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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 5
'Dunkelwelten' ist ...
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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 5
'Dunkelwelten' ist eine kostenlose Mystery & Horror Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Dunkelwelten 5 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
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Inhalt Cover von Ulrike Kleinert Reinkarnation
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von Christoph Seeliger Wer sagt denn, dass es einen endgültigen Tod gibt?
Ein Schatten im Spiegel
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von Alfred Bekker Ein unheimliches Wesen greift nach dir...
Nomen est Omen
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von Harry Fehlemann Er nennt sich Totmacher. Keiner nimmt ihn ernst, bis...
Eine rabenschwarze Nacht
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von Gabriele Steiner Prinz Wladimir Dracula muss erkennen, dass es doch Vampire gibt und seine Tante eine von ihnen ist. Und dann begegnet er seiner Kindheitsliebe...
Tante Marys Barbecue
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von Ralf Streitbörger Es sollte ein Familienfest werden. Aber es wurde ein Schock für´s Leben...
Die Heimkehr der Hexe
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von Liane Lehnhoff Herzlosigkeit hat viele Masken. Drik erfährt die Wahrheit erst durch die Ankunft der seltsamen Fremden...
Auf gute Nachbarschaft
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von Sebastian Pähler Feiert man in diesem kleinen Städtchen wirklich nur harmlose Barbecues, oder etwa Hexenmessen? Robert und seine Mutter schätzen das unterschiedlich ein...
Alles hat seinen Preis
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von Dietrich Gerstenberger Susan hat endlich keine Kopfschmerzen mehr. Doch hinter der Genesung steckt eine unheimliche Wahrheit...
Tod von Janina Zimmermann Eine nächtliche Begegnung. Seine letzte...
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Reinkarnation von Christoph Seeliger
Wer sagt denn, dass es einen endgültigen Tod gibt?
Endlich Feierabend! Endlich Wochenende! Diese Gedanken beherrschten sein Denken, als er mit 110 Kilometern pro Stunde über den Highway brauste. Natürlich wie immer viel zu schnell. Aber wen sollte das hier draußen schon stören. Die Polizei hatte besseres zu tun, als Freitag abends Verkehrssünder zu fangen. Und passieren konnte auch nicht viel. Alle ein paar Kilometer mal ein einzelner Baum, und kaum Gegenverkehr. Aus dem Radio dudelte Countrymusik, aber der Motor war zu laut, um etwas zu hören. Plötzlich begann der Wagen unruhig zu werden. Ben versuchte sofort zu bremsen, aber es war schon zu spät. "Oh Scheiße!" waren seine letzten Worte, bevor sich der Wagen überschlug. Allmählich kam Ben wieder zu Bewusstsein. Irgendwie kam er sich eigentümlich vor. Er fühlte sich, als ob er schwebte. Langsam schlug er die Augen auf. Das heißt, er bildete sich ein, dass er die Augen aufschlug, denn was er als erstes sah, traf ihn wie ein Schlag. Unter ihm lag das Wrack seines Wagens. Davor standen zwei weitere Autos, die er als Polizei und Krankenwagen erkannte. Etwas abseits beugte sich ein Mann, der unschwer als Mediziner zu erkennen war, über eine Trage. Darauf lag ein reichlich mitgenommener menschlicher Körper. Ben sah sich selbst. Er war sicher, dass es seine Leiche war, an der sich der Arzt zu schaffen machte. Langsam begann er, sich zu beruhigen, und dachte nach. Wenn sein Körper dort unten lag, und er ihn sah, dann musste das ja heißen, dass sich seine Seele (oder was auch immer) vom Körper getrennt hatte. Er war nie besonders abergläubisch gewesen, und über ein Leben nach dem Tod hatte er bisher noch nicht nachgedacht. Ehe er weiter darüber nachdenken konnte, was jetzt zu tun sei, wurde ihm plötzlich schwindelig. Ein seltsamer Sog erfasste ihn und riss ihn mit sich. Er hatte keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. So blieb ihm nichts weiter übrig, als abzuwarten. Allmählich wurde er immer schneller, und schließlich erkannte er auch die Richtung, in die es ihn zog. Es ging nach oben. Unter ihm wurde der Schauplatz des Unglückes immer kleiner, und schon nach wenigen Augenblicken war er nicht mehr zu erkennen. Die Erde wurde immer kleiner, und schließlich betrachtetet er nicht nur einen Ausschnitt, sondern sah die gesamte Erdkugel. Dann geschah wieder etwas neues. In seinen Gedanken bemerkte er ein leises Wispern, dass immer lauter wurde. Nach einiger Zeit konnte er einzelne Stimmen auseinanderhalten. "Öffne dich!" raunte es durch seinen Geist. "Erzähl´ uns von dir!" Er bemerkte, dass winzige Fühler durch seinen Geist zu wandern schienen. Erinnerungen kamen in ihm hoch. Er sah Ereignisse, an die er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Er fühlte sich, als wenn die Fühler seine Erinnerungen aussaugen würden. Aber er wollte das nicht. In seinem Geist hatte niemand etwas zu suchen. Instinktiv begann Ben, sich zu wehren. Aber das Tasten wurde immer eindringlicher, und es begann auch, weh zu tun. Schmerzen durchzuckten seinen Verstand. Er versuchte zu schreien, aber das konnte er ja nicht mehr. Da ertönte eine tiefe Stimme, lauter als alle anderen. "Aufhören!" Plötzlich war Stille. Das Tasten war verschwunden, ebenso wie der Schmerz. "Er ist noch nicht reif genug. Wir werden ihn zurückschicken!" donnerte die tiefe Stimme. Wieder erfasste ihn ein Sog. Die Erde begann wieder größer zu werden. Immer schneller 5
wurde seine Reise. Das letzte was er wahrnahm war, dass er wahrscheinlich irgendwo in England aufschlagen würde. Dann versuchte er vor Angst wieder zu schreien. "Es ist ein Junge, Madam", sagte der Arzt. Das Baby schrie und strampelte. "Aber warum schreit es denn so?" fragte die besorgte Mutter. "Das ist normal", entgegnete ihr der Mediziner, und zuckte mit den Schultern. "Wer weiß, aus welchem Traum wir es gerissen haben."
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Ein Schatten im Spiegel von Alfred Bekker
Ein unheimliches Wesen greift nach dir...
Wenn man sich rasiert, schaut man dabei für gewöhnlich in den Spiegel und so tat dies auch Jorn Kruge - wie an jedem Morgen zu spät aufgestanden und in Eile. Aber eine Rasur mußte sein. Er war Angestellter einer Bank und da war ein gepflegtes Auftreten wichtig. Besser ein paar Minuten zu spät - was such unangenehm war - als unrasiert. Doch als Kruge an diesem Morgen in den Spiegel schaute, sah er etwas ganz anderes, als man dort normalerweise erwarten kann. Aber was Kruge da anstarrte, das waren nicht seine eigenen, verschlafenen, ziemlich übernächtigt wirkenden Gesichtszüge mit den dicken Tränensäcken, den Augenrändern und der kühn hervorspringenden Nase, sondern etwas anderes, Düsteres, Augenloses. Ein schattenartiges Gebilde, vage an den Umrisse eines Menschen erinnernd. Kruge rieb sich die Augen und er rieb sie sich anschließend gleich noch einmal, so erschreckte ihn diese Erscheinung. `Verdammt nochmal! Bin ich verrückt?´ ging es ihm durch den Kopf. Hatte sein Job ihn am Ende bereits den letzten Rest Nerven gekostet? "Anna!" rief er nach seiner Frau. "Anna! Komm schnell mal her!" Es klang wie ein Hilferuf und Anna kam kurz darauf im Morgenrock und mit Lockenwicklern in den Haaren ins Bad. "Was ist passiert? Warum schreist du so? Hast du dich wieder mit der Rasierklinge geschnitten? Das sieht dir ähnlich!" "Anna! Da, im Spiegel!" Anna Kruge blickte mit gerunzelter Stirn in den Spiegel und schüttelte anschließend energisch den Kopf . "Was meinst du? Wovon redest du?" "Siehst du nicht...?" "Was soll das? Was ist schon zu sehen, außer deinem Spiegelbild - und das kannst du dir auch heute abend noch zu Genüge ansehen. So lange es dir gefällt meinetwegen! Oder bis der Spiegel blind wird." "Aber..." "Hast du inzwischen einmal auf die Uhr geschaut? Du wirst es kaum noch schaffen..." * So verzichtete er also heute ausnahmsweise auf eine Rasur, hatte hastig den heißen Kaffee hinuntergeschlürft, wobei er sich noch die Zunge verbrannte, und war dann auf schnellstem Wege an seinen Arbeitsplatz geeilt. `Meine Nerven!´ dachte er zum hundersten Mal. Vielleicht sollte ich eine Kur machen oder einen Psychiater aufsuchen. Anna hatte den Schatten im Spiegel nicht gesehen und daher, so schloß Jorn Kruge, mußte er sich diese Erscheinung eingebildet haben. Bei dem Gedanken daran schluckte er. Halluzinationen... Nein, das klang nicht gut. Das klang nach Wahnsinn und Klappsmühlel * 7
Jorn Kruge war an der Geldausgabe beschäftigt und natürlich hatte er sich schon hundertmal gefragt, wie er wohl reagieren wurde, wenn da eines schlechten Tages einmal jemand vor ihm stünde, vielleicht mit einer Pistole in der Hand und den überaus originellen Worten auf den Lippen: "Hände hoch und Geld her!" Nun, bisher war das noch nicht geschehen. An jenem Tag, als die Bank, für die er arbeitete, zum ersten und einzigen Mal überfallen wurde, war er in Urlaub gewesen. Doch nun, in diesem Augenblick, stand da jemand vor ihm. Allerdings ohne Pistole. Es war - Kruges Blut schien zu gefrieren, als er aufblickte und ihn sah - jener Schatten, der ihm bereits am Morgen im Spiegel begegnet war. Dieser Schemen schien aus nichts anderem als einem vagen Umriß und namenloser Schwärze zu bestehen. Selbst das intensive Neonlicht konnte diese Finsternis nicht erhellen. "Gib mir...", sagte eine Stimme. Ein kalter Atem ging von dem Schatten aus und ließ Kruge vor Angst erstarren. Aber dann bemerkte der Bankangestellte, daß außer von ihm selbst der Schatten ganz offensichtlich von niemandem bemerkt wurde... `Eine Sinnestäuschung!´ durchzuckte es ihn. ``Ich bin wirklich reif für den Nervenarzt!´ Was war zu tun? Drohend und düster stand jene geheimnisvolle Schattengestalt ihm gegenüber und es erschien plötzlich als das Vernünftigste, dieses finstere Etwas einfach zu ignorieren. `Ich muß darauf achten, daß ich nicht anfange zu spinnen!´ Da streckte der Schatten eine schwarze Hand nach ihm aus und berührte ihn. Jorn Kruge war unfähig zu jeglicher Bewegung. Er spürte nur eine unmenschliche Kälte... * "Was ist geschehen?" fragte der herbeigeeilte Arzt. Schulterzucken. "Plötzlich brach er zusammen und lag dann so da, wie Sie ihn jetzt sehen. Woran ist er gestorben?" Der Arzt zog eine Braue hoch. "Er ist erfroren", murmelte er. "Finden Sie nicht, daß das eine ziemlich seltsame Erklärung ist?" meinte jemand. "Unsere Klimaanlage hält die Innentemperatur bei mindestens 18x Celsius. Und da soll jemand erfrieren?" Der Arzt zuckte mit den Schultern. ***
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Nomen est Omen von Harry Fehlemann
Er nennt sich Totmacher. Keiner nimmt ihn ernst, bis...
...,sagte der kleine grauhaarige Mann und schob einen verschlissenen Ausweis etwas linkisch über die glatte Fläche des Tresens. Der kugelrunde Wirt mit den überdimensionalen Tränensäcken, der fleckigen Schürze und dem verwaschenen T-Shirt trocknete sich die Hände notdürftig an einem feuchten Handtuch ab und ergriff das Dokument mit spitzen Fingern, wobei er eine Ecke leicht einknickte. Mit feistem Grinsen starrte er die Buchstaben vor seinen von zuviel Alkohol glänzenden Augen an und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin vermutlich den Namen seine Gastes: Totmacher! Sein Blick wanderte von dem Ausweis zu dem Mann auf dem hölzernen Barhocker und er versuchte sich vorzustellen, wie dieses Würstchen kaltblütig jemanden umbringt. Wieder musste er schmunzeln. Niemals! Ein anderer Gast in der hinteren Ecke seines Lokals rief nach ihm und er gab den Pass mit den Worten: "Nichts für ungut!" und einem Kopfschütteln an seinen Besitzer zurück. Während er sich entfernte rief ihm Totmacher mit verächtlicher Stimme nach: "Das glauben Sie wohl nicht?" Der dicke Wirt grinste noch immer und schlurfte mit schweren Schritten und einem Seitenblick zum Tresen auf den Gast in der Ecke zu. Die beiden wechselten einige Worte und wandten ihre Blicke hin und wieder Totmacher zu. Dabei schienen sie sich köstlich zu amüsieren. Als der Wirt wieder hinter seinen Tresen getrottet war ließ er seinen Blick über die glatte Fläche wandern. Eine Angewohnheit, die wohl das geübte Auge eines guten Kellners ausmacht, der feststellt, ob leere Gläser zu füllen sind. Der Grauhaarige mit dem seltsamen Namen hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Noch immer saß er, wie nun schon seit über einer Stunde, auf seinem Barhocker vor einem Glas Bier und starrte gedankenverloren in die inzwischen kaum noch vorhandene Schaumkrone. Und doch hatte sich etwas verändert. Direkt rechts neben dem Bierglas nur etwa zehn Zentimeter entfernt lag ein Revolver. Nicht irgendein Revolver, wie man ihn schon tausendmal in irgendwelchen Fernsehserien gesehen hatte, nein, es war ein echter Peacemaker. Blankgeputzt und das schummrige Licht der Barbeleuchtung reflektierend strahlte die Waffe mit dem extrem langen Lauf auf der glatten, fast schwarzen Oberfläche des Tresens wie ein Goldstück im Kohleflöz. Die kunstvoll geschnitzten Holzverschalungen des Griffes ließen den Wert dieses Colts ebenso erkennen, wie die Ebenmäßigkeit des Laufes und der Trommel. So lag sie da und bildete einen ungewöhnlichen Kontrast zu dem kleinen schrumpligen Mann mit dem grauen, schlecht sitzenden Buchhalteranzug und der schwarzen Kunstledertasche auf dem Nachbarhocker. Die beiden schienen nicht zusammenzugehören, ja nicht einmal auf den gleichen Planeten zu passen und trotzdem starrte Totmacher jetzt nicht mehr in sein Glas, sondern daran vorbei auf das glänzende Mordinstrument. Der Wirt, der abrupt in der Bewegung innegehalten hatte, zögerte nur kurz, schlenderte dann aber scheinbar völlig unbeteiligt auf den Gast zu. "Wissen Sie," begann Totmacher, "früher habe ich immer Angst gehabt, ich würde mal an einem Geschwür sterben oder von einem Auto überfahren werden." Er fuhr sich mit dem Handrücken gedankenverloren an der stoppeligen Wange entlang. "Das wäre ja wenigstens mal etwas gewesen." Ein Anflug von Verzückung trat in seine Augen. Doch dann kam die Lethargie zurück. "Aber davon hätte ich dann ja nichts gehabt!" Viele Pausen sind unangenehm, doch die jetzt eintretende Pause verhalf dem Wirt dazu, einige Gedanken daran zu verschwenden, wie er an die Waffe kommen könnte, ohne dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen. Doch er kam zu keinem sinnvollen Ergebnis, denn Totmacher sprach plötzlich weiter. "Sind sie verheiratet?" Er stellt die Fragen einfach so in den verrauchten Raum hinein, ohne den Wirt anzuschauen. Ganz so 9
