hatte die Augen geschlossen, seltsame Gerüche schlugen uns entgegen. Der Zugang war mit einem Vorhang versehen. Andreas blinzelte und sagte, wie in meinem Traum, wie in meinem Traum, dahinter müssen Säulen sein. Ich schob den Vorhang eine Handbreit zur Seite, gedämpftes Licht drang zu uns. Ich sah die Säulen. Andreas drückte wie besessen die Knöpfe, aber der Lift rührte sich nicht. Nun komm schon, sagte ich, es wird nur ein Traum sein. Ich zog uns hinein. Wir standen inmitten von schlanken Säulen, angestrahlt von Deckenleuchten. Die Fenster waren verhangen, und irgendetwas bewegte sich durch die Räume. Es gab mehrere Türen, aus denen unterschiedliche Gerüche strömten. Andreas stahl sich aus meiner Hand und lief zum nächsten Fenster. Er riss den Vorhang beiseite und wollte etwas zu Manuel runterbrüllen. Er kam nicht dazu, denn er blickte nicht auf die offene Straße hinaus. Ich weiß nicht, was er gesehen hat, er taumelte zurück und klatschte seine Hände auf das Gesicht. Schaum quoll ihm unter den Fingerrinnen hervor. Ich war starr, denn mit so einer Wucht von Eindrücken hatte ich nicht gerechnet, ich konnte es mit keiner meiner Theorien vom Haus in Verbindung bringen. Ich versuchte Andreas zu beruhigen und nahm ihm die Hände vom Gesicht. Seine Augen war rotgetränkt und völlig verheult. Mit einem Taschentuch wischte ich ihm die weißen Blasen von seinen Lippen und versuchte ihn aufzumuntern. Meine Ruhe überraschte mich selbst. Schließlich wagte ich mich auch zu dem Fenster, aus dem Andreas hinaussehen wollte und zog den Vorhang zurück. Es musste dunkle Nacht geworden sein. Ich sah nichts. Ich hab gedacht, dass ich in meinem Bett liege und diesen Traum habe, sagte Andreas. Und meine Mutter weckt mich und zieht den Vorhang zur Seite. Ich bin gerade aufgewacht und ich habe den Traum vom Philosophen gehabt. Ich habe noch mehr gesehen. Da lief eine Gestalt umher, Rauchschwaden verbreitend, mit einem seltsamen Gewand so wie ein Zauberer. Und er hatte dein Gesicht! Mein Gesicht? Andreas wich einen Schritt zurück. Dein Gesicht, ganz deutlich habe ich es gesehen. Wir drehten uns beide um, da wir Schritte gehört hatten. Ich kann es aber nicht sein, sonst würden wir doch keine Geräusche hören. Eine Gestalt huschte durch den Flur, in bunte Lacken gehüllt. Komm wir gehen jetzt durch die Zimmer. Du wirst sehen, dass da nichts ist. Ich hatte keine Angst und fühlte mich eigentlich ganz wohl. Andreas 25
lief in den Fahrstuhl und drückte wieder verzweifelt an den Knöpfen, doch ließ er sich nicht in Bewegung bringen. Ich ging langsam in das Zimmer, dessen Fenster von unten ich immer anstarrte. Andreas folgte zögernd. Das Fenster war mit schwarzer Folie verklebt. Es gab nicht viel zu sehen. Einen Schreibtisch bedeckt mit Filzstiften und weißen Blättern. In der Ecke stand eine Kaffeemaschine ganz verloren. Wieder das Rascheln, das immer näher zu kommen schien und bleiben wollte. Das nächste Zimmer war auch karg gehalten. In einem Käfig für Wellensittiche war ein Rabe eingesperrt. Im Durchgangszimmer war eine kleine Toilette untergebracht. Andreas verschwand schnell dorthin. Ich ging so lange zum letzte Zimmer und tippte die Schwingtür auf. Es war das Schlafgemach. Über dem riesigen Himmelbett waren selbstleuchtende Sterne aufgeklebt. Das Fenster war unverhängt, ich sah hinaus und blickte auf eine riesige Wiese, blühend und in schönsten Farben, voller Schmetterlinge und grünem Frieden. Ich lächelte, denn ich war zu Hause. Das fühlte ich, und mir war ganz wohl bei der Sache. Ich legte mich aufs Bett und streckte alle viere aus. Ich hörte wie Andreas die Klotür zuschlug und meinen Namen rief. Ich schlug die Bettdecke über mich und verharrte ganz still. Andreas rief lauter und ging schnell durch die Räume, er begann zu laufen, zu schreien und stieß dabei gegen die Türrahmen. Ich blieb trotz allem bester Laune und wollte mit Andreas einen kleinen Spaß treiben. Er musste im Fahrstuhl sitzen, denn sein Weinen klang sehr gedämpft zu mir. Das Rascheln war wieder zu hören, ganz dicht bei mir. In der Ecke beim Fenster sah ich, was da raschelte. Es war ein Mantel, dichtbestickt mit bunten Fetzen. Ich streifte ihn mir über und zog auch den spitz zulaufenden Hut auf, der daneben lag. Jetzt musste ich wie der Zauberer aussehen. Auf Zehenspitzen ging ich zum Fahrstuhl, ich konnte hören, wie Andreas` Herz schlug. Ich griff an den Vorhang und mit einem Satz sprang ich vor die Kabine. Andreas versuchte sich noch aufzurappeln, zeigte mit seinem Finger auf mich und versuchte zu reden, brabbelte aber nur noch und mit dem letzten Wort „Philosoph“ hörte sein Herz zu schlagen auf. Ich warf den Hut ab und hockte mich zu ihm. Andreas, rief ich, es war doch nur ein Spaß. Aber er war tot und schaute mich aus großen Augen an. Schlagartig erkannte ich, dass das Leben gefährlich ist und nichts so ist, wie ich es gern habe. Ich weinte und ging zurück in mein Schlafzimmer. Plötzlich schlossen sich die Türen des Fahrstuhls und der Lift fuhr nach unten. Es interessierte mich nicht, und ich legte mich auf mein Bett. Nachdem ich geschlafen hatte, setzte ich mich an das Fenster. Es war immer grün und wunderschön. Lange schaute ich auf die Wiesen, denn die Sonne ging dort nie unter. Der Philosoph des Schreckens nahm seine Arbeit auf. Er ging in das Arbeitszimmer und nahm die Folie vom Fenster ab. Auf dieser Seite des Hauses war immer Nacht. Manuel stand noch immer unten. Der Philosoph setzte sich an seinen Schreibtisch und malte mit den Filzstiften ein buntes Bild. Er riss es in kleine Stücke und schüttete sie am Fenster aus, damit sie auf Manuel fielen. Er malte ein neues Bild, färbte und formte die ganze Zeit und kochte sich Kaffee, um die Müdigkeit zu vertreiben. Alle Bilder zeriss er und legte die kleinen Häufchen sorgfältig auf dem Tisch nebeneinander ab. Als der Tisch voll war mit diesen bunten Schnipseln, holte er den Raben aus dem Käfig. Er öffnete das schwarze Fenster im Arbeitszimmer, der Rabe nahm einen Haufen in den Schnabel und schoss durch die Öffnung, kehrte zurück und nahm sich neue Zettel; solange bis der Tisch wieder leer war. Dies waren die dunklen Träume, die über den Menschen ausgeschüttet wurden. Manuel ging nach Hause, da er müde war. Er schlief lange und wachte dann nach schwerem Traum wieder auf. Er hatte von einem dunklen Turm geträumt und von einem Kind mit Zaubererhut. Noch bevor er zur Schule ging, holte er seinen Block aus der Schultasche und machte sich Notizen. Er legte einen neuen Ordner an, den Philosophenordner. Der Philosoph des Schreckens brachte den Menschen wieder schwarze Träume, jede Nacht. Manchmal, wenn er an seinem Schlafzimmerfenster stand und sich an den Wiesen erfreute, 26
dachte er an seine Mutter. Er malte ihr Bilder von diesen weiten Gärten, zerriss auch diese Werke und schickte den Raben aus, der nicht aus dem schwarzen Ausgang flog, sondern direkt aus dem Gartenfenster. Seine Mutter träumte in diesen Nächten von ihrem Sohn und wie er in einer besseren Welt lebte und dass er nicht verschwunden war, sondern ganz nah bei ihr lebte.
