1
Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 1
'Dunkelwelten' ist ...
10 downloads
455 Views
156KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1
Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 1
'Dunkelwelten' ist eine kostenlose Mystery & Horror Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Dunkelwelten 1 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
2
Inhalt Cover von Matthew Goodsell Käfige
4
von Danny Darkness Noch sind all die Monster unter Kontrolle, die in den Käfigen lauern. Aber wer weiß schon, wie lange das noch so ist...
Liebe
6
von Danny Darkness Sie sagen, man sei erst dann wirklich tot, wenn niemand mehr an einen denkt. Wie recht sie doch haben, wie teuflisch recht...
Hinter dem Vorhang
9
von Andrea Tillmanns Aus dem Programmheft war nichts über den Inhalt zu entnehmen. Die surrealistischen, kolorierten Zeichnung auf seiner Vorderseite war unverständlich. Doch ein paar Tage später war alles anders.
Ein Wochenende
14
von W. F. Heiko Thiele Ein junger Mann will seine Freunde treffen. Trotz Schnee und Sturm erreicht er endlich die Waldhütte. Und während er allein auf die Anderen wartet, erlebt er höchst Sonderbares...
Stimmen
35
von Danny Darkness Wenn der Teufel im Computer sitzt, dann bist Du nicht mehr sicher. Dann flüstert es in Deinem Kopf...
Der Hund wartet
38
von Andrea Tillmanns Der Dackel des alten Herrn hat aufgehört zu bellen und diese Stille ist nicht das einzig Ungewöhnliche.
Hoffnung von Hannes Maier In tiefster Traurigkeit, gefangen in einer grauen Zone, erscheint ein Schatten. Ist er für Dich die Erlösung?
3
40
Käfige von Danny Darkness
Noch sind all die Monster unter Kontrolle, die in den Käfigen lauern. Aber wer weiß schon, wie lange das noch so ist...
Bisher hatte er 632 Kammern gezählt. Es waren Räume verschiedenster Form und Größe. Manche hatten Gitterstäbe, andere Panzerglaswände. Die meisten waren gut ausgeleuchtet, so daß er die Biester genau sehen konnte, wenn er wollte. Die Viecher hockten in der Falle. Sie atmeten flach und lauerten. Zwar sahen sie ihn niemals direkt an, aber es schien ihm so, als würden sie ihn aus den Augenwinkeln heraus verfolgen. Manche taten so, als würden sie schlafen. Seine Monster waren vielfältig: Da waren die schwarzen Käfer, riesige schabenhafte Kreaturen, die Hunger auf Sterben hatten und sich in Fäulnis wanden. Da fanden sich Wesen, deren Leib aus Rasierklingen bestand, die ein wahnsinniger Schöpfer so miteinander verschweißt hatte, daß sie in alle Richtungen Wunden reißen konnten. Diese Wesen liebten es, Balett in Seelen zu tanzen... Und da gab es triebglühende Schleimklumpen, deren Haut Tentakel ausstülpen konnte. Diese ringelten sich wie fette Würmer und zuckten epileptisch. Wenn Klumpen dieser Art verschmolzen, wurde die Luft so schwül, daß das Herz aussetzte. Zu diesem eigenartigen Zoo hatten sich im Laufe der Jahre immer neue Varianten, Abarten und Gattungen eingefunden, und er hatte bis zur Erschöpfung mit ihnen gerungen. Bis zur Erschöpfung... Die Wesen hatten getobt, waren übereinander hergefallen, hatten sich vermischt, vermengt und Kinder gezeugt. Diese waren zumeist gräßliche Mutationen und noch bösartiger als ihre Eltern. Für einige Zeit hatte er nur noch aus Kampf und Begattung bestanden, dann hatte er die Käfige besorgt. Jetzt war Ruhe! Zufrieden ließ er seine Blicke über die Bildschirme streichen. Nun konnte er sie alle einzeln sehen. Voneinander getrennt. Eingepfercht. Im Schwitzkasten und unter Aufsicht. Aber es hieß aufzupassen! Es kam immer noch viel zu häufig vor, daß eines dieser Viecher ausbrach. Er wußte, daß jede Unachtsamkeit, jede Schwäche und Nachsicht zu einer Katastrophe führen würde. Die Monster konnten schließlich auch andere Gefangene befreien, und zwar sehr schnell. Ehe man es sich versah, konnte eine Domino-Kette entstehen, ein unheiliger Sog, eine Revolution. Dann würden Schmerz und Lust so groß werden, daß der Wahnsinn Einzug erhielt. Er schauderte. Nie wieder wollte er solche Nächte und Tage erleben! Tage voll Zorn, Nächte voll Blut. Und kein Morgen mehr. Er schluckte und biss sich auf die Lippe, krampfte seine Finger zusammen, krallte sich in sein eigenes Fleisch und zog die Luft in seine Lungen. Die Käfige wurden gebraucht. Er würde noch mehr besorgen. Immerhin kannte er drei Monster, bei denen es sicherer wäre, um ihre Käfige noch weitere zu 4
bauen. Hier mußte es einen Kokon aus Gittern geben! Oder Mauern! Ja, der Gedanke gefiel ihm. Mauern, undurchdringlich massiv. Nur würde er die Kreaturen dann nicht mehr sehen können...Also doch wieder Panzerglas. Nun fühlte er sich sicherer. Schon der Gedanke machte es ihm leichter. Gitter und Glas. Er kicherte. Gitter und Glas. Er prustete. Gitter und Glas. Er begann zu wiehern Und er kroch in die Ecke seiner Zelle, schmiegte sich an die weichen, abgefederten Wände und spähte aus den Augenwinkeln hoch zu der Kamera, die jeder seiner Bewegungen folgte. Sie beobachteten ihn. Er würde friedlich sein. Er würde frei sein. Der Zähler sprang unbemerkt auf 633.
ENDE
5
Liebe von Danny Darkness
Sie sagen, man sei erst dann wirklich tot, wenn niemand mehr an einen denkt. Wie recht sie doch haben, wie teuflisch recht...
ER sah sie. Nie hätte ER vermutet, dass ER dieses einmal erleben würde. Er-LEBEN! Hätte ER noch die Fähigkeit dazu gehabt, dann hätte ER jetzt sicher laut darüber gelacht, aber so gefror der Impuls im Nichts. ER sah die beiden, wie sie sich küssten! Ihre Leiber hielten sie eng umschlungen, aneinander gedrängt von Leidenschaften, die sie zittern ließen. Ihre Münder glitten gierig übereinander, Ihre Zungen spielten. Sara hatte ihre Augen geschlossen und ihr schwarzes Haar war wild. Mark presste sie an sich, dieses Schwein! "Ich will Dich!" zischte er, sie stöhnte auf und krallte sich in seine kräftigen Schultern. "Nicht zu fassen, dachte ER bitter. Die Liebenden tanzten diesen ekligen ewigen Tanz, diese Figuren der Wollust und verzweifelten Nähe. Aber die Welt war grausam und das Leben kurz, trotz des romantischen Anfalls von gefühlter Ewigkeit. ER wußte das nur zu gut. Noch immer schien SEIN Sterben nicht vorbei zu sein. Zwar mußten nun schon mehrere Wochen vergangen sein, seit ER mit SEINEM Wagen auf regennasser Straße aus der Kurve geschleudert war, aber noch immer schien ER die Schmerzen so zu fühlen, als würden sie IHN gerade jetzt heimsuchen. Phantom-Schmerzen. Die Schmerzen eines Phantoms! Mehr mochte ER wohl kaum noch sein. Das Metall SEINES Autos hatte sich zusammengeschoben. Wie in einer verfluchten Müllpresse waren von allen Seiten Wände auf IHN zugekommen. Und das Lenkrad. Die Lenksäule hatte sich in SEINEN Brustkorb gebohrt. Die Airbags, wo waren die ScheißDinger nur?!!! ER erinnerte sich, dass das SEIN letzter Gedanke als Mensch gewesen war. Dann hatte es SEINEN irdischen Leib zermalmt. Blut, Fett, Knorpel und Fleisch waren nach allen Seiten gespritzt, begleitet von einem sonderbaren Knirschen. Dann war es schwarz geworden und kalt. "Man sagte doch, das ganze Leben würde an einem vorbeiziehen!" dachte ER bitter, "Oder man würde sich vom Ort des Todes aus in die Höhe erheben!" Nichts davon war wahr gewesen. Nicht für IHN. ER war abgesunken, in die Erde herab. Ein unheiliger Magnet hatte IHN durch den Boden des zerstörten Wagens, durch den Asphalt herab in die Nacht gezwungen.Blitzschnell, so dass ER das Gefühl eines Falls in der Magengrube zu spüren geglaubt hatte. Phantom-Gefühle. Die Gefühle eines Phantoms. ER mußte wohl tot sein, aber ER sah Sara und Mark so klar vor sich, als würde ER leibhaftig in ihrem Schlafzimmer stehen. 6
Sara, diese miese Hure! SEINE Sara! Trieb es mit SEINEM besten Freund, kaum dass ER tot war. Diese geilen Schweine! "Ich liebe dich!" seufzte sie gerade. Mark warf sie auf das seidige Bett und folgte ihr mit leuchtenden Augen zwischen die Kissen. "Du bist so schön." Er liebkoste zärtlich ihre Wangen und sie lächelte. ER sah ihren Blick. So hatte sie IHN noch vor wenigen Wochen angeschaut, noch am Vorabend seines Unfalls. "Ich liebe dich für immer!" hatte sie geflüstert. "Ich werde dich ewig lieben..," hauchte sie gerade Mark entgegen. In ihren Augen war etwas Unschuldiges. ER begann sie zu hassen! Sie küßten sich wieder. Mark kroch wie ein wilder Wolf auf ihren willigen Leib. Sie öffnete ihre Schenkel. "Endlich können wir zusammen sein. Ich bin so froh", sagte Mark mit seiner tiefen Stimme, "Auch wenn..." "Wenn was?" "Wenn ich immer an ihn denken muß. Armer Kerl, ich meine..." Sara biss sich auf die roten Lippen. "Du fühlst dich schuldig?" "Ein wenig. Weißt du, er war mein Freund!" "Er ist tot!" "Klar, aber..." Sara schenkte ihm ein durchdringendes Lächeln und zog seinen Kopf zu ihren Brüsten hin. "Er ist tot. Wir aber lieben uns! So ist das Leben!" "So ist das Leben!" wiederholte ER lautlos im Nichts. ER konnte alles sehen. War das die Hölle? Aus dem Jenseits heraus all die Untreue zu sehen, den Verrat naher Menschen? All das zu erleben, was sonst nur hinter dem Rücken geschah? ER krampfte seine Fäuste zusammen. Phantom-Fäuste. ER besaß schließlich keinen Körper mehr. Was war ER denn nur? "Ein Geist Ich muß ein Geist sein!!" dachte ER verzweifelt. Sara küsste Mark auf das Haar, ganz zärtlich. "Ach, Liebling. Verzeih..." hörte ER ihn sagen. "Ist doch gut. Wir müssen ihn vergessen. Er ist tot." Sie küsste ihn erneut. "Und jetzt komm her. Lass uns endlich...toben!!" Sie kratzte ihm in die Schulter, und er bäumte sich auf. "Du Luder! Ohh, ich liebe das!!!" "Ich weiß! Ich weiß!" ihre Augen blitzten jetzt lüstern. ER konnte sie sehen. "Das ist die Hölle!" Ja, so war es wohl. Liebe! Schon zu Lebzeiten hatte ER sich damit herumgeplagt. Stets hatte ER sich um Menschen bemüht, um ihre Achtung, Zuwendung, Nähe! Was hatte ER alles für Opfer auf sich genommen. Stets war ER für andere da gewesen. Hatte 7
nie an SICH gedacht! Und ER war geachtet worden. Man hatte IHN geehrt. Man hatte IHN gerne um sich gehabt. ER war ja auch erfolgreich, gutaussehend und unterhaltsam gewesen. Aber geliebt hatte ER sich nie gefühlt. Gehalten. Bedingungslos Gehaltenwerden in einer schutzlosen Welt, was für ein Traum. Eine Lüge. Liebe war nicht nur vergänglich, sie war ein Phantom. Und brachte Phantom-Schmerzen schon zu Lebenden. ER fühlte jetzt Hass in sich aufsteigen. Eifersucht. Neid, Ekel!!! Diese miesen Schweine!!! Wie sie kopulierten! Tierisch. Mechanisch. Seelenlos. Um diesen primitiven Akt herum woben die Lebenden ein Lügengespinnst aus eitlem Gefühl. Einen zwanghaften Kokon aus scheinbarem Mitgefühl, scheinbarer Sorge umeinander und Romantik. Allessamt Lügen. Im Kern herrschte doch nur Gier und Selbstsucht. Und Flucht vor dem unvermeidlichen Tod. "Ich liebe dich!" flüsterten die Lügner. "Für immer!" ER lächelte grausam im Nichts. Dann beschloss ER sie zu töten. Es war dazu nur eine kurze Anstrengung SEINES Willens nötig. Eine kalte, scharfe Vision mußte aus den Tiefen des Schmerzes abgebnabelt und auf das Ziel gerichtet werden. "Verreckt, ihr widerlichen....Kreaturen!" flüsterte ER, und tatsächlich war das Liebesspiel augenblicklich zuende. Sara und Mark blickten fassungslos drein, als ihr Körper zermalmt wurden. Ihre Leiber explodierten von innen heraus, und eine Lawine von Blut, Fett, Knorpeln und Fleisch wälzte sich zuckend über die Laken. In der letzten Sekunde ihres Lebens schienen beide für den Bruchteil einer Sekunde den eisigen Hauch der Sinnlosigkeit zu spüren. Namenloses Entsetzen stand in ihren Augen geschrieben bevor ihre Köpfe platzten. "Ich liebe dich für immer...." Was für eine Lüge. Denn ewig, in der Hölle und auf Erden, war nur das Leid! Und ER begann zu weinen.
8
Hinter dem Vorhang von Andrea Tillmanns
Aus dem Programmheft war nichts über den Inhalt zu entnehmen. Die surrealistischen, kolorierten Zeichnung auf seiner Vorderseite war unverständlich. Doch ein paar Tage später war alles anders.
„Wenn der Vorhang sich öffnet, was wirst du sehen? Drama, Romanze, Komödie? Aus dem Programmheft erfährst du nur den Protagonisten – doch wie gut kennst du ihn?„ Mit einem kleinen Seufzer legte Sandra den Zettel beiseite, den sie in der Universität gefunden hatte. Zunächst war sie interessiert gewesen, zu erfahren, was sich hinter der surrealistischen, kolorierten Zeichnung auf seiner Vorderseite verbergen mochte, zumal er sich deutlich von den sonst üblichen Waschzetteln unterschied, qualitativ und von seiner Gestaltung her hochwertiger hatte er sofort ihr Interesse geweckt. Mit diesem Unsinn jedoch, als der sich der spärliche Inhalt herausgestellt hatte, konnte und wollte sie nichts anfangen. Vielleicht irgend eine Sekte? überlegte sie, während sie sich auf der ledernen Couch ausstreckte und wohlig reckte, um die Gedanken an den vorangegangenen Tag abzuschütteln. Sie griff nach der auf dem kleinen Beistelltisch liegenden Fernbedienung, zappte durch alle Programme, da sie ihre Fernsehzeitschrift nicht sofort finden konnte, und schaltete den Apparat dann wieder aus, fast befriedigt, sich ein wenig der Ruhe des nur vom Mondlicht durchfluteten Wohnzimmers hingeben zu können. Der Tag war lang und hart gewesen, sie nickte ein wenig ein, sanfter Schlummer war hochwillkommen... öffne-denVorhang-öffne-den-Vor... Sie schrak hoch, bevor sie erkannte, wovon sie geträumt haben mußte. Wütend auf die Macher des Zettels und sich selbst, da sie ihn überhaupt mitgenommen und dann gar gelesen hatte, griff sie erneut nach dieser Werbung und betrachtete sie noch einmal eingehender. Die Zeichnung auf der Vorderseite fesselte sie auch jetzt wieder. Magritte? Nein, eher Dalí, aber nicht ganz. Sie nahm sich vor, ihre Kunstbücher am nächsten Morgen durchzugehen, um den Maler herauszufinden. Vielleicht würde auch der Titel des Bildes eine Bedeutung haben? Sie drehte den Zettel und las dort erneut den kurzen Text über die „Erweiterung der Bewußtseinsebene„, die dort versprochen wurde. Also doch eine Sekte? Als sie wieder die Vorderseite betrachtete, schien das verschlungene Muster, das sicher einen Sinn ergab, wenn auch einen ihr unbekannten, heftig zu verneinen, sich gegen diese Annahme zu wehren. Seufzend las sie den Text ein drittes Mal. Eine Droge? Ja, das mußte es sein. Sicher wieder eine von diesen synthetischen Pillen, die in letzter Zeit immer mehr in Mode gekommen waren. Ohne einen weiteren Blick auf die Zeichnung legte sie den Zettel beiseite, stand auf und zog die Vorhänge im Wohnzimmer zu. Für einen Moment blieb sie in der Dunkelheit stehen, bevor ihre Hand nach dem Lichtschalter tastete und die unwillkommene Anwesenheit der Nacht aus dem Zimmer drängte. Sie begann schon auf dem Weg ins Schlafzimmer, ihre Bluse aufzuknöpfen, die sie dort zusammen mit der schwarzen Seidenhose achtlos über einen Sessel am Kopfende ihres Bettes warf, sie würde die Sachen morgen wegräumen. Nach solch einem schweren Tag wie dem vorangegangenen konnte sie sich nicht noch um diese Kleinigkeiten kümmern. Die seidene Bettwäsche raschelte leise, als sie sich hineingleiten ließ. Zum eigentlich noch nötigen Abschminken hatte die Energie gefehlt. Ihr blieben nur noch knapp sechs Stunden, bevor sie wieder aufstehen mußte, sie wollte nicht noch mehr ihrer kostbaren Zeit verschwenden, indem sie an solch kindische Dinge dachte wie... öffne-den-Vorhang-öffneden-Vorhang-öffne... Mehr wütend als erschrocken setzte sie sich auf und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Die Schatten schwanden, versteckten sich in den unbeleuchteten Ecken des Raumes, wo sie das schwache Licht belachten, das auf seinem Weg zu ihnen ermüdete, und warteten. Sandra vermeinte für einen Moment, sie sehen zu können, 9
wie sie in ihrem Hohngelächter die spitzen Zähne zeigten. Noch warteten sie, ohne Eile, da sie wußten, ihre Zeit würde kommen; Geschöpfe der Nacht, die sich von der Angst der Frau ernährten... Sie schalt sich eine Närrin, holte aus der Nachttischschublade zwei der stets griffbereiten Schlaftabletten, nahm sie ohne Wasser, da sie sich zu müde fühlte, ein Glas zu holen, und zog sich die Decke über den Kopf. Die Tabletten begannen schnell zu wirken. Bleierne Müdigkeit senkte sich über Sandra und zog sie in das Vergessen. Öffne-den-Vorhang-öffne-denVorhang... „Sie sehen übermüdet aus, Frau Martens. Werden Sie etwa krank?„ Sandra lächelte ihren Doktorvater, Professor Hagen, ein wenig zu gekünstelt an, bevor sie antwortete: „Aber nein, das wäre im Moment auch wirklich unpassend. Ich habe nur gestern noch zu lange gearbeitet.„ „Na dann sehen Sie mal zu, daß Sie bald wieder zu Kräften kommen„, antwortete er, während er nach einem kurzen Blick auf seine Uhr aufstand und seinen Aktenkoffer schloß, „ich will ja nicht, daß meine fleißigste Doktorandin so kurz vor Abschluß unseres Forschungsprojektes nicht mehr zur Verfügung steht!„ Mit einem väterlichen Lächeln verließ er den Raum. Sandra seufzte leise. Die ganze Nacht über war sie von wirren Träumen geplagt worden, ohne aufwachen und ihnen damit entfliehen zu können. Auch der starke Kaffee am Morgen hatte sie nur so weit wach werden lassen, daß sie zumindest daran gedacht hatte, den albernen Werbezettel auf dem Weg durch ihr Wohnzimmer mitzunehmen und draußen zusammengeknüllt in die Mülltonne zu werfen. Sie setzte sich an ihre Arbeit, konnte sich jedoch nicht wirklich konzentrieren. Nachdem sie mehrmals mit ihren Berechnungen neu hatte beginnen müssen, da ihr dumme Fehler unterlaufen waren, schaltete sie den Computer aus, nahm ihre Jacke und ging hinaus. Die schwüle Hitze vom Vortag hatte der Regen aus der Luft gewaschen, und obwohl es nun fast zu kühl war für Sandras leichten Hosenanzug, fiel ihr doch das Atmen schwer, fast spürte sie, wie sie den Schmutz der Straßen in ihre Lungen hineinsog. Das befreiende Aufatmen in vom Regen gereinigter Luft mußte noch warten, wie es eben manchmal im Frühling der Fall war. Während sie einmal um das Institut herumging, begegnete sie nur den üblichen Studenten, die hier immer zu finden waren, die meisten von ihnen in Jeans und T-Shirt, offensichtlich erleichtert über das längst fällige Nachlassen der Hitze. War sie auch einmal so gewesen? Wahrscheinlich nicht. Nicht nur in ihrer Kleidung hatte sie sich stets von den Kommilitonen unterschieden. Sie erreichte eine freie Sitzgruppe, an der die anderen vorbeieilten, als könne das nächste Experiment oder die Bibliothek nicht warten. Vorsichtig suchte sie nach einem trockenen Platz, um weder Jacke noch Hose zu beschmutzen, und ließ sich, als sie endlich einen entdeckte, erleichtert fallen. So schwer ihr in dieser Luft auch das Atmen fiel, es war immer noch besser, als in ihrem Büro den Computer anzustarren. Sie stützte den Kopf auf ihren Fäusten ab, während sich ihr Blick in der Ferne verlor... öffne-den-Vorhang-öffne-den... Erschrocken zuckte sie hoch und blickte sich um, konnte in ihrer Umgebung jedoch niemanden entdecken. Wie konnte dieses verdammte Stück Papier sie bis hierher verfolgen? Der Wind frischte auf, sie fröstelte und hüllte sich enger in ihre Jacke. Für einen Moment blieb sie noch sitzen, bevor sie energisch aufstand und mit möglichst sicheren Schritten dem Hintereingang des Institutes entgegenging. Einige Stunden später, in denen sie den Großteil ihrer Energie darauf verwandt hatte, nicht noch einmal einzuschlafen, gab sie auf. Auf ihrem Platz hinterließ sie die Nachricht an Professor Hagen, sie habe wohl eine leichte Erkältung und wolle sich lieber rechtzeitig auskurieren, um nicht länger fehlen zu müssen. Dabei, überlegte sie auf dem kurzen Heimweg, brauchte sie sicher nur ein paar Stunden Schlaf, um sich wieder besser zu fühlen. In ihrem Briefkasten fand sie ein paar weiße, unpersönliche Umschläge, die sie flüchtig durchsah, während sie die Haustür aufschloß. 10
Wahrscheinlich Rechnungen. Auf dem Weg in ihr Schlafzimmer warf sie sie zusammen mit der Umhängetasche auf den Couchtisch, zog gedankenverloren die Jacke aus und erstarrte plötzlich. Etwas stimmte nicht, ohne daß sie es zu benennen vermocht hätte. Langsam drehte sie sich um und ging zurück ins Wohnzimmer. Auf dem niedrigen Tisch, halb durch einen Sessel verdeckt, lagen die Briefe, ihre Tasche, und daneben – fast mechanisch setzte sie sich langsam auf das Sofa. Dann schüttelte sie energisch den Kopf, um sich aus der Trance zu befreien. Zwar hätte sie schwören können, den Werbezettel weggeworfen zu haben, aber – nun, offensichtlich hatte sie es vorgehabt, jedoch nicht getan. Sicher gab es eine vernünftige Erklärung dafür, daß er nun wieder an der gleichen Stelle lag, an dem sie ihn am Abend zuvor hatte liegenlassen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Vielleicht wurde sie wirklich krank, es mochte auch an den Schlaftabletten gelegen haben. Jetzt jedoch, wo sie sich sicher war, zwar müde, aber dennoch wach und geistig durchaus anwesend zu sein, konnte dergleichen nicht mehr passieren. Mit spitzen Fingern hob sie den Werbezettel hoch, trug ihn in die Küche und warf ihn dort in den Mülleimer. Fast schien es ihr, als sei diese kleine Aktion Grund genug gewesen, trotz der Müdigkeit in Hochstimmung zu sein, jedenfalls lächelte sie ihr müdes Spiegelbild aufmunternd an, als sie es über der Frisiertoilette erblickte. Schnell schlüpfte sie aus dem Hosenanzug und unter die Bettdecke. Nur ein paar Stunden Schlaf, nur ein bißchen... Öffne-den-Vorhang-Öffne-denVorhang-Öffne-den... Sie war zu müde, um hochzuschrecken. Verwirrt kämpfte sie gegen den so sehnsüchtig erwarteten Schlaf an, schaffte es endlich, sich aufzusetzen und den dünnen Lichtstreifen, die sich ihren Weg durch die Spalten der Jalousien bahnten, die warme Helligkeit der Nachttischlampe hinzuzufügen. Kaffee? Nein, lieber wieder Schlaftabletten als keine einzige Minute der Ruhe. Sie schluckte zwei Stück, wartete so lange wie möglich, bevor sie sich wieder zurücklegte, und schlief sofort ein... öffne-den-Vorhang-öffne-den... Auch der starke Kaffee am Morgen half nicht viel. Sie beschloß, sich im Institut krankzumelden, wählte, noch im Halbschlaf, die Nummer Professor Hagens auf dem Telefon auf ihrem Nachttisch und erklärte ihm mit müder und wahrscheinlich wirklich krank klingender Stimme, sie habe wohl die Grippe und könne leider nicht zur Arbeit kommen, sei aber bestimmt in Bälde wieder gesund. Nachdem er ihr gute Besserung gewünscht und aufgelegt hatte, wankte sie unter die Dusche. Eine knappe halbe Stunde später fühlte sie sich tatsächlich ein wenig besser, zwar immer noch sehr müde, jedoch nicht mehr ganz so benommen wie vorher. Im Bademantel ging sie zurück in die kleine Küche, um sich eine dritte oder vierte Tasse Kaffee zu nehmen, sie hatte nicht genau mitgezählt. Mit dem dampfenden Becher in der Hand setzte sie sich auf die Couch. Nach einer Weile griff sie nach den Briefen vom Vortag. Sie glitten ihr aus der Hand, ebenso wie die Kaffeetasse, deren dumpfer Klang auf dem Teppichboden sie langsam wieder aus ihrer Erstarrung erwachen ließ. Sie blieb noch lange sitzen, ohne auf den sich ausbreitenden dunklen Fleck auf dem Boden zu achten. Endlich riß sie sich zusammen, hob langsam Kaffeebecher und Briefe auf, legte die Umschläge sorgfältig auf dem niedrigen Tisch zusammen, brachte die Tasse in die Küche, holte aus einem Unterschrank einen nie benutzten Aschenbecher und setzte sich wieder ins Wohnzimmer. Der Werbezettel brannte lange, als wehre er sich mit aller Kraft gegen seine Vernichtung. Sie sah stumm in die Flammen, die in wirren Mustern durch den Aschenbecher tanzten. Als auch der letzte Funke verglüht war, spülte sie die Asche die Toilette hinunter, wusch den Aschenbecher sorgsam aus, trocknete ihn ab und stellte ihn in den Schrank zurück. So müde sie auch war, der Kaffee würde sie sicher vom Schlafen abhalten. Dennoch konnte sie ihre Erleichterung nicht leugnen, diesen ominösen Zettel endgültig losgeworden zu sein. Bald würde der Schlaf sie einhüllen, jetzt, wo der Grund für ihre merkwürdigen Alpträume vernichtet war. Sie griff nach dem silbernen Brieföffner, den sie wohl irgendwann einmal auf den Schreibtisch zurückzulegen vergessen haben mußte, und schlitzte die ersten beiden 11
Umschläge auf. Rechnungen, wie erwartet. Dann noch eine Werbesendung für eine Kaffeefahrt und ein Kontoauszug. Fünf Stück? Sie hatte gestern nicht nachgezählt, dennoch überkam sie das vage Gefühl, am Vortag nur vier Briefe in der Hand gehabt zu haben. Wohl noch eine Rechnung. Sie öffnete auch den letzten Brief, aus dem ein einziger Zettel mit quälender Langsamkeit auf ihren Couchtisch flatterte. Die surrealistische Zeichnung erkannte sie sofort, auch wenn sie sich ein wenig verändert zu haben schien. Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen und nur auf den Zettel gestarrt hatte. Als sie sich endlich bewegte, hatte sie einen Entschluß gefaßt. Sie mußte sich nur klarmachen, daß von einem Stück Papier keine Gefahr ausgehen konnte, dann würde sie auch wieder zu schlafen in der Lage sein, und danach würde sich der ganze Spuk in Luft auflösen. Als sie erneut in ihr Schlafzimmer ging, drehte sie nur den Zettel herum, um die Zeichnung nicht länger ansehen zu müssen. Das Bett war schon ausgekühlt, sie mußte lange im Wohnzimmer gesessen haben, wie sie im Halbschlaf bemerkte, während sie sich auf die Seite drehte. Nur für einen Moment schlafen, nur ein paar Stunden, das mußte genügen... öffne-den-Vorhang-öffne-den-VorhangÖffne-den... nicht dagegen ankämpfen, es ist nur ein Alptraum, er wird vergehen, so schlimm kann es nicht werden... Sandra kämpfte sich schreiend aus dem dunklen Tal hervor, in das der Schlaf sie gezogen hatte. Als sie endlich wach war, hätte sie nicht zu sagen vermocht, was sie so erschreckt hatte. Der Vorhang, sie hatte ihn gesehen, doch was dahinter gelegen haben mochte – merkwürdige, verschlungene Muster, soweit ihr Gedächtnis sie nicht trog. Kein Grund für ihre plötzliche Panik, und doch wußte sie, daß es einen zumindest im Traum durchaus real wirkenden Grund gegeben haben mußte, auch wenn sie sich nicht an ihn erinnern konnte. Sie brauchte einige Minuten, bis sie sich stark genug fühlte, wieder zurück ins Wohnzimmer zu gehen. Schon von der Türe aus konnte sie die Zeichnung erkennen, die sie voller Ungeduld anzuziehen schien. Sie stolperte zur Couch, auf die sie sich fallen ließ, ohne weiter darüber nachzudenken, ob sie das Blatt Papier wirklich umgedreht oder es sich nur vorgestellt hatte. Mit vor Müdigkeit und Erschöpfung verschleiertem Blick suchte sie auf der Rückseite des Zettels nach einem Namen, einer Adresse. Nichts, außer dem knappen Text, den sie einmal zu oft gelesen hatte. Kein Anhaltspunkt, niemand, an den sie sich hätte wenden können. Langsam drehte sie das Blatt wieder um. Das Muster schien sie nun förmlich in sich hineinzusaugen, während ihre erschöpften Augenmuskeln nicht mehr in der Lage waren, sich auf die direkt vor ihr liegende Zeichnung einzustellen, und den Blick durch das Papier hindurch schwimmen ließen. Die Zeichnung wurde plastisch, dreidimensional, ohne daß sie sich dagegen wehren konnte. Zuerst nur verschlungene, unverständliche Muster, dann der Vorhang, dann ÖFFNE-DEN-VORHANG-ÖFFNE-DEN kein Widerstand möglich der Vorhang öffnet sich was wirst du sehen wie genau kennst du den Protagonisten wie genau kennst du dich – komm her, du bist eine von uns, genieße es, bist so viel mehr als du geglaubt, wir nehmen dich auf, der Preis ist nicht hoch, du wirst ihn mit Freuden zahlen, kannst mehr gewinnen als je erhofft, was zählt da schon dies unbenutzte Ding, du wirst ihn nicht vermissen, nicht jetzt, wem nützt schon ein eigener Wille, du bist nun bei uns, gehst den einzig wahren Weg, fühle die Wärme, spüre die nie verlöschende Glut, was willst du noch mehr, wehre dich nicht, ergib dich uns... „Oh, Frau Martens, schon wieder gesund? Wollen Sie sich nicht lieber auch noch den Rest des Tages freinehmen? Heute morgen klangen Sie ja doch ziemlich krank, ich hatte mir schon Sorgen gemacht.„ „Nicht nötig, Herr Professor. Ich hatte ein gutes Mittel dagegen, mir geht es schon wieder sehr gut.„ „Nun ja. Das muß irgendwie am Wetter liegen, in der letzten Zeit hatten die meisten meiner Mitarbeiter eine Grippe. Vielleicht ein Virus? Immerhin sind sie seitdem alle überaus motiviert, arbeiten viel mehr als sonst. Überhaupt herrscht momentan eine merkwürdige 12
Stimmung in den Büros, vielleicht haben Sie es ja auch schon gemerkt – keiner streitet sich mit seinen Kollegen, und selbst für die sonst üblichen kleinen Neckereien scheinen sie keine Zeit oder Lust zu haben. Sehr diszipliniert, muß ich sagen. Apropos Zeit: Meinen Sie, Sie könnten vielleicht heute noch die Auswertung der neuen Experimente vornehmen? Ich kann aber natürlich auch einen anderen...„ „Das stellt kein Problem für mich dar. Ich werde mich sofort an die Arbeit machen.„ „Na dann viel Erfolg, Frau Martens, und überarbeiten Sie sich bitte nicht. Sie finden mich im Labor, wenn Sie Hilfe benötigen.„ Er fröstelte leicht, als er die Tür hinter sich schloß. Es mochte am Wetter liegen, wie auch die vielen anderen kleinen Veränderungen, die er in letzter Zeit bemerkt hatte. Sandra lächelte kühl, als Professor Hagen gegangen war. Sie legte einen kleinen Zettel auf seinen Schreibtisch, dann ging sie hinüber in ihr Büro, erledigte in einer Viertelstunde die Auswertung und wartete.
13
Ein Wochenende von W. F. Heiko Thiele
Ein junger Mann will seine Freunde treffen. Trotz Schnee und Sturm erreicht er endlich die Waldhütte. Und während er allein auf die Anderen wartet, erlebt er höchst Sonderbares...
Der Zug hatte schon vor der Einfahrt in den kleinen verschneiten Bergbahnhof reichlich eine Stunde Ver-spätung. Das war freilich nicht weiter verwunderlich, kam es doch mit stoischer Regelmäßigkeit vor, daß bereits nach ein paar Schneeflocken die Züge sich wie störrische Esel benahmen und nur widerwillig an den Fahrplan hielten. Heute, am Freitag, waren es aber nicht nur ein paar Schneeflocken, die sich den Weg von den Wolken herab gewagt hatten, sondern eine kaum noch für möglich gehaltene PackungPulverschnee. Er stand, seinen leichten Koffer in der rechten, seinen Wanderstab in der linken Hand und einen Reiserucksack auf dem Rücken, etwas verloren auf dem Bahnsteig. Er war mit einem grünen Anorak bekleidet, der zwar im Tiefland angebracht schien, doch nicht in dieser vom Wintereinbruch überraschten Bergwelt. Der kalte Wind hatte so keinerlei Schwierigkeiten, seine Dominanz auszuleben. Zumindest nicht an ihm. Endlich hielt die Lokomotive mit einem keuchenden Ausatmen verbrauchten Diesels und brachte damit auch die in ihrem Schlepptau befindlichen fünf Waggons zum Stehen. Dabei fast mittig zu dem einsamen Wanderer. Dieser schritt langsam die gut zehn Schritte bis auf die sich öffnende Tür des Waggons zu und grüßte mit einem dankbaren Blick den Schaffner. Ein paar Augenblicke später umfing ihn wieder eine brauchbare Wärme. Brauchbar, weil nötig. Ausgeglichen klimatisiert jedoch nicht. Doch dieses nahm er zum einen nicht wahr und zum anderen genügte ihm ein warmes Plätzchen. Kaum hatte sich der Wanderer auf einen grün überzogenen Sitzplatz gesetzt, als sich auch schon der Zug wieder in Bewegung setzte. Langsam und irgendwie nicht mehr zeitgemäß ruckartig. Dem sich dem Dahindösen ergebenden Reisenden tat dies allerdings keinen Abbruch. Und so wäre er in dieser schon fast verbraucht zu nennenden Atmosphäre gleich weggetreten. "Den Fahrausweis bitte," riß ihn die Stimme des Schaffners aus seinem Dämmerzustand. Vorbereitet, zog er sogleich den gelblichen Schein aus seiner linken Anoraktasche und reichte sie dem Kontrolleur. Nach einem kleinen Blick aufwärts, nahm er sich die kurze Zeit, mit den Augen über den Rest der Innenraumes zu schweifen. Vier andere Fahrgäste saßen ebenso wie er in sich zusammengesunken. Allerdings trugen sie weniger unpassende Kleidung. Er nahm deshalb an, daß sie wohl aus der näheren Umgebung stammten und sich rechtzeitig auf den Wetterumschwung hatten einstellen können. "Danke", wurde ihm der nun entwertete Fahrschein zurückgegeben, woraufhin auch er ein leises Bedanken erwiderte. Der Kontrolleur entfernte sich auf dem längeren Weg vom Sitzplatz des Neueingestiegenen. Dieser sah ihm gedankenlos nach und auch nachdem er längst durch die Tür verschwunden war, starrte unser Reisende in diese Richtung. Dann erst wandte er sich wieder dem vorbeiziehenden Anblick der Außenwelt zu; sich durch die Monotonie einzuschläfern. Als er gerade diesen letzten Grad überschreiten wollte, riß ihn eine erneute Bewegung aus dem Halbschlaf. Er wandte seinen Kopf in diese Richtung und erfaßte kurz das Profil einer jungen Frau, die mit einer dicken Fellmütze bewaffnet ihre schulterlangen rotbraunen Haare gegen die Unbilden des Windes schützte. Mehr sah der Reisende nicht, da sich das weibliche Wesen geradewegs von ihm entfernte. Erst an der Ausgangstür des Waggons angelangt, blieb sie kurz stehen, als ob sie überlege, hier Platz zu nehmen oder weiter zu gehen. Dann drehte sie sich doch der rechten Sitzgruppe zu und nahm verschwand hinter der kleinen Wand, die das Arrangement vom Rest der Sitzreihen trennte. 14
Der Passagier wandte daraufhin seinen Kopf erneut dem Fenster zu und versank nun tatsächlich in einen zwar nicht tiefen, wohl aber nötigen Schlaf. Eine kurze Erschütterung des Zuges öffnete irgendwann später seine immer noch müden Augen. Dennoch genügte das, um ihn auf eine höhere Ebene der Aufmerksamkeit zu heben. Denn hier mußte er wohl aussteigen. Auch all die anderen Fahrgäste schienen diesen Haltepunkt als zumindest ihr Etappenziel gewählt zu haben. Sie hatten sich samt und sonders erhoben und standen nun bereit, auszusteigen. Der erste von ihnen hatte bereits die Innenraumtür geöffnet und schritt gemächlich in den Raum davor. Eng gedrängt, folgten die drei anderen und ihnen unserer Wanderer. Als dieser auf Höhe der ein wenig abgeteilten Sitzgruppe war, schaute er in sie hinein, ob er nicht doch noch einen Blick von der jungen Frau erhaschen konnte. Doch wie groß schien seine Enttäuschung, als er die Plätze verwaist vorfand. Er überlegt deshalb kurz, wohin sie und wann wohl verschwunden sein könnte. Er kam jedoch lediglich zu dem Entschluß, daß sie wohl doch wieder aufgestanden sei und einen anderen Waggon aufgesucht hatte. Weshalb auch immer. Ausgestiegen sein konnte sie nicht, da für die Fahrt planmäßig kein Zwischenstop vorgesehen war. Als der Reisende wieder der Kälte ausgeliefert war, schien sie ihm jedoch weniger als am vorhergegangenen Bahnhof auszumachen. Oder schien es nur so, weil er momentan mehr auf die übrigen Fahrgäste als auf den kalten Wind achtete. Doch obwohl er wie beiläufig nach beiden Seiten des Zuges schaute, fand er seine Mitreisende nicht mehr. So verließ er denn als letzter der insgesamt neun Passagiere den Bahnsteig. Den wieder anfahrenden Zug den Rücken kehrend, welcher seinerseits wieder ins Tal hinab rollte. Der Wanderer hatte schnell die kleine Wartehalle, mehr ein überdachtes Geviert mit zwei gegenüberstehenden Bänken, hinter sich gelassen und sah die anderen Passagiere eiligen Fußes auf das Gipfelhaus oder die daneben stehenden Gebäude zu marschieren. Auch er drehte sich schnell um, einen weiteren Anhaltspunkt auf seiner Reise zu finden. Ein verknöcherter Baum, ob er dort tatsächlich gewachsen oder bereits als Baumleiche später hier aufgestellt war, lies sich vom Standort des Wanderer nicht feststellen. Aber auch als dieser näher herantrat, schien diesem die Herkunft des seine ohnehin tote Rinde verlierenden Gewächses nicht zu interessieren. Ehe schon die richtungsweisenden Holzschilder, auf denen mit Hand und Farbe die entsprechende Route angezeigt wurde. Wie auch die Entfernung zum nächsten markanten Punkt. Der Mann mittleren Alters schien inzwischen gefunden zu haben, wonach ihm bedarf, denn ohne weiteren Aufenthalt setzte er seine Reise fort. In diesem Fall zu Fuß. Bald schon war er auf dem gekennzeichneten Weg zwischen verkrüppelten Kiefern und nur halbherzig beseitigten Schneewehen von der Baumleere des Berggipfels entfernt. Ein mißtrauischer Blick gen Himmel und der sich zuziehenden Bewölkung trieb ihn nun doch etwas mehr zur Eile an. Wobei "Eile" nicht leicht übertrieben scheint. Gute eine Stunde schien vergangen zu sein, als die Schlechtwetterfront ihrem Namen gerecht wurde und sich nach ein paar noch romantisch wirkenden Schneeflocken über dem Berg ergoß. Nun schritt unser Wanderer doch deutlich schneller aus. Mit sich selbst nicht im reinen, was ihn wohl zu dieser Schnapsidee bewogen hatte, ohne Führung den Treffpunkt aufzusuchen. Zumal der größere Teil der Gruppe ohnehin erst am darauffolgenden Tag eintreffen würde. F-P müßte freilich schon auf ihn warten, wie auch F. Daß er allerdings noch keine menschlichen Spuren auf seinem Weg entdeckt hatte, verwirrte ihn dann doch schon etwas. Und die Chance diese doch noch zu entdecken, nahm von Minute zu Minute ab. Wie auch im gleichen Intervall die Schneefallintensität zunahm. Langsam befürchtete er, sich doch verlaufen, oder genauer, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Als er dann allerdings in mitten der nun wieder mehr als drei mal so hohen Bäumen angelangt war, sah er mit den letzten verfügbaren Hellichkeitsspuren den Schatten einer Hütte zwischen den eng stehenden Bäumen schimmern. Dann nahm unser Wanderer nur noch schwach den Boden unter den Füßen, aber extrem stark den Wind am ganzen Körper wahr. 15
Jetzt bedauert er zum ersten Mal, daß er nicht wenigstens eine kleine Taschenlampe mitgenommen hatte. Sie hätte ihm wenigstens erspart, hin und wieder im immer dichter werdenden Schneegestöber den Weg beizubehalten und nicht erst an den spitzen Blättern der Nadelbäume seinen Fehler in der Orientierung feststellen zu müssen. Nicht selten schmerzlich im Gesicht. Welches ohnehin vom sprunghaft ansteigenden Frost geküßt wurde. Ihm blieb nun nur noch auf seinen instinktiven Orientierungssinn zu vertrauen. Und darauf, daß er kurz vor der Nacht nicht doch noch einen Abzweig übersehen hatte und diesen dann entlang irren würde. Da schien ihm, als habe er zwischen all den Nuancen der Schwärze der Nacht und des schwarzen kaum zu unterscheidenden Grau des Schneefalles ein kurzes Aufleuchten einer Gestalt gesehen zu haben. Doch blieb ihm nicht viel Gelegenheit und Zeit, darüber nach zu denken. Zu sehr mußte er sich auf den Weg konzentrieren. Auf einen Weg, den er nicht einmal sah. Dennoch gab ihm diese nicht sichere Begegnung eine Art Hoffnung, die richtige Strecke eingeschlagen zu haben. Und tatsächlich hob sich bald aus dem Dunkel eine noch dunklere Fläche ab, welche die Umrisse einer Hütte zu haben schien. Unvermittelt stand er dann plötzlich vor einer Wand aus grob behauenem Holz. Und fast genauso unvermittelt trat er in einen gewissen Windschatten, die ihm Gelegenheit bot, aufzuatmen. Auch wenn er gewiß sich noch nicht in Sicherheit wog. Nachdem der Wanderer sich an der Holzwand entlang getastet hatte, kam er endlich zu der Eingangstür. Doch davor zu stehen und hinein zu gelangen können mitunter zwei verschiedene Dinge sein. In diesem Fall erinnerte er sich eines Bildes, wonach ein früherer Benutzer der Hütte den Schlüssel in eine kleine Lade neben der Tür gesteckt hatte. Darauf vertrauend, daß dies auch sein Vorgänger getan haben möge, suchte der Wanderer nach jener Lade in der Wand. Und tatsächlich fand er sie und fand sie gefüllt vor, mit jenem Schlüssel. Nun konnte er endlich in den Schutz der Hütte eintauchen. Knarrend schob sich die Tür von hölzernen Angeln gehalten nach außen. Und mit dem gleichen Ton auch wieder in ihren geschlossenen Zustand zurück. Der einsame Wanderer, froh, das Unwetter hinter sich zu haben und vielleicht auch bald ein warmes Bett als Lohn seiner Anstrengungen, stand zunächst einige Augenblicke in der Dunkelheit seines neuen Domizils. Der Wind draußen heulte unvermindert weiter. Das Knarren der alten Bäume war selbst im Inneren der Hütte zu vernehmen und die Hütte selbst gab an vielen Stellen hölzerne Töne von sich. So als wollte sie alsbald bersten. Doch alles das nahm der Reisende kaum wahr. Oder zumindest nahm er nicht wahr, daß es eben schier unvermindert weiterging mit diesen Angstschreien der irdischen Natur vor den Kräften des vom Himmel gesandten Sturmes. Er, unser Wanderer nahm nur das Fehlen der körperlichen Gewalt des Windes und der ihn begleitende klirrende Kälte wahr. Dann rückte er sich jedoch in die Wirklichkeit zurück und sah erst einmal, daß er nichts sah. Denn im Inneren der Hütte war es noch dunkler als außerhalb. Und da nutzte auch das angeborene Vermögen der Augen nichts, sich nach einer Weile der Dunkelheit wenigstens ein Stück zu erwehren. Hier standen seine Augen hoffnungslos auf verlorenem Posten. Gewohnheitsmäßig griff er mit seiner linken Hand nach links, wo er den Lichtschalter vermutete. Doch da war er nicht. Nicht weiter höher, nicht tiefer. Auch nicht weiter vom Türrahmen entfernt. So drehte er sich nach rechts, um dort jene bequeme Möglichkeit der Lichterzeugung sich nutzbar zu machen. Allein die Hütte schien nicht viel von der Bequemlichkeit seiner Besucher zu halten. Und so blieb unser Wanderer weiter im Dunkel auf sich allein gestellt. Langsam tastete er sich vorwärts, die Hände ausgestreckt. Seinen Koffer ließ er am Eingang stehen. Aber noch immer gewann er keinen Eindruck vom Inneren der Hütte. So schloß er zusätzlich beide Augen, um irgend wie seinem Gefühl zu folgen. Und sich während eines durchaus mögliche Sturzes noch abfangen zu können. Doch zunächst gelang es ihm, bis zur gegenüberliegenden Wand zu gelangen, ohne sich selbst Schaden zu zufügen. 16
Freilich war ihm dadurch auch nicht viel weiter geholfen. Es blieb nur die Suche fortzusetzen. Draußen schien der Wind nun doch endlich etwas nach zu lassen Und das Trommeln der Eiskristalle an die geschlossenen Fensterläden wich einem rauschenden Widerhall. Das Knarren der Bäume und das Schlagen der Äste an die Wände der Hütte hielt indes unvermindert an. Inzwischen schien der Fremde den in die Mitte der Wand eingelassenen Kamin erreicht zu haben. Denn die Finger seiner linken Hand zuckten etwas zurück und ergriffen dann doch den festen Sims der Kaminumrahmung. "Hier hat schon lange niemand mehr Feuer gemacht", offenbarte er sich selbst. Dabei mußte er lauter gesprochen haben, als er es wollte. Denn er schreckte vor seiner eigenen Stimme zurück. Doch in der Tat fühlte sich der Kamin kalt an und roch auch nicht mehr nach Ruß und Asche. Ihn somit anzubekommen würde selbst dann nicht leicht sein, wenn unser Fremder endlich das vermaledeite Licht gefunden hätte. So stolperte er weiter durch die Dunkelheit und stolperte tatsächlich nun doch über etwas hinweg. War es das obligatorische Bärenfell? Der Kopf des Waldkönigs mit weit aufgerissenem Maul? Der Tastende beugte sich nach unten, um sich über die wahre Natur des Hindernisses klar zu werden. Dabei fühlte er einen recht eigenartigen Pelz, der so recht gar nicht an ein Fell erinnerte. Eigentlich erinnerte gar nichts an ein Tier. Und an ein ausgestopftes erst recht nicht. Denn von diesem Ding da vor dem erkalteten Kamin stieg eine leichte Spur von Wärme auf. Er hielt nun beide Hände, die immer noch steifgefroren einen permanent stechenden Schmerz ausstrahlten, auf diese wohltuende Wärmequelle. Und tatsächlich tauten nicht nur seine Hände auf, sondern ihnen voran sein ganzer Körper. Das Gefühl der Wärme, die Erinnerung an Wärme, an alles andere, als an diese ihn quälende Kälte, war schneller in seinem ganzen Körper verbreitet, als sich die steifgefrorenen Hände dazu bereit erklärten, endlich diese neue Temperatur zu akzeptieren. Als sie es endlich taten und nur noch seine Zehen wie in glühenden Nadelbetten staken, untersuchte unser Hüttengast weiter die Quelle neuen Lebens. Es schien eine Heizdecke zu sein. Doch dann müßte es auch Strom geben, und Licht. Er hatte sich nur etwas hinuntergebeugt und verlor nun auf Grund eines anderen Winkels etwas das Gleichgewicht und balancierte es aus, indem er sich neben den mollig warmen Gegenstand kniete. Nun verspürte er noch mehr von dieser Gastfreundschaft des Textils. Auch die Haut seines Gesichtes erfuhr das schöne Gefühl, langsam aufzutauen. Er griff sich ins Gesicht, um noch mehr Wärme mittels seiner Hände zu transportieren. Aber das war noch zu früh, und so zuckte er mit einem kleinen kaum hörbaren Schrei zusammen und zurück. Hand und Gesicht waren noch nicht bereit sich gegenseitig zu berühren, zu wärmen. Da bedarf es schon einer größeren Zuneigung, die der Knieende im Gegenstand der vermutlichen Heizdecke sah. Also schob er seine immerhin noch klammen Finger auf dem Boden aus Dielen unter die Decke. Das schien zunächst keineswegs einfach. Denn etwas schweres und doch nachgebendes versperrte ihm sein ungehindertes Vorhaben. Als er dann glaubte, endlich weit genug unter der Decke zu sein, wollte er sie anheben und seinen Antlitz näherbringen. Doch auch das war leichter gesagt als getan. Etwas mußte in dieser Decke eingehüllt sein. Etwas, das seine momentanen Kräfte überstieg, Zumal er nicht gerade die fördernde Stellung inne hatte. So zog er kräftiger an dem ihm Wärme verheißenden Utensil und schlug die Balance verlierend vorn über, ungebremst und blind. Bis zu einem Hindernis, dessen weitaus härtere Beschaffenheit ihm die Sinne raubten. Erschöpft, verlor er den unmittelbaren Willen und versank fast schon freiwillig in einen tiefen Schlaf. Den letzten Gedanken an die ihn von unten wärmenden Decke verschwendend. Als er am Morgen darauf aufwachte, fand er sich in einer wollenen Decke wieder. Noch immer hatte sich die muffige Düsternis der scheinbar schon länger unbewohnten Berghütte nicht gelegt. Noch immer schien jede Neuerung an der Sturheit des alten Gebälks zu 17
scheitern, das die ebenso alten Dielen, wie auch die nur mittelmäßig behauenen breiten Bretter der Wände gerade noch so zusammen hielt. Das freilich konnte man zur Zeit nur erahnen. Denn obwohl es bereits Morgen war, fanden nur wenige Lichtstrahlen den Weg in Innere, wo sie sich sogleich in ihrer Einsamkeit verloren und erloschen. Dabei war draußen genügend Licht vorhanden, und auch bereits das mitgeführte Lodern der Märzensonne. Dort, wo sich gerade kein Windhauch verlief, aber dennoch die Sonne ihre Kinder in nahezu ungebremster Wucht tanzen ließ, geschah es zuweilen, daß die eine oder andere Schneeflocke, die den weiten Weg des nächtlichen Ausfluges gut überstanden hatte, nun doch ihr noch junges Leben aushauchte. In einem letzten königlichen, feengleichen Aufglitzern offenbarte es seine innere Kristallform klar und jungfräulich, bevor es zum Abschluß seiner Metamorphose zu einem Tropfen ebenso klaren Wassers mutiert, zu Boden rann. Dort sich mit seinen Brüdern vereinte und einen kleinen Rinnsal bildete. Das alles geschah in fast lautloser Stille. Wenn man davon absieht, daß sich bereits langsam einige jener Tropfen darauf verständigt zu haben schienen, ihre noch nicht verwandelten Verwandten mit zu Boden zu werfen. Und die so ihrer nächtlichen Last befreiten Zweige der Nadelbäume schienen den Reisenden zum Abschied noch nachzuwinken. Und mit einem kurzen Rauschen aufzuatmen. Von alledem war in der verschlossenen Hütte nichts zu verspüren. Auch unsere langsam erwachende Logiergast vermutet nichts davon. Zwar gewahr er, daß der Sturm nachgelassen, nein völlig aufgehört hatte. Und selbst die winzigen Lichtpartikel, die sich mit den Staubkörnchen in der Luft einen lustigen Reigen leisteten, waren von ihm nicht übersehen worden. "Zeit, aufzustehen", beschloß er und kroch unter der ihn die Nacht über wärmenden Decke hervor. Ein leichter Schauer begrüßte seine Schultern, seinen Rücken bis zu den Lenden hinab. Auch seine Beine schienen steif zu sein. Nicht vor Kälte, denn das wollene Gewebe hatte ihn rundum warmgehalten. Vielmehr, wie er jetzt feststellte, daß er auf dem blanken Fußboden genächtigt hatte. Nur Schafhaar zwischen sich und der Dielung. So streckte der neue Bewohner seine angewinkelten Arme in langsamen Wellen von sich, drehte seinen in den Nacken gelegten Kopf hin und her, wippte dabei ein wenig in den Knien und breitet dann doch beide Arme weit von sich weg. Ein letztes Mal in das Hohlkreuz fallend, genoß er die erwachenden Kräfte seines Körpers. Nun fehlte nur noch die eigentliche Morgentoilette, um ihn auf den neuen Tag einzustimmen. Ein neuer Tag hat jedoch zumeist auch ein neues Licht und daran mangelte es noch um den jungen Mann herum. So ergriff er endlich wieder die Kontrolle über den Fortgang der Geschichte und steuerte vorsichtig die Eingangstür an. Nicht vorsichtig genug, denn fast wäre er noch über seinen eigenen Koffer gestolpert. Kopfschüttelnd schob er diesen dann verächtlich mit seinem rechten Fuß nach rechts zu Seite und stützte sich mit seiner rechten Hand an der Wand unmittelbar neben der Tür ab. Er wußte um die Blendwirkung frisch gefallenen Schnees; besonders wenn die Augen aus nahezu völliger Dunkelheit kommen. So schloß er sie sogar ganz, bevor er die Tür nach außen schob. Zumindest es vorhatte. Denn allzuviel hielt der Schnee an der gegenüberliegenden Seite der Holzpforte nicht davon, ohne weiteres klein beizugeben und sich wegschieben zu lassen. Unser Freund öffnete nun doch langsam seine Augen, um das Ausmaß des neuen Hindernisses zu erfassen. Der geringe Spalt, den ihm der Schnee eingestand, hatte auf ihn mehrerlei Wirkungen. Einmal genügte die einfallende Sonnenflut völlig, ihm seine Lider wie Jalousien herunter fahren zu lassen. Zum anderen zeigte diese Flut ihm dann aber auch einen Weg zu dem nächsten Fenster auf der linken Seite des Hüttenfoyers. Sein Gesicht in beide Hände nehmend und leicht auf die Augäpfel drückend, bereitet sich der Besucher auf sein nächstes Vorhaben vor, der Lichtmauer entlang sein Glück an jenem Fenster wieder zu finden.
18
Er ging gemächlichen Schrittes auf jene zweite Variante zu, die ihm der Wanddurchbruch möglicherweise bieten könnte. Direkt vor dem Fenster mußte er noch eine hölzerne Bank, mehr eine Verbreiterung der Wand oder aber auch eine schwere Truhe bezwingen. Er kniete sich einfach darauf und untersuchte den Schließmechanismus des Fensters. Das Glasteil war dabei noch am leichtesten zu überwinden. "Das hat mir gerade noch gefehlt", entfuhr es leise seinem bärtigen Mund, denn zwar fand er eine metallene Klammer, die dem Öffnen des Fensterladens von außen standhielt, doch nach dessen Entriegelung war der nun eingeschlossene Nachtgast nicht viel weiter seinem Ziel entgegen, endlich mehr Licht in seine stille Hütte hereinzulassen. Denn das winterfest gemachte Fenster hatte auch außen eine Bewährung. Niedergeschlagen setzte sich der eingeschlossene Wanderer auf den Absatz vor dem Fenster und überlegte doch, wie er sich aus dieser Lage befreien könne. So saß er reglos in sich versunken. Doch nur kurz. Denn jener Zweig, welche am nahestehenden Baum mit seiner weißen Pracht ebenfalls nur ein Stück Licht hindurch ließ, hatte endlich genug von seiner Last und entledigte sich ihrer. Das hatte zur Folge, daß auch das in die Hütte einfallende Licht an Kraft gewann. Es beleuchtete nun einen etwas breiteren Streifen seines Weges. Da fiel des Mutlosen Blick auf eine nun sichtbare Tischecke, die schwach von dem Lichtschein berührt wurde. Da fiel des Mutlosen Blick auf eine nun sichtbare Tischecke, die schwach von dem Lichtschein berührt wurde. Ausreichend genug, um den Tisch als solchen zu registrieren. Der Wanderer erhob sich wieder und tastete sich an den Tisch heran. Dort angelangt. fuhr er sorgfältig mit beiden Händen über die Tischplatte und fand tatsächlich etwas, daß sich wie ein Kerze anfühlte. Nun benötigte er nur noch eine offene Flamme, um die Kerze auch zu entzünden. Eigentlich hatte er nie bereut, daß er bereits vor zehn Jahren, oder länger, mit dem Rauchen aufgehört hatte. Heute war er sich da aber nicht mehr so sicher. Denn ein Raucher hat meistens auch etwas zum Feuer machen bei sich. Doch so hieß die Parole: Weitersuchen! Jede Pechsträhne sollte auch mal ein Ende haben. Auch wenn dieses meist länger auf sich warten läßt, als das Ende einer Glücksträhne. Für unseren Eingeschlossenen war sie indes in dem Moment vorbei, als er ein kleines Schachtelchen ergriff, das sehr wohl die Größe einer Streichholzschachtel haben dürfte. Schnell öffnete er das Rettung verheißende Etui und entnahm ihm eines der tatsächlich darin enthaltenen Hölzchen. Da sich ein solches an der Zündstelle immer etwas anders anfühlt, konnte schnell die richtige Seite gefunden und alsbald auch ein Funken, eine Flamme, eine brennende Kerze hervorgezaubert werden. Nun beleuchtete ein zwar flackerndes, aber immerhin ausreichendes Licht die karge Stube. Vor dem Kamin, wo noch immer die Decke lag, war eine große freie Stelle. Abgesehen von einem Schemel, an dessen Sitzfläche er sich wohl tags zuvor den Kopf angeschlagen hatte. Genau dem Fenster gegenüber, an dem er gegenwärtig stand, befand sich ein zweites. Müßig für ihn anzunehmen, daß sich dieses leichter öffnen ließe. Und unter diesem Fenster eine eben solche Truhe, wie er selbst auf einer gesessen hatte. Neben dem einzigen Tisch im Raum, waren dann nur noch drei Stühle an diesem angelehnt, jedoch auf der ihm abgewandten Seite, so daß er sie im Dunkeln nicht hatte fühlen können. Links und rechts neben der Wand, in welche der benannte Kamin eingelassen war, konnte der Wanderer nun noch jeweils eine Tür sehen, deren andere Seite ihm allerdings noch verborgen blieb, da sie geschlossen waren. Jetzt hieß es also, sich für eine der beiden Türen zu entscheiden und er entschied sich für die naheliegende, also linke Tür. Vorsichtig, mit einer Hand die Kerze haltend, mit der anderen, rechten sie vor Zugwind schützend, schritt er auf diese Pforte zu. Dort öffnete er sie mit seinem rechten Ellbogen. Was sich als relativ leicht herausstellte, da es nur eine Wendeltür war.
19
Im Nebenzimmer angekommen fand er augenblicklich eine nach oben führende Treppe vor, die ihrerseits ebenfalls um ihr Zentrum drehte. Alles andere außer acht lassend, stieg der Besucher die recht schmalen Holzstufen empor. Immer darauf bedacht, das Licht möglichst nicht wieder zu verlieren. Oben fand er sich in einer Art Schlafzimmer wieder, worin zwar Betten standen, deren Decken und Kissen allerdings nicht bezogen waren. Das interessiert ich indes momentan weniger. Er suchte ein zu öffnenden Fenster, da er annahm, daß die oberen nicht derart gegen Witterungseinflüsse geschützt seien. Und tatsächlich hatte er an der Stirnseite ein solches entdeckt. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit und er hatte endlich das Licht der Außenwelt um sich herum. Die Wachskerze hatte ihren Zweck erfüllt und konnte ihrerseits wieder "schlafen gehen". Unser Entdecker verschaffte sich alsbald einen gewissen Überblick. So weit dies von seinem Fenster aus ging. Doch was er sah, war nicht gerade berauschend für einen Reisenden, der nur mal kurz ein Wochenende unter Freunden verbringen wollte. Obwohl ein verzauberter Märchenwald sich seinem Blick bot, kam keine romantische Stimmung in ihm auf. Zu viele Fragen waren noch zu klären. Wie kommt er nur aus dieser Hütte, denn für einen Sprung in den sicherlich weichen Schnee konnte es zu gefährlich sein und herunterklettern ging auch nicht. Zu glatt schienen ihm die Wände. Aber wenigsten hatte er jetzt hier oben Tageslicht. Doch nun machte sich langsam die Natur des Menschen bemerkbar und sein allmorgendliches Bedürfnis wuchs zu einem echten Problem heran. In das dunkle Erdgeschoß mochte er aber nicht mehr hinab und hier oben war die Suche zu mühselig. Da fiel sein Blick auf eine Luke in der Decke des Zimmers. Er hatte sie vorher übersehen, weil sie rückwärts von ihm zu finden war. Nun erwachte erneut sein Forschergeist und Erfolgsdrang. Schnell hatte er sogar die seitlich liegende Stange gefunden, womit sich die Klappe herunterholen ließ. Tatsächlich stellte sich dieses zur Abwechslung mal nicht als schwieriger als gedacht heraus. So fuhr die Abdeckung herunter und ihr folgte eine ausfahrbare Leiter. Diese war ebenso schnell arretiert und er die Sprossen hinauf. Die Luke hatte einen kleinen Aufbau verdeckt, welcher genau an der Esse des Kamins angefügt und oben mit einem Ausstieg für den Schornsteinfeger versehen war. Diesen Ausgang nutzend, befreite sich unser Gefangener endlich aus seiner momentanen Lage. Zumindest aus dem Eingesperrt sein. Ihm schlug eine warme Sonnenflut entgegen, aber auch rückwärts ein noch kaltes Lüftchen, so frei oben auf dem Dach. Dies jedoch nicht weiter beachtend, schaute er sich nach den nächsten Schritten um. Er müsse doch nun endlich ... Da glitt er auf dem im tauen begriffenen Schnee aus und jede weitere Suche nach einem Abstieg erübrigte sich von selbst. Bevor er so recht wußte, wie ihm geschah, rutschte unser Kletterer die Schräge des Daches hinab um letzten Endes in einem freien Fall von drei Metern im tiefen Schnee zu landen. Seinem Quantum Glück war es zu verdanken, daß er einmal an dieser relativ flachen Stelle vom Dach fiel und daß auch unter dem Schnee nichts spitzes verborgen war. So tat er sich dabei nicht einmal weh. Aus dem Schnee aufgerappelt, stellte er sich zunächst einmal an eine windgeschützte Stelle des Holzhauses und verrichtete seine flüssige Notdurft. Dann bedeckte er die Stelle mit etwas Schnee. Nun kam es für ihn weiter an, wieder in die Behausung zu gelangen. Das würde zumindest an der Tür nicht ganz einfach sein, wie er feststellte. Denn tatsächlich hatte sich eine gewaltige Wehe vor den Eingang gelegt. Blieb also nur noch das Fenster. Das von innen bereits geöffnete und noch immer freizugängliche Fenster. Unser nicht gerade winterfest gekleidete Wanderer stapfte in seinen immerhin mehr als knöchelhohen Wildlederstiefeln durch die weiße Pracht um die nächste Hausecke herum und kam tatsächlich zu dem betreffenden Fenster. Seine Vermutung hatte sich bestätigt, daß ein Querholz das Öffnen des Ladens von 20
innen verwehrte. Mit einem kräftigen Ruck war allerdings auch dieses Problem behoben und er konnte von außen in das sich nun schlagartig mit Licht füllende Zimmer blicken. Noch zog er sich freilich nicht wieder in das Innere zurück, sondern wollte alle Laden der Hütte von außen entriegeln. Dieses umgehend ausgeführt, kam er wieder an seinem offenem Fenster an. Wo er nun endlich wieder hinein stieg, um sich dort genauer umzusehen und einen "Schlachtplan" zu entwerfen. Als erstes schloß er das Fenster hinter sich und ging zu dem gegenüberliegenden Ausblick. Das Fenster schnell geöffnet, der Laden zur Seite gedreht und das Fenster selbst wieder geschlossen. Und da jetzt noch mehr Licht in der Hütte war, konnte er sich ein genaueres Bild von dem Raum schaffen, welchen er vor nicht einmal einer viertel Stunde nur kurz im Kerzenschein gesehen hatte. Aber da drängte sich noch etwas anderes in seine Gedanken. Just in dem Moment, als er zu seinem Koffer ging, um wenigstens seine Toilettenutensilien herauszunehmen, und an der fast in Vergessenheit geratenen noch immer am Boden liegenden Wolldecke vorbeikam, erinnerte er sich der vergangenen Nacht. "Wie bin ich eigentlich in die Decke geraten?" fragte er sich und nahm das Accessoire auf. Sie war inzwischen erkaltet, auch wenn in ihrem Inneren noch immer mehr Wärme vorhanden war, als im sonstigen Raum. Wiederum abgesehen von den wärmenden Strahlen der Sonne, die noch immer durch den kleinen Spalt im Hütteneingang, drang. Wegen des veränderten Standes der Sonne nun natürlich einen auch veränderten Ausschnitt des Fußbodens erwärmend. "Und was war das so schweres in der Decke?" erinnerte er sich der Schwierigkeit, diese Decke anzuheben. Er untersuchte die Stelle, an welcher die Decke gelegen hatte, doch nichts deutete daraufhin, aus welchem Grund er sie des Nachts nicht aufnehmen konnte und schon gar nichts, weswegen sie im kalten Zimmer eine so angenehme Wärme abgestrahlt hatte. Schließlich legte er sie achselzuckend zusammen und auf der Bauernkiste unterhalb des rechten Fensters ab. Nun noch schnell seinen Koffer geholt, auf dem Tisch geöffnet, die Tasche mit den Artikeln zur Morgenhygenie herausgenommen und dem bislang noch nicht erkundeten rechten Zimmer neben dem Kamin einen Besuch abgestattet. Das vollzog sich in einer fast schon automatischen Abfolge. Ohne daß er unterdessen weitschweifenden Gedanken nachhing. Jenes Zimmer offenbarte ihm zunächst den vermuteten Eindruck. Ein großer Bauernschrank, unbemalt und so dem Design der gesamten Hütte angepaßt, ließ zwar vom Raumeingang keinen Blick in sein Innerstes zu, doch die leicht geöffneten Türen zeugten davon, daß er dem Gast einladend gesinnt war. Dieser Gast machte auch sogleich davon Gebrauch, indem er einen Blick hinein wagte. Blecherne Töpfe, hölzerne Teller und Becher, sowie ein ganzes Sortiment üblicher Küchenutensilien war zu finden. Der Logiegast schloß die Türen und wandte sich einem an der Stirnseite befindlichen Fenster zu. Auch dieses war noch immer mit dem Holzladen von außen verschlossen. Doch ein Griff genügte und auch die Küche wurde nicht mehr nur von dem durch die Tür eindringenden Licht erhellt. Unmittelbar neben dem Fenster war ein schlichtes Waschbecken aus bereits alt wirkendem Porzellan befestigt. Alt wirkend, nicht aber unsauber. Wie überhaupt die verlassene Hütte einen überaus gepflegten Eindruck hinterließ. Nun hieß es für den Fremden, sich dem Beschaffen frischen Wassers zuzuwenden. Doch welche Überraschung! Da stand ein gefüllter 10-Liter Eimer mit sauberem Quell. Der Mann neigte sein Gesicht der Flüssigkeit zu, um die Qualität zu prüfen. Kein Zweifel, das Wasser schien erst vor kurzem in den Eimer gelangt zu sein. "Seltsam", entfuhr es dem Reisenden, der still für sich die Zusammenhänge zu erforschen suchte. Unterdessen nutzte er die Zeit, um sich endlich seines Nachtgeruches zu entledigen. "Brrrr!" So kalt hatte er die Umgebung gar nicht mehr empfunden. Auch wenn er gestern fast einer Erfrierung erlegen wäre, so hatte ihm doch heute morgen die Suche nach einem Ausweg 21
unmerklich eingeheizt. Daß er jetzt, bar seiner Oberkleidung den kalten Schauer einer seit langem ungeheizten Holzhütte empfand, ist mehr als verständlich. Und doch widmete er seine Aufmerksamkeit nicht ausschließlich diesem ihn überwältigenden Schauer. Ein seitlicher Blick zum Wasser ließ ihm nicht verstehen, weswegen das Wasser nicht einmal einen geringen Eisfilm aufwies. Von der verbrauchten Luft seiner Übernachtung befreit, konnte er nun wieder etwas klarer denken. Und er begann sich, mit dem Vorgefundenem zu arrangieren. Er nahm etwas von dem frischem Wasser und goß es in einen vorhandenen urtümlichen Wasserkocher, um sich nun auch vermittels eines heißen Getränkes auch innerlich zu erwärmen. Doch halt, womit sollte er dem Wasser einen Geschmack geben. Nicht auf eine derartige Abgeschiedenheit vorbereitet, hatte er natürlich keinen Kaffee oder Tee bei sich. Und zu Essen auch nur eine bereits angebrochene Keksrolle. - Glücklicherweise fand er im besagten Bauernschrank, hinter einer Extratür, eine kleine Blechdose mit noch verwendbarem Tee. Das innerliche Einheizen schien gerettet, sobald er eine Möglichkeit gefunden hatte, auch das dafür notwendige Feuer zu entfachen. Ja, Feuer! Wo war der Ofen? Unser Besucher fand lediglich eine schmiedeeisernen Tür, welche in die einzige aus Steinen erbaute Wand eingelassen war. Diese Eisentür verbarg den Durchgang zum Kamin, in welchem man an einer querlaufenden Stange Töpfe oder eben diesen Wasserkocher aufhängen konnte. Eine jetzt erst von ihm registrierte eiserne Stange sollte dabei wertvolle Hilfe leisten können. "So wird das also gehandhabt", stellte er fest und gewöhnte sich langsam an das ihm aus der modernen Zeit unbekannte Naturell der Hütte. "Jetzt brauche ich nur noch Feuer." Zwar fand er schnell ein wenig trockenes Reisig, um ein Feuer erst einmal in Gang zu bekommen. Doch das genauso wichtige Brennmaterial für Essen- und Hauserwärmung fehlte in der Küche. Auch ein schneller Blick in das Foyer der Hütte, dem eigentlichen Wohn- und Aufenthaltsraum, veranlaßte ihn nicht gerade zu Jubelschreien. Der zur Lagerung hierfür verwendbaren Brennmaterials vorgesehen Platz war vollkommen verwaist. Abgesehen von ein paar zu vernachlässigen Spänen. Also mußte er sich wieder hinaus begeben, um das sicherlich doch vorhandene Brennmaterial von außen zu holen. "Hoffentlich muß ich nicht noch einen Baum fällen", entfuhr es ihm, der diesem wiederum leidlichen Rückschlag noch nicht die rechte Romantik abgewinnen konnte. Er stellte den Topf mit dem Wasser wieder ab und zog sich seinen leichten Anorak über. Dann stieg er wieder aus dem ihm noch immer allein zur Verfügung stehenden Ausgang. Die Dachluke mal ausgenommen. - Halt! die war ja noch offen. Also noch mal schnell zurück und die Treppe hinauf. Oben dann den Essenkehrerausgang verschlossen, die Leiter eingefahren und die Klappe wieder in die ursprüngliche Position zurück gebracht. Dann erst begab er sich nach außen, um unter dem Schnee der vergangenen Nacht nach etwas Brennbarem zu suchen. Unser Wanderer besann sich auch sofort, daß er doch bei seinem Rundgang, um alle Läden zu entarretieren, einen kleinen Verschlag gesehen hatte. Etwas abseits und neben einem hölzernen Abort. Dorthin begab er sich und mußte feststellen, daß trotz des einsetzenden Tauwetters noch jede Menge Schnee von den beiden Eingängen zu beseitigen waren, wenn man sie nutzen wollte. Doch wie beseitigt man eine Packung Schnee, wenn man nichts weiter als seine Hände hat. Na klar, mit seinen Händen. Aber so weit quälte ihn sein Wochenendschicksal denn doch nicht. An der linken Wand des Holzverhaus war eine breite Schaufel zu finden. Eine Schaufel aus dem hier üblichen Material. Hurtig nahm er sie zur Hand und schaufelte kräftig die weiße Pracht zur Seite. Selbstredend nicht gerade vor die Tür des "Donnerbalkens". Langsam wurde ihm nun auch wärmer und das Sprichwort, wonach ein fester Brennstoff mehrmals heizt, bewahrheitete sich bei ihm auf nun wohltuende Weise. Dank der großen Fläche der Schaufel, was es ihm bald gelungen, die Verwehung zu beseitigen und er konnte den Verschlag betreten. Die Sonnenstrahlen fanden auch hier hinein 22
nur vereinzelte Wege, doch bot sich dem Betrachter ein ganz anderes Bild. Von der Arbeit angenehmer Belastung aufgewärmt, fand der Mann sogar noch die Muse, sich an dem Glitzerspiel des eintauchenden Lichtes zu erfreuen. Und an dem Widerschein einzelner Eiszapfen, die sich zunehmend in Größe und Anzahl verringerten. Nach diesem Moment der Muse, begab sich der Brennstoffsucher wieder zu seiner Aufgabe zurück und erblickte dann auch einen großen Stapel Holz. Dieses war zwar zu Stücken von etwa einem halben Meter geschnitten, doch nicht zu leichter entzündbaren Scheiten gespaltet. So kam eine weitere Aufgabe auf den "Einsiedler" zu, welcher wenigstens sofort die dafür vorgesehene Axt fand. Doch wo sollte er das Holz spalten? Der Brennstofflagerraum war nicht hoch genug, um zum Schlag kräftig auszuholen. Auch war kein Hackklotz zu erspähen. Also wieder hinaus in das feindliche Leben und die ohne Zweifel vorhandene Vorrichtung gesucht; und gefunden. Freilich mußte auch hier wieder die Schneeschaufel ihnen Einsatzwillen unter Beweis stellen. Doch bereits darin geübt, war bald der Klotz von des Winters Pracht befreit. Nun konnte auch ein entsprechendes Pensum an Feuerholz gespaltet werden. Wie groß dieses Pensum allerdings sein würde, sein müßte, sollte sich später herausstellen. Unser Wanderer hatte zwar schon eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Brennholz, doch nicht auf diese ursprüngliche Verwendungsart. Als sich dann nach einer zeitlosen Zeitspanne der Magen des Holzhackers bemerkbar machte, und er zum ersten Mal an diesem Tag eigentlich bewußt nach seiner Armbanduhr schaute, mußte er feststellen, daß es bereits Nachmittags war. Wohin die Zeit verschwunden war, konnte er sich allerdings nicht vorstellen. Es schien ihm aber auch zu belanglos in seiner Situation. Das Holz, welches er zunächst aus dem Verschlag geholt und dann gespalten hatte, mußte nun auch noch ins Haus transportiert werden. Mühsam und doch schon von der Holzhackerei entkräftet, bedarf es dennoch dieser weiteren Anstrengung. Mit weichen Knien, das Hungergefühl mühsam unterdrückend und bestrebt, bald im warmen Zimmer entspannen zu können, bahnte er sich zunächst noch mehr recht als schlecht, einen Weg zum Eingang der Hütte. Das stellte sich direkt an diesem freilich sehr zeitaufwendig heraus, zumal in der Ferne schon wieder eine dunkle Front von Wolken, dem Sonnentag im März drohte. Also brach der Hüttenbewohner seine Arbeit ab und konzentrierte sich auf den Transport der Holzes. Immer wieder ging er zu den Holzscheiten und brachte sie an das rechte Fenster, welches der Stall-Abort-Kombination am nächsten lag. Als er alles an das Fenster gelegt hatte, verschloß er noch den Lagerschuppen und umrundete das Haus, wieder am nur angelehnten Fenster einzusteigen. Drinnen verschloß er zunächst dieses, dann die Eingangstür, durch welche die bislang von außen einströmende Sonnenwärme verloren hatte und öffnete nun endlich das andere Fenster, um die Scheite hinein zu holen. Dazu stellte er sich auf die Bauerntruhe, von welcher er zuvor jene wollene Decke auf die Dielung weggelegt hatte. Dann beugte er sich durch geöffnete Fenster und barg ein Stück Holz nach dem anderen. Schließlich hatte er alles drinnen und schloß sich wieder von der Außenwelt ab. Noch schnell die Scheite an die dafür vorgesehene Stelle gebracht, in Vorfreude auf die zu erwartende Wärme aufgeatmet, einen mit Schokolade gefüllten Doppelkeks verspeist, um den Magen wenigstens zu betäuben und dann die ersten Schritt zum Entfachen des Kaminfeuers in die Wege geleitet. Das Reisig und die gefundenen längeren Kaminstreichhölzer waren schnell bereitgelegt. Bereitgelegt, um es sogleich in der Mitte des Kaminbodens aufzuhäufen. Dann noch ein paar größere Späne drauf und dann "richtiges" Holz. Die gröberen Stücke, die dann erst die richtige Wärme bringen, würden erst zu dem Haufen stoßen, wenn das Feuer bereits brennt. Doch wer hat schon einmal einen kalten Kamin angefeuert? Noch dazu, wenn sich der nahende Sturm einen Spaß damit zu machen scheint, auf einen ungünstigen Luftdruck zu achten. Außerdem wurde es schon wieder dunkel. 23
Der Mann kniete sich vor den offenen Kamin und führte langsam das brennende Streichholz dem Reisighaufen entgegen. Tatsächlich fing das aufgeschüttete Holz auch Feuer, doch so richtig breitet es sich nicht über den gesamten Haufen aus. nur das gerade mit der Flamme in Berührung gekommene Stück glomm hell auf, um dann außerhalb der Streichholzflamme wieder in sich zusammen zu sinken. Unser Einsiedler warf das fast verbrauchte Zündholz in die Kamin und steckte seinen Kopf hinterher. Wenn es einen Zug in diesem lange nicht mehr gebrauchten Abzug gab, dann nicht von unten sondern in entgegengesetzter Richtung. "Kein Wunder, daß es nicht brennt", sagte er zu sich und schaute nach oben, ob es da nicht irgend eine Möglichkeit gäbe, dem abzuhelfen. Inzwischen hatte sich draußen der Sturm zu einem weiterem Orkan entwickelt. Und die Bäume ächzten weitaus mehr, als am Tage zuvor. Man wäre mit seiner Sorge nicht zu weit von der Realität entfernt, bekäme man Angst um die Stabilität der Hütte. Doch sie hielt sich bislang tapfer. Auch wenn sie ordentlich durchgeschüttelt wurde und ebenfalls laut in ihrem Holze aufschrie. Das alles nahm der trotzig um Feuer bemühte Mensch nicht wahr. Er suchte und fand endlich auch an der Seite der Esse eine metallene Stange, welche nach oben führte. Mit dem zur Verfügung stehenden Schürhaken war es keine Schwierigkeit, diese Vorrichtung zu betätigen und bald spürte selbst der Mann, daß der Gegenzug nachließ, aufhörte und ein kleines Feuerchen sich aus dem Reisig arbeitete. Vorsichtig wurde daraufhin noch ein paar kleinere Stückchen Holz nachgelegt und bald konnten diese Stücke größeres Ausmaß annehmen. Und nachdem sie richtig Feuer gefangen hatten und sich bereits eine Wärme vor dem Kamin ausbreitete, legte der Mann endlich die eigentlichen Scheite in die Flammen. Dann wandte er sich dem linken Fenster zu. Draußen schien die Welt untergehen zu wollen. Unterzugehen in einem erneuten Blizzard. Kopfschüttelnd zog sich unser Freund von der nicht erfreulichen Aussicht zurück, nachdem er den festen Sitz des Fensters geprüft hatte. Verständlicherweise fand er nützlich, zu versuchen, das Wetter draußen zu lassen. Dann begab er sich in die Küche, um dort sein morgendliches Unternehmen, sich heißes Teewasser zubereiten, abzuschließen. Dabei stellte er fest, daß diesmal das Wasser in jenem Eimer bereits eine Haut zarten Eises aufwies. Es erstaunte ihn somit noch einmal, daß dies am Morgen nicht der Fall war. Aber er hielt ihn nicht davon ab, sich nun doch den Wassertopf seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen. Dabei verwendete er die bereits erkundete Vorrichtung, den Kamin auch von Seiten der Küche zu benutzen. Schnell hatte er auch die gefundene Packung Tee vorbereitet und die mitgebrachten Backwaren auf einen Holzteller ausgebreitet. Kopfschütteln maß er die Menge seiner zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel. Und sein Magen tat gleiches. Wenn er nicht des Morgens einen Weg fände, entweder von hier fortzukommen oder wenigstens doch noch etwas eßbares zu finden, würde es für den Mitteleuropäer, der nicht gewohnt war, längere Zeit ohne Nahrung auszukommen, ziemlich schmerzhaft werden. Doch dergleichen Gedanken wollte sich unser Abenteurer nicht weiter aussetzen und nahm etwas praktischeres in Angriff; das Herrichten eines Nachtlagers. Schließlich wollte er nicht noch einmal auf dem Fußboden vor dem Kamin schlafen. Er nahm vorsorglich eine brennende Wachskerze mit ihrem Kerzenhalter und stieg wieder die sich wendelnde Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Dort war es bereits wieder stockdunkel geworden, als habe jemand draußen das Licht ausgeschaltet. Aber unser Freund interessierte auch das nicht mehr. Er versuchte seinen Plan durchzusetzen und über alle Widrigkeiten hinweg diese zu überwinden. Wundern tat er sich schon lange nicht mehr. Die Kerze fand ihren Platz auf einem kleinen Bord an der gemauerten Wand, in welcher der Kaminabzug entlang lief. Eine ebenfalls schmiedeeiserne, allerdings nicht zu öffnende Klappe ließ bereits einiges der nach oben steigenden Wärme des offenen Feuers in das Zimmer 24
hinein. Solange das unten brennende Holz Wärme abgab, solange würde auch im oberen Zimmer kein Frost herrschen. Und wenn die Temperaturen dem Morgen zu doch etwas sinken würden, weil die dann glühenden Kiefernscheite zu Asche geworden waren, würde das bezogene Bett ihm noch genügend Energie erhalten können. Doch hierfür mußten die unbezogenen Betten erst noch eine entsprechende Umhüllung erhalten. Neben dem gemauerten Stück der Wand, etwa in gleicher Position wir unterhalb die Küchentür, befand sich auch hier ein noch verschlossener Durchgang, denn unser Wanderer bislang noch nicht als erkundenswert erachtet hatte. Nun nahm er sich jedoch die Zeit, zumal anderswo keinerlei Bettwäsche zu finden war. Tatsächlich befand sich hinter der hölzernen Tür ein weiterer Raum mit viel Platz in Regalen, um dort etwaige persönliche Gegenstände abzulagern. Doch Platz war nicht gerade das, was unser Mann momentan am nötigsten vermißte. So verlor er keine Zeit in diesem ihm gegenwärtig unnützen Zimmer, zumal er sich der beiden Holztruhen im Eingangsraum der Hütte erinnerte. Vielleicht mochte dort etwas zum Umhüllen der groben Betten mit unbekanntem Inhalt zu finden sein? Also erneut die Treppe hinunter und nachgeschaut. Tatsächlich war ihm hierbei das Glück hold. Ob nun die Besitzer oder Betreiber der Hütte ständig saubere Bettwäsche für derartige Besucher bereitgelegt haben oder ob sie eben nur für sich selbst so verfuhren, sei dahingestellt. Es bedeutete auch für unseren Freund keinen Unterschied. Er nahm eine Packung heraus, bestehend aus Laken, Bett- und Kissenbezug. Dann schloß er die Truhe wieder und stieg, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen wieder hinauf. Nicht ohne vorher nach Feuer und Wasser zu sehen. Oben angelangt machte er sich an dem einen der beiden Betten zu schaffen. Als er gerade das Laken straff und glatt gezupft hatte, schaute er unbewußt aus dem Fenster an seiner Schulter hinaus. - Und stutzte. Erschrak! Zwischen all dem Unwetter da draußen, zwischen den sich in höher werdenden Schneewehen verlierenden Nadelbäumen schien sich eine menschliche Gestalt ebenfalls zu verlieren. Oder war es nur ein Trugbild? Denn schon war es wieder Weg. - Um kurz darauf hinter einem scheinbar tiefen Berghang wieder allein mit dem Kopf aufzutauchen. - Nein, nicht gehend, nicht einmal sich schleppend, vielmehr auf allen Vieren durch den tiefen Schnee. Immer in der Gefahr, selbst in dieser eigentlich windschlüpfrigen Stellung, vom Sturm hinweggefegt zu werden. Der Mann am oberen Fenster der Holzhütte sah dem Treiben ein paar Sekunden zu. Ihm schien es später, als seien es Stunden gewesen. - Alles von sich werfend stürzte er dann aber doch aus dem Schlafgemach, die Treppe halsbrecherisch und doch wohlbehalten hinunter, ergriff seinen Anorak und stürmte zur Tür hinaus. Doch halt, sie war ja immer noch von außen durch die Schneewehe verriegelt. "Verflucht!" schrie er auf, nachdem er seine Geschwindigkeit und Aufprallkraft falsch eingeschätzt hatte und gegen das feste Holz krachte. Und "Verflucht!" schrie er auch auf, weil er so dem notleidenden dort draußen nicht schneller zu Hilfe eilen konnte. Also mußte er wieder aus dem Fenster klettern und hinter sich die Laden verriegeln. Bereits als er auf der windabgewandten Seite ins Freie kam, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz aus Kälte und Erschöpfung. Und als er dann noch in die vom Sturm eroberte Zone kam, schlug ihn dieser mit alle seiner Kraft zu Boden. Doch dieses konnte den Menschen nicht von seinem Weg abbringen. Nun selbst auf allen Vieren schleppte er sich zu den wild hin und her geworfenen Kiefern. Trotz der Peitschenhiebe, die sie ihm mit ihren krallenbesetzten Zeigen zufügten, fühlte er sich dort sicherer als auf dem freien Weg, den er wahrscheinlich nicht lebend überstanden hätte. Vom ohrenbetäubenden Lärm zusätzlich geschunden konnte er sich dann sogar an einem der Bäume aufrichten und schneller zu der Stelle gelangen, an welcher er die bemitleidenswerte Gestalt vermutete. Noch sah er sie nicht und auch keine Spur von ihr. Er war sich auch nicht einmal sicher, ob er wirklich in der richtigen Richtung suchte. Denn von hier sah alles so viel 25
anders aus, als durch das Fenster im relativ warmen Haus. So irrte er bald wahnsinnig vor Angst durch die eisige Finsternis, noch immer von allen Seiten ausgepeitscht. Ob sein Anorak dabei zu Schaden kam, interessierte ihn nicht. Es hätte ohnehin nichts geändert. Da endlich, als er sich schon fragte, ob er sich die Gestalt nur eingebildet hatte, war ihm von neuem gegenwärtig, eine Bewegung vor sich gesehen zu haben. Ein Bewegung mitten im Sturm. Das konnte alles mögliche bedeuten. Eine Windhose mitten im Blizzard ist nichts ungewöhnliches. Doch dann glaubte der Retter an exakt der gleichen Stelle wieder etwas bemerkt zu haben. Was blieb ihm anderes übrig, als sich dorthin zu begeben, der Sache auf den Grund zu gehen. Unter Aufbringung all seiner noch vorhandenen Kräfte, mental wie körperlich, trat er aus dem Unterholz auf die kleine Anhöhe gegenüber des nur noch schwach erahnbaren Weges. Sofort schlug ihm der Sturm wütend zu Boden und schliff ihn mühelos davon. Erst nach einigen zehn Metern änderte sich die Windrichtung und der entkräftete Mann wurde nicht mehr entgegen seinem Willen davongetragen. Nun freilich war der Aufwand zu der vielleicht nur trügerisch wahrgenommenen sterbenden Bewegung noch umständlicher. Dennoch blieb dem Menschen nichts anderes übrig. Er versuchte sich zu erheben, doch schien er sich bei seiner Schußfahrt am Knöchel verletzt zu haben. So blieb er in den Knien und kroch, sich gegen den immer noch heftig Gegenwehr leistenden Wind behauptend, seinem Ziel entgegen. Wahrlich hatte er sich nicht getäuscht. Als er dort ankam, lag unter einem bereits dichtem Schneefell eine menschliche Gestalt, die kaum noch zu atmen schien und so kurz vor der Schwelle zum Tod stand. Der Mann aktivierte seine letzten Kraftreserven und schleppte sich mit dem leblosen Körper in die Richtung, in welcher er die Hütte vermutete. Nur mühsam kam er voran. Nur mit Mühe konnte er sich selbst nach vorn durch den tiefen Neuschnee arbeiten. Und da hatte er noch die fremde Gestalt auf seinem Rücken. Inständig hoffte er, daß sie die Strapazen überstehen werde. Doch mit Hoffnung allein kam er nicht weiter. Sein angeschlagenes Bein hinter sich her ziehend wankte er durch eine kurze Zeit, in welcher der Sturm ein Einsehen zu haben schien und ihm etwas weniger gewaltig zusetzte. Da trat aus dem ohnehin dunklen Hintergrund des Waldes der Umriß seines Zieles hervor. Wenigstens sein Orientierungssinn hatte ihn nicht verlassen, wenn ihn schon seine körperlichen Kräfte nach und nach dem Laufpaß gaben. Schließlich konnte er selbst nur noch auf Knien der Behausung entgegen schleichen, seine Last hinter sich herziehend. Und in der Vorfreude, im Inneren der Hütte auf eine heiße Tasse Tee zu stoßen. "Der Wasserkessel!" stieg es ihm zu Bewußtsein empor, denn ihn hatte er ganz und gar im Kamin vergessen. Weil es nun auch nichts mehr nutzte, schleppte er sich ohne weitere Gedanken an sein Mißgeschick zu verlieren, immer weiter. Und kam endlich doch, völlig entkräftet an dem Fenster an, durch welches er ausgestiegen und nun wieder hinein klettern wollte. Ja, wollte. Denn eine kräftige Bö mußte die Dachlast aus Schnee herunter geweht haben und nun lag diese vor dem Fenster. Die Aussicht vollkommen versperrend. Unser Leidgeprüfter heulte vor Verzweiflung laut auf, was freilich im Tosen des Blizzards unterging. Aber auch das nutzte nichts. Wollte er wieder in die Hütte zurück, mußte er einen gangbaren Weg finden. Und das schnell. Denn sonst bestand die Gefahr, daß nicht nur seine menschliche Last, sondern auch er selbst ein Opfer jener Nacht werden würde. Was war unter diesen Voraussetzungen für ihn noch möglich? Zwar hätte er jetzt den Schnee vor dem Fenster wegschaufeln können, doch das wäre bei diesem Wetter fast unmöglich gewesen. Und was sollte inzwischen mit seinem "Gast" werden? Da viel ihm ein, daß er am Tage in jenem Holzverschlag so etwas wie alte Decken oder Jutesäcke gesehen hatte. Also schleppte er seine Last weiter bis zu dem Stall und kletterte über eine bereits wieder im Entstehen begriffene Wehe in das Innere. Tatsächlich lagen dort einige jener Planen, die zum 26
Abdecken gut geeignet wären. Doch ob sie auch zum Wärmen sich verwenden ließen? Der verzweifelte Mann zog seinen Anorak aus und legte ihn der Gestalt, die er mit in den Verhau genommen hatte, zusätzlich über. Dann wickelte er sie in die Planen ein, um wenigstens der Zugluft etwas entgegen zu setzen. Selbst halb erfroren wandte er sich anschließend wieder aus dem Holzschuppen und der eigentlichen Eingangstür der Hütte zu. Obwohl ein wenig windgeschützter, war es auch dort nicht minder kalt. Noch dazu, da er sich dieser Kälte jetzt ohne schützende Jacke ausgeliefert hatte. Zwar war ihm angesichts der eigenen Anstrengungen weniger kalt zu mute. Doch konnte diese Streßhitze ihn nicht für alle Zeit wärmen. Und mögliche Erfrierungen würden nicht gerade leicht zu bemerken sein. Glücklicherweise war die Schneeschaufel leicht auffindbar, da er sie an die Hausecke gelehnt hatte. Weniger leicht fiel ihm dann aber das eigentliche Schneeschaufeln. Nicht auf seine Hosen achtend, ließ er sich auf die Knie hinab und begann gleichmäßig die weiße Barriere zu beseitigen. Auch wenn immer wieder neuer Schnee herangeweht wurde, hatte er nach einiger Zeit denn doch den Eingang wenigstens soweit freigelegt, daß er die Tür öffnen konnte. Schnell war er dann zum Holzschuppen zurückgewankt, gehumpelt, gekrochen. Dort fand er unter dem Haufen Planen seinen erfrierenden Leidensgenossen immer noch in einer tiefen Bewußtlosigkeit vor. Freilich blieb ihm auch keine Zeit, sich näher um den anderen zu kümmern. Er mußte nicht nur ihn schnellstens in die Geborgenheit des Haus bringen, worin er noch immer ein wärmendes Feuer vermutete. Den kurzzeitigen Gedanken an den Wasserkessel hatte er wieder verdrängt. Wenn auch mit viel Mühe, doch wenigstens erfolgreich, konnte er den Bewußtlosen auf eine der Planen packen und dann mit den anderen Abdeckungen über den Schnee in Richtung Hütte ziehen. Noch immer wütete der Sturm, als wollte er verhindern, daß des Mannes Unterfangen mißlingen möge. Doch so leicht läßt sich ein menschliches Herz nicht entmutigen und mit letzten Kräften (Welche letzte Kräfte denn eigentlich noch?) gelang es buchstäblich in letzter Sekunde, bevor unser Freund ausgelaugt zusammenbrach, die Tür hinter sich zuzuschlagen. Wie lange mögen beide wohl dort direkt an der Eingangstür gelegen haben? Wie lange, weiß niemand. Jedenfalls tagte es bereits wieder, als der angeschlagene Retter seine müden Augen öffnete. Durch das linke Fenster drang bereits die Morgensonne ein und tat so, als habe es den gestrigen Abend nicht gegeben. Als sei sie sich keinerlei Schuld bewußt, die Natur dieses Landstriches im Kampf gegen den Sturm allein gelassen zu haben. Unser Freund würdigte sie deshalb auch keines Blickes und machte sich daran, das fast verloschene Kaminfeuer zu neuem Leben zu erwecken. Mit ein wenig trockenem Reisig war dies auch nicht weiter schwierig. "Den ausgebrannten Wassertopf kann ich wahrscheinlich erst einmal vergessen", war er sich sicher. Aber halt, in ihm war noch immer eine ausreichende Menge Wasser, dem nur noch ein wenig mehr Temperatur fehlte, um für ein paar wärmende Tassen Tee dienlich sein zu können. Der "Hausherr" drehte sich seinem Geretteten zu, ob dieser nicht etwa doch heimlich erwacht war und für das Wasser gesorgt hatte. Doch unter dem Stoffberg tat sich herzlich wenig, um dem Verdacht zu entsprechen. Daß diese Stille freilich nicht andauern durfte, war dem Manne klar. Also ging er hin, und trug das ganze Paket näher an den Kamin heran. Dort wickelte er die Gestalt aus den schweren, weil völlig durchnäßten Planen und legte ihn als weilen auf die schnell ausgebreitete Decke. Noch immer vollkommen von dessen eigener Bekleidung und dem geborgten Anorak eingehüllt. Des Retters Fußgelenk schmerzte zwar noch ein wenig, aber was nutzte es schon? Dann schob er auch noch eine der leichteren Bauerntruhen vom Fenster weg und an die Feuerung heran. Denn hier sollte fürs erste die Bettstelle des möglicherweise Verirrten Platz finden. Denn ihn die Wendeltreppe hinauf zu bugsieren, schien undurchführbar. Schließlich bereitet es dem verletzten Mann schon genügend Schwierigkeiten, hinauf zu humpeln, um das Bettzeug herunter zu holen. 27
Wieder unten breitete er ein Laken über der Kiste aus, legte einen der Haferstrohsäcke darüber und deckte diesen mit einem weiteren Laken zu. Dann bezog er endlich jenes Bettzeug, welches er am Vortag angefangen hatte. Und legte Kissen und Decke auf die Truhe. Nun konnte er sich endlich seinem unfreiwilligen "Besuch" widmen. Er wickelte ihn wieder aus seiner Decke und zog ihm den für dieses Wetter ungeeigneten Anorak aus. Das draußen im Dunkel der Sturmnacht nicht recht definierbare Kleidungsstück erwies sich nun doch als ein recht warmer Pelzmantel, der allerdings meist nur von Frauen getragen wurde. Sollte der halberfrorene Gast etwa eine Frau sein? Schnell wurde der noch immer steife Körper entkleidet und tatsächlich, vor dem Retter lag eine hübsche junge Frau, deren anmutendes Lächeln selbst durch die Starre des fast erfrorenen Gesichtes leuchtete. Der Mann konnte zunächst nichts anderes tun, als vor Überraschung und Entzücken auf dem Gesicht stehen zu bleiben. Freilich durfte er dies nicht zu lange, denn ihr Körper benötigte schnellstmöglich einen gewaltigen Energieschub. Und auch die klammen Sachen mußten endlich von ihrer Haut herunter. Erstaunlich schnell, weil sein schmerzendes Fußgelenk vergessend, war er wieder bei seinem Koffer und holte die Wechselunterwäsche heraus. Ohne auch nur eine Spur falscher Scham entkleidete er sie vollkommen, um ihr seine trockene Unterwäsche anzulegen. Dann zog er noch sein eigenes Hemd aus und zog es ihr an. Und schließlich nahm er seine Wechselstrümpfe aus dem Koffer und zog sie ihr über. Nun konnte sie zugedeckt werden und in der Wärme des Bettes vielleicht zu sich kommen. Für ihn Gelegenheit, daß nun genügend heiße Wasser für den längst nötigen Teeaufguß zu verwenden. Und seine ohnehin nur knapp bemessene Keksnahrung für sie vorzubereiten. Als er dann endlich mit einem Tablett in den Händen aus der Küche zurück kam, sah er ihre leuchtend blauen Augen auf sich gerichtet. Unwillkürlich mußte er zurück lächeln und setzte das Tablett auf dem Stuhl neben ihrem "Bett" ab. Dann hockte er sich neben sie und sagte leise: "Guten Morgen. Wie geht es Ihnen?" Sie jedoch lächelte ihn weiter unverändert an, ohne auch nur mit einem Wimpernschlag zu verstehen zu geben, daß sie seine Worte verstanden hatte. Oder doch? Ihr nettes Lächeln ging in ein freudestrahlendes über. Nichts erinnerte an ihr, daß sie wohl knapp dem Tode entronnen war. Keinerlei Male auf ihrem Gesicht. Dennoch müßte sie noch ziemlich geschwächt sein und auch innere Wärme nötig haben, meinte ihr Retter und reichte ihr eine Tasse mit heißem Tee. Sie schien wenigstens diese Geste zu verstehen und schüttelte verneinend ihren Kopf. Als er jedoch stärker darauf drängte, trank sie doch die Tasse genüßlich leer. Desgleichen mit dem runden Keks, welchen er ihr anbot. Um ihn zu verspeisen setzte sie sich allerdings auf und ließ ihre Beine von der Truhe herunter baumeln. Er hüllte sie daraufhin schnell wieder in die warmen Decken ein, daß auch wirklich nur ihr engelhaftes Gesicht und ihre zierlichen Händchen hervor lugten. Alles andere war um sie herum gewickelt. Langsam zeigte sich dann auch auf ihr eine Spur von Dankbarkeit. Wenngleich der Gastgeber noch immer nur eine übergroße Neugier in ihren Augen sah. Nachdem sie ihre Tasse ausgetrunken und auch den zweiten Keks gegessen hatte, stellte er alles beiseite und setzte sich vor sie hin, ihre warmen Hände ergreifend. Diese waren so zart und ohne Makel, daß er sich nicht vorstellen konnte, daß sie jemals wirklich eine harte Arbeit hatte ausführen müssen. Oder auch nur irgend einer Verletzung erlegen war. So konnte er sich nur mühsam von dem Zauber lösen und sah zu einem noch bezaubernden Teil ihrer Erscheinung. Es fehlte nur noch der Heiligenschein und sie hätte unverändert auf jedem Madonnenbild Platz gefunden. Auch hier war kein Untätchen zu entdecken. Von ihren blauen Augen ausgehend schweifte der Betrachter langsam zu ihrem Näschen, das geradezu dazu einzuladen schien, geküßt zu werden. Auch ihre Lippen, so natürlich und doch wohlgeformt und pfirsichsanft. Ein leichter Schein ihrer nicht übermäßig weißen Zähne schimmerte zwischen ihnen hervor. Und die beiden ganz zarten Grübchen daneben leiteten den Blick weiter zu ihren halb freigelegten Ohren. Er mußte sich zusammenreißen, nicht sofort ihre 28
Ohrläppchen anzuknabbern, so lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Nachdem sie scheinbar die Reise seiner Augen mitbekommen hatte, warf sie die sie einhüllende Decke von ihrem Kopf und gab ihr rotbraunes Haar frei. Dieses fiel in sanften Wellen zu ihren Schultern hinab und verschwand dort in der noch vorhandenen wärmenden Umhüllung ihres Körpers. So einiges noch versprechend. In ihrem Retter, obgleich er sie ja schon nackt gesehen hatte, erwachte eine männliche Neugier ihr ganzes Wesen zu erkennen. Denn während er sie aus- und umgezogen hatte, waren seine Augen nur ihrer Rettung gewidmet. Da war alles zwischen Mensch und Mensch und nichts zwischen Mann und Frau. Nun aber keimte etwas, wofür er sich leicht zu schämen begann. Errötend legte er seinen Kopf zur Seite und bemerkte dennoch ihren weiterhin fragenden Blick. So wandte er sich ihr wieder zu und fragte seinerseits: "Wo kommen Sie denn her? Und was machten Sie bei diesem Unwetter dort draußen?" Aber er hätte auch gleich die Schneeschaufel draußen fragen können. Wenngleich jene nicht so zauberhaft zurück gelächelt hätte. Aber an eine Antwort war auch diesmal nicht zu denken. War sie taub, stumm? Verstand sie seine Sprache nicht? Er wagte sich etwas nähe an sie heran und strich ihr mit seiner etwas gekrümmten rechten Hand übers Haar. Das schien ihr zu gefallen, denn sie schmiegte sich sogleich schnurrend dieser entgegen. Also war sie nicht völlig stumm. Und als er seine Hand wechselte und ihre rechte Kopfhälfte herunterstrich, vernahm er selbiges angenehmes Schnurren. Wie ein Kätzchen unter der warmen Hand ihres Herrchens. Und als er ihr Gesicht dann mit der gleichen Hand, allerdings jetzt dem Rücken selbiger liebkoste, durchfuhr sie ein heißer Schauer, der wiederum in seinem eigenen Körper widerhallte. Beide sahen sich tief an und er dachte nur einen Augenblick: "Das darf doch nicht war sein. Was tu ich hier?" Doch zu mehr Gegenwehr war er nicht fähig. Er sank langsam zu Boden, sie an seiner Hand mit sich ziehend und auf einer flaumweichen Decke landend. Wo die so plötzlich hergekommen war, kümmerte ihn herzlich wenig. Auch daß die Wärme das Kaminfeuers jetzt den Raum vollständig einnahm und kein Frösteln mehr zuließ, lag außerhalb seiner Wahrnehmung. Er hatte nur noch Gefühle für das scheinbar himmlische Wesen an seiner Seite. Sie streichelten einander ohne einen Laut zu verlieren, berührten sanft einander mit den Wangen und küßten sich leidenschaftlich ihrer beider Lippen. Sie fuhren einander durch das Haar und auf dem Körper entlang. Inzwischen waren alle trennenden Sachen zwischen ihnen verschwunden und vor den prasselnden Holzscheiten im Kamin glühten sie beide in einem einzigartigen Feuer. Seine Hände fuhren auf ihrem Oberkörper entlang, nicht einen Zentimeter auslassend und ihre zarten Finger tippelten auf seinem Rücken zwischen den Schulterblättern umher. Dieses ließ ihn völlig die Gegenwart vergessen und er versank in einer tiefen Trance. Ihren ganzen Körper nahm er auf, wie sie ihn. Ohne auch nur einer Spur von Gewalt fiel er immer tiefer, sich lediglich an ihrer Wärme festhaltend. Draußen, vor der Hütte, hatten sich inzwischen die Sonnenstrahlen ihr Terrain zurückerobert und wärmten in Stille die letzten Schneekrähen, die sich auf den Bäumen niedergelassen hatten. Auch diese Vögel waren froh, nach den letzten beiden Stürmen noch auf den Beinen sein zu können. Viele ihrer Artgenossen schienen es nicht überlebt zu haben, denn es fehlte auf eigenartige Weise das typische Krähen. Nur eine Totenstille manifestierte sich um die Hütte. Da brach ein wilder Schrei der Leidenschaft diese Welt entzwei. Von panischer Angst getrieben stoben die schwarzen Vögel auseinander und stürzten sich in das weiße Tal hinab. Langsam schob sich die letzte dunkle Wolke vom Glutball der Sonne hinweg und machte ihr den Weg frei, jeden Punkt der ihr zugewandten Erde zu erleuchten.
29
Auch auf dem noch immer tief verschneiten Berggipfel mit seiner Baude fanden sich die ersten Sonnenstrahlen ein. Wie tags zuvor hüllten sie alles in ein Glitzern ein, in ein Glitzern Tausender Sterne, die sich dann aber schnell zu kleinen Rinnsalen verwandelten und der Mutter Erde zustrebten. Die ersten Frühjahrsvögel krochen aus ihren Verstecken und vertrieben mit ihrem Gesang die schwarzen Boten des scheidenden Winters. Jene Krähen, denen es in der Sonne zu warm schien und sie zu weiten Flügen gen Norden ansetzten. Letzte verhallende Krächzlauten von sich gebend. Die warmen Sonnenstrahlen kletterten nun auch zu den offenen Fenstern der Hütte hinein und schauten sich dort um. Hier mußte es in der Nacht wirklich heiß gegangen sein, so lagen Laken und Kleidungsstücke verstreut. Aber das war nichts neues für die Morgensonne, denn dergleichen sah sie immer mal wieder auf ihrem Jahrtausende altem Weg um den von Menschen bewohnten Planeten. Hier war freilich etwas anders. Hier fehlte etwas. Zwar war der nackte Körper eines gut behaarten jungen Mannes zu sehen, nicht aber sein weibliches Gegenstück. Oder war sie bereits aufgestanden und hatte sich in ein anderes Zimmer begeben, das Frühstück für sich und ihren Liebsten zu bereiten? Von ihrem Standort konnte die Morgensonne das leider nicht einsehen, wie sehr sie sich auch darum bemühte und ihre ganze Kraft auf die Hütte konzentrierte. Von dieser Lichtflut wachgekitzelt, schlug nun auch der junge Mann blinzelnd seine Augen auf. Er spürte die neue Qualität der Wärme, die nicht nur vom Kamin kam. Dort hatten sich die letzten Holzscheite in eine kaum noch spürbare warme Asche verwandelt. Also kam die gesamte Wärme von den Sonnenstrahlen, die durchs Fenster schauten. Etwas verlegen zog er die nächstgelegene Decke über seinen Körper, als schäme er sich vor der Frühlingssonne. Und doch fühlte er sich angenehm warm. Glücklich und zufrieden. In Erinnerung an die vergangene Nacht und ihre Ekstase war er noch immer ein wenig gefangen. Lächelnd stand er nun doch auf, nachdem er seine Gespielin neben sich vermißt hatte. Auch er vermutete, daß sie im Küchenraum nebenan sei. Er hüllte sich enger in die Decke und ging zur betreffenden Tür. Doch als er hinein sah, fand er sie dort nicht. Wohl aber ein zubereitetes Frühstück mit Kaffee, Brötchen und Erdbeerkonfitüre. Unwillkürlich mußte er lächeln. Und ein wenig enttäuscht. Eigentlich wollte er sie mit dem Duft frisch gekochten Kaffees wecken und mit einem zärtlichen Kuß. Nun war sie ihm zuvor gekommen. Bis auf den Kuß. Aber den wollte er ihr auf alle Fälle schenken. Freilich mußte er sie hierfür zunächst einmal finden. Der glückliche Liebhaber schlenderte so zum Nebenzimmer, um die Treppen hinaufzusteigen; sie dort umarmend zu liebkosen. Allerdings war auch dieser Vorsatz zum Scheitern verurteilt, da es im oberen Schlafgemach nichts zum Umarmen, nichts zum Liebkosen gab. Inzwischen mißmutig geworden, ging er zum Fenster und schaute hinaus, ob sie nicht etwa gar einen kleinen Morgenspaziergang unternommen hatte. Denn ihm fiel gerade ein, daß er ihre Kleidung nicht gesehen hatte. Weil er von hier oben aber auch nichts entdecken konnte, eilte er schnell wieder nach unten und mußte dort tatsächlich feststellen, daß von seiner nächtlichen, gestrigen ... (Er hatte eigentlich jedes Zeitgefühl verloren und konnte sich nur am gegenwärtigen Stand der Sonne orientieren.) Von seiner Geliebten fehlte jedenfalls jede Spur, egal wie spät es jetzt war oder welchen Tag man schrieb. Er zog sich rasch an, um außen nach ihr zu sehen. Morgentoilette und Frühstück ließ er wieder einmal zunächst außen vor. Vor der Tür mußte er in diesem Fall nicht seine Augen zukneifen, da sie bereits an das helles Licht des Morgens gewöhnt waren. Nicht aber an die Schneeweiße. Sie blendete noch ein wenig. Jedoch verging auch das bald und er verschaffte sich einen ersten Überblick über die Welt direkt vor seiner Unterkunft. Die letzten Schneestürme hatten ganze Arbeit geleistet und viele zerbrochene Bäume zurück gelassen. Auch der tags zuvor nicht wieder richtig verschlossene Vorratschuppen hatte Blessuren davongetragen. Seine Tür hing windschief in nur einem Scharnier und einige Bretter auf dessen Dach hingen herunter; gerade noch von 30
einem letzten Nagel gehalten. Doch das ließ sich reparieren. Größeren Schaden war auch nicht auf dem hölzernen Abort zu finden, den der Mann kurz aufsuchte. Danach setzte er seine Suche nach seinem engelsgleichen Gast fort. Oder sollte es wirklich ein Engel gewesen sein, der ihn für die Strapazen der vergangenen Tage entschädigt hatte? Unser materialistisch eingestellter Freund wischte dergleichen metaphysisches Gedankengut sogleich beiseite. Dieses paßte nicht zu ihm. Doch wo, zum Kuckuck, war sie nun wirklich abgeblieben? Er begab sich zu jener kleinen Anhöhe, an dessen Fuß er seinen Besuch geborgen hatte und schaute von dort ins Tal hinab. Nirgends auch nur eine Spur von ihr. Aber auch keine von einer anderen menschlichen Seele. Keine Ansiedlung weit und breit, keine noch so geringe Rauchfahne. Nicht die geringste Spur menschlicher Anwesenheit. Der Einzelgänger kehrte mit gesenktem Haupt in seine warme Behausung zurück und aß nun doch erst mal vom reichlichen Mahl, welches für ihn zubereitet worden war. Und welches zumindest bewies, daß er den vergangenen Tag und die diesem folgende Nacht nicht nur geträumt hatte. Anschließend räumte er die Überbleibsel jener Wildheit weg und brachte das Innere der Hütte wieder auf einen normalen Standart. Er wollte ja noch einmal hinaus nach seiner Schönen suchen und sollte während seiner Abwesenheit doch noch jemand anderes hier ankommen, vielleicht sogar doch einer seiner Freunde, sollte es nicht wie Kraut und Rüben aussehen. Ja, seine Freunde. Seit langem dachte er wieder an sie und an den eigentlichen Grund seines Hierseins. "Oder habe ich mich gar verlaufen und bin in der falschen Hütte gelandet?" fragte er sich zum ersten Mal, ohne jedoch auf eine Antwort gespannt zu sein. Er hatte ohnehin jetzt anderes zu tun, als zu sinnieren. Er packte dann noch seinen Koffer wieder zusammen und verließ wie er gekommen war die Berghütte. Aber wohin sollte er sich wenden? Den Weg zurück, den er sicherlich am ersten Tag genommen hatte? Nur welcher war das genau? So richtig konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern. Er mutmaßte den vom Eingang rechts wegführenden Pfad durch die geknickten Bäume. Oder nach hinten weg, an den beiden Holzanbauten vorbei? Oder doch den kaum wahrnehmbaren Weg nach unten ins Tal? Er stellte noch einmal seinen Koffer in den Schnee und überlegte. "An Schuppen und Abort bin ich nicht vorbeigekommen. Und den steilen Aufstieg aus dem Tal habe ich auch nicht hinter mich gebracht. Bleibt also nur noch der Weg nach rechts. Und wohin ist sie gegangen? Daß sie auch keine Spuren hinterlassen hat. Sie muß doch auch durch den Schnee gegangen sein. Zurück? Weiter?" Schließlich siegte in ihm doch der Wille, sein Glück auf dem Weg zu suchen, den er hoffte gekommen zu sein. er nahm seinen Koffer wieder auf und stapfte zwischen all den zerzausten Kiefern davon. Immer wieder mußte er dabei über umgestürzte Bäume steigen und immer tiefer ging es in die Düsternis des Waldes hinein, auch wenn sich der bis dato unberührte Schnee als Lichtreflektor bewährte. An einer Stelle jedoch schien ein normales Weiterkommen unmöglich. Nach einer Wegebiegung stand er plötzlich vor einer wild durcheinander gewürfelten Masse geborstener Bäume. Hier herüber zu klettern schien ihm gefährlicher, als um den Wall zu wandern. Dazu mußte er freilich vom Wege ab und etwas tiefer in den Wald hinein, dessen dichter stehendes Gehölz dem Winde kein so schreckliches Tribut zu zahlen hatte. Und selbst das Sonnenlicht mußte hier schweigend seine Niederlage eingestehen. abgesehen von ein paar wenigen Botschaftern, die vereinzelt durch die wenigen Lücken im Geäst zum Boden durchdrangen. Zu einem Boden, der zwar weniger mit Schnee, aber dennoch mit frostigem Ästen und Zweigen bedeckt war. So war es für unseren Wanderer auch hier nicht der leichteste
31
Spaziergang. Denn, wie leicht hätte er auf dieser Stolperstrecke ausgleiten können und sich wer weiß sonst was antun können. Und genau das geschah ihm dann auch wirklich. Gerade, als er auf einem der etwas stärkeren Baumreste stand und den nächsten Schritt wagen wollte, blieb er mit seinem Koffer an einem hervorstehenden Ast hängen und als er stärkere daran zog, rutschte er aus und überschlug sich von der Baumleiche fallend. Ein schwerer Schlag an seinen Hinterkopf vertiefte die ohnehin nicht unmäßig helle Umgebung zu einer rabenschwarzen Nacht. Und so bekam der Mann das Ende seiner Schußfahrt gar nicht mehr mit. Das monotone Klicken schien aus einer anderen Welt zu kommen, oder wenigstens von ganz weit her. Von einem noch im Dunkel liegenden Raum. Dieser kam allerdings nun doch näher. Oder wurden nur die Klickgeräusche lauter. Unter hinter diesen Tönen das gleichfalls monotone Brummen eines Automaten. Noch war alles schwarz um ihn herum; wieder einmal. Aber daran hatte er sich inzwischen gewöhnt. Nicht aber an das gleichförmige Klicken. Oder war es das Ticken einer Uhr? Seiner Uhr? Und das Brummen war wieder einmal nur das Rauschen der eigenen Blutes. Mühsam versuchte er seine Augen zu öffnen. Doch war er zwar mit seinem Geist erwacht, oder, nicht aber mit seinem Körper, mit seinen Muskeln. Noch wußten nichts von seinem Wunsch, nichts von ihrer anstehenden Aufgabe, die Lider zu heben. Noch ging kein Befehl durch die Nervenbahnen von der Großhirnrinde zu den Muskelfasern. Aber etwas anderes funktionierte doch bereits. Nein, nicht sein übriger Körper. Der war ebenfalls noch losgelöst vom eigenen Bewußtsein. Die Augen, zwar noch fest geschlossen, doch bereits fähig, etwas Licht zu empfangen. Ein etwas zu grelles Licht, welches dann doch eine erste Reaktion im Kopf des Mannes herbeiführte. Dieser Mann bekam jedoch nicht die Gelegenheit, sich auf diese neue Qualität einzustellen oder gar zu hinterfragen, woher dieses Licht kam. Ein Druck von außen riß ihm das linke Lid hoch und ein Blitz, heller als tausend Sonnen, schoß in sein Refugium und zerstörte die Abgeschlossenheit, in welcher er sich befand, in welche er sich zurückgezogen hatte. Oder vielmehr sein Bewußtsein. "Er kommt zu sich", meldeten ihm seine Ohren durch den nun auf ihn einströmenden Geräuschpegel. Das zwangsgeöffnete Lid schoß nach seiner Befreiung wieder in den geschlossenen Zustand zurück, doch ließ es sich dann ohne weiteres vom bezeichneten "Er" wieder öffnen. Zwar zaghaft noch, doch im Verband mit seinem Zwilling, dem rechten Lid, stetig und selbstbewußt. Sobald beide vollkommen geöffnet waren und dann ihre normale Funktion aufnahmen, konnte der Besitzer jenes Augenpaares sich endlich einen ersten Überblick über seine Umgebung verschaffen. Zunächst sahen ihn vier andere Augenpaare an; drei weibliche und ein männliches. Zumindest deuteten die Gesichter, zu denen diese optischen Sensoren gehörten, jene Geschlechtsspezifik an. Der Mann schaute etwas an den vier ihm unbekannten Leuten herunter und erkannte in ihnen irgendwelches medizinisches Personal. Nein! Neben dem einen männlichen Mediziner und zwei jungen Frauen, möglicherweise Krankenschwestern, stand eine zwar ebenfalls weiß, aber nicht in Krankenhaustracht gekleidete Dame. Diese sprach ihn dann auch als erste direkt an: "Na, bist du wieder da?" Er versuchte noch den Sinn dieser Worte zu ergründen, als die Stimme einer weiteren Person von außerhalb des Gesichtsfeldes des auf einem Bett liegenden Patienten ertönte: "Du hast uns einen gehörigen Schrecken eingejagt." Auch hierfür fand er nicht sogleich der Worte Sinn. Oder vielmehr die Bedeutung deren für die Anwesenden im Zimmer. So drehte er sich der Quelle jener männlichen Stimme zu und erblickte einen ebenfalls jungen Mann, der ihm freundlich zulächelte, den er aber auch noch nie gesehen hatte. Zumindest war es sich dessen nicht bewußt.
32
"Herr T, wie fühlen Sie sich?" fragte nun der Arzt seinen allmählich ins Leben zurückkehrenden Patienten, woraufhin dieser bereits wieder spaßen konnte und meinte, daß es ihm schon mal besser gegangen sei. Ein allseitiges Schmunzeln bewies, daß sein Scherz angenommen wurde und da sicherlich keinerlei gesundheitliche Bedenken mehr vorlagen, ließ das medizinische Personal das dem Manne noch immer unbekannte Pärchen mit diesem allein. "Aber ich will uns erst einmal vorstellen", begann die nun nähertretende männliche Person die Konversation. "Das ist F-P und ich bin F." Dem Liegenden ging endlich ein Licht auf und er meinte, daß er sich wohl nicht erst groß vorzustellen brauche, nannte aber dennoch seinen Namen. Um dann gleich anschließend sich danach zu erkundigen, was eigentlich geschehen sei. Und wo man sich befände. Auch hier gab der noch immer linkerhand stehende F bereitwillig Auskunft, während F-P rechterhand auf einem Stuhl neben dem Bett saß und wann immer des Patienten Blick sie streifte ihm zu lächelte: "Wir sind im Krankenhaus von Bad S. Man hat dich im Wald gefunden. Unter einem abgebrochenem Ast begraben." "Was hast du dort nur gewollt?" fragte nun auch sie mit einem niedlichen Ton in ihrer Stimme. "Du mußt dich verlaufen haben." "Verlaufen?" versuchte sich der Patient zu erinnern und langsam kam ihm sein Rückweg durch den Wald und auch sein gesamtes Wochenendabenteuer wieder in Erinnerung zurück. "Eigentlich wollte ich nur um die umgestürzten Bäume herum?" Die beiden Besucher sahen sich fragend an und sie übernahm die Rolle der Fragenden: "Welche umgestürzten Bäume?" "Na, die im Wald. Der ganze Weg war doch versperrt. Ich kam schon so kaum durch den tiefen Schnee." Wieder schien es, als glaubten die beiden anderen, der Patient habe mehr abbekommen, als von außen sichtbar: "Welcher tiefer Schnee? Gut, es hat gestern ein wenig geschneit und der Zug ist wieder einmal zuspät gekommen. Aber tiefer Schnee? Wo warst denn du noch?" Die junge Frau, die dies aussprach, kannte sich hier gut aus, war von hier, und konnte sich deshalb nicht erklären, wovon ihr neuer Bekannter sprach. Nun war es an jenem Bekannten, ungläubig aus seiner Krankenhauswäsche zu schauen: "Na, ich habe das ganze Wochenende auf euch und die anderen vom Club gewartet." "Wo?" fragte F-P ganz verwirrt nach. "Und wann?" "In der Berghütte, wo wir uns treffen wollten. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was ich alles durchgemacht habe. Oder war ich ein acht Tage zu früh dran?" Diesmal wollte F dies genauer wissen: "Wann bist du denn angekommen?" "Am Freitag. Wieso?" F lächelte unbewußt: "Dann hast du dein Wochenende noch vor dir. Jetzt ist erst Samstag morgen." T sprang fast aus dem Bett vor Aufregung: "Das kann nicht sein. Ich habe ein volles Wochenende in dieser verfluchten Waldhütte zugebracht." "Waldhütte?" fragte F-P nach. "Waldhütte - Berghütte? Was spielt das für eine Rolle?" Die junge Frau tat jetzt ganz ernst: "Wir hatten uns für heute in der Berghütte verabredet. In der Gipfelpension BERGHÜTTE. Und eine Wald-... Ach, jetzt verstehe ich erst. Du wolltest zu der Baude, zu der Hütte, wohin der alte Wegweise zeigt. Ist allerdings ein Fußweg von drei Stunden. Aber die steht auch gar nicht mehr, soviel ich weiß." "Aber ich war doch dort", bestand T auf seine Erinnerung. "Das ganze Wochenende. Und da war sogar ... Was war mit den Schneestürmen?" Auch in diesem Fall konnten sich die beiden anderen nur fragend anschauen. "Gestern gab es mal einen etwas heftigeren Wind. Eigentlich nichts unnormales dort oben. Und der wird dann auch den Ast abgerissen haben, der dich traf. Aber Schneestürme? Das mußt du geträumt haben." "Geträumt?" konnte sich der im Wald aufgefundene das nicht so recht vorstellen und berichtete seinen beiden neuen Freunden von seinen Erlebnissen. Kaum hatte er den immer mehr verwirrt dreinschauenden beiden seine Abenteuer berichtet, als der behandelnde Arzt ins Zimmer eintrat. Er diagnostizierte bei seinem Patienten zwar eine leichte Gehirnerschütterung, die zweifelsohne auch einen gewissen Orientierungsverlust 33
hervorrufen konnte, dem Verunglückten jedoch keinen dauerhaften Schaden bescherte. Wer er sich soweit fühle, könne er durchaus innerhalb der nächsten Stunde das Krankenhaus wieder verlassen. Der Besuch müsse freilich jetzt sich schon verabschieden, da noch einiges zu erledigen sei. Zwei Stunden später saßen alle drei am Samstagvormittag im Auto von F und fuhren die wahrlich nur von spärlichen Schneeresten begleitete Straße zur Ausflugspension "Berghütte" hinauf. Unterwegs immer wieder auf die Erlebnisse in jenem mysteriösen Traum zurückkommend. Und alle drei waren auf die Reaktion gespannt, wenn dies im Kreise des Treffens eröffnet werden würde. Oben an der Pension angekommen stiegen sie nacheinander aus und F öffnete die Kofferklappe seines Wagens, um Koffer und Taschen herauszunehmen. Nachdem T seinen Koffer erhalten hatte, schaute er sich zum zweiten Mal das Bergplateau an und wurde dabei auf einen anderen Wagen aufmerksam, in welchem er gerade noch von hinten den rotbraunen Kopf einer jungen Frau erkennen konnte. "Aber da ...!?" rief er erstaunt aus und zeigte mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf das kleiner werdende Auto, aber seine beiden neuen Freunde hakten ihn unter und entführten ihn in das Innere des aus Backsteinen errichteten Berghotels. Ende
34
Stimmen von Danny Darkness
Wenn der Teufel im Computer sitzt, dann bist Du nicht mehr sicher. Dann flüstert es in Deinem Kopf...
Diese verfluchten Schmerzen! Langsam glaubte er verrückt zu werden. Es schienen sich Würmer quer durch sein Gehirn zu seinen Augen hin zu fressen. Was für eine Vorstellung! Früher hätte er aus dieser Idee ein herrlich morbides Bild geschaffen, eines, womit er all die Spießer hätte erschrecken können. Tom seufzte. Diese Zeiten waren lange vorbei. Heute rebellierte er nicht mehr. Die Designer hatten gesiegt. Heute pinselte er für ein paar lausige Kröten alle den Mist, den sie von ihm verlangten: Grinsende Weiber, strahlende Kraftprotze, kotz-niedliche Kids. Und alle wollten nur Erdbeerpudding, das Waschpulver mit dem neusten Tiefenlöser und eine private Altersvorsorge mit Doppelzins. Schön, bastelte er den Bossen eben diesen Dreck am Computer zusammen. Bildkonserven, ein bischen Mixen, ein bischen Rühren und Schütteln, fertig. Konfektion ohne jeden Funken Geist. Tom hüstelte und sog an seinem Glimmstengel. Er saß wie jeden Abend in seiner Bude, die eine Mischung aus Wohnklo, schmuddeligem Atellier, Lagerstätte für Obskures und Computerhöhle war. Halt eine dieser Single-Konkons mit Second Hand-Waschmaschine, Plastik-Ventilator und einem Sechserpack Billigpils. Tiefkühl-Baguettes, dazu alte Pornos. Er roch seinen eigenen Schweiß und hörte das Summen der Stadt durch die geöffneten Fenster hereindringen, so wie die vielen kleinen Blutsauger, die in der Schwüle besonders gut zu gedeihen schienen. Tom lehnte sich in dem abgewetzten Sessel zurück. Unwillig starrte er über den Schreibtisch. Seine Blicke wanderten von den Disketten-Stapeln über die Berge von Papieren, ungelesenen Illustrierten und Mappen mit Ausdrucken dahin. Dann schaute er zurück zum Bildschirm seines PC, der in der Dämmerung wie ein Fenster zu einer anderen Welt glühte. Ja. er erinnerte Tom an dieses verdammte Zeit-Tor aus ´Dr. X returns´ oder an einen Spiegel. Schließlich sah er im Glas des Bildschirms ganz schwach sein verquollenes Gesicht mit Bartstoppeln. Wie ein Phantom schwebte er in dem leuchtenden Feld und glotzte sich starr an. Der Kopfschmerz kam und ging in Wellen. Jetzt schien er gerade ein wenig abzuflauen. "Herrgott, ich brauch mal ´ ne Pause von dem Käse!" dachte er und schloss die Augen. Für einige Momente driftete sein Verstand, oder was davon nach all den Jahren übrig war, in einer wohligen Soße aus Müdigkeit und schnellen Assoziationen: Sonnenstrand, Hamburger, Fußballtore, Kinder, Vögel, Titten... Tom stöhnte leise und ließ die Pupillen unter den geschlossenen Lidern rollen. Er kratzte sich am Bauch, der sein T-Shirt spannte. Plötzlich fiel ihm die Scheibe ein. Er setzte sich in seinem Sessel auf und begann in der Unordnung seines Schreibtisches zu wühlen. Wo war das Ding? Ein Kumpel hatte ihm doch so eine CD-ROM gegeben, so ein irres Teil. "Völlig abgefahren, Tom. Wenn Du das erstmal gesehen hast, dann willste nichts anderes mehr. Sieh´s Dir mal an!" Ah, da hatte er das Ding endlich gefunden. 35
Auf dem Cover war ein Pentagramm, in dessen Mitte ein blutunterlaufenes Auge prangte. "The Devil goes Cyberspace" stand in Runen-Schrift darauf. Tom grinste. So ein Schwachsinn. Naja, zur Ablenkung mochte das ganz gut sein. Schon hatte er den Silberling in das Laufwerk gelegt und gestartet. Es dauerte einen Augenblick und dann erklang Orgelmusik. Es dröhnte ordendlich in den Lautsprechern, die Tom an den PC angeschlossen hatte. Die Musik wogte schwer und eindringlich daher, der Bildschirm blieb schwarz. Er rückte sich in seinem Sessel bequemer zurecht. Das Orgeln dauerte an, es wurde nur wilder, intensiver... Trotz der Hitze konnte man davon allmählich Gänsehaut bekommen. Und war da nicht noch etwas? Er lauschte. Zwischen den Tönen, ganz hinten, da schien es zu wispern. Da flüsterte jemand. Tom spitzte die Ohren. Er versuchte hinter das Dröhnen der Musik zu lauschen, justierte dazu ein wenig am Sound, und tatsächlich, da schälten sich Stimmen heraus. Sie zischelten, erregt und ungehalten. Da schien jemand zornig zu sein. Tom schluckte. Nervös schaute er zum Bildschirm, auf dem jetzt ganz allmählich eine einzelnes Auge aus der Nacht trat. Die rote Pupille des Auges pulsierte im Takt der Musik. Die Stimmen wurden lauter. "Tom, Tom, Tom, Tom...." Das war doch verrückt! Der Computer-Designer schüttelte den Kopf. "Tom, Tom, Tom..." Das mußte ein böser Scherz von seinem Freund sein. NEIN. DAS IST KEIN SCHERZ! schrie es plötzlich in beiden Ohren. Eine keifende, böse Stimme fuhr in seinen Kopf. Es traf ihn wie einen Peitschenschlag. TOM. ENDLICH SIND WIR BEI DIR. TOM, TOM, TOM... Eine zweite Stimme erklang. Sie war tiefer, brummte fast, aber auch sie war voll mit Hass: TOM, DEINE SEELE, DEINE SEELE, SEELE IST SCHWARZES BLUT. OPFERBLUT. DRECK. "Hey, Moment mal...", wollte er sagen, aber eine dritte Stimme kam ihm zuvor: SEI STILL!!!!!! schrie es irgendwo hinter seiner Stirn. Er zuckte zusammen. Sein Herz hämmerte. Sein Blut schien Eiswasser zu sein. Er konnte keinen Finger rühren. Das rote Auge pulste schneller. TOM, TOM, TOM DU BIST WERTLOSES NICHTS, DIE WELT IST WERTLOSES NICHTS. DU WEISST DAS SCHON IMMER!!! Tom hing fassungslos in seinem Sessel. Geschah das wirklich? VERLASS DICH DRAUF, OPFERBLUT. SCHWARZES NICHTS!!!!!! "Hey, Leute...", begann er schwach STIIIIIILLLLLL!!!!! schrie es in ihm, und gleichzeitig fuhr ein Schmerz quer durch das Hirn. DIE HÖLLE, HÖLLE, HÖLLE IST DIE WELT. DEIN VATER IST ES. DEINE MUTTER IST ES. DEINE SCHWESTER IST ES. DU BIST ES! HÖLLE, HÖLLE! Tom fühlte Schwindel. Er mußte irgendwie die CD-ROM stoppen! DENK NUR NICHT DRAN! schrie eine neue Stimme, ODER WIR FOLTERN DICH SECHSHUNDERTSECHSUNDSECHZIG STUNDEN LANG ZU TODE! Er glaubte den Erscheinungen aufs Wort. Sie waren dazu in der Lage! DAS SIND WIR, OPFERBLUT. HÖLLENTEIL. WELTDRECK! "Was ...was wollt ihr?" jammerte der Mann im Sessel DICHHHHHHH. DICHHHHHHH. DICHHHHHHHHHHHHHHHH!!!!! "W..wa...warum?" 36
Ein Chor von Stimmen erscholl nun, sie schienen im Kanon zu der Orgelmusik zu singen, die nun völlig willkürliche Töne spielte. In extatischer Schnelligkeit stießen die Klänge durch Toms Ohren in sein Gehirn. So als bohrten sich Pfeile in sein Ich, so schmerzten die tosenden Stimmen, so quälte die wahnsinnig gewordene Kirchenmusik des Bösen. DU BIST SATANS KIND, SEIN KIND, SEIN KIND, SEIN KIND..... SCHWARZE LIEBE, SCHWARZE LIEBE, SEIN KIND, SCHWARZE KIND LIEBE, HÖLLENKIND, HÖLLENKIND, GELIEBTES HÖLLENKIND, SATANS KIND! "Neiiin! Ich liebe Jesus!" schrie Tom verzweifelt, obwohl das nicht stimmte! "LÜGE, LÜGE, LÜGE, LÜGE, HÖLLENKIND, HÖLLENKIND. DU LIEBST NICHTS, NICHTS, NICHTS... "Ich hasse Satan!!!!" versucht es der Mann erneut. GUUUUUUUUT, GUUUUUUT. SCHWARRZE LIEBE. VOLL MIT SCHMERZ, SCHMERZ, SCHMERZ FÜR DICHHHHHHHH!!!! Da wurde die Qual so groß, daß Tom Tränen in die Augen traten. Und es wurde noch schlimmer. Irgendetwas schien sich von hinten seinen Augen zu nähern. Ja, in seinem Kopf bewegte sich etwas! Da wurde es ihm schlagartig klar: Würmer!! Es waren die Würmer!!! "Neinnn, Bitte, neiiiin!" schrie er und versuchte sich aufzubäumen. Aber er hatte keine Kraft mehr. Kaltes Entsetzes hatte ihn gelähmt. Die Stimmen jubilierten. STIRB, STIRB, STIRB, HÖLLENDRECK. SCHWARZES BLUT. KOMM NACH HAUSE, HAUSE, HAUSE. DORTHIN, WOHIN ALLE GEHEN! Und als die Würmer seine Augäpfel erreichten und mit spitzen Zähnen die Sehnerven packten, da erlosch Toms Licht für immer. Bevor ihm die Sinne schwanden, hörte er nur noch das Triumphgeheul der Stimmen. Durchmischt mit brausendem Orgelklang höhnten und tönten sie: VATER WILL DICH. DEIN VATER WILL DICH. DER VATER DER WELT. FEUUU DICHHHHH, FREUUUU DICHHHHHH. FREUUUUUDE! Ende?
37
Der Hund wartet von Andrea Tillmanns
Der Dackel des alten Herrn hat aufgehört zu bellen und diese Stille ist nicht das einzig Ungewöhnliche.
Das Bellen des Hundes hatte ich zu überhören gelernt, und so fiel mir die Stille erst spät auf. Danach lauschte ich immer wieder auf das ungeliebte Geräusch, ohne es jedoch zu vernehmen. Nicht am Morgen, als ich zur Arbeit ging, und nicht abends, als ich wiederkam. Zuerst vermutete ich, sein Besitzer, ein alter, schwerhöriger Mann, sei gerade zu diesen Zeiten mit dem Dackel spazieren gegangen. Ein wenig stutzig wurde ich erst, als der Hund auch nachts, zu den ansonsten üblichen Zeiten, nicht anschlug. Mit dem nächsten Morgen kam die alte Frau. Von meinem Fenster aus sah ich sie zur Wohnung des Mannes mit dem Hund hinaufblicken, das dünne Haar trotz des leichten Windes, der in den Bäumen spielte, völlig unbewegt, wie auch ihr Mantel und schließlich auch sie selbst. Für eine Statue hätte man sie halten können, wären ihre Züge nicht zu lebensecht gewesen, wenn auch ohne jede Regung. Nie zuvor hatte ich sie hier gesehen, und doch schien ihre Anwesenheit irgendwie richtig, ohne daß ich dieses Gefühl näher hätte begründen können. Als ich hinunterging, schien sie verschwunden, wenn auch an der Stelle, an der sie noch eben gestanden hatte, die Blätter nicht fortgewirbelt wurden wie ihre Kameraden. Ein Zufall, sicherlich, der mir nicht länger als ein paar Sekunden im Gedächtnis blieb. Manche Dinge scheinen es vorzuziehen, wenn man sie vergißt. Am Abend, als ich müde die Haustür aufschloß und einen kurzen Blick zurückwarf, meinte ich für einen Moment, noch immer die gleichen Blätter an der selben Stelle liegen zu sehen, ohne mich jedoch wirklich erinnern zu können, welches genaue Bild sich mir am Morgen geboten hatte. So war es auch nur dem Zufall zuzuschreiben, vielleicht in Form eines Geräusches von draußen oder eines lästigen Insektes, dessen Lebensdauer kaum länger war als der kurze Moment, in dem man es verfluchte, daß ich kurz darauf aus meinem Fenster sah und, weshalb auch immer, dabei kurz den Blick nach unten schweifen ließ. Sie stand am Rande des Lichtkegels, den eine Laterne auf parkende Wagen warf, unbewegt auch in der Kühle dieser Herbstnacht. Ein bißchen merkwürdig erschien sie mir schon, doch gab es in der Gegend, in der ich lebte, viele seltsame Gestalten, und so verging dieser Gedanke so schnell, wie er gekommen war. Erst später, als ich, schon fast im Schlaf, meine Bettlektüre beiseite gelegt und das Licht gelöscht hatte, fiel mir mit einem Male wieder ein, daß ich mich bei dem alten Mann nach seinem Hund hatte erkundigen wollen. Am nächsten Tag traf ich auf dem Weg zu meinem Wagen die Tochter des Dackelbesitzers, die besorgten Blickes an mir vorbeieilen wollte, um dann doch kurz anzuhalten und zu erklären, ihr Vater habe eine schreckliche Nacht voller Alpträume hinter sich, wie er ihr gerade telephonisch erzählt habe, und sie müsse ihn nun dringend ein wenig beruhigen, ich wisse ja auch von seinem Herzleiden... Ich gab kurz zurück, es werde wohl am Wetter liegen, das in diesen Tagen tatsächlich recht wechselhaft war, und rief ihr, als es mir endlich wieder einfiel, noch hinterher, wie es dem Dackel gehe, ohne jedoch als Antwort mehr als ein kurzes Stocken in ihrem Gang wahrnehmen zu können. Es mochte Einbildung gewesen sein, ebenso wie das Gefühl, sie sei der Stelle, an der die alte Frau am Vortag gestanden hatte, unbewußt ausgewichen, wie man eben einem Menschen, der mitten auf dem Bürgersteig stehenbleibt, manchmal ausweichen muß. Als ich am Abend, getrieben von einem unbestimmten Gefühl, aus dem Fenster blickte, stand sie dort wirklich wieder, als sei sie nie gegangen, obwohl ich nur ein paar Minuten zuvor nach Hause gekommen war und sie mit Sicherheit nicht gesehen hatte. Ich räumte einige Dinge, die 38
schon seit Wochen fertig verpackt in Kartons und Boxen in der Wohnung standen, in den Keller, in der vagen Hoffnung, einen Nachbarn zu treffen und ihn auf die Frau oder zumindest den Dackel ansprechen zu können. Schließlich begegnete mir im Flur tatsächlich ein junger Mann, mit dem ich mich bislang ab und an unterhalten hatte. Er erzählte von Gerüchten, die besagten, daß der Dackel seit ein paar Tagen verstorben sei, und fügte leise eine Bemerkung hinzu, die mich schließen ließ, der Hund sei wohl von seinem eigenen Herrchen, aus Zorn über das ständige grundlose Gebell, auf irgendeine Art und Weise in eben diesen Zustand versetzt worden. Als ich endlich zu dem Entschluß gekommen war, diesen Anschuldigungen nicht zu glauben, und mir die zweite Frage, die nach der alten Frau, eingefallen war, stand ich schon wieder alleine im Treppenhaus. Merkwürdig, auf welche Ideen man kommen kann. Nachdem ich mich mit einem raschen Blick aus dem Fenster überzeugt hatte, daß die Alte noch immer dort draußen stand, fast unsichtbar am Rande des Lichtkegels und ohne jede Regung, öffnete ich kurzerhand das Fenster und rief ihr leise zu, ob sie nicht lieber bei einem Kaffee und im Warmen warten wolle, worauf immer sie auch warten mochte. Nur sehr langsam drehte sie ihr Gesicht zu mir, ein Allerweltsgesicht, das man so schnell vergißt wie eine erschlagene Fliege. Als sie durch den Lichtkegel zur Haustür trat, um auf das einladende Summen des Türöffners zu warten, schien sie dennoch im Schatten zu bleiben. Ihre Schritte auf der Treppe hörte ich nicht, zu weich waren wohl die Sohlen ihrer abgenutzten, schwarzen Schuhe, und doch erschrak ich weniger als erwartet, als sie plötzlich vor mir in der offenen Wohnungstür stand. Ein wenig merkwürdig auch, daß ich während ihrer kurzen Anwesenheit gar nicht bemerkte, daß sie ihren Kaffee nicht anrührte, und mir nachher nicht einmal sicher war, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte. Mit Sicherheit meinte ich später nur zu wissen, daß die alte Frau alle Vermutungen, die ich schon zuvor im Hausflur gehört hatte, bestätigt zu haben schien. Eigentlich erschien es mir undenkbar, daß der alte Mann, der sicherlich manchmal etwas kauzig wirkte, aber niemals agressiv, seinen Hund wirklich im Zorn getötet haben sollte. Und doch paßte alles zusammen, das fehlende Bellen, seine Alpträume und schließlich die Frau, die auch spät nachts, als ich nach dem vergeblichen Versuch einzuschlafen noch einmal zum Fenster hinausgesehen hatte, noch dort draußen stand und wartete, worauf auch immer. Am nächsten Morgen, einem Samstag, als ich zu meinem Auto ging, um meine Eltern über das Wochenende zu besuchen, eilte wiederum die Tochter des alten Mannes an mir vorbei, doch ihr sorgenvolles Gesicht vergaß ich schon bald wieder, noch vor der Autobahn, von der mich nur wenige Kilometer trennten. Bei meiner Rückkehr am frühen Sonntagmorgen waren die Polizei- und Ambulanzwagen auf unserem Parkplatz nicht zu übersehen, ebensowenig wie die gaffenden Menschen, die ihre Neugierde nicht zurückzuhalten versuchten. Auch ich stellte mich zu den anderen, um schweigend zu sehen und zu hören. Einige gaben an, sie hätten am Vorabend einen Fremden hier gesehen, manche sprachen auch von einer Frau. Ihre Beschreibungen waren so unterschiedlich wie die Leute selbst, die sich aufgeregt um die Polizisten drängten, nur darin waren sie sich einig, daß es sich bei der unbekannten Person um einen Hundetyp gehandelt habe, wenn auch keiner von ihnen diese Aussage weiter begründen konnte. Später fand ich in einer Klatschzeitung, in der gleichen Rubrik mit diversen Kuriositäten, eine kurze Meldung über einen Mediziner, der bei einem eindeutigen Fall von Herzversagen als Todesursache Angst diagnostiziert hatte. Die blutigen Male, die nach Aussage der Tochter des alten Mannes fast ausgesehen hatten wie Bisse und Krallenspuren, wurden dort nicht erwähnt.
39
Hoffnung von Hannes Maier
In tiefster Traurigkeit, gefangen in einer grauen Zone, erscheint ein Schatten. Ist er für Dich die Erlösung?
Gedankenlos war mein Weg und ich war mir auch nicht mehr sicher welchen ich Richtung Heimat einschlug - wußte nur, daß ich plötzlich vor meiner Haustüre stand. Ich hatte mich selbst an sie verloren und als sie ging, schienen auch alle Emotionen mit ihr gegangen zu sein, mit diesem wundervollen Wesen - was blieb, war ein leerer Fleck. Wie ein Tiger im Käfig kreiste ich in meiner Wohnung und unbewußt oder doch bewußte mied ich das Wohnzimmer - vielleicht weil ich wußte, daß dort IHR Bild hing. Die meiste Zeit verbrachte ich jedoch in meinem Zimmer. Wie ist schwer zu sagen. Mal stand ich, mal saß ich, und manchmal lehnte ich vor dem Fenster und starrte hinaus - wohl auf den Mistkübel, den ich erst kürzlich durchwühlt hatte. Ich wußte auch nicht mehr was ich da angestarrt hatte und ob es wirklich der Mistkübel war - alles war eine einzige Grauzone, begleitet von einem leichten Gefühl der Übelkeit. Es hatte sich wirklich den ganzen Tag gehalten, nur war es nach diesem kurzen aber seltsamen Treffen ein wenig besser geworden. Besser im engeren Sinne ging es mir aber nicht > im Gegenteil, nun war ich kränker als zuvor. Langsam senkte sich die Nacht über die Stadt und als sich die Laternen einschalteten, fiel ein schmaler Lichtstreifen über meine linke Gesichtshälfte. Wie ein Patient einer Irrenanstalt saß ich auf meinem Bett und wippte leicht vor und zurück, eine Melodie summend. Sie war dazu da, damit ich nicht so schrecklich alleine fühlte. Ob sich meine Mutter in der Wohnung befand und warum ich ihr nicht mein Leid klagte - weiß ich wirklich nicht mehr, denn die Grauzone, die leere Stelle war zu diesem Zeitpunkt noch immer zu spüren - sogar stärker als je zuvor; ihr Aussehen hatte sich jedoch kaum verändert. Sie war nur ein wenig dunkler geworden und ein schmaler Lichtstreifen beleuchtete sie auf der nicht definierten linken Seite. Doch da tat sich nun was: Die Sonne ging auf, in dieser halb ausgeleuchteten Grauzone und ein Schatten wurde größer und größer. Hinter diesem Schatten, ja, genau da ging die Sonne auf - glutrot und warm, rundherum wurde es hell und es wich das Grau. Es war der Schatten einer Frau. Größer wurde die schwarze Eminenz und die oberste Kante erreichte die Iris meines Auges - schnell blinzelte es und Sie, der Schatten stand still. Die Sonne stieg auch nicht weiter in den Himmel und auch heller wurde es nicht. Tat sie jedoch noch einen Schritt nach vorne, so stieg auch die Sonne ein wenig höher und auch ein wenig heller wurde es, bis der letzte Schritt von dem Schatten getan war. Aufgeregt schaute das linke Auge in den schmalen Lichtstreifen, indem die Sonne aufging und der Schatten stillstand. Auch die Grauzone wartete nun ab, was passieren würde. "Eure Eminenz, der Schatten!" wurde mir die schwarze Fläche mit den Umrissen einer Frau vorgestellt. Mein Auge nickte dankend und die graue Zone bebte ehrfurchtsvoll. Wieder war es still und alles wartete. Kein Ton war zu hören und auch nicht die Melodie, die ich summte um nicht alleine zu sein. Ich brauchte es ja nicht zu tun, denn die schwarze Eminenz zeichnete ja ihren Schatten in meine Grauzone - sie war wirklich da, also keine Einsamkeit brachte mein Auge zum Tränen. Da schnellte plötzlich ein Paradiesvogel aus dem hellen Licht der Sonne und begann wie wild zu tanzen, der Schatten schaute zu und freute sich gleich wie mein Augapfel. Es war ein Glücksgefühl welches die Grauzone durchzog und meine linke Gesichtshälfte lag in Lachfalten. Kurz war das Spiel, denn der Vogel hatte sich sehr angestrengt uns zu erfreuen, doch nun war er müde und setzte sich gleich an die Grenze zwischen grau und weiß. Wie seine Krallen das Grau berührten gab er mit einem male kein Zucken mehr von sich - versteinert war er und GRAU - trist und genauso leer wie ich und ...........nun war es wirklich eine Träne, die das linke Auge verließ - genau jedoch konnte es erkennen, daß der Schatten in die Knie ging. Eine Weile sahen alle zu, wie die schwarze 40
Eminenz kniete, Betroffenheit machte sich breit und es hob sich aus dem Schwarz, eine Hand ab - umgeben von Sonnenschein, die Hand der Eminenz - sie suchte Hilfe! Lange wußte das Auge nicht was es tun sollte - doch da war was: HOFFNUNG!! Und Zuversicht: "Nur Du kannst ihm helfen, ich weiß das!" Erwartungsvoll und Anerkennend schaute das Auge, "was Du brauchst ist Hoffnung." Da erhob sich der Schatten und setzte weitere Schritte nach vorne und weiter ging die Sonne auf, vertrieb das Triste Grau - schließlich erreichte es den versteinerten Vogel und da flog er auch schon wieder > hoch in der Sonne hellen Schein. Das Auge war erfreut und war doch die letzte Träne aus Trauer gewesen, so kullerte nun eine der Freude über meine versteinerten Wangen. Doch bald war der Schatten so weit nach vorne gekommen, daß das ganze Auge verdeckt war und bald auch der ganze schmale Lichtstreifen - es herrschte Dunkelheit und alles war vorbei - vor Schreck fuhr ich hoch und hechtete Richtung Vorhang: "Oh Eminenz bleib' doch schrie ich!!" Mit der Schnauze auf den Pantoffeln meiner Mutter schlug ich auf, welche gerade den Vorhang schloß. Die sah mich nur blöd an und meinte, ich solle schlafen gehen: "Ja," murrte ich und schlurfte ins Bad. Nicht einmal das Licht benötigte ich um mein Gesicht zu waschen. Doch als ich mir nachher selbst in die Augen sah, schienen es aus meinen Poppillen zu leuchten. Es kam mir zwar doof vor, aber konnte es sein, daß wieder Sonnenschein in mir war - blickte ich so auf meine Seele, so konnte dies auch so sein > ich hatte kein Bauchweh mehr. Doch zuckte ich abwertend mit den Schultern und beschloß ins Zimmer zu gehen. Es war stockdunkel in unserer Wohnung, so verpaßte ich meine Türe und landete im Wohnzimmer. Unvermeidlich war es, daß ich, wo ich schon mal hier war, einen Blick auf das Bild warf: Da schien doch glatt ein schmaler Lichtstreifen auf ihr linkes Auge und fast war es so, als hörte ich den Ruf des Paradiesvogels. Leise sagte ich: "Was Du brauchst ist Hoffnung." Weiterhin hielt ich das Erlebte für Humbug, aber ich wußte eines ganz genau: Als ich sie traf ging hinter ihr die Sonne auf und vorhin war es ihr Schatten, der sich über mein Auge legte.
41