als wolle er alle Anwesenden gleichzeitig befragen, oder auch nur sich selbst. Erschrocken darüber, dass die Fragen offensichtlich ihm galt schüttelte der Barkeeper lediglich den schweren Kopf und griff, fast wie automatisch nach einem Glas, das er zu polieren begann. "Seien Sie froh! Ich b..." Totmacher unterbrach sich selbst und verzog seine Lippen zu etwas, das wohl als Lächeln durchgehen sollte, aber vollkommen missglückte und fuhr fort, wobei er das erste Wort besonders dehnte: "...waaaarrr über fünfundzwanzig Jahre verheiratet! Ich kann Dir sagen, der reinste Psychoterror!" Wieder einer, der ihm sein Leid klagen möchte, dachte der Barmann und fügte sich in seine Rolle als aufmerksamer Beichtvater, wie schon unzählige Male bei unzähligen Gästen zuvor. Er kannte die Geschichten von unerfüllter Liebe, tyrannischen Ehefrauen oder blutsaugenden Chefs nur zu gut. Es waren auch meist die gleichen Typen, die ihren Seelenmüll bei ihm abluden, und er hörte geduldig zu. Langsam füllte sich das Lokal mit Gästen und der Kneipier bekam nun mehr zu tun. Noch immer lag der Revolver neben dem Bierglas, doch niemand schien Notiz davon zu nehmen. Totmacher war inzwischen bei den Kindern angelangt, denen er soviel gegeben hatte ohne etwas zurückzuverlangen - völlig selbstlos. Trotzdem seien die Bengel fürchterlich undankbar. Kaum dass sie ihr Studium beendet hatten, verschwanden sie auf Nimmerwiedersehen. Einmal im Jahr bequemten sie sich vielleicht mal dazu, die Eltern zu besuchen und aus dem Urlaub - natürlich in Amerika - kommt auch mal eine Karte. Das war es dann aber auch schon. Mit einer ausladenden Geste bedeutete der Wirt den gerade eingetretenen Gästen freundlich, so mögen sich irgendeinen freien Tisch aussuchen, als Totmacher von seinem Hocker aufsprang und lautstark durch die Bar krakelte. "Hörst Du mir überhaupt zu?" Augenblicklich trat tödliche Stille ein. Niemand regte sich. Der Wirt hatte noch immer den fleischigen Arm gehoben und ließ ihn jetzt langsam sinken. Die bei ihm stehenden Gäste murmelten sich einige Worte zu und verließen dann ohne das Angebot der freien Tischwahl in Anspruch zu nehmen das Lokal wieder. Wutschnaubend wollte sich der Barmann gerade dem Aufrührer zuwenden, als ihm der "Friedensstifter" wieder einfiel. Das heißt eigentlich strahlte ihn die Waffe vom Tresen her geradezu an. Bedrohlich und zur Ruhe mahnend zeigte ihr Lauf wohl eher zufällig auf ihn, dass kreisrunde Loch am Laufende schien geradezu darauf zu warten, seine vernichtende Arbeit beginnen zu dürfen. Totmacher stand neben seinem Hocker und atmete schwer. Sein Gesicht noch grauer, sein Anzug noch zerknitterter und die Aktentasche unter dem Arm warfen seine Augen dem Wirt eine Mischung aus Haß und Spott entgegen, die den mit allen Wassern gewaschene Barbesitzer erzittern ließ. Alle inneren Sirenen und Warnungen in den Wind schlagend, ließ er plötzlich seine gut 130 Kilo losschnellen und seine massigen Arme den kleinen Mann fest umschlingen. Ohne eine Möglichkeit noch auszuweichen, bekam dieser lediglich kurz einen Arm frei, mit dem er versuchte das glänzende Ding auf der Theke zu erreichen. Doch er wurde wie in einem Schraubstock gehalten während ein zweiter Gast dem Wirt zur Hilfe kam. Gemeinsam drückten die beiden den wütend zappelnden und fluchenden Totmacher in einen Stuhl wo sie ihn mit einem Abschleppseil, das der hilfreiche Gast schnell aus seinem Wagen geholt hatte, festbanden. Die übrigen Besucher des Lokals hatten den Vorfall mit Interesse beobachtet und versammelten sich nun um den Holzstuhl mit dem zusammengesunkenen Totmacher. Umringt von unzähligen Gesichtern blickte dieser mit leerem Blick von einem zum anderen ganz so als präge er sich jedes einzelne genau ein. Dann ließ er ein hysterisches Kichern hören und begann mit dem Stuhl auf dem Boden zu hopsen. Immer und immer wieder bäumte er sich kurz auf und ließ sich dann wieder in den Stuhl sacken. Das stabile Sitzmöbel hielt jedoch den Angriffen stand und der Wirt schüttelte Angesichts derart offensichtlicher Dummheit den schweren Kopf. In der Absicht, die Polizei zu rufen wandte er sich ab und fuhr wieder herum, als er ein lautes Poltern vernahm. Totmacher war mit seinem Sitz umgefallen und dabei einem Gast gegen das Schienbein gekippt. Dieser hockte vor dem Tresen auf dem 10
Boden und rieb sich die schmerzende Stelle. Als er sich wieder aufrichten wollte, wurde seine Bewegung auf halber Höhe jäh durch eine Stange gestoppt, die sich rund um die Theke zog und Betrunkene vor dem Sturz vom Barhocker schützen soll. Sie traf ihn am Kopf und er sank abrupt wieder zusammen. Der kugelrunde Wirt mit der fleckigen Schürze betrachtete die Szene und fühlte innerlich mit dem Gast. Doch er sah nicht nur das. Eine Reflektion, nur für den Bruchteil einer Sekunde, traf seinen Augenwinkel. Sein Blick wandte sich nach rechts. Da lag sie, immer noch glänzend, bedrohlich, auf der Kante des Tresens und rutschte. Unendlich langsam, wie in Zeitlupe. Der lange Lauf bekam an der Kante Übergewicht und neigte sich dem Fußboden zu, zog den Rest mit sich. Die Spiegelung der Deckenbeleuchtung wanderte über das lange Rohr und zerstreute sich als sie die Trommel erreichte. Der Griff schien für einen Augenblick den Absturz stoppen zu können, und entlarvte die Pause jedoch als böswilligen Bluff. Nach hinten überkippend vollführte das Metall geräuschlos zwei und eine halbe Drehung in der Luft. Einem Modemodell gleich zeigte sich das Mordinstrument den Anwesenden in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit. Lauf, Trommel, verzierter Griff und die geladenen Geschosse wurden freimütig gezeigt. "Seht her, wie schön ich bin!" Der Aufprall auf dem harten Fliesenboden ließ einen hohen Ton erklingen, der dem Spannen des Pistolenhahns nicht unähnlich war. Der Wirt zumindest fühlten sich instinktiv daran erinnert. Nach einer pirouettengleichen Bewegung auf dem Knauf kippte der glänzende Engelmacher auf die Seite, hatte aber noch soviel Schwung, sich nochmal halb aufzustellen. All dies sah der Wirt fast teilnahmslos. Bei jeder Drehung konnte er in den Lauf sehen. Sah die tiefe Schwärze und erahnte die Ladung die sich dahinter befand. Noch bevor er den ohrenzerfetzenden Knall hörte verzerrte sich sein Gesicht zu einer Grimasse schrecklicher Erkenntnis. Die kleine Flamme, die sich aus den Tiefen der schwarzen Öffnung zwängte glich einer Zunge. Einer Zunge, die ihm ein trotziger Totmacher herausstreckt kurz bevor die heiße Metallkugel sein verwaschenes T-Shirt, seine Fettschicht und einen Knochen durchschlug um schließlich mitten in seinem nur noch für wenige Sekunden pochenden Herzen sein Ziel gefunden zu haben.
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Eine rabenschwarze Nacht von Gabriele Steiner
Prinz Wladimir Dracula muss erkennen, dass es doch Vampire gibt und seine Tante eine von ihnen ist. Und dann begegnet er seiner Kindheitsliebe...
Es war gegen dreiviertel acht Uhr abends. Ich hatte befohlen die Pferde anzuspannen und wartete mit der hochschwangeren Prinzessin am Portal des Schlosses auf die Kutsche. Wir wollten Elisabeta´s El-tern besuchen, die etwa eine Stunde von unserem Schloss entfernt lebten. Es war schon dunkel als wir vom Hof fuhren. Es kam mir vor, als würde es eine Ewigkeit dauern, bis wir endlich vor dem Schloss ihrer Eltern an-kamen. Sofort erschienen zwei Bedienstete vor dem großen eisernen Tor um uns beim Aussteigen be-hilflich zu sein. Dann führten sie uns in die große Halle. Einer der beiden öffnete eine Tür und ich hörte ihn sagen:“Ihre Hoheiten, Prinz Wladimir und Prinzessin Elisabeta sind gekommen, Eure Ex-zellenz!“ „Danke Pedro! Sie sollen eintreten“, drang eine zweite Stimme zu uns. Der Diener wies uns mit einer Geste an, in den Raum zu gehen. Dann schloss er die Tür hinter uns. Elisabeta rannte auf ihren Vater zu, der sie stürmisch umarmte. Dann wandte er mir den Blick zu und sagte:“Wladimir! Ich begrüße dich in meinem Haus! Wie geht´s dir, teurer Schwiegersohn!?“ Ich lächelte und gab zurück:“Ach, ich kann nicht klagen!“ Im nächsten Augenblick betrat meine Tante den Raum und rief:“Da seid ihr ja endlich! Elisabeta, mein blonder Engel! Wo ist dein reizender Gatte?“ „Hier“, meldete ich mich zu Wort. Eine ganze Weile standen wir uns gegenüber, bis meine Tante sagte:“Kommt zu Tisch! Es ist bereits angerichtet!“ Während wir an der reich gedeckten Tafel saßen, aßen und tranken, sagte meine Tante zu ihrer Toch-ter:“Es ist schon sehr dunkel draußen. Ich nehme nicht an, dass ihr den weiten Weg noch zurückfahren wollt! Ich habe euch das Gästezimmer herrichten lassen, wenn dein Prinz damit einverstanden ist!“ Dann wandte sie mir ihren Kopf zu und fuhr fort:“Außerdem glaube ich nicht, dass Elisabeta in ihrem Zustand noch die Strapaz einer Rückfahrt auf sich wird nehmen wollen!“ Ich war einverstanden. Elisabeta nickte nur stumm. Stunden später. Wir waren schon lange in unseren Betten gelegen, als mir plötzlich einfiel, das ich meiner Tante eine Unterredung versprochen hatte. Ich stand auf, zog mir meine Kleider an und ging leise nach draußen. Elisabeta war schon fest eingeschlafen. Draußen auf dem Gang war es dunkel und still. Ich wollte nach meiner Tante rufen, da packte mich plötzlich jemand von hinten und zog mich zu sich. Ich erschrak. „Hey, was soll das?“ Dann drehte ich mich schnell um. Vor mir stand Elisabeta´s Vater und starrte mich mit großen Augen an. Als er scheinbar seine Sprache wiedergefunden hatte, fuhr er mich an:“Wo willst du hin, Wladi-mir?“ Ich blickte ihn überrascht an und gab zurück:“Was geht das eigentlich dich an?“ „Wenn es um meine Frau geht, dann geht es mich etwas an!“ Ich schüttelte irritiert den Kopf und sagte:“Was, du willst doch nicht behaupten das du glaubst, ich hätte es auf deine Frau abgesehen! Sie hat mich um eine Unterredung unter vier Augen gebeten und Prinz Dracula hält im allgemeinen seine Versprechen!“ Mein Schwiegervater schien entsetzt. „Du wirst nicht zu ihr gehen, Wladimir Dracula!“ Ich blieb ruhig: “Nenn mir einen Grund, nur einen warum ich das tun sollte, beziehungsweise nicht tun sollte!“ 12
Mein Schwiegervater sah mich lange an, dann antwortete er mir:“Das kann ich dir sagen! Sie hat dich unter einem Vorwand hergelockt! Sie ist nicht das, was sie zu sein scheint! Ist dir schon jemals aufge-fallen, dass du sie erst dann zu Gesicht bekommst, wenn die Sonne untergegangen ist? Ja, unter tags schläft sie nämlich!“ Ich stieß wütend aus:“Du spinnst ja! Du willst mir also sagen, dass meine Tante ein Vampir ist! Das willst du doch, oder? Ja, auch ich habe von den Legenden gehört, die man sich hierzulande über diese Kreaturen erzählt“ und mit theatralischer Stimme „Geh ja nicht nach Sonnenuntergang auf die Straße, denn dann steigen die Vampire aus ihren Gräbern und trinken dein Blut! - Schon meine Mutter hat mir Gruselgeschichten über sie erzählt!“ Mein Schwiegervater wollte nicht lockerlassen. Er nahm mich an den Schultern und sagte flehend:“Es ist wahr, Wladimir! Deine Tante, meine geliebte Frau...ist ein Vampir! Es ist so wie ich gesagt habe! Sie schläft unter tags in einem Sarg und wenn die Sonne untergegangen ist, geht sie auf die Jagd nach Menschenblut!“ Ich schüttelte protestierend den Kopf. Dann meinte ich laut und bestimmt:“Unsinn! Vampire existieren nicht! Denn wenn sie es täten, wäre die gesamte Menschheit längst ausgelöscht!“ Mein Schwiegervater entgegnete mir: “Glaub mir Wladimir, wie sehr ich mir dies wünschte! Wie sehr ich mir wünschte, es gäbe keine Blutsauger auf dieser Welt! Ich möchte meine Frau wieder haben. Aber das was sie jetzt ist, ist nur noch ein Abklatsch ihrer selbst!“ Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, dann fragte ich:“Du meinst wirklich das meine Tante ein Vampir ist?“ Mein Schwiegervater nickte. Dann wandte er sich um und ging schweren Schrittes davon. Ich setzte meinen Weg fort, in Richtung Bibliothek. Ich wusste, meine Tante las gerne und war mir si-cher, sie dort zu finden. Vorsichtig öffnete ich die Tür und spähte hinein. Dann rief ich:“Tante Elvira, bist du da? Ich bin´s, Wladimir!“ Da vernahm ich ein Geräusch. Ich konnte aber nicht mit Sicherheit sagen, von wo es kam. Ich hielt die Petroleumlampe hoch, die ich schon die ganze Zeit mit mir herumgetragen hatte. Dabei riss ich die Augen auf um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Als ich mich davon überzeugt hatte, dass meine Tante nicht in der Bibliothek war, meldete sich eine geheimnisvolle Stimme und befahl mir in den Schlosshof zu gehen. Unten angekommen, sah ich mich um. Konnte jedoch niemanden entdecken. Ich wollte den Mund auftun, um nach meiner Tante zu rufen, als ich hinter mir einen Schatten be-merkte. Hinter einem Pfeiler, aber noch vom Schatten verdeckt, trat eine Gestalt hervor. Ich hob meine Lampe in die Höhe und fragte nervös:“Wer ist da?“ Die Gestalt blieb stehen, gab jedoch keine Antwort. Ich fragte abermals:“Wer ist da?“ Nichts passierte. Ich stand wie angewurzelt auf dem Fleck auf dem ich vorhin schon gestanden war. Da bewegte sich die Gestalt und begann auf mich zu zu kommen. Sie trat aus dem Schatten hervor und sah mich an. Dann lächelte sie und streckte die Hand nach mir aus. Ich prallte zurück:“Vater!“ Die Gestalt nickte, dann begann sie ebenfalls zu sprechen:“Wladimir, mein Sohn!“ Ich starrte wie gebannt auf den großgewachsenen breitschultrigen Mann, der etwa fünf Schritt von mir entfernt vor mir stand. Wie konnte das sein? Nein, das war nicht möglich! Ich wusste nicht, ob ich vor Schreck schreien, oder vor Freude weinen sollte. „Vater! Wie ist so etwas möglich? Du bist doch...tot!“ Mein Vater lächelte mich an. Für einen kurzen Moment glaubte ich, in seinen Mundwinkeln Fangzäh-ne aufblitzen gesehen zu haben. Das konnte doch nur Einbildung gewesen sein. Nein, es war sicher das Mondlicht gewesen. Ein grausames Spiel von Licht und Schatten. Bevor ich den Mund abermals auftun und etwas sagen konnte, sagte er:“Komm mit, mein Sohn! Ich bringe dich zu Tante Elvira! Sie erwartet uns sicher schon sehnsüchtig! Sie hasst es wenn man sie warten lässt!“ Ich folgte meinem Vater quer über den Hof zu einer Tür. Er öffnete sie und trat zur Seite. Ich 13
