Rosemary Sutcliff Artus – Band 01
Merlin und Artus
Wie die Ritter von der Tafelrunde sich zusammenfinden Die Originala...
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Rosemary Sutcliff Artus – Band 01
Merlin und Artus
Wie die Ritter von der Tafelrunde sich zusammenfinden Die Originalausgabe erschien unter dem Titel “ The Sword and the Circle Mai 1996 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München ISBN 3-423-70400-4
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1 Wie Artus geboren wurde In den schweren und düsteren Jahren, die auf das Ende der römi schen Herrschaft in Britannien folgten, stieg Vortigern mit den eng stehenden Augen und dem dünnen, rötliche n Bärtchen eines Tages aus den walisischen Bergen herab und erschlug in treuloser Weise König Konstantin, der aus einem alten Königsgeschlecht stammte, und setzte sich an seiner Stelle auf den britannischen Thron. Doch sein blutiges Zepter brachte ihm nur wenig Freude, denn das ganze Reich war von Horden räuberischer Eindringlinge besetzt. Im Norden drangen die Pikten und Schotten ein, während an der Ost- und Südküste die Sachsen als Seeräuber ihr Unwesen trieben. Und da Vor tigern nicht die Kraft Konstantins besaß, konnte er sie nicht zurück schlagen. Als er sich keinen ändern Rat mehr wußte, ließ er zwei sächsische Stammesführer kommen, Hengest und Horsa, gab ihnen Land und Gold und trug ihnen auf, ihre Kampfgenossen herbeizuholen und die Pikten und Schotten sowie auch ihre eigenen Piraten-Landsleute zu rückzuschlagen. Und das war der schlechteste Plan, auf den er über haupt hatte verfallen können. Denn Hengest und Horsa war nicht ent gangen, wie reich das Land war. Bald kehrten sie wieder nach Germa 2
nien zurück; und da gab es viele halbwüchsige Söhne, doch weder ge nug Land noch so reiche Ernten, daß es für alle gereicht hätte. Und von Stund an war Britannien nie mehr frei vom Sachsen-Geschlecht. Immer weiter drangen sie von der Küste aus ins Landesinnere vor, verwüsteten das Land und zündeten ganze Städte an und machten sich über die Einwohner her wie ausgehungerte Wölfe, die sich im Winter auf die Schafe stürzen. Und manch ein Bauer wurde auf der eigenen Türschwelle erschlagen, und manch ein Priester am eigenen Altar. Und wo immer die Sachsen vorbeigezogen waren, lag ein übler Brandgeruch in der Luft. Als nun Vortigern sah, was er angerichtet hatte, zog er sich auf sei ne mächtige Burg in Wales zurück und rief seine weisesten Männer zusammen, nämlich seine Seher und Zauberer, und bat sie um Rat. »Baue dir einen riesigen Turm und lege dich hinein. Sonst wird dir nichts mehr helfen«, sagte der älteste Seher. Da sandte Vortigern zahlreiche Männer ins Land, die sich auf sol che Dinge verstanden und nun den besten Bauplatz finden sollten, und als er sich bei ihrer Rückkehr ihre Berichte anhörte, entschied er sich für Eriri, den Platz der Adler, der hoch oben in den Bergen von Gwy nedd lag. Und nun rief er aus allen Himmelsrichtungen Bauleute zu sammen und befahl ihnen, einen Turm zu bauen, stärker als jeder an dere Turm in ganz Britannien. Die Männer machten sich an die Arbeit und schlugen große Steinblöcke aus den Steinbrüchen der benachbar ten Hügel. Andere schleppten die Blöcke zum ausgewählten Platz. Und dann begannen sie, auf dem luftigen Kamm des Eriri riesige Fun damente für eine Festung zu bauen, wie man sie sonst in ganz Britan nien vergeblich suchen würde. Doch dann geschah etwas Seltsames. Als die Männer am Morgen wieder zum Bauplatz kamen, fanden sie die Steine, die sie am Tage zuvor hochgestemmt und eingemauert hatten, überall auf dem Boden verstreut. Und das passierte ihnen Tag für Tag, so daß die Festung auf dem Adlerplatz nie größer wurde als am ersten Tag. Da ließ Vortigern wiederum die Seher und Magier kommen und wollte von ihnen den Grund der Sache erfahren und wissen, was er denn jetzt tun solle. 3
Nachts blickten die Seher und Zauberer zu den Sternen empor und am Tage in die Zauberschale, die mit schwarzem Eichenwasser gefüllt war, und schließlich sagten sie: »Herr, wir müssen ein Opfer darbrin gen.« »Dann holt eine schwarze Ziege«, befahl Vortigern. »Eine schwarze Ziege genügt nicht.« »Dann eben einen weißen Hengst.« »Auch ein weißer Hengst genügt nicht.« »Ein Mensch?« »Nicht einmal ein Mensch, der wie die andern ist.« »Was zum Teufel muß denn geopfert werden?« schrie der König zornig und schmetterte seinen Weinbecher zu Boden. Und der Wein sickerte wie Blut in das dürre Heidegras. Der Älteste der Weisen schaute sinnend auf den Fleck im Gras. »Suche einen Knaben, der von keinem sterblichen Vater stammt, und laß ihn auf die alte, heilige Art töten und sein Blut über die Steine fließen, und deine Burg wird ein sicheres Fundament haben.« Vortigern sandte unverzüglich Boten aus und ließ sie nach einem solchen Knaben suchen. Und nach langer, vergeblicher Suche kamen sie schließlich in die Stadt Caermerddyn; und hier fanden sie einen Jüngling, dessen Mutter die Tochter der Königin Demetia war, dessen Vater jedoch keinem Sterblichen bekannt war. Die Prinzessin war nun schon seit langer Zeit in einem Kloster, doch als sie noch jung war, erhielt sie eines Nachts, wie im Traume, den Besuch eines schönen und stolzen Engels. Es war einer der gefallenen Engel, wie sie die Christen nennen, die nun ein Reich zwischen Himmel und Erde be wohnen. Und von diesem Besuch empfing sie einen Sohn, und als die ser geboren war, gab sie ihm den Namen Merlin. All das erzählte sie den neugierigen Boten des Königs freimütig und ohne sich viel dabei zu denken. Doch nachdem die Prinzessin mit ih rer Rede zu Ende war, ergriffen sie den Knaben Merlin und brachten ihn in die schöne Halle, die Vortigern im Schütze der Berge in der Nähe des Eriri hatte errichten lassen. Und Vortigern saß in seinem wundervollen Thronsessel, der mit Wolfsfellen und mit roten und pur 4
purnen Stoffen überzogen war, zupfte an seinem dünnen Bart und blickte durch die Rauchfahnen, die aus dem Herdfeuer aufstiegen, auf den Jüngling. Dünn und biegsam wie eine Haselrute stand Merlin da, mit rabenschwarzem Haar, und blickte Vortigern aus zwei hellen, kla ren Augen unverwandt an und verlangte, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Erklärung, weshalb man ihn hierhergebracht habe. Der König war es nicht gewohnt, in einem solchen Ton angeredet zu werden, und war so verblüfft, daß er Merlins Frage einfach beant wortete, statt ihn auf der Stelle töten zu lassen. Der Knabe hörte aufmerksam zu; und als der König geendet hatte, sagte er: »So soll also mein Blut vergossen werden, damit Euer Turm errichtet werden kann. Eine schöne Geschichte, die Euch da Eure Ma gier erzählt haben, mein König, doch leider hat sie weder Hand noch Fuß.« »Was das betrifft«, sagte Vortigern, »so läßt sich die Sache ohne weiteres prüfen.« »Indem Ihr mein Blut über die Steine Eurer Festung gießt? Nein, Hoheit, ruft lieber Eure Magier herbei, und ich werde sie mit Leic h tigkeit Lügen strafen.« Vortigern rieb sich den Bart, und seine Augen rückten noch näher zusammen. Doch schließlich ließ er seine Weisen holen, und sie ka men und traten vor Merlin. Merlin schaute sie der Reihe nach an und sagte: »Die Sehergabe und die Zauberkräfte haben euch und eure Vorfahren immer mehr ver lassen, seit die letzten wahren Druiden ausgestorben sind. Das Licht der Wahrheit ist euch schon lange verdunkelt, und deshalb habt ihr dem König erzählt, mein Blut müsse auf diesen Steinen vergossen werden, damit der Turm gebaut werden könne. Doch ich sage euch, diese Steine stürzen nicht herunter, weil ihnen mein Blut fehlt, son dern weil unter der Erde etwas geschieht, was jede Nacht die Arbeit des Tages wieder zunichte macht. So sagt mir doch mit eurer Weis heit, was da unten passiert!« Die Magier schwiegen, denn ihre Kräfte hatten wirklich abgeno m men. Da wandte sich Merlin zu Vortigern und sprach: »Herr, befehlt 5
Euren Männern, so tief unter die Fundamente zu graben, bis sie zu dem Teich durchstoßen, den sie da unten finden werden.« Da gab der König den Befehl zu graben, und nach einer Weile stie ßen die Männer durch die Decke einer riesigen Höhle. Und den Grund der Höhle füllte ein tiefer, dunkler Teich, und von Zeit zu Zeit stiegen Luftblasen langsam zur Wasseroberfläche empor, wie wenn weit unter dem Wasser ein großes Tier im Schlafe läge und atmete. Da trat Merlin zu Vortigern, der eben aus seiner Halle herbeige kommen war, um zuzuschauen, und zu den Magiern, die der König mitgebracht hatte, und sagte in herausforderndem Tone: »So sagt mir doch, ihr, die ihr in allen Zauberdingen bewandert seid, was ruht denn auf dem Grunde dieses Teichs?« Und wiederum hatten sie keine Antwort. Und zum König sagte Merlin: »Herr, nun gebt den Befehl, diesen Teich trockenzulegen, denn auf dem Grund des Wassers werdet Ihr zwei schlafende Drachen finden.« Und als der Teich trocken lag, da sahen sie weit unten zwischen den Felsen die beiden Drachen im Schlafe liegen. Der eine war weiß wie Frost und der andere rot wie Feuer. Und der König und alle, die über dem trockenen Teich standen, waren sprachlos. Doch die Magier hat ten sich bereits fortgestohlen. »Am Tage«, sagte der Knabe Merlin, »liegen die Tiere im Schlaf, so wie Ihr sie jetzt seht; doch nachts wachen sie auf und kämpfen mit einander, und erst bei Sonnenaufgang lassen sie voneinander ab und fallen wieder in Schlaf. Sie kämpfen so heftig, daß der Bergkamm er schüttert wird und die Erde aufbricht und sich wieder schließt und das Teichwasser zu Sturmwellen aufgepeitscht wird. Und aus diesem Grunde bleibt der Turm, den Ihr darüber bauen wollt, nicht stehen.« Nun begann es Abend zu werden, rasch wurde es dunkler und dunk ler, und noch während Merlin sprach, begannen sich die schlafenden Drache n zu erheben. Feuerrote und frostweiße Schuppen regten sich, und die großen Köpfe hoben sich, und die Kiefer öffneten sich weit und begannen, dünne Feuerstrahlen auszuatmen, und die Strahlen wurden immer größer und stärker und ballten sich zu Feuerwolken zusammen, und mit einem schrecklichen Gebrüll, das den Boden, auf 6
dem der König und seine Männer standen, erzittern ließ, stürzten die beiden Ungeheuer aufeinander los. So kämpften die beiden die ganze Nacht im Phosphorschein ihres Atems, der die große Höhle füllte und wie Wetterleuchten über die hochgepeitschten Pfützen strich, die vom Teich noch übrig waren. Und zuerst war der weiße Drache im Vorteil und drängte den roten zum anderen Teichende, dann sammelte der rote Drache all seine Kraft, und der Kampf stand wieder unentschieden; und das Wasser kochte um ihre zischenden Schuppen, und der Kampf der Ungeheuer erschütterte fortwährend den ganzen Bergkamm. Dann drängte der rote Drache den weißen langsam in die andere Ecke, und gerade als es schien, daß der Kampf endlich vorbei sei, kam der weiße Drache wie der zu Kräften und warf sich noch einmal auf den roten… Doch da schimmerte schon das erste Tageslicht am Himmel, das Feuer der Drachen erlosch, und ihre Bewegungen verlangsamten sich, und schließlich sanken sie in Schlaf. Da wollte Vortigern von Merlin wissen, was all das zu bedeuten ha be. Und Merlin sagte ihm, der rote Drache sei Britannien und der wei ße das Sachsengeschlecht und daß die zwei Drachen jede Nacht den Konflikt zwischen diesen beiden Völkern auskämpften. »Dann hat der rote Drache gewiß den Sieg davongetragen«, sagte Vortigern, »und ich und mein Reich haben nichts zu befürchten.« »Doch der weiße Drache kam wieder zu neuer Kraft, gerade als der Tag die beiden wieder in Schlaf hüllte«, sagte Merlin. Und während er dies sagte, schien er in weite Ferne zu blicken, in eine Ferne aber, die er nur in seinem Innern trug. In Merlins Blut kamen drei Kräfteströme zusammen: Von seiner Mutter, die aus dem Stamm der Demetia war, hatte er das Wissen von den Kräutern und die alte, verglimmende Weisheit des geheimnisvo l len Alten Volks geerbt. Von dem alten Druiden, der beinahe der letzte seines Stammes war und der ihn in Obhut genommen und aufgezogen hatte, nachdem seine Mutter ins Kloster gegangen war, hatte er das geheime Wissen von den Sternen und die Fähigkeit, nach Belieben die Gestalt zu verändern und Zauberwerke zu verrichten. Von seinem Va ter jedoch hatte er die Gabe, ebenso mühelos in die Zukunft zu scha u 7
en, wie andere Menschen in die Vergangenheit blicken. Doch über diese Gabe hatte er eigentlich keine Macht, vielmehr hatte sie ihn in ihrer Macht, denn wie von einem kräftigen Windstoß wurde er manchmal ergriffen und an einen fernen, geheimen Ort getragen, wo Vergangenheit und Zukunft eins waren. So geschah es ihm jetzt: er begann zu zittern wie ein junger Espen baum im Wind. Und mit hoher, heller Stimme sagte er viele Dinge voraus, die mit dem roten und dem weißen Drachen zusammenhingen. Und als ihn der Geist der Prophezeiung wieder verlassen hatte und er zu zittern aufhörte und wieder wie gewöhnlich aus seinen leuchten den Augen blickte und wieder mit der eigenen Stimme redete, da sprach er: »Dies alles, mein König, wird sich aber erst nach Eurer Zeit zutragen.« Vortigern wurde von plötzlicher Furcht gepackt und rief: »Was geht mich das denn an? Erzähl' mir jetzt von meiner Zeit!« »Eure Zeit?« sagte Merlin. »Eure Zeit ist kurz bemessen und endet im Schlachtgetümmel. Ambrosius und Uther haben viele Krieger um sich geschart, drüben in Klein-Britannien, das von vielen Bretagne genannt wird, dort, wo sie einst Zuflucht fanden, als Ihr ihren Vater erschlugt. Nun stehen die Schiffe schon zur Fahrt bereit, schon blähen sich die Segel im Wind, um sie über die Meerenge nach Britannien zu tragen. Sie werden die Sachsen wieder zurückdrängen; Euch selbst werden sie jedoch in Eurem stärksten Turm einschließen und verbren nen, aus Rache für den Mord an ihrem Vater. Dann wird Ambrosius zum König gekrönt werden, und für dieses Britannische Reich wird er Großes leisten. Aber später wird er von Sachsenhand sterben, und nach ihm wird Uther die Krone nehmen; doch auch er wird ein vorze i tiges Ende finden – durch Gift. Doch nach diesen beiden wird ein an derer, noch größerer König Britannien aus der Not helfen.« Vortigern wurde von Furcht und Wut gleichzeitig gepackt und schrie laut nach seinen Wachen. »Ergreift ihn! Stopft ihm den Mund mit euren Schwertern!« Doch in diesem Moment brach das erste Sonnenlicht über den Rand der östlichen Berge herein, und die ersten Sonnenstrahlen trafen die Augen des Königs, der Hofleute und der Wachen, so daß alle blinzeln 8
mußten. Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, hatte sich der finstere Erdschlund über dem Drachenteich wieder geschlossen, der Bergkamm hatte wieder sein gewohntes Aussehen, und die Gras halme schwankten im leichten Morgenwind. Von Merlin war nichts mehr zu sehen als ein Lichtschimmer über dem Boden; doch auch die se Erscheinung war, ehe sie sich's versahen, verschwunden. Nur aus der Ferne klang noch eine Stimme an ihre Ohren. »Ein anderer wird kommen… ein anderer… und er wird größer sein als sie beide…« Und dann verlor sich auch die Stimme im Wind, der durch die Gräser wehte. Drei Tage später betraten Ambrosius und sein Bruder Uther mit ei ner großen Schar Krieger britannischen Boden. Sie zogen gegen die Festung, auf die Vortigern geflüchtet war, und wollten die Mauern niederreißen. Doch als sie sahen, daß die Mauern zu stark waren, häuften sie um die ganze Burg Holz und Buschwerk und zündeten die Haufen an. Dann schossen sie brennende Pfeile in den Giebel des stei len Dachs. Tag und Nacht schlugen die Flammen in die Höhe, bis die Steinblöcke zersprangen und herunterstürzten. Die großen Mauerbal ken krachten mit lautem Getöse auseinander und fielen zu Asche zu sammen, und der ganze Turm wurde von den Flammen verzehrt wie von einem Drachen, und Vortigern dazu. Und so hatten Ambrosius und Uther ihren Vater gerächt. Nachdem Ambrosius gekrönt worden war, zog er mit Uther gegen die Sachsen ins Feld, und in langen und erbitterten Kämpfen gelang es ihm schließlich, sie aus den Landstrichen, die sie besetzt hatten, zu vertreiben. Doch da geschah es, daß Uther, der seine Truppen gerade durch Wales führte, um einen schottischen Angriff aus dem Nordwesten ab zuwehren, eines Nachts über dem Lagerfeuer einen hellen Stern er blickte. Und der Stern sandte einen Lichtstrahl aus, der sich in einen großen, drachenförmigen Feuernebel verwandelte, bis es aussah, als hätte die ganze Sternenbahn, die die Menschen Milchstraße nennen, die Gestalt eines großen, geflügelten Ungeheuers angenommen. Und aus dem Drachenschlund brachen zwei weitere Lichtstrahlen hervor, und sie beschienen das ganze Britannische Reich. Da ließ Uther Mer 9