ENDE
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Die Holzkirche in B. von Markus K. Korb
Der alte Pfarrer entdeckt ein besonders Buch. Und in der Kirche ist es fortan nicht mehr geheuer...
Der Sturm peitschte gegen die Schneeverwehungen vor dem Gebäude, das sich wie eine drohende Riesenfaust hoch hinauf in den nächtlichen Winterhimmel dehnte. Die alte mit einer Holzfassade verkleidete Kirche erweckte diesen Eindruck bei den stumm durch den hohen Schnee daherstapfenden Gestalten wegen der ausladenden Kirchturmspitze. In frühmittelalterlicher Zeit hatte sie als Wehrkirche gedient, so sagt man. Der Wind wirbelte Eiskristalle auf und hüllte die Kirchgänger in einen Schal aus Weiße, der sich um ihre Schultern legte. Doch die feinen Körner blieben nicht lange auf dem dicken Stoff liegen sondern schmolzen zu Wasser, das in die Fasern der Kleider sickerte und als Kälte in die Muskeln und Knochen der Kirchenbesucher kroch. Man hatte ihnen mitgeteilt, dass nach Abschluss der Restaurierungsarbeiten wieder eine Messe gefeiert werden sollte. Doch so recht mochte niemand der Dorfbewohner daran glauben. Eines Tages hatten die Dorfbewohner ein Plakat an der alten Dorfeiche vorgefunden, welches ihnen den Tag und die Stunde des Eröffnungsgottesdienstes eröffnete. So manch einer gedachte der Jahre, welche diesem Abend vorangegangen waren. Die Restauration der Holzkirche war das Lebenswerk des alten Pfarrers, dem er sich nahezu zehn Jahre seines Lebens gewidmet hatte. Von der Kanzel herab wurde jeder Pfennig mit der Kraft des gepredigten Wortes aus den Dorfbewohnern herausgesogen und im Klingelbeutel verstaut. So wuchs eine stattliche Summe zur Restaurierung heran, deren Höhe der alternde Pfarrer jeden Sonntag auf der Kanzel verkündete. Als die Zeit gekommen war, da die Bauarbeiter in der Kirche auf hohen Gerüsten den Innenputz erneuerten, die Wandgemälde sorgfältig von Kunstrestaurateuren übermalt wurden, die Steinmetze abgebrochene Nasen und Arme an streng blickende Heiligenfiguren fügten, sah man den alten Pfarrer häufig in Selbstgespräche vertieft um die Kirche humpeln. Sein von Gicht gebeugter Körper zwang seinen Blick nieder. Es bedeutete für ihn eine große Anstrengung, den Kopf zu heben und zur Spitze der Holzkirche empor zu sehen, wo selbst am Tag die Fledermäuse um den Kirchturm kreisten. Deshalb beschränkte sich der Pfarrer auf das Hören und lauschte dem Klopfen und Sägen, dem Rufen und Lachen der Bauarbeiter, indem er sein Ohr an die hölzerne Fassade legte. Beim Aushub des neuen Altarfundamentes fanden die Bauarbeiter ein fleckiges Deckenbündel. Als man die eingeschlagene Stoffdecke öffnete, erschraken die Männer und holten den Geistlichen. In der Decke befanden sich poröse Knochenteile. Der Geistliche schaltete den Bürgermeister ein und dieser ließ den grausigen Fund zur Gerichtsmedizin bringen. Dort nahm man an, dass die Knochen die Überreste eines Kindes waren. In der Nacht, welche dem Knochenfund folgte, wachte der Pfarrer schweißgebadet auf. Er konnte keinen Schlaf mehr finden. Er hatte einen Traum gehabt, in welchem eine körperlose Stimme seine Rückkehr in die Holzkirche forderte, da noch im Altarboden verborgen läge. Der Geistliche seufzte und warf sich seinen Nachtrock über. Dann schlurfte er über die wurmstichige Treppe des Pfarrhauses und hinaus in den Vorhof, wo der lange Schatten des Kirchturmes wie die Schneide eines Messers auf dem Kopfsteinpflaster lag. Der Pfarrer ging zur Vordertür der Kirche und kramte seinen Schlüsselbund hervor. Der lange Schlüssel knirschte im Schloss, dann betrat der alte Mann das Kirchenschiff. Der hohe Raum lag in Zwielicht da. Nur schemenhaft zeichneten sich die modrigen Kirchenbänke im Mondlicht ab. Weit vorne war das Loch am Boden der Apsis als schwarzfransige Unterbrechung der Steinfliesen erkennbar. Der nächtliche Besucher ging an 28
den Rand desselben und blieb stehen. Schimmerte dort unten in der engen Grube nicht etwas? Der Geistliche kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Er machte sich an den beschwerlichen Abstieg mittels einer Leiter, welche die Bauarbeiter liegen gelassen hatten. Am Boden des Loches bückte sich der Pfarrer und hob ein dickes Buch aus der Erde. Er wischte den Schmutz mit dem Handrücken beiseite und hielt es dicht vor die Augen. Was er las, machte ihn neugierig. Mit dem Buch unter die Achsel geklemmt stieg er wieder hinauf und kehrte zurück ins Pfarrhaus. Noch in derselben Nacht wunderten sich die Spätheimkehrer aus dem Gasthaus, dass im Arbeitszimmer des Pfarrers noch Licht brannte. Wie hätten sie wissen können, dass er über dem eigentümlichen Buch gebeugt dasaß und nicht aufhören konnte, das frühmittelalterliche Latein zu lesen, welches durch Radierungen und Übermalungen entstellt und voller grammatischer Fehler vor ihm ausgebreitet auf den vergilbten Pergamentseiten prangte. Seit dieser Nacht wurden seine Besuche an der Kirche seltener, bis sie schließlich ganz ausblieben. Die Dorfbewohner sahen den Geistlichen kaum mehr bei Tage. Doch in seinem Arbeitszimmer brannte Nacht für Nacht das Licht. Dort las er wie unter einem Bann. Der Geistliche notierte sich die Übersetzung mit flinken Fingern. Spät in der Nacht konnten die Nachbarn des Pfarrhauses hören, wie er wie besessen an der Schreibmaschine arbeitete. Das Klappern der Tasten endete erst kurz vor dem Hahnenschrei. Eines Morgens erschien er gutgelaunt an der Kirchenpforte. Seine Gicht schien über Nacht verschwunden zu sein. Auf die Fragen der Bauarbeiter antwortete er ausweichend. In der Folge gab der Geistliche Pfarrbriefe heraus, deren Sinn den Dörflern zunächst merkwürdig vorkam. Er schrieb, dass er eine Heilquelle unter dem Taufbecken entdeckt und im Selbstversuch deren Wirkung untersucht habe. Man müsse nur jeden Tag ein Glas des Quellwassers zu sich nehmen und alle Gebrechen würden binnen kurzer Zeit verschwinden. Auf seine Einladung hin kamen alle Dörfler herbei. Der Pfarrer predigte in der Kirche über die Neugeburt mittels des geweihten Wassers. Er forderte alle auf, davon zu trinken. Doch niemand wagte es. Da trat die Älteste der Dörfler aus der Menge hervor, die um den Taufstein stand. Sie zitterte sich mit dem Krückstock an das Becken heran und ergriff mit tattriger Hand das Wasserglas, welches ihr ein Ministrant entgegenhielt. In einem Zug leerte sie es. Sie warf den Stock zu Boden. Erst noch zögerlich, dann forscher schritt sie vor den Augen der Staunenden aus. Ein Raunen ging durch die Wartenden, dann kosteten alle vom Wunderwasser. Der Priester lächelte. Nun blieb die Kirche