ging an ihm vorüber und trat ein. Drinnen blieb ich stehen und sah mich um. Ich stand in einem großen rechteckigen Raum ohne Fen-ster. Es war so dunkel, dass ich nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte. Auch meine Lampe vermochte den Raum nicht auszuleuchten. Gespannt wartete ich auf das, was nun weiter passieren würde. Da spürte ich, wie jemand rasch an mir vorüberglitt und im nächsten Augenblick bemerkte ich eine Gestalt, die eine brennende Fackel in der Hand hielt. Sie begann sämtliche andere Fackeln, die an Halterungen an der Wand hingen, zu entfachen. Der Raum erhellte sich und ich starrte in mindestens ein halbes Dutzend bleiche Gesichter. Einige davon kannte ich, andere wieder nicht. Sie hatten eines gemeinsam. Ich erkannte es sofort als ich sie ansah. In ihren Augen stand Hunger und Gier. Als ich darüber nachzudenken begann, trat eine Frau aus der Mitte des ungeordneten Haufens. Meine Tante. Auch ihr Gesicht war bleich und ihre Augen zeigten den gleichen Hunger und die gleiche Gier. Sofort erinnerte ich mich an die Worte meines Schwiegervaters. Sollte er tatsächlich die Wahrheit gesagt ha-ben, dann wäre ich hier in allergrößter Gefahr. Ich tat den Mund auf und sagte mit heiserer Stim-me:“Tante Elvira! Vater! Was um Himmelswillen seid ihr?“ Meine Tante sah mich an und antwortete mir mit leiser Stimme:“Weißt du das nicht?“ Ich senkte den Blick zu Boden, sah wieder auf und sagte:“Hatte Onkel Alfons also doch recht! Ihr seid Vampire! Ist es nicht so?“ Meine Tante lächelte und sagte:“Ja, wir sind Vampire! Wir alle hier und es werden täglich mehr!“ Ich stieß mit einem Mal erbost aus:“Und ich soll also auch demnächst eurer Riege beitreten! Nein danke, kein Bedarf!“ „Wladimir. Bevor du dich aufregst, beantworte mir nur eine Frage! Bin ich dir nicht immer eine gute Tante gewesen und hattest du mich nicht gern gehabt? Wie ich mich erinnern kann, bist du doch im-mer gerne zu mir auf Besuch gekommen!“ – „Ja, das stimmt! Ich hatte dich wirklich gern!“ – „Na siehst du! Und damals war ich auch nichts anderes als das, was ich heute bin!“ – „Ja, aber ich war damals noch ein Kind! Unfähig die Dinge so zu sehen wie sie sind. Ich konnte ja nicht ahnen dass meine Tante ein gottverdammter Blutsauger ist!“ Einige Zeit herrschte Stille, bis meine Tante abermals das Wort ergriff: “Du denkst, wir wären blutgie-rige Bestien ohne Verstand! Wir mögen wohl jegliches Interesse an den Dingen verloren haben, die für Menschen wichtig sind. Wenn wir auch in Särgen schlafen und Dinge tun, die Menschen abscheu-lich finden und uns vom Blut der Menschen nähren, haben wir dennoch unseren Anstand nicht verlo-ren. Wir sind Vampire und wir sind stolz darauf, anders zu sein als die Menschen! Es hat auch gewisse Vorteile ein Vampir zu sein, Wladimir!“ Ich brauste auf: “Ach ja, welche denn! Zum Beispiel? Mir fallen nur Nachteile ein. Wie zum Beispiel, nie wieder jemanden richtig lieben zu können!“ Meine Tante sagte ruhig:“Das siehst du falsch, Wladimir! Vampire wissen auch, was Liebe ist! Liebe ist auch für sie kein Fremdwort!“ Ich stieß aus:“Ach papperlapapp!“ Meine Tante lächelte einfältig. „Wie ich schon sagte, es gibt gewisse Vorteile! Ein Vampir wird nie-mals alt werden und niemals sterben. Auch Krankheiten können uns nichts anhaben! Wünscht du dir nicht auch ewig zu leben!“ Ich riss meine Augen auf und rief:“Oh nein! Ich versuche lieber, mit Anstand alt zu werden. Ich will nicht zusehen müssen, wie all das was ich liebgewonnen hab, langsam alt wird und stirbt. Das könnt ich nicht ertragen!“ Einige, der im Rudel zusammen stehenden Vampire, schienen genauso zu empfinden, denn sie ließen ihre Köpfe traurig hängen. Wieder herrschte einige Zeit Stille. Bis meine Tante abermals das Wort er-griff:“Du bist vom Schicksal dazu bestimmt worden, der König der Vampire zu sein, Wladimir! Und dem Schicksal kannst du nicht entrinnen!“ Ich meinte darauf: “Das mag wohl sein, aber ich bin kein Vampir und ich werde auch nie 14
einer sein! Verstehst du das! Und sollte einer versuchen mich anzugreifen, werde ich mich zu wehren wissen!“ Meine Tante lächelte abermals, dann sagte sie:“So, denkst du wirklich, dass du allein gegen uns beste-hen könntest? Vergiss nicht, wir sind in der Überzahl! Auch gegen einen einzigen von uns könntest du nichts ausrichten!“ Ich seufzte, meine Tante wusste immer auf alles eine Antwort. Während ich so darüber nachzudenken begann, wie ich wohl auf dem schnellsten Wege hier heraus-kommen könnte, sagte meine Tante plötzlich:“Füge dich in dein Schicksal und komm an unsere Seite, Wladimir!“ – „Ach, du willst wohl deinen Blutdurst an mir stillen!“ Meine Tante schüttelte heftig den Kopf, dann gab sie zurück:“Nein, ich nicht. Aber ich denke, Don-na...würde das sehr gerne übernehmen!“ Das Vampirmädchen blickte mich lauernd an. Ihre Fangzähne waren gut sichtbar. Dann sagte sie lä-chelnd zu mir:“Darauf kannst du wetten!“ Ich baute mich vor meiner Tante auf und meinte forsch:“Und ich sage, nein!“ Während ich das sagte, bewegte ich mich schnell auf die Tür zu. Da kam plötzlich Bewegung in die anderen Vampire. Ich konnte sehen, wie sich die bis zu diesem Zeitpunkt in einem ziemlich ungeord-net erscheinenden Haufen zusammen stehenden Blutsauger im gesamten Raum langsam aufzuteilen begannen. Meine Tante kam auf mich zu, legte mir ihren Arm um die Schulter und sagte:“Er besteht immer noch auf seinem Willen. Na ja, stur warst du ja schon immer! Aber gerade das gefällt mir so an dir, Wladimir! Du würdest einen ausgezeichneten Vampir abgeben, glaub mir!“ Da meldete sich Donna plötzlich zu Wort und sagte:“Ob ich mich wohl kurz entfernen dürfte, ich hab schon solchen Hunger! Ich werd´ noch wahnsinnig wenn ich nicht bald was zu essen bekomme!“ Als Tante Elvira ihr lächelnd zunickte, wandte Donna sich um und ging forschen Schrittes an mir vor-bei Richtung Tür. Die beiden vor der Tür stehenden Vampire, die diese blockiert hatten als ich ver-sucht hatte zur Tür zu gelangen, traten zur Seite. Einer der beiden öffnete sie. Als Donna hindurch war, ließ er sie schwungvoll ins Schloss fallen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken als ich mir ausmalte was die kleine Vampirin jetzt wohl bald da draußen tun würde. Meine Tante blickte mich an, dann meinte sie:“Okay Wladimir! Du sollst deinen Willen haben!“ Zu den beiden an der Tür sagte sie:“Lasst ihn gehen! Er wird schon noch selbst zur Vernunft kom-men!“ Oh, weshalb dieser plötzliche Sinneswandel? Na egal. Hauptsache ich konnte von hier verschwinden. Schnell, ohne einmal zurückzuschauen, rannte ich durch die Tür, über den Schlosshof und die Treppe hoch zu Elisabeta´s und meinem Schlafgemach. Drinnen angekommen, warf ich die Tür zu und begann den Kleiderschrank vor die Tür zu schieben. Dann verriegelte ich das Fenster. Ich wusste, die Vampire würden sich jetzt aufmachen und auf die Jagd gehen. Aber von meinem und Elisabeta´s Blut sollten sie keinen Zentimeter kriegen. In dem Au-genblick als ich den Schrank geräuschvoll vor mich herschob, setzte sich Elisabeta im Bett auf und fragte gähnend: “Wladimir, was tust du denn da? Kannst du mir vielleicht verraten was das soll?“ Ich gab ihr jedoch keine Antwort und warf mich in mein Bett. Elisabeta schüttelte schlaftrunken den Kopf und legte sich wieder hin. War der arme Wladimir etwa übergeschnappt? Wieso verbarrikadierte er jetzt plötzlich Tür und Fenster? Na, das würde noch ein schlimmes Ende mit ihm nehmen. Sie fürchtete sich schon davor was die Leute sagen würden. Prinz Dracula ist irre geworden. Rette sich wer kann! Armes Rumänien, vor allem armes Transsylvanien! Die ganze Welt würde über ihn lachen. Und das, wo er doch in Kürze König werden sollte. Niemand würde mehr auf ihn hören. Wer nahm denn schon einen irre gewordenen König ernst? Oh Wladimir, Wladimir! Wie tief bist du gesun-ken? 15
Ich lag wach im Bett und starrte leer vor mich hin. Ich hatte nie an Vampire geglaubt, hatte sie immer nur für der Fantasie der Menschen entsprungene Wesen gehalten. Aber in dieser Nacht hatte ich die grausame Wahrheit erfahren müssen. Vampire waren real. Ich wusste, sie trachteten nach meinem Blut. War ich erst in ihrer Gewalt, würden sie auch Elisabeta nicht verschonen. Wir mussten von hier fort, aber solange die Sonne am Horizont noch nicht aufgetaucht war, war an eine Flucht nicht zu den-ken. Die Vampire würden es merken und uns aufzuhalten versuchen. Aber wo sollten wir denn über-haupt hin? Wir konnten ja nicht mal zurück auf unser eigenes Schloss. Die Vampire würden wissen, wo sie uns finden konnten. Wo sollten wir denn überhaupt noch Zuflucht vor diesen Kreaturen finden? Es war doch durchaus möglich, dass wir, ohne es zu ahnen, in ein Nest voller Vampire stolperten. Dann waren wir sowieso verloren. Ich wusste nicht mehr was ich denken sollte. Ich sah auf die schla-fende Prinzessin hinüber. Dann murmelte ich leise:“Oh Elisabeta, wenn du nur wüsstest! Etwas unvor-stellbar grauenhaftes versucht uns zu zerstören und ich weiß nicht, ob die Menschheit gegen diese Übermacht bestehen kann! Sie gehen da draußen ihrem grauenvollen Trieb nach und wir können nichts dagegen tun!“ Ich stieß einen langen tiefen Seufzer aus. Mechanisch erhob ich mich und ging zur Tür. Dann schlurfte ich über den Korridor und die Treppe nach unten. Gerade als ich das große schwere Eisentor aufstoßen wollte, sah ich seitlich von mir eine Gestalt. Ich wandte den Kopf und da stand sie. Sie lächelte mir zu und sagte:“Wladimir, was tust du denn hier draußen? Solltest du nicht schon längst schlafen?“ Ich ging einige Schritte auf Donna zu, dann blieb ich stehen und sagte:“Ich konnte nicht schlafen! Und du, solltest du nicht noch da draußen sein?“ Die Vampirin neigte den Kopf zur Seite und gab zurück:“Ja, da hast du wohl recht. Aber ich wollte dich sehen! Komm, gehen wir ein wenig im Schlossgarten spazieren? So wie wir es früher immer ge-tan haben!“ Dann trat sie auf mich zu und nahm mich bei der Hand. Mechanisch, wie in Trance, folgte ich ihr. Während wir so nebeneinander hergingen, sah sie mich immer wieder von der Seite her an. Ich lä-chelte ihr zu. Doch plötzlich zwang sie mich stehen zu bleiben. Dann neigte sie den Kopf zur Seite und ihre Lippen näherten sich meinem Hals. Ich fühlte ihre Lippen an meiner Haut und ihre langen, dolchartig gebogenen Fangzähne. Bereit zuzubeißen. „Nein, ich kann es nicht! Es ist mir egal was die anderen über mich denken, aber ich kann es nicht! - Ich bin ein Vampir und Vampire dürfen mit ihren Opfern kein Mitleid haben. Aber ich liebe dich zu sehr, um dir das anzutun. Oh, es ist alles so ungerecht. Du kannst dir nicht vorstellen wie mich das quält, nicht das zu sein, was ich zu sein scheine. Für immer im Körper eines Kindes gefangen zu sein“, sagte sie, von Weinkrämpfen geschüttelt. „Ich liebe dich auch, Donna! Auch wenn du ein Vampir bist! Das ist mir gleich. Du musst zurück. Die...Sonne geht bald auf!“ Die Vampirin stieß einen Seufzer aus, dann antwortete sie:“Und wenn schon. Vielleicht wäre es auch das beste hier einfach sitzen zu bleiben und auf den Sonnenaufgang zu warten! Das Leben hat so kei-nen Sinn mehr für mich!“ Ich stieß laut aus:“Donna, was redest du da? Das kannst du doch nicht wirklich meinen!“ Die Vampirin sah mich mit feuchten Augen an. Ich sah, wie ihr eine blutrote Träne über die Wange lief. Sie fasste sich wieder und sagte:“Weisst du wie es ist, diesen immerwährenden Blutdurst in dir zu fühlen? Ich war zarte dreizehn Jahre alt als deine Tante, meine Stiefmutter mich zu einem Vampir machte. Das ist jetzt fünfzehn Jahre her. Und seit dieser Zeit geschieht jede Nacht das selbe. Und es besteht keine Hoffnung, dass sich daran je etwas ändern wird!“ Ich packte sie mit beiden Händen an den Schultern und sagte:“Donna, das kann doch nicht alles sein! Du wählst freiwillig den Tod ohne nach einer Lösung zu suchen?“ 16
Die Vampirin fuhr mich an:“Oh nein, Wladimir. Ich bin schon tot! Ich starb als meine Stiefmutter mein Blut trank, sich ihre Pulsader aufschnitt und mich zwang zu trinken! Und ich mit jedem Schluck den ich trank, mehr und mehr zu einem Vampir wurde. Lebendig und doch nicht lebendig. Zur Gleichgültigkeit verdammt und Nacht für Nacht mit einem Blutdurst zu erwachen der einen fast in den Wahnsinn treibt! Ich...kann einfach nicht mehr!“ Während sie sprach konnte ich ihre langen, spitzen und dolchartig gebogenen Fangzähne sehen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich schreckte hoch als ich hinter mir ein Geräusch hörte. Ich drehte mich um und fragte in die Dunkel-heit:“Wer ist da?“ Doch ich erhielt keine Antwort. Stattdessen hörte ich Schritte die sich näherten. Dann traten zwei Ge-stalten hinter einem Gebüsch hervor. Ich fuhr zusammen. Es waren Tante Elvira und mein Vater. Aus einem der Mundwinkeln meiner Tante lief eine dünne Blutbahn hinunter zum Kinn. Ein sicheres Zei-chen dafür, das sie gerade "gegessen" hatte. Die beiden Vampire kamen langsam auf mich zu. Keine fünf Schritte von mir entfernt blieben sie stehen. Meine Tante trat einen Schritt auf mich zu und sagte: “Ich wusste, dass Donna es nicht fertig bringen würde. Dazu liebt sie Wladimir zu sehr! Ha! Ich habe einen Fehler gemacht, einen Fehler der nicht wieder gutzumachen ist. Ich hätte sie nie hinüberholen sollen! So ein gottverdammter Feigling von einem Vampir. Aber nachher ist man immer klüger! Sie ist nicht würdig, die Reihen der Vampire zu füllen! Ihr Gewissen plagt sie. Eine furchtbare Geißel!“ Ich hatte meine Augen immer noch aufgerissen das man das Weiße rund herum sehen konnte. Ich wollte meinem Protest Luft machen, da traten die beiden noch näher auf mich zu. Ich fühlte mich in der Klemme. Da brach Donna plötzlich das Schweigen und rief flehend:“Bitte... tut ihm nichts!“ Meine Tante lachte hämisch, dann gab sie ihr zur Antwort:“Wir tun ihm nichts, aber du wirst...! Du hast deinen Auftrag noch nicht erfüllt!“ Ich war indessen im Begriff, mich leise und langsam zu entfernen. Doch ich hatte nicht mit dem groß-gewachsenen Vampir gerechnet. Meinem Vater war mein Vorhaben nicht entgangen. Er kam auf mich zu und packte mich am Arm. Ich stieß aus:“Hey, was soll das? Loslassen!“ Dann versuchte ich mit der freien Hand einen gezielten Schlag in seinen Bauch anzubringen. Der Schlag saß. Ich hatte ihn so fest ich nur konnte ausgeführt und ein Mensch hätte sich auch wahr-scheinlich vor Schmerzen krümmend auf dem Boden gewälzt, aber nicht so der Vampir. Er schüttelte sich wie ein begossener Pudel und sagte bloß: “Das war nicht nett!“ Ich bemerkte, wie er seine Bauchmuskeln anspannte, so als fürchte er, dass meine Faust sich anschik-ken könnte, ein zweites Mal in seinem Bauch zu landen. Ich konnte spüren wie sich sein Griff um meinen Arm verstärkte. Plötzlich war mir klar, dass er mir mit Leichtigkeit den Arm brechen konnte wenn er wollte. Scheiße, rief eine Stimme in mir, jetzt sitzt du ganz schön in der - Schlamastik, Wla-dimir. Was konnte ich denn allein gegen drei blutgierige Vampire ausrichten? Wären diese drei meine menschlichen Feinde gewesen, hätte ich mich ihnen entgegen gestellt. Aber den Vampiren allein den Kampf anzusagen, wäre glatter Selbstmord. Genau so gut hätte ich es gleich alleine mit einer ganzen Armee aufnehmen können. Und mit einemmal war es mir klar. Ich würde verlieren. Die Vampire hat-ten die Oberhand. Da hörte ich auch schon die Stimme meiner Tante, die sagte:“Nun, worauf wartest du, Donna? Die Sache ist an dir, sie will vollbracht werden!“ Mit einem Anflug von Verzweiflung versuchte ich mich aus dem Griff des Vampirs zu befreien, der mich immer noch festhielt. Würde ich den heutigen Tag überleben? Langsam aber sicher zweifelte ich daran. Der Vampir zwang mich in die Knie. Dann drückte er forsch meinen Kopf zur Seite. Da hörte ich die Stimme meiner Tante:“Nun Wladimir, verabschiede dich schon mal von deinem menschlichen Dasein und sage deinen Lastern lebewohl! Denn schon sehr bald wirst du zu uns gehören! Die Vampi-re warten auf dich!“ Ich versuchte mich immer noch aus dem stahlharten Griff zu befreien, aber es war zwecklos. 17
Im näch-sten Augenblick hörte ich abermals die Stimme meiner Tante, aber nun war Donna damit gemeint:“Es ist soweit. Tue deine Pflicht, Donna! Koste sein Blut! Mach ihn zu einem von uns!“ Aus den Augenwinkeln sah ich die Vampirin langsam näher kommen. Im nächsten Augenblick spürte ich ihren kalten todbringenden Atem an meinem Hals. Da gingen abrupt die Lichter aus. Als ich wie-der zu mir kam und die Augen öffnete, erblickte ich schemenhaft drei bleiche Gesichter die sich lang-sam zu mir hinabbeugten. Dann wurde es tief dunkle Nacht um mich.
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Tante Marys Barbecue von Ralf Streitbörger
Es sollte ein Familienfest werden. Aber es wurde ein Schock für´s Leben...
Vorbei an schier endlos scheinenden Maisfeldern rollte der alte Cadillac langsam die Landstrasse entlang. Am Steuer saß ein gutgelaunter Mann um die dreißig, der seinen linken Arm lässig aus dem geöffneten Fenster gelehnt hatte. Lächelnd summte er die Countrysongs mit, die aus seinem alten Radio erklangen und so wunderbar mit der ländlichen Idylle des sommerlichen Nebraskas harmonierten. „ Noch fünfzehn sonnige Meilen “ dachte er als er das staubige Holzschild am Straßenrand erblickte. In wenigen Minuten würde er seine Tante Mary wiedersehen. Er erinnerte sich wehmütig an die vielen glücklichen Ferienwochen seiner Jugend , die er auf der kleinen Farm mit all ihren Hühnern, Enten und Schweinen verbracht hatte. Einmal im Jahr kamen hier alle Familienmitglieder zusammen, um den Geburtstag von Mary zu feiern und diejenigen Verwandten und Freunde zu treffen, welche der Job, das Fernweh oder die Liebe in alle Teile des Landes verstreut hatte. Von der komfortablen Landstrasse musste er jetzt in einen kleinen holprigen Feldweg einbiegen, der seine alten Stoßdämpfer malträtierte aber einzige Zufahrt zur Farm der Tante war. Kurz vor dem Gatter nahm er noch seine Sonnenbrille ab. Mary war der Ansicht, nur böse Menschen trügen Sonnenbrillen, damit man ihnen nicht in die Augen sehen könne und das Schlechte darin erkennt. Auf dem Platz vor dem Farmhaus sah es aus wie an jeder ihrer liebevoll inszenierten Geburtstagspartys. Holzbänke und Stühle standen im Schatten des großen Apfelbaumes, überall hingen Fahnen und die Luft war erfüllt vom Geruch eines Bratens, der sich am Spieß des alten steinernen Holzkohlegrills drehte. „ Hallo, liebe Mary, und herzlichen Glückwunsch zu deinem neunundsiebzigsten!“ sagte John zu seiner Tante, die ihn herzlich an sich drückte und dann von oben bis unten musterte. „ Groß bist du geworden. Ein richtig feiner junger Mann bist du jetzt“ „ Ich bin fünfunddreißig und genauso groß wie vor zehn Jahren „, sagte er lächelnd und überreichte ihr den überdimensionalen Blumenstrauß mit dem blinkende „79“ Schild in seiner Mitte. Mary schaute mit ihrem „ Ich finds schön, verstehs aber nicht“-Blick auf die rotblinkenden Leuchtdioden . „ kann so was nicht anfangen zu brennen?“ „ Nein, mach dir da keine Sorgen! wie geht es Onkel Ben? Habe gehört er war im Krankenhaus?“ fragte John seine Tante vorsichtig. Er wusste, dass sich Ben nicht sehr wohl fühlte in letzter Zeit. Er hatte unter seinen kranken Kniegelenken zu leiden und war inzwischen gänzlich von Marys Hilfe abhängig. „ Sie haben seine Beine operiert. Alles gut gelaufen. “ „ Wann wird er entlassen“ „Oh, er ist schon draußen. Füttert wohl grad die Hühner. Doch jetzt begrüß doch die Anderen, ich kümmere mich derweil ums Essen“, sagte sie und ging mit der ihr eigenen Dynamik , die so gar nicht zu ihrem Alter passen wollte, auf den Grill zu. John begrüßte alle Anwesenden, zapfte sich ein Bier und setzte sich dann an den langen Holztisch, auf dem schon appetitliche Beilagen Lust auf den folgenden Braten machten. Wie immer saß ihm gegenüber sein Vetter Dick aus Ohio. Pomadiert und mit Goldschmuck behängt war er das Bild eines Gebrauchtwagenhändlers. Ein Platz in seiner Nähe war eine Garantie für einen unterhaltsamen Abend, schließlich bedurfte es eine Menge an Phantasie und Redegewandtheit Autos an den Mann zu bringen, denen der Tod schon in den Scheinwerfern stand. „ Für mich wie immer das größte Stück. Böse Menschen haben große Mägen!“ rief er Mary zu, die sich immer noch hartnäckig dem elektrischen Tranchiermesser verweigerte und mit 19
einem altmodischen Sägemesser den Braten bearbeitete. Johns Cousine Marsha brachte wie immer das knusprige Fleisch auf Papptellern zum Tisch, obwohl sonst eher emanzipiert, sah sie an Marys Ehrentag seit Jahren ihre Rolle als Bedienung der Anwesende Gäste. Nach einer traditionell peinlichen Geburtstagsrede, die wie immer der ewig angetrunkene Onkel Will hielt , begannen alle mit dem Essen. „ Zäh wie Leder!. Todesursache Altersschwäche“ unkte Dick und kaute mit einem theatralisch Leidenden Gesichtsausdruck auf dem Fleisch herum. Er sagte das was wohl alle dachten, doch hätte es wohl niemand gewagt, der armen Tante einen Vorwurf bezüglich der Fleischqualität zu machen. „ Köstlich, ganz hervorragend!“ rief nur Erik Wilsson, Düngemittelpilot aus dem nahegelegenen Harpersville, der die Hälfte seiner Nutzlast als Speckring um die Hüften trug und offensichtlich über keinerlei Geschmacksnerven verfügte. Er hatte sein Fleisch bereits hinuntergeschlungen als die anderen Gäste noch tapfer kämpften, doch anstatt froh zu sein es hinter sich gebracht zu haben stand er doch tatsächlich auf um Nachschlag zu holen. „ Der frisst auch Heuschrecken“ feixte Dick und tippte John dabei gegen das Schienbein. An seinem gequälten Lächeln konnte dieser jedoch sehen, das auch Dick Mittlererweise mit dem langsam einsetzenden bitteren Nachgeschmack des Fleisches konfrontiert wurde. Beide sahen sich kauend in die Augen und beiden kam plötzlich derselbe Gedanke: „Bittermandel!“ klang es wie aus einem Munde. Beide sprangen von bösen Vorahnungen getrieben auf und hasteten auf den Grill zu, der am Ende des Gartens stand. „ Mein Gott, Erik!“ rief John. Erik kniete in seinem Erbrochenen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Bratenrest, der sich noch immer über dem Holzkohlefeuer drehte. „ Jesus!“ rief der sonst wenig zum Christentum neigende Dick und deutete mit zittriger Hand auf den inzwischen fast fleischlosen Braten, in dessen Mitte ein fetttriefendes, vollverchromtes Präzisionskunstkniegelenk die sommerliche Mittagssonne reflektierte. „ Tante Mary! „ ging es beiden durch den Kopf. Beide unterdrückten nur mit Mühe den Würgereiz, der durch den mallig bitteren Nachgeschmack des Fleisches hervorgerufen wurde und rannten in die Küche des alten hölzernen Farmhauses. Zögerlich betraten beide den Raum, welcher nur von einer flackernden schwachen Glühbirne beleuchtet wurde. „ Nichts, niemand da!“ sagte John mit vor Anspannung zitternder Stimme. „Vielleicht im Raum mit der Kühltruhe“ antwortete Dick und deutete auf die Holztür am anderen Ende der Küche. Knarrend öffneten sie die Tür und blickten in die ebenfalls dürftig beleuchtete Fensterlose Speisekammer des Hauses. Am anderen Raumende stand die große Tiefkühltruhe mit offener Tür. Sie unternahm den verzweifelten Versuch die gesamten Vereinigten Staaten auf die eingestellte Temperatur von minus zehn Grad zu kühlen und erfüllte dabei den gesamten Raum mit dem Surren ihrer Kühlaggregate. Vor der Truhe erblickten sie die ordentlich nebeneinander aufgereihten roten Schnallenschuhe ihrer Tante. Beide fassten allen Mut zusammen und beugten sich über die dampfende Kühltruhe. Was sie sahen würde ihnen noch viele schlaflose Nächte bereiten und für so manche Stunde an Psychologensofas fesseln. Auf tiefgefrorenem Gemüse und Fleisch gebettet lag da ihr jetzt einbeiniger, mit Eiskristallen überzogener Onkel Ben in seinem Sonntagsanzug. Tante Mary lag in einer letzten versöhnlichen Geste tot in seinen Armen, in ihrer Hand noch das bitter riechende Fläschchen mit dem Zyankali. Geschockt sahen sich beide an und gingen ohne ein Wort zu sagen, langsam in den Garten zurück. Sie hatten schon Menschen zusammen weinen, lachen oder singen sehen, aber vor ihnen sahen sie zum ersten mal eine vierzigköpfige Festgemeinschaft miteinander erbrechen. Ein alter Cadillac raste mit verschlossenen Fenstern durch die im Sommerwind wogenden 20
Maisfelder Nebraskas. Sein Fahrer hatte den Blick für diese ländliche Schönheit verloren und erlag dem gängigem Irrtum, durch schnelles Fahren seinen Problemen entrinnen zu können. Wundern sollte uns das nicht, denn die letzten drei Stunden hatten ihn nicht nur zu einem unfreiwilligen Vegetarier auf Lebenszeit gemacht . Schlimmer war, das ihn ihm eine Frage zu nagen begann, die ihm nur eine Tote hätte beantworten können . Jene hoffnungslose Frage, die er sich bis ans Ende seines Lebens stellen würde. WARUM? .
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Die Heimkehr der Hexe von Liane Lehnhoff
Herzlosigkeit hat viele Masken. Drik erfährt die Wahrheit erst durch die Ankunft der seltsamen Fremden...
Wabernd stieg die Luft aus dem heißen Tal hoch und schwebte flirrend über dem Plateau. Langsam und rhythmisch bewegten sich die drei Gestalten in einem Tanz beschwörend um die kompliziert gelegten Muster nach der Melodie ihrer leisen Beschwörungen. Drik wagte sich in seinem Versteck nicht zu bewegen Wie konnte er nur unbemerkt verschwinden? Seine Großmutter hatte ihm schon oft von Bauern erzählt, denen es schrecklich erging, weil sie versucht hatten, die Hexer zu belauschen. Jeder kannte die alten Geschichten und nahm sich in acht. Warum musste das ausgerechnet ihm geschehen? Er wollte diese Fremden gar nicht belauschen. Er hatte sich nur wie schon so oft an seinem Lieblingsplatz unter dem alten Haselnussbusch versteckt und davon geträumt sein Leben nicht als Hirte in den Bergen verbringen zu müssen. Er stellte sich vor, wie er in die Welt hinaus zog, wo er die lustigsten und schönsten Abenteuer erlebte, dass er in die Schule gehen und alles, was ihn interessierte, lernen durfte bis er sogar alle geheimnisvollen Bücher lesen durfte, um alle kranken Tiere heilen zu können. Dabei war er eingeschlafen. Plötzliche Stille ließ ihn den Atem anhalten. Die drei traten in den Kreis, erhoben langsam die Hände in einander verschlungen und verharrten bewegungslos. Ein helles Leuchten schien die Gestalten zu umhüllen, während ein leiser, sanfter Klang aus dem fernen Tal herauf drang, immer lauter wurde und sich zu einer zarten Melodie wandelte. Die Fremden bewegten sich wieder im Rhythmus des Liedes, erst langsam, dann mit dem steigenden Tempo der Melodie immer wilder in einem alten Beschwörungstanz bis die Melodie abrupt verlosch und die drei Tänzer ebenso reglos wie zu Beginn, von dem geheimnisvollen Licht umflutet, im Kreis standen. Drik musste niesen. Mit einem Schlag war der Zauber vorbei. “Was war das?” drang eine tiefe Stimme zu ihm. Die Hexer, denn nur um solche konnte es sich handeln, liefen den Hang herauf zu seinem Versteck. In wilder Panik schoss der Hirtenjunge unter dem Haselnussbusch hervor. Wie ein Wiesel rannte er in Richtung Wald. Im dichten Unterholz kannte er sich aus wie sonst niemand. Nur noch diesen flachen Hang hinab und die Lichtung mit seinen Schafen überqueren, bevor er im Wald verschwinden konnte. Doch die drei Fremden waren schneller als er. Trotz seines guten Vorsprungs holten sie ihn kurz vor dem Waldrand ein. Mit eisernem Griff schloß sich eine große Hand um seine Schulter und hielt ihn fest. Dieselbe dunkle Stimme, die ihn aus seinem Versteck gejagt hatte, sagte: “So, mein Bürschchen. Du wolltest wohl unsere Beschwörung belauschen?” “Nei-nein Herr. I-Ich wollte euch nicht belauschen. Ich bin nur Drik, der Hirte. Ich wollte ich mir einen Bogen aus Nusszweigen schneiden und bin den Abhang hinauf geklettert. Dort bin ich wohl eingeschlafen. Plötzlich wart ihr auf dem Plateau, und ich wagte nicht mehr, mich zu bewegen”, vor Angst um Luft ringend, stieß Drik die Worte heraus. Mit zitternder Stimme bat er: “Bitte glaubt mir. Ich wollte nichts Böses. Tut mir nichts.” Dabei liefen die Tränen über seine Wangen und hinterließen zwei schmale Spuren auf dem erdverschmierten Gesicht. “Bist du nicht der Sohn des Hirten Andosch?”, fragte eine helle, weiche Stimme. Erstaunt sah Drik hoch. Die beiden anderen Gestalten waren Frauen. Ein wenig Hoffnung stieg in ihm 22
hoch. Vielleicht waren es doch keine Hexer, er wußte auf alle Fälle nichts davon, dass auch Frauen in dieser Zunft zugelassen waren. “Oh, oh, ja”, antwortete er, hastig mit dem Kopf nickend. Dann brach die Hoffnung aus ihm hervor: “Ihr seid ja Frauen. Meine Großmutter hat immer nur von Hexern erzählt. Seid ihr gar keine Hexer?” Unsicher betrachtete er die Fremden in den weiten, schweren Mänteln. “So, so deine Großmutter hat dir von Hexern erzählt”, ergriff der Mann wieder das Wort, “und nach deiner Angst zu urteilen, hatte sie nichts Gutes über uns zu berichten?” Drik wußte nicht was er sagen sollte. Es waren also doch Hexer, das konnte nichts Gute bedeuten. Doch ihr bisheriges Verhalten flößte ihm wieder Mut ein. Bisher war ihm nichts geschehen. Er war weder in ein Tier noch in einen Stein verwandelt worden, noch sonst irgendwie gestraft worden. Hatte seine Großmutter doch nicht recht? Da kamen ihm das erste Mal seit Jahren wieder, lang vergessene Worte seiner Mutter in den Sinn. Sei freundlich zu Fremden und teile mit ihnen dein Brot. Dieser Gedanke irritierte ihn. Es machte ihn traurig, an seine Mutter zu denken, denn obwohl er sich kaum an sie erinnern konnte, fehlte sie ihm. Ohne zu wissen warum, befolgte den Rat. Mit etwas festerer Stimme fragte er: “Wollt ihr mit zu meiner Herde kommen? Ich habe Brot, Äpfel und Hollundersaft. Beim Essen kann euch erzählen was mir meine Großmutter über Hexer und Zauberer gesagt hat. Wenn ihr es wirklich wissen wollt.” Das Lachen des Mannes klang warm und gar nicht gefährlich. “Du gefällst mir. Dein Mut ist nicht so leicht unterzukriegen. Deine freundliche Einladung nehmen wir gerne an.” Auf dem Weg zu seinem Hirtenlager am anderen Ende der Lichtung beobachtete er die Fremden genau. Es war nichts Beängstigendes an ihnen zu entdecken. Sie sprachen leise miteinander, von Lachen unterbrochen. Ob sie sich über ihn lustig machten? Am Zelt angekommen bewirtete Drik seine Gäste mit allem was er hatte. Als Dank zauberten sie honigglänzende Süßigkeiten aus den Weiten der Mäntel hervor. Seit seine Mutter weg war, hatte er keine Süßigkeiten wie diese bekommen. Was war heute los mit ihm? Schon zum zweiten Mal dachte er an seine Mutter. Doch die Trauer, die ihn früher dabei überfallen hatte, blieb heute aus. Nach dem Essen erzählte er all die schaurigen Geschichten, die er von seiner Großmutter an den langen Winterabenden gehört hatte. Er berichtet wie unschuldige Bauern und Hirten von bösen Zauberern in Steine, Bäume oder Tiere verwandelt worden waren, oder wie Hexer in Gestalt von Werwölfen ganze Herden gerissen hatten. Ihm waren bei den Schilderungen der Untaten immer die Haare zu Berge gestanden. Auch jetzt fühlte er sich nicht sehr wohl in seiner Haut, aber seine Gäste fanden seine Erzählungen gar nicht fürchterlich. Immer häufiger unterbrachen sie ihn lachend mit einer scherzhaften Bemerkung. Als er geendet hatte, meinte die jüngere der Frauen: “Du armer Kerl mußt ja zu Tode erschrocken sein, als wir dich entdeckten. Es stimmt, wir mögen es nicht, beobachtet zu werden, aber wir sind keine so schrecklichen Gestalten, wie du glaubst.” Drik verstand nichts mehr. Die Fremden gaben zu, Hexer zu sein, doch sie schienen ganz und gar nicht böse zu sein. Nettere Leute hatte er selten getroffen. Stimmte etwa nicht, was ihm seine Großmutter erzählt hatte? “Wann gehst du heute Abend nach Hause?” unterbrach die Stimme des Zauberers seine Überlegungen. “Wenn die Sonne den Gipfel dieses Berges berührt, beginne ich mit dem Abstieg, dann schaffe ich den Weg zu unserer Hütte noch rechtzeitig vor der Dunkelheit”, antwortete Drik, indem er auf einen hohen Bergkamm zeigte. 23
“Wir werden dich heute begleiten, deine Großmutter interessiert uns. Sie kann uns anscheinend nicht ausstehen und hat dir wohl oft Angst gemacht mit ihren Geschichten. Trotzdem hast du uns bewirtet. Dafür danken wir dir herzlich”. “Oh, sie hätte euch nichts gegeben. Bevor sie einem Fremden etwas gibt, versteckt sie lieber das Brot.” Erschrocken schlug sich Drik auf den Mund. So hatte er noch nie über seine Großmutter geredet. Es war die Wahrheit, doch bisher hatte er nicht gewagt, ihr Tun in Zweifel zu ziehen, oder gar Fremden gegenüber zu erwähnen. Hastig begann er, seine Schafe zu versorgen, damit er nicht noch so etwas Ungehöriges von sich gab. Dabei überschlugen sich wirr die Gedanken in seinem Kopf. Behexten ihn die Fremden, dass er solche Dinge sagte? Oft hatte er sich geschämt, wenn seine Großmutter Fremden, die sich in den Bergen verirrt hatten und um Unterkunft baten, Geld abverlangte oder sie weiter schickte. Auf seine Frage warum sie das tat, bekam er nur zur Antwort:” Weil du auch nicht hungern willst, wegen der Bande, die sich hier herum treibt.” Mehr hatte sie nie dazu gesagt. Die drei Magier ruhten sich unterdessen im Schatten eines alten, knorrigen Baumes aus. Immer wieder warf er ihnen verstohlene Blicke zu, aber er schwieg . Hatten sie etwas damit zu tun, dass er die schroffe und geizige Art seiner Großmutter jetzt anzweifelte? Bisher hatte er sein Leben hingenommen und war in seine Träume geflüchtet, wenn ihm alles zu traurig und sinnlos vorgekommen war. Er hatte nie gedacht, etwas daran zu ändern. Woher kam dieses seltsame Gefühl von Hoffnung plötzlich? Auf dem Weg zur Hütte hüllte sich Drik der Hirtenjunge in Schweigen. Immer noch ließen ihm seine Gedanken keine Ruhe. Er hätte gerne jemanden um Rat gefragt, wagte aber nicht, die Hexer mit seinen Fragen zu belästigen. Als sie das Hochplateau, auf dem die Hütte stand, schon fast erreicht hatten, holte der Hexer ihn ein. Mit freundlichem Ton sprach er ihn an: “Ich habe dich ein wenig beobachtet. Du stellst dich recht geschickt an, Junge, wirst du bald ins Tal kommen und ein Handwerk lernen?” Traurig schüttelte Drik den Kopf: “Nein, mein Vater ist arm und kann kein Lehrgeld bezahlen. Ich werde Hirte wie er.” Nun waren auch die beiden Frauen näher gekommen. “Ist das auch dein Wunsch?” fragte ihn die ältere Frau. “Wer fragt schon nach meinen Wünschen. Ich kann ein wenig Lesen und Schreiben. Das macht mir großen Spaß, aber es ist nur etwas für die Reichen. Ich kann nicht weiter lernen, das zu teuer.” Er beschleunigte seine Schritte, solche Fragen beantwortete er nicht gerne. Woher wußten die Hexer nur von seinem Traum, lernen zu dürfen? Kurz darauf erreichten sie ihr Ziel. Drik lief in die Hütte, seiner Großmutter zu sagen, dass er Fremde mitgebracht hatte. Die Wartenden hörten bald das laute Gekeife, das er zur Antwort bekam. Noch immer vor sich hin schimpfend schlurfte eine gebeugte Gestalt heraus. “Was habt ihr hier verloren, ihr stehlt mir nur die Zeit. Verschwindet wieder”, schrie sie die Fremden an. “Ich muß für die Meinen sorgen, ich will keine Gäste, also packt euch!” Die Zauberer blieben ruhig stehen, und die Alte wurde immer lauter. “Hört ihr nicht ihr sollt hier verschwinden, es ist noch hell genug, dass ihr in das Tal kommt.” Schließlich lockte der Lärm der Alten auch den Hirten Andosch von dem Pferch, den er für den Winter baute, zu den Fremden. Bei der Gruppe angekommen fragte der melancholische Mann seine Mutter: “Was ist geschehen, warum regst du dich so auf, tun dir die Fremden etwas?” In diesem Moment blickte er zu den Ankömmlingen. Erschrocken hielt er inne, dann flüsterte: 24
“Eli, du...”. Weiter kam er nicht, denn der Hexer unterbrach ihn: “Du erkennst sie also? Das ist recht. Wir sind hier um die Wahrheit zu finden.” Er wandte sich mit unheimlich gebietender Stimme an die Alte: “Du wirst uns die Wahrheit berichten” Wie mit unsichtbaren Mächten kämpfend stand sie gebeugt und trotzig vor ihnen und schwieg. Der Zauberer streckte den Arm zu ihr aus und befahl: “Rede!” “Ihr sollt die Wahrheit erfahren. Ich schäme mich nicht und bedaure nichts. Es war vor acht Jahren. Diese Frau war von Anfang an nichts für meinen Andosch”, dabei zeigte sie auf die ältere Frau. “Sie ist aus den Tälern im Süden und gehört nicht hier her. Alles machte sie anders als die Leute hier. Zudem wollte sie mir Andosch und das Kind nehmen und mit ihnen zu ihren Leuten in die fremde Stadt zu gehen. Das konnte ich nicht zulassen. Andosch arbeitete bei den Holzfällern, denn zum Fortgehen fehlte ihnen das Geld. Er bildete sich ein, in der Stadt könnte er Tiere heilen, weil er darin sehr geschickt ist. Sie unterstützte ihn bei diesen nutzlosen Träumereien und schwärmte ihm immer wieder vor, wie gut sie in der Stadt leben könnten. Mit ihrer süßen, betörenden Stimme setzte sie ihm dauernd solche Flausen in den Kopf. Ha, aber ich wußte, dass er nicht glücklich geworden wäre. Er gehört in die Berge, genau wie ich. In einer Stadt, wo alle so eng aufeinander sitzen ohne Luft und Platz, kann er nicht leben.” Hier unterbrach sie sich kurz, um vor der älteren der beiden Frauen auszuspeien. “Ja, die Hexe meine ich. Als Andosch weg war, erwischte ich sie dabei, wie sie anfing, magische Muster zu legen und hexend ein Lämmchen zu heilen. Da war mir gleich vieles klar. Ich sagte ihr 'Ich dulde keine Hexe in meinem Haus!' Doch sie lachte mich nur aus. Das sollte sie büßen. Ich überlegte, was ich tun konnte. Sie einfach fort zu jagen genügte nicht. Sie hätte meinen Sohn und das Kind mitgenommen. Sie musste endgültig und alleine verschwinden, damit sie nicht wiederkommen konnte. Eines Abends sagte ich ihr, unsere Nachbarn hätten nach ihr geschickt, während sie im Wald war, Holz zu sammeln. Gutgläubig wie sie war, lief sie sofort los. Ich folgte ihr heimlich. Dann stieß ich sie vom Felsen in den Fluß, das konnte niemand überleben. Als Andosch von den Holzfällern zurückkam, erzählte ich ihm, sie wäre mit einem Jäger davongelaufen, mit dem sie schon länger eine Liebelei gehabt habe und sie hätte sich über ihn und seine Armut recht lustig gemacht. Er wollte mir nicht glauben und suchte sie bis er kein Geld mehr hatte, dann musste er hier bleiben.” Die alte gebeugte Gestalt stützte sich schwer auf ihren Stock. Mit zusammengekniffenen Lippen, trotzig und starr blieb sie vor den Zuhörern stehen. Ohne zu warten, ob sie fertig war, schloß der Fremde an: “Ich fand Alys, so nannten wir Eli bis vor kurzem, damals halb tot am Ufer des Flusses, nahm sie mit nach Hause und pflegte sie gesund. Sie erinnerte sich lange an nichts außer ihre magischen Heilkunst. Dadurch entwickelte sie sich schnell zu einer geschickten und mittlerweile sehr gefragten Heilzauberin. In den letzten Jahren waren in unserem Tal mehrere Rinder- und Schafseuchen zu behandeln. Ohne Elis Hilfe hätten wir es nicht geschafft. Sie lebte sich schnell in unserem Haus ein. Im Nu hatte ihre ruhige Art unsere Herzen erobert. Wir freuten uns sehr, dass sie bei uns blieb, auch wenn wir ihre Trauer über ihre verlorene Vergangenheit gern gelindert hätten. In diesem Frühjahr brach endlich der Bann, der ihre Erinnerung verschüttet hatte. Zuerst wußte sie ihren Namen wieder, dann kam bruchstückweise die Erinnerung an ihre Vergangenheit zu Tage. Eli konnte sich an einen lieben Mann und einen braven Sohn erinnern, aber sie konnte weder den genauen Ort, an dem sie gelebt hatte, noch die Person, die 25
an ihrem Unglück schuld war, nennen. Heute Nachmittag beschworen wir einen alten Wahrheitszauber, um endlich auch das herauszufinden. Dabei stießen wir auf Drik. Ich verfolgte ihn, um zu sehen, ob er uns schaden wollte. Als Eli ihn sah, erkannte sie ihn sofort. Während er die Tiere versorgte, erzählte sie uns, woran sie sich neu erinnerte. So entschlossen wir uns, nicht mehr zu warten und begleiteten Drik hierher.” Niemand hatte dabei auf Drik geachtet. Am ganzen Körper zitternd saß er auf einem Baumstumpf, leise vor sich hin murmelnd : “Es ist nicht wahr, ich träume nur.” Plötzlich sprang er auf, lief auf die ältere fremde Frau zu und flüsterte: “Bist du wirklich meine Mutter, du siehst so anders aus?” Sie legte lächelnd den Arm um ihn: “Die Zeit verändert, auch du warst schwer wiederzuerkennen.” Drik löste sich schwer. Doch dann lief er wütend zu seiner noch immer starr dastehenden Großmutter. Mit geballten Fäusten schrie sie an: “Dir habe ich alles geglaubt, doch du hast mich nur angelogen. Nichts von dem, was du sagst, ist wahr. Du hast mir gesagt, meine Mutter hätte uns nicht mehr gemocht und sei mit einem fremden Mann davongelaufen, bloß damit wir dich mehr mögen als sie. Du böse, dumme, alte, eifersüchtige Frau du. Ich will nichts mehr von dir wissen.” Drik versagte die Stimme, denn die Tränen liefen ihm über das Gesicht, und heftige Schluchzer schüttelten ihn. Andosch ging zu seinem Sohn und nahm ihn tröstend in die Arme, wie ein kleines Kind, auch wenn der Junge nur einen Kopf kleiner war als er. Zaghaft näherte sich Eli ihnen. Es fiel ihr schwer nach all den Jahren, in denen sie ihre Identität gesucht hatte, die richtigen Worte zu finden für die Menschen, die sie liebte. “Wir können neu anfangen, wenn du dazu bereit bist. Ich habe dich nie verlassen, und seit ich dich wiedergesehen habe, weiß ich auch, warum mir kein anderer Mann gefallen hat.” Sie wandte sich an ihren Sohn, der sich nur langsam wieder beruhigte. “Manchmal ist es sehr schwer, mit der Bosheit anderer auszukommen. Dein Vertrauen in die Menschen deiner Familie wurde erst durch die Lügen deiner Großmutter und jetzt durch die Aufdeckung dieser Lügen zerstört. Ich hoffe du willst es trotzdem noch einmal mit uns zu versuchen. Ich kann dir das Vertrauen nicht wiedergeben, aber ich habe ein Haus und die Erlaubnis, Menschen und Tiere zu heilen, und du könntest in der Stadt die Schule besuchen und einen Beruf lernen.” Schüchtern legte er einen Arm um seine Mutter, den anderen um den Vater und nickte. Der Hexer erhob nochmals die Stimme gegen die Alte, die immer noch unbeweglich vor ihnen stand. “Du sollst zur Strafe hier allein leben müssen und über dein Unrecht nachdenken.” Andosch lief in die Hütte, um seine und Driks wenigen Habseligkeiten zu holen. Schnell hatte er auch seinen Teil der Herde um sich geschart. So machten sie sich noch vor der Dämmerung an den Abstieg. Am Waldrand bekam Drik Mitleid mit seiner Großmutter. Trotz allem war sie ihm die letzten Jahre wie eine Mutter gewesen. Er drehte sich noch einmal um, da sah er die alte Frau wilde Verfluchungen ausstoßend ihren Stock hinter ihnen schwingen. Nein, zu dieser harten, unbeugsamen Alten wollte er nicht zurück. Schnell blickte er wieder nach vorne, in die sich plötzlich eröffnende Zukunft. Jetzt konnten seine Träume doch noch wahr werden. Er schien zu den Leuten zu gehören, denen das Beobachten von Hexern Glück brachte, aber vielleicht war das immer so.
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Auf gute Nachbarschaft von Sebastian Pähler
Feiert man in diesem kleinen Städtchen wirklich nur harmlose Barbecues, oder etwa Hexenmessen? Robert und seine Mutter schätzen das unterschiedlich ein...
Regen fiel als die neuen Nachbarn in das alte Haus der Dees zogen. John war Vorsitzender der Nachbarschaftshilfe und beobachte den polierten, aber altersschwachen Buick mit Argwohn, als dieser sich ächzend die aufgeschwemmte Einfahrt zum Anwesen hoch quälte. Johns Frau Melissa trat zu ihrem Mann ans Fenster und beobachtete mit ihm die seltsamen Gestalten, welche aus dem Wagen stiegen. Der Fahrer trug einen biederen, grauen Anzug und unterdrückte einen Fluch, als er mit seinen lackglänzenden Schuhen in eine Schlammpfütze trat. Er war gerade halb so alt wie John, doch war die Zeit zu ihm nicht so gnädig gewesen wie zu Melissas Mann. Sein Gesicht war schon durchzogen von Sorgenfalten und sein Haar lichtete sich bereits an Hinterkopf und Stirn. Der Mann umschritt das Auto und öffnete der Beifahrerin die Tür. Die Dame trug einen burgunderfarbenen Mantel mit einem üppigen Fellkragen und ihr gegerbtes und faltiges Gesicht schien versteinert und älter als die Zeit selbst. Sie rümpfte die Nase und zog ihren Begleiter zum Haus. Melissa schauderte: „Wer Pelze trägt, der frisst auch kleine Kinder!“ John schaute sie böse an: „ Komm Liss, manche wissen es halt nicht besser. Ich werde mir die Beiden morgen mal anschauen. Guten Tag sagen und die Lage erkunden.“ Am nächsten Morgen brachen verirrte Sonnenstrahlen durch eine graue Wolkendecke. Die Luft war kühl und feucht und John streckte sich auf der Veranda seines Hauses. Er griff sich einen Korb mit selbstgebackenem Brot und Obst aus dem eigenen Garten und überquerte die Straße zum alten Dee Haus. Er klopfte kräftig. Einen Augenblick später sah Melissa, wie ihr Mann im Dunkeln hinter der Tür verschwand. Liss war schon bei den Vorbereitungen des Mittagessens, sie wusste, dass ihr Mann auf sich selbst aufpassen konnte, dennoch begann sie sich langsam zu sorgen. Sie schnitt gerade Kartoffeln, als die Tür aufsprang und John mit bleichem Gesicht in die Küche stürmte. Sein Blick war voller Besorgnis und Melissa erschrak so, dass sie das Messer fallen lies. „Wir haben ein Problem, Liss. Die ganze Stadt hat ein Problem.“ „Was ist los John, sind sie etwa Psychopaten, Mörder oder Großstadtmenschen?“ Doch John antwortete voller Schauder: „Nein, schlimmer, sie sind konservativ.“ Robert Mc´Mulligan war nervös, als er seiner Mutter Sophia eine Tasse Tee eingoss. „Diese Leute in diesem Kaff sind mir höchst suspekt“, begann sie mit kratziger Stimme. „Ich wollte hier ja niemals hin ziehen aber du...“ „Mutter!“, unterbrach sie Robert harsch. „Wir können uns im Augenblick in Atlanta kein Haus dieser Größe leisten.“ „Ich habe mein ganzes Leben gespart, aber du verjubelst alles.“ „Ich habe das Geld nicht verjubelt, Mutter. Ich brauche es um zu spekulieren. Ich bin Börsenmakler, Mutter.“ „Pappalapap! Aber mach nur, was du meinst. Ich bin alt, mein Leben ist bald vorüber, was soll es mich stören. Aber dennoch, die Leute hier sind merkwürdig. Schau doch nur mal aus dem Fenster! Keine Autos und schau da drüben, kein Rasenmäher, der man benutzt eine Sense! Und dieser John, der ist ja wohl der schlimmste.“ „Mutter, das ist eine Kleinstadt, da sind die Menschen etwas zurück, und dieser John war doch freundlich.“ 27
„Das ist es ja gerade. Ich kann solche Leute nicht ausstehen. Er kennt uns ja gar nicht. Hat er keine Freunde zu denen er freundlich seien kann? Und der Korb, glaubt er, dass wir es nötig hätten, außerdem könnte einer von uns gegen Weizen oder Äpfel allergisch sein.“ „Mutter, misstrau doch nicht immer allen Menschen.“ Sophia prustete: „Du wirst schon sehen.“ Am Abend saß Sophia mit ihrem Opernglas am Fenster und beobachtete die Umgebung. Auf einmal schrie sie auf: „Polizei, ruf die Polizei, der Mob rottet sich zusammen.“ Robert sprang von seinem Schreibtisch auf und hetzte panisch zum Fenster um dort die Stirn zu runzeln und seiner Mutter beruhigend die Hand auf die Schulter zu legen: „Mutter, die rotten sich nicht zusammen. Sie doch, die veranstalten ein Barbecue. Dort bringt einer Benzin und das ist nur eine Kiste Bier.“ „So meinst du? Warum laden sie uns dann nicht ein? Sag mir nicht, dass ich eh nicht hin wollte, das weiß ich selbst, aber der gute Ton gebietet es, uns wenigstens zu fragen und bei so grauenvoll freundlichen Leuten erst recht.“ John begrüßte seine Gäste, sie waren die Mitglieder der Nachbarschaftshilfe und repräsentierten die ganze Stadt. Wann immer etwas für Alle im Ort von Belang war, trafen sie sich bei Melissa und ihrem Mann. Im Garten setzten sie sich auf Stühle und Bänke. Bier, Wein und Limonade wanderten und Wilson, der Mann von der Tankstelle, entfachte ein Feuer im Grill. John richtete sich an seine Nachbarn: „Die neuen Nachbarn machen mir Sorgen, sie könnten uns ernsthafte Schwierigkeiten bereiten. Wir können versuchen sie nichts Merken zu lassen, früher oder später werden sie ohnehin weiter ziehen, nur wann wird das sein?“ Melissa, die am Grill stand und wie hypnotisiert in die Flammen starrte, drehte sich zu ihm um: „Ich sehe nicht, dass sie sobald gehen werden und ich glaube auch nicht, dass man den Mc´Mulligan viel vormachen kann. Ich sehe keine Patent-Lösung, aber die Lage ist nicht hoffnungslos. Wir sollten eine Weile warten und schauen wie sich die Sache entwickelt.“ Einige Wochen später war es für die alte Dame Mc´Mulligan ein allabendliches Ritual die Nachbarn zu beobachten. Mittlerweile hatte sie sich sogar von ihrer Schwester einen Feldstecher schicken lassen um auch ja keinen Haushalt unbehelligt zu lassen. Sie rief ihren Sohn herbei und begann zu erklären: „Schau nur sie treffen sich wieder im Wald zu einem ihrer dunklen Messen, und schau, wie sie gekleidet sind. Da unter ihren Mänteln, siehst du die dunklen Roben und den Federschmuck? Die Frauen hingegen tragen darunter fast gar nichts. So etwas gehört sich nicht.“ „Ach Mutter, vielleicht gehen sie zu einer Halloween Feier.“ „Pappalapap, Halloween ist erst in einem Monat. Ich habe sie jetzt lange genug beobachtet um zu wissen, was da läuft. Ich habe alles in einem Tagebuch nieder geschrieben. Wenn ich sterbe oder anderweitig verschwinde, dann lass es der Polizei zu kommen. Nun schau mal genau hin. Der Mann mit dem Sack ist der Bauer Smith, er hat viele Hühner und ein paar Katzen, da fällt es nicht weiter auf, wenn er zwei, drei Mal im Monat davon welche opfert. Der Mann mit dem Kanister ist Wilson von der Tankstelle. Ein Tankwart mit einem Benzinkanister fällt auch nicht weiter auf. Damit gehen sie jetzt in das Wäldchen und zünden ein Feuer an um das sie nackt tanzen.“ „Das Wäldchen kannst du von hier doch gar nicht sehen, Mutter, außerdem ist das bestimmt wieder eins ihrer Barbecues.“ „Erzähl mir nicht, was ich sehen kann und was nicht, außerdem habe ich das Alles in dem alten Buch über Hexenflüche und Teufelskulte nachgelesen, das hat schon meiner Mutter gehört. Und, wenn das nur ein Grillen ist, was meinst du dann, ist in den Flaschen, die Misses Conner aus dem Feinkostladen da mit sich trägt? Kirschlimonade?“ „Eigentlich schon, Mutter.“ 28
„Pappalapap, das ist Blut. Vielleicht sogar das von Menschen. Ich habe heute Morgen gehört, dass in New York schon wieder zwei junge Mädchen verschwunden sind.“ „Ist New York nicht etwas weit weg, Mutter?“ „Als Nächstes willst du mir wohl noch erzählen, dass sie mit den Unwettern letzte Woche nichts zu tun hatten. Schon komisch das der halbe Staat verwüstet wird und ausgerechnet dieses unbedeutende Kuhkaff verschont bleibt.“ Robert räusperte sich: „Selbst, wenn sie heidnische Rituale durchführten, Mutter, in diesem Land herrscht Religionsfreiheit, du kannst da gar nichts ausrichten, solange du nicht beweisen kannst, dass sie anderen Menschen schaden.“ „Doch ich kann“, widersprach sie empört. „Ich werde die gerissensten und gnadenlosesten Bluthunde auf sie ansetzen, die diese unsere Welt zu bieten hat.“ Sophias Sohn schluckte: „Inquisitoren?“ „Nein, Anwälte“ Zwei Tage gingen ins Land bis es an Melissas und Johns Tür klopfte. John blickte aus dem Fenster und schaute auf zwei graue Gesellen, die durch ihre extreme Unauffälligkeit nicht zu übersehen waren. „FBI?“, fragte seine Frau und er drehte sich um und flüsterte: „Winkeladvokaten!“ Melissa öffnete mit aller Freundlichkeit die Tür. „Mam, Peterson & Hofman von Peterson, Hofman, Kratinsky & Söhne, wir sind beauftragt ihnen mitzuteilen, dass Mrs. Mc´Mulligan eine Klage gegen die Stadt und sie im besonderen anstrebt.“ Ihre Augenbrauen zuckten und ihre Stimme schien verwundert: „Eine Klage, was für eine Klage?“ „Nun“, begann einer der Männer so zögerlich, dass Liss und ihr Mann den Eindruck hatten, dass der Anwalt diese Sache entweder sehr oder überhaupt gar nicht ernst nahm, „Diskriminierung von Minderheiten. Genauer gesagt fühlt sie sich durch die Anrufung Satans, Belzebub und anderer namhafter Dämonen in ihrer Nachbarschaft in ihrem christlichen Glauben verletzt und fordert Unterlassung.“ Jon schaute zu Melissa, Melissa schaute zu Jon und beide waren sich im Klaren darüber, dass sie damit durchaus durchkommen konnte, ganz gleich wie haltbar die Anschuldigungen waren. Der Erfolg hing ganz davon ab wie viel sie den beiden juristischen Faktoten als Trinkgeld zuschob. Melissa bat die Männer hinein um die Dinge bei Kaffee und Kuchen etwas genauer zu besprechen. Es sollte eine ganze Woche vergehen, ehe die beiden Anwälte völlig verwirrt, schmutzig und bar jeder Erinnerung an die letzten 10 Tage, sechzig Meilen entfernt in der Nähe ihrer Kanzlei aufgefunden und anschließend von Mr. Kratinsky in den längst fälligen Urlaub geschickt wurden. Noch am Abend des Tages, da John und Melissa den unangenehmen Besuch hatten, trafen sie sich mit der restlichen Nachtbarschaftshilfe. Robert Mc´Mulligan versuchte seiner Mutter klar zu machen, dass sie wohl eine Taperparty feierten, doch die Rentnerin ließ sich nicht von dem Gedanken abbringen, dass sie nun versuchen würden, sie ins Grab zu bringen. „Alles was ich noch besitze geht ans Tierheim von Springinsfeld, wo meine Schwester wohnt. Denn du versuchst ja nicht einmal, mein Leben zu retten.“ „Mutter, dein Leben ist nicht in Gefahr, soll ich dir wieder etwas von dem Weihwasser holen, damit du dich sicherer fühlst?“ Sophia wedelte mit einem bekrickelten Blatt Papier: „So, nun reichst, mit dieser Unterschrift enterbe ich dich. Meinst du, ich hätte nicht gemerkt dass du es aus der Leitung holst. Die alten Rohre dröhnen jedes Mal, wenn du behauptest mal eben zur Dorfkirche im Nachbarort zu fahren. Ich werde bald sterben, ob die mich verfluchen oder nicht, aber nicht mal das ringt dir ein wenig Respekt ab.“ 29
Währenddessen herrschte eine Grabesstimmung bei der angeblichen Taperparty. Melissa hatte den anderen erzählt, was geschehen war und dunkle Mienen ließen die Atmosphäre abkühlen. John wanderte aufgeregt auf und ab, während die anderen tuschelten. Plötzlich blieb er stehen und erhob laut und klar die Stimme: „Wir haben keine andere Wahl mehr, wir müssen die Jäger auf sie ansetzen!“ Alle anderen schwiegen, aber einige nickten zustimmend. Robert saß des Mittags am abgeräumten Tisch und blätterte in dem alten Hexenbuch, welches seine Mutter ständig zu zitieren pflegte. Er überflog gerade eine Stelle, in welcher der Autor davon berichtete, dass moderne Hexen oft Haustiere, insbesondere Katzen, aus ihrer Nachbarschaft raubten oder von der Straße auflasen, um sie dann für ihre Opferrituale zu benutzen, als es an der Tür klingelte. Er legte die Lektüre zur Seite, schüttelte noch einmal den Kopf über soviel abergläubischen Blödsinn und öffnete. Sein Blick fiel auf einen Mann in einem blauen Overall, der einen Koffer mit sich trug. „Tach“, sagte der Fremde, „Ich komm von den Gaswerken. Die Jungs im Werk haben einen Druckabfall festgestellt. In ihren Leitungen könnte ein Leck sein.“ Robert horchte auf: „Ein Leck, dann kommen sie schnell, aber seien sie leise, meine Mutter hält gerade ihren Mittagsschlaf.“ Robert führte den Mann in den Keller und ließ ihn eine Weile allein. Die Sache schien ihm doch ein wenig seltsam und so griff er zum Telephon um bei den Gaswerken nach seinem Besucher zu fragen, doch die Dame am Apparat bestätigte die Geschichte des Besuchers. Noch bevor Sophia wieder aufwachte, war der Gasmann wieder gegangen, ohne ein Leck gefunden zu haben. Es verging eine erstaunlich ereignislose Nacht, fast erfrischend still, doch die Ruhe vor dem Sturm endete für Mr. Mc´Mulligan, als ihn ein grässlicher Schrei aus seinem Bett riss. Er erkannte sofort das schrille Kreischen seiner Mutter. Er rannte über den Korridor in ihr Zimmer und stolperte beinahe über den faltigen Läufer. Er riss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Sophia saß am Spiegel, ihr graues Haar, das sie sonst zu einem ordentlichen Knoten trug, hing durcheinander über ihre Schultern, einzelne Haare standen in alle Richtungen ab und im durch das Fenster fallenden Morgenlicht leuchtete ihre pergamentartige Haut leichenfahl. „Mutter, was ist mit dir, soll ich den Arzt holen?“ Mit zittriger Stimme begann sie zu stottern: „Je..., jemand war hier. Er hat meine Haarbürste gestohlen.“ Robert verzog das Gesicht missbilligend: „Hört das den niemals auf, Mutter? Niemand war hier und niemand will deine Bürste.“ „So, meinst du?!“, zischte die alte Dame und war von Jetzt auf Gleich wieder gefasst, aber hart. „Dann schau in dem Hexenbuch doch mal auf Seite 238. Da wirst du sehen, warum du besorgt sein solltest.“ „Steck dir dein Buch doch...“ Sophias Kiefer klappte auf als Robert diese Worte zu sprechen begann, dann fuhr er, vom Anblick seiner Frau Mutter eingeschüchtert leiser fort „...Ins Regal zurück!“ Mr. Mc´Mulligan war über die Paranoia Sophias dermaßen verärgert, dass er den gesamten Tag mit Arbeit verbrachte und nicht ein Wort mit ihr wechselte. Nicht einmal, als sie davon sprach ihn wieder ins Testament einzubeziehen, antwortete er ihr. Als es Abend wurde zog sich Mrs. Mc´Mulligan zurück. Sie sparte sich sogar die Observation der Nachbarschaft, die längst zu einem persönlichen Ritual geworden war. Ihren Sohn besänftigte das ein wenig und er räumte den Abendbrottisch ab. Beim Wechseln der Spitzendecke stieß er mit dem Arm gegen das Buch, das auf einem kleinen Tischchen lag. Es fiel zu Boden und klappte irgendwo in der Mitte auf. Er hob den schweren Wälzer auf und erkannte, dass er auf Seite 238 blickte. Wie aus einem Reflex oder durch eine übernatürliche Hand geleitet begann er zu lesen: 30
„Der Besitz einiger weniger Haare reicht für eine Hexe aus um magischen Einfluss auf eine Person zu erlangen. So reicht schon das verbrennen der Haare um dessen Besitzer große Qualen zu bereiten. Andere Rituale können grausamere Wirkungen zeigen und der Schutz gegen solche Manipulation ist schwierig oder zu Weilen unmöglich.“ Ein Aufblinken, gefolgt von dem lauten Quietschen von Autobremsen, lösten Roberts Aufmerksamkeit plötzlich auf sich. Er blickte durch die Gardine aus dem Fenster und sah dort, wie der Wagen seiner Nachbarn John und Melissa im Schein einer Laterne stand. Er sah den Schattenriss Melissas aussteigen und vor das Auto treten. Robert hörte ein Gewimmer, eine Art Miauen und tatsächlich, als die Gestalt für einen Augenblick das, was sie aufgehoben hatte in die Höhe hielt um es zu begutachten, erkannte Mc´Mulligan ein kleines Kätzchen. Die Zeilen, die er neulich gelesen hatte gingen ihm wieder durch den Kopf. Wie hieß es da noch? „Katzen von der Straße.“ Nein, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Er schlich sich durch die Hintertür nach draußen und beobachtete, wie der Wagen davonfuhr. Er folgte ihm ein paar Gassen bis in den kleinen Wald, wo er das Auto einen Pfad lang fahren sah. Zügig schlich er sich näher an die Lichtung, an der Melissa stehen geblieben war. Sein Herz pocht schnell, blieb aber jedes mahl stehen, wenn unter seinen Schuhen ein Ast zerbrach. Das wabernde Scheinen eines großen Feuers tauchte die Lichtung in Gelb und Rot. Die halbe Stadt war dort. Die meisten Mitbürger waren zu Roberts Entsetzen nur leicht oder gar nicht bekleidet und einige waren mit Blumen geschmückt und mit reichen Bemalungen versehen. Sie tanzten um die Flammen, sangen, hüpften, aßen und tranken. Einige warfen Dinge in die alles verzehrende Glut. Kornähren, Äpfel, Erde und Trauben. Irgendwann wurde seine Aufmerksamkeit von zwei menschgewordenen Erscheinungen gefesselt. Sie trugen dunkle Umhänge mit Kapuzen, die weit in ihre Gesichter reichten. Aus der Bewegung heraus hob und senkte sich der Stoff und Robert erkannte John und Melissa. Im tanzenden Licht der Heiligen Flammen schienen sie so stark, stattlich und jung. Melissa trug einen Beutel bei sich, aus dem sie zunächst eine Hand voll Blüten nahm, die in bunten Funken vergingen als sie die Hitze verzehrte. Dann zog sie eine Haarbürste hervor, Sophias Bürste. John hielt sie, während seine Frau die Haare aus den Borsten zog. Mit einer Spiegelscherbe schnitt sie sich in den Finger. Ein dicker, roter Tropfen quoll hervor und rollte auf den Büschel der nun lose auf der Bürste lag. Nun nahm sie den Griff an sich und John schnitt sich um sein Blut mit dem anderen zu mischen. Melissa begann mit einem lauten Singsang: „Oh Göttin, wir bitten Dich, nehme unsere Sorgen von uns.“ Schließlich sang der Chor ein starkes, bewegendes Lied, an dessen Höhepunkt die Haare in einer Stichflamme verglimmten. Robert drehte sich um und rannte. Er rannte durch den Wald, doch wo war er gelandet. Er irrte zwischen den Bäumen her, doch alles sah in der Wildnis gleich aus, wie ein Irrgarten aus hölzernen Fratzen, Blattgeistern und funkelnden Augen. Robert stolperte, stieß sich an einem Stein und... Was für ein grausiger Traum. Seine Mutter hatte ihn völlig irre gemacht und die kühle Morgenluft rieb ihm durchs Gesicht. Er öffnete die Augen und sah, gemalt in glühendem Rot, kupfernem Schimmer und strahlendem Grün den weiten Wald um sich. Das war kein Traum und sofort schoss ein Gedanke durch seinen Kopf, rollte sich über den Gaumen ab und bahnte sich in einem Aufschrei seinen Weg über die Zunge nach draußen. „Oh Gott, Mutter!“ Er lief wie ein wilder Hund, bis er den Straßenrand erreichte. Sofort steuerte er auf sein Haus zu. Die Tür stand auf und ein fremder Wagen stand vor der Einfahrt. Im Vorgarten hielt er einen Augenblick inne. Er wand sich zum Grundstück seiner Nachbarn. Was war das da auf der Veranda? Trank da etwa die Katze von gestern in aller Seelenruhe Milch? Mr. Mc´Mulligan zuckte zusammen als eine Hand ihn berührt. Er fuhr herum und war kurz schockiert, als er seine Mutter erblickte. Sie war unversehrt und lächelte. „Mutter, alles in Ordnung?“ Sie fasste ihn bei der Hand und zog ihn sachte mit sich: „Natürlich mein Junge, ich muss dir jemanden vorstellen.“ In der Tür stand ein Gentleman in Sophias Alter, er lächelte freundlich und grüßte Robert 31
förmlich. „Das ist Robert, mein Sohn, ich hab dir von ihm erzählt. Robert, das ist Timothy. Er hatte gestern Nacht eine Autopanne, genau vor unserer Einfahrt. Er ist Professor für Völkerkunde. Die Beiden waren auf dem Weg nach Atlanta, zu dem Grab seiner Frau, die er vor zwei Jahren verloren hat.“ Robert war verdutzt über das Betragen seiner Mutter, obendrein strahlte ihr ganzes Gesicht, selbst ihre Haut schien weicher und rosiger. Dann ordnete er seine Gedanken und fragte kurz: „Sie, Timothy und wer?“ Der Gentleman ergriff das Wort: „Ich und meine kleine Tochter Rose.“ Er schritt zu Seite und Robert erblickte die schönste Rose, die er je gesehen hatte. Ein Augenaufschlag und er war gerührt, ein Lächeln von ihr und er war auf ewig gefesselt. Melissa hatte die kleine Katze im Arm und schmiegte sich an John, der eine Teetasse hielt. Wilson von der Tankstelle kam zu den Beiden und zu dritt blickten sie auf das alte Dee Haus. Er zog einen Flachmann aus der Tasche und stieß damit gegen Johns Tasse: „Auf Gute Nachbarschaft!“
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Alles hat seinen Preis von Dietrich Gerstenberger
Susan hat endlich keine Kopfschmerzen mehr. Doch hinter der Genesung steckt eine unheimliche Wahrheit...
Ein vertrautes Gefühl stellte sich ein. Es war etwa elf Uhr vormittags, als Susan das Ziehen in ihrem Nacken bemerkte. Es würde jetzt nicht mehr lange dauern, bis der Schmerz sich über den Hinterkopf ausbreiten und schließlich in ihren Schläfen pochen würde. „Na Susan, ist es mal wieder so weit?“, fragte ihre Kollegin Simone. „Da wird ja wieder mal eine Menge Arbeit liegen bleiben.“ „Sieht fast so aus”, entgegnete Susan knapp. Sie öffnete die oberste Schublade ihres Schreibtisches und suchte hektisch nach ihren Schmerztabletten, die sie dort immer bereit hielt. Unter den Notizblöcken fand sie die Packung und öffnete sie. Eine Gänsehaut breitete sich über ihren Armen aus. In der Packung befanden sich nur noch zwei Tabletten. Das war ihre übliche Anfangsdosis, die aber sicherlich nicht länger als zwei Stunden aushelfen würde. Sie schluckte beide Tabletten ohne weiter zu zögern und trank etwas Wasser dazu. Jetzt musste sie nur noch abwarten, dass die Wirkung einsetzte und sich wie ein leichter Nebel über ihre Sinne legen würde. Statt dessen aber hämmerte der Schmerz im Rhythmus des Herzschlags weiter in ihrem Kopf. Die Tabletten schienen mit jedem Mal weniger Wirkung zu zeigen. Ihr Blickfeld war zwar schon ein wenig getrübt, aber das samtweiche Gefühl, das sonst zumindest für kurze Zeit ihre Schmerzen betäubte, blieb noch aus. „Ich gehe mal kurz vor die Tür“, sagte Susan. „Schön wärs“, entgegnete Simone. „Aber wir werden uns ja vermutlich nicht so schnell wiedersehen.“ Simone würde wohl Recht behalten, dachte Susan. Für gewöhnlich setzten ihre Schmerzattacken sie für wenigstens zwei Tage außer Gefecht. Ihr kam es vor, als würde sie über das Deck eines Schiffes im Seegang gehen. Sie wankte unsicher über den Flur in Richtung Lift, um dann zur Ebene mit dem Haupteingang zu gelangen. Die Sonne schien hell und Susan kniff die Augen zusammen, als die Kopfschmerzen intensiver wurden und wie viele tausend Nadeln ihren Kopf piesackten. Vorsichtig ging sie den Bürgersteig entlang hinüber zu einer Gruppe von Parkbänken. Eine von ihnen lag im Schatten einer dicht gewachsenen Eiche. Susan erreichte die Bank mit zittrigen Beinen und ließ sich dort nieder. Ihr Nacken hatte sich mittlerweile völlig versteift. Jede Bewegung jagte zusätzliche Schmerzen durch ihren Kopf und Rücken. Sie schloß die Augen und versuchte sich nur noch auf das Atmen zu konzentrieren. Zeit spielte keine Rolle mehr. Sie wusste nicht, ob die Wirkung der Tabletten schon wieder nachgelassen oder noch gar nicht wirklich eingesetzt hatte. Noch viel weniger wollte sie darüber nachdenken, wie sie wieder zurück ins Büro oder nach Hause kommen würde. Dann hatte Susan das Gefühl nicht mehr alleine zu sein. Sie öffnete vorsichtig ihre Augen. Sofort schoss wieder ein greller Schmerz durch ihren Kopf. Auf der anderen Seite der Bank saß eine ältere Frau, die sie aufmerksam zu beobachten schien. „Ihre Energieströme befinden sich nicht im Gleichgewicht“, eröffnete die Fremde das Gespräch. „Sie müssen starke Schmerzen haben.” Die Worte der Frau wirkten völlig unpassend. Doch durch ihre ruhige und bestimmte Art strahlte die Frau eine unglaubliche Lebensweisheit aus, die ihre Aussage unwiderruflich zu belegen schien. „Es ist mein Kopf“, begann Susan. „Ich leide immer wieder unter starken Schmerzen, die ich 33
mittlerweile mit Medikamenten kaum noch kontrollieren kann.“ „Ihre Medikamente werden auch niemals die Ursache ihrer Schmerzen bekämpfen“, sagte die Frau. „Wenn sie dagegen ihre Energieströme wieder ausbalancieren, werden die Schmerzen automatisch verschwinden.“ Erneut stieg Übelkeit in Susan auf. Sie schloss schnell die Augen, um wenigstens die visuellen Reize auszuschalten. „Ich beherrsche eine Technik, die der vor Jahrtausenden von Chinesen entwickelten Akupressur sehr ähnlich ist. Ich konnte sie bei mir selbst und bei vielen meiner Bekannten schon erfolgreich einsetzen. Wenn sie erlauben, würde ich gerne versuchen, Ihnen zu helfen.“ Susan zögerte zunächst. Was konnte diese Frau schon bewirken, was nicht schon diverse Ärzte, Heilpraktiker und Naturheilkundler in den vergangenen Jahren versucht hätten. Natürlich waren Tabletten nicht alles gewesen, was sie bisher gegen ihre Schmerzen versucht hatte. Aber sie waren bis vor kurzem das einzige gewesen, was zumindest zu einer gewissen Linderung geführt hatte. Heute jedoch, wie auch schon bei den letzten beiden Attacken, schienen ihre Pillen nicht mehr wirklich weiterzuhelfen. Schließlich nickte sie andeutungsweise, was erneut einen stechenden Schmerz zur Folge hatte. „Ich bin für jede Hilfe dankbar“, flüsterte sie. Die Frau erhob sich von der Bank und stellte sich unmittelbar hinter Susan. „Seien sie ganz entspannt und schließen sie ihre Augen“, sagte die Frau sanft zu ihr. Dann legte sie ihren Zeigefinger und ihren Mittelfinger jeweils an Susans Schläfen. Mit ihrem Daumen berührte sie den Nacken. Die Finger auf den Schläfen begannen mit kreisenden Bewegungen, gleichzeitig wanderten die Daumen den Nacken entlang aufwärts und abwärts. Den Druck auf die Schläfen empfand Susan als durchaus angenehm, sofern sie in ihrem derzeitigen Zustand überhaupt etwas Positives empfinden konnte. Die Berührung ihres Nackens jedoch glich einer Behandlung mit scharfen Messerklingen. Sie stöhnte leise auf und wollte gerade darum bitten, alle weiteren Bemühungen zu stoppen. Aber plötzlich verwandelten sich die Schmerzen im Halsbereich in warme Strömungen die sich zum Rücken und zum Kopf hin ausbreiteten. Diese neue Empfindung überlagerte ihren Schmerz. Die Ströme schienen tief in ihren Kopf einzudringen um dann wieder zu ihren Schläfen zu verlaufen. Es machte den Eindruck, als verließe der warme Fluss dort ihren Körper und mit ihm verschwanden auch nach und nach die Kopfschmerzen, die sie jetzt seit Stunden gepeinigt hatten. Sie fühlte sich unglaublich frei und öffnete vorsichtig die Augen. Die überwältigenden Farben erschreckten sie. Es war ein wunderschöner Sommertag, der Park lag vor ihr in einem saftigen grün und der Himmel war strahlend blau. Sie konnte all das betrachten, ohne dass das helle Tageslicht ihr Schmerzen bereitete. Erst jetzt merkte sie, dass die Frau die fremdartige Massage bereits eingestellt hatte. „Sehen sie, ihre körpereigenen Energien waren eigentlich nur ein klein wenig aus dem Gleichgewicht.“ „Es ist unglaublich“, entgegnete Susan. „Noch nie haben meine Schmerzen so abrupt wieder nachgelassen. Wie kann ich ihnen nur danken?” „Auch sie haben mir etwas gegeben“, antwortete die Fremde. „Ich freue mich immer zu sehen, wie diese Technik bei meinen Mitmenschen zum Erfolg führt.” „Ich muss unbedingt wissen, wie ich sie wieder erreichen kann“, sagte Susan. „Ich könnte sonst die nächsten Wochen nicht mehr ruhig schlafen.“ Die Fremde lächelte und holte ein kleines Notizbuch aus ihrer Jackentasche hervor. Sie blätterte bis sie eine leere Seite gefunden hatte, schrieb etwas nieder und gab Susan den Zettel. „Unter dieser Nummer bin ich fast immer zu erreichen. Zögern sie nicht mich anzurufen“, sagte die Frau. Dann verabschiedete sie sich knapp und ging den Fußweg entlang in Richtung Innenstadt. Susan wollte noch etwas sagen, stockte aber als sie den leichten, beinahe jugendlichen Gang der Frau sah.
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Susan freute sich schon darauf, mit ihrer Arbeit fortfahren zu können. Allerdings fühlte sie sich etwas matt und ihre Hände waren noch fast ohne Gefühl. Letzteres deutete darauf hin, dass die beiden Tabletten wohl doch noch wirkten. Sie erhob sich von der Bank und schlenderte in Richtung Bürokomplex. Obwohl Susan sich völlig befreit fühlte, war ihr Körper doch etwas unbeweglich und schwerfällig. Als sie wieder im Büro ankam, öffnete sie mit einem Lächeln die Tür und erntete einen ungläubigen Blick von Simone. „Ich hatte wirklich nicht geglaubt, dich heute noch mal wieder zu sehen“, staunte Simone. „Was ist passiert? Es sieht aus, als hättest du deine Kopfschmerzen irgendwie abwenden können.“ „Ich kann das selbst noch nicht glauben. Im Park hat mir eine Frau mit einer Art Massage innerhalb kürzester Zeit die Schmerzen regelrecht aus meinem Körper gesaugt“, erklärte Susan. „Ich werde mich erst mal ein wenig frisch machen und dann kann es auch gleich weitergehen.“ Sie ging ins Bad und hielt ihre Hände und Unterarme unter kaltes Wasser. Susan benetzte noch schnell ihr Gesicht mit Wasser und griff dann nach ein paar Papiertüchern. Beim Abtrocknen schaute sie in den Spiegel. Da waren doch tatsächlich schon die ersten grauen Haare zu sehen. Susan näherte sich dem Spiegel. Die Strähnen waren ihr noch nie aufgefallen, aber jetzt zeichneten sie sich deutlich von ihren dunkelblonden Haaren ab. Sie hielt den Atem an. An Mund- und Augenwinkeln konnte sie kleine Fältchen entdecken. Susan war gerade dreißig geworden und ihr Körper hatte sicherlich schon bessere Zeiten durchlebt, aber heute kam ihr das eigene Spiegelbild irgendwie fremd vor. Sie beschloss, an diesem Abend früh ins Bett zu gehen, um nach der heutigen Attacke wieder etwas Kraft zu schöpfen. Susan wendete ihren Blick vom Spiegel ab. Ihre letzten Kopfschmerzen lagen etwa zwei Wochen zurück und sie sah immer noch sehr mitgenommen aus. Seit ihr damals die Fremde geholfen hatte ging es ihr eigentlich gut, aber sie fühlte sich immer noch schlapp und ihr Tagesablauf kam ihr ermüdender vor als früher. Zu allem Überfluss war da auch schon wieder dieses Kribbeln im Nacken, das sehr deutlich ihre nächste Schmerzphase ankündigte. Sie verließ das Bad und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dort ließ sie sich auf ihr Sofa fallen. Dieses Möbelstück war in den letzten Wochen ihr bester Freund gewesen. Eine kurze Verschnaufpause sollte reichen um dann noch zum Wochenmarkt zu gehen, dachte Susan. Kaum hatte sie jedoch die Augen geschlossen, war sie auch schon fest eingeschlafen. Dröhnende Kopfschmerzen rissen sie aus dem Schlaf. Das Sonnenlicht fiel noch in Susans Wohnzimmer. Sie hatte nur kurz geschlafen, überlegte Susan und dennoch fühlte sie sich bereits wie mitten in einer ihrer Attacken. Die Abstände zwischen ihren Kopfschmerzen wurden kürzer und die Intensität nahm zu. Aber sie fühlte sich gut vorbereitet. Die Telefonnummer der Fremden lag seit damals direkt neben ihrem Telefon und in ihrer Brieftasche trug sie immer einen Zettel mit der Nummer bei sich. Susan stand vorsichtig auf. Sofort begann ihr Blut im Kopf zu pulsieren. Sie musste sich an der Lehne des Sofas festhalten und einen Augenblick abwarten. Dann ging sie in kleinen Schritten hinüber zum Telefon und versuchte dabei ihre Augen geschlossen zu halten, da die Dunkelheit ihr etwas Linderung brachte. Sie griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer, ohne einen Blick auf den bereit liegenden Zettel zu werfen. Sie hatte die Nummer in den vergangenen Wochen so oft gelesen, dass sie die Ziffern ohnehin auswendig kannte. Sie konnte das Freizeichen hören und entfernte den Hörer etwas von ihrem Ohr um das Geräusch zu dämpfen. Nach dem dritten Klingeln vernahm sie ein leises: “Ja bitte?” Susan legte den Hörer wieder an das Ohr und begann mit zittriger Stimme: “Ich bin es. Sie haben mir damals im Stadtpark schon einmal helfen können. Jetzt sind meine Kopfschmerzen wieder zurück und ich musste gleich an sie denken.” “Ihr Vertrauen freut mich. Wenn sie mir sagen, wo ich sie finden kann, werde ich gerne vorbeikommen und versuchen ihnen zu helfen”, sagte die Stimme zu ihr. Susan nannte ihre 35
Adresse und hörte wie die Frau am anderen Ende der Leitung den Hörer auflegte. Sie hatte nicht einmal geantwortet, wie lange es bis zu ihrem Eintreffen dauern würde. Auch Susan legte den Hörer auf. Als sie wieder zum Sofa zurückkehren wollte gaben ihre Beine nach und sie sank auf die Knie. Ihre Beine wollten nicht mehr gehorchen und ihr Kopf schien platzen zu wollen. Irgendwie musste sie aber gleich die Frau in die Wohnung lassen. Sie rutschte auf Händen und Knien in Richtung Eingangstür. Als sie dort ankam, nahm sie ihre Umgebung nur noch durch einen dichten grauen Schleier wahr. Türen, Bilder, Schränke, alles begann sich um sie herum zu drehen. Susan versuchte nach der Türklinke zu greifen. Jemand hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt. “Wachen sie doch auf, junge Frau”, hörte sie eine vertraute Stimme sagen. Susan öffnete ihre Augen und fand sich im Hausflur wieder. Neben ihr kniete die Fremde und hielt behutsam ihre Schulter gefasst. Die Sonne flutete immer noch in ihre Wohnung und Susan bemerkte, dass ihre Kopfschmerzen verschwunden waren. „Ich habe sie vor der geöffneten Tür liegend gefunden und sofort damit begonnen, ihre Energien wieder ins Gleichgewicht zu bringen“, sagte die Frau zu ihr, die heute wunderbar erholt aussah. Susan richtete sich auf, wobei ihr Rücken etwas schmerzte. „Die letzten Attacken haben mich ganz schön mitgenommen. Ich fühle mich um Jahre gealtert“, sagte sie. „Ich muss ihnen gestehen, dass die Energien, die es kostete, ihr Gleichgewicht wieder herzustellen, von anderer Stelle ihres Körpers genommen wurden. Ich hätte jedoch nicht gedacht, dass sie es so deutlich merken würden.“ Susan erschauerte: „Dann sind meine grauen Strähnen und Fältchen also auf ihre Behandlung zurückzuführen?“ „Hätten sie denn meine Hilfe abgelehnt, wenn sie von diesen minimalen Nachteilen gewusst hätten?“, entgegnete die Frau. Susan zögerte, natürlich wäre es ihr egal gewesen. Wenn sie unter ihren Schmerzen litt, gab es für sie immer nur ein Ziel: Irgendwie das Ende der Schmerzphase zu erreichen. „Sie haben vermutlich recht. Können sie sich denn vorstellen, meine Schmerzen durch ihre Therapie auch endgültig zu verhindern?“ „Denkbar wäre das schon“, antwortete die Frau. „Aber um ihren Körper endgültig ins Gleichgewicht zu bringen sind um ein Vielfaches mehr Energien nötig, als für die kurzfristige Hilfe, die ich ihnen zukommen ließ. Wenn ich bedenke, wie ihr Körper bisher auf meine Behandlung reagiert hat, würde ich vermuten, dass sie sich anschließend um fünfzehn Jahre älter fühlen werden“, antwortete die Fremde. Susan musste schlucken, das übertraf natürlich ihre Befürchtungen. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie ihre Bekannten und Kollegen darauf reagieren würden. „Sie zögern natürlich zu Recht“, fuhr die Frau fort. „Aber bitte bedenken sie: Was nützt ihnen ein fünfzehn Jahre längeres Leben, wenn es in keinster Weise lebenswert ist?“ Susan musste nicht wirklich über diese Entscheidung nachdenken. Zu oft hatte sie schon mit ihren Schmerzen gekämpft und hätte alles dafür gegeben, sich von ihnen befreien zu können. Nie war sie einer Lösung so nahe gewesen, wie an diesem Tag. „Ich vertraue ihnen“, sagte Susan. „Bitte lassen sie uns sofort damit beginnen.“ „Es ist auf jeden Fall die richtige Entscheidung. Sie werden sehen, dass sie ihr Leben völlig anders gestalten können und sich ihnen viele neue Möglichkeiten bieten. Machen sie es sich auf ihrem Sofa bequem, dann können wir gleich anfangen.“ Susan entspannte sich und genoss die Wärme, die während der Behandlung durch die Fremde wieder durch ihren Körper floss. Diesmal war das Gefühl aber ungleich stärker und es dauerte auch viel länger an. Nach einigen Minuten schlief sie traumlos ein. Als Susan wieder erwachte, saß die Frau noch bei ihr. Sie zögerte, wieder hatte sie das 36
Gefühl, als hätte sie das Alter der Frau bisher falsch eingeschätzt. Sie richtete sich vorsichtig auf und betrachtete ihre Hände. Susan merkte, dass ihr Tränen durchs Gesicht liefen. Ihre Haut war dünner geworden und übersäht mit Altersflecken. Ihre Finger wirkten knochig und fühlten sich etwas steif an. Susan wusste noch nicht, wann sie den Mut fassen würde, in einen Spiegel zu schauen. „Sie werden schnell lernen, mit ihrem neuen Körper zu leben. Viele der kleinen Mühen, die ihnen jetzt noch so deutlich auffallen, werden schnell zur Gewohnheit“, beruhigte sie die Frau. Susan wollte gerade ansetzen, der Frau zu danken, musste jedoch daran denken, was diese zuletzt darauf erwidert hatte. Auch sie hatte der Fremden etwas gegeben. Die Frau sah definitiv jünger aus, als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Susans Körper hatte seine Energiereserven nicht verbraucht, um sich selbst zu heilen. Vieles schien auf die Frau übergegangen zu sein. Die Fremde hatte eine große Last von ihr genommen und Susan hatte ihren Preis dafür gezahlt. Auch die Frau schien gemerkt zu haben, dass Susan verstanden hatte. Sie erhob sich wortlos, nickte ihr zum Abschied zu und verließ die Wohnung. Auch der Sonntag bescherte Susan noch fantastisches Wetter, das sie nutzte, um im nahegelegenen Wald spazieren zu gehen. Die Frau hatte recht behalten, wenn man alles etwas ruhiger anging, fielen die kleinen Wehwehchen kaum ins Gewicht. Dennoch wusste Susan noch nicht, wie sie am nächsten Tag wieder ihren Kollegen vor die Augen treten sollte. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie neugierig genug geworden war, in einen Spiegel zu schauen. Die Veränderungen, die sie dort erblickt hatte, waren überdeutlich und nicht vor ihren Bekannten zu verbergen. Als sie gerade den angrenzenden Parkplatz überqueren wollte, hörte sie das langgezogene Quietschen von blockierenden Autoreifen auf Asphalt. Gestoppt wurde das Geräusch durch ein metallisches Knirschen und splitterndes Glas. Susan drehte sich um und sah, wie einige andere Fußgänger wie erstarrt auf ein Auto blickten, das quer vor der Zufahrt zum Parkplatz stand. Hinter dem Auto schien eine Person auf dem Boden zu liegen. Sie eilte zu der Unfallstelle und erblickte jetzt auch ein völlig zerstörtes Mofa. Der Fahrer des Mofas lag merkwürdig verkrümmt auf der Straße und blutete stark am Kopf, der nicht durch einen Helm geschützt war. Sie näherte sich ihm, während Erinnerungen an ihre Ersthelfer-Kurse an ihr vorbeizogen. Susan kniete nieder und versuchte den Puls des Jungen zu fühlen. Er war schnell und undeutlich. Plötzlich wurde Susan klar, was sie an seinem Anblick gestörte hatte. Der Brustkorb des Jungen war völlig bewegungslos. Sie näherte sich mit ihrem Ohr seinem Mund. Susan konnte nicht feststellen, dass er in irgendeiner Weise selbst atmete. Sie legte ihm den Kopf ein wenig in den Nacken und verschloss seinen Mund mit ihrem Daumen. Dann begann sie ihn durch die Nase zu beatmen. Nach einigen Atemstößen stoppte sie, beobachtete ihn und fuhr mir der Beatmung fort. Plötzlich hustete der Junge, spuckte etwas Blut auf die Straße und rang nach Luft. Sie hielt seinen Kopf weiter fest und strich ihm seine Haare aus den Augen, als sie das Kribbeln in ihrer Hand bemerkte. Erschreckt wollte sie ihre Hand zurückziehen, stoppte aber instinktiv, da sie Angst hatte den jungen Mann dadurch weiter zu verletzen. Das Kribbeln ließ nicht nach, war aber auch nicht unangenehm. Plötzlich wusste Susan, was gerade passierte. Sie hatte dem Jungen sein Leben gerettet und jetzt zahlte er dafür seinen Preis. Die Fremde hatte ihr nicht zuviel versprochen, die Behandlung hatte völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Sie legte dem Jungen ihre zweite Hand auf die Stirn und fühlte sofort eine kraftvolle Strömung in ihren Körper. Vorsichtig schaute sie sich um. Die Passanten beobachteten sichtlich zufrieden, wie sie den Verletzten versorgte. In der Ferne hörte sie die Sirene eines Rettungswagens. Nach wenigen Minuten ließ der Strom nach und versiegte schließlich ganz. Sie blieb noch bei dem Jungen sitzen, er blickte sie aus fiebrigen Augen dankbar an und lächelte etwas. Als Susan die Notärzte herbeieilen sah, legte sie seinen Kopf vorsichtig auf die Straße und erhob sich. Die Ärzte begannen mit der Versorgung und niemand bemerkte, wie sich Susan langsam in den 37
Hintergrund begab. Sie blickte auf ihre Hände und ihr stockte der Atem, als sie sah, dass die Altersflecken deutlich weniger geworden waren. Um ihre Kollegen zu täuschen, reichte es noch nicht, aber vielleicht würde sie einfach noch eine Woche krank feiern und versuchen, ein paar Mitmenschen zu helfen.
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Tod von Janina Zimmermann
Eine nächtliche Begegnung. Seine letzte...
Er fuhr in seinem VW Passat eine Landstrasse entlang, eine einsame Landstrasse, auf der er schon seit mehreren Minuten keinem anderem Auto begegnet war, was ihn allerdings sehr zu Gute kam, da er eine kleine schwarze Spinne mit misstrauischen Augen verfolgte, die sich in der Ecke über dem Beifahrersitz eingenistete hatte. Er hatte weder Arachnaphobie noch besonderen Ekel vor diesen Tieren, aber er konnte es einfach nicht leiden, wenn sich ein schwarzer Punkt mit acht Beinen vor ihm auf sein Lenkrad seilte. Das Tier hatte sich, seit er es entdeckt hatte nur einmal bewegt, nur wenige Zentimeter, aber er traute diesen Insekten alles zu. Er hätte eigentlich anhalten und die Spinne entfernen können, da die Strasse, wie bereits erwähnt, alles andere als befahren war, aber er war schlicht und einfach zu faul, sein Auto an den Rand der Strasse zu steuern und das hinterlistige Tierchen aus seinem Wagen zu befördern, ganz zu Schweigen davon, dass er sowieso in spätestens einer viertel Stunde zu Hause in seine Garage fahren würde und das Versäumte dann nachholen konnte. Das Viech bewegte sich, als er um eine Kurve fuhr, und zwar plötzlich und schnell. Es jagte los, als wäre es von der Tarantel gebissen, er hätte über diesen Vergleich gelacht, wäre er nicht gleichzeitig so erschrocken gewesen. Das Tier war fast über ihm angelangt, als er etwas aus den Augenwinkeln wahrnahm, etwas auf der Strasse! Panisch richtete er seinen Blick auf den Schatten, sah, dass es ein Mensch war, schrie erschrocken auf, bremste und wusste, dass er es nicht schaffen würde, er würde sie überfahren, unter seinem Auto begraben und ein Leben auslöschen, und das alles wegen einer dummen Spinne! Im letzten Moment riss er das Fahrzeug auf die Seite und bekam es nach wenigen, aber um so schrecklicheren Sekunden, wieder unter Kontrolle. Eine geschlagene Minute saß er einfach nur in seinem Auto, dass schief und mit qualmenden Reifen auf der Strasse stand, zitterte am ganzen Körper und konnte an nichts anderes als an die Gestalt denken, an den Menschen, den er fast getötet hätte, oder hatte er sie getötet? Kalte Angst beherrschte seine Gedanken er konnte beinahe nicht genug Mut aufbringen, um hinter sich zu blicken. Würde dort ein toter Mensch liegen, ein Kind vielleicht? Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und rann in seine Augen. Er drehte sich langsam und zitternd um und hatte Mühe, die Frau zu erkennen, die an ihm vorbei ging. Hektisch atmete er frische Luft ein, er hatte sie nicht getötet! Doch schon im nächsten Moment starrte er die Gestalt ungläubig an. Er hatte erwartet, sie würde fluchend auf ihn zukommen oder wenigstens starr vor Schreck auf der Strasse stehen, doch nichts von beidem geschah. Sie ging einfach weiter, fast als hätte sie ihn nicht bemerkt, blickte sich nicht einmal um. Und nun fiel ihm auch auf, wie seltsam die Frau eigentlich war. Sie war groß und schlank, ihr Haar hing ihr bis zu den Hüften und schimmerte in einem seltsamen, matten Schwarz. Sie ging barfuss, doch dies alles nahm er gar nicht wahr. Es war die ART, wie sie sich bewegte, die etwas in ihn erstarren ließ. Sie schwebte fast über den heißen Asphalt und alle ihre Bewegungen waren von solcher Grazie und Gleichheit, dass es wie eine immer währende Bewegung wirkte, fast als würde ihr Körper aus fließendem Wasser bestehen. Ebenso war ihr Kleid, so konnte man es eigentlich gar nicht nennen, denn es war ein großes, seidenes Tuch, dass sie um ihren Körper geschlungen hatte. 39
Er konnte unmöglich sagen, welche Farbe es hatte, es schien ständig von weiß in schwarz zu wechseln und umschlang ihre zarte Gestalt, als wäre es eine zweite Haut, die sich ebenso in einer nie enden wollenden Bewegung befand. Er starrte sie nur einen Wimpernschlag an, und doch kam es ihm vor wie Stunden. Schnell öffnete er die Tür, sprang aus dem Wagen und rannte der Frau hinterher. Kurz bevor er ihre Schulter berührte drehte sie sich um und er erstarrte mitten in der Bewegung. Sie war das schönste Wesen, dass er jemals zu Gesicht bekommen hatte, und doch war es ihm unmöglich, ihr Gesicht zu beschreiben, dieses perfekte, vollkommene Gesicht. Ihre Augen waren schwarze Tümpel, in welchen er sich sofort verlor; wie im Fieber durchzuckte ihn ein Schauer, als ihre Blicke sich trafen. Sie sah ihn an und kein Muskel bewegte sich in ihrem Gesicht, sie lächelte auch nicht, und trotzdem kam sie ihm wie das freundlichste Geschöpf auf Erden vor. Nach einigen Augenblicken wurde er sich bewusst, dass seine Hand immer noch erhoben und wie verkrüppelt in der Luft hing. Er lächelte verzeihungsheischend und versuchte sich zu entspannen, doch seinen Blick hielt das Mädchen immer noch gefangen. Auch dies nahm etwas in ihm wahr. Er konnte unmöglich schätzen, wie alt sie war, sie sah aus wie eine Göttin, ja, nun hatte er einen Vergleich gefunden. Sie wirkte so unendlich rein, so unschuldig .Und irgendetwas tief in ihm hatte zugleich Angst vor der Fremden, stieß ihn ab und ließ ihn verzweifelt nach einem Fluchtweg suchen. Er liebte dieses Wesen und hatte doch solche eine Panik vor ihr, dass er zitterte und kalter Schweiß seine Stirn benetzte. Er schüttelte diese Gedanken ärgerlich ab. Sie waren irrsinnig und völlig krank. „Verzeihung,...die Spinne und dann... ich wollte nicht, ...tut mir unendlich leid!“ stammelte er und fragte sich, warum ihn diese Frau nur so verzauberte und er so furchtbar nervös war. Wahrscheinlich war es der Schreck, der ihm noch in den Gliedern lag. Die Fremde schüttelte leicht den Kopf, doch ihre Augen hielten seinen Blick immer noch mit unglaublicher Kraft gefesselt. Langsam hob sie ihren Arm, oh Gott! In ihrer Anwesenheit schien alles so unendlich zeitlos! Ihre Hand bewegte sich auf ihn zu, er wollte zurückweichen und erwartete die Berührung zugleich sehnsüchtig. Sein Körper war angespannt wie eine Stahlfeder und musste jeden Moment zerspringen. Das Mädchen legte ihre zarte, feingliederige Hand auf seine Brust, direkt über sein Herz. Es hämmerte mit unglaublicher, schmerzender Wucht und...stand dann still. Sein Körper schien zu zerbersten, er wollte schreien, brachte jedoch nur ein schmerzerfülltes Keuchen zustande. Die Schmerzen waren unerträglich und schienen seinen Verstand brechen zu wollen. Er brach in die Knie, griff verzweifelt nach seiner Göttin, wollte sich an sie klammern und Schutz suchen, doch sie wich in ihrer langsamen Bewegung zurück, in der Zeit keine Rolle spielte. Sekunden wirkten wie Stunden, Stunden wie Jahre. Er dachte nicht an seine Frau, nicht an sein Kind, nicht an sein Leben, seine Gedanken bestanden nur aus ihr, aus dieser wunderschönen Frau! „Warum?“ fragte er zitternd und seine Stimme versagte fast, die Schmerzen wurden unerträglich und er spürte, wie sein Denken barst. Er wand sich wie ein verendetes Tier und das Blut stand still in seinen Adern und gefror. Furchtbare Krämpfe schüttelten ihn. Das Mädchen kam mit wehendem Tuch und schwebenden Schritten wieder auf ihn zu, kniete sich mit undenkbarer Grazie hin und lächelte ihn an. „Du warst hier und ich hatte so endlosen Hunger“ sagte eine Stimme, die klang wie das Rauschen des Windes und zugleich wie das Bersten eines Astes. Die Stimme erfüllte alles, was von seinem denkenden Ich noch übrig gewesen war, seine primitiven Muskeln zuckten instinktiv, er dachte nur, dass dies doch kein Grund war, oder doch? Wer war sie? Aber er wusste es längst, er kannte sie, sie war seine Erschafferin, die Erschafferin allen Lebens und der Welt, und sie war seine Vollstreckerin, sie war der Tod. Der Schmerz erreichte seinen Höhepunkt, sein Körper schrie, seine Seele verendete in unsterblicher Qual und seine Blick brach, dann lag er still. 40
Die Fremde hob ihn hoch, trug ihn langsam zu seinem Auto und legte ihn hinein, es sah aus, als würde er schlafen. Dann machte sie sich auf den Weg ihre unstillbare Sehnsucht endlich zu stillen, sie war eine Göttin, doch sie wusste nicht, dass ihr Hunger niemals enden würde. Sie war der Anfang und das Ende. Die Spinne ließ sich auf seinen langsam erkaltenden Körper herabseilen, sie hatte ihrer Herrin gehorcht und durfte nun ihre Belohnung holen, rasch krabbelte sie in seinen zu einem stummen Schrei verzehrten Mund und labte sich an seiner zerbrochenen Seele. ENDE
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