lin rufen, der die beiden Brüder seit der Landung an der britannischen Küste stets begleitet hatte, und fragte ihn nach der Bedeutung dieser seltsamen Lichterscheinungen am Himmel. Und Merlin sprach: »Welch Leid trifft mich! Welch Leid trifft uns alle! Dein Bruder Ambrosius ist nämlich tot! Doch die Lichter pro phezeien auch große zukünftige Geschehnisse, denn in der komme n den Schlacht wirst du siegen, und du wirst König von Britannien wer den, denn der Stern und der Drache darunter bist du selbst, und die beiden Lichtstrahlen aus dem Drachenmund prophezeien dir einen Sohn, der größer sein wird als sein Vater und dessen Macht sich über das ganze beleuchtete Gebiet erstrecken wird.« Da trauerte Uther um seinen verstorbenen Bruder und ritt den nörd lichen und westlichen Feinden entgegen. Und als Uther dann an Stelle von Ambrosius zum König gekrönt wurde, nahm er den Beinamen Pendragon an, was Drachenhaupt heißt. In unzähligen Schlachten kämpfte Uther Pendragon gegen die Sach sen und die Pikten und die irischen Eindringlinge, bis der ganze südli che Teil Britanniens schließlich von Schwert und Feuer befreit war. Da wollte er sich eine Ruhepause gönnen und nahm sich vor, das Osterfest in London zu feiern und ein großes Dankfest daraus zu ma chen. Und er forderte alle seine Grafen und Herzöge und Edelleute auf, ihn zusammen mit ihren Gemahlinnen nach London zu begleiten. Nun fanden sich zu jenem Osterfest in London auch Gorloise, der Herzog von Cornwall, und seine Gemahlin, die Herzogin Igraine, ein. Igraine war die schönste aller geladenen Hofdamen, und der König hatte sie beim ersten Blick in sein Herz geschlossen, was er noch bei keiner Frau getan hatte, denn seit er in das Mannesalter gekommen war, gab es in seinem Leben nichts als Kämpfe und Feldzüge, so daß die Liebe keinen Platz hatte. Nun ließ er ihr Geschenke in ihr Gemach schicken, goldene Becher und Juwelen, und wann immer sie bei Tisch saß oder irgendwohin ging, brauchte sie nur aufzuschauen, um seinem sehnsüchtigen Blick zu begegnen. Da trat die Herzogin zu ihrem Gemahl und sagte: »Der König über häuft mich mit Geschenken, und seine Blicke verfolgen mich ständig. Laß uns also bald aufbrechen und nach Hause zurückkehren.« 10
Der Herzog gab seine Befehle, und noch bevor dem König etwas auffiel, war er mit Igraine und dem ganzen Gefolge aufgebrochen. Als der König schließlich bemerkte, daß sie weg waren, verfiel er in einen rasenden Zorn, schickte dem Herzog Männer nach und verlang te, daß er zurückkehre. Und als der Herzog und seine Gattin nicht um kehrten, rief er seine Krieger zusammen und verfolgte den Herzog und brach einen Krieg mit ihm vom Zaun. Gorloise brachte seine Gattin auf die Burg Tintagel, die stärkste Fe stung in ganz Cornwall. Die Burg stand auf einem Felsvorsprung hoch über dem tosenden Meer. Sie hatte nur einen einzigen Zugangsweg zu Lande, und dieser war so eng, daß drei Männer genügten, sie gegen eine ganze Armee zu verteidigen. Trotzdem ließ er das Lager vor der Burg errichten und versperrte dem König den Weg. Dann kam Uther Pendragon an und errichtete sein Lager gegenüber dem des Herzogs. Der Kampf ging los und währte mehrere Tage. Und die ganze Zeit zehrte seine leidenschaftliche Liebe zu Igraine am Herzen des Königs, so daß er nie Ruhe hatte, weder in der Hitze des Gefechts bei Tag noch nachts in seinem einsamen Zelt. Als schon eine Woche vorüber war, ließ er schließlich Merlin, der ihn begleitete, zu sich kommen. Merlin kam und stand wie ein großer Schatten im Zelteingang, den flackernden Schein der Lagerfeuer im Rücken, und fragte nicht, wes halb man ihn gerufen habe, denn er hatte im grünlichen Abendhimmel über Tintagel den großen Stern wohl gesehen, und deshalb wußte er schon Bescheid. »Die Sehnsucht nach Igraine macht mein Herz ganz krank«, sagte der König, »und immer noch bin ich ihr nicht näher als vor sieben Nächten. Du, der du die Weisheit der Alten besitzest, sage mir, was ich tun soll, um ihr näherzukommen.« Merlin rührte sich nicht. Er wußte, daß die Zeit gekommen war für Uthers Sohn, der seinen Vater an Größe weit überragen sollte. Und er sagte: »Wenn du dich ganz meinen Künsten anvertraust, kann ich dir für eine Nacht die Gestalt und das Aussehen des Herzogs verleihen; ich selbst werde das Aussehen von Brastius, einem seiner Diener, an nehmen, so daß ich dich begleiten kann. So kannst du heute Nacht auf 11
das Schloß Tintagel gehen, ohne von jemandem angehalten zu wer den. Doch um einen Preis.« »Was du nur willst!« sagte Uther Pendragon. »Um alles in der Welt.« »Schwöre es«, sagte Merlin. »Ich schwöre es beim Kreuz meines Schwerts.« Merlin trat ein, stellte sich neben das Zeltfeuer und blickte durch die züngelnden Flammen zu Uther hinüber. »Wenn du heute nacht zu Igraine gehst, wird dein Sohn zu Weihnachten geboren werden; der Sohn, von dem ich sprach, als wir in der Nacht, in der Ambrosius starb, die großen Lichter am Himmel erblickten. Und noch in der Stunde seiner Geburt mußt du ihn in meine Obhut geben, denn ich will ihn mitnehmen und ihn auf seine Aufgabe vorbereiten.« Es wurde eine Weile still zwischen den Männern. Dann brach Uther das Schweigen und sagte: »Das wirst du dann vom Herzog Gorloise verlangen müssen.« Dabei blickte er durch die kleinen züngelnden Flammen des Feuers zu Merlin hinüber, und zwischen seinen Brauen erschien eine dunkler werdende Vertiefung, die wie eine Schwertwunde aussah. Denn bis zu diesem Augenblick hatte er nicht daran gedacht, daß ein Kind dieser Nacht später von allen Menschen und natürlich auch von Igraine für das Kind von Gorloise und nicht für sein eigenes gehalten würde. »Nein«, sagte Merlin, der seine Gedanken sah. »Ich muß es von dir verlangen.« Der König glaubte ihm. Doch er fragte: »Weshalb forderst du einen solchen Preis?« »Weil du noch andere Söhne haben kannst. Und das könnte diesem einen gefährlich werden, diesem Auserwählten mit der verhüllten Herkunft, und außerdem, weil du kein sicheres Leben führst: falls du stirbst, bevor er regierungsfähig ist, könnte er im Kampf um die Macht, der unter deinen Edelleuten ausbrechen wird, unterliegen.« Und Uther sah diese Wahrheit ein und war fortan an seinen blind geleisteten Schwur gebunden. Doch mehr als irgend etwas anderes 12
hielt ihn seine Leidenschaft für Igraine im Bann. Und so willigte er ein. Merlin entfernte sich und kehrte nach kurzer Zeit mit vielen Din gen, die er unter dem Mantel versteckt hielt, ins Zelt des Königs zu rück. Er streute ein Pulver ins Feuer, und das Zelt füllte sich mit ei nem seltsam riechenden Rauch. Dann sprach er beschwörende Worte in den Rauch und formte ihn zu verschiedenen Gestalten, nach der Art uralter magischer Gebräuche, die sogar noch älter als die der Druiden waren. Und als der Mond aufging, stahlen sich zwei Gestalten, die dem Herzog Gorloise und Brastms aufs Haar glichen, zum Lager hin aus. Sie schlichen am Lager des Herzogs vorbei und gelangten auf ge heimen Wegen zu den Toren von Tintagel, das hoch oben in den Fel sen über dem wogenden Meer thronte. Die Torwache ließ sie passieren, da sie glaubte, der Herr von Corn wall habe sich Zeit genommen, um seine Gattin zu besuchen. Sie durchquerten die engen Schloßhöfe und kletterten auf einer Mauer treppe zu den Gemächern der Königin empor. Tief unten im geschüt z ten Schloßgarten sang eine Drossel, als ob es schon tagen würde. Die Zofen der Herzogin ließen Uther ein, da sie wie die Wachen meinten, der Herzog wolle seiner Gattin einen nächtlichen Besuch ab statten, und als Uther schließlich in der Kammer vor Igraine stand, glaubte auc h sie, ihr Gemahl sei gekommen. In dieser Nacht wurde in der großen Kammer hoch oben über dem rauschenden Meer, beim Gesang der Drossel im Garten, während Merlin mit gezücktem Schwert vor der Tür stand, König Artus von Britannien empfangen. Unterdessen hatte der Herzog Gorloise einen nächtlichen Angriff auf das königliche Lager gemacht und im erbitterten Kampfe seinen Tod gefunden, noch bevor der König die Tür von Igraines Kammer erreicht hatte. Bevor es tagte, nahm der König von Igraine Abschied und sagte, er müsse bei Tagesanbruch wieder bei seinen Männern sein. Und so ent fernte er sich wieder, zusammen mit Merlin, rasch und unerkannt. Und als Igraine kurz darauf von der nächtlichen Attacke und vom Tode ihres Gatten erfuhr, ergriff sie eine tiefe Trauer und gleichzeitig 13
eine große Verwunderung, und sie fragte sich, wer auf Erden sie in Gorloises Gestalt in dieser Nacht denn besucht habe. Doch diese Fra gen behielt sie ganz für sich, und nicht einmal die vertrautesten Zofen erfuhren etwas davon. Nach einiger Zeit betrat Uther Pendragon in eigener Gestalt als Er oberer das Schloß, wenn auch als sanfter Eroberer, denn der Tod von Gorloise war ihm zu Herzen gegangen, wenn es ihn andererseits auch freute, daß Igraine nun frei war. Nachdem genug Zeit vergangen war, fing er an, ihr den Hof zu machen, und obwohl sie im Innern eine Weile mit sich kämpfte, hatte sie doch das Gefühl, irgendwie mit ihm vertraut zu sein, und das war ein sehr angenehmes Gefühl. Und so fe i erten sie nach sechs Monaten eine freudige Hochzeit. Eines Nachts, als die Geburt des Kindes kurz bevorstand, fragte Uther die Königin, was es mit dem seltsamen Gerücht auf sich habe, das ihm über den Vater des Kindes zu Ohren gekommen sei. Zuerst erschrak die Königin, doch dann faßte sie Mut und erzählte ihm alles. »Ich weiß es wirklich nicht, denn in derselben Nachtstunde, in der mein Herr starb, wie seine Ritter sagen, trat ein Mann in mein Ge mach, den ich für meinen Herrn hielt, und beim Morgengrauen ging er wieder fort. Und während er in dieser Nacht bei mir war, wurde das Kind empfangen. Im Schloßgarten sang eine Drossel. Das fiel mir auf, weil wir hier außer Möwen und Raben so selten Vögel haben.« »An die Drossel erinnere ich mich«, sagte der König. »Du?« fragte die Königin. Und nun erzählte er ihr die ganze Wahrheit. Da mußte sie wieder um Gorloise, ihren früheren Herrn, weinen. Doch fielen ihre Tränen auf Uthers Schulter. Zu Weihnachten gebar die Königin ihr Kind; es war ein schöner Knabe. Doch kaum eine Stunde nach der Geburt wurde dem König gemeldet, ein Bettler stehe am hinteren Toreingang und lasse ihm aus richten, er wolle ihn an ein Gelübde erinnern, das er auf das Kreuz seines Schwertes abgelegt habe. Da befahl der König zwei Rittern und zwei Hofdamen, das Kind für eine Winterreise in ein goldbesticktes Tuch und dann in warme Häute 14
zu wickeln und es dann dem Bettler zu übergeben, den sie am hinteren Toreingang finden würden. Es geschah alles, wie er befohlen hatte, und das Kind wurde Merlin, der sich als Bettler verkleidet hatte, überreicht. Und Merlin brachte es zu einem guten Ritter namens Sir Ector, der in weiter Ferne wohnte, damit es mit dessen eigenem Sohn zusammen erzogen und in allen ritterlichen Tugenden unterrichtet werde. Als Ector wissen wollte, wessen Sohn er neben seinem eigenen großzie hen sollte, sagte Merlin: »Sein Name ist Artus, und wessen Sohn er ist, wirst du erfahren, wenn die Zeit reif ist.« Da fragte Sir Ector nicht weiter. Und Uther, der schweren Herzens zurückblieb, versuchte, die Köni gin zu trösten.
2 Das Schwert im Stein
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Lange bevor Igraine Uthers Gemahlin wurde, hatte sie Gorloise drei Töchter geschenkt, von denen zwei schon verheiratet waren, da sie das zwölfte Jahr überschritten hatten. Die ältere hieß Margawse und war die Gattin des Königs Lot von Orkney, die jüngere hieß Elaine und war die Gemahlin des Königs Nantres von Garlot. Die jüngste der Töchter, Morgan, war noch ein Kind und ging in die Klosterschule. Alle drei Prinzessinnen hatten viel vom Blut des Alten Volkes, jenen kleingewachsenen, geheimnisvollen Menschen, und mit diesem Blute hatten sie auch etwas von der alten Weisheit und den alten magischen Fähigkeiten geerbt. Doch am meisten davon hatte Morgan geerbt, denn schon bevor sie das Kloster verließ, um König Uriens von Gore zu heiraten, war sie eine Hexe und stand im Bunde mit vielen wilden Feen, weshalb man sie Morgan La Fay – Morgan die Fee – nannte. Doch nach Artus hatten Uther und Igraine keine Kinder mehr. Bin nen zwei Jahren brachen die Sachsenkriege wieder aus, und obgleich der König seine Feinde ebenso energisch zurückschlagen konnte wie früher, gelang es ihnen und den mit ihnen verbündeten Nordmännern, Spione in sein Kriegslager zu schicken, die Gift in seinen Weinbecher schütteten, so daß er noch in der Nacht seines Sieges starb. Da zogen für Britannien wahrhaftig finstere Zeiten herauf, denn da kein erwachsener tüchtiger Erbe da war, der das vom König niederge legte Schwert hätte ergreifen können, begannen die vielen Herzöge und Barone, miteinander um die Krone zu streiten. Als die Sachsen bemerkten, daß das Reich ohne Führer war, machten sie erneut einen Vorstoß, so daß nach kurzer Zeit ein großer Teil des Gebietes, das Ambrosius und Uther Pendragon einst den Eroberern hatten entreißen können, wieder in Feindeshand war. Und aus seinem fernen Zu fluchtsort in den Bergen von Gwynedd beobachtete Merlin voller Sor ge die leidvollen Wirren im Lande, aber er wußte, daß die Zeit für den mächtigen Arm, der das Land befreien sollte, noch nicht gekommen war. Inzwischen wuchs Artus im Schloß Sir Ectors in jener düsteren Ge gend, die an Wales angrenzt und der Wilde Wald heißt, zum Knaben heran, zusammen mit Kay, dem Sohn Ectors. Da eignete er sich die Tugenden der Ehrbarkeit, des Muts, der Höflichkeit, der Selbstbeherr 16
schung an, und natürlich lernte er auch die Waffenk unst und den Um gang mit Jagdhund und Pferd, damit er ein guter Ritter – und einst ein guter König werde. Doch davon wußte er selbst nichts, ebensowenig wie er ahnte, daß im umherziehenden Harfenspieler oder im reisenden Schmied oder im verwundeten, heimkehrenden Soldaten, die von Zeit zu Zeit vor dem Schloß erschienen, sich immer nur Merlin verborgen hielt, der in wechselnder Gestalt seine Besuche machte, um nachzuse hen, wie es dem künftigen König Britanniens erging. So verstrichen jene düsteren Jahre, bis Merlin schließlich die Zeit gekommen sah und den neuen König für reif hielt. Da begab er sich nach London, das immer noch in britannischen Händen war, und sprach mit dem Erzbischof Dubricius. Zwar bekannte sich Merlin zu einem Glauben, der älter war als derjenige des Erzbischofs, und er be folgte auch die Gebote anderer Götter als jener. Aber Dubricius war ein weiser Mann, jedenfalls weise genug, um andere Arten der Weis heit und andere Göttervorstellungen neben den seinen gelten zu las sen. Er hörte sich an, was Merlin zu sagen hatte, dann setzte er für den Weihnachtstag für alle Ritter und Edelleute ein großes Treffen an und versprach, daß Jesus Christus, der an diesem Tage geboren worden war, durch ein Wunder allen den rechtmäßigen König offenbaren und dadur ch den allgemeinen Streit um die Krone beenden werde. Weihnachten kam herbei, eine große Menschenmenge füllte die Klosterkirche, und sogar im Kirchhof drängten sich die Menschen, die wenigstens von ferne durch das offene Westportal die Kerzenlichter sehen und, so gut es eben ging, den Gesang hören und an der Messe teilnehmen wollten. Und als die Meßfeier vorüber war und sich die Menschenmasse wieder auflösen wollte und die, die in der Kirche Platz gefunden hatten, herauszuströmen begannen, ging plötzlich ein Raunen und Staunen durch die Menge und pflanzte sich schnell nach allen Seiten fort wie Wasserringe in einem Teich. Denn plötzlich stand mitten im Kirchhof ein großer Marmorblock, und mitten im Stein steckte ein blankes Schwert. Und um den Mar morblock herum stand in goldenen Buchstaben, die beim winterlichen Sonnenschein deutlich zu lesen waren: »Wer dies Schwert aus dem Stein zu ziehen vermag ist der wahre König Britanniens.« 17
Da versuchten der Reihe nach die Herzöge und Barone und zuletzt sogar auch die einfachen, gewöhnlichen Ritter in ihrem Gefolge, das Schwert aus dem Stein zu ziehen. Doch keiner von ihnen hatte Erfolg. Am späten Abend, nachdem es der letzte von allen versucht hatte, steckte das Schwert noch ebenso fest im Stein wie im Augenblick sei nes ersten Erscheinens. Um Stein und Schwert war immer noch eine große Menschenmenge versammelt, doch alle waren erschöpft und fassungslos, und in der kalten Abendluft formte sich ihr Atem zu Wolken. »Der diese Klinge herausziehen soll ist nicht hier«, sagte der Erzb i schof, »doch Gott wird ihn uns bald zeigen. Deshalb rate ich euch das folgende: Schickt kreuz und quer Boten durch das Land und laßt sie das Wunder verkünden und alle, die das Schwert und mit dem Schwert die Krone erringen möchten, zu einem großen Turnier laden, das am Neujahrstag in London abgehalten wird. Inzwischen laßt ein seidenes Zelt errichten, zum Schutz der Wundererscheinung, und be stimmt zehn Ritter, die Tag und Nacht Wache stehen sollen. Dann wird uns Gott unseren König vielleicht an jenem Tage zeigen!« Auf den schnellsten Pferden, die sich finden ließen, ritten die Boten fort und trugen ihre Kunde wie eine leuchtende Fackel durch das ga n ze Land. Und schließlich kam sie auch zu Sir Ector in den Wilden Wald an der Grenze zu Wales. Sir Ector stand bereits in vorgerücktem Alter und war ein ruhiger Mensch. Doch sein Sohn Kay war zu Michaeli vor ein paar Monaten eben zum Ritter geschlagen worden und fühlte sich nun im neuen Rit terstand frisch und tatendurstig, und so wollte er wie die anderen jun gen Ritter im Reich sein Glück versuchen und das Wunderschwert herausziehen. Sein Vater lachte ihn aus, wenn auch auf freundliche Art. »Du hältst dich also für den rechtmäßigen König von ganz Britannien?« Kay, der es nicht ertragen konnte, ausgelacht zu werden, wurde pu terrot. »Ich bin doch kein solcher Narr, Vater; aber wir werden das größte und prächtigste Turnier erleben, das je veranstaltet wurde, und das wäre doch eine schöne Gelegenheit, meine Kraft zu beweisen.« 18