auch während des Tages für die Bevölkerung geöffnet, welche freudestrahlend mit Eimern und Kannen das Wasser aus der heiligen Quelle schöpfte. Auch den Kindern und schwangeren Frauen wurde zunächst eifrig davon eingeschenkt. Doch als man die ersten Missbildungen an Säuglingen bemerkte, kam man überein, den Kindern kein heiliges Wasser mehr zu geben. Der Pfarrer bestärkte sie in der Vermutung, dass Kinder von Haus aus unschuldig und rein waren und deshalb des Wassers nicht bedurften. Obwohl die anderen Nachbardörfer über die kleine Ortschaft spotteten und behaupteten, dass sie durch die Einnahme des Wasser noch dümmer als eh schon würden, hielten die Dörfler daran fest. Zwar neigte manch einer zu erhöhter Aggressivität, doch schrieb man das dem Alkohol zu. Auch mehrten sich die Unfälle bei der Feldarbeit, und doch gab niemand dem Wasser die Schuld. Es linderte die Schmerzen, heilte die Wunden und verhalf so manchem Ehemann zu gesteigerter Manneskraft. Das Bemerkenswerteste aber war, dass niemand mehr starb. Immer häufiger fanden sich nun in den Pfarrbriefen versteckte Botschaften. Waren sie zunächst in der Landessprache geschrieben, setzte der Geistliche mehr und mehr fremdländische Worte ein, deren Sinn die Dorfbewohner durch den Kontext des Geschriebenen entziffern konnten. Schließlich kamen die Briefe nur noch in den 29
merkwürdigen Lettern und die Schulkinder konnten sie nun nicht mehr lesen. Auch konnte oder wollte sie niemand den Kindern vorlesen, denn die Aussprache der Sätze war auf Grund einer hohen Konsonantenhäufung unmöglich. Die Kinder bemerkten bald bei ihren Eltern eine erhöhte Nervosität. Die kleinsten Ärgernisse wurden zum Anlass für brutale Ausfälle gegenüber den Kleinen. Diese konnten sich den Stimmungsumschwung der Erwachsenen nicht erklären und reagierten mit hoffnungslosem Weinen. Das änderte sich erst bei der Ankündigung, dass die Restaurierungsarbeiten beendet waren und die erste Messe gehalten werden sollte. In dieser kalten Winternacht läuteten alle Glocken wild durcheinander und riefen die Gläubigen zur Kirche. Den Kindern war befohlen worden, zu warten bis alle Erwachsenen durch das geöffnete Portal geschritten waren. Sie taten es gehorsam und setzten sich erst dann geschlossen in Bewegung. Sie flüsterten aufgeregt durcheinander. Voller Erwartung traten die Kinder über die Schwelle. Laute Orgelmusik empfing sie. Einige spähten nach oben und sahen die weißen Ovale von Gesichtern hinter einem Kreis aus Glas, der in der Emporendecke prangte. Die Ovale wirkten wie die Fratzen von Wasserleichen und starrten die Kinder reglos an. Aber die Kinder wussten, dass das nur die Jugendlichen waren, welche sich schon immer hinter der Orgel versteckt hatten. Als die Schar der Kleinen in den Chorraum trat, traf sie der Anblick wie ein Beil. Die Kirche war durchzogen von tief schwarzem Gebälk, so dass der Raum wie ein Fachwerkhaus aussah, das dem Gehirn eines Anstaltsinsassen entsprungen sein musste. Kaum ein Detail der alten Einrichtung war belassen worden. Die Bänke dunkelten in einem öligen Schwarz und schienen den jahrhundertealten Geruch von Handschweiß auszuströmen, den wohl Hunderte längst verstorbene Kirchgänger darauf hinterlassen haben mochten. Viele der Kinder beschlich ein unangenehmes Gefühl in dieser neuen Kirche. Das lag auch daran, dass sie sich von oben beobachtet fühlten. Hoch oben an der Decke, wo das Licht der Kerzen nur hin und wieder einen Teil des Putzes gespenstisch beleuchtete, sahen sie abblätternde Fresken. Man hatte sie bei den Bauarbeiten unter der später aufgetragenen Bemalung gefunden. Der Pfarrer hatte bestimmt, dass man sie in ihrem Zustand belassen solle. Die Kinder fragten sich, wie viele panische Augäpfel sich im Laufe der Zeit nach oben gewandt und die pockennarbigen Gesichter von sterbenden und gefolterten Heiligen angeblickt haben mögen, welche mit riesigen, auf ewig offenen Augen zurückstarrten. Erst jetzt fiel ihnen auf, dass es kein elektrisches Licht mehr gab. Vor der Restauration hatte es mehrere elektrische Leuchter gegeben. Diese waren durch überladen wirkende Kerzenleuchter ersetzt worden, die nun rußend und flackernd im hereinströmenden Wind pendelten und konfuse Lichtreflexe gegen die Wände warfen. Deren Flackerschein betonte nur die Dunkelheit, die sich in den Deckennischen festkrallte. Auch an den Wänden befanden sich Schatteninseln, aus welchen gerahmte Bilder herausragten. Diese wirkten dadurch noch schauriger mit ihren Martyrern, deren sterbende Blicke im trüben Lichtschein fast lüstern wirkten. Einige Mädchen wandten sich bei ihrem Gang durch die Mitte der Kirche um und sahen die Spitzen der neuen Orgelpfeifen. Sie waren durch hölzerne Figuren gekrönt, welche Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung zeigten. Am Ende kauerte ein flötenspielendes Skelett auf der kleinsten und damit den höchsten Ton erzeugenden Pfeife. Der Küster empfing sie in der Mitte des Kreuzganges und wies nach rechts in einen neugebauten Nebenraum. Die Kinder gingen durch eine offene Tür mit zwei Flügeln hinein. Während die Kinder Platz nahmen, brach ein Jubelgesang aus vielen Kehlen. Die Kleinen rissen die Köpfe herum und sahen den alten Pfarrer am schwarz verhängten Altar stehen. In seinen Augen glühte ein fanatisches Feuer. Er lächelte ihnen zu. Dann sprach der Pfarrer: 30
„Meine lieben Brüder und Schwestern. Höret das Wort des Herren: „Lasset die Kleinen zu mir kommen, denn ihnen gehört das Himmelreich!“. So spricht der Herr und ich kenne den Grund dafür. Denn nur die Kinder haben die Unschuld, welche sie dazu befähigt Teil Seiner Schöpfung zu sein und Sein Mysterium zu schauen. Wir aber, die wir erwachsen und schuldig geworden sind, wir werden dereinst vor verschlossenen Türen stehen und mit zerfleischten Kehlen um Einlass flehen. Doch es gibt einen Weg für uns, der Herr sei gepriesen für seine Weisheit und Güte. Mich, seinen unwürdigsten aller Diener hat er das Geheimnis schauen lassen. Und allen schickt er das Wasser der Erkenntnis, damit wir teilhaben an seinem Heil.“ An den verklärten Blicken vieler Kirchgänger konnten die Kinder erkennen, dass der Priester die Aufmerksamkeit aller Dorfbewohner auf sich zog. Die glühenden Worte der Begeisterung prallten nicht von ihnen ab sondern fielen als Saatkörner in fruchtbare Erde. Wie finster und orthodox wirkte der Bau nun und wie hell und freundlich hatte er vorher ausgesehen. Manch eines der Kinder erinnerte sich an die fröhlichen Tauben, die allerorten in den Wandputz eingelassen gewesen waren. Und nun starrte im Nebenraum die vergoldete Holzplastik eines Geiers über der Tür auf die Kleinen herab, welcher ein gerissenes Lamm in den blutigen Klauen hielt. Den Kindern fröstelte. Offenbar hatte man auch die Zentralheizung ausgeschaltet. Oder war sie sogar abgebaut worden? Nirgends konnte man die sonst so auffälligen Rohre sehen. Sie rutschten auf den Bänken hin und her, drängten sich aneinander und flüsterten sich beunruhigende Vermutungen über die Bänke zu auf denen sie saßen. Ein Knabe brachte das Gerücht in Umlauf, sie wären aus dem Holz von Särgen gefertigt, die man beim Herausreißen der alten Bodendielen gefunden habe. Der Pfarrer schwieg einen Moment lang und begann dann erneut: „Höret das Gleichnis, das ich einer alten Schrift entnahm, welche durch göttliche Fügung in meine Hände kam und deren Sinn mich zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands der Kirche zwang: Einst war die Erde noch jung und ohne Schuld. Weder lebten Menschen auf ihr, noch anderes Getier, welches uns bekannt ist. Und doch war da Leben. Sein Blut pulste durch die Adern der Erde, sein Atem blies mit den Winden und seine Augen sahen mit dem Glühen von feurigen Steinen. Das Leben war überall, war eins mit der Natur, war die Natur. Doch dann geschah etwas Schreckliches. Ein Feuerzeichen erschien am Himmel. Ein Schweif fuhr donnernd durch die Nacht und etwas Schweres fuhr dem Leben ins Gebein wie eine scharfe Axt. Das Leben erholte sich nie wieder von der Wunde, welches in seinen Leib geschlagen worden war. Es starb. Und doch war es nicht vollständig tot. Teile seines Körpers überlebten in einem Ruhezustand, der unserem Schlafe gleicht. Fernab und unbemerkt liegen diese Organe unter der Erde und bluten ihr Leichenwasser aus, das emporsteigt und von den wenigen Menschen der Vorzeit genutzt wurde, um Leiden zu lindern. Doch die Menschen vermehrten sich rasch und da niemand mehr starb, wurden es deren viele. Sie zogen in die Welt, um sich dort niederzulassen und weitere Wasser zu finden. Aber ihre Hoffnung war vergebens. Nirgends fand sich das Wasser wieder. Man suchte an den entlegensten Orten der Welt, doch zeigte sich das Heilwasser nicht. Alle übrigen Quellen waren entweder verseucht von Leichengift oder waren voll des Wassers, das nur dem Durstigen Linderung verschafft. Die Siedler kehrten zurück und ein Kampf um das Heilwasser entbrannte. Die Zurückgebliebenen hatten damit gerechnet und eine wehrhafte Festung um die Quelle erbaut. Doch sie unterlagen den Eroberern. In einer letzten Aufwallung ihrer alten Kraft, gaben sie ein Opfer an das Leben und vergruben es unter dem Altarstein, damit es sie beschütze. Das tat es auch. Denn nachdem der Kampf für sie verloren war, verdarben die giftigen Flüssigkeiten des Opfers die Quelle. Viele der Eroberer starben nach dem Genuss des schlecht gewordenen Wassers. Die Überlebenden zogen hinfort, wohlwissend, dass ihre Chance auf ein ewiges Leben vertan war. Zur Erinnerung an die Ereignisse haben sie ein Buch uns hinterlassen, welches ich fand. Sie legten es zu einem zweiten Opfer, welches das Leben gütig stimmen sollte, aber das Gegenteil bewirkte.“ 31
Den Kindern wurde es unheimlich zumute. Der Priester segnete die Anwesenden und die Wandlung begann. Er sprach von einem Opfer, welches das Leben erneut gütig stimmen sollte, auf dass das Wasser niemals versiegen möge. „Denn siehe – er gab seinen einzigen Sohn für unsere Errettung auf das wir seinem Beispiel folgen mögen.“ Bei diesen Worten des Geistlichen erschien der Messdiener vor dem Zugang und schloss die Flügel der Tür. Die Kleinen schwiegen bedrückt, dachten aber, dass dies ein neuer Teil der Lithurgie sein müsse, den der Pfarrer eigenmächtig eingeführt habe – eine erzwungene Augenverschließung vor dem Wunder der Wandlung, so dachten sie. Dann aber begann ein Rumoren von den Bänken draußen und ein Ziehen und Schleifen schwerer Gegenstände vor der großen Tür. Die Kinder rutschten unruhig hin und her, vermochten aber keinen Sinn aus den Geräuschen zu erkennen. Draußen ging das Poltern und Arbeiten weiter, keiner der Kinder konnte etwas sagen. Alle schwiegen. Nur in den Pausen der Geräuschkulisse hörten sie das verstohlene Schluchzen einiger Frauen. Abrupt hörte der Lärm auf und die Stimme des Pfarrers drang nur mehr dumpf durch das Holz der Tür. Er sprach von Gottes Dank für die Renovierung der Kirche, welche in diesem Gottesdienst ihren feierlichen Abschluss finde. Dann sprach er erneut den Segen über die Gemeinde aus und alle erhoben sich von den Bänken, wie man hören konnte. Die Kinder hinter der Tür taten es den Erwachsenen im Chorraum gleich, obwohl sie diese nicht sehen konnten, aber der Ablauf des Gottesdienstes war ihnen von frühester Kindheit eingeimpft worden, so dass sie die AufstehKnie- und Setzbewegungen auswendig mitmachen konnten. Sie pressten ihre kleinen Finger um die Gebetsbücher und verließen nacheinander die Bänke um die Kirche zu verlassen. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen. So sehr die Kräftigsten auch daran zogen und zerrten, sie bewegte sich nicht einen Millimeter. Angst ergriff die Herzen aller. Die Jüngsten begannen zu weinen und riefen nach ihren Müttern, welche leise antworteten und sie zu beruhigen suchten. Die Älteren fahndeten nach einer Möglichkeit durch die Tür zu brechen und fanden sie in den großen Kandelabern, welche sie mit aller Kraft, die ihre zarten Körper beseelte, gegen das Holz krachen ließen. Aber die toten Bretter hielten den Schlägen stand. Von draußen drang kein Laut mehr in den Nebenraum. Alle Erwachsene mussten die Kirche verlassen haben. Ohne ihre Kinder. Größere Mädchen trösteten jüngere Kinder, welche sich an ihre Hüften schmiegten und sie mit Tränen benetzten. Die älteren Jungs hämmerten abwechselnd weiter gegen die Tür. Und nach einer endlos erscheinenden Zeit brach das erste Brett. Der Anblick dessen, was sich dahinter verbarg, versetzte sie in ungläubiges Entsetzen. Nur einige wenige erfassten vollständig, was sich am Charakter des Gotteshauses verändert hatte. Hier war kein Platz mehr für Liebe und Nähe. Hier wohnte kein verständnisvoller und vergebender Gott mehr. Die entsetzt aufgerissenen Augen der Kinder sahen durch die hölzerne Wunde in der Tür. Ihr Blick prallte gegen eine hastig errichtete Mauerwand, zwischen deren nackten Steinen der noch feuchte Mörtel wie zerquetschtes Gedärm durch die Fugen quoll und sie nahezu luftdicht abschloss.
ENDE
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Die Warnung von Michael Schmill
Um Drei Uhr Dreißig wacht er auf. Und der Alptraum beginnt!
Irgendwas hatte ihn geweckt. Er brauchte einen Moment, um sich zu besinnen, dann schlug er die Augen auf und lauschte. Es war nichts zu hören, nicht einmal das gleichmäßige Atmen seiner Frau. Nur der Wind streifte leise an den Fenstern vorbei. Er erinnerte sich daran, dass er geträumt hatte, aber der Inhalt dieses Traumes war mit einem Male wie weggeblasen. Geräusche, die real waren, hatte er schon häufiger mit in den Traum eingearbeitet. Aber das erging wohl jedem Menschen so, das wusste er. Sein Blick suchte die Digitalanzeige der Uhr, die auf dem kleinen Schränkchen gegenüber stand. Er kniff die Augen zusammen, bis er die Leuchtanzeige erkennen konnte. Es war drei Uhr dreißig. Ermattet legte er sich wieder zurück. Obwohl er schon fünf Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich unwohl und matt. Eine unerklärliche Unruhe machte sich breit. Er stöhnte und drehte sich auf die Seite. Die Gestalt seiner Frau konnte er nicht ausmachen. Bestimmt hatte sie sich tief in die Kissen zurückgezogen. Das machte sie gerne, wenn es einer dieser kalten und ungemütlichen Nächte war. Aber irgendwie war es diesmal anders als sonst. Er konnte es sich nicht erklären, aber sein Gefühl täuschte ihn nur selten. Er sah genauer hinüber. Sein Herzschlag wurde schneller, urplötzlich war er hellwach. Das Bett war nicht nur leer, es war auch gemacht worden. Es wirkte wie unberührt, als wäre seine Frau die ganze Nacht nicht hier gewesen. Er konnte deutlich das Muster der Tagesdecke erkennen. Er schaltete die Nachttischlampe auf seiner Seite ein und sah wieder auf die Tagesdecke, als könne er die Realität nicht fassen. Kein Zweifel, seine Frau musste still und heimlich das Bett gemacht haben. Also war sie irgendwann aufgestanden. Möglicherweise war auch sie unruhig gewesen. Hing es vielleicht auch mit dem gestrigen Streit zusammen? Es kam selten vor, dass sie sich aus diesem Grund einen anderen Schlafplatz suchte. Er erinnerte sich, wie sie abends wortlos zusammen ins Bett gegangen waren. Jeder hatte noch eine Zeitlang in seiner eigenen Lektüre geblättert. Er war allerdings mehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt als mit der Lektüre. Aber irgendwann hatten sie schließlich das Licht ausgeknipst. Er sah zur Tür. Sie war geschlossen, aus dem Flur drang kein Lichtschimmer herein. Was war los, wo war sie hin? Hatte sie vielleicht die Wohnzimmercouch dem Ehebett vorgezogen? Er musste der Sache auf den Grund gehen. In diesem Moment zuckte er zusammen, ein dumpfes Geräusch drang aus der unteren Etage zu ihm herauf. Es war, als würde ein Körper schwer zu Boden fallen. Weitere kleinere Geräusche folgten schnell hintereinander, ein Schleifen, Zerren, Stöhnen, dann war es wieder still. Still und unheimlich. Er schlug die Bettdecke zurück, zog hastig seine Hausschuhe an und ging zur Tür. Er öffnete sie vorsichtig, als würde er direkt hinter der Tür Gefahr vermuten. Er horchte. Nichts war zu hören, auch Licht war nirgendwo eingeschaltet. Er fühlte ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch und entschloss sich, der Sache auf den Grund zu gehen. Es blieb ihm im Prinzip auch nichts anderes übrig, schließlich konnte er sich nicht 33
einfach wieder ins Bett legen und sich einreden, es wäre nichts geschehen. Er schaltete das Licht an und stieg die Treppe zum Erdgeschoss hinab. Auf der untersten Stufe konnte er einen kleinen Blutfleck entdecken. Ihm war sofort klar, dass es nur Blut sein konnte. Er wusste nicht warum, es war nur ein Gefühl. Er gab keinen Laut von sich, war nicht fähig, nach seiner Frau zu rufen. Den Gedanken an eine lauernde Gefahr wurde er nicht mehr los, als er nach kurzem Zögern auf die Wohnzimmertür zuging. Sie war geschlossen und er konnte sich nicht erinnern, dass er oder seine Frau jemals nachts die Wohnzimmertür geschlossen hatten. Dann sah er den zweiten Blutfleck, direkt auf der Türklinke. Sein Herz schlug nun wild, laut, pochend, fast schmerzhaft. Verdammt, was war hier passiert? Sein Atem ging stoßweise, als er die Tür öffnete und auf jede Überraschung gefasst war. Aber nichts geschah. Er schaltete auch hier das Licht ein und wusste sofort, dass seine Frau nicht in diesem Raum war. Es war kein Geruch verbrauchter Luft zu vernehmen, wie er für jeden Raum, in dem ein Mensch schlief, typisch war. Jetzt rief er zum ersten Mal nach seiner Frau. Leise, unsicher, fragend. Keine Antwort. Er machte kehrt und ging in die Küche. Seine Schritte wurden schneller. Alles war am Platz wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier jemand zu schaffen gemacht hatte. Er stand vor einem Rätsel. Wo sollte er jetzt suchen? Seine Frau hatte sich anscheinend dazu entschlossen, zu ihren Eltern zu fahren, die nur zwanzig Autominuten in der nächsten Stadt wohnten. Womöglich hatte sie sich noch etwas zu essen gemacht und sich dabei in den Finger geschnitten. Ja, so musste es gewesen sein. Er ärgerte sich, das hatte er nicht verdient. Sie hätte ihm ruhig Bescheid geben können. Kein Hinweis, keine Nachricht. Sein Körper entspannte sich wieder. Er löschte kopfschüttelnd das Licht und ging auf die Treppe zu, als er ein klirrendes Geräusch aus dem Keller vernahm. Sofort danach kehrte Ruhe ein. Das unbehagliche Gefühl war augenblicklich wieder da. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Kribbeln kehrte zurück. Wahrscheinlich war seine Frau doch noch nicht unterwegs. Durch den Keller konnte man in die Garage gelangen. Der Schlüssel steckte und die Tür war abgeschlossen. Also konnte sie nicht im Keller sein. Sie schlossen die Tür zum Keller immer ab, eine reine Vorsichtsmaßnahme. Dennoch kam das Geräusch eindeutig aus dem Keller, da war er sicher. Als er die Tür öffnete, kam ihm ein kalter Luftzug entgegen und unten fiel eine Tür laut krachend ins Schloss. Das Licht anschalten und die Treppe hinunter rennen war eine Sache von ein bis zwei Sekunden. Unten angekommen, verharrte er vor Schreck mit weit aufgerissenen Augen. Der Blutfleck an der Wand war riesengroß. Das hatte nichts mehr mit einem kleinen Schnitt zu tun, hier musste jemand viel Blut verloren haben. Er starrte er auf die Wand, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Aus den Augenwinkeln konnte er eine Bewegung wahrnehmen, die aus einem der drei großen Räume auf ihn zuzukommen schien. Er wirbelte herum. Was er sah, konnte er nicht glauben. Das Werkzeug schien einfach nur in der Luft zu schweben. Eine Sichel, mehrere Schraubenzieher, sein neuer kleiner Hammer und seine alte Säge, der verrostete Fuchsschwanz, tänzelten ungefähr zwei Meter vor ihm in Augenhöhe leicht durch die Luft. Unfähig zu reagieren, verfolgte er fasziniert diese Szene. Unbewusst vergewisserte er sich 34
dabei mit einem endlosen langsamen Blick nach oben, dass dieses Werkzeug nicht vielleicht doch an einem Faden an der Decke hing und das Schaukeln nur durch den Wind zu erklären war. Er wusste instinktiv, das es sinnlos war. Es war nichts zu sehen, das Werkzeug schwebte nach wie vor allein in der Luft, leicht hin und her wiegend, als würde ein unsichtbarer Mensch diese Dinge mal in die eine, mal in die andere Hand werfen. An seine Frau, die Garage oder den Blutfleck dachte er in diesem Moment nicht mehr. Seine Starrheit löste sich erst, als einer der Schraubenzieher ohne Vorwarnung hervorpreschte und ihm einen schmerzhaften Stich in den Oberarm zufügte. Sofort nahm der Schraubenzieher wieder die Ausgangsstellung ein. Sein Aufschrei kam so plötzlich, dass er mehr über seinen eigenen Schrei erschrak als über die Tatsache, dass sich sein Werkzeug selbständig gemacht hatte und eben im Begriff war, sich auf ihn zu stürzen. Er presste seine Hand auf die Wunde, sah, wie sich ein roter Fleck ausbreitete. Plötzlich ein Schaben aus dem anderen Kellerraum. Er drehte den Kopf und beobachtete, wie sich sein kleines Beil und die alte, verrostete, ehemalige Küchenschere von ihrer Halterung in der Wand lösten und langsam, wie in Zeitlupe, auf ihn zukamen, drohend, unwirklich, bedrückend. Ohne sich dessen bewusst zu sein, stürmte er auf die Tür zu, die in die Garage führte. Er brauchte nur den Schlüssel, der immer von innen steckte, umzudrehen und die Tür zu öffnen. An der Tür angekommen, merkte er, das es ein Fehler war. Der Schlüssel war verschwunden, die Tür abgeschlossen und der Weg zur Treppe nach oben durch das schwebende Werkzeug schon versperrt. Angstvoll schaute er sich hektisch um, sein Blick fiel wieder auf den großen Blutfleck an der Wand. Die Angst um seine Frau geriet mit einem Male wieder in den Vordergrund. Was war mit ihr passiert, wo war sie? Hatte sie sich noch in Sicherheit bringen können, lag sie vielleicht irgendwo verletzt und wartete auf seine Hilfe? Oder lebte sie vielleicht gar nicht mehr? Der Gedanke daran versetzte ihn in Panik. Er riss die Arme nach oben, als die Säge ihm eine Verletzung am anderen Arm zufügte. Es passierte so schnell, dass er keine Gelegenheit hatte, zu reagieren, sich zu schützen. Woher er plötzlich den Mut nahm und laut schreiend auf die Treppe zu rannte, wusste er selbst nicht. Mehrere Stiche in den Rücken begleiteten diesen Rückzug. Ein hässliches Knirschen und Reißen von Stoff war zu hören, als sein Schlafanzug in Fetzen zerrissen wurde. Als er nach oben rannte, bemerkte er, wie das Blut warm an seinem Rücken herunter lief. Oben angekommen, rief er laut und wie befreit den Namen seiner Frau, schloss die Kellertür und zuckte zurück, als er sah, das auch hier der Schlüssel inzwischen verschwunden war. Er konnte die Tür also nur ins Schloss fallen lassen, ohne sie endgültig abzuschließen. Das neue Silberbesteck, das sich seine Frau und er vor einigen Wochen neu gekauft hatten, wartete schon an der Küchentür auf ihn. Ungläubig starrte er auf die Szenen, als ihm mit aller Wucht bewusst wurde, dass Gefahr überall im Haus auf ihn lauerte. Alle Räume waren plötzlich hell erleuchtet, heller als sonst. Gleißend, brennend, wirkte das Licht auf seine Augen. Die Birnen summten in einem grässlichen Ton. Tränen rannen ihm die Wangen hinunter. Das Besteck schien Spaß daran zu haben, ihn mit aller Macht zu traktieren. Kein Stich, kein Schnitt war tief genug, um ihn lebensgefährlich zu verletzen. Aber dafür war es umso schmerzhafter und es hinterließ überall Blutflecken. Seine Frau antwortete nicht, immer wieder rief er ihren Namen. Er stand jetzt unmittelbar neben der Haustür und versuchte, sie zu öffnen. Es gelang ihm nicht, sie war wie zugeklebt, auch hier war der Schlüssel verschwunden. Die Messer und Gabeln ließen plötzlich von ihm ab. Dafür quoll unter der Kellertür langsam und schmatzend, eine schwarze, schimmernde Masse hervor, die sofort einen üblen Gestank verbreitete. Er war unfähig, sich zu bewegen, verfolgte dieses Gebilde, das unaufhörlich auf ihn zu 35
gekrochen kam. Jetzt konnte er Einzelheiten erkennen, viele kleine Tiere, Insekten, irgendwelche Käfer, was auch immer, waren nun klar zu unterscheiden. Der Gestank wurde unerträglich, als die schwarze, zähe Masse bis auf einen Meter an ihn herangekommen war. Dann riss ihn sein eigenes Schreien wieder aus der Erstarrung. Er floh die Treppe hinauf, nahm mehrere Stufen auf einmal, rannte ins Schlafzimmer. Auch hier grelles, beißendes Licht. Er schloss die Tür, gerade noch im letzten Moment, denn schon bohrten sich Messer, Gabeln, Schraubenzieher und Sichel von außen in die Tür. Es hörte sich an, als würden große Hagelkörner auf das Dach prasseln. Er stellte sich mit dem Rücken an die Wand neben sein Bett, da sah er, wie das Beil immer und immer wieder in die Tür schlug, bis er es kaum noch aushalten konnte, diese dumpfen dröhnenden Schläge spürte, als würden sie in seinen Körper eindringen. Dann blieb das Beil mit einem Male wie kraftlos in der Tür stecken und er sah, wie die schwarze Masse unter der Tür hervorquoll, immer noch langsam, unaufhörlich schmatzend. Sein Schreien verstärkte sich, hektisch blickte er auf das Bett. Der Anblick ließ ihn würgen, jeden Moment musste er sich übergeben. Seine Frau lag in ihrem Bett, blutüberströmt und sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Kleine schwarze Käfer kamen aus ihren Augen, ihren Nasenlöchern, ihrem Mund. Sofort wurde ihm bewusst, dass sie tot war und er jeden Moment das gleiche Schicksal erleiden würde wie sie. Keinen Gedanken konnte er mehr daran verschwenden, wie seine Frau überhaupt wieder ins Bett gekommen war. Die Masse bewegte sich auf ihn zu. Mit einem riesigen Satz und unerhörtem Kraftaufwand, wie man ihn nur in Todesangst erfährt, sprang er ins Bett und zog wie ein verängstigtes Kind, mehr wimmernd und krächzend als schreiend, die Decke über den Kopf. Wie würde es sein, zu sterben? Langsam, qualvoll oder schnell? Das Bett bewegte sich, etwas ergriff seine Beine, lastete wie ein schwerer Körper auf ihm. Das Schreien ebbte ab, er bekam keine Luft mehr. Beinahe ergeben wollte er sich seinem Schicksal fügen. Plötzlich summte der Wecker, ein Summen, wie er es schon tausendmal gehört hatte. Die Geräusche waren verschwunden. Kein Schmatzen, kein Pochen, kein Knirschen von Messern, die sich in die Tür bohrten. Sein Wimmern, es hatte aufgehört. Das Summen des Weckers verstummte so plötzlich, wie es begann. Die anschließend eintretende Ruhe war unheimlich. Schweiß überströmt lauschte er angestrengt. Nur noch das heftige Pochen seines Herzens war zu vernehmen. Langsam zog er die Bettdecke vom Gesicht, die Augen weit aufgerissen. Neben ihm stöhnte seine Frau, sie lebte also doch noch, dachte er als erstes. Erschrocken drehte er sich zu ihr um, sah, wie sie gähnte und sich streckte. Das viele Blut aus ihrem Gesicht und die vielen Käfer, alles das war verschwunden. Blinzelnd sah sie ihn an, das erste Tageslichtes fiel durch das Fenster auf ihr Gesicht. Er richtete sich auf und sah sich im Raum um. Keine Käfer, keine Messer, keine Schraubenzieher. Die Tür, sie war geschlossen, das Beil verschwunden. Erst jetzt wurde ihm klar, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Seufzend schloss er die Augen und ließ sich langsam ins Kissen zurück gleiten. Er hörte nicht die Frage seiner Frau, was ihn so plötzlich erschreckt hatte. Er brauchte fast zehn Minuten, bis sein Herz einen annähernd normalen Puls erreicht hatte. Seine Frau war währenddessen aufgestanden. Im Verlauf der nächsten Stunde sprachen sie nicht viel miteinander. Noch immer lag eine gewisse Spannung zwischen ihnen. Aber er war froh, hier neben ihr am Frühstückstisch zu sitzen und einfach nichts zu sagen. *****************
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Der Tag war endlos. Bei der Arbeit hatte er ernsthafte Konzentrationsschwierigkeiten. Er war froh, als er nach einem anstrengenden Tag abends wieder zuhause war. Er hatte sich vorgenommen, den Streit mit seiner Frau nicht fortzusetzen, sondern sich mit ihr auszusprechen. Er wollte nicht noch einmal unzufrieden und nervös ins Bett gehen und womöglich einen ähnlichen Traum 'erleiden' müssen. Zu seiner vollsten Zufriedenheit erging es seiner Frau ebenso und an diesem Abend sprachen sie sich aus. Zwar war er anschließend müde, aber gleichzeitig zufrieden und entspannt. Trotzdem lag er noch eine Weile wach, ehe er sein Buch zur Seite gelegt hatte und relativ schnell einschlief. Als er aufwachte, wusste er sofort, dass er durch ein lautes Geräusch geweckt worden war. Er öffnete die Augen und lauschte, aber außer dem leise pfeifenden Wind war nichts zu hören. Langsam hob er den Kopf, schaute auf die Uhr auf dem kleinen Nachttisch gegenüber. Es war drei Uhr dreißig ...
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Der Albtraum von Annika Ruf
Howard wird von einem Monster gejagt. Ist es Traum oder Wirklichkeit?
Albträume sind real – bis du aufwachst. Zu diesem Schluss kam Howard, als er einen durchlebte. Angefangen hatte es harmlos, wie bei Alpträumen so üblich. Seine Freunde vom College hatten ihn mit auf eine Höhlentour genommen. „Also, du brauchst warme Kleidung, wasserfest und stark.“ Philipp hatte ihn genau instruiert und Howard war stolz gewesen, dass er mit ihnen gehen durfte, denn sein älterer Bruder nahm nicht jeden mit auf die Tour, aber diesmal konnten Joe, Foster und Jenkins auch mit. Howard hatte seine Ausrüstung vom Bruder prüfen lassen und grünes Licht bekommen. Zeitsprung, wie in Albträumen üblich. Sie waren in den Höhlen und Philipp hatte ihn einen Felsen heruntergelassen. Unten angekommen, hatte Howard erstaunliche Dinge gesehen. „Hey, Leute, das müsst ihr mal sehen“, hatte er heraufgerufen. „Wirklich? Was denn?“ Philipp hatte sich über den Rand gelehnt und Howard hatte ihn vage sehen können. „Hier hat jemand mit bunter Kreide gemalt. Und zwar wirklich gut. Ich frage mich nur, wozu.“ „Mach ein Foto.“ Howard machte sogar mehrere Fotos. Als er dann hochsah und darum bitten wollte, wieder hoch gezogen zu werden, hörte er jemanden schreien. Es war Jenkins und daraufhin stimmten die anderen mit ein. „Oh mein Gott! Was ist das??“ „Hilfe ..Hilfe!!“ „Ich muss hier raus!“ „Philipp? Was ist los da oben?“ rief Howard hinauf. „Tut mir leid, Howie“, Philipp schluchzte regelrecht, „es tut mir leid.“ Dann war da hastiges Getrappel und Scharren. „Lasst den Unsinn“, hatte Howard schließlich gerufen, „und zieht mich rauf!“ Der Alptraum hatte dann eingesetzt, als er hoch gezogen wurde. Das Hochziehen war etwas unbeholfen, als ob Philipp und die anderen Probleme beim Ziehen hätten. Und dann war da – das Ungeheuer. Das Monster, das an dem Seil zog und ihn heraufbrachte. Ihn anstarrte. Howards Herz schlug schneller. Es MUSSTE ein Alptraum sein, denn so eine Kreatur gab es einfach nicht. In diesem Traum konnte er recht schnell reagieren, blitzartig löste er den Haken mit dem Kletterseil, landete anmutig auf den Füssen und – rannte davon. In die Dunkelheit. Er rannte und hörte/spürte, wie es ihm nachsetzte. Howard sah das Labyrinth aus Gängen, kleinen Höhlen und Dunkelheit. Er floh aufs Geradewohl hinein und hoffte, den Verfolger einfach abschütteln zu können. Er lief und lief. Sein eigener Atem – oder der eines anderen? – war überdeutlich zu hören. Sein Herz pochte und er spürte, wie das Adrenalin in seine Blutbahn geriet. Nach einer Weile blieb er stehen. Kalter Schweiß bedeckte sein Gesicht. Komisch, wieso war dieser Alptraum so detailliert? Howard lauschte in die Dunkelheit. Stille. Vorsichtig blickte er um die Ecke vor ihm und schlich weiter. Das Ungeheuer hatte seine Spur verloren. Jetzt musste er hier raus. Howards Sinne waren geschärft, jedes winzige Geräusch konnte seinen Verfolger verraten. Howard zuckte bei jedem Schatten zusammen, duckte sich in die Dunkelheit. Irgendwie musste er doch den Weg finden. Sackgasse. Howard fluchte leise und sicherte nach allen Seiten, bevor er weiter ging. Zu blöd, dass er die Orientierung verloren hatte. Er folgte auf gut Glück eine weiterem Weg. Der schien einigermaßen in die richtige Richtung zu führen. Sein Herzschlag war zwar langsamer, aber recht laut. Er hatte das Gefühl, dass das Ungeheuer ihn so finden würde – einfach dem Herzschlag folgen. Er bog aus einer Laune heraus scharf rechts ab. Sackgasse und wieder erneut den Weg suchen. Und dann wieder diese Frage, was das Geschöpf von ihm wollen könnte. Und dann war diese Erinnerung an die Bilder da, Bilder, die mit Kreide gemalt waren und einen jungen Mann zeigten, einen hübschen jungen Mann mit rotblondem Haar und warmen haselnussbraunen Augen. Und ein Ungeheuer. Die Bilder zeigten exakt jenes Wesen, das ihn nun durch das Labyrinth scheuchte. Die Bilder – Howard schauderte plötzlich. Die Bilder deuteten an, dass zwischen Mann und Ungeheuer eine 38
körperliche Beziehung bestanden hatte. Anders war nicht zu erklären, warum der junge Mann mit gespreizten Beinen auf dem Unterkörper des Geschöpfes gesessen hatte, den Kopf zurückgeworfen. Oder das Monster lag auf ihm, ihre Unterleiber aneinandergepresst. Howard ächzte leise. Dies war ein Alptraum – kein feuchter!! Warum wachte er nicht endlich auf? Schritte. Schwere Schritte. Etwas schnüffelte. Howard presste sich an eine Wand und betete leise, dass es an ihm vorbei gehen mochte. Die Schritte und die Ahnung von etwas großem gingen vorbei. Howard stöhnte ganz leise vor Erleichterung und suchte sich den Weg erneut. Er bog links ab und fand nach kurzer Zeit wieder eine Sackgasse. Da das Ungeheuer ihm vor kurzem sehr nahe gewesen war, schloss er nicht aus, dass es nun auf ihn irgendwo lauerte. Und er prüfte doppelt vorsichtig, ob die Luft rein war. Und es ging weiter. Howard spürte ein Prickeln auf der Haut. Jeder Schritt konnte das Verderben sein. Falls das Ungeheuer sich nicht mehr bewegte, sondern still leise irgendwo lauerte. Howard vertraute seinem Glück und bog links ab. Etwas später ging es um eine Ecke rechts herum weiter. Kratzen auf dem Stein, Knirschen. Howard presste sich an die Wand. Alles ruhig. Er ging weiter. Vorsichtig um eine Ecke lugend. Dort war eine große Kreuzung. Howard sicherte in alle Richtungen und ging leise darauf zu. Aber wie in allen Albträumen ahnte er, was passieren würde. So wie er auf der Kreuzung war und sich umschaute, kam es! Das Ungeheuer kam aus dem Schatten, der es verborgen hatte und stürzte sich auf ihn. Howard schrie auf und rannte, versuchte, noch einmal zu entkommen, aber diesmal spürte er heißen Atem im Genick und zwei kräftige Arme schlangen sich um ihn. Er konnte sich kaum noch bewegen und als er schreien wollte, spürte er zwei warme weiche Lippen auf seinen, die jeden Schrei erstickten. Dann war dieses Rucken an seiner Kleidung. Es ritzte seine Haut nicht, aber die scharfen Krallen öffneten die warme Jacke und das Hemd, eine raue Zunge fuhr über seine Haut, es war nun sehr eindeutig, was das Wesen von ihm wollte. Howard wehrte sich, er wand sich und schrie und – Wachte auf. Erleichterung. Nur ein Albtraum. Nichts war real. Aber wo war sein Bett? Wo war sein Teddy? Wo der Wecker? Und wo war Philipp? Howard riss die Augen auf. Dunkelheit umgab ihn, ein warmer Körper war neben ihm und schlagartig setzte die Erinnerung ein, was der Schlaf gnädig verhüllt hatte, tat nun ins Bewusstsein: Das Wesen hatte ihn erwischt und zum Gefährten gemacht. Es erwachte nun ebenfalls. Und zog den Geliebten gleich eng an sich.
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Jagt von Sahra Muratidis
Die Dämmerung kommt. Und SIE weiß, was SIE will...
DämmerungSie kommen heraus gekrochen, aus ihren Löchern, Gräbern, oder wo sie sonst noch den Tag über abhängen, nur um die Dämmerung abzuwarten und dann schlagen sie zu. Die Sonne weicht DEM Schatten, Dunkelheit legt sich über die Stadt, ihre Strassen, die Wohnungen der Menschen und auch... über IHRE Gruft. Dort steht SIE, in der Dunkelheit der alten Häuserzeile; ihrem Revier. Ist EINS geworden mit DEM schwarzen Schatten, SIE bewegt sich nicht, scheint nicht einmal mehr zu atmen. Gefährlich wie der afrikanische Panther, auf JAGD. Jeder einzelne Muskel zum zerreißen gespannt... und doch, vollkommen konzentriert ihr Blick. SIE könnte fast unschuldig wirken, mit ihren langen lockigen Haaren, wie ein Strom aus purem Gold fließen sie die zierlichen Schultern herab. Es ist Frühling... sie werden unvorsichtig. Sie bleiben ZU lange draußen, wiegen sich in Sicherheit. Doch die Sonne ist noch nicht stark genug, zu schnell verschwindet sie hinter dem Horizont. Doch die Menschen bleiben, sie sind so naiv, es wird ihr Untergang sein. Ruhig durchsucht SIE die Umgebung mit ihren grünen Augen, nichts entgeht ihrem scharfem Blick. Es dauert lange, sehr lange; sie ist wählerisch. DER Schatten verliert langsam, unmerklich an Macht. Viele Menschen kommen an IHR vorbei, doch sie sehen sie nicht. SIE riecht das junge Blut, das durch ihre Andern strömt, spürt wie ihre Herzen gegen die Brust schlagen. BUM-BUM; BUM-BUM SIE mag dieses Geräusch.... doch noch mehr turnt SIE etwas anderes an... Dann hat SIE ihn gesehen, ihre Augen verfolgen ihn. Er kommt alleine. SIE leckt sich mit der Zunge über die Lippen. Wenn ihr Herz noch schlagen würde, es würde in ihrer BRUST zerspringen. Langsam schreitet SIE hervor, löst sich aus DEM Schatten. Er hat SIE bemerkt, dreht IHR sein hübsches Gesicht zu. Er ist perfekt, er ist so perfekt. 40
SIE legt ihren dünnen Arm um seine Schultern, presst ihr Hüfte gegen sein Becken. „Und was nun, Babe?“ Seine Stimme klang so... SIE legte ihren Kopf an seine Brust. BUM-BUM: BUM-BUM „Wohin willst du gehen?“ SIE schließt die Augen, währen er SIE an eine Hauswand drängt, seine Hand fährt unter ihren Rock. Ich werde es langsam machen, damit wir beide etwas davon haben Schätzchen. Dann entblößt SIE ihre tödlichen Reißzähne- weiß. Er bewegt sich nicht als SIE die beste Stelle an seiner Halsschlagader suchte. Voller Ekstase schlägt SIE ihre Zähne in seinen rauen Hals. Oder besser gesagt, hätte SIE geschlagen, wenn da nicht die Sonne hinter den Bergen aufgegangen wäre. An diesem Morgen ist die Strasse noch etwas verstaubter als sonst. Und: Der Frühling ist zurück!
Ende
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Göttliche Mächte von Nicole Rensmann
Der Tod trennt die Lebenden und schmerzt. Wer wird diesen Kummer brechen?
Blitze durchbrechen die Nacht. Donner grollt wütend über das Land, ein Sturm braust lost, umkreist die Erde, reißt Menschen und Tiere mit sich, fegt Häuser weg, knickt Strommasten ab, hinterlässt Chaos und Verwüstung für einen Neubeginn. Natürliche Selektion. Leise summe ich vor mich hin. Der Tag hinterließ auch Spuren der Verwüstung in mir. Aber die Aussichten, meine Liebste nun wiederzusehen, lassen mein Summen in Singen übergehen. Am Treppenabsatz wird sie auf mich warten, mir ihre Arme entgegenstrecken, um mich zu begrüßen, mich zu liebkosen und mir das Gefühl der wahren Unendlichkeit zugeben. Ich stoppe in meiner Euphorie, denn dort, wo sie sonst steht, ist es leer. Ich kenne dieses Gefühl, wie oft schon hatte ich es gespürt, doch diesmal ist es stärker, ist es unglaublicher, schmerzhafter. Die letzten Stufen renne ich hinunter, rufe ihren Namen. Oh, ich weiß genau, was jetzt auf mich warten wird. Natürliche Selektion. Als wir zueinander fanden, wussten wir, dass sie zuerst gehen würde. Doch wir verdrängten dieses Wissen mit unserer Liebe. Sie war so viel stärker als ich, gab mir die Kraft, meiner Bestimmung nachzugehen, spendete mir ihre Ruhe nach einem anstrengenden Tag. Sie liegt auf ihrem Bett. Ihr Gesicht eingerahmt von ihrem schwarzen Haar. Sie lächelt mich matt an. Ich eile zu ihr, setze mich zu ihr aufs Bett. Worte finde ich keine, meine Stimme scheint mir auf der Treppe verloren gegangen zu sein. Unsere Blicke treffen sich. »Wir werden uns wiedersehen«, haucht sie mir ihre letzten Worte entgegen, bevor ihre Hand schlaff aus meiner fällt, ihre Augen langsam erblassen, ihre Brust sich nicht mehr bewegt. Meine Stimme kehrt im Moment der Erkenntnis zu mir zurück. Ich schreie vor Schmerzen, vor Wut und Hass auf mein Schicksal. Die Welt tobt mit mir, umso mehr ich mich in den Schmerz vergrabe. Mein Bewusstsein, meine Verantwortung sind mit ihr – meiner Liebe – gestorben. Nun werden alle für meinen Verlust mitbestraft. Menschen sterben, töten. Verluste, Angst, Trauer, Qualen - all das gräbt sich in mich von Tag zu Tag mehr und lässt meine eigene Trauer erblassen. Frauen werden vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigt und getötet. Niemals könnten diese Seelen ihre Ruhe finden, wenn es mich nicht gäbe, um sie ihnen zu schenken. Ich spüre die Stimme meiner Liebsten in mir sprechen, die mir befiehlt zu handeln, das Unheil zu stoppen, dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Ich bin so alt wie die Erde, und noch darüber hinaus. Es fällt mir schwer täglich die Welt zu drehen und zu bewegen, ihr Leben zu geben und zu nehmen, in einem regelmäßigen Rhythmus. Vergesse ich meine Aufgabe, dies wird mir erst jetzt klar, so wird die Welt sterben, doch vielleicht ist es das, was sie braucht? Einen Tod, um neu auferstehen zu können? Um neu zu erblühen, neues Leben zu bringen ... und den Tod. Der Kreislauf des Lebens. Natürliche Selektion. Soll dies jetzt sein? Jetzt, wo die Schreie der Getöteten in mich eindringen wie Dolche, die nur den Schmerz, aber nicht die Erlösung bringen können? Ich sauge die Tränen auf und nähre mich von ihrem Blut, trage ihre Seelen fort und verstreue sie an anderen Orten, manchmal lasse ich sie auch dort, wo ihre Hüllen zerfallen oder schaue den freien Seelen 42
nach, wie einem Vogel, der seinen Weg in die Welt sucht. Nur langsam nehme ich meine Arbeit wieder auf. Ich bin Gott und Teufel, Richter und Henker, ich gebe und nehme und halte meine Hand über sie, um sie zu schützen. Noch.
Nachwort: Dies sollte eine Story, auf Anfrage von Alisha Bionda, für die Blitz-Seite werden. Angeregt durch einige Diskussionen zu Tod, Wiedergeburt, göttlichen Mächten und dem Irak-Krieg, musste es eine Geschichte werden, die den Horror unterschwänglich präsentierte, über unbekannte Mächte, Gottes Hand und Verluste. Es fiel mir schwer, was nicht oft vorkommt. Dann starb Jürgen Heinzerling, den ich leider nie persönlich kennen gelernt habe, dessen Name dennoch einen Begriff in der Phantastischen Literatur für mich darstellt. Da ich ein Mensch bin, der nicht an Zufälle, sondern an Schicksal glaubt, sah ich mich jetzt von diesem dazu angehalten, die Geschichte zu Ende zu bringen. In Gedenken somit an alle verstorbenen Autoren und alle Toten in diesen Tagen! Wo immer ihr auch jetzt seid, wir sehen uns wieder!
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