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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 3
'Dunkelwelten' ist ...
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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 3
'Dunkelwelten' ist eine kostenlose Mystery & Horror Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Dunkelwelten 3 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
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Inhalt Cover von Matthew Goodsell Zeitlos
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von Dakini Die Zeit trifft den Augenblick, die Ewigkeit und den Tod. Philosophische Poesie oder poetische Philosophie?
Mittags kommt das Grauen
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von Irene Salzmann Nichts kann ihn schocken! Dachte er...
Die Macht der Lyrik
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von Julia Bergius wie Gedichte ein Leben beeinflussen können (traurig)
Teufelsmusik
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von Irene Salzmann Er braucht nur eine einzige zündende Melodie zu seinem Glück! Und sehr sehr gute Nerven...
Das Schloss der Familie Robine
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von Julia Bergius eine Hexenverbrennung (mysteriöses im Mittelalter)
Rauhnacht
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von Karin Sittenauer In den Nächten des Jahreswechsels geht Sonderbares vor sich..
Der Blarney-Stone
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von Nicole Rensmann Es ist der Stein der Verliebten, aber über ihm schwebt ein düsteres Geheimnis
Nebenwirkungen
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von Nicole Rensmann Wenn Liebesnächte in einem Albtraum enden. Es bleibt nur noch Angst!
Die Lahn im Oktober
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von Julia Bergius unheimliche Begegnung an einem kleinen Fluß (gespenstisch)
Wolfsgeheul von Karin Sittenauer Was haben wir mit Wölfen gemein, oder sie mit uns..?
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Der Weg von Ralf Nitsche Über das Beschreiten eines ungewöhnlichen Weges aus der Sicht desjenigen, der ihn fand
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Zeitlos von Dakini
Die Zeit trifft den Augenblick, die Ewigkeit und den Tod. Philosophische Poesie oder poetische Philosophie?
Die Zeit saß im Morgenrock an ihrem Schreibtisch und war gerade damit beschäftigt, sich dicke falsche Wimpern anzukleben. Der Tod trat hinter sie, beugte sich zu ihr herunter und drückte ihr einen Kuß auf die Wange. Igitt, sagte die Zeit, was hast du nur für ein ekelhaftes Rasierwasser, und verzog angewidert das Gesicht. Es ist kein Rasierwasser, sagte der Tod und lächelte geheimnisvoll, es ist ein neues Parfum, Liebste.... Die Zeit sah ihn interessiert an. Du hast heute überhaupt so einen Humphrey-Bogart-Touch, sagte sie. Der Tod fuhr sich mit einer gezierten Geste durchs brillantineglänzende Haar. Ich bin eben flexibel, sagte er und pustete ein imaginäres Staubkorn von seinem Jackett. Gefällt es dir? fragte er und drehte sich vor ihr langsam im Kreis. In diesem Moment flog die Tür auf und der Augenblick stürzte gehetzt ins Zimmer. Habt ihr vielleicht zufällig die Ewigkeit gesehen? fragte er, erschöpft nach Atem ringend, und sah sich suchend im Zimmer um. Nein, zum Glück nicht, sagte die Zeit. Sie konnte die Ewigkeit nicht ausstehen. Der Augenblick wandte sich wortlos um und ließ die Tür laut knallend ins Schloß fallen. Die Zeit widmete sich wieder dem Spiegel. Rella Tief war ja heute noch gar nicht da, sagte der Tod. Sie hat doch eine Affäre mit irgendsoeinem Theo, erwiderte die Zeit, während sie sich die Haare kämmte, weißt du das nicht? Mit welchem Theo, fragte der Tod verständnislos und probierte ein paar Dracula-Zähne vor dem Spiegel aus. Theo Rieh, oder so, sagte die Zeit, mit dem hängt sie doch dauernd zusammen. Da klingelte es stürmisch an der Haustür, und der Tod erhob sich, um zu öffnen. Na, da bist du ja, sagte er nur, während Rella Tief den Raum betrat. Hi, darling, sagte sie zur Zeit und setzte sich auf ihren Schoß. Na, was macht Theo, fragte die Zeit und fing an, sich ihre Fingernägel zu lackieren. Ach, sagte Rella und kicherte, ich habe ihn schon ganz schön durcheinandergebracht. Es ist köstlich! Der Tod saß auf einem kleinen Plüschhocker und sah gelangweilt aus dem Fenster. Bist du schon wieder eifersüchtig? fragte die Zeit und schob Rella von ihrem Schoß, um aufzustehen. Sie ging zum Tod und umarmte ihn sanft. Ich kann ohne dich einfach nicht leben, sagte der Tod und seufzte. Ja, weiß ich, antwortete die Zeit, mir geht es so ähnlich.... Ach Kinder, sagte Rella, nun hört doch mal mit dem albernen Liebesgesäusel auf. Das geht einem auf die Nerven. Und außerdem koch ich jetzt Kaffee. Hört ihr mir überhaupt zu? Als sie keine Antwort bekam, zuckte sie nur mit den Schultern und ging in die Küche. Die beiden waren so ineinander versunken, daß sie nicht bemerkten, wie die Ewigkeit leise ins Zimmer huschte. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Sie glich dem Augenblick wie ein Ei dem anderen. Als sie die Wirklichkeit in die Möglichkeit verwandelte, löste der Raum sich plötzlich lautlos auf und verschwand im Nichts. Die Ewigkeit stand unbeweglich da. Sie lächelte noch immer.
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Mittags kommt das Grauen von Irene Salzmann
Nichts kann ihn schocken! Dachte er...
Prustend und schnaufend wischte sich der dicke Klaus mit dem Ärmel über die Stirn. Endlich war er fertig! Mehrmals hatte er die tausend und abertausend Treppen von der Wohnung im ersten Stock bis in den Keller hinauf und hinunterkeuchen müssen, was ihm mindestens zwei Pfund Fett und einen Liter Schweiß gekostet hatte. Um den Kalorienverlust auszugleichen, warf er eine Handvoll M & M's ein. Seine Mutter, die in der Küche das Mittagessen zubereitete, hatte nichts von seinen heimlichen Aktivitäten mitbekommen. Anderenfalls hätte ihre schrille Stimme sofort gerufen: "Klausilein, was machst du denn da? Komm sofort aus dem Keller. Dort ist es viel zu kalt. Du wirst einen Schnupfen bekommen." Und vorbei wäre es mit seinem Vorhaben gewesen. Dann hätte er sich zu ihr in die heiße Küche (in die Zugluft am offenen Fenster, wo man wirklich Schnupfen bekam) hocken und sich ihr ständiges Gejammer über seine mieserablen Schulnoten anhören müssen. "Klausilein, du mußt mehr lernen! Herr Brummer sagt, daß deine Versetzung gefährdet ist, wenn du nicht im Rechnen auf einen Vierer kommst. Was soll denn einmal aus dir werden, Klausilein? So viele Arbeitslose. Dich nehmen sie dann nicht einmal bei der Müllabfuhr." Es hing ihm total zum Hals heraus. Aber total! Als ob er zur Müllabfuhr wollte ... Klaus lauschte. Das alte Haus war hellhörig, ein billiger Bau aus der Nachkriegszeit, den die Stadt längst hätte modernisieren müssen. Jedesmal dröhnte das laute Husten und Röcheln vom alten Hubermeier durch sämtliche Etagen (spotz - endlich war der Schleim draußen!). Die blöden Gänse in der Mansardenwohnung stritten grundsätzlich, wenn Klaus Ruhe fürs Vokabellernen benötigte (irgendwann würde er sich rächen, indem er "In a Gadda-da-Vida" von Iron Butterfly auflegte und die Anlage auf Maximum drehte ... wenn doch nur seine Mutter einmal nachmittags außer Haus wäre, nur ein einziges Mal, bittebittebitte!). Und wenn die Bauers von nebenan gewußt hätten, daß jedes Geräusch aus ihrem Klo durch den Flur hallte, würden sie gewiß die Anonymität der öffentlichen Bedürfnisanstalt vorziehen. Klaus' Mutter klapperte mit dem Geschirr. Da er Geschichte geschwänzt hatte (der Schachtel hatte er weißgemacht, daß ihm übel war, und das war noch nicht einmal eine Unwahrheit gewesen, denn seine Klasse schrieb einen unangekündigten Test über die Weimarer Republik, wovon er nicht die Bohne von einer Ahnung hatte), war er eine Stunde früher nach Hause gekommen und hatte reichlich Zeit, bis das Essen fertig wurde. Seine Mutter war beschäftigt und würde ihn wohl nicht suchen. Wenn sie etwas aus dem Keller benötigte, nahm sie es immer beim Postholen um halb elf mit, um unnötiges Treppensteigen zu vermeiden. Es war recht unwahrscheinlich, daß sie ihm ausgerechnet jetzt dazwischenfunkte. Sorgfältig schloß Klaus die Tür, und die Geräusche drangen nur noch gedämpft in die schlauchförmige Kammer. Zufrieden begutachtete er das Arrangement der notwendigen Utensilien. Wer ihn nicht näher kannte, hätte vermutet, Klaus wäre ein ruhiger, zu dicker Junge, freundlich und langweilig, der sich nur für Schokolade, "Spiderman"-Comics und Briefmaken interessierte. Tatsächlich war er ein großer Fan von Gruselfilmen und -büchern (von wegen langweilig und "Spiderman"). Aber irgendwie war das Genre Horror nicht mehr das, was es früher einmal gewesen war. Was ihm als kleinem Pimpf einen Schauder über den Rücken hatte rinnen und ihn drei Nächte nicht mehr hatte schlafen lassen (einmal hatte er sogar ins Bett gemacht, weil er Angst gehabt hatte, auf dem Weg zum Klo würde ihn der "einarmige Würger" erwarten), entlockte ihm 6
inzwischen allenfalls noch ein Gähnen. Selbst die Mathearbeit war schauriger als Stephen Kings "Shinig". Letzte Woche jedoch hatte er das neue Geschäft entdeckt, das unweit vom Viktualienmarkt in einer stillen Gasse aufgemacht hatte: Ein kleiner Laden zwischen alten Wohnhäusern, der ständig im Schatten der gegenüberliegenden Häuserzeile lag, so daß man normalerweise daran vorbeiging, weil man das dunkle Schaufenster gar nicht bemerkte. Die schmale Glastür hatte einen Sprung. Mit einem Saugknopf hatte man innen ein Schild aufgehängt, auf dem mit schnörkeliger Handschrift geschrieben stand: "Onkel Edgars kleiner Horrorladen". Der Besitzer schien sich keine sonderliche Mühe zu geben, die Passanten durch effektvolle Werbung auf sich aufmerksam zu machen und glaubte offenbar, die richtige Kundschaft würde ihn schon finden. Klaus war jedenfalls fasziniert gewesen und ließ sich von der zweifellos magischen Aura des Ladens anziehen. Ein Glockenstrang rasselte, als er eintrat. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, stolperte er beinahe über einen kleinen Mann. "Guten Tag." "Guten Tag", antwortete Klaus etwas verlegen, weil er nicht wußte, was er eigentlich wollte (außer sich umschauen). Im Kaufhof war das unproblematisch. Er ging in die Buchabteilung und suchte den Schmöker, der er sich im letzten Taschenbuchprospekt angestrichen hatte, und wenn der nicht vorrätig war, probierte er es eben im Hertie. Keine lästigen Gespräche mit noch lästigeren Verkäufern, die angehalten waren, keinen Kunden ohne Einkauf gehen zu lassen. "Äh. Ich hätte mich gern ein wenig bei Ihnen umgesehen." Der kleine Mann machte eine einladende Geste. Klaus' Blick folgte dem dünnen Arm. Er sah sich hohen, überquellenden Regalen voller Bücher (staubig, modrig), Knochen (bestimmt aus Plastik, sahen aber wie echt aus), Gummikröten (oder waren die doch echt?), ausgestopften Fledermäusen, Ständern mit dunklen Gewändern, Kisten mit geheimnisvollen Dingen und vielem mehr gegenüber. Der Verkäufer war weg, und Klaus konnte nach Herzenslust stöbern. "Onkel Edgars kleiner Horrorladen" entpuppte sich als wahre Fundgrube. Als Klaus genug geschaut hatte, stand der Verkäufer wieder vor ihm. "Ich möchte mich mal so richtig gruseln", vertraute Klaus ihm an. "Was würden Sie mir empfehlen?" Und so hatte sich Klaus das "Gruselsortiment für Fortgeschrittene" gekauft, das gerade im Sonderangebot war. Heute wollte er es ausprobieren. Alles war gemäß Anleitung aufgebaut. Er mußte nur das Licht ausknipsen, sich zum Hocker durchtasten und das Zauberwort rufen. "Hritschlprimft!" Eigentlich glaubte Klaus nicht so recht, daß es wirklich funktionieren würde. Wahrscheinlich erlebte er eine Lightshow, hörte ein paar Geräusche, und das war es auch schon. Naja, bei Nichtgefallen konnte er alles umtauschen. Einen Moment lang hockte Klaus in der Schwärze des Kellers. Wenn jetzt seine Mutter hereinkam ... Doch plötzlich flammte die schwarze Kerze auf, als hätte eine Geisterhand ein Streichholz an den Docht gehalten. Ein Grollen wurde immer lauter, dann barst der Betonboden und eine schuppige, grüne Hand schoß hervor. Aus dem Loch drangen schwefelgelbe, stinkende Dämpfe, und ein infernalisches Heulen war zu hören. Die Klaue schloß sich um Klaus und löste sich zu grünem Nebel auf. Es war, als wäre er von einer Spinnwebe gestreift worden. "Das ist ja wie in der Geisterbahn", stellte er fest. "immer dieselben alten Hüte." Es begann, abgehackte Extremitäten zu regnen. Augäpfel kullerten umher. Das Blut, das aus den Stümpfen floß, sammelte sich um Klaus' Füße, begann zu steigen, erreichte seine Knie, seinen gerundeten Bauch, sein Kinn und schwappte ihm in den Mund. Dann war es fort. 7
"Netter Trick", lobte er. Ein Phallus formte sich aus rötlichen Spiralen. Er war bestimmt zwei Meter groß, pulsierte und sabberte Schleim. Der Reihe nach spießte das Ding eine Jungfrau mit Wahnsinnsmöpsen, einen schmächtigen Knaben, einen weißen Pudel und Herrn Brummer (den von hinten) auf. Aufgereiht wie Schaschlik stöhnten und krümmten sie sich vor ekstatischen Schmerzen. Klaus riß eine Tüte Popcorn auf und begann den Inhalt schmatzend mit einer Hand in sich hineinzustopfen. Sie war noch nicht ganz leer, als die Tür aufging, die elektrische Beleuchtung flackerte und die Stimme seine Mutter vorwurfsvoll sagte: "Aber, Klausilein, was machst du für einen Unfug im Keller? Mußt du ständig vor dem Essen naschen!" Klaus blinzelte. Der Boden war glatt und unbeschädigt. Die Wände waren grau und frei von Blutspritzer. Wo gerade noch haarige Spinnen mit Neonaugen getanzt hatten, lagerten die Kartoffeln. Die Foltergeräte waren den Konservendosen gewichen. Den Platz der Gerippe hatte das Weinregal eingenommen. Die Leichenteile hatten sich in Briketts zurückverwandelt. Von dem Kerl mit der Axt war bloß noch der alte Parka übrig. Alles war wieder völlig normal. Enttäuscht folgte Klaus seiner Mutter nach oben. Naja, es war ganz lustig gewesen - aber gruselig? Nicht die Spur! Morgen würde er sich bei "Onkel Edgar" erkundigen, ob er nicht einen richtigen Schocker auf Lager hatte. "Was gibt es heute, Mama?" fragte Klaus und schnupperte. Es roch ein bißchen komisch (wie der Knirps von Bauers, der immer volle Pampers hatte). Er quetschte sich auf seinen Stammplatz auf der Eckbank. Seine Mutter stellte zwei gefüllte Teller auf den Tisch, einen für Klaus, einen für sich. "Was ist denn das?" Er beugte sich vor und musterte die gelbweiße, beulige, glibbrige Masse. Stellenweise schimmerten milchige, fast durchsichtige Schlieren. Die Salmonellen hockten überall in dem Zeug und grinsten Klaus breit an ("mit uns drei Tage krank - hinterher bist du schlank", sangen sie). "Das Einkaufen hat länger gedauert", erklärte seine Mutter, "und dann bist du auch noch früher heimgekommen. Ich habe uns schnell eine Kleinigkeit gekocht." "Rührei! Und es ist noch nicht einmal ganz fest. Das sind ja die Schnüre vom Dotter. Und was ist das Schwarze da?" Klaus schauderte, sein Magen begann zu zucken, und er spürte ein Würgen in der Kehle. "Umpf", machte er und hoffte, daß er es noch bis ins Bad schaffte. Vor Rührei hatte Klaus einen Wahnsinnshorror.
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Die Macht der Lyrik von Julia Bergius
wie Gedichte ein Leben beeinflussen können (traurig)
Die Frau trug ein lila Kleid mit schwarzen Punkten und einen dunkelblauen Hut, dem nur der Schleier fehlte. Die Wangen rot gefärbt mit Rouge und in den Händen zwei schwarze Ledertaschen; so sah sie aus wie eine Dame der besseren Gesellschaft, jung zur Witwe geworden und nun in Würde und Hilflosigkeit in eine ihr unverständliche Zeit gealtert. Sie trug ihre wichtigsten Utensilien des standesgemäßen Lebens in zwei kleinen Reisetaschen den langen, ungepflegten Weg zum Bahnhof. Wie ein Überbleibsel aus der Zeit der Chauffeure in schwarzen, offenen Limousinen und der schnurgeraden, sauber gepflasterten und gefegten Alleen ging sie auf dem krummen und buckligen Gehsteig, sich stets in der Mitte des Weges haltend. Belanglos angesichts dieses menschlichen Anachronismus' erschien die seltsame Mischung aus der wild wuchernden Vegetation in den breiten Grünstreifen rechts und links des Weges und den erbarmungslos industrialen Teerstreifen des Fußweges und der Straße. Wo mochte sie hingehen? Sie trat eine Reise an, eine zwangsweise, endgültige Reise, denn ihr Geld war dahin, der Besitz ihrer ehemals wohlhabenden Familie verpfändet. Keine Kinder konnten ihr beistehen obwohl sie sich stets welche gewünscht hatte, um auch ihre edle Pflicht der Mutterschaft für die Familie ihres Mannes zu erfüllen. Nun hatte sie nichts mehr, und die magere Rente, die ihr der Staat zugestand, demütigte sie nur. Die Reise war ihr letzter Weg und Ausweg. Keine Reise im modernen Intercity, nein, eine lange Reise in der ratternden Bimmelbahn, schneller zwar als die ersten Dampfloks, doch um wieviel stilloser! Gramfalten furchten ihr gepflegtes Gesicht, selbst Puder und Rouge konnten sie nicht mehr verbergen. Ihre leeren, altersblassen Augen blickten in eine ferne Vergangenheit. Mechanisch schritt sie Fuß um Fuß voran. Trotz allem hielt sie sich noch aufrecht, die Taschen fest in den Händen. Sie war nicht fett geworden, oder schlaff, sie trug stets Feinstrumpfhosen und schmale Pumps mit Absätzen. Sie bewegte sich elegant und kultiviert. Nie traf man sie unfrisiert, ungeschminkt oder unbeherrscht an. Auch diesmal, als man ihre letzte Kristallvase pfändete, und ihre Bank die Hypothek auf dem Haus kündigte, hatte sie nicht geweint, nicht ihre Stimme erhoben, sich nicht aufgelehnt gegen ihr Schicksal. Noch nie hatte sie das getan, seit damals. Sanft fügte sie sich, wenn ihr Mann sie schlug, weil seine rauhen Bemühungen um Nachkommen unfruchtbar blieben. Demütig neigte sie ihren Kopf vor der Schwiegermutter, die vor Verachtung troff. Verständnisvoll reagierte sie auf die Wutausbrüche ihres Mannes, wenn sie ihm wieder nichts recht machte. Klaglos erduldete sie, dass er ihr einziges Hobby als unsinnig und unpassend verbot, ihre einzige Hoffnung und Ablenkung in einer trostlosen Welt. Sie erkannte, dass es so besser war, dass es sein musste. Ihre einzige Freude... doch nun war wohl auch diese Quelle längst versiegt. Schon seit Jahren hatte sie kein schönes Wort mehr geschrieben, Reime, die ihr früher zuflogen, verhallten ungehört. 9
Sie erinnerte sich... Als junges, unbeschwertes Mädchen lachte sie oft und tändlte herum. Sie sang falsch, malte kitschige Bilder und fand ihren wahren Ausdruck endlich in der strengen Form von Gedichten. Damals war sie glücklich, doch das Verhängnis drohte schon am Himmel. Der Tod ihres Vaters warf den ersten Schatten, und als sie sich verliebte, in den jungen Musiker ohne Geld, der nach der wahren Melodie suchte, zog sich das Unheil fest über ihr zusammen. Aus Angst, in Armut sterben zu müssen, verheiratete ihre Mutter sie schnell mit einem älteren aber unzweifelhaft gutbetuchten Herrn, der nur eine Blume an seiner Seite wünschte, keinen Menschen mit eigenen Gedanken und Gefühlen. Ausgerechnet sie - die romantische Lilie - wählte er! Er würde ihr die Flausen schon austreiben, sagte er ganz offen; sie auf die rechte Straße führen. Und ihre Mutter hing an seinen Lippen, betete seinen feinen Anzug und die goldene Uhr an und vergaß alles, was sie je über ihre Tochter gewusst hatte. Wenig genug war es ja! Kurz darauf verschied sie aus der Welt, ohne den Schmerz ihrer Tochter zu sehen. In dem alten Friedhof, den die Frau liebte und fürchtete, blieb sie ein letzte Mal am Grab ihres Mannes stehen, mehr aus Gewohnheit und Pflichtgefühl, denn aus Trauer. Schon bei seinem Tod galt ihre Trauer nicht ihrem Mann, sondern ihr selbst, denn sie hatte versagt, zu lange gezögert, die richtigen Worte für ihren Mann hinzuschreiben, zu spät überhaupt erkannt oder wahrhaben wollen, was ihre Gedichte vermochten, zu spät... All das war schon so schrecklich lange her. Schließlich stieg sie in den Zug, suchte sich ein leeres Abteil und gestatte sich, für eine Weile die Augen zu schließen. Sie träumte... träumte von einer Welt, in der sie jung war und glücklich, in der ihr Vater nicht starb, in der ihr Ehemann sie liebte, in der es keine Schuld gab. Auch der süßeste Traum schmeckte am Ende nach Galle; wäre ihr Vater nicht so früh, so unerwartet gestorben, so hätte all das Schlimme ihr Leben nicht zerstört. Doch sie war selbst schuld! Sie weigerte sich damals, die grauenhafte Macht ihrer Lyrik zu erkennen und schrieb ihren Vater in einen schrecklichen Tod. Nun lebte sie ihre Buße; eine lange, schwere Buße, doch sie jammerte nicht, bettelte nicht um Gnade und Erlösung. Auch die letzte Schmach würde sie ertragen, aufrecht bis zum Tod, und dann... Sie hoffte nicht auf Erlösung gleich nach dem Tod, das wäre vermessen. Vielleicht hätte sie sich retten können - doch nein! Daran durfte sie nicht denken; Ketzerei, die Buße nicht ertragen zu wollen, die Reue nicht vollständig und tief zu empfinden. Aber wer hatte jemals tiefer und demütiger gereut als sie? Konnte ein Mensch mehr ertragen und länger leiden? Wie träumend zog sie ein vergilbtes Tagebuch aus der Tasche. Jenes verhängnisvolle Buch, in dem sie ihrem Vater in Versform den Tod gewünscht hatte, weil er ihr nicht erlaubte, die Gedichte anderen als der engsten Familie zu zeigen. Jenes Gedicht war das letzte in einer kurzen Reihe sonderbar kraftvoller Lyrik. So ausdrucksstark, wie man sie keinem oberflächlichen Backfischmädchen zutrauen durfte. Jedes Wort beschwor ein lebhaftes Bild, jede Zeile ließ den Leser jubeln oder schluchzen, jedes Werk erzählte eine Geschichte, wie sie viele erträumen und wenige erleben. Sie wagte nicht sich auszumalen, was all die anderen Gedichte bewirkt hatten. Zum ersten Mal seit langer Zeit nahm sie den Federhalter aus seiner Lederhülle. Er benötigte 10
etwas Zuspruch und Wasser, bis die Tinte wieder lief. Bedächtig setzte sie an zu schreiben. Sie schrieb ihr Leben nieder, wie es war und wie es enden sollte. Welche Qualen sie auch immer im Jenseits erwarteten, sie wollte sich wenigstens eine Gnade erweisen: die des schnellen, würdigen Todes. Eines Todes, der sie nicht nach endlosen dahinsiechenden Jahren erwartete, in einem ungepflegen Altersheim für Arme, wo sie ein Zimmer mit drei oder viel alten Vetteln teilen musste, wo die Pflegerinnen nicht mal Zeit für ein Lächeln erübrigten, wo niemand sie mehr als Mensch sehen würde, nur noch als Stück Pflegefall. Stolz ist eine der Todsünden und sie bringt uns die Verdammnis, dachte die Frau. Doch verdammt war sie ohnehin, was also konnte noch schlimmer werden? Stolz war das einzige, was ihr geblieben war und stolz schrieb sie das letzte Wort, das ihr Schicksal besiegeln würde. Sie schloss abermals die Augen und wartete auf das Unglück, das ihren Tod brachte. Eine forsche Stimme weckte sie aus der tiefen Versunkenheit. "Die Fahrkarten bitte", wiederholte die junge Kontrolleurin freundlich. "Ah, Bad Westheim. Wir sind gleich da, sehen Sie?", sagte die junge Frau und deutete mit dem Abknipser zum Fenster. "Kommen Sie beim Aussteigen zurecht?" Die alte Frau im lila Kleid blickte hinaus. Der Zug fuhr gerade in einen frisch renovierten Bahnhof ein. Bäume und Blumen beherrschten die kleine Stadt, die idyllisch zwischen den Hügeln glänzte. Tränen traten der Frau in die Augen, als sie auf den granitgepflasterten Bahnsteig taumelte. Sie zitterte so stark, dass die hilfsbereite Kontrolleurin sie am Arm stützen musste. "Umsonst", flüsterte die alte Frau, "ein Leben in Buße umsonst. Meine Gedichte sind nur Gedichte, ich habe ihn nicht umgebracht. Es war alles umsonst." Ohnmächtig sank sie zu Boden. In den Augen der Umstehenden stand Mitleid, aber keine Liebe. "Eine alte Frau, die nicht mehr Herr ihrer selbst ist", dachten sie. Jemand rief ein Taxi und niemand verstand, welch lebenslanger Tragödie er Zeuge geworden war.
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Teufelsmusik von Irene Salzmann
Er braucht nur eine einzige zündende Melodie zu seinem Glück! Und sehr sehr gute Nerven...
Endlich war der anstrengende Tag vorbei. Im Winter dämmerte es früh, so daß man am Nachmittag bereits die ersten Sterne erahnen konnte. Leise knirschte der Schnee in der Kälte, und der rauhe Wind trieb glitzernde Schneekristalle vor sich her. "Auf wiedersehen, Herr Lehrer." Mit einem erleichterten Seufzer schloß Alois Obermeier die Gartenpforte hinter dem Buben, den er zu zwei Stunden Nachsitzen verdonnert hatte, und kehrte fröstelnd in das warme Gebäude zurück. Der freche Bengel hatte es gewagt, ihn unter dem schadenfrohen Gelächter aller Kinder, während der Mathematikstunde mit Knallerbsen zu erschrecken. Urplötzlich hatte es unter seinen Füßen zu krachen begonnen, so daß er einen wahren Veitstanz aufführte, bis die letzte Erbse geplatzt war. Voller Besorgnis hatte das verehrte Fräulein Erika die Handarbeitsstunde unterbrochen, um nachzuschauen, was geschehen war. Alois war das höchst peinlich gewesen, und den Rest des Unterrichts hatte er sich kaum noch konzentrieren können. In seiner Aufregung subtrahierte er, wo man addieren mußte, dividierte er, wo multipliziert werden sollte, und seine ungezogenen Schüler fanden das nicht minder lustig als den Knallerbsentanz. Es war ein schrecklicher Tag gewesen! Nachdem er auch die Haustür abgesperrt hatte und aus seinen Galoschen geschlüpft war, hängte er den Schlüsselbund an den dafür vorgesehenen Haken und machte, ein kleines Lied pfeifend, den üblichen Rundgang durch seine Grundschule. Im Turnraum und im Musikzimmer war heute niemand gewesen; da war alles sauber und aufgeräumt, er brauchte gar nicht zu kontrollieren. Er warf einen kurzen Blick in den Handarbeitsraum, in dem die Mädchen eine Stunde Unterricht gehabt hatten. Natürlich hatte wieder irgendjemand seine Stricksachen im Fach unter dem Tisch liegen lassen. "Herrgott, immer diese Weibersleut'!" Alois nahm den halbfertigen Puppen-Pullover und legte ihn demonstrativ aufs Pult der Lehrerin. Er würde Fräulein Erika tadeln müssen, weil sie zu wenig auf Ordnung achtete. Wenn man jetzt nicht streng genug war, was würde später nur aus diesen Mädchen werden nicht auszudenken! Selbst die Tafel war nicht sauber, so daß Alois den muffig riechenden Schwamm in einem kleinen Eimer Wasser befeuchtete und ein unförmiges Herz auswischte, in dem mit krakeliger Schrift 'E + A' geschrieben stand. Flüchtig errötete er und konnte sich ein verlegenes Grinsen nicht verkneifen. War es Wunschdenken seitens der Schüler oder wußte jeder mit Ausnahme des verehrten Fräulein Erikas, daß er sie nicht nur als eine hilfreiche Kraft in seiner Schule ansah? Als das kleine Zimmer aufgeräumt war, löschte Alois das Licht und betrat einen etwas größeren Raum. Hier versammelten sich die Schüler und Schülerinnen der Klassen eins bis vier, insgesamt nicht mehr als zwanzig Stück. Das Dorf war winzig und lag fern der nächsten Stadt. Um den Kindern einen weiten Fußweg oder gar die teure Bahnfahrt zu ersparen, stellte man das alte Haus des Bürgermeisters, der natürlich ein neues, schöneres bekommen hatte, als Schule zur Verfügung und ließ ihn, einen jungen Lehrer, der gerade seine Studien beendet hatte, kommen. Alois' Kameraden, die Anstellungen in der Stadt vorgezogen hatten, lachten ihn zwar aus, weil er in die Einöde ging, doch hier war er nicht nur Lehrer, sondern auch der Schulleiter; und er hatte genug Ruhe, um 12
sich seiner geliebten Musik, insbesondere der Komposition, zu widmen. Natürlich war es nicht immer einfach, ganz allein die verschiedenen Altersgruppen zu betreuen, aber Alois war sehr stolz, daß es ihm meist ganz gut gelang. Und er war ja nicht völlig allein, es gab schließlich noch das verehrte Fräulein Erika, die ein weiterer Grund war, daß er sich in dem verschlafenen Dorf wohlfühlte. Mit spitzen Fingern trug er einen abgenagten Apfelbutzen vom Tisch seines Lieblingsschülers in den Papierkorb. Das war ein gescheiter Bub, immer höflich und ordentlich. Der würde es bestimmt weit bringen und vielleicht Doktor oder Advokat werden. Wenn er einmal etwas unter seiner Bank vergaß, naja, das konnte schon vorkommen, das war doch nur menschlich. Schnell waren die Hefte der dritten Klasse mit dem Diktat, das er korrigiert hatte, während der Bengel seine Strafarbeit schreiben mußte, geordnet. Die beiden Papiere mit dem Satz 'Ich darf im Unterricht keine Knallerbsen werfen' landeten beim Apfelbutzen, und die halbvolle Tüte Knallerbsen, die auf dem Tisch geruht hatte, stopfte er in seine Jackentasche. Morgen würden sich die Mitglieder des Schützenvereins im Wirtshaus treffen, und da konnte er gleich ein ernstes Wort mit dem Vater des ungezogenen Buben reden. Über den Schulzimmern befand sich die geräumige Wohnung des Lehrers, doch benutzte er nur zwei Kammern, während die übrigen leer standen. Er beabsichtigte, sich noch auf den kommenden Tag vorzubereiten und dann sein leckeres Abendbrot zu verzehren. Die ältliche Haushälterin des Pfarrers kümmerte sich auch um ihn ganz gern und hatte gewiß ein gutes Schmankerl vorbereitet. "Tumm-didel, tumm-tidel, tummtumm", summte der Lehrer noch immer die Melodie, die ihm schon seit Wochen im Kopf herumging. Wenn er doch nur endlich eine Idee hätte, wie sie weitergehen könnte! "Tumm-didi, tummtumm." Plötzlich hatte er einen Einfall, über den er sein Abendbrot vergaß, auf dem Treppenabsatz kehrt machte und in das kleine Musikzimmer eilte. Dieses befand sich neben dem Handarbeitsraum. Es war voll der verschiedensten Musikinstrumente, die teils von einigen Bürgern gestiftet worden waren - Alois vermutete, daß so mancher die Gelegenheit genutzt hatte, das Erinnerungsstück eines geizigen Erbonkels aus einer staubigen Speicherecke zu verbannen - teils zu seiner Sammlung zählten und von ihm im Laufe der Jahre auf Rummelplätzen oder im Pfandhaus für einige Groschen erstanden worden waren. Unglücklich betrachtete er die alten, verstimmten und verbeulten Instrumente. Wie gern hätte er die Geige richten lassen oder dem Cello neue Saiten aufgezogen. Selbst das Klavier ächzte nur noch Staub, und die Trompete machte einen nahezu taub. Sie reparieren zu lassen oder gar neue Instrumente zu kaufen, war teuer und überstieg sein kleines Lehrergehalt. Er konnte ja nicht einmal eine Familie davon ernähren, so daß er es wohl nie wagen durfte, das verehrte Fräulein Erika um ihre Hand zu bitten. Wären seine Eltern nicht so arm gewesen, hätte er Musik studieren können und wäre ein berühmter Komponist geworden. Viel Geld hätte er verdient, er wäre herumgekommen in der Welt und hätte vielleicht sogar vor dem König Konzerte gegeben. Und was war? Stattdessen fristete er ein trauriges Dasein, als Dorfschullehrer und mußte sich täglich mit diesen undankbaren Gören und ihren verstockten Eltern plagen, die gar nicht ahnten, welches Genie in ihrer Mitte weilte. Die bedrückenden Gedanken von sich scheuchend, setzte sich Alois ans Klavier und spielte die Melodie, für die er ein weiteres Stückchen erfunden hatte. Sein Traum, ein Lied zu komponieren, war damit ein bißchen wirklicher geworden. Wenn es ihm auch noch gelang, das fertige Stück seinem Freund in der Stadt, der eine Musikalienhandlung betrieb, zu verkaufen, so mußte er nicht mit völlig leeren Händen vor das verehrte Fräulein Erika treten. Bisher hatte er nicht den Mut dazu aufgebracht, denn auch der Büttel war ein ernsthafter Verehrer Fräulein Erikas, und dem hatte der Vater ein ansehnliches Erbe hinterlassen. Auf der Kirchweih tanzte er mit ihr, spendierte ihr Limonade und Zuckerzeug, während sich Alois 13
gerade eine Maß leisten konnte. Warum erwischte den nicht mal ein Wilderer? Während Alois seine Noten malte, immer wieder an den verschiedensten Instrumenten seine Melodie probte, manchen Entwurf wieder durchstrich oder das ganze Blatt zerknüllte und in den Papierkorb warf, verrann die Zeit. Unzufrieden schüttelte er den Kopf, lutschte an seinem Federhalter, kritzelte weitere Noten, dann kratzte er sich am Scheitel und seufzte. Sein Stift war inzwischen schon reichlich angekaut, aber er kam einfach nicht weiter. Es wurde finster, das Gaslicht flackerte kaum merklich, der hungrige Magen knurrte längst nicht mehr, und Alois brütete beharrlich über seinen Notenblättern. Immer gab es etwas, was nicht so recht paßte, ständig glaubte er, einen Mißton zu hören, oder die Partitur für die Geige harmonierte nicht mit der für die Harfe. Schließlich übermannte ihn die Verzweiflung, so daß er seinen Federhalter zu Boden schleuderte, wo dieser prompt einen häßlichen Tintenklecks verspritzte. Mit einer heftigen Bewegung fegte er die zerknautschten Notenblätter hinterher. "Ich schaffe es nie", jammerte er. "Zum Teufel damit!" Schluchzend ließ er den Kopf auf seine Arme sinken, und abgesehen von einem gelegentlichen Glucksen war es still im Musikzimmer. Plötzlich räusperte sich jemand. Alois zuckte zusammen und fuhr hoch, doch niemand war zu sehen. Hatte ihn jemand belauscht? Vielleicht hatte sich einer seiner vorwitzigen Schüler hier versteckt, um ihm einen Streich zu spielen. Wer hatte seinen stümperhaften Versuchen zugehört? Möglicherweise wollte jemand sein Lied stehlen und damit berühmt werden. Ob Fräulein Erika von seinem verzweifelten Wutausbruch erfahren würde? Der Büttel würde sich schief lachen! Voller Zorn rötete sich Alois' Gesicht. "Wer ist da?" grollte er. "Komm aus deinem Versteck und zeige dich, du Feigling. Oder soll ich erst den Büttel holen?" Es raschelte, und hinter dem riesigen Cello kroch ein kleines, rotes Männchen hervor. Es war niemand aus dem Dorf, niemand, den der Lehrer kannte, es war nicht einmal ein richtiger Mensch. Unbekleidet, haarlos, aber doch irgendwie nicht nackt baute es sich schüchtern vor dem zornigen Lehrer auf, dem es knapp bis zur Mitte reichte. Kleine gedrehte Hörner ragten aus der Stirn, und ein langer Schwanz mit Quaste ringelte sich vom Rücken bis zum Boden. Das Männchen hatte die verstreuten Notenblätter aufgesammelt und hielt sie in der Hand. "Sind die wirklich für mich?" "Wer ... was bist du?" stammelte Alois verdutzt. Noch nie hatte er kleine, rote Männchen gesehen, nicht einmal, wenn er eine Maß zu viel getrunken hatte. "Nun ja", begann der unerwartete Besucher, "ich bin ein Bewunderer deiner Kunst. Ich habe dir schon oft zugehört, und es hat mir immer sehr gefallen. Das ist ein wundervolles Lied. Da, wo ich herkomme, gibt es keine so schöne Musik." "Wie bist du hereingekommen? Die Schule ist abgeschlossen. Und wer bist du?" wiederholte der Lehrer seine erste Frage. "Ach, das ist unwichtig", der Kleine winkte ab. "Man hat so seine Berufsgeheimnisse. Eigentlich hätte ich mich dir gar nicht zeigen dürfen, der Ober... äh ... mein Chef sieht das nicht gern. Mir tat es nur so leid, daß du traurig bist, und dann hast du mir auch noch deine Noten geschenkt. Darf ich die wirklich behalten? Vielen Dank!" Das Geschwätz des Roten verwirrte Alois noch mehr, doch allmählich begann er etwas zu ahnen. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in seinem Bauch aus. "Du bist der Teufel?" Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage. Hatte der Pfarrer ihn in der Predigt nicht anders beschrieben? Häßlich, bösartig und gefährlich? Hingegen war dieser Teufel höflich, freundlich und wirkte ganz harmlos. Sie unterhielten sich sogar recht vertraut mit einander, als hätten sie schon so manche Maß miteinander geleert. "So nennt man mich", gab sein Gegenüber etwas verlegen zu. "Ich weiß, wir haben keinen 14
sonderlich guten Ruf hier, aber ganz so übel sind wir nun auch wieder nicht." Der Lehrer betrachtete den Teufel eine Weile, während das komische Gefühl im Bauch allmählich nachließ. Der Rote machte einen ordentlichen Eindruck, so daß Alois zu überlegen begann, ob dieser erstaunliche Bewunderer seiner Kunst nicht von Nutzen für ihn wäre. "Man sagt, wenn man euch etwas gibt, müßt ihr einem dafür auch einen Gefallen erweisen. Stimmt das?" "Naja", sagte der Teufel, "das kommt immer darauf an. Worum handelt es sich denn?" "Mein Lied ..." Sofort preßte der Teufel die Notenblätter fest an sich. "Du hast sie mir geschenkt! Nein, ich gebe sie nicht wieder her! Nein, nein! Sie sind jetzt mein!" "Ist ja schon gut", beschwichtigte Alois den Kleinen, "du kannst das ruhig behalten, aber das Lied ist noch nicht fertig. Ich komme einfach nicht weiter. Die alten Instrumente taugen nichts. Doch das ist es nicht allein!" Erholte tief Luft undbekannte ehrlich: "Ich habe mir immer etwas vorgemacht, habe mich für einen großen Komponisten gehalten, dabei kann ich gerade Noten lesen. Ach, das Lied ist überhaupt nichts besonderes, niemand wird es kaufen wollen. Darum bleibe ich arm, kann Fräulein Erika niemals heiraten, und sie nimmt den Büttel. Kannst du mir nicht helfen?" Der Teufel reckte sich stolz. "Sicher kann ich das! Zwar gefällt mir dein Lied, aber die meisten Menschen sind nun mal Banausen. Ein anderes Lied, eines, mit dem du Erfolg hast ... das wäre kein Problem. Es ist jedoch so: Weißt du, wir haben in unserem Beruf einige Regeln, und mein Chef würde ziemlich ärgerlich werden, wenn ich diese außer acht lasse, und du wirst bestimmt nicht wollen, daß ich die nächsten Jahre im Siedekessel verbringe. Natürlich muß ich dir einen Wunsch erfüllen, wenn ich dafür etwas von dir bekomme, aber weil du mir die Noten freiwillig geschenkt hast, bin ich dir nicht verpflichtet. Verstehst du, wir müssen erst einen ordnungsgemäßen Handel abschließen." Nachdenklich nickte Alois und fragte sich, ob es nicht ein großer Fehler war, sich mit dem Teufel einzulassen. Im Dorf munkelte man, daß der Büttel um Fräulein Erikas Hand anhalten wolle, sobald er zum Oberwachtmeister befördert worden war, und die Ernennung war für kommenden Monat anberaumt worden. Weder innerhalb dieser verbleibenden Zeit, noch überhaupt würde aus dem Lehrer ein berühmter Komponist und reicher Mann werden, der eine Familie ernähren konnte. "Also schön", er hatte sich entschieden. "Was möchtest du denn haben für deine Hilfe?" "Komm schon", meinte der Teufel, "was fragst du noch? Das weißt du doch längst! Keine Angst, bei uns ist es nicht annähernd so schrecklich, wie immer behauptet wird. Und so einen begabten Musiker wie dich, den können wir allemal gebrauchen. Ich würde dich ohne Zögern in meiner kleinen Hölle aufnehmen. Stell dir vor, du könntest persönlich mit Mozart sprechen und mit ihm Ideen austauschen - ja, der ist auch bei uns. Leider, ich erwähnte es ja schon, macht er inzwischen keine schöne Musik mehr, nur noch Krach, den er Rock'n'Roll nennt. Angeblich soll das später modern werden. Wenn du das hörst, wunderst du dich gewiß nicht mehr, daß ihn die da oben um keinen Preis haben wollten. Beinahe hätten sie uns sogar noch zwei Bahnhofswärter und eine geizige Prinzessin dazugegeben, um ihn loszuwerden, hahaha. Also, bist du einverstanden?" Mozart auch? Alois staunte nicht schlecht. Ob dem großen Künstler gleichfalls ein Teufel bei seinen genialen Kompositionen geholfen hatte? "Ist das nicht ein bißchen viel verlangt für ein kleines Lied?" erkundigte er sich zögernd. "So weit ich mich entsinne, räumt ihr euren Kunden immer ein, daß sie ihre Seele behalten dürfen, wenn ... ja ... wenn ihr zum Beispiel mit der Arbeit nicht rechtzeitig fertig werdet oder man nicht zufrieden mit ihr ist. War das nicht so bei einem Handwerker, der am Kölner Dom 15
baute?" Der Teufel kicherte. "Richtig, und das hat sogar damals der Oberteufel, mein Chef, verbockt. Der Handwerker war ein schlauer Bursche, der vereinbarte, daß bis zum Morgengrauen mit allen Steinen der Dom gebaut werden müsse. Daraufhin nahm er heimlich einen der Steine, zertrümmerte ihn mit dem Hammer und streute den Staub in den Rhein. Weil dieser eine Stein fehlte, durfte der Chef den Handwerker nicht mitnehmen. Das ist ganz schön ungerecht, nicht wahr? Erst macht man die ganze Arbeit, und dann wird man betrogen! Allerdings haben wir seine Frau erwischt; die muß nun die Siedekessel umrühren. Und seither sind wir angehalten, niemanden auf diese Klauseln hinzuweisen, denn in letzter Zeit sind uns einfach zu viele Seelen durch die Lappen gegangen. Es wäre am besten, sie ganz abzuschaffen, aber bis es soweit ist, müssen wir uns daran halten." Der Lehrer schaute aus dem Fenster, wo im milchigen Mondlicht die Kirchturmuhr zu erkennen war. Es war noch nicht halb sieben. Die lange Winternacht würde in zwei, drei Stunden vorbei sein, aber bis zum Hahnenschrei konnte er nicht warten, da die ersten Kinder schon vor acht Uhr an der Pforte klingeln würden. "Du mußt fertig sein, bevor die Kinder kommen", sagte er. Der Teufel stimmte zu, und sie besiegelten es mit einem Handschlag. "Ist mir recht, bevor die Kinder kommen. Das werde ich leicht schaffen und dann schnell verschwinden. Ich kann Kinder nämlich nicht leiden. Einmal hat mir eines eine Blechbüchse an den Schwanz gebunden und ... Ach, was rede ich, höre mir zu und merke dir alles!" Sofort machte er sich ans Werk, sprang von Geige zu Trompete, von Triangel zu Ziehharmonika, von Klavier zu Trommel. Unter seinen Händen glätteten sich verbeulte Bleche, strafften sich durchhängende Saiten und glänzten stumpfe Tasten wie neu. Dann begann er zu spielen, so wunderbar, wie Alois es nie zuvor vernommen hatte. Der Teufel war ein wahrer Virtuose und verstand von Musik weit mehr als er selbst. Klar und leicht ertönte die Melodie, die seine geschickten Finger den Instrumenten entlockten. Der Lehrer blickte besorgt auf die Turmuhr. Schon Viertel vor acht. Gleich würde der Teufel das Lied beendet haben. Wo blieben nur die Kinder? Sonst störten sie ihn bei seinem Frühstück, und ausgerechnet heute ließen sie sich Zeit. Er schob seine Fäuste in die Jackentaschen und versuchte krampfhaft, sich etwas auszudenken, um den Teufel zu stören oder hinzuhalten. Das fertige Lied, war es den Preis seiner Seele wirklich wert? Was würden Fräulein Erika, der Pfarrer, der Büttel und all die anderen von ihm denken, wenn ihn eines schönen Tages der Teufel holte? Die letzten Akkorde ertönten, und Alois' klamme Linke ertastete eine Tüte. Dem Teufel stand vor Anstrengung der Schweiß auf der Stirn, seine Augen leuchteten und sein Schwanz peitschte wild im Takt. Gleich, gleich hatte er es geschafft, diese Seele würde ihm großes Lob einbringen. Der Oberteufel würde ihn gewiß befördern, ihm eine eigene kleine Hölle zuweisen und ... Plötzlich knallte es. Peng! Peng! Peng! "Die Kinder sind da" hörte er die Warnung des Lehrers. "Schnell, fort, bevor sie dich sehen. Die haben eine ganze Schnur Blechbüchsen dabei. Hörst du es nicht klappern? Fliehe, sonst werden sie dir alle an den Schwanz gebunden!" Der Teufel heulte erschrocken auf. "Nein, nein, nicht schon jetzt! Nur noch eine Note ..." Doch es war zu spät. Unter Getöse verschwand er in einer gelblichen, stinkenden Schwefelwolke. Zurück blieben die ausgebesserten Musikinstrumente und eine wunderbare Melodie in Alois' Kopf. Der Lehrer war allein, und als der Teufel auch nach einigen Minuten nicht zurückkehrte, um sich für den Betrug zu rächen, ließ er sich erleichtert auf den Klavierstuhl sinken und lachte befreit auf. 16
Er hatte es geschafft! Er hatte tatsächlich den Teufel hereinlegen können! Aus der Jackentasche zog er eine Tüte, die er achtlos in den Papierkorb fallen ließ. Von draußen ertönten die dünnen Stimmen der Schulkinder, die eine Schneeballschlacht austrugen, und das Leuten der Kirchturmglocke. Acht Uhr! Müde rieb er sich die Augen. Es war Zeit, die Pforte aufzuschließen und den Unterricht zu beginnen. Ordnung mußte sein! Es ging nicht an, daß ausgerechnet der Lehrer den Kindern ein schlechtes Vorbild war. Das Lied würde er später notieren, und für ein Essen und das Nickerchen blieb am Nachmittag noch genug Zeit. Die Kinder erlebten an diesem Vormittag einen sanftmütigen Lehrer, der sogar über ihre Streiche lachte. Am Abend traf Alois im Wirtshaus dem Vater des Buben, dem die Knallerbsen gehört hatten, lud ihn zu einer Maß ein und lobte, wie wohlerzogenen und fleißigen der Junge doch war. Am Wochenende fuhr er mit der Eisenbahn in die Stadt und verkaufte seinem Freund für viel Geld das Lied des Teufels. Als ihm Fräulein Erika ihr Ja-Wort gab, ärgerte sich nicht nur der Büttel grün und blau, sondern auch ein kleiner Teufel, der zu dreißig Jahren Siedekessel verdonnert worden war.
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Das Schloss der Familie Robine von Julia Bergius
eine Hexenverbrennung (mysteriöses im Mittelalter)
Das Schloss der Familie Robine Adriana und Simion saßen im Salon und unterhielten sich leise. Die vielarmigen Kerzenhalter verbreiteten mildes Licht, das kaum den Raum ausleuchtete, im Kamin knisterte ein fast herunter gebranntes Feuer. Auf einem kleinen Tisch vor Adriana lag ein Buch, handgeschrieben und in Leder gebunden, das ihr erst vor wenigen Wochen ein Mönch aus der Klosterbibliothek abgeschrieben hatte. Sie besprach dessen Inhalt mit Simion, als Lucas eintrat. "Sie kommen", sagte Lucas. Die drei wechselten Blicke - sie wussten, was das bedeutete. Sie standen einander so nahe, als hielte ihre Freundschaft schon mehrere Leben lang. Viele Jahre hatten sie in Frieden in dem abgelegenen kleinen Schloss gelebt, nun aber marschierte ein Mob den Weg herauf, um sie zu vertreiben. Das Schloss war ein großes, herrschaftliches Haus, eine Vorform der dekadenten Schlösser der Renaissance. Neumodisch also, dennoch tausende Jahre alt. Möbel, alte und neue, bevölkern die Räume, vergangenes Leben flüsterte durch die Gänge, aber keine Menschenseele hat darin jemals eine Heimat gefunden - jedenfalls nicht für sehr lange. Die drei gerieten nicht in Panik - dafür hatten sie in ihrem Leben schon zu viel erlebt. Gelassen traten sie in die Eingangshalle, wo sie auf ihre Verfolger warteten. Lucas hielt eine Kerze in der Hand, in deren Flamme die Blicke der drei Leute verschmolzen. Sie drei - Adriana, Simion und Lucas - waren die letzten Nachfahren der großen Familie Robine, die einst das Schloss baute. Die vielen Gesichter der Ahnengalerie blickten untrüglich verwandt auf sie herab: schmale Gesichter, mindestens kinnlange Haare in allen Variationen von blond; bronzene Haut mit einem Hauch von Patina; lange schmale Finger, die zu beweglich aussahen, in dünnen Handschuhen. Nicht alle hatten sich hinter Schlossmauern verborgen; viele reisten durch die ganze Welt und brachten Kunstwerke, Kuriositäten und Neuigkeiten zurück. Doch die Zeiten verdüsterten sich und nun mussten die drei Erben der Dynastie einen großen Schritt tun, um zu überleben. Draußen ertönte dumpfes Getrappel und Schreien. Beides näherte sich schnell. Die drei fassten sich an den Händen, die Kerze schwebte in ihrer Mitte. Das Trampeln rückte näher, beharrlich, hastig. Schon erreichte die Meute das Tor und überwand es leicht - es stand offen und unbewacht. Sie erkannten eine Stimme, die sich über all das Geschrei erhob: Der Priester der winzigen Grafschaft hielt im Laufen eine Hetzrede gegen die drei Schlossbewohner. Die Stimmung der Dörfler kochte: "Hängt sie!" "Auf den Scheiterhaufen!", "Hexenpack!", "Teufelsdiener!" 18
schallte es im Hof. Der Priester strahlte in seinem Element: Ihm als erfolgreichem Diener des gerechten Gottes, als hochgeachtetem Anführer dieser entschlossenen Schar Teufelsaustreiber gebührte Ruhm und Respekt. Die Menschen erreichten das Portal zur Halle: Einige schleppten einen Baumstamm als Rammbock heran, andere schichteten Feuerholz auf. Der Priester hielt eine kurze Ansprache, immer wieder von der johlenden Menge unterbrochen. Er geißelte das satanische Treiben der Robines, rief zum gerechten Gottesurteil auf. Der Mob tobte, wollte endlich handeln, wo der Priester noch redete. Der Graf, mit seiner Frau am Arm, hielt sich im Hintergrund. Seiner Sticheleien wegen ging der Priester nun gegen die Schlossbewohner vor. Leicht konnte er Gerüchte über Schwarze Messen und Hexerei auszustreuen. Die Schlossbewohner hatten ihm dabei mit ihrer unnahbaren Zurückgezogenheit sehr geholfen. Sein gesamtes Volk - in den zwei Dörfern und fünf Einzelhöfen - glaubte inzwischen, dass dieses kauzige Trio unheilvolle Beschwörungen im Schloss abhielt. Dem Fürst war das egal, aber das Schloss gefiel ihm: ein großes, schönes Haus wie kein anderes weit und breit. Das stand doch wohl ihm zu, nicht diesen hochnäsigen Schnöseln! Sein Diener, der Sohn des Priesters, hing an den Lippen seines Vaters. Er freute sich, dass der dem Volk drei weitere Hexen vom Hals schaffte. Das Geschrei schwoll an. Dumpfes Pochen erschütterte die Tür zur Eingangshalle des Schlosses. Nicht, dass sie abgesperrt war; doch das merkten die aufgebrachten Erstürmer erst später. Die Türflügel splittern. Die drei Leute in der Halle bewegten sich nicht. Als die Tür vollends barst, schlossen sie wie auf Verabredung die Augen. Die aufgebrachte Meute ergoss sich in die Halle auf den schönen Teppich aus Persien; Bauern mit Sensen und Sicheln, Fackeln und Flegeln, Mistgabeln und Rechen. Sie umzingelten die Robines in einem großen Kreis. Adrianas Stimme dröhnte durch die Halle, obwohl sie die Lippen nicht bewegte:"Hütet euch vor eurer Gier und eurem Hass: Eure Nachkommen werden euch verfluchen, denn kein Menschen kann in diesem Haus glücklich sein!" Bevor die Angst in der Menge um sich greifen konnte, rief der Priester vom Türrahmen aus: "Schwarze Zauberei! Ergreift sie!", indem er theatralisch auf die drei Personen deutete. Der Bauernmob fiel über die drei her, während sich der Priester vorsichtshalber wieder nach draußen schob. *** Dann öffneten sie die Augen wieder. Allein standen sie in der Halle, wie zuvor. Doch nicht ganz wie zuvor - die Halle sah anders aus: Fremder Nippes drängte sich auf der Anrichte aus dem Salon, die wuchtige Garderobe fehlte. Unvertraute Möbel aus vielen verschiedenen Epochen ersetzten die lange Regalwand an der Rückseite der Halle. Es war noch immer Abend, aber grelle Lichter blendeten ihre Augen. An den Wänden und der Decke hingen Lampen, die nicht rußten und flackerten, Kerzen und Fackeln fehlten. Die Tür zum Salon öffnete sich und ein älterer Mann in Livree trat heraus. Die drei erkannten in ihm sofort den Nachkommen des Priesters, dessen Familie offenbar seit Generationen die Diener der Schlossbewohner stellte. 19
Der Bedienstete griff in seine ausgebeulte Westentasche. Scharf fragte er: "Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?" "Wir schauen uns das Schloss an", sagte Adriana. "Dies ist Privatbesitz, Sie dürfen nicht einfach hereinkommen", fuhr der Diener sie an, "und jetzt gehen Sie, sonst rufe ich die Polizei." "Wir sind harmlos", sagte Lucas lächelnd. "Wir wollen mit dem Hausherren sprechen. Sicher wird er uns zuhören." Der Butler versteifte sich, seine Hand nahm er nicht aus der Tasche. "Wen darf ich melden?" "Wir melden uns selbst an", erwiederte Simion. Schneller, als der Butler reagieren konnte, gingen die drei an ihm vorbei auf die Salontür zu, aus der ein Lichtstrahl fiel. Der Diener folgte ihnen verstimmt. Der Hausherr öffnete die Tür vollständig. "Gibt es Probleme?" fragte er seinen Butler. "Wer sind die Herrschaften?" "Wir möchten mit Ihnen und Ihrer Frau sprechen," sagte Adriana. Die Frau des Schlossherren legte ihr Buch nieder und trat neugierig näher. Die drei Fremden betrachteten sie ebenso intensiv wie ihren Mann. In beiden floss das Blut des Grafen - soviel stand fest. Die Frau sah zwar nur nach einer entfernten Verwandten aus, doch die Familienbande existierten, samt der aufrechten, aristokratischen Haltung und dem herrischen, ja hochmütigen Blick. Auch die Nachkommen des Grafen zeigten stolz ihre adelige Herkunft. "Kommen Sie", sagte Adriana, indem sie die Hand der Frau ergriff. Diese wollte die Hand entziehen, doch Adriana hielt sie eisern fest. "Was wollen Sie? Lassen Sie mich los!", kreischte die Frau. "Sie haben es auf mich abgesehen, alle haben es auf mich abgesehen! Aber sie kriegen mich nicht!" Sie zitterte so stark, dass sie den letzten Satz kaum mehr herausbrachte. Der Butler zog die Hand aus seiner Tasche; darin hielt er ein knubbeliges Metallding mit einem kurzen Rohr. Er zielte auf Adriana und zischte: "Lassen Sie sie los! Lassen Sie sie los, oder es passiert was. Sie darf sich nicht aufregen, lassen Sie sie SOFORT LOS!" Seine Stimme gewann unerwartet an Dichte, als hielte er sich für den wiederauferstandenen Rächer der Enterbten persönlich. Der Schlossherr hingegen verabschiedete sich sanft in eine Ohnmacht, nur Simions zugreifen verhinderte seinen Aufprall auf dem Marmorboden. Lucas rang mit dem Butler und ein Schuss fuhr klirrend in den künstlichen Lüster, bevor er ihn in einen festen Griff zwang. Die drei ungebetenen Besucher zerrten, schoben oder schleiften die Schlossbewohner in die Mitte der Halle. Als alle einen Moment ruhig hielten, tauschten die Fremden tiefe Blicke. Ein Schleier zog vorbei. Der Schlossherr erwachte wieder, sah aber genauso abwesend drein wie seine Frau und sein Diener. Willig ließen sie ihre Hände miteinander verbinden, warteten geduldig auf ihr Schicksal. Noch einmal versenkten die drei Fremden ihre Blicke, diesmal länger und intesiver. Abermals schlossen sie ihre Augen - und öffneten sie wieder. Ihre drei Opfer waren fort, und sie machten einen Rundgang durch das Schloss. ***
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Der Schlossherr, seine Frau und der Butler starrten die Eindringlinge entsetzt an, die wie aus dem nichts erschienen waren. Bevor sie fliehen konnten, ergriff der Mob sie, und traktierte sie mit Püffen, Schlägen und Spucke. "Bindet sie, bring sie hinaus! Auf den Scheiterhaufen mit ihnen!" brüllte eine überschnappende Stimme von draußen. Bis die drei den Hof erreichten, konnten sie sich kaum mehr aufrecht halten. Sie bluteten, ihre Kleider hingen zerfetzt herunter. Der Butler gab einen vergeblichen Schuss aus seinem Revolver ab. Die eisenbeschlagene Spitze eines Dreschflegels zerschmetterte seine Hand, der Revolver -- das Teufelszeug - verlor sich in der Menge. Sein einziges Opfer trug man hinaus, wo es seinen Märtyrertod sterben durfte. Nichts konnte die Masse jetzt noch überzeugen, dass alles mit rechten Dinge zugehe. Der Priester überlies das Feld seinen Schergen und gesellte sich zum Graf. Dieser grinste fröhlich, seine Frau wirkte eher gelangweilt. Während die drei Gefangenen auf den Scheiterhaufen gebunden wurden, glänzte der Priester in einer weiteren Sternstunde: Pathetisch forderte er die drei auf, alles zuzugeben und der dunklen Hexerei abzuschwören, rief noch mal alle Engel und Heiligen an, bemühte die großen Inquisitoren jener Zeit und forderte zuletzt seinen Gott auf, Gerechtigkeit walten zu lassen. Dann verstummte er. Mit ölgetränkten Lumpen entfachten die selbsternannten Henker das Feuer. In seinem auflodernden Schein zeigten sich endlich die Gesichter der drei Leute deutlich. Die Meute schien es nicht zu stören, dass die drei plötzlich anders aussahen als noch am Tag zuvor. Es waren schließlich Zauberer, nicht wahr? Der A ntichrist musste brennen - in welcher Gestalt auch immer. Doch der Graf erbleichte, ebenso seine Frau und der Priester: Auf dem Scheiterhaufen vor ihnen standen fast ihre Ebenbilder. Die Gefangenen blickten sie entsetzt übers Feuer an, erkannten ihre Verwandtschaft. Sie verstanden nichts, schrien in Agonie und Zorn. Auch der Graf begann zu schreien. So schnell schon traf ein, was die Hexe prophezeit hatte: "Deine eigenen Nachfahren werden dich verfluchen" Von dem Tag schwebte der Wahnsinn in seiner Familie nur einen dünnen Schleier entfernt. Das Schloss aber wurde nur einige Jahrhunderte von Menschen gestört, bis seine unirdischen Erbauer zurückkehrten.
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Rauhnacht von Karin Sittenauer
In den Nächten des Jahreswechsels geht Sonderbares vor sich..
Rauhnacht Marianna beugte sich näher zum Kamin, um die geringe Helligkeit der züngelnden Flammen besser nutzen zu können. Sie brauchte etwas um ihre düsteren Gedanken zu vertreiben, selbst wenn es sich nur um die Näharbeit in ihren Händen handelte. Obwohl der Abend erst anbrach herrschte vor den Fenstern schon lange tiefe Dunkelheit. Marianna sehnte sich nach dem Frühling, nach warmen, hellen Tagen. Jetzt aber war gerade erst Weihnachten vergangen und die Nacht verdrängte den Tag so schnell, als hätte die Sonne für immer aufgegeben, sich über die Gipfel der Berge zu erheben. Marianna vermied es aufzublicken und in die finsteren Quadrate der Fenster zu starren. Sie hatte das Gefühl, Gespenster würden herein starren und sie beobachten. Wenn ihr Bruder käme, dann wollte sie ihn bitten, die Fensterläden zu schließen. Sie selbst würde heute keinen Schritt vor das Haus treten. Es war Rauhnacht und sie hatte Angst. Zugegeben eine kindische Furcht, die sich nicht abschütteln ließ, obwohl Marianna sie zu verbergen versuchte. In den Rauhnächten gingen die Geister der Toten um und der Teufel holte sich die Seelen der Lebenden. Auf der Treppe polterte es und Marianna wandte sich von ihrer Arbeit ab. Einen Augenblick zitterten ihre Hände. Eine Gestalt mit einer widerlichen Fratze stieg herab. Sie hatte Hörner auf der Stirn und ein dumpfes, kehliges Lachen tönte über unbewegliche, verzerrte Lippen. "Na, Schwesterchen, wie gefalle ich dir?" Marianna bemerkte erst jetzt, dass sie den Atem angehalten hatte und musste über ihre eigene Torheit lachen. Matthias blieb vor ihr stehen und sie erwiderte: "Du siehst schrecklich aus, wie der Teufel persönlich." "Das wollte ich ja! - Ist es gelungen?" Er drehte sich vor ihr und sie nickte. "Ja, es ist gelungen. Man erkennt dich wirklich nicht mehr. Wann wirst du gehen?" Matthias nahm die hölzerne Maske ab und blinzelte ihr schalkhaft zu. 22
"Gleich. Um acht Uhr treffe ich mich mit meinen Freunden, und dann kann es losgehen. Heute ist niemand vor uns sicher!" "Schließt du bitte noch die Fensterläden, bevor du gehst?", fragte Marianna leise. Forschend blickte er ihr ins Gesicht, bis sie verlegen die Augen senkte und tat, als würde sie weiter nähen. "Hast du Angst?", fragte er dann. "Ach Unsinn", wehrte sie ab, errötete dann aber und gestand: "Ich bleibe nicht gerne alleine zu Hause." "He, du brauchst dich wirklich nicht zu fürchten! Meine Freunde und ich werden dort draußen einen solchen Radau veranstalten, dass kein Geist es wagen wird, ins Tal herabzusteigen. Wir verscheuchen sie alle! - Aber ich schließe die Läden, wenn du dich dann wohler fühlst." "Danke", flüsterte sie. Sie blickte ihm nach, als er das Haus verließ und schon hörte sie, wie ein Fensterladen nach dem anderen zugeschlagen wurde. Als Matthias wieder eintrat, schleppte er einen schweren Korb voller Brennholz. "So, jetzt hast du wahrlich keinen Grund mehr, das Haus zu verlassen", lachte er in seiner unbeschwerten Art. "Ich werde jetzt gehen, oder kann ich noch etwas für dich tun?" "Nein, nein - ich wünsche dir viel Spaß!" "Den werde ich haben, da kannst du sicher sein!" Er wickelte sich in seinen dicken Mantel und griff nach der scheußlichen Maske. "Verriegel die Türe hinter mir, ich klopfe an, wenn ich wiederkomme." Mit beschwingten Schritten stürmte er hinaus und Marianna schob den Riegel vor. Dies tat sie normalerweise nie, es war auch nicht nötig in ihrem Heimatdorf. Doch in den Rauhnächten durfte man nicht leichtsinnig sein. Wieder setzte sie sich vor das Feuer und durchbohrte den widerspenstigen Stoff mit der zu kleinen Nadel. Letztes Jahr war ihr Vater noch bei ihr gewesen. Gewiss, er war alt und gebrechlich gewesen, kaum eine Hilfe, doch seine Nähe hatte gut getan und beruhigt. Er fehlte ihr und sie fragte sich, ob auch sein Geist in diesen Nächten ruhelos umher irren musste. Unmöglich - ein gütiger und liebevoller Vater wie er hatte einen Platz im Himmel erhalten, daran zweifelte sie nicht. Ihr Blick wanderte häufig zur Uhr, doch die Zeit kroch dahin, als hätte sie jemand 23
in Fesseln gelegt. Es würde noch ewig dauern, bis Matthias wieder zurück käme. Plötzlich fiel es Marianna ein: Sie hatte vergessen, den Kreis um ihren Platz zu ziehen, den Kreis, der die Dämonen fern hielt! Sie sprang auf, eilte zum Herrgottswinkel und kramte unter den Tannenzweigen die geweihte Kreide hervor. In fliegender Hast zog sie vor dem Kamin ein weißes Band, das sie schließlich zum Kreis schloss. Sie malte Kreuze hinein, so wie ihre Großmutter es sie einst gelehrt hatte. - Hoffentlich war es noch nicht zu spät! Beruhigter setzte sie sich in die Mitte und blickte wieder zur Uhr. Zwölf Uhr, die Stunde der Geister. Sie hatte es noch rechtzeitig geschafft! Ein Fensterladen hatte sich gelockert und klopfte im aufkommenden Wind an die Mauer. Aus dem steten Klopfen wurde Hämmern und sie begriff, dass jemand an der Türe war. Das musste Matthias sein! Sie sprang auf und rief: "Wer ist da?" "Ich bin es, dein Bruder!" Geschwind schob sie den Riegel zur Seite und lies Matthias herein. Er hatte noch die Maske am Kopf, doch Marianna erschrak trotzdem nicht mehr. Sie wollte zum Kamin zurückkehren, aber der Mann versperrte ihr den Weg. "Du wirst den magischen Kreis nicht betreten", sprach er. Seine Stimme hatte sich verändert und dies lag nicht nur an der Maske, die den Mund verdeckte. Etwas stimmte hier nicht. Der Mund bewegte sich beim Sprechen! Das war ein wirkliches Gesicht! "Ich bin gekommen, um dich zu holen." Marianna erbebte. Konnte dies der Teufel sein, oder der Tod, oder ein anderer Dämon? Er setzte sich ruhig an den Tisch und starrte sie mit kalten Augen an. Wieder klopfte es an der Türe. "Geh' und öffne", sprach das Wesen. Wie in Trance gehorchte Marianna. Als sie den Ankömmling erkannte, erschrak sie fürchterlich. Ihr Vater trat in das Haus und schob sich zwischen den Mann und Marianna. Waren die Toten lebendig geworden? Wie konnte ihr Vater hier bei ihr sein? "Du wirst sie nicht bekommen, Herrscher des Bösen!", rief er eindringlich. Der Fremde lachte laut auf, beugte sich ein wenig nach Vorne und hauchte einen langen, hohen Ton über die Lippen. Marianna fühlte, wie eine kalte Klaue aus 24
Angst und Entsetzen sie packte und sie wehrlos zu Boden stürzte. Nebelhaft begriff sie, dass ihr Vater sich über sie beugte und sie hochhob. Er war jetzt wieder kräftig, nicht mehr von der schweren Krankheit gezeichnet. "Hattest du gedacht, du könntest es verhindern?", rief das Wesen. "Dem Tod kann man nicht entgegentreten. Ich muss meinen Kandidaten nicht ins Gesicht sehen, um sie ins Jenseits zu führen!" Er lachte - ein leises, zischendes Geräusch. Dann vernahm Marianna nichts mehr, nur das Anschlagen des Fensterladens in weiter Ferne. Wieder wurde das Klopfen des Ladens stärker, lauter und eindringlicher, bis Marianna begriff, dass jemand an die Türe schlug. Sie blickte auf die Uhr, es war genau zwölf. Zitternd vor Kälte stand sie auf und näherte sich der schützenden Barriere. "He, Marianna, mach endlich auf. Ich erfriere hier!" Es war Matthias! Stand er wirklich draußen? Vorsichtig öffnete sie und ein Windstoß schob ihn herein. Er trug noch immer die Maske und Marianna wich zurück. Sie wollte in den magischen Kreis fliehen, doch als sie am Kamin ankam, existierte keiner. Das Feuer war herab gebrannt, Finsternis und Kälte herrschten im Raum. "Fehlt dir etwas? Du bist bleich", fragte der Mann. Sie drehte sich wieder zu ihm, er hatte die Maske abgelegt und sie sah Matthias' besorgten Blick auf sich gerichtet. Erleichtert und verwirrt zugleich schüttelte sie den Kopf und stotterte: "Ich ... glaube, ich ... ich habe geschlafen."
Als Rauhnächte bezeichnet man seit Alters her die Nächte zwischen dem 21. Dezember und dem 6. Januar. In späterer Zeit wurde dies ein wenig eingeschränkt und sie begannen erst ab dem 24. Dezember. In diesen dunklen, oft stürmischen Nächten gingen laut Volksglauben die bösen Geister um und wollten Schaden für Haus, Stall und Hof bringen. Deshalb bekleideten sich einige Bewohner der Ortschaften mit Fellen, verdeckten ihr Antlitz mit Masken (Perchten) und vertrieben ihrerseits durch noch lauteren und stärkeren Radau, noch wilderes Aussehen die Geister. Dadurch kehrten die langen Tage wieder zurück und der Frühling konnte schließlich wieder Einzug halten. Obwohl ich mich auf meiner Homepage durchwegs der "Neuen Rechtschreibung" bediente, beließ ich das alte Wort "Rauhnacht" bewusst in der ursprünglichen Schreibweise. Ich sehe es als Eigenname an und weigere mich deshalb, "Raunacht" zu schreiben. Der Begriff Rauhnacht leitet sich von "rauh" oder "rauch" ab, was ursprünglich "behaart" bedeutete.
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So tragen die Perchtenläufer auch heute noch Felle - sind demnach behaart oder eben "rauh". In späterer Zeit kam zusätzlich der Brauch auf, in den Rauhnächten den Stall und das Wohnhaus mit Weihrauch auszuräuchern. Auf diese Weise versuchte man die bösen Geister, die in diesen langen Nächten umgingen, fern zu halten. Auch daher wird der Begriff Rauhnacht abgeleitet. Er hat also wenig mit dem heutigen "rau" (alt: rauh) zu tun, sondern eher mit behaarten Fellen und Rauch.
Allen Leute, die mehr über Rauhnächte wissen wollen, kann ich die Homepage http://perschten.de/welcome.htm empfehlen. Unter "Bedeutung der Perchten" wird der Brauch sehr ausführlich erklärt. Auch findet man auf diesen Seiten viele Abbildungen von Perchten, so dass man sich das wilde Treiben besser vorstellen kann.
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Der Blarney-Stone von Nicole Rensmann
Es ist der Stein der Verliebten, aber über ihm schwebt ein düsteres Geheimnis
Wer kennt sie nicht: Die alten Legenden, die langüberlieferten Sagen und legendären Geschichten? Wer hat nicht schon mal seinen Kopf über den einen oder anderen Mythos geschüttelt? Oder sich gefragt, wieviel an dem Erzählten der Wahrheit entspricht. Vor langer, langer Zeit traf ich einen alten Geschichtenerzähler. Er war weit gereist und hatte schon viel erlebt und gehört. Seine Kleider waren zerschlissen und mit Dreck und Staub bedeckt von all den vielen Orten, die er besucht oder durch die er nur hindurchgewandert war. Sein Gesicht und seine Hände waren runzelig und erzählten genauso viele Geschichten, wie er selbst zu berichten hatte. Er erzählte mir eine atemberaubende, so schrecklich schaurige, bösartige und doch wundervolle Liebesgeschichte, daß mir beim Gedanken daran noch ganz kribbelig und ängstlich wird und sich mein Körper mit einer pickeligen Gänsehaut überzieht! Wenn Sie schon einmal in Irland gewesen sind, wissen Sie, daß gerade dieses Land von Sagen und Legenden nur so bestückt ist. Diese Geschichte, die ich Ihnen wiedergeben möchte, spielt in Irland, genauer gesagt im Nordwesten von Cork. Dort befindet sich das Blarney Castle. Und unmittelbar bei diesem alten, etwas verwitternden Schloss findet sich auch der Blarney Stone. Ein Stein, der, wenn man ihn kopfüber küßt, Redseligkeit verspricht. Der Geschichtenerzähler sagte mir, daß auch er den Stein geküßt habe und seitdem noch erfolgreicher und phantasievoller seine Geschichten erzählen kann. Eines Tages wohl begab sich ein unsterblich verliebtes Pärchen auf den Weg nach Irland. Ein Land, das nicht nur für Schatzsucher, Geschichtenerzähler und Entdecker geeignet, sondern auch für Verliebte geradezu geschaffen ist. Weite Landschaften und saftige Wiesen, romantische Burgen und empore Schlösser. Dieses Pärchen nun begab sich auch in das Blarney Castle. Natürlich wollten beide auch den Stein küssen, wie viele Menschen vor ihnen. Vielleicht wollten Sie selbst einmal Geschichten erzählen können. Vielleicht aber auch nur, um zu wissen, wie sich der Stein anfühlt oder einfach nur aus Abenteuerlust oder um bei der Heimkehr davon berichten zu können. Wie es damals nun einmal Sitte war, ließ der Herr der Dame den Vortritt. Auch der junge Mann wollte, daß seine Geliebte zuerst dieses Erlebnis spüren solle. Doch sie sträubte sich und bat ihrem Gemahl den Vortritt. Sie wußte nicht, daß sie dies bitterlich bereuen würde. Der junge Mann legte sich auf den Rücken vor den Abgrund, griff an die beiden Eisenstangen, die rechts und links zum Festhalten angebracht waren, und drehte den Kopf nach hinten. Er küßte die alten Gemäuer vorsichtig und zaghaft. Doch trotz aller Vorsicht und noch bevor sich der Mann aufrichten konnte, schoss plötzlich eine Hand aus der sich darunter befindlichen Leere hervor. Grau, böse und häßlich. Der Herzallerliebste wurde in den Abgrund und in den bitterlichen Tod gerissen. Die zurückgebliebene, arme Frau war darüber so unglücklich und entsetzt, daß sie tagelang den Ort der Trauer nicht mehr verliess. Bis die völlig Verzweifelte einen, für sie einzigen und unwiderbringlichen, Weg fand, um mit dem schmerzenden Verlust leben zu können. Auch sie legte sich vor den Blarney Stone. Genau an die Stelle, an der ihr Geliebter den schrecklichen, unglaublichen Tod fand. Zitternd und mit beiden Händen umfaßte sie die kalten, rostigen Eisenstangen. Genauso wie Ihr Geliebter es Tage zuvor getan hatte, küßte sie nun den Stein. Doch nicht zaghaft und vorsichtig, sondern hingebungsvoll und mit aller Liebe und Zärtlichkeit, die sie 27
im Stande war zu geben, und die sie bisher nur ihren Geliebten hatte spüren lassen. Der Stein war nicht bitter oder kalt, er schmeckte nicht nach Kalk oder Dreck. Nein, er war süß und weich und es schien, als würde der Stein sie zärtlich zurückkosen, wie ihr Angetrauter, der ihr so plötzlich und ungnädig geraubt worden war. Und da, oh Himmel, eine Hand schoß hervor und riss die arme Frau in die unendliche Tiefe. An dieser Stelle erschrak ich so sehr, daß ich den Erzähler bat aufzuhören. Doch der Geschichtenerzähler nickte nur weise und fuhr, ohne jegliche Regung, fort: Ein Zeuge will gesehen haben, daß es keine graue, häßliche Hand war, sondern eine junge, feingliedrige Männerhand. An der Hand will man einen silbernen Ring gesehen haben, genau den selbigen, den auch die Frau getragen hat. Die Alten und Weisen in Cork wissen zu berichten, daß das Paar noch heute auf Blarney Castle lebt. Bis in alle Ewigkeit schwörten sie sich ihre Liebe. Bis in alle Ewigkeit werden sie nun zusammen glücklich sein Hier endete der Geschichtenerzähler, und auch ich will dem nur noch hinzufügen, daß noch heute viele Besucher und Pärchen ihren Weg nach Blarney Castle suchen. Doch niemand mehr wird in der Schlucht des Blarney Stones den Tod finden können. Denn kurz nachdem auch die Frau ihr Leben verlor, wurde ein stabiles und festes Gitter über der Schlucht angebracht. Nicht zuletzt auch, um den beiden Liebenden für immer ihre zärtliche Ruhe zu gönnen. ENDE
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Nebenwirkungen von Nicole Rensmann
Wenn Liebesnächte in einem Albtraum enden. Es bleibt nur noch Angst!
Katharina starrt in den kleinen Wandspiegel, der über dem weißen Waschbecken in ihrem Badezimmer hängt. Es ist 6 Uhr 30. Die Müdigkeit, die sich immer noch hartnäckig an sie klammert, versucht sie krampfhaft zu verscheuchen, indem sie sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzt. Gestern abend, wie immer pünktlich um 20 Uhr, war Thomas gekommen. Die Nacht war wieder einmal wild, feucht und viel zu lang gewesen. Sie hat Thomas vor einem halben Jahr auf dem Polterabend eines Kollegen kennengelernt. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, aber der erotische Funke sprang bei beiden sofort über. Und so beschränkten sich ihre Gemeinsamkeiten auch nur auf´s Bett. Diese Geschichte mit Thomas war für Katharina das Seltsamste, was ihr jemals passiert war. Die Abende an denen Thomas bei ihr war, verliefen stets gleich: Sie fielen, wie die wilden Tiere, übereinander her, liebten sich mal leidenschaftlich, mal zärtlich und wälzten sich auf dem französischen Bett hin und her. Für Katharina war der Sex mit Thomas der beste, den sie je erlebt hatte. Aber mehr auch nicht. Sie redeten nie viel. Sie schliefen nur miteinander. In den frühen Morgenstunden verabschiedeten sie sich, und jeder ging seinen eigenen Weg. Viele Gedanken über diese Beziehung hatte sich Katharina bisher nie gemacht. Er verlangte nichts von ihr und sie nicht, von ihm. Sie beschränkten sich auf ihre sexuellen Neigungen und Praktiken. Beiden reichte dies. Auch wenn gerade diese oberflächliche Art für Katharina völlig untypisch war. Früher mied sie Männer, die nur auf Sex mir ihr aus waren. Sie sah sehr gut aus. Und war erfolgreich in ihrem Beruf als Co-Redakteurin eines angesehenen Polit-Magazins. Und so kam es öfters schon mal vor, daß der eine oder andere Kollege den Nachtisch des Geschäftsessens ins Bett verlegen wollte. Auch zu den oberflächlicheren Freundinnen hatte sie kaum mehr Kontakt. Nur mit ihrer besten Freundin Stefanie telefonierte sie immer noch mehrmals täglich. Mal länger, mal kürzer, so wie es der Job zuließ. Auch Stefanie konnte die Geschichte mit Thomas nicht verstehen, akzeptierte sie aber, so lange es Katharina dabei gut ging. Bei Thomas war einfach alles anders. Katharina wußte nicht genau warum und wollte sich darüber auch einfach keine Gedanken machen. Vielleicht würde aus dieser sexuellen Beziehung eines Tages auch mal mehr werden. Wer weiß das schon? Das einzige worauf sich Katharina weiterhin verlassen hatte, war die Verhütungsmethode. Es war ihr zu gefährlich, sich auf den Mann zu verlassen. Und darum nahm sie die Pille. Sie hatte auch schon über Sterilisation nachgedacht, doch sie konnte sich nicht dazu durchringen. Vielleicht entschied sie sich ja eines Tages für ein Kind, wenn ihr der richtige Mann über den Weg lief. An diesem Morgen sieht sie besonders zerknittert aus. Ihr schwarzes Haar ist stumpf und struppig. Kein Wunder, sie hatte ja auch nur drei Stunden geschlafen. Katharina wendet den Blick von Ihrem Spiegelbild ab und steigt unter die Dusche. Heißes Wasser rieselt auf ihren schlanken Körper. Langsam seift sie sich ein. Ihre Hände wandern zu ihren prallen Brüsten, über ihren flachen Bauch, zu ihren schlanken Beinen. Ihre, sonst so glatte, Haut fühlt sich anders an. Irgendwie rauher, als hätte sie sich in Sand gewälzt. Katharina hat eigentlich wenig Probleme mit trockener oder unreiner Haut. Ab und zu herrschte zwar auch in ihrem schönen Gesicht das Streuselprinzip. Immer wenn ein wichtiger Termin auf sie zukam, traten diese widerlichen roten Pusteln in Erscheinung. Doch sie war alt genug zu wissen, daß das Aussehen nicht alles ist. Wichtig war zwar auch die äußerliche Erscheinung in ihrem Job. Vor allem aber war Power, Intelligenz und Engagement gefragt. 29
Aber diese unzähligen kleinen Pickelchen bereiten ihr nun ein wenig Kopfzerbrechen. Allergien hatte sie bisher nicht in dieser Form gehabt. Irgendwann erlebt man ja alles zum ersten Mal. Ein Blick auf ihre Badezimmeruhr zeigt ihr, daß es höchste Zeit ist, sich fertig zu machen und sich nicht mit irgendwelchen allergischen Reaktionen auseinanderzusetzen. Schnell trocknet sie sich ab, zieht sich an, rafft ihre Unterlagen zusammen und verläßt eiligst das Haus. Als Katharina am späten Abend von Ihrer Arbeit nach Hause kommt, fühlt sie sich ausgelaugt und schlapp. Sie läßt sich auf die bequeme, schwarz gepolsterte Ledercouch fallen, legt die Beine auf den Tisch und den Kopf auf die Lehne. Mit geschlossenen Augen läßt sie den Tag Revue passieren. Eigentlich war nichts passiert, was diese totale Abgeschlafftnheit erklären ließe. Schließlich war sie es schon immer gewöhnt gewesen, nicht viel zu schlafen. Und trotzdem, seit kurzem fühlte sie sich, als hätte sie eine Grippe. Und heute ist es besonders schlimm: Ihre Beine schmerzen, ihr Rücken schreit nach Entspannung, in ihrem Kopf hämmert ein Paukenkonzert, und heute morgen die unerklärliche Entdeckung der vielen kleinen Pickel. Auch ihr Gesicht fühlt sich heiß an. Ihre Knöchel sind leicht angeschwollen und gerötet. Seufzend quält sie sich vom Sofa hoch und stolpert ins Bad. Katharina beugt sich über die Badewanne, dreht den Wasserkran auf und läßt sich heißes Wasser einlaufen. Sie hofft, ein heißes Bad wird ihr die ersehnte Entspannung bringen. Als genug Wasser eingelassen ist, entkleidet Katharina sich, steigt in die Wanne und gleitet in das warme Wasser. Katharina seufzt wieder. Doch diesmal vor Wohlbehagen. Sie schließt die Augen und denkt, das erste Mal intensiv, über die Beziehung zu Thomas nach. Es ist schon merkwürdig: seit sie ihn kennt, hat sich einiges in ihrem Leben zum Negativen gewendet. Viele ihrer sonst so anerkannten Stories stießen nun in der Redaktion nicht gerade auf Gegenliebe. Ihre körperliche Verfassung war ebenfalls schlechter geworden. Könnte es sein, daß es wirklich an zu wenig Schlaf lag oder an den ständig übersprudelnden Hormonen? Oder wurde sie einfach nur alt? Bei dem letzten Gedanken muß sie schmunzeln und rutscht noch ein bißchen tiefer in das heiße Wasser hinein. Sie überlegt, was sich geändert haben könnte seit dem Moment, in dem sie Thomas kennengelernt hat. Und vor allem, was sich so negativ auf ihren körperlichen Zustand auswirken konnte. Ihr will partout nichts einfallen. Nirgendwo findet sie einen Zusammenhang. Sie schließt die Augen und denktdaran, daß sie ihre Pille noch nehmen muß. Und da, ganz plötzlich und heimlich, schleicht sich der Zusammenhang zu einem konkreten Gedanken in ihren Kopf. Ruckartig setzt sie sich in der Wanne auf. Könnte es sein ...? Katharina hatte, nachdem Thomas und sie die erste heiße Nacht miteinander verbracht hatten, die Pille gewechselt... auf seinen Wunsch. Er hatte ihr diese Pille besorgt. Sie hatte nicht nein gesagt. Zwar hatte sie nachgefragt, aber sie wußte, daß er für einen Pharma-Konzern arbeitet, und irgendwie vertraute sie Thomas. Es war so günstiger für sie und sie konnte ohne Probleme schon mal den Arzttermin verschwitzen, weil sie nicht mehr auf das Rezept angewiesen war. Mein Gott, war sie naiv gewesen, überlegt sie jetzt und patscht sich mit der nassen Hand an die Stirn. Eigentlich hatte sie Thomas doch gar nicht gekannt. Außer seinem braunen, muskulösen Körper, seinen heißen Küssen und seinen rhythmischen Bewegungen, wenn er in sie eingedrungen war, war er für sie praktisch ein fremder Mensch. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein? Langsam legt sie sich wieder ins Wasser zurück, läßt noch etwas heißes Wasser nachlaufen. Sie untersucht genauestens ihren Körper. Überall ist sie mit kleinen roten Pickeln übersät. Ihre Gelenke sind immer noch geschwollen. Und ihre Zehen, stellt sie mit Entsetzen fest, haben alle blaue Verfärbungen. Sie muß sich Klarheit verschaffen. Vielleicht hat sie ja auch nur die Masern oder eine 30
ähnliche Kinderkrankheit. Obwohl, überlegt sie, hat sie die nicht alle hinter sich? Dann ist es bestimmt doch nur eine Allergie gegen irgendein Nahrungsmittel. Auf jeden Fall will sie morgen zum Arzt gehen, doch zuerst will sie den Beipackzettel ihrer Pille studieren. Eventuell ergibt sich daraus ein Hinweis auf ihren Krankheitszustand. Ja, genau das will sie jetzt als erstes erledigen. Und dann kann sie immer noch einen Arzt aufsuchen. Mit einem Ruck erhebt sie sich aus dem Wasser. Eine kleine Welle schwappt über den Rand und durchnäßt das dort liegende blaue Handtuch. Katharina greift sich ihren flauschighellgrünen Bademantel, schlüpft schnell hinein und bedeckt so einen Teil ihrer Blessuren. Auf dem Weg ins Schlafzimmer spürt sie einen stechenden Schmerz im rechten Fußballen. Jedesmal wenn sie den Fuß aufsetzt, zuckt sie erschreckt zusammen. Leicht genervt von ihren Wehwehchen zieht sie die Schublade ihres Nachttischchens auf. Sie räumt eine Packung Tempos, Kondome, ihre Nachtcreme, eine Nagelfeile, einen alten Roman und noch einige andere Dinge aus der Schublade, bis sie endlich in der hintersten Ecke der Lade das findet, was sie sucht. Es scheint fast so, als wollte sich die Packung vor ihr verstecken. Mit einem ironisch-witzigen: "Du entkommst mir nicht!" zieht Katharina die schmale Verpackung heraus. Ihre geschwollenen Gelenke schmerzen immer noch, und so hat sie einige Schwierigkeiten, den kleinen, zusammengefalteten Zettel aus der Packung zu ziehen. Doch nach ein paar Sekunden schafft sie es. Sie legt sich mit dem Bauch aufs Bett, stützt sich mit den Unterarmen auf und liest den Beipackzettel: Gebrauchsinformation "Ella M 229" Wir bedanken uns für Ihr Vertrauen! Sie halten ein völlig neuwertiges und noch nicht erprobtes Präparatin den Händen. Diese außergewöhnliche Pille wird, mit Ihrer Hilfe,den zukünftigen Markt der Verhütungsmittel als Nr. 1 anführen. Aus Katharina´s Gesicht weicht jegliche Farbe. Sie verspürt eine unerklärliche Angst. Eine schreckliche Vorahnung durchzuckt Ihre Gedanken. Ihre Hände, die das Stück Papier halten, zittern. Die Zusammensetzung, Anwendungsgebiete und Dosierungsanleitung überspringt sie. Hektisch sucht sie nach dem Wort Gegenanzeigen: Gegenanzeigen sind Krankheiten oder Umstände, bei denen... Sie überfliegt die üblichen Floskeln und liest... Bisher sind beim Menschen keine Gegenanzeigen bekannt, da diese aus Kostengründen nicht erprobt werden konnten. Bei unserem Versuchstier, der Ratte, konnten auf Grund mangelnder Erkenntnis keine Gegenanzeigen festgestellt werden. Katharina stöhnt gequält auf. Ratte! Versuchstier! Mangelnde Erkenntnis! Auf was hat sie sich da nur eingelassen? Nebenwirkungen: Arzneimittel können neben den erwünschten Hauptwirkungen auch uner31
wünschte ... Katharina wendet den Zettel und liest auf der zweiten Seite... Nur in seltenen Fällen wurden bei unseren Versuchstieren folgende Veränderungen beobachtet. Wir möchten aber vorab darauf hinweisen, daß diese Veränderungen nur bei sehr empfindlichen und paarungsfreudigen Tieren beobachtet wurde. Diese Nebenwirkungen sind vermutlich auf die vermehrte Hormonausschüttung zurückzuführen. In seltenen Fällen können Hautveränderungen in Form von Ausschlag oder Rötungen auftreten, Anschwellen der Gelenke und der Organe. Im weiteren Stadium wurden Verfärbungen der Gliedmaßen beobachtet, die auf Durchblutungsstörungen zurückzuführen sind. Außerdem wurden Haarausfall, Reizhusten und Asthma, Ödeme, Schluckbeschwerden, und Herzrhythmusstörungen beobachtet. Im weiterem Stadium trat vermehrt Krebs in verschiedenen Formen auf, der schließlich zum Tode führte. All diese Nebenwirkungen traten innerhalb von sechs Monaten ein. Sollten Sie eine oder mehrere der Nebenwirkungen an sich beobachten, setzen Sie das Präparat bitte nicht ab. Denn Sie sind eine der nur wenigen menschlichen VersuchsPersonen. Nur mit Ihnen ist es uns möglich, ein hundertprozentig gutes Medikament auf den Markt zu bringen. Katharina ringt nach Atem. Vor Entsetzen krallen sich ihre Finger in das Kopfkissen. Sie gräbt ihren Kopf hinein. "..Eine, von nur wenigen menschlichen Versuchspersonen..." heißt es. Für einen kurzen Moment schnürt Angst ihre Kehle zu. Dann schreit sie ihre Panik in das Kissen hinein. Solange, bis sie nur noch weinend und schluchzend auf ihrem Bett liegt. Nun fällt ihr auch das Schlucken schwerer. Vielleicht liegt es an den Nebenwirkungen, vielleicht liegt es an ihrer Angst. Vielleicht ist es auch nur Einbildung. Ihr Verstand arbeitet auf Hochtouren. Mein Gott, wie konnte sie nur so naiv und blöd gewesen sein. Sonst war sie immer so mißtrauisch. Und bei diesem Kerl hat sie alles über den Haufen geworfen. Und wofür? Für guten Sex! Sie schüttelte verständnislos den Kopf über ihren Leichtsinn. Ein Fehler, der vermutlich nie mehr gut zu machen ist. Krampfhaft überlegt sie, was sie tun kann, um vielleicht den restlichen Nebenwirkungen entgehen zu können. Es ist ihr klar, daß vermutlich irreparable Schäden auf sie zu kommen werden, vielleicht sogar der Tod. Sie greift nach dem Telefon, das neben ihr auf dem Nachttisch steht. Und wählt die Nummer ihrer besten Freundin. "Stefanie Bremer" hört sie die freundliche Stimme. Katharina muß ein paarmal schlucken, eher sie einen Ton aus ihrer trockenen Kehle bekommt. Erneute Angst schnürt ihr die Worte ab. "Wer ist denn da? Oh, man, wieder so ein Bekloppter, der das Sprechen verlernt hat." Doch bevor Stefanie den Hörer aufknallen kann, gelingt es Katharina, 32
krächzend etwas zu sagen: "Steffi." "Mein Gott, Katharina, bist Du das? Du hörst Dich schlimm an. Was ist los?" fragt Stefanie besorgt. Weinend und schluchzend, mit Pausen, in denen sie nach Atem ringt, berichtet Katharina was geschehen ist. Sie teilt ihre Vermutungen und ihre Ängste mit. Das erwartende Schweigen am anderen Ende, nach der Beendigung Ihres Berichts, dauert nur einige Sekunden. Sekunden, die Katharina wie Stunden vorkommen. Dann sagt Stefanie entschlossen: "Ich komm zu Dir." Katharina legt den Hörer auf. Und wartet auf ihre Freundin. Kurze Zeit später klingelt das Telefon. Überrascht, diesen Ton zu hören, und nicht die Türglocke, nimmt sie ab. Noch bevor sie sich melden kann, ertönt die Stimme von Thomas. Haß zeichnet sich in Katharinas Gesicht ab. Haß auf Thomas, auf diese Pille, aber auch auf sich selbst. "Hallo, Süße. Ich wollte Dir nur sagen, daß ich überrascht bin, wie schnell Du alle Fakten kombiniert hast. Es tut mir leid, eigentlich wollte ich Dir heute abend einen kleinen Trost mitbringen. Einen Schlummertrunk, der dir den Abschied und die Schmerzen erleichtert. Aber wer so unvorsichtig ist und alles ausplaudert, hat kein Mitleid verdient, Liebes. Und was deine Freundin betrifft: Ich würde nicht auf sie warten." Katharina zieht bei dem letzten Satz die Luft panisch und schmerzhaft ein, doch dann antwortet sie ruhig und böse: "Du mieses kleines Arschloch. Hätte ich dir doch beim ersten Mal deinen lausigen Schwanz abgebissen und ihn dir in den Arsch gesteckt. Wenn Du Stefanie etwas antust, wirst du das teuer bereuen. Ich werde dafür sorgen, daß die Pille nicht auf den Markt kommt. Und wenn ich bis zu meinem Tod kämpfen muß." "Aber, Baby," sagt Thomas gelassen, "wer wird denn gleich so böse sein? Deine Pille wird einmal der Renner auf dem Markt werden. Denn die Anwendungsgebiete, die du anscheinend nicht gelesen hast, Süße, sind auf ein viel größeres Spektrum abgestimmt, als nur zur Verhütung. Die seltenen Nebenwirkungen sollte man nicht so ernst nehmen. Du bist eine wirklich empfindliche Frau. Wer hätte das wissen können? Ach, übrigens solltest du noch wissen, daß du in einem Stadium bist, wo es kein Zurück mehr gibt. Ich wünsch dir eine angenehme Ruhe. Lange wird es nicht mehr dauern. Für Rache ist keine Zeit mehr. War eine nette Zeit mit Dir." Dann legt er auf. Einfach so. Das Pfeifen in der Leitung zeigt mehr Gefühl, als die kalte Härte der letzten gesprochenen Worte. Katharina streicht den Zettel glatt, den sie während des Telefongesprächs in ihrer Faust vor Wut und Haß zerknüllt hat. Zu schnell findet sie die Beschreibung der Anwendungsgebiete: Ella M 229 dient zur Empfängnisverhütung. Positive Nebeneffekte wie Lust, stärkere und vor allem häufigere Orgasmen, Vergrößerung der Brust und rundum pralleres und jüngeres Aussehen sind eine Garantie bei Einnahme dieses Produktes. Außerdem verlängert und verschönert es Ihr Leben um einige Jahre. Katharina schluchzt wieder. Doch sie will nicht einfach so aufgeben. Sie will kämpfen bis zum Ende. Sie greift nach dem Hörer und wählt wieder die Nummer von Stefanie. Doch niemand nimmt ab. "Scheiße! Ich bring Euch alle um, wenn ihr Steffi etwas antut. Verdammt!" schreit sie in die leere Wohnung hinein. Dann durchzuckt ein Gedanke ihren Haß. Woher wußte Thomas von dem Telefonat? Für einen Moment fühlt sie sich wie Miss Marple. Sie schraubt den Telefonhörer auf, sucht nach irgend etwas, daß nicht dort hineingehört. Doch ohne Erfolg. Dann reißt Katharina mit höchster Anstrengung das Bett auseinander. Die Schmerzen sind nun schlimmer geworden. Das heiße Bad hat sich auf ihren 33
Körper eher negativ ausgewirkt. Doch mit Kampfgeist, aber schmerzverzerrtem Gesicht sucht sie hinter den Vorhängen, in den Blumentöpfen. Irgendwo muß doch etwas sein. Und dann findet sie es. Es ist keine kleine Wanze, die nur die Gespräche mithören kann. Nein. Es war eine kleine Kamera, angebracht direkt gegenüber ihrem Bett. Eingearbeitet in ihrem Lieblingsbild. Katharina hat keine Ahnung, wann Thomas das gemacht hat. Sie weiß nur, daß ihr Haß und ihre Wut nun noch ein bißchen größer wird. Sie stellt sich vor die Kamera, öffnet reizvoll ihren Bademantel... dreht der Kamera ihren Rücken zu, bückt sich und streckt der Linse ihren Po demonstrativ entgegen. Dann wendet sie den Kopf in Richtung der Kamera und sagt: "Mir steckt ihr nirgendwo mehr was rein... aber euch werde ich verdammt mehr in den Arsch schieben, als es euch lieb ist." Dann greift sie nach einer Vase und demoliert die kleine Linse. Sie reißt das Bild von der Wand und trampelt, sorgfältig darauf bedacht, die Kamera zu zerquetschen, darauf herum. Es tut ihr weh. In der Seele und an ihren Füßen. Doch sie stampft und hüpft weiter darauf herum. Bis nur noch kleine zermalmte Einzelteile auf dem Boden herumkullern und ihre Wut ein bißchen verraucht ist. Erschöpft läßt sie sich auf den Boden sinken. Und nun? Gedanken ordnen, kämpfen, weitermachen. Okay. als erstes ruft sie ihren Kollegen in der Redaktion an. Sie schildert ihre derzeitige Situation, erzählt in Kurzform die Geschichte mit Thomas und liest den Beipackzettel vor. Doch ihr Kollege reagiert längst nicht so, wie sie es sich erhofft hat. "Hört sich etwas seltsam an, findest du nicht? Keiner traut sich doch Menschenversuche, zu starten. Das kannst du doch nicht glauben. Geh mal zum Arzt. Vielleicht hast du irgendeine Krankheit mit Halluzinationen! Und dafür weckst du mich mitten in der Nacht." "Aber Pete, versuch es doch. Versuch etwas über diese Firma herauszubekommen. Bitte, wir haben doch immer so gut miteinander gearbeitet. Du kannst Doch jetzt nicht glauben, daß ich lüge. Bitte, Pete. Nur dieses eine Mal noch!" versucht Katharina ihren Partner verzweifelt umzustimmen. Pete antwortet genervt: "Okay! Aber nur dieses eine Mal. Wo kann ich dich erreichen?" "Ich bin zu Hause... und ich denke, ich sollte auch nicht vor die Türe gehen. Das ist vermutlich zu gefährlich." Dann legen beide auf. Katharina zieht sich Socken, Jeans und Pulli an, und versucht ihre Wohnung und ihre Gedanken zu ordnen. Sie hat Angst um Stefanie, aber sie verdrängt die Tatsache, daß Steffie noch nicht da ist. Sie hofft, daß es doch noch an der Tür klingeln wird und ihre Freundin hereinschneit - unversehrt. Eine Hoffnung, die sich nie in die Realität umsetzen lassen wird. Katharina kocht sich einen Kaffee und wartet auf Pete´s Anruf. Sie überlegt krampfhaft, wen sie noch in Kenntnis setzen sollte. Ihre Eltern sind schon lange tot. Sie hat noch eine Schwester, aber diese lebt in Kanada. Ihre Oma hat sie seit zwei Monaten nicht gesehen. Entschlossen greift sie zum Hörer und wählt die Telefonnummer ihrer Großmutter. Eine alte Stimme meldet sich. "Oma. Hallo, hier ist Katharina! Wie geht es dir?" "Ach Kind, du. Wie schön, daß du Dich meldest. Mein Gott, wie spät ist es denn? Geht´s dir auch gut? Ja, du weißt ja, meine Knochen sind nicht mehr die besten, und das Wetter macht mir zu schaffen, und auch die Blähungen nehmen kein Ende..." Schon nach ein paar Minuten weiß Katharina, daß es ein Fehler war anzurufen. Tränen schießen ihr in die Augen, doch taper schluckt sie diese hinunter. Sie schwatzen noch ein bißchen über dies und das. Mit einem Gefühl des Abschied nehmens beendet sie dann das Gespräch. Leise weint Katharina in sich hinein. Es ist gar nicht so einfach, stark zu sein. Ihre Haut fühlt sich an, als würde sie sich langsam auflösen, und ihre Gelenke schmerzen unerträglich. Sie schluckt drei Aspirin. Dann ruft sie ihren Chef an und erzählt ihm die gleiche Story wie Pete. Sie telefoniert mit allen führenden Zeitungen und Magazinen. Berichtet jedem ihre Geschichte und teilt ihre Theorie mit. Das ist die einzige Chance, die ich noch habe, denkt Katharina. Es muß an die Öffentlichkeit. Da klingelt das Telefon. "Mit wem telefonierst du eigentlich die ganze Zeit, man kommt ja gar nicht mehr an dich ran." "Pete. Hallo. Was hast du raus gekriegt?" Ein Hustenanfall fordert eine Pause bis Pete antworten kann. Katharina muß sich geschwächt auf die Kommode stützen. Wieder wird sie 34
von einem trockenen Husten geschüttelt, dabei spuckt sie einen klebrigen, schleimigen Blutklumpen aus. Ihr wird schlecht. Doch es ist das, was sie schon wußte. Vermutlich lösen sich ihre Organe langsam auf. Sie ringt nach Luft und bittet Pete mit seinem Bericht zu beginnen. Pete räuspert sich und erzählt in knappen Worten was er erfahren hat: "Dieses Pharma-Werk, für das dein Freund arbeitet, ist ziemlich neu auf dem Markt. Es hat seinen Sitz erst seit einem Jahr in unserer Stadt. Wo es vorher war, konnte ich noch nicht rausfinden, aber ich bin mir sicher, daß es nicht neu in der Branche ist. Ich bleib auf jeden Fall dran. Irgendwas stinkt an der Sache. Tut mir leid, wenn ich dir erst nicht geglaubt habe. Ist alles okay. mit dir?" fragt Pete etwas zerknirscht. "Nun, ich denke, ich mache es nicht mehr lange. Und das ist kein Mist. Bring die Sache ans Licht. Mach 'ne gute Story draus. Und halt mich in Erinnerung. Und vor allem, paß auf Dich auf!" Ohne eine Antwort abzuwarten, legt Katharina traurig den Hörer auf. Mitleid oder aufmunternde Worte kann sie jetzt nicht hören. Ihr Körper ist mit einer Schweißschicht überdeckt. Sie friert und zittert. Doch gleichzeitig fühlt sich ihr Körper heiß und aufgebläht an. "Oh Gott, ich will nicht so sterben!" schreit sie verzweifelt in die Stille hinein. Sie fühlt sich allein, machtlos, erschöpft. Aber für einen kurzen Moment hat sie das Gefühl des Triumphes. In dieser Nacht arbeiten die Zeitungespressen auf Hochtouren. Am nächsten Tag wird einer der größten Skandale in der pharmazeutischen Industrie ins Rollen kommen. Katharina wird als die Reporterin des Jahres gekürt werden. Ihr Magazin wird ihr ein Denkmal setzen, was zwar ehrenvoll gemeint sein, aber zu schnell in Vergessenheit geraten wird. Zwei Tage später werden zwei Todesanzeigen in der Tagespresse stehen: Statt besonderer Anzeige Heute starb aus unerklärlichen Gründen und für uns alle unfaßbar unsere liebste Tochter, meine Schwester, Patentante, Freundin und Kollegin Stefanie Bremer * 12.03.1965 + 15.07.1999 In Trauer: Die Hinterbliebenen Wir werden Dich nie vergessen! Sie wurde um ihr Leben betrogen. Doch sie kämpfte bis zum bitteren Ende. Wir trauern um unsere Kollegin Katharina Meinard * 25.09.1966 + 15.07.1999 Wir werden Ihr ein unvergeßliches Andenken geben und sie stets in unseren Herzen tragen. In der gleichen Nacht, in der Stefanie starb, starb auch Katharina. Nach dem Telefonat mit Pete verflog Katharinas Wut. Sie machte der unaussprechlichen Angst vor Schmerzen und Tod Platz. Sie wollte weinen, doch es ging nicht. Tränen wollten keine mehr fließen, und so legte sie sich auf´s Sofa. Sie wollte nicht qualvoll sterben, ein Arzt würde ihr nicht helfen 35
können, das war ihr in zwischen klar. In den letzten Stunden waren ihr zwei Zehen abgefallen. Und die Schmerzen waren unerträglich geworden. Es würde nichts nützen. Sie würde sterben, egal, was sie noch tun würde. Sie quälte sich zurück ins Schlafzimmer, kniete sich vor ihre Kommode und holte den kleinen Revolver heraus, den ihr Vater ihr vererbt hatte. Ihr linker Arm war völlig taub. Ihre Beine konnte sie kaum noch bewegen. Sie prüfte nach, ob noch Patronen eingelegt waren, dann steckte sie den Revolver in den Mund. Sie dachte an Stefanie. Sie wußte, daß sie tot war. Dann drückte sie ab. Katharina starb mit einem Schrei auf ihren Lippen und einer Bitte in ihren Gedanken. Und mit der Hoffnung, daß den Verantwortlichen das Handwerk gelegt werden würde. Ihre Hoffnung und Ihr Bitten wurden nicht erhört, denn der Pharma-Konzern brach in der gleichen Nacht, in der die Zeitungen gedruckt wurden und in der Stefanie und Katharina starben, ihre Zelte ab und bauten diese in einer neuen Stadt auf. Hinter Grenzen, in einem anderen Land, wo eine andere Sprache gesprochen wird. Das Institut wartete einige Zeit, bis Gras über die Sache gewachsen war. Und bauten sich dann ein neues Imperium auf. Ein Jahr später Ausschnitt aus einer Fernsehwerbung: "...neuartige Pille, El 2000 ,... die nicht nur verhütet, sondern auch erwünschte Nebeneffekte, wie z.B. mehr Lust auf Sex, Verjüngung ...hat... Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker." Ende
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Die Lahn im Oktober von Julia Bergius
unheimliche Begegnung an einem kleinen Fluß (gespenstisch)
Vergessen liegt sie da, dunkel und still. Nichts rührt sich, kein Blick fällt auf die offene, alles verbergende Wasseroberfläche. Nur hier und da schwimmt noch eine Ente, springt noch ein Frosch und wenn es regnet, malen große und kleine Regentropfen einander überschneidende Kreise auf die silberschwarze Wasseroberfläche. Nur wenige Leute benutzen zu dieser Zeit des Jahres noch den Uferweg, doch ich radelte ihn jeden Abend auf dem Heimweg entlang. Oft hielt ich an, um die stille, einsame Dunkelheit abseits des hektischen Betriebs der Stadt zu genießen. Eines Abends stand ich gedankenverloren an der Lahn. Sie kam mir tief und unergründlich vor, als läge eine andere Welt unter ihrer unbewegten, spiegelnden Oberfläche. Die Sterne funkelten klar vom Himmel, der Halbmond hing niedrig über den Hügeln hinter mir. Ich glaubte mich allein, als eine Gestalt im Schatten am anderen Ufer meine Aufmerksamkeit erregte. Unbewegt wie der Fluß stand sie mir gegenüber, hinter ihr sah ich die vagen Umrisse eines Fahrrads. Sie wirkte fast wie ein Spiegelbild, als verkörpere sie den einzigen Menschen, mit dem mich etwas verband. Fasziniert starrte ich hinüber und hob, ohne den Blick abzuwenden, die Hand zum Gruß. Ich glaubte, sie erwiederte den Gruß, doch genau konnte ich es nicht ausmachen. Ich wollte mich schon abwenden, als die Gestalt aus dem Schatten trat. Der Mond schien ihr nun gerade ins Gesicht. Sie sah aus wie ich. Es stimmte alles, von den zerzausten Haaren bis zu meiner braunen Wachsjacke, nur war sie wachsbleich. Das erste, was mir einfiel, als ich wieder denken konnte war: "Da drüben gibt's doch gar keinen Weg". Die Gestalt trat zurück in den Schatten und verschmolz fast völlig darin. Undeutlich machte ich schnelle, sparsame Bewegungen aus, dann schritt sie wieder vor. Völlig nackt leuchtete sie nun silberweiß im Mondlicht. Sie blieb nicht am Ufer stehen, sondern ging langsam ins Wasser. Sie verschmolz gleichsam mit der silbern spiegelnden Wasseroberfläche. Nach wenigen Schritten versank sie vollends. Meine Furcht fiel von mir ab. Gerade beobachtete ich, wie jemand ein ungewöhnliches, aber nicht unmögliches Bad nahm. Daß diese Person aussehen sollte wie ich, schrieb ich den mehr verhüllenden als erleuchtenden Reflexionen des Mondlichtes zu. Tatsächlich zog mich die stille Lahn immer stärker an. Warum nicht auch kurz ins Wasser springen, im Silberfluß schwimmen und diese ungewöhnliche, faszinierende Person näher kennen lernen? Schnell entledigte ich mich meiner Kleider und stieg ins Wasser. Obwohl es eiskalt sein sollte, spürte ich keine Kälte oder auch nur Unbehagen. Auch keine Wärme, es fühlte sich an wie ein Eintauchen ins Nichts. Ich verlor das Gefühl für meinen Körper, wurde schwerelos. Noch einmal atmete ich tief ein, dann tauchte ich ganz unter. Vor mir schwamm die Person vom Ufer. Ich ließ mich ganz los und folgte ihr, ohne einen Gedanken an Raum oder Zeit. Als mein Körper davontrieb fühlte ich eine Leichtigkeit, die ewig blieb. Alle menschlichen Gefühle und Leidenschaften fielen von mir ab wie unnötiger Ballast, den ich viel zu lange mit mir herumgetragen hatte. Jetzt wandele ich frei im Schatten, losgelöst von der Schwere des Lebens spüre ich keinen 37
Schmerz und kein Leid mehr. Ich beobachte die Menschen und versuche, ihnen ihre Oberflächlichkeit klar zu machen, sie zu mehr Tiefe anzuhalten. Ihre Hektik, ihre Aufgeregtheit, ihr ständiges Streben nach ihrem persönlichen, kleinen, unbedeutenden Glück hindert sie an der Erkenntnis der Wahrheit. "Streift eure Fesseln ab wie ich!" rufe ich ihnen zu, doch die meisten wollen nicht hören. Aber gestern habe ich einer verwandten Seele zugewinkt.
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Wolfsgeheul von Karin Sittenauer
Was haben wir mit Wölfen gemein, oder sie mit uns..?
Warum befand ich mich hier? Meine Finger fühlten sich steif vor Kälte an und meine Zehen hörten langsam auf zu schmerzen. Vermutlich waren sie bereits abgefroren, abgestorben und für immer gefühllos. Trotzdem stapfte ich weiter hinter der Gruppe her, durch tiefen Schnee und lediglich von dem vollen, großen Mond beobachtet. Oder beobachtete mich noch jemand - oder etwas? Befanden sich Wölfe in der Nähe, musterten mich mit durchdringenden Augen und ich bemerkte sie nur nicht? Ich wusste es nicht und langsam schien es mir unwahrscheinlich. Die Entrüstung meiner Frau kam mir wieder in den Sinn, ich hörte erneut ihre spöttischen Worte: "Was willst du auf einer Wolfsafari? Ihr Geheul hören? Lächerlich! Als ob du das nicht ebenso im Fernseher könntest. Was soll daran besonders sein?" Sie hatte mich nicht verstanden, als ich ihr meinen Entschluss, nach Kanada zu fliegen mitgeteilt hatte und sie hatte es auch nicht akzeptiert. Dabei hatte ich insgeheim gehofft, dass sie dieses eine Mal meiner Meinung wäre, einmal die selbe Begeisterung empfinden würde. Ein Trugschluss, ein sinnloser Optimismus, nichts als ein Wunsch, der wie so viele andere nicht in Erfüllung gegangen war. Immer weiter wanderte die Gruppe in die Wildnis und ich wusste, dass ich ohne Führer nicht mehr zurück zum Wagen finden würde. Der Trupp bestand aus mindestens dreißig Leuten, Frauen und Männern, auch Teenagern, die nach einem Stück der ursprünglichen Natur suchten. Oder weshalb nahmen wir sonst diese Strapazen auf uns? Zugegeben, ich hatte nicht geahnt, dass die Wanderung so lange dauern würde, dass mein Ziel derart von jeder Zivilisation entfernt sein würde. Und mit zunehmender Kälte sehnte ich mich nach Hause, auf meine Couch, zu meiner Frau. Wir würden einen guten Film ansehen, vielleicht ein Gläschen Wein trinken und später würden wir zu Bett gehen. Wir würden kaum miteinander sprechen; in der Tat konnte ich an den Fingern abzählen, wann wir uns die letzten Jahre zehn Minuten unterhalten hatten. Als ich sie fragte, ob sie mit nach Kanada fliegen würde, da hatte sie zehn Minuten gezetert, mich einen Narren geschimpft. Unser Führer, ein Ranger, hielt in seinen Bewegungen inne. Er winkte uns, näher zu kommen, uns neben ihm aufzustellen. Vor uns erstreckte sich ein weites Tal. Ein silbriges Tal, aus dem dunkle Baumspitzen empor ragten, von Nebel verschleiert und vom Mondschein beleuchtet. Die Bäume standen starr, still, überhaupt umgab mich jetzt nur noch Stille. Nicht einmal mehr unsere Stiefel knirschten im Schnee, mein Atem schien mir aufdringlich laut. Ich war weite Wanderungen nicht gewöhnt, hätte im Vorfeld mehr für meine Kondition tun müssen. Jetzt hob der Ranger seine Hände an den Mund, bildete eine Art Trichter aus ihnen, bog seinen Kopf nach hinten und begann zu heulen. Er imitierte das Geheul der Wölfe und ich 39
starrte ihn an. In diesem Augenblick kam mir mein Vorhaben wirklich lächerlich vor. Ich sah den Ranger mit den Augen meiner Frau. Wie er in tiefster Nacht im Wald stand und heulte. Ich beobachtete die Gruppenmitglieder, wie sie gespannt lauschten und schimpfte mich einen Narren. War ich wirklich so weit gereist, um einen Mann jaulen zu hören? Wieder versuchte er es, holte tief Atem und erhob seine Stimme. Mehrmals hintereinander ließ er den lauten Ton anschwellen, wieder verebben und dann verstummte er. Wir alle blieben schweigend. Der Wald war still und der Nebel kroch langsam empor, erreichte bereits unsere Füße und schien uns verschlucken zu wollen. Enttäuschung machte sich in mir breit, ich wusste sicher, dass die Wölfe nicht antworten wollten, dass sie uns Menschen für unwürdig erachteten. Und mit dieser Gewissheit - endlich ohne Erwartungshaltung - wandte ich mich der Natur zu, bewunderte erstmals den sternklaren Himmel, freute mich, keinen Straßenlärm zu hören, genoss die Ruhe. Jäh riss mich ein unheimlicher Ton aus meinen Grübeleien. Ein Wolf! Konnte es wirklich ein Wolf sein? Schauerlich klang das Heulen, es drang aus den tiefen der nebeligen Ebene zu uns empor und dann wurde es von weiteren Stimmen aufgegriffen. Ringsum antworteten Wölfe dem einen, der den Anfang gemacht hatte. Näher und ferner, lauter und leiser sprachen sie miteinander, unterhielten sich und wenngleich ich sie nicht verstand, ahnte ich etwas von ihrem Wesen. Ich spürte die Wildheit, die Unabhängigkeit, aber auch die Fürsorge anderen Rudelmitgliedern gegenüber. Ich lauschte den Wölfen regungslos, dachte nicht mehr an zu Hause, nicht mehr an den Trupp oder den Ranger. Mein ganzes eigenes Leben interessierte mich in diesen Momenten nicht mehr, war wie weggefegt und unwichtig. Ich hörte einfach nur zu, wie diese gefährlichen, wilden, wundervollen, unabhängigen und freien Tiere heulten. Irgendwann wurde es ruhiger, verebbte ihr Gesang und ließ uns lauschend in der Stille unterm Silbermond zurück. Zunächst bewegte sich keiner, niemand sprach. Der Ranger ahnte wohl, wie ein Mensch sich fühlte, wenn er dies zum ersten Mal erleben durfte. Er gönnte uns diese Zeit, diese Zeit uns selbst zu finden. Uns selbst in dieser Fremde zu erkennen, zu erfühlen, was wir mit den Wölfen teilten. Schließlich brachen wir wieder auf, stapften den weiten Weg durch Schnee zurück. Mir aber schienen meine Füße leicht, als hätte ich neue Kraft gewonnen. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, wusste nicht, wie lange die Wölfe für uns und für sich selbst gesungen hatten. Aber ich spürte, dass sie mich stärker werden ließen. Es war mir eine Ehre, diese Nacht mit ihnen geteilt zu haben. In mir wuchs ein Vertrauen in mich selbst und ich wusste, dass ich den richtigen Weg gegangen war. Ich bereute nicht, so weit gereist zu sein. Der Mond schien in meinem Rücken und durch den dunklen Himmel über mir funkelte eine Sternschnuppe. Ich durfte mir etwas wünschen, doch welchen Wunsch empfand ich jetzt noch? Schnell überlegte ich, um ihn aussprechen zu können. Und dann formulierte ich ihn in Gedanken, einen Wunsch, von dem ich vor wenigen Stunden nicht gewusst hatte, dass er in mir schlummerte: "Ich wünsche mir, dass die Trennung von meiner Frau schnell und ohne Streit vonstatten geht."
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Das Heulen der Wölfe ist übrigens ein Friedenssignal. Kürzlich wurde ein Verhaltensforscher in Kanada von einem Wolfsrudel umzingelt. Er setzte sich nieder und heulte. Die Wölfe stutzten, begannen ebenfalls laut zu heulen und ließen den Menschen in Frieden.
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Der Weg von Ralf Nitsche
Über das Beschreiten eines ungewöhnlichen Weges aus der Sicht desjenigen, der ihn fand
Mein Name ist Thomas Riley. Das ist nicht mein richtiger Name. Der tut hier auch nichts zur Sache. Ich möchte Ihnen nur eine kleine Geschichte erzählen. Die Geschichte von dem Weg. Zu meiner Zeit nämlich hatte ein Mann den Weg gefunden, und ich - ich habe ihn benutzt. Es geschah während einer Besichtigung des Instituts, und auf tausendfach verschlungenen Wegen hatte ich mehr oder weniger zufällig herausgefunden, was sich in Raum 10.323 befand. Nämlich der Weg. Ich brach ein und benutzte ihn. Folgen konnte mir keiner, denn den Gang konnte man zu der Zeit nicht festhalten und verfolgen. So ging ich ihn, und ich benutzte ihn so lange, bis ich erschöpft darauf zusammenbrach. Den Beschluß, diesen Weg zu gehen, faßte ich aus einem einzigen Grund: ich war einsam, und dieser Einsamkeit wollte ich um jeden Preis entfliehen. Ich hatte viele Freunde, ja, und ich war nicht alleine, aber ich war einsam. Der Weg hatte unendlich viele Abzweigungen. Verwirrenderweise bildete jede Abzweigung wieder einen Weg, der für sich wieder unendlich viele Abzweigungen besaß. Wegweiser gab es keine, denn wer hätte sie auch aufstellen sollen, und warum? Denn diesen Weg gab es eigentlich nicht, und doch existierte er und war allgegenwärtig. Das genügte. Wer wußte, wie man ihn erreichte, hatte schon einiges geschafft. Wer wußte, wie man sich seiner bediente, konnte glücklich sein. Wer wußte, wohin all diese Wege führten, der ... den konnte es nicht geben. Um auf den Weg zu kommen, muß man durch eine Tür treten. Für diese Tür muß man den Schlüssel haben, denn sonst ... Man kann den Weg nicht suchen, verstehen sie? Man kann ihn nur durch Zufall finden, selbst dann, wenn man vermutet, daß es ihn gibt. Der Schlüssel in meinem Fall ist ein kleines Kästchen, das es im Institut gab. Das Kabel hängt wie abgerissen daran herum, und dennoch funktioniert es. Irgendwann auf meinen Reisen hatte ich jemanden getroffen. Sein eigenartiges Aussehen fiel mir anfangs gar nicht auf, und dieser Jemand erklärte mir, daß mein Kästchen seine Funktion mitgenommen haben muß und sich hier selbst trug. Er hingegen hatte den Weg auf rein geistiger Ebene gefunden und schließlich betreten können. Seit Ewigkeiten läuft er hier herum, und langsam wird er müde. Er ginge nach Hause, sagte er mir und bog irgendwann irgendwo ab. Er rollte gemütlich auf seinen grünen Tentakeln davon, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. SeinWeg war ein anderer als der meine. Ich wanderte durch die Unendlichkeiten und fand eine Abzweigung, die mir interessant erschien. Ich ging diesen Weg eine Weile, und dann öffnete ich eine Tür und verließ ihn. Die Welt hinter dieser Tür wartete auf mich, und ich betrat sie, um sie zu erkunden. Vielleicht fand ich hier eine Möglichkeit, aus der Einsamkeit zu entfliehen. Ich blieb einige Zeit in dieser Welt. Aber auch sie war nichts für mich. Ich sagte mir: wenn ich schon die Möglichkeit hatte, mir das zu suchen, was ich wollte, dann würde es keinerlei Kompromiß geben. Und so öffnete ich die Tür und betrat wieder den Weg. 42
Seit Ewigkeiten nun suche ich eine Welt, die mir zusagen könnte. Aber mittlerweile sehe ich ein, daß es mir womöglich nie gelingen wird, DIE Tür zu finden, hinter der sich MEINE Welt verbirgt. Ich habe viel gesehen. Mehr als jeder andere Mensch. So werde ich weiter die Wege beschreiten, und ich bin sicher: die Welt, aus der ich kam, werde ich niemals wiedersehen. Sie war kalt und unfreundlich, und ich habe eine Ewigkeit Zeit und Raum vor mir. Vielleicht finde ich einmal eine Alternativwelt zu der meinen, aber ich bin nicht sicher, ob ich dann dort bleibe. Wissen Sie, daß Beschreiten des Weges, oder der Wege, ganz wie sie wollen, macht süchtig. Die meisten jedenfalls. Ab und zu treffe ich alte Freunde, wie das grüne Tentakelwesen. Dann bleiben wir eine Weile einfach stehen und erzählen uns gegenseitig die interessantesten Dinge. Obwohl es sich die meisten nicht eingestehen wollen: wir haben eigentlich fast alle eine Bleibe gefunden - den Weg. Und wir sind die Bewohner des Weges. Und werden es wohl bleiben. Der Weg ist ewig. In jedem Universum gibt es einen Anfang und ein Ende. Und es gibt unendlich viele endliche Universen. Und die besuchen wir. Irgendwann, nach Äonen, haben wir uns getrennt, um neue Abzweigungen des Weges zu beschreiten. Aber irgendwann sehen wir uns alle wieder, um von der Vergänglichkeit allen Seins außerhalb des Weges zu erzählen. Dann werden wir hier an irgendeiner Abzweigung stehen und plaudern. Denn hier ist unser Zuhause. Hier auf dem Weg. Und wir sind wie er. Ewig.
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