»Eine schöne Gelegenheit in der Tat«, sagte Ector. »Ja, ja, als ich selbst erst drei Monate lang Ritter war, hätte ich wohl ebenso empfun den.« Artus, der eben fünfzehn Jahre alt geworden war, stand daneben und hörte Kays Worte. Artus war nun ein großgewachsener Junge mit langen Armen und Be inen, fahlblondem Haar und mit Augen, die der einst freundlich und ruhig blicken sollten, jetzt aber feurig aufleuchte ten beim Gedanken an das große Turnier und das Wunderschwert. Da drehte sich Kay ungeduldig zu ihm um und sagte: »Du hörst! Wir ge hen zum Turnier nach London! Steh doch nicht so da wie ein nasser Haferhalm! Du bist mein Knappe; los, mach meine Rüstung bereit, sonst werden wir London nie zum Neujahrstag erreichen!« Artus schaute ihn einen Augenblick an, als wollte er ihm an die Gurgel springen. Doch dann dachte er: ›Das kommt nur daher, daß er erst seit kurzem Ritter ist. Wenn er sich erst einmal daran gewöhnt hat, wird er bestimmt anders sein.‹ Er war es schon gewohnt, Kays Verhalten bei sich zu entschuldigen. Und so schaute er nach dessen Rüstung, obwohl er wußte, daß Neu jahr noch weit weg war und ihnen noch genug Zeit blieb. Sie erreichten London am Neujahrsabend, während es in einem fort schneite. In der Stadt herrschte geschäftiges Treiben wie in einem Bienenstock, kurz bevor die Bienen ausschwärmen; so viele Edelleute und Ritter und Knappen und Diener sahen sie, daß sie schon dachten, sie könnten unmöglich noch ein Nachtlager finden. Doch dann fanden sie schließlich in einer Schenke noch eine freie Ecke. Am nächsten Morgen drängten sie sich durch die überfüllten Straßen in Richtung des Turniergeländes. Die ganze Welt schien denselben Weg zu haben, und es war ihnen, als würden sie von einem Flusse vorwärtsgetragen. Der Turnierplatz befand sich vor den Stadtmauern und war vom Schnee befreit worden, so daß er aussah wie ein grünlicher See inmit ten der weißen Landschaft. Um ihn herum standen die geschmückten Tribünen für die Zuschauer und die Zelte der Turnier-Teilnehmer; manche waren blau, andere smaragdfarben und wieder andere rot, manche buntgescheckt, andere gestreift. Und die Zuschauer drängten sich immer dichter zusammen, mitten durch die Menge wurden Pferde 19
hin- und hergeführt, und ihr Atem dampfte in die kalte Luft. Und Ar tus, der bisher nur seinen Heimatwald kannte, kam sich vor wie in ei nem schönen und etwas verwirrenden Traum. Doch gerade als sie das Turniergelände erreicht hatten, stellte Kay fest, daß er vor lauter Eifer und Aufregung sein Schwert in der Sche n ke vergesse hatte. »Das ist meine Schuld«, sagte Artus schnell. »Ich bin ein Knappe, und da hätte ich aufpassen müssen, ob du auch richtig ausgerüstet bist.« Kay, der eben dasselbe auf der Zunge hatte, konnte nur sagen: »Es ist reichlich spät, sich darüber zu streiten, wessen Schuld es ist. Reite schnell zurück und bring mir das Schwert nach.« Artus wandte seinen Rappen und ritt denselben Weg, den sie ge kommen waren, zurück. Doch nun mußte er gegen den Mensche n strom reiten, und als er die Schenke endlich erreicht hatte, waren Tür und Läden fest verschlossen, und alle Gäste waren längst fort, denn niemand wollte sich das Turnier entgehen lassen. ›Was soll ich nur tun‹, fragte sich Artus. ›Kay wird nur Spottworte und Gelächter ernten, wenn er ohne Schwert zum Turnier kommt; aber wie soll ich ihm denn in dieser fremden Stadt und in so kurzer Zeit ein Schwert verschaffen?‹ Und wie als Antwort auf diese Frage tauchte in seinem Geist das deutliche Bild eines Schwertes auf, das er in der Frühe im Garten der nahen Klosterkirche aufrecht in einem Stein hatte stecken sehen. ›Wo zu es wohl in dem Stein steckt? Ob es sich wohl herausziehen läßt?‹ fragte er sich und hatte seinen Rappen schon in Richtung der Kirche getrieben. Das Seltsame dabei war, daß er im selben Augenblick, als er an das Schwert dachte, dessen Bedeutung und den Grund, weshalb das Tur nier ausgerufen wurde, vollkommen vergaß. Vielleicht hatte dazu auch jener Bettler beigetragen, dessen seltsam leuchtenden Augen Ar tus einen Moment lang begegnet war, als er seinen Rappen von der verschlossenen Schenkentür wieder wegwandte. Denn gewiß, wenn er dies nicht plötzlich vergessen hätte, wäre er niemals auf den Gedan 20
ken gekommen, das Schwert aus dem Stein zu ziehen, nicht einmal Kay zuliebe… Als er den Garten der Klosterkirche erreicht hatte, stieg er vom Pferd, band den Rappen am Kirchhofstor fest und trat hinein. Zwi schen den Grabsteinen lag frischer Schnee, und inmitten der hochge wachsenen, schlanken Eiben schimmerte das rötliche Zelt wie eine Rose im Hochsommer, und das Schwert steckte einsam im großen Stein, denn auch die zehn Ritter hatten sich zum Turnier begeben. Da faßte Artus das Schwert mit beiden Händen beim Knauf. Auf dem Stein stand eine goldene Schrift, doch er machte nicht halt, um sie zu lesen. Das Schwert schien bei seiner Berührung leise zu klingen wie eine Harfe, wenn die Hand des Meisters über sie gleitet. Artus hatte ein seltsames Gefühl; es war ihm, als sei er gerade im Begriff, eine Wahrheit zu erfahren, die er vor der Geburt vergessen hatte. Das dünne Winterlicht war so bohrend hell, daß es ihm schien, als könne er es wie hohe, helle Töne in seinem eigenen Blute hören. Wie mit einem gewohnten Griff und wie aus einer gut geschmierten Scheide zog er das Schwert heraus. Er rannte zum Tor zurück, wo sein Rappe wartete, und eilte, so schnell er konnte, zum Turnierplatz. Die Straßen hatten sich inzwischen etwas gelichtet, so daß er Kay, der sein Pferd in einen Stall gegeben hatte und auf ihn wartete, bald einholte. »Das ist nicht mein Schwert«, sagte Kay, als ihm Artus die Waffe reichte. »Ich konnte es nicht holen, alles war verschlossen; zufällig stieß ich auf dieses da, im Kirchgarten, es steckte in einem großen Stein.« Kay betrachtete das Schwert noch einmal. Plötzlich war er ganz weiß im Gesicht. Dann trieb er sein Pferd an und bahnte sich durch die dichte Menge einen Weg zu Sir Ector, der bereits vorausgeritten war. Artus ritt dicht hinter ihm her. »Vater«, sagte Kay, als er Ector eingeholt hatte, »hier ist das Schwert aus dem Stein, hier in meiner Hand. Ich muß also der wahre König Britanniens sein.«
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Aber Sir Ector blickte seinen Sohn fest und zugleich freundlich an, blickte dann zu Artus und dann wieder zu seinem Sohn und sagte schließlich: »Wir wollen zur Kirche zurückkehren.« Und nachdem die drei von den Pferden gestiegen waren und den großen, hallenden Kirchraum betreten hatten, in dem überall die Neu jahrskerzen leuchteten, forderte Ector Kay auf, die Hand auf die Bibel zu legen, und sagte: »Nun sage mir die volle Wahrheit: wie bist du zu diesem Schwert gekommen?« Kay wurde ganz rot im Gesicht und sagte: »Mein Bruder Artus hat es mir gebracht.« Ector wandte sich zu seinem Pflegesohn und sagte: »Und wie bist du zu diesem Schwert gekommen?« Artus grübelte darüber nach, was Kay wohl meinte, als er sagte, er müsse der König Britanniens sein, aber da er sich noch immer nicht erinnern konnte, sagte er: »Kay schickte mich nach seinem Schwert, doch die Herberge war leer und verschlossen, so daß ich ganz ratlos war. Da fiel mir das Schwert im Kirchhof ein, und da es niemandem nützte, während Kay doch dringend ein Schwert brauchte, zog ich es heraus und brachte es ihm.« »Standen irgendwelche Ritter dabei, die Zeugen deiner Tat waren?« fragte Ector. Artus schüttelte den Kopf. »Dann«, sagte Sir Ector, »steck das Schwert jetzt wieder in den Stein.« Und nachdem Artus es wieder in den Stein gestoßen hatte, versuc h te Ector, es wieder herauszuziehen, doch das Schwert rührte sich nicht mehr. Dann befahl er Kay, es zu versuchen, doch hatte dieser keinen größeren Erfolg. »Zieh es nun selbst heraus, Pflegling«, sagte er. Und Artus, der sich über das ganze Getue wunderte, zog das Schwert so leicht wie beim ersten Mal wieder heraus. Da warf sich Ector vor ihm auf die Knie und senkte das Haupt, und dasselbe tat auch Kay, wenn auch etwas zögernd. Und Artus, der sich nun dunkel zu erinnern begann, sich aber dagegen sträubte, wurde 22
plötzlich von Angst befallen wie noch nie in seinem ganzen Leben und rief: »Vater – Kay – warum kniet ihr vor mir nieder?« »Weil du das Schwert aus dem Stein gezogen hast und Gott selbst bestimmt hat, daß das niemand wird tun können außer demjenigen, der der wahre König Britanniens ist.« »Nicht ich«, sagte Artus. »O nein, nicht ich!« »Ich wußte nicht, wessen Sohn du warst, als Merlin dich bei mir in Pflege gab, und habe es auch später nie erfahren«, sagte Ector. »Doch jetzt weiß ich, daß du von edlerem Blut bist, als ich jemals geahnt ha be.« »Steht auf!« sagte Artus. »Steht auf, Herr! Ich kann nicht ertragen, daß Ihr, der Ihr mir jahrelang Vater wart, vor mir knien sollt!« Und als sich Ector nicht erheben wollte, ließ sich Artus ebenfalls auf die Knie fallen, um wieder auf gleicher Augenhöhe mit dem alten Mann zu sein. »Ich knie nur vor meinem rechtmäßigen Herrn«, sagte Sir Ector. »Ich werde dir in allem zu Diensten sein und dir wahre Treue schwö ren. Doch sei ein gütiger Herr zu mir und zu Kay, deinem Pflegebru der.« »Kay soll der Verwalter all meiner Länder sein, wenn ich wirklich der König bin«, sagte Artus. »Und wie könnte ich denn etwas anderes als ein gütiger Herr sein, wenn ich Euch doch liebe. Im übrigen werde ich Gott und dem Britannischen Reich mit all meiner Kraft dienen. Doch steht jetzt endlich auf, ich halte das nicht mehr aus!« Und er be deckte mit den Händen das Gesicht und weinte herzzerreißend. Da standen Sir Ector und Kay und zuletzt auch Artus auf; und sie gingen zum Erzbischof und erzählten ihm, was geschehen war, und als sich die Kunde verbreitete, kamen die Ritter und Edelleute vom Tur nierplatz herbeigeströmt und verlangten, das Schwert ebenfalls ziehen zu dürfen, wie es ihr gutes Recht sei. Da steckte Artus das Schwert wieder in den Stein, und einer nach dem anderen versuchte es, aber vergeblich. Doch sie wollten keinen Jungen, der noch nicht einmal zum Ritter geschlagen war und dessen Abstammung im Dunklen lag, als ihren 23
König gelten lassen. Und so setzte der Erzb ischof noch einmal eine große Versammlung für Ostern und eine weitere auf Pfingsten an; zu beiden kamen die Edelleute in Scharen herbei, um es noch einmal zu versuchen. Doch außer Artus konnte keiner von ihnen das Schwert ziehen. Schließlich wurde das Volk des ewigen Probierens überdrüs sig und wollte Artus zum König haben. Da trug Artus sein Schwert auf beiden Händen zum Altar in der Klosterkirche und wurde vom Erzbischof zum Ritter geschlagen. Und noch am selben Tage setzte ihm der Erzbischof die Krone auf das Haupt. Schwer lastete sie auf seiner Stirn, mit dem ganzen Gewicht der Angst und der Verwirrung, die ihn seit dem Tage, als er das Schwert zog, nicht mehr verlassen hatten; und er mußte sich gehörig anstren gen, seinen Kopf hochzuhalten, als er sich zu den Rittern und Edelleu ten umwandte, die inzwischen den Kirchraum gefüllt hatten. Und während sich der Erzbischof Dubricius rechts neben ihn stellte, merkte er, wie jemand anders zu seiner Linken stand: es war ein großgewach sener Mann in einem dunklen Mantel und mit Haaren, die wie schwarze Federn aussahen. Artus wußte nicht, wer der Mann war, doch der Erzbischof wußte es offensichtlich, und auch Sir Ector, der in der Nähe stand, und viele andere Männer in der Kirche wußten es, und selbst jene, die es nicht wußten spürten die Kraft, die von ihm ausging wie das Licht von einer Fackel oder wie das leise Zittern der Luft, das sich nach allen Seiten fortpflanzt, wenn eine Trommel ge rührt wird. Es entstand eine leise Unruhe in der Menge, und dann machte ein Flüs tern die Runde. »Merlin! Es ist Merlin!« »Er war immer bei Uther und Ambrosius. Ich habe ihn oft gese hen!« »Es ist Merlin, der Zauberer!« Und einer der hohen Herren, dem viele Krieger unterstellt waren und der sehr gehofft hatte, selbst die Krone zu erringen, rief: »Es ist Merlin und nicht Gott, der uns diesen flaumbärtigen Jüngling zum König bestimmt hat.« 24
Und ein zweiter kläffte wie im Echo: »Ach, das ist doch nichts als Merlins täuschendes Zauberwerk, dieser Stein mit dem Schwert!« Alles war totenstill. Als Merlin langsam den Arm hob, konnte man den Ärmel zurückfallen hören. Tiefe Stille breitete sich im Kirche n raum aus. Nur oben zwischen den Pfeilern und dem hochgewölbten Dach schwebte ein leises Gemurmel, wie das Murmeln des Meeres in einer Muschel. Und in diese Stille hinein sprach Merlin die folgenden Worte: »So hört jetzt zu, Britannier, denn nun werdet ihr die Wahrheit er fahren. Eine Wahrheit, die viele Jahre vor euch verborgen gehalten wurde und die ihr jetzt hören dürft. Hier steht euer rechtmäßige r Kö nig, der wahre Sohn Uther Pendragons und seiner Königin Igraine; bestimmt, der größte König Britanniens zu werden; bestimmt, die Feinde des Reiches noch weiter zurückzudrängen, als es selbst Uther in seinen Tagen vergönnt war; bestimmt, ein Licht in alle Finsternis zu tragen, an welches sich die Menschen noch durch die Nebel langer Zeiten hindurch erinnern werden und das sie mit dem Reich von Lo gres verbinden werden. Er war von Gott bestimmt, nicht von mir, aber ich war dazu ausersehen, ihn zu erkennen, noch ehe er geboren war, ja sogar bevor sein Königsstern am Himmel erschien, und ausersehen, alles zu tun, um ihn sicher bis zu diesem Tag zu geleiten.« Und während er ganz aufrecht und ruhig dastand und nur die Hand leicht erhoben hielt, erzählte er die Geschichte vom Drachen am Himmel und von Artus' Geburt und wie er das Kind mitgenommen und es Sir Ector in Pflege gegeben hatte, so daß es unbehelligt von den Wirren nach seines Vaters Tod aufwachsen konnte, bis es an der Zeit war, Schwert und Krone zu ergreifen. Als er fertig war, ließ er den Arm sinken, und als ob dies ein Signal gewesen wäre, ging das Geschrei wieder los und wurde immer lauter und lauter, doch nun waren es Beifallsschreie, und alle schrien: »Uthers Sohn! Uthers Sohn!« Inmitten der Schreie und Rufe wandte sich die hohe Gestalt im dunklen Mantel zu dem Jüngling, der neben ihm stand, und schaute ihn an. Und Artus schaute zurück, in zwei seltsam leuchtende Augen, die mit keinen sterblichen Augen, die er jemals getroffen hatte, zu 25
vergleichen waren. Und doch, während er noch in diese Augen scha u te, erinnerte er sich einen Moment lang an den Bettler, dem er im Ein gang zur Schenke am Neujahrsmorgen begegnet war, und all das schien lange, lange Zeit zurückzuliegen, und dann mußte er auch an den wandernden Harfenspieler denken, der in der großen Halle seines heimatlichen Hauses beim Feuerschein gespielt und gesungen hatte, und auch an den wandernden Schmied und den verwundeten Soldaten, der aus dem Kriege kam. Doch diese Erinnerungsfetzen waren ihm entschwunden, noch ehe er sie fest ergreifen konnte. Aber zusammen mit ihnen war plötzlich auch alle Furcht und Bestürzung von ihm ge wichen. Zwar blieb die Trauer um den Verlust seines bisherigen Le bens noch immer bestehen, doch sie hatte keine Bedeutung mehr. Sein Kopf war auf einmal ganz klar, und in seinem Herzen fühlte er sich stark wie nie zuvor. Und er wußte, was immer er auch in seinem ne u en Leben würde tun müssen, er würde es können. »Sprich zu ihnen«, sagte Merlin. Und Artus ergriff das Wort und hob seine Stimme und sprach klar und deutlich zu allen Rittern und Edelleuten in der Kirche und zu den Menschen, die sich vor dem offenen Tor drängten, und zum ganzen britannischen Volk. »Ich bin euer König. Ich werde euch die Treue halten. Wenn dieses Pfingstfest vorüber ist, wollen wir unsere Kräfte sammeln und gemeinsam die Seeräuber und die Nordmänner, die un ser Land schon so lange verwüsten, zurückschlagen. Wir werden das Land von Krieg, Feuer und Schwert, die es seit dem Tode meines Va ters gespalten haben, befreien. Gemeinsam wollen wir für ein gutes Land sorgen, in welchem die Menschen nicht nur herrschen, weil sie stark sind, sondern in welchem sie stark sind, weil sie die Gerechtig keit und nichts Geringeres als sie lieben! Gebt mir eure Liebe und eure Treue, Britannier, und ich werde euch die meine schenken, so lange ich lebe!« Nun erhoben sich keine Schreie und Beifallsrufe mehr; tiefes Schweigen lag über dem ganzen Kirchraum. Aber es war ein gutes Schweigen; und die hohe Gestalt mit den leuchtenden Augen lächelte wie jemand, der sehr zufrieden ist.
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3 Das Schwert vom See Vom Tage der Krönung an war Merlin stets an der Seite des neuen Königs und stand ihm mit Rat und Tat bei, wie er das früher bei des sen Vater Uther getan hatte. Mit Merlins Beistand sammelte Artus seine Krieger und führte manchen Schlag gegen die Sachsen und Pik ten und die Männer von jenseits der irischen See. Und er führte seine Leute auch über die See-Enge nach Klein-Britannien, um dem König Ban und dem König Bors von Benwick Hilfe zu bringen, die einst Ambrosius und Uther nach deren Vaters Tod Schutz geboten hatten und die nun ihrerseits an den Landesgrenzen von Feinden arg bedrängt wurden. Und als nach diesen Kriegszügen eine friedliche Zeit anzubrechen schien, machte Artus Camelo t zu seiner Hauptstadt. Manche Leute meinen, daß am selben Ort, wo sich einst Camelot befand, heute Winchester liegt, andere behaupten, daß im heutigen Cadbury Hill die Reste des alten Camelot zu suchen seien. Aber nie mand weiß ganz sicher, an welcher Stelle sich einst Camelots Türme erhoben, ebensowenig wie man König Artus' letzte Ruhestätte kennt. Doch wo immer die Hauptstadt auch gelegen haben mag, weder Ar tus noch seinen Rittern war es vergönnt, lange in Frieden darin zu le 27
ben. Denn noch ehe der Lärm der letzten Schlacht ganz verklungen und die letzten Wunden ganz verheilt waren, schlossen sich in den Randgebieten und den Berggegenden Britanniens elf Fürsten mit ihren Kriegern zu einer kleinen Armee zusammen und zogen gegen Artus ins Feld. Es waren König Lot von Orkney und König Nantres von Garlot, König Anguish von Irland und König Idris aus dem fernen Cornwall und König Uriens aus Gore und noch sechs andere; und sie versammelten sich beim großen Wald im britannischen Mittelland und belagerten das große Schloß Bedegraine, welches eine von Artus' wichtigsten Festungen war, und wollten es zu ihrem Hauptquartier machen. Da ließ Artus auf Merlins Rat hin die Könige Bors und Ban aus Klein- Britannien benachrichtigen, worauf sie ihm mit ihren Kriegern zu Hilfe kamen. Gemeinsam gelang es ihnen, die Belagerung von Be degraine aufzuheben und die elf Fürsten zu besiegen. Sie trieben sie wieder in ihre eigenen Berge und über die irische See zurück, alle au ßer jenen, die um Frieden baten und dem König Treue schworen. Aber kaum waren Bors und Ban wieder in ihre eigenen Länder zu rückgekehrt, als von König Leodegraunce von Camelaird, der ein treuer Anhänger von Artus war, die Nachricht kam, daß er von Rience von Nord-Wales heftig bekriegt werde. Und wieder rief Artus die Truppen zusammen und zog für seinen Vasallen ins Feld. Sechs Tage lang mußten sie marschieren, und als Rience erfuhr, daß sich Artus' Männer näherten, lachte er und schwenkte seinen langen Feldmantel durch die Luft, der mit den Bärten der von ihm besiegten Könige und Prinzen gesäumt war. Und er wollte ihnen auf den Hän gen des Snowdon entgegentreten und sie besiegen. Doch als sie dann miteinander kämpften, waren es Riences Trup pen, die geschlagen und zerstreut wurden, und Artus zog als Sieger in die Stadt Camelaird ein. Und als er nach ein paar Ruhetagen mit seinen Leuten wieder süd wärts ritt, brachte er nicht nur einen neuen Sieg heim, sondern außer dem noch etwas viel Tieferes, obwohl es ihm noch nicht ganz bewußt war, etwas, was ihn sein Leben lang begleiten sollte. Denn zwischen den hohen Mauern des Schloßgartens hatte Artus zum ersten Mal Gi 28
nevra, die Tochter König Leodegraunces, erblickt. Sie saß mit ihren Zofen da, und die Frauen waren damit beschäftigt, aus Flieder und Akeleien und den kleinen Wildrosen mit den losen Blüten Girlanden zu flechten und sich ins Haar zu stecken. Das Haar der Prinzessin war rabenschwarz, doch da, wo die Sonne darauffiel, schimmerte es kup fern, und als sie einmal von den Blumen im Schoß aufblickte, bemerk te Artus, daß ihre Augen graugrün wie Weidenblätter waren und vo l ler kühler Schatten. All das sah er; doch sie war noch ein halbes Kind, und obwohl er selbst erst achtzehn Jahre alt war, kam er sich ganz alt vor, alt und müde von den vielen hart errungenen Siegen und den vielen Toten. Und obwohl sich beide einen langen, tiefen Blick zusandten, bevor Leodegraunce Artus in die Burg führte, blieb ihm während der Rück kehr in den Süden von dieser ersten Begegnung nichts anderes in Er innerung, als daß er ein Mädchen gesehen hatte, das im Garten des Königs Blumenkränze flocht. Und dennoch hatte sich seit diesem Augenblick etwas in ihm verän dert. Etwas in ihm, was in tiefem Schlaf gelegen hatte, begann sich zu regen: er verspürte eine leise Sehnsucht und wußte nicht, wonach. Mit der Zeit vergaß er alles wieder, doch nie ganz, bis er sich einst wieder ganz genau erinnern sollte. Artus ritt auf seine große, im Süden gelegene Burg Caerlon. Und während er sich hier aufhielt, spionierte ihm seine Halbschwester Margawse, die Gemahlin des Königs Lot von Orkney, nach, um ihrem Gemahl die Geheimnisse und die Stärken und Schwächen des Reichs zu verraten. Eines Tages war sie, ohne von jemandem erkannt zu wer den, als reisende Edeldame vor der Burg erschienen und hatte für sich und ihre Dienerinnen und ihre Wachen für eine Nacht Unterkunft er beten. Und Artus, der sie noch nie gesehen hatte, erkannte sie eben sowenig wie die anderen und hieß sie höflich willkommen. Merlin hätte ihn warnen können, doch gerade diesmal war er nicht bei ihm, denn er befand sich auf einer Reise in den Norden, wo er sei nen alten Meister, der ihn einst erzogen und unterrichtet hatte, besu chen wollte. Cabal, Artus' Lieblingshund, knurrte, als sich die Frau näherte, und richtete sich auf und berührte mit den Pfoten Artus' Hals, 29
doch dieser schenkte der Warnung keine Beachtung, sondern stieß ihn mit dem Absatz fort und ließ ihn aus dem Großen Saal entfernen, da mit er die Gäste nicht erschrecke. Am Abend veranstalteten sie zu Ehren der Dame ein fröhliches Fest im Großen Saal, und nach dem Mahl begannen die Harfenspieler zu spielen, und es klang köstlich und süß wie die Musik der sagenumwo benen Hohlen Hügel. Doch abends schien ein Gewitter bevorzustehen, bald war die Luft von Blitz und Donner erfüllt, doch die Fackeln in den Wandnischen brannten ruhig und ohne zu flackern. Da sprach die fremde Dame: »Herr, es ist hier drinnen kaum auszuhalten, man bekommt zuwenig Luft. Hat dieses Schloß einen Garten?« »Der Garten liegt hinter den Ställen«, sagte Artus, »es wird dort kühler sein.« »Wenn Ihr erlaubt, werde ich mit meinen Dienerinnen dort in der Dämmerung Spazierengehen.« So ging die Frau mit ihren Mädchen in den Garten, während die Harfenisten im Großen Saal weiterspielten und die Pagen die Schach bretter hervorholten und dann den Fußboden räumten für die Spiele, die die jungen Ritter und die Knappen nach dem Mahl veranstalten wollten. Doch nach einer Weile kam ein Page zu Artus und flüsterte: »Herr, die Dame bittet Euch in den Garten hinaus, denn sie hat eine Botschaft für Euch, welche sie Euc h, wie sie sagte, nicht vor allen Menschen hier im Saale mitteilen kann.« Artus erhob sich und verließ unauffällig den Saal, stieg die enge Mauertreppe hinunter und betrat durch den Hinterausgang den Schloßgarten. Die Luft fühlte sich an wie lauwarme Milch und war von einem süßen, schweren Jasmingeruch erfüllt, und der Vollmond schien bleich und verschwommen am dunstigen Himmel. Und am re benüberwachsenen Eingang zum Obstgarten wartete die Frau auf ihn, ganz allein, denn alle ihre Mädchen hatten sich offenbar entfernt. Königin Margawse war doppelt so alt wie Artus; sie hatte dem Kö nig von Orkney vier Söhne geschenkt, und Gawain, der älteste, war 30
nur etwas jünger als Artus selbst. Doch davon wußte Artus nichts, und es hätte ihn jetzt wohl auch kaum interessiert. Denn tief in seinem Herzen regte sich eine alte Sehnsucht und verbunden mit ihr ein Ge fühl tiefer Einsamkeit. Und Margawse war sehr schön. Wie schön sie war, hatte er schon beim Fackellicht im Saal bemerkt, und sie erschien ihm nun im lilafarbenen, verschwommenen Mondlicht noch schöner. Ihre Schönheit erinnerte an den Reichtum einer reifen Frucht, und den Falten ihres Gewandes und ihrem offenen Haar entstieg der Duft von Muskat und Rosenöl. Sie hielt ihm die Hände entgegen, und Artus ergriff sie und vergaß, sie jemals nach der Botschaft zu fragen, die sie im vollen Saale nicht über die Lippen brachte. Warum sie das tat, wird wohl nie jemand erfahren. Denn im Gege n satz zu Artus wußte sie wohl, daß sie beide miteinander verwandt wa ren – doch hatte sie sich in ihrem Leben nie um ein anderes Gesetz gekümmert als um das ihres eigenen Willens. Vielleicht wollte sie ei nen Sohn haben, der Artus eines Tages die Krone streitig machen könnte. Vielleicht tat sie es nur aus Rache, um das Alte Volk, dessen Blut stark durch ihre Adern rann, an den Herren über Bronze und Ei sen und an den Römern zu rächen, welche dieses Volk enteignet hat ten. Vielleicht war es, weil sie König Lot nie geliebt hatte und nun das Alter fürchtete, und Artus war jung und von stattlichem Aussehen. Vielleicht dachte sie auch, sie könne ihn auf diese Weise besser aus spionieren. Und vielleicht spielte all das zusammen irgendwie eine Rolle… Neun Monate später brachte Königin Margawse hoch oben im Nor den einen fünften Sohn zur Welt, und sein Vater war nicht Lot von Orkney, sondern König Artus. Da sandte sie Artus die Nachricht, daß sie ihm einen Sohn geboren habe und ihm den Namen Mordred geben und ihn eines Tages als Ritter an seines Vaters Hof in den Süden schicken werde. Und sie teilte ihm auch mit, wer sie war. Da wußte Artus, daß er etwas Verbotenes getan hatte. Zwar hatte er es ganz unwissentlich getan, doch er hatte es getan, und weder Tränen noch Gebete noch Reue konnten die Tat rückgängig machen. Artus 31
hatte sein eigenes Unheil heraufbeschworen, und so notwendig wie der Tag auf die Nacht folgt, würde es ihn einst ereilen. Drei schlaflose Nächte lang rang er mit dunklen Mächten in seinem Innern. Und als er einsah, daß er weiterleben und sein Reich, so gut er konnte, weiterre gieren mußte, versuchte er, nicht mehr an die Sache zu denken, bis ihn zur gegebenen Zeit das Schicksal wieder mit seiner Tat konfrontieren würde. Und er rief Pferde und Hunde herbei und ritt auf Jagd. Und obwohl der König immer wieder den Eindruck hatte, daß nicht der rote Hirsch, sondern er selbst der Gejagte war, bemerkte niemand et was davon. Nur jenen, die ihm am allernächsten standen, fiel auf, daß der König mit einem Male sein jünglinghaftes Aussehen verloren hatte. Doch noch mußten ganze neun Monate vergehen, bevor all das ge schah. Margawse war gerade erst nach Caerlon aufgebrochen, da kam eines Tages ein junger Knappe in den Schloßhof geritten, und neben dem eigenen führte er ein zweites Pferd mit, auf dessen Rücken ein eben erschlagener Ritter lag. Der Knappe ließ sich erschöpft aus dem Sattel fallen und rief: »Rache, mein König! Ein christliches Begräbnis für meinen Herrn, er war wahrhaftig ein guter Ritter! Rächt ihn an seinem Mörder!« »Das eine wird dir gewährt«, sagte Artus. »Das andere, sofern es gerecht ist. Wer ist der Mörder?« »König Pellinore«, sagte der Knappe. »Nur wenige Meilen von hier hat er bei einer Quelle neben der hochgelegenen Straße sein Zelt er richtet. Und alle, die dort vorbeikommen, fordert er zum Zweikampf heraus. Und so hat er meinen Herrn erschlagen. Ich bitte Euch, schickt einen Eurer Ritter hinauf, um mit Pellinore in den Kampf zu treten und meinen Herrn zu rächen!« Nun befand sich ein Knappe namens Gryflet am Hof, der etwa das selbe Alter wie Artus hatte. Und als er von der Sache erfuhr, kam er herbei und kniete vor dem König nieder und bat ihn um den Ritter schlag, damit er die Herausforderung annehmen könne. Und Artus betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und erinnerte sich, daß er stets ein guter Knappe gewesen war und wohl auch, falls er den Kampf überlebte, ein guter Ritter werden würde. »Aber du bist doch 32
viel zu jung für eine solche Herausforderung«, sagte er, »und noch nicht im Vollbesitz deiner Kräfte, während König Pellinore einer der stärksten und geschicktesten Kämpfer der ganzen Welt ist.« »Bitte, schlagt mich zum Ritter«, wiederholte der Knabe. »Ich hatte mich schließlich als erster gemeldet.« Und Artus stieß einen Seufzer aus und gab ihm den leichten Schlag zwischen Hals und Schulter und machte ihn so zum Ritter. »Und nun, Sir Gryflet, da ich dir verliehen habe, worum du batest, bitte auch ich dich um etwas.« »Was immer ich zu geben vermag.« »Ein Versprechen«, sagte Artus. »Versprich mir, nachdem du ein mal gegen Pellinore geritten bist, gleichgültig, ob du noch im Sattel bist oder zu Fuß oder gar verletzt, die Sache dabei bewenden zu lassen und ohne Umschweife hierher zurückzukehren.« »Ich will es versprechen«, sagte der junge Ritter. Und da er noch keinen eigenen Knappen hatte, holte er Pferd und Lanze selbst. Dann schnallte er sich den Schild auf die Schulter und verschwand wie der Blitz. Er ritt auf der heißen, trockenen Straße in seiner eigenen Staubwo l ke dahin und ritt durch den Wald, bis er die Quelle neben der Straße erreichte. Da sah er ein reich ausgestattetes Zelt und ganz in der Nähe ein gesatteltes und gezäumtes Pferd. Vom untersten Ast einer Eiche hing ein Schild herunter, der in bunten Farben bemalt war, und neben dem Schild stand eine Lanze. Er hielt das Pferd an, richtete sich in den Steigbügeln auf und schlug mit dem Ende der eigenen Lanze laut auf den Schild, wie es vor solchen Kämpfen üblich ist. So kräftig und so lange schlug er, bis der ganze Wald dröhnte und der prächtige Schild mit einem lauten Knall zu Boden fiel. Da trat König Pellinore in voller Rüstung aus seinem Zelt und frag te, ganz der Gepflogenheit gemäß: »Guter Ritter, weshalb schlagt Ihr meinen Schild herunter?« »Weil ich Euch zum Kampfe fordern möchte«, sagte Sir Gryflet. Da ließ König Pellinore die Höflichkeit fallen und sagte: 33
»Das solltet Ihr lieber nicht tun, denn Ihr seid noch jung und, wie mir scheint, erst seit kurzem Ritter; Ihr seid noch zu schwach, um es mit mir aufzunehmen.« »Ich will trotzdem mit Euch kämpfen«, sagte Gryflet. »Mein Wunsch ist es nicht. Doch wenn Ihr darauf besteht, muß ich darauf eingehe n. Aber wenn wir schon zusammen kämpfen müssen, möchte ich erst wissen, wessen Ritter Ihr seid.« »Ich bin ein Ritter des Königs Artus«, sagte der Junge. Da nahm König Pellinore Speer und Schild und stieg in den Sattel. Dann stell ten sie sich in der nötigen Distanz auf, wandten die Pferde, legten die Speere ein und jagten aufeinander zu. Gryflet traf mitten in Pellinores Schild, der in Stücke zersprang. Doch Pellinores Speerspitze drang durch Gryflets Schild und tief in seine linke Hüfte ein, wo der Speer abbrach, dergestalt daß die Eisenspitze im Körper steckenblieb, und Pferd und Reiter kamen mit lautem Getöse zu Fall. Dann stieg Pellinore vom Pferd, beugte sich über den verwundeten Ritter und lockerte seinen Helm, damit er etwas Luft bekomme. »Das ist ein Junge mit dem Herz eines Löwen«, sagte er, »und wenn er den Kampf überlebt, wird gewiß einmal einer der besten Ritter aus ihm.« Und ohne die Speerspitze herauszuziehen, half er Gryflet in den Sat tel, drehte den Kopf des Pferdes in Richtung auf Caerlon und jagte das Tier davon. Artus durchquerte gerade den äußeren Hof mit einem Falken auf der Faust, als das Pferd mit dem schwer verwundeten Ritter zurückkehrte. »Ich bin nur ein einziges Mal gegen ihn geritten, wie Ihr es gewünscht habt«, sagte Gryflet und fiel vor des Königs Füßen aus dem Sattel. Da wurde der König sehr böse, nicht nur auf König Pellinore, son dern auch auf sich selbst, daß er auf den Jungen gehört und ihm diese Männersache überhaupt erlaubt hatte (wobei er vergaß, daß er selbst ja nicht älter war). Nachdem er dafür gesorgt hatte, daß man Gryflet wegtrug und pflegte, ließ er sich von seinen Knappen rüsten und sein bestes Schlachtpferd bringen, und ohne jemanden als Kampfgefährten mitzunehmen, obwohl er von manchem Ritter darum gebeten wurde, machte er sich auf den Weg in den Wald, um Pellinores Herausforde rung selbst anzunehmen und die Verwundung seines jüngsten Ritters 34
zu rächen. Und er ritt mit geschlossenem Visier und mit zugedecktem Schild, so daß ihn niemand am blutroten Drachen darauf erkennen konnte. Nach einer Weile kam er zu dem prachtvollen Zelt neben der Que l le. Ein neuer Schild hing am Eichenast, und Artus schlug wie wild darauf, bis der ganze Wald dröhnte wie eine Glocke, die einen Riß hat. Und aus dem Zelt trat ein Ritter, der König Pellinore sein mußte. »Guter Ritter«, sagte Pellinore, »weshalb schlagt Ihr auf meinen Schild?« »Herr«, sprach Artus, »warum haltet Ihr Euch hier auf und laßt kei nen Mann durch, ohne ihn zum Kampf herauszufordern?« »Das ist eben meine Gewohnheit«, sagte Pellinore. »Wer mir das abgewöhnen will, soll es nur versuchen.« »Ich bin gekommen, um Euch das abzugewöhnen«, sagte Artus. »Und ich stehe hier, um meine Gewohnheit zu verteidigen«, sagte Pellinore ruhig unter seinem Helm. Dann ergriff er den neuen Schild und den Speer und bestieg das Pferd, welches ein Knappe herbeige bracht hatte. Und die beiden stellten sich in der nötigen Entfernung auf, wendeten ihre Pferde, sprengten in vollem Galopp aufeinander los und stießen mit einem Donnergetöse zusammen. Und beide trafen mit ten in den Schild des ändern, und die Speere zersplitterten. Da wollte Artus mit dem Schwert weiterkämpfen, doch Pellinore sagte: »Es ist noch zu früh für die Schwerter. Wir wollen es noch ein mal mit den Speeren versuchen.« »Das täte ich gerne«, sagte Artus, »wenn ich noch einen besäße.« König Pellinore schnippte mit dem Finger, und sein Knappe brachte zwei neue Speere und ließ Artus auswählen, und nachdem er sich ent schieden hatte, nahm Pellinore den anderen. Nun ritten sie zum zwei ten Mal aufeinander los. Und wieder brachen ihnen die Speere, und wieder wollte Artus mit dem Schwert weiterkämpfen. »Nein«, sagte Pellinore, »reiten wir noch ein weiteres Mal mit den Speeren, zu Ehren des hohen Ritterstandes, denn Ihr seid ein so treff licher Kämpfer, daß mir ganz warm wird ums Herz.« Da brachte der Knappe wieder zwei Speere, und zum dritten Mal jagten sie aufeina n 35
der los. Aber obwohl Artus' Speer diesmal nicht brach, traf ihn Pelli nore so heftig in die rechte Seite, daß er samt seinem Pferd mit lautem Krachen zu Boden stürzte. Artus sprang sofort auf die Füße und zog nun wirklich das Schwert, und Pellinore schwang sich aus dem Sattel und zog sein Schwert ebenfalls. Nun begann ein hitziger Zweikampf zwischen ihnen. Sie schlugen und stießen so heftig aufeinander ein, daß die Rüstungen bald Risse bekamen und das Blut herunterrann und den staubigen Kampfplatz wie ein rötlicher Regen verfärbte. Schließ lich stießen die Klingen so wuchtig zusammen, daß Artus' Schwert zerbrach und er nur noch den Knauf und einen Stumpf der fein gear beiteten blauen Klinge in der Hand hielt. Da stieß Pellinore einen lauten Triumphschrei aus. »Nun seid Ihr in meiner Hand, und ich kann Euch töten oder verschonen, wie es mir beliebt! Kniet nieder und erfleht als geschlagener Ritter meine Gnade, vielleicht werde ich Euch dann leben lassen!« »Zwei Dinge nehmt zur Kenntnis«, sagte Artus. »Den Tod werde ich empfangen, wenn er kommt, aber vor einem Menschen werde ich niemals niederknien!« Und er schleuderte seinen Schwertknauf fort, stürzte sich auf Pellinore, bückte sich, packte ihn im Schwingergriff bei der Hüfte und warf ihn zu Boden. Sie rangen eine ganze Weile miteinander im Gras; es war ein mühsamer Kampf, denn sie hatten beide noch die Rüstung an. Aber Pellinore war groß und stark, und Artus war noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte, genausowenig wie Gryflet. Und nach einer Weile erhielt Pellinore die Oberhand, riß dem jungen König den Helm vom Kopf und langte nach dem Schwert… In diesem Augenblick raschelte es im Schatten der Bäume bei der Quelle, und zwischen den Baumstämmen trat ein großer, dunkelhaari ger Mann mit leuchtenden Augen hervor, und der schwarze Mantel war am Saum fast weiß, vom Staub einer langen Reise. Und ein langer Schatten fiel im Abendlicht über die kämpfenden Gestalten, und Pellinore hielt inne und blickte auf. »Nein, laß dein Schwert liegen«, sagte Merlin. »Erschlägst du die sen Mann, so erschlägst du Britanniens einzige Hoffnung.« »Warum, wer ist er denn?« fragte Pellinore in plötzlicher Beson nenheit. 36
»Er ist Artus, der König.« Da bekam es Pellinore zum ersten Male in seinem Leben mit der Angst zu tun, denn Männer, die einen König umbringen wollen und denen es nicht gelingt, sollen oftmals einen furchtbaren Tod erleiden. Und wieder wollte er nach dem Schwert greifen. »Nein«, sagte Merlin, »das ist nicht nötig«, und er hob den Arm und zielte mit dem Zeigefinger auf Pellinore, und dieser stieß einen tiefen Seufzer aus, sank langsam ins Gras und blieb liegen, ohne sich zu rüh ren. Da wandte sich Merlin Artus zu, der so schwer verletzt war, daß er kaum stehen konnte, half ihm auf das Pferd, das in der Nähe stand, und ritt mit ihm fort. Doch Artus schaute auf die Gestalt zurück, die reglos neben der Quelle lag, und sagte: »Merlin, was hast du getan? Deine Zauberkraft hat den guten Ritter getötet. Das war wahrhaftig ein starker und tapfe rer Ritter, und ich opferte ein Jahr lang meine Krone, wenn er dafür wieder heil und lebendig würde.« »Sorge dich nicht um ihn«, sagte Merlin, »du stehst dem Tod näher als er, denn du bist schwer verwundet, während er nur geringfügige Verletzungen hat; und er schläft nur, in drei Stunden wird er erwa chen. Ja, diesem König Pellinore wirst du noch oft als Freund bege g nen, denn er wird dir ein tapferer Ritter werden und nach ihm auch sein Sohn.« Darauf brachte Merlin den König zu einem Einsiedler, der im Wal de hauste und sich in allen Heilkräutern auskannte, und schon nach drei Tagen waren Artus' Wunden so gut vernarbt, daß er wieder reiten konnte. Da begaben sie sich wieder nach Caerlon. Doch Artus ritt die ganze Zeit mit gesenktem Haupt. »Ich schäme mich«, sagte er, »denn ich habe kein Schwert.« »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte Merlin. »Dein altes Schwert hat seinen Dienst getan. Es hat dir dein Recht auf die Krone bewiesen und dir in den zahlreichen Schlachten, in denen du dein Reich zurückgewannst, treulich geholfen, doch nun ist es Zeit, 37
daß du dein eigenes Schwert bekommst. Zeit für Excalibur, dein neues Schwert, das dich bis ans Ende deiner Tage begleiten wird.« Immer tie fer und tiefer ritten sie in den Wald, auf Wegen, die nur die leichtfüßigen Hirsche kennen, bis sie schließlich auf allen Seiten von großen Hügeln umgeben waren und sich der Wald lichtete, und dann lag plötzlich das schilfbewachsene Ufer eines Sees vor ihnen. Und obwohl ein leichter Abendwind durch die Äste der Bäume hinter ihnen strich, war die Wasseroberfläche spiegelglatt, und auch die zar ten Nebelschleier, die den himmelblauen See umrahmten und das Ufer verbargen, schienen unbewegt. Und Artus kam es fast so vor, als ob der See gar kein Ufer hätte, obwohl in der Ferne die Hügel auftauc h ten, die sich nach Westen in den Himmel hoben. Auch hörte er keine Schreie oder Rufe von Seevögeln, die es doch hier geben mußte; nur eine tiefe Stille herrschte, wie er sie wohl noch nie erlebt hatte. »Was ist das für ein Ort?« fragte Artus mit flüsternder Stimme, als ob er sich fürchtete, die Stille zu stören. »Das ist der See«, sagte Merlin, »der See der Erhabenen Wesen, in dessen Mitte sich ihr Palast befindet, den keine sterblichen Augen se hen können. Dort drüben in westlicher Richtung liegt Ynys Witrin, die Glasinsel; sie heißt auch Avalen, das Land der Apfelbäume, die Schwelle zwischen der Menschenwelt und dem Land der wahrhaft Lebenden, dem Land der Verstorbenen…« Merlins Stimme schien näher zu kommen und sich wieder zu ent fernen, so daß Artus nicht sicher war, ob er diese Worte tatsächlich hörte oder ob es nur der leise Gesang des Windes in den Bäumen war. »Wahrhaftig ein seltsamer Ort«, sagte er. »Und nicht weit weg von hier liegt Camlann«, sagte Merlin neben ihm, dessen Stimme aus dem leise flüsternden Wind zurückgekehrt war und wieder tief und alt klang. »Camlann?« sagte Artus und fühlte eine plötzliche Kälte zwischen den Schultern. »Camlann, der Ort der letzten Schlacht… Doch das ist eine andere Geschichte, für einen ändern Tag, der noch in ferner Zukunft liegt.« Merlins Stimme wurde weicher, und er fügte hinzu: »Schau, dort ist das Schwert, das ich dir versprochen habe.« 38
Artus schaute in die angegebene Richtung und sah mitten im See einen Arm auftauchen, in einen weißen Samtärmel gehüllt und mit einem mächtigen Schwert in der Hand. Und dann bemerkte er auch eine Frau, deren dunkles Kleid und Haar sie wie Nebelschwaden zu umfließen schienen. Sie schwebte auf dem Wasser heran, doch ihre Füße hinterließen auf der spiegelglatten Fläche nicht die geringste Spur. »Wer ist das?« flüsterte Artus. »Das ist die größte aller Frauen des Sees. Sprich sie höflich an, und sie wird dir das Schwert geben.« Als die Frau das Ufer erreicht hatte und stolz wie ein Schwan im Schilf stand, stieg Artus vom Pferd, grüßte sie in aller Höflichkeit und fragte: »Edle Frau, wollt Ihr mir sagen, was für ein Schwert jener Arm dort drüben über dem Wasser in der Hand hält?« »Das ist ein Schwert, das ich lange gehütet habe. Möchtest du es haben?« »Ja gerne«, sagte Artus und blickte sehnsüchtig auf das Wasser hin aus. »Denn ich habe kein eigenes Schwert.« »Wenn du versprichst, seine Klinge niemals für eine ungerechte Sa che zu führen und es treu hütest, wie es dem Schwert von Logres ge bührt, so soll es dir gehören.« »Das schwöre ich«, sagte Artus. »Dann besteige nun«, sagte die Frau, »die Barke, die dich erwartet.« Und da sah Artus zum ersten Mal zwischen dem Schilf ein kleines Schiff liegen. Er stieg hinein, und sofort entfernte sich das Boot vom Ufer und glitt aus eigenem Antrieb und ohne eine Spur zu hinterlassen über das Wasser, bis es sanft wie eine Stute an der Stelle hielt, wo der Arm aus den Tiefen des Wassers herausragte. Artus streckte die Hand aus und sprach: »So Ihr erlaubt«, und nahm das Schwert in die Hand und staunte, wie das milchige Licht auf dem mit Gold und Edelsteinen verzierten Knauf und auf der reich verzier ten Scheide spielte. Und während er sein neues Schwert staunend be trachtete, versank der Arm im weißen Samtärmel lautlos im Wasser. 39
Und lautlos trug ihn das Boot wieder zum nahen Ufer zurück. Die Frau war spurlos verschwunden, als wäre sie nie dagewesen. Doch Merlin stand immer noch an derselben Stelle und hielt die Zügel des Pferdes in der Hand. Und Artus schnallte sich das Schwert an den Gürtel, bestieg das Pferd, und dann brachen die beiden wieder nach Caerlon auf. Unterwegs zog Artus das neue Schwert heraus und betrachtete es voller Liebe und ließ das Abendlicht über die glänzende Klingenflä che gleiten. »Excalibur«, sagte er ganz leise und dann noch einmal: »Excalibur«. Merlin betrachtete ihn von der Seite und fragte: »Was gefällt dir denn besser, das Schwert oder die Scheide?« Und Artus mußte über die Frage lachen, denn sie kam ihm närrisch vor. »Das ist eine ansehnliche Scheide, mit all diesen Goldfäden auf dem rötlichen Leder. Aber das Schwert ist ein Schwert, und das würde ich hundertmal vorziehen.« »Halte die Scheide dennoch in guter Hut und behalte sie immer in deiner Nähe, denn es wohnt ihr eine geheime Kraft inne, und solange sie sicher an deinem Schwertgurt hängt, wirst du, und magst du noch so sehr verwundet werden, keinen Tropfen Blut verlieren.« »Ich werde auf sie aufpassen«, sagte Artus und steckte die Klinge hinein. »Aber das Schwert gefällt mir trotzdem besser.«
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4 Die Tafelrunde Es dauerte nicht lange, bis der König von seinem neuen Schwert Gebrauch machen mußte. Denn im Frühling des darauffolgenden Jah res erfuhr er, daß Rience von Nordwales wieder eine Kriegstruppe ge gen ihn aufgestellt hatte. Und schon jagten in wildem Ritt seine Ba n den durch die Länder von Artus' Königen jenseits der Grenzen und verwüsteten deren Land. Und als ihm Artus bestellen ließ, er solle mit diesen Raubzügen aufhören, erhielt er von König Rience lediglich die Antwort, daß er zu seinen Lebzeiten schon mehr Könige bezwungen habe, als er an den Fingern seiner Hände abzählen könne, und daß er ihnen die Bärte abgeschnitten und seinen Mantel damit gesäumt habe, doch wolle er König Artus verschonen, wenn er den eigenen Bart freiwillig für seine Sammlung herschicke. »Das ist die unverschämteste Botschaft, die mir je zu Ohren ge kommen ist«, sagte Artus dem Boten. »Kehre jetzt zu deinem Herrn 41
zurück und richte ihm aus, daß es unklug ist, dem König von ganz Britannien derartige Botschaften zu schicken. Richte ihm auch aus, daß ich ihn bekriegen werde, falls er die Plünderungen nicht einstellt und zu mir kommt, um mir den Treueid zu leisten, wie es schon besse re Männer als er getan haben. Sonst werde ich ihn nicht nur in die Berge zurücktreiben. Diesmal werde ich seinen Königsmantel nehmen und mit dem Mantel nicht nur seinen Bart, sondern auch seinen Kopf.« Und indem er sich mit der Hand übers Kinn strich, fügte er lächelnd hinzu: »Und sag' ihm auch, daß ihm mein Bart noch nicht viel nützen würde.« Da kehrte der Bote zu seinem Herrn zurück. Und Artus sammelte seine Truppen und marschierte wieder in die Berge von Nordwales. Da stieß er schließlich auf Rience und viele rebellische Ritter und Truppenführer, die alle auf ihn gewartet hatten. Und Artus entdeckte unter seinen Feinden auch König Lot von Orkney, und das kränkte ihn sehr, aber in seinem Innern wußte er wohl, daß nicht Lot, sondern Kö nigin Margawse sein wahrer Feind war und daß Lot weniger aus eige nem Willen als auf ihr Betreiben hin da war. Einen ganzen Sommertag lang kämpften sie miteinander, und bald neigte sich das Schlachtglück dieser, bald jener Seite zu. Doch je lä n ger der Kampf dauerte, desto stärker kamen die Aufständischen in Bedrängnis, und als die Schatten der Männer und der Pferde und der Speere immer länger wurden, waren Rience und die Rebellenführer alle tot, außer König Lot, der immer noch weiterkämpfte, hartnäckig wie ein in die Enge getriebenes Wildschwein, immer dicht gefolgt von seiner Leibwache. Nun war es Sir Pellinore von Wales vom Schicksal bestimmt, daß er von Zeit zu Zeit auf eine wunderliche Jagd reiten und ein seltsames Tier verfolgen mußte; das hatte den Kopf einer Schlange und den Leib eines Leoparden und die Füße eines Hirschs, und aus seinem Bauch drang ein solcher Lärm, als hockten darin dreißig wütende Hunde. Und es geschah, daß ihn an jenem Tage seine Jagd gerade in die Berge führte, wo der Kampf stattfand. Und als er die Schreie und das Getöse der Waffen hörte und über den Staubwolken des Kampfplatzes die rot weiße Fahne Britanniens wehen sah, unterbrach er die Verfolgung für 42
eine Weile und stand König Artus bei. Er kam, als Artus gerade zu einem neuen Angriff gegen die Männer von Orkney ausholte. Er schloß sich Artus und seinen Rittern an, und er ritt, begleitet vom wü tenden Gebell seiner über dreißig Jagdhunde, tief in die feindliche Schar hinein, bis er auf König Lot von Orkney stieß, und versetzte ihm mit dem Schwert einen solchen Schlag, daß sich die Klinge durch Helm und Knochen fraß und König Lot aus dem Sattel stürzte und tot war, noch ehe er am Boden aufschlug. Da verloren Lots Anhänger allen Mut, und im Schütze der einbre chenden Dämmerung ergriffen sie die Flucht, und noch eine ganze Weile hallte das Gebell der sich entfernenden Hunde durch die Luft. Nun herrschte in Britannien eine Zeitlang Friede; und die Bewohner im Norden und Westen des Landes gaben eine Weile Ruhe, und selbst die Seeräuber waren über das Meer zurückgeflohen. Zwar gab es da und dort im Land immer noch verstreute Kriegsbanden, böse Ritter und wilde Männer, die in den Wäldern lauerten und zu jeglicher Schandtat bereit waren. Und die Bewohner der Berge erzählten sich nachts beim Feuer von längst vergangenem Unrecht und schürten so ihren Haß aufs neue. Dennoch hatte Britannien seit dem Rückzug der Römer kaum je eine so friedliche Zeit erlebt. Nun konnten die Männer etwas Atem schöpfen und sich überlegen, was für ein Leben sie führen wollten. Und die besten Ritter im ganzen Lande, von denen die meisten auf der Seite des Königs mitgekämpft hatten, zogen in die Hauptstadt Camelot. Da kamen alte Ritter wie Sir Ulpius und Sir Bleoberis, der Bannerträger; da kamen junge Ritter, die nach Ruhm dürsteten und gerne für eine ehrenhafte Sache kämpfen wollten, wie zum Beispiel Sir Bedivere und Sir Lucan und Sir Gryflet und Lamorack, der Sohn aus Pellinores erster Liebe, noch bevor dieser seine Königin geheiratet hatte, und viele unbescholtene Knappen, die aus der Hand des größten Königs der ganzen Christenheit den Ritter schlag zu empfangen hofften. Selbst Gawain, der älteste Sohn von Margawse und Lot, brach mit seinem jüngeren Bruder nach Camelot auf. Denn alle Söhne Margawses verließen ihre Eltern, sobald sie nur konnten – bis auf Mordred; doch das ist wieder eine andere Geschic h te. 43
Noch niemals, so sangen die Harfenspieler, hatte ein solcher König einen solchen Hof um sich versammelt. Da ließ Artus nach einiger Zeit eines Abends Merlin zu sich in das große Gemach über dem Saal rufen und sagte: »Meine Grafen und Edelleute bedrängen mich und wollen, daß ich ein Weib nehme. Gib mir deinen Rat, denn auf deinen Rat zu hören hat sich bisher immer gelohnt.« »Es ist ganz richtig, daß du ein Weib nehmen sollst«, sagte Merlin. »Denn nun bist du über zwanzig Jahre alt und der mächtigste König der ganzen Christenheit. Gibt es ein Mädchen, das du ins Herz ge schlossen hast?« Artus dachte nach. In Gedanken zogen die schönen Gesichter vieler Mädchen an ihm vorbei, und darunter befand sich auch die dunkelhaa rige Margawse mit ihrer reifen Schönheit, bis er auf eine Erinnerung stieß, die noch viel tiefer in seinem Herzen ruhte. Und er dachte an ein Mädchen mit glattem schwarzem Haar und mattschimmernden grau grünen Augen, das zwischen den hohen Mauern eines Schloßgartens aus Flieder und Kolumbinen und Rosen Girlanden flocht. Und er sag te: »Ginevra, die Tochter Leodegraunces von Camelaird.« Merlin schwieg eine Weile. Dann fragte er: »Bist du sicher?« Und Artus schwieg ebenfalls eine Weile. Durch das offene Fenster schwebte mit leisem Flügelschlag ein Falter herein und begann die Kerzen zu umflattern, die auf dem geschnitzten Kleiderschrank stan den. Dann sagte er: »Ich bin ganz sicher. Ich liebe die Prinzessin, ob wohl ich es erst jetzt weiß, und mein Herz wird ganz ruhig, wenn ich an sie denke.« Merlin, der ja in der Zukunft lesen konnte wie in einem Buch, hätte beinahe ausgerufen: ›O Unglück über mich! Sieh dich nach einem an deren Mädchen um. Denn wenn du die Prinzessin Ginevra heiratest, wird mit der Zeit Leid und Krieg und Tod über dich und über sie und deine besten Freunde und über das ganze Reich hereinbrechen.‹ Doch Merlin wußte, daß sich niemand der Schicksalsschrift entzie hen kann, die auf seiner Stirne steht, und er wußte, was auf Artus' Stirne geschrieben stand, so gut wie er wußte, was auf seiner eigenen stand. Und so sagte er nur: »Herr, wenn du dir nicht sicher wärest, 44
könnte ich viele ebenso schöne und gute Mädchen für dich finden, de ren Anblick dein Herz gerade so erfreuen würde. Doch ich kenne dich, und ich weiß, daß deine Liebe, wenn dein Herz einmal entflammt ist, nicht so bald wieder erlischt.« »So ist es«, sprach Artus. Und der Falter flog in das meerblaue Herz einer Kerzenflamme und stürzte mit versengten Flügeln ab. Am nächsten Morgen brach Merlin nach Camelaird auf, trat vor König Leodegraunce und sagte ihm, daß der König Britanniens um die Hand der Prinzessin Ginevra anhalte. Leodegraunce war außer sich vor Freude, als er das hörte, und sag te: »Das ist die schönste Botschaft, die ich je vernahm. Gewiß werde ich dem König meine Tochter zur Frau geben.« Und er fragte sich, welche Mitgift er Artus für seine Tochter geben sollte, denn an Lä n dern war der König ja schon überreich. Und nach einer Weile sagte er laut: »Als Mitgift will ich ihm etwas schenken, was ihm mehr bedeu ten wird als Ländereien oder Gold, ich will ihm nämlich die große, runde Tafel geben, die seinem Vater Uther gehörte und die Uther mir gegeben hat – und dazu hundert meiner besten und tapfersten Ritter«, fügte er mit einem leisen Seufzer hinzu. »An diese Tafel passen hun dertfünfzig Ritter, doch nach all den Kriegen, die ich mein Lebtag lang führen mußte, kann ich ihm nicht mehr als hundert mitgeben.« »Hundert werden genügen, denn Artus hat selbst viele gute Ritter. Er wird sich über Euer Geschenk freuen, und auch über das Mädchen, das Ihr ihm zur Frau gebt«, sagte Merlin und mußte leise in sich hin einlachen, denn er selbst hatte vor langer Zeit dieses Tafelrund für König Uther Pendragon mit eigener Hand gezimmert, so daß er wohl wußte, welche Zauberkraft es besaß. So wurde die runde Tafel für die Reise zerlegt und auf große Och senkarren geladen. Und auch die Prinzessin wurde reisefertig ge macht. Nach ihren eigenen Wünschen war sie von niemandem gefragt worden, doch sie erinnerte sich noch gut an den jungen Mann mit dem müden Gesicht und an den langen Blick, den sie im Schloßgarten ge tauscht hatten, und daran, wie sie damals, nachdem Artus wieder fort war, bemerkte, daß sie die Girlande in ihrem Schoß zerdrückt hatte. 45
Und obwohl ihr Herz nicht gerade Sprünge machte, war sie mit allem zufrieden. So brach Ginevra, begleitet von ihren Zofen, von Merlin und hun dert Rittern, gefolgt von den großen Ochsenkarren, die über die ausge trockneten Pfade holperten, zur Hochzeitsreise auf. Und drei Tage vor Pfingsten erreichte sie Camelot, wo sie von Artus erwartet wurde. Gi nevra ritt auf der Brücke mit ihren drei Bögen über den Fluß und die steilen Straßen der Stadt hinauf, und überall drängten sich die Men schen, um sie zu sehen, und zwischen den Dächern der Häuser zogen die Schwalben ihre Schleifen durch die Luft. Und Artus stand im äu ßeren Schloßhof und half ihr vom Pferd und führte sie in den Großen Saal. Nun wurde alles zur Hochzeit vorbereitet, die in drei Tagen stattfin den sollte. Und am Morgen des Hochzeitstages – welcher mit dem Pfingstfest zusammenfiel – kamen Gawain, der Sohn König Lots, und Lamorack, der Sohn König Pellinores, zu Artus und baten ihn, seine Ritter werden zu dürfen. Artus freute sich sehr darüber und schlug sie beide zu Rittern. Und als sich der König in die große Kirche von Sankt Stephan begab, befanden sich die beiden auch unter den Rittern, die ihm das Geleit gaben. Dann trat Ginevra ein. Sie trug für die Hochzeit und die Krönung weiße und goldglänzende Gewänder. Und nachdem die beiden Bi schöfe Ginevras und Artus' Hände ineinandergelegt hatten, nahmen sie ihr die weißen Blumengirlanden aus dem Haar und setzten ihr die goldene Königskrone auf. Hand in Hand schritt das Paar unter dem goldenen Baldachin, den vier Ritter mit den Speerspitzen über sie hielten, durch die überfüllten Straßen zum Schloß zurück, und aus der Menge tönten Jubelschreie, denn jedermann freute sich darüber, daß der König eine so schöne Königin gefunden hatte. Ginevra schritt mit hoch erhobenem Haupt dahin, obwohl die neue Krone viel schwerer war, als es die Blumengirlanden gewesen waren. Denn sie war sehr stolz darauf, daß Artus sie zu seiner Frau gewählt hatte. Und sie verspürte eine wachsende Zuneigung zu ihm, welche sie damals für Liebe hielt. 46
Im Großen Saal hatte man die Tafelrunde bereits aufgestellt. Das war ein Tisch in der Form eines riesigen Rades, dessen Inneres ausge spart blieb, so daß die Pagen und bedienenden Knappen hin- und her gehen konnten. Und darum herum standen wohlgeordnet hundertfünf zig Stühle mit hohen Rückenlehnen für die Ritter, und auf jeder Lehne leuchtete in Buchstaben aus purem Gold der Name des Ritters, für den der Sitz bestimmt war. »Gewiß hat noch nie ein König unter dem Himmel ein solches Hochzeitsgeschenk erhalten!« rief Artus aus. Und dann nahmen er und alle Ritter gemeinsam Platz, während die Königin mit ihren Zofen in einem anderen Raum feierte, denn es war im Britannischen Reich da mals noch Sitte, daß sich bei öffentlichen Anlässen Männer und Frau en nie an denselben Tisch setzten. Und nachdem alle Ritter ihre Plätze eingenommen hatten, wandte sich König Artus zu Merlin, der neben seinem Sitz stand, und sagte: »Was geschieht nun mit den vier Sitzen in dieser wunderbaren Runde, die, wie ich sehe, noch leer stehen?« »Sie werden zu gegebener Zeit schon besetzt«, sagte Merlin. »Der erste durch König Pellinore, der sich von der Jagd erholt, aber noch heute herkommen wird. Schau, sein Name steht bereits auf der Rük kenlehne, da, wo die Sonne darauf scheint. Der zweite Sitz wartet auf Sir Lancelot, den Sohn deines alten Verbündeten, des Königs Ban von Benwick. Er wird vor dem Morgengrauen des ersten Pfingsttages hier eintreffen. Er wird dein bester Ritter sein und dir am nächsten stehen, und von all deinen Rittern wird er dir am meisten Freude, aber auch am meisten Leid bereiten. Und der dritte Sitz ist für Percival be stimmt, den Sohn König Pellinores, doch er ist noch nicht geboren. Aber wenn er einst kommt, wird er wie ein hoher Sendbote ersche i nen, und sein Kommen wird das Zeichen sein, daß binnen eines Jahres das Geheimnis des heiligen Grals hier in Camelot offenbar werden wird, und dann werden alle Ritter die Tafelrunde verlassen und zur größten Suche aller Zeiten aufbrechen. Und dann wird alles den go l denen Strahlen der untergehenden Sonne zustreben… Doch noch ist es früher Tag.« Während einer ganzen Weile füllte tiefe Stille den Saal. 47
Dann sagte Artus: »Aber ein Sitz ist immer noch leer. Wer wird auf ihm sitzen?« »Das ist der ›Gefahrvolle Sitz‹«, sagte Merlin. »Er bringt jedem, der sich darauf setzt, sofort den Tod, bis derjenige kommt, für den er be stimmt ist und der sich zu Recht darauf setzt. Er wird kommen, wenn die Zeit erfüllt ist; das wird der letzte Ritter der Tafelrunde sein.« Und noch während Merlin sprach, erschien Sir Pellinore im Ein gang. Nachdem ihn alle willkommen geheißen hatten, wurde er zu seinem Platz geführt, und nun konnte das Festmahl beginnen. Und als das Mahl beinahe beendet war, drang aus dem Vorhof plötzlich ein lautes Hundegekläff, und für einen Augenblick glaubten alle, Pellinores Un geheue r stehe vor der Tür, doch noch während sich Pellinore von sei nem Sitz erhoben hatte, um hinauszugehen – denn er mußte dem Ruf dieses Tieres jederzeit Folge leisten -, kam ein weißer Hirsch in die Halle gerannt, und das Licht, das aus den hochgelegenen Fenstern he reinfiel, tauchte ihn in einen silbernen Glanz. Und dicht auf den Hirsch folgten eine milchweiße Bracke und ein kleiner Jagdhund, der fast ebenso flink und schön war. Und zuletzt stürmten über dreißig Jagdhunde mit lautem Gebell in den Saal. Der Hirsch jagte um den riesigen Tisch herum, und hinter ihm lief die Bracke, und dann folgten die bellenden schwarzen Hunde. Und als sie wieder zum Eingang kamen, sprang der Hirsch in einem großen Satz über Sir Abelleus, der nicht zur Tafelrunde gehörte und an einem Seitentisch speiste, hinweg zur Tür. Und Sir Abelleus konnte den wei ßen Hund noch packen, sprang von seinem Sitz hoch und verließ den Saal. Die Männer hörten noch die Hufschläge seines Pferdes, das durch das Schloßtor hinausgaloppierte. Und auch der Hirsch floh durchs Tor hinaus, und die keifenden und bellenden Hunde hinter ihm her. Und noch ehe der bestialische Lärm verhallt war, ritt auf einem weißen Zelter eine junge Frau in den Saal und rief dem König zu: »Herr, laßt mir nicht solche Kränkung widerfahren, denn die Bracke, die jener Ritter fortbrachte, gehört mir.« Doch noch ehe Artus ihr Flehen beantworten konnte, stürmte ein anderer Reiter in dunkler Rüstung auf einem Schlachtroß herein, pack 48
te den Zelter bei den Zügeln, zerrte ihn herum und zog das Pferd mit samt der Frau, die aus vollem Hals schrie und protestierte, aus dem Saal. Drei Herzschläge lang saß Artus wie versteinert da und starrte auf den Tisch. Denn die Frau hatte wahrhaftig ein fürchterliches Klagege schrei erhoben, und welcher Mann hat schon Lust, an seinem Hoch zeitstage in düstere Abenteuer verwickelt zu werden? Doch Merlin, der mit seltsam leuchtenden Blicken der Frau gefolgt war, sagte schließlich: »Das war nicht recht getan, eine junge Frau trotz ihrer Hilferufe in dieser Weise fortschleppen zu lassen, ohne ihr zu Hilfe zu eilen. Ein solches Abenteuer muß man bestehen, denn ihm auszuwei chen hieße, Schmach über dich und deine Ritter bringen.« Und da Artus wußte, daß Merlin recht hatte, sagte er: »Ich werde deinen Rat befolgen.« »Dann«, sagte Merlin, »schicke Gawain fort, um den weißen Hirsch einzuholen, und Sir Lamorack, um Sir Abelleus und die Bracke zu rückzubringen, denn es ist gut, wenn beide an diesem Tage ihre erste Bewährungsprobe als Ritter durchmachen. Und König Pellinore soll hinter der Frau herreiten und auch den Ritter zurückbringen, der sie entführt hat, tot oder lebendig.« Da wurden Sir Pellinore und die beiden jungen Ritter gerüstet, und aus den Ställen holten Knappen ihre Pferde, und dann brachen sie auf. Sir Gawain nahm seinen jüngeren Bruder Gaheris als Knappen mit und ritt mit ihm durch die Stadt und über die Brücke und dann in den Wald, immer dem von ferne ertönenden Hundegebell nach, bis die beiden schließlich zu einem großen Schloß kamen. Der Hirsch und hinter ihm zwei der Jagdhunde rannten über die Zugbrücke durch das Tor, und dann ritten Gawain und Gaheris, der direkt hinter ihm folgte, in den Schloßhof, und drinnen im Hof holten die Hunde den Hirsch ein und rissen ihn in Stücke. Da trat aus der Waffenkammer der Schloßherr hervor. Er war bis zum Helm in voller Rüstung und hielt ein nacktes Schwert in der Hand. Damit begann er, auf die Hunde einzuschlagen, und tötete sie einen nach dem ändern und schrie voller Schmerz und Wut: »Ver reckt, ihr Bestien, denn ihr habt mir meinen Hirsch getötet! Ach, me i 49
nen weißen Hirsch, den mir meine Dame geschenkt hat und den ich so schlecht pflegte!« »Haltet ein! Laßt diese Schlächterei!« schrie Gawain, der beim An blick der toten Hunde nun selbst plötzlich in Wut entbrannte. »Laßt Euren Zorn an mir aus, nicht an treuen Hunden, die nur ihrer Natur folgen und nur tun, wozu sie abgerichtet wurden.« »Das werde ich!« brüllte der Schloßritter. »Ich habe die Meute ge tötet, nun sind die beiden letzten Hunde an der Reihe.« Gawain schwang sich aus dem Sattel, und mitten im Hof stürzten die beiden Männer aufeinander los, als wären sie wirklich zwei Hun de, die sich gegenseitig an die Gurgel springen. Ihre Schwertklingen durchschlugen mehrere Male den Kettenpanzer, und der Schlachtge ruch stieg in Gawains Nase, und ein roter Schleier legte sich vor seine Augen, bis der Schloßritter, ohne daß Gawain wußte, wie es gesche hen war, zu seinen Füßen lag und um Gnade flehte. Gawain wußte, daß es gegen alle Sitte ginge, einen Ritter, der um Gnade fleht, zu töten, doch ihm war immer noch rot vor Augen, und so holte er mit seinem Schwert zu einem mächtigen Schlag aus und wollte dem Ritter den Kopf von der Schulter trennen; doch in diesem Augenblick warf sich die Schloßfrau, die vom Fenster ihres Erkers alles mitverfolgt hatte und heruntergeeilt war, über den Leib ihres Herrn, um ihn zu beschützen. Gawain konnte das Schwert in seinem Schwung nicht mehr rechtzeitig aufhalten und traf statt seinen Gegner ihren schlanken Hals. Da begann sich der rötliche Schleier vor Gawains Augen zu heben, und als er sah, was er angerichtet hatte, wurde er von einem entsetzli chen Schmerz ergriffen. »Steht auf«, sagte er zum Ritter. »Ich werde Gnade walten lassen.« »Die begehre ich nicht mehr«, sagte der Schloßherr, »denn Ihr habt mir me ine Liebe erschlagen, und nichts in der Welt kann mir diese ersetzen, nun ist es mir gleichgültig, ob ich lebe oder sterbe.« »Das betrübt mich sehr«, sagte Gawain, »denn der Schlag hatte Euch gegolten und nicht Eurer Gemahlin. Nun kann ich Euch nicht mehr töten. Erhebt Euch und geht zu König Artus nach Camelot und 50
erzählt ihm alles der Wahrheit gemäß. Sagt ihm, daß Ihr vom Ritter, der dem weißen Hirsch nachgeritten ist, geschickt seid.« Die Diener brachten ihrem Herrn schweigend das Pferd. Und ohne ein Wort zu sagen, stieg er in den Sattel und ritt fort. Sir Gawain blickte ihm nach und sagte mit rauher Stimme: »Ich bin ein miserabler Ritter, denn ich habe eine Dame erschlagen. Ach, hätte ich mit ihrem Herrn rechtes Erbarmen gezeigt, so wäre das Unglück nicht geschehen.« »Dies ist nicht der Ort, zu trauern«, sagte Gaheris, »denn ich gla u be, wir haben nicht sehr viel Freunde hier.« Im selben Augenblick stürzten sich vier Ritter des Hauses mit gezo genen Schwertern auf sie. »Steht nun Euren Mann und kämpft, statt Euch Eures Ritterstandes zu schämen!« rief einer von ihnen. Und ein zweiter schrie: »Ein Ritter ohne Gnade ist ein Ritter ohne Ehre!« Und der dritte rief aus: »Ihr habt eine schöne Frau erschlagen! Diese Schmach sollt Ihr bis ans Ende der Welt mit Euch herumschleppen!« Und der vierte brüllte: »Ihr sollt erfahren, was es heißt, um Gnade zu flehen, bevor Ihr hier wegkommt!« Und sie drangen auf Gawain und Gaheris ein, die Rücken gegen Rücken wie ein Mann kämpften und die Ritter, so gut sie konnten, abwehrten. Doch da sie an Zahl weit unterlegen waren, wurden sie schwer verwundet und gefangengenommen. Und die Schloßritter hät ten sie neben den toten Hunden und der toten Frau kurzerhand er schlagen, wenn nicht die übrigen Frauen des Hauses dazugekommen wären und für sie um Gnade gefleht hätten. Da warfen sie die beiden in ein enges Verließ, wo sie die Nacht verbringen mußten. Und als am anderen Morgen die älteste der Frauen, deren Haar un ter dem Schleier schon zu ergrauen begann, in das Verließ kam und hörte, wie beide Ritter vor Schmerz stöhnten, fragte sie Sir Gawain, wie es mit ihm stehe. »Nicht gut!« sagte Gawain. »Daran seid Ihr selber schuld«, sagte die alte Frau, »hättet Ihr die Herrin dieses Ortes nicht erschlagen, so wärt Ihr nicht so schwer ver wundet worden. Aber nun sagt mir, wer Ihr seid.« 51
»Ich heiße Gawain und bin der Sohn König Lots von Orkney und ein Ritter an Artus' Hof, und das hier ist mein Bruder Gaheris.« Da ging die Frau zu den Rittern des Hauses und sagte ihnen, daß die Gefangenen mit dem König verwandt seien. Da wurden sie um des Königs willen freigelassen und durften nach Camelot zurückkehren. Nur einen Vorbehalt machten sie: Gawain mußte zur Strafe die er schlagene Schloßfrau über den Sattel legen und mitnehmen. Und ihr abgeschlagenes Haupt mußte er an den blonden Haaren um seinen Hals hängen. So ritten die zwei Brüder traurig den weiten Weg durch den Wald, den sie vor zwei Tagen gekommen waren, wieder zurück. Unterdessen war Sir Lamorack Sir Abelleus und der Bracke nach geritten. Er war noch nicht weit gekommen, als sich ihm ein Zwerg in den Weg stellte und seinem Pferd mit einem Stab einen solchen Schlag in die Flanke versetzte, daß das arme Tier erschreckt den Kopf herumwarf und unter lautem Gewieher eine ganze Speerlänge weit rückwärts sprang und Lamorack einige Mühe hatte, es wieder unter Kontrolle zu bringen. »Warum habt Ihr mein Pferd geschlagen?« fragte Lamorack. »Damit Ihr hier nicht vorbeireitet, bevor Ihr mit den Rittern dort drüben in jenem Zelt getjostet habt«, sagte der Zwerg. Erst jetzt bemerkte Sir Lamorack, daß hinter den Bäumen neben dem Weg zwei Zelte standen und neben jedem Zelt ein gesatteltes Pferd; und neben jedem Pferd lag ein buntbemalter Schild mit einem Speer. »Ich habe keine Zeit für einen solchen Turnierkampf«, sagte Lamo rack. »Denn ich reite in einer Sache, die keinen Aufschub duldet.« »Trotzdem sollt Ihr hier nicht vorbeireiten«, sagte der Zwerg, führte das Horn, das ihm an einer Silberschnur von der Schulter hing, an den Mund und blies so kräftig hinein, daß es durch den ganzen Wald schallte. Aus dem ersten Zelt trat ein voll gerüsteter Ritter, der auf das war tende Pferd sprang, den Speer senkte und mit eingelegter Lanze auf Lamorack losstürzte. Lamorack wendete das Pferd, um den Angriff abzuwehren, und konnte dem Ritter mit dem Speer einen solchen Stoß 52
versetzen, daß er in hohem Bogen aus dem Sattel flog. Und bevor er sich wieder erhoben hatte, trat ein zweiter Ritter aus dem ändern Zelt, und Lamorack bereitete ihm denselben Empfang. Dann stieg er vom Pferd und beugte sich über die beiden Ritter, die ausgestreckt auf dem Torfboden lagen. »Fleht ihr um Gnade?«
»Wir flehen um Gnade«, hauchten sie mit letztem Atem.
»Dann werde ich Gnade walten lassen. Wie heißt ihr?«
»Ich bin Sir Felot von Landluck«, sagte der eine.
»Ich bin Sir Petipace von Winchelsea«, sagte der andere.
»Dann, Sir Felot und Sir Petipace, steht nun auf, besteigt Eure Pfer
de, reitet zu König Artus' Hof und sagt ihm, der Ritter, der auf der Su che nach der weißen Bracke ist, habe Euch geschickt. Gott behüte Euch und mich selbst.« Und als die Ritter fort waren und geschworen hatten, seinem Auf trag zu gehorchen, wollte Sir Lamorack aufs Pferd steigen und eben falls fortreiten. Da trat der Zwerg, der die ganze Zeit dabeigestanden und allem zugesehen hatte, zu ihm und sagte: »Herr, gewährt mir eine Bitte.«
»Wonach verlangt Ihr?« fragte Lamorack.
»Ich bitte Euch nur darum, in Eure Dienste treten zu dürfen, denn
ich möchte nicht mehr solchen kümmerlichen Rittern dienen. Wenn ich aber Euer Mann wäre, dann könnte ich Euc h sagen, wohin der Rit ter mit der weißen Bracke geritten ist.« »Dann sucht Euch ein Pferd aus«, sagte Lamorack und ließ seinen Blick über die Stuten schweifen, die frei unter den Bäumen standen, »und begleitet mich.« So ritten sie zusammen durch den frühsommer lichen Wald. Gegen Abend kamen sie wieder zu zwei Zelten, die am Wege auf gestellt waren. Neben dem einen Zelteingang stand ein milchweißer Schild und neben dem zweiten Eingang einer, der rot war wie Mohn. Sir Lamorack stieg vom Pferd, gab dem Zwerg die Zügel in die Hand, schritt zum Zelt mit dem weißen Schild und schaute hinein. 53
Und er sah drei junge Frauen, die schliefen. Dann ging er zum Zelt mit dem roten Schild, und als er eingetreten war, erblickte er eine schlafende Dame und zu ihren Füßen die weiße Bracke. Die Bracke begann sofort zu bellen und weckte die Dame auf, und schon kamen auch ihre Zofen herbeigeeilt. Und Lamorack fing die Bracke, die ihn ansprang, in der Luft auf, trug sie aus dem Zelt und übergab sie dem Zwerg, der draußen gewartet hatte. Und dann kamen auch die Dame und ihre Dienerinnen aus dem Zelt heraus. »Herr Ritter«, rief die Frau, »warum nehmt Ihr mir meine Bracke weg?« »Weil mir Artus aufgetragen hat, sie aufzuspüren und für eine ande re Dame, die behauptet, der Hund gehöre ihr, zurückzubringen.« »Das lügt sie, diese Frau! Das ist eine unritterliche Tat, und Ihr werdet nicht weit kommen, ohne dafür büßen zu müssen.« »Dann werde ich eben die üblen Folgen, die mir daraus entstehen könnten, so gut ich kann, auf mich nehmen«, sagte Lamorack. »Aber, hohe Frau, die Bracke muß ich haben.« Und mit diesen Worten stieg er aufs Pferd und ritt mit dem Zwerg nach Camelot zurück. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie heftige Hufschläge hinter sich hörten, und dann tauchte Sir Abelleus neben ihnen auf. »Herr Ritter«, rief er, »gebt mir die Bracke zurück, die Ihr meiner Frau gestohlen habt!« »Niemals! Nein, wenn Ihr sie haben wollt, müßt Ihr um sie tjosten.« Da legten sie die Speere ein und kämpften miteinander, zuerst zu Pferd, und als sie sich aus den Sätteln gehoben hatten, zu Fuß, bis Sir Lamorack die Oberhand gewann und Abelleus zu seinen Füßen lag. »Gebt nun auf und bittet um Gnade!« verlangte Lamorack. Doch der andere Ritter schrie: »Niemals, solange noch Leben in mir ist!« Und wieder vernahmen sie die Hufschläge eines herangaloppieren den Pferdes, und auf einem grauen Zelter kam eine Dame zwischen den Bäumen hervorgeritten und rief Sir Lamorack zu: »Edler Ritter, um des Königs Liebe willen, gewährt mir, worum ich Euch bitte.« 54
»Sprecht«, sagte Lamorack, während die Spitze seines Speeres im mer noch die Kehle von Sir Abelleus bedrohte. »Wenn ich kann, wer de ich Eure Bitte erfüllen.« »Dann gebt mir den Kopf von Sir Abelleus, denn er ist der schlimmste Mensch auf Erden und der allergrausamste Mörder!« Das betrübte Lamorack sehr. »Das war ein vorschnelles Verspre chen, das ich lieber nicht gegeben hätte«, sagte er. »Könnte er nicht Buße tun für das Unrecht, das er Euch angetan hat, und so Eure Gnade wiederfinden?« »Niemals!« schrie die Frau. »Denn er erschlug vor meinen eigenen Augen meinen Bruder, obwohl ich eine Stunde lang im Dreck gekniet und um Gnade gebeten hatte. Und das tat er nur, weil mein Bruder ihn in einem Turnier besiegt hatte.« Als Abelleus diese Worte gehört hatte, gab er nach und flehte um Gnade. »Dazu ist es nun zu spät«, sagte Lamorack. »Vorher wollte ich Gnade walten lassen, aber Ihr habt es abgelehnt.« Und er bückte sich, um Abelleus den Helm abzunehmen. Doch Abelleus wand sich zur Seite, sprang auf die Füße und ergriff die Fluc ht, und Lamorack rannte hinter ihm her und holte ihn zwischen den Bäumen ein und schlug ihm den Kopf ab. Nachdem er das Schwert mit einem Büschel Gras gereinigt hatte, kehrte er wieder zu dem Zwerg und zu der Dame auf dem Zelter zu rück. Da sagte sie freund lich zu ihm: »Herr, ich danke Euch. Doch jetzt seid Ihr sicher müde; begleitet mich zu meinem Haus, das ganz in der Nähe liegt, und eßt und schlaft bei mir. Morgen könnt Ihr dann nach Camelot zurückkehren.« Da begleitete sie Sir Lamorack, und er und der Zwerg wurden im Hause der Dame von ihr und ihrem Gemahl, einem alten Ritter, herz lich aufgenommen und bewirtet. Und die beiden Gastgeber dankten Lamorack dafür, daß er den Bruder der Frau gerächt hatte. Und sie beteuerten immer wieder, daß er in ihrem Hause jederzeit willkommen sei. 55
König Pellinore ritt abermals in anderer Richtung in den Wald hin ein, und als er nach einer Weile in ein sanftes Tal kam, fand er eine Quelle, die unter bemoosten Steinen hervorsprudelte. Neben der Que l le saß eine junge Frau, und in ihren Armen lag ein verwundeter Ritter. Als sie Sir Pellinore erblickte, rief sie ihm zu: »Helft mir, Herr Ritter! Um Christi barmherziger Liebe willen, helft mir!« Doch Pellinore hörte nur schlecht unter seinem Helm, und zu stark lockte ihn das Ziel seines Abenteuers, als daß er angehalten hätte. Und so gab er auch nicht acht auf die Worte, die ihm die Frau nachrief: »Gott möge Euch einmal ebenso hilfsbedürftig machen, wie ich es bin, bevor Ihr sterben müßt!« Pellinore ritt tiefer in das Tal hinein. Da vernahm er plötzlich Kampflärm, und als er auf eine Lichtung zwischen den Bäumen kam, sah er zwei Ritter wütend mit den Schwertern kämpfen. Der eine trug einen rabenschwarzen Harnisch, während der andere von Kopf bis Fuß in einer elfengrünen Rüstung steckte. Und in einiger Entfernung von den Rittern sah er die junge Frau, nach der er suchte, zwischen zwei Knappen wie eine Gefangene auf ihrem weißen Zelter sitzen. Er ritt zu ihr hinüber, hielt das Pferd vor ihr an und sagte: »Edle Frau, ich habe Euch auf allen Pfaden des Waldes gesucht. Nun müßt Ihr mit mir zu König Artus' Hof zurückkehren.« »Das würde ich gerne, wenn es sein könnte«, sagte die Frau, »denn es geschah keineswegs auf meinen eigenen Wunsch, daß mich der schwarze Ritter dort drüben aus dem Königs saal geschleppt hat.« Doch einer der Knappen unterbrach sie und sagte: »Die beiden Rit ter kämpfen um diese Frau. Geht zu ihnen und erbittet ihre Erlaubnis, und wenn Ihr sie von beiden erhaltet, dann mögt Ihr die Frau getrost zum Hofe mitnehmen.« Da ritt Pellinore direkt zwischen die beiden Kämpfenden und zwang sie innezuhalten und fragte: »Warum kämpft Ihr um diese Frau?« »Ich kämpfe, um sie aus den Händen dieses stinkenden Ritters zu befreien, der sie gewaltsam entführt hatte, denn sie ist Frau Nunue und ist mit mir ferne verwandt«, sagte der grüne Ritter. 56
»Ich kämpfe um mein Eigentum!« fluchte der Ritter in der schwar zen Rüstung. »Denn ich habe sie heute mit eigener Kraft und eigener Kühnheit aus Artus' Hof getragen!« »Ihr lügt!« sagte Pellinore. »Denn Ihr kamt in voller Rüstung, als wir friedlich und ungerüstet beim hohen Mahle saßen, und bevor ir gendein Ritter zu den Waffen greifen konnte, hattet Ihr sie schon da vongetragen! Deshalb habe ich mich auf Artus' Befehl auf die Suche gemacht, und nun werde ich sie mitnehmen, es sei denn, Ihr besiegtet mich.« Da richtete der schwarze Ritter sein Schwert auf Pellinores Pferd, stieß es dem Tier mitten ins Herz und lachte. »Dann kämpft um sie, aber zu Fuß wie wir beide.« Pellinore sprang auf den Boden, während sein Pferd unter ihm zu sammenbrach, riß das Schwert aus der Scheide und brüllte: »Das wer de ich! Und nicht nur für die Dame, sondern auch für mein armes Pferd!« Und als sich der schwarze Ritter auf ihn stürzte, hob er das Schwert und ließ es so schnell und mit solcher Wucht niedersausen, daß man es pfeifen hörte. Und das Schwert durchschlug Helm und Kettenpanzer und spaltete den Schädel des Mannes vom Scheitel bis zum Kinn, so daß er auf der Stelle tot auf die zertretene Erde fiel. Da wandte sich Pellinore dem zweiten Ritter zu. Dieser aber blickte nur müde von seinen Wunden auf und schüttelte den Kopf. »Was? Wollt Ihr nicht um sie kämpfen?« fragte Pellinore. »Nein, das ist nicht nötig. Von Euren Händen hat sie nichts zu be fürchten. Bringt sie zum Hof zurück, wie Euch befohlen wurde.« »Das werde ich tun«, sagte Pellinore, »und zwar auf dem Roß die ses toten Ritters.« »Nein, bleibt lieber die Nacht über bei mir. Morgen früh werde ich Euch ein besseres Pferd geben.« So kehrten Sir Pellinore und Frau Nimue mit dem Ritter in dessen Hause ein, und nachdem sie gemeinsam das Abendbrot eingenommen hatten, legten sie sich zu Bett. Am anderen Morgen wurde für Pellino re ein großes, schönes Schlachtroß geholt, und dann stieg er neben der Frau, die schon auf ihrem weißen Zelter saß, in den Sattel. 57
»Sagt mir Euren Namen, bevor Ihr mit meiner Verwandten fortrei tet«, bat der grüne Ritter. »Ich bin König Pellinore von Wales und ein Ritter der Tafelrunde. Nun ist es aber nur billig, daß Ihr mir auch Euren Namen nennt.« »Ich bin Sir Meliot von Logure.« »Falls Ihr je nach Camelot kommt, seid Ihr herzlich willkommen«, sagte König Pellinore. Und dann ritt er mit der Dame davon. Doch als er wieder zur Quelle kam, wo ihn die junge Frau um Hilfe angefleht hatte, fand er den verwundeten Ritter tot auf der Erde liegen, und neben ihm lag mit dem Kopf auf seiner reglosen Brust die Frau, und ihr helles Haar war ganz über ihn ausgebreitet, und tief in ihrem Herzen steckte der Dolch, den sie aus seinem Gurt genommen hatte. Bei diesem Anblick floß der ganze Stolz über den Erfolg seiner Su che aus ihm heraus wie Wein aus einem rissigen Becher. »Sie rief mich um Hilfe an«, sagte Pellinore, »doch ich war zu be schäftigt mit meiner eigenen Suche, um anzuhalten und ihr zu helfen.« »Und nun könnt Ihr ihr und ihrem toten Geliebten keinen anderen Dienst erweisen, als für ein ihnen gebührendes Begräbnis zu sorgen«, sagte Frau Nimue. »Nicht weit von hier wohnt ein Einsiedler. Bringt ihre Leichen zu ihm und bittet ihn, sie zu bestatten.« Pellinore stieg vom Pferd und legte den Ritter quer über den Sattel. Dann nahm er die Frau auf seine Arme und brachte beide zum Ein siedler und bat diesen, für das Begräbnis zu sorgen und als Lohn für seine Mühe den Harnisch des Ritters zu behalten. Danach ritt er mit der Dame nach Camelot weiter. Und unterwegs sagte er: »Sie war nicht schwer zu tragen«, und ritt mit gesenktem Kopf weiter. Dann stieß Sir Lamorack mit dem Zwerg und der Bracke zu ihnen, und später auch Sir Gawain, der mit trauriger Miene dahergeritten kam, denn quer über seinem Sattel lag der enthauptete Leib der von ihm erschlagenen Frau. Am Abend des Tages seiner Hochzeit und des Erscheinens des wei ßen Hirsches ergingen sich Artus und Merlin zusammen auf dem Schloßwall. Sie blickten über die Dächer der Stadt auf die bewässer 58
ten Wiesen und die glänzenden Schleifen des Flusses hinunter und weiter hinaus auf die Wälder, die sich in der Ferne im blauen Dunst der Sommerhitze aufzulösen schienen. »Bald, sehr bald werde ich dich verlassen«, sagte Merlin. Und Artus kehrte den fernen Wäldern den Rücken und schaute Mer lin verwundert an. »Merlin, warum denn?« »Weil die Zeit gekommen ist. Ich habe dir oft genug gesagt, daß die Zeit einmal kommen werde.« »Aber noch nicht jetzt! Ach, Merlin, was soll ich denn ohne deine Führung und deinen Rat tun? Was soll ich denn ohne dich tun?« »Wenn ich dich gut unterrichtet habe und wenn du gut gelernt hast, wirst du ohne mich auskommen.« »Aber du bist doch gar nicht alt«, sagte Artus, denn er hatte Merlin von der Seite betrachtet und sah, daß er so groß und aufrecht wie je war und seine Augen wie immer leuchteten; nur das dunkle Haar hatte da und dort aschfarbene Streifen bekommen. »Meine Art wird nicht alt, gemessen an den Jahren, die verstrei chen; sie wird nicht alt, so wie du es dir vorstellst. Aber ich bin müde und muß mit meinem Leben sparsam umgehen, und nun freue ich mich auf eine Ruhepause. Aber zuvor muß ich noch etwas erledigen. Während vieler Jahre habe ich dein Schicksal und früher das Schicksal deines Vaters geteilt. Aber nun muß ich me inem eigenen Schicksal folgen.« Artus sagte: »So sage mir wenigstens, was du noch vorhast.« »Die Frau, die gestern hinter dem weißen Hirsch in den Saal ritt und dann vom Ritter in der schwarzen Rüstung fortgeschleppt wurde: hast du sie nicht erkannt?« »Wie könnte ich denn?« sagte Artus. »Ich habe sie noch niemals gesehen.« »Es war Nimue, die Frau vom See, die dir dein Schwert gab.« Mer lin sah die Verwunderung auf Artus' Gesicht und lächelte. »Sie gehört zum Alten Volk und besitzt Verwandlungsfähigkeiten, die sogar mei ne eigenen übersteigen, denn ich bin zur Hälfte sterblich. Doch auch 59
ich bin ja oft zu dir gekommen in Gestalt eines alten Bettlers oder als Kind, das Brombeeren sammelt, ohne daß du mich erkannt hättest.« »Aber was hat sie denn mit dir zu tun?« »Ihr gehört meine Liebe«, sagte Merlin schlicht, »alle Liebe, die nicht schon dir gehört. Schon lange hat sie meine Liebe. Nun werde ich sie eine Weile begleiten und ihr all meine Weisheit und all meine Kunst offenbaren, denn sie soll mich ersetzen und dir dienen, wenn ich einmal dazu nicht mehr in der Lage sein werde. Und wenn sie alle meine Kräfte aufgenommen hat, wird sie mich mit einem meiner ei genen Zaubersprüche in tiefen Schlaf versenken… In einen ruhigen, langen Schlaf, in einer Höhle unter den Wur zeln eines ganz bestimm ten Weißdornbusches…« »Dann ist sie ja böse!« rief Artus entsetzt. »Böse, obwohl sie es war, die mir Excalibur gab! Und mit Excalibur werde ich sie töten, bevor sie dazu kommt, dir das anzutun!« »Nein, sie ist nicht böse«, sagte Merlin und schaute über die Wälder in das ferne, dunstige Blau. »Sie gehört zum Geschlecht der Erhabe nen, habe ich dir das nicht oft gesagt? Die Erhabenen Wesen sind we der gut noch böse, ebensowenig wie der Regen gut oder böse ist, der bald den Hafer zum Schwellen bringt und bald das ganze Feld verwü stet. Die Erhabenen sind einfach.« »Aber dennoch – bei deiner Macht, du kannst doch diesem Schick sal sicher irgendwie entgehen?« rief Artus ganz verzweifelt. »O ja; und dann würde ich bei dir bleiben – und meine Kräfte wür den langsam versagen. Aber das hieße, von der mir vorgezeichneten Bahn abzuweichen. Sie ist mein Schicksal, und in gewisser Weise ist sie auch das deine… Bald wird sie mit Pellinore zurückkehren, und wenn sie den Hof wieder verläßt, werde ich mit ihr gehen.« »So bald?« fragte Artus. »So bald«, sagte Merlin. Artus schwieg eine Weile und schaute den Schwalben zu, die wie Sicheln die Luft über den Burgzinnen durchschnitten. Dann sagte er: »Dieser Schlaf – wird er ewig währen?« 60
»Nein, nicht ewig. Wir werden beide wiederkehren, du und ich, wenn die Zeit und die Not uns dereinst rufen.« Artus schaute immer noch den Schwalben zu. Er fühlte die Wärme der Abendsonne auf dem Gesicht, und Cabals Schnauze liebkoste sei ne Handfläche, und er dachte an Ginevras Gesicht und an die Gesic h ter der Männer, die seine Freunde waren. »Wie werden sie aussehen, die Menschen, zu denen wir zurückkehren werden? Wie wird die Welt dann aussehen?« flüsterte er plötzlich voller Angst. Doch bevor Merlin antworten konnte, löste sich eine Gruppe von Reitern vom Waldrand und bewegte sich auf die Schloßbrücke zu. Und Merlin erkannte Sir Gawain und Sir Lamorack und Sir Pellinore; und daß Gawain etwas auf dem Sattel hatte, was einem Frauenkörper glich, und Lamorack von einem berittenen Zwerg mit einer weißen Bracke an einer langen Leine begleitet wurde, und neben König Pelli nore bemerkte er eine Frau auf einem Zelter, der so weiß war wie die Blüte eines Weißdornbuschs… An diesem Abend forderte Artus die Zurückgekehrten auf, noch be vor sich die übrigen Ritter zur Tafel setzten, von ihren Abenteuern zu berichten. Auch die Königin und ihre Zofen waren herbeigekommen, um zuzuhören, und nachdem die drei Männer alles erzählt hatten, sag te Ginevra: »Oh, Pellinore, eine traurige Geschichte erzählt Ihr da, denn obwohl Ihr ans Ziel Eurer Suche gelangtet, starb der verwundete Ritter neben der Quelle und ebenso seine Dame, die ihn so sehr liebte, daß sie ohne ihn nicht mehr leben konnte. Denn beide wären vielleicht am Leben geblieben, wenn Ihr auf den Hilferuf geachtet hättet.« »Wahrhaftig, so sehr war ich in meinen eigenen Absichten ver strickt, daß ich an gar nichts anderes mehr denken konnte«, sagte Pel linore. »Darüber werde ich bis ans Ende meiner Tage trauern.« »Wenn das wahr ist, werdet Ihr wohl nie me hr an jemandem vor überreiten, der Eure Hilfe braucht«, sagte der König. »Nun nehmt Eu ren Platz an der Tafelrunde ein – zusammen mit Eurem Sohn Lamo rack, denn auch er hat sich seinen Platz unter meinen Rittern wohl verdient.« Dann wandte sich Artus zu Gawain und sagte: »Und Ihr? Glaubt Ihr, daß Ihr es ebenfalls verdient, Euch zu meinen Rittern zu 61
setzen? Ihr, um dessen Hals das abgetrennte Haupt einer Dame hängt?« Gawain, der seine Geschichte als letzter erzählt hatte, stand vor dem König und wurde zuerst fa hlweiß im Gesicht, dann errötete er bis zu den Wurzeln seiner rötlichen Haare, und dann wurde er wieder krei debleich. »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich schwören will, in Zu kunft mehr Barmherzigkeit zu zeigen und um der Erschlagenen willen für alle Frauen zu kämpfen, die meiner Hilfe bedürfen, und wahrhaftig und in aller Ehre ihr Ritter zu sein.« Artus und Gawain schauten sich in die Augen; sie waren ja gute Freunde und beinahe gleich alt. Dann begann Artus zu lächeln. Noch stärker als sonst fühlte er, nach dem Gespräch, das er mit Merlin auf dem Burgwall gehabt hatte, wie sehr er seine Freunde brauchte. »Euer Name steht immer noch in Goldbuchstaben auf der Rückenlehne Eu res Sitzes. Seht Ihr? Nun kommt und nehmt Platz. Und denkt an den Schwur, den Ihr ge leistet habt.« Artus schaute zu Merlin hinüber, wie um ihn stumm zu fragen, ob er mit den drei Rittern richtig verfahren sei; er wußte ja, daß er Merlin in Zukunft nie mehr würde um Rat fragen können. Und Merlin antwortete mit einem leisen Lächeln. So also fand die Suche nach dem weißen Hirsch und nach der Brak ke und nach der jungen Frau, die in Wahrheit Frau Nimue war, ihr Ende. Und an diesem Abend nahm Artus die Gelöbnisse aller Ritter der Tafelrunde entgegen. Feierlich schworen sie, stets das Recht zu ver teidigen, allen Frauen in ritterlicher Art zu dienen und sie zu beschüt zen und allen Menschen gegenüber gerecht zu handeln. Außerdem gelobten die Ritter, immer für das Wohl des Britannischen Reiches und für die Ehre des Reiches von Logres zu kämpfen, das innerhalb Britanniens lebte wie die Flamme in der Lampe. Und schließlich schworen sie, sich selbst und einander und Gott stets die Treue zu ha l ten. Und nachdem Artus die Schwüre entgegengenommen hatte und man schon das Festmahl bereitete, trat Merlin zum König und legte ihm einen Augenblick den Arm auf die Schulter. Und als der junge 62
Regent fühlte, daß es eine Abschiedsberührung war und Merlin an schaute, sprach dieser: »Vergiß nie, was ich dich gelehrt habe.« Und dann wandte er sich zum Gehen und schritt durch den großen, von Fackeln erleuchteten Saal und verschwand im Dunkel der Nacht. Und zur gleichen Zeit erhob sich auch Frau Nimue und verließ die Zofen der Königin und begleitete Merlin aus dem Palast. Und nun waren die Plätze, auf denen die beiden gesessen hatten, leer.
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5 Das Schiff, der Mantel und der Weißdornbusch Da brach Merlin zusammen mit Nimue zu seiner letzten Wanderung auf, und immer, wenn er unterwegs müde wurde, bettete sie seinen Kopf auf ihren Schoß und sang ihn mit Liedern vom Alten Volk in den Schlaf. Und wenn er nach einer Weile erwachte, fühlte er sich wieder jung und frisch. Und immer wieder zeigte er ihr unterwegs – für jeden kleinen Beweis ihrer Liebe – etwas von seiner magischen Kunst, so daß ihre eigenen magischen Kräfte von Tag zu Tag zuna h men. So fuhren sie schließlich über das Meer und kamen ins Reich des Königs Ban von Benwick, der Artus einst geholfen hatte, als er von König Claudas angegriffen wurde, und später Seite an Seite mit ihm in der Schlacht von Bedegraine kämpfte. Nun hatte König Ban einen Sohn, der sich in seinem siebzehnten Sommer befand und sich auf den Ritterstand vorbereitete. Ihn hatte Nimue, als er noch ein Kind war 64
und das Reich durch Claudas arg bedrängt wurde, einst der Mutter weggenommen, um ihn in dem Palast der Erhabenen Wesen mitten im See aufzuziehen, bis die Gefahr vorüber wäre. Und zwar hatte sie das auf Merlins Rat hin getan. Denn Merlin wußte, daß aus diesem Kna ben einst der größte unter Artus' Rittern und der beste aller Ritter der ganzen Christenhe it werden sollte. Doch von alldem wußte der Junge nichts mehr, denn kein Sterbli cher, der einmal in den Hohlen Hügeln gewesen ist, kann sich später an diese Zeit zurückerinnern. Er würde sich sonst sein Leben lang in furchtbarer Sehnsucht verzehren, den Weg dorthin zurückzufinden. So kam Merlin also zusammen mit Nimue zum Palast König Bans. Er sprach mit dem König und mit der Königin Elaine und bat die bei den, ihren Sohn Lancelot sehen zu dürfen. »Was habt Ihr mit Lancelot vor?« fragte die Königin, die seit jenem ersten Male stets fürchtete, ihn noch einmal zu verlieren. »Er ist ja erst ein Knappe.« »Er soll etwas Größeres werden«, sagte Merlin. »Ich weiß gewisse Dinge von ihm, die mich nötigen, ihn jetzt zu sehen und mit ihm zu sprechen.« »Was für Dinge?« fragte der König. »Ich weiß, daß er auf den Namen Galahad getauft wurde«, sagte Merlin, »noch bevor er den Namen Lancelot erhielt. Ich weiß, daß Ihr eine Zeitlang befürchtetet, ihn zu verlieren. Doch seid unbesorgt, ich bin nicht gekommen, ihn Euch wieder wegzunehmen – jedenfalls nicht in der Art, wie Ihr befürchtet.« Da ließ der König, wenn auch mit einigem Widerstreben, seinen Sohn holen. Lancelot war gerade damit beschäftigt, einen jungen Falken abzu richten. Sein Lebtag lang hatte er mehr Freude daran, einen Falken ausfliegen zu lassen, den er selbst abgerichtet hatte, als einen, bei dem das ein anderer besorgt hatte, und wenn es ein noch so guter Züchter war. Wer einen Falken abrichten will, muß das Tier drei Tage und drei Nächte lang mit sich herumtragen, wo immer er hingeht, und beide dürfen kein Auge zutun. Wenn diese Feuerprobe glücklich überstan 65
den ist, hat sich ein so starkes Band zwischen Mensch und Vogel ge bildet, wie es niemals entstehen kann, wenn ein anderer die Dressur übernimmt. Nun hatten Lancelot und ›Sternschlag‹ gerade die zweite Nacht hin ter sich, als er von seinem Vater gerufen wurde. Lancelot wußte, daß er wieder ganz von vorne beginnen müßte, wenn er nun abbrechen würde, ja vielleicht wäre der Vogel auch für immer verdorben. Und so trug er den Falken noch immer auf der behandschuhten Faust, als er in den Saal seines Vaters und vor den fremden, schwarzhaarigen Mann und die ihn begleitende Frau trat. Als er die beiden und besonders die Frau genauer betrachtete, war ihm plötzlich, als ob er sie schon früher irgendwo gesehen hätte. Und in seinem Innern bildete sich für einen kurzen Augenblick eine Art Nebel, wie der Nebel, der über das Wasser eines Sees streicht, und in diesem Nebel stiegen undeutliche Erinnerungsbilder auf, die sich aber sogleich wieder auflösten, noch ehe er sie fassen konnte. Und Merlin richtete einen eindringlichen Blick auf Lancelot, und dessen Zukunft begann sich seinem inneren Auge zu erschließen. Lancelot war ein sehr häßlicher junger Mensch; selbst wenn er aus geruht war, war er häßlich. Das Gesicht unter dem dicken, bogenför migen schwarzen Haaransatz wirkte, wie wenn es jemand zusammen gesetzt hätte, dem es nicht darauf ankam, daß die beiden Hälften zu sammenpaßten. Die eine Mundhälfte war gerade, während sich die andere lustig nach oben wandte. Die eine der dicken schwarzen Brau en war flach wie ein Falkenflügel, während die andere in wildem Zickzack verlief wie das zerrissene Ohr eines Bastards. Bald schaute man in das Gesicht eines Kämpfers, bald in das eines verliebten jun gen Mannes, und die Hand, die nicht im großen Lederhandschuh steckte, sah aus wie die eines Schwertkämpfers. Und obwohl Merlins Herz ob Lancelots freud- und leidvollem Geschick, das ihm viel nä herging als irgendeinem anderen Menschen, blutete, erfüllte es sich auch mit einem warmen Stolze, denn es war ein großes Schicksal, dem der Junge gewachsen sein würde.
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Da sprach Merlin zu Lancelots Mutter: »Ah, so habe ich ihn mir vorgestellt. Eines Tages wird er der größte Ritter der ganzen Christen heit sein.« »Werde ich das noch erleben?« fragte die Königin. »Gewiß werdet Ihr das erleben, und noch viele Sommer und Winter dazu. Aber obwohl er in Benwick gerade so berühmt sein wird wie anderswo, wird er nicht bei Euch bleiben.« Und dann sagte er zu Lancelot: »Bevor Ihr achtzehn Jahre werdet, sollt Ihr noch vor dem nächsten Osterfest zu König Artus nach Came lot gehen und ihn bitten, einer der Ritter der Tafelrunde werden zu dürfen.« Lancelot rührte sich nicht, aus Furcht, er könnte den Falken auf der Faust verscheuchen. »Oft und oft hat mir mein Vater von Artus Pen dragon erzählt und wie er Seite an Seite mit ihm in der Schlacht von Bedegraine kämpfte. Und in manchen Winternächten setzten sich die Harfenspieler neben das Feuer und sangen von seinen Taten. Nichts in der Welt würde ich lieber tun als zu ihm gehen und ihn bitten, mich zum Ritter zu machen. Aber warum sollte er mich dessen denn für würdig erachten? Ich bin noch ganz unerprobt.« »Vielleicht wird er es schon der Kämpfe wegen tun, die wir ge meinsam erlebt haben«, sagte König Ban, der bisher ruhig dagesessen und zugesehen hatte. Merlin aber riet: »Sagt ihm, daß Ihr von Merlin gesandt seid und daß dieses die letzte Tat ist, die er verrichten wollte, bevor er sich un ter den Weißdornbusch zur Ruhe legt. Er wird Euc h den Ritterschlag geben und auch Euren Platz an der Tafelrunde.« Und große Freude überstrahlte Lancelots häßliches Gesicht. Merlin erhob sich, um mit Frau Nimue wegzugehen. Doch bevor Nimue mitging, trat sie ganz nahe an Lancelot heran, so nahe, daß es ihm seltsam vorkam, und schaute ihm tief in die Augen, und Lancelot blickte in zwei sanft bewegte, leuchtende Wasser, und wiederum schien sich seine Erinnerung zu verschleiern. Und später mußte er immer wieder daran denken, daß der Falke weder weggeflogen war noch Nimue angegriffen hatte. 67
»Du warst zuerst Galahad und nun bist du Lancelot«, sagte Nimue mit einer Stimme, die ihn an Wellen erinnerte, die Schilfrohre und Seegräser umspielen, »und wenn du zu Artus' Hof gekommen bist und den Ritterschlag erhalten hast, sollst du dich beim dritten Namen ne n nen, den ich dir jetzt geben will: nenne dich fortan Sir Lancelot vom See.« Und als sich der Nebel in seinem Innern wieder aufgelöst hatte, wa ren Merlin und Nimue verschwunden. Und Merlin und Nimue durchwanderten auf ihrem Wege viele Orte und Täler und Wälder, und manchen See überquerten sie, und Merlin brachte ihr unterwegs seine ganze Zauberkunst bei. So kamen sie schließlich nach Cornwall, wo jetzt an Stelle des Herzogs Gorloise von Tintagel König Marke regierte. Und genau zur vorherbestimmten Zeit erreichten sie den Weißdornbusch, der in voller Blüte stand und die Abendluft mit einem süßen Duft erfüllte. Da legte sich Merlin unter den Busch und bettete den Kopf in Ni mues Schoß, und sie löste ihr langes schwarzes Haar, das nun um die beiden eine Art von Vorhang bildete. Und dann begann sie, magische Weisen zu singen. Merlin war es, als hörte er das Summen der wilden Bienen auf den hügeligen heimatlichen Weiden aus der Zeit seiner Jugend herübertönen. Und dann sank er in einen Schlaf, der tiefer und ruhiger war als aller Schlaf der Sterblichen. Und als Nimue bemerkte, daß er sich in tiefem Zauberschlaf befand, erhob sie sich, um einen neuen Zauber zu vollführen, einen Tanzza u ber. Sie zog mit ihren Schritten einen Kreis nach dem ändern um den ganzen Busch. Neunmal umtanzte sie ihn, und während sie tanzte, öffnete sich zwischen den Wurzeln eine Höhle, und das Gras und die Steine und die verschlungenen Wurzeln hoben sich in die Höhe und bildeten ein Dach, bis auch die letzte offene Stelle zugedeckt war. Und nun lag Merlin inmitten der Höhle, und nichts verriet den Ort, wo er lag, als ein Weißdornbusch, der auf einem steinigen Erdwall wuchs. »Ruhe hier, bis es Zeit ist für ein neues Erwachen«, sagte Frau Ni mue, nachdem der Zauber vollbracht war, und ging ihres Wegs. Ungefähr zur selben Zeit ritt Artus durch den Wald im Westen von Camelot in die Berge zur Jagd, zusammen mit Sir Accalon von Galli 68
en und König Uriens, dem Gatten Morgans der Fee. Denn obwohl Merlin Artus oft vor Morgan gewarnt hatte, weil sie eine Hexe sei und ihm schaden wolle, wo sie nur könne, liebte Artus die Gesellschaft seiner Halbschwester und ihres Gatten sehr. Drei Tage lang dauerte die Jagd der drei Männer, und so gelangten sie immer weiter nach Westen. Am dritten Tage erspähten sie einen mächtigen Hirsch und jagten so weit und so schnell hinter ihm her, daß sie dabei ihre Rosse zu Tode ritten. Das kann im Laufe einer hitzigen Verfolgung nur zu leicht geschehen, denn das Herz eines guten Pferdes möchte immer etwas mehr leisten, als es vermag. Es wurde allmählich Abend, und da der Wald keine gute Herberge für unberittene Männer ist, zogen sie weiter, in der Hoffnung, die Hüt te eines Einsiedlers oder eines Kohlenbrenners zu finden. Da lichtete sich der Wald vor ihnen, und sie kamen zum Ufer eines breiten Sees. Und an dem Ufer lag der von ihnen gejagte Hirsch tot da, umringt von den bellenden Jagdhunden. Die Jäger scheuchten die Hunde weg und betrachteten eine Weile stumm das tote Tier. Dann setzte Artus das Jagdhorn an die Lippen und blies in langgehaltenen, traurigen Tönen eine Melodie auf den Tod des Hirschs, und die Echos schwebten durch den schattigen Wald. Und als sie schließlich verhallt waren, machten die Hunde kehrt und jagten den Weg allein zurück. Da tauchte in einer Lücke hinter einer kleinen Landzunge des erle n bewachsenen Ufers ein kleines Schiff auf und bewegte sich rasch und aus eigener Kraft aufs Ufer und die drei Jäger zu, wie ein gut abge richteter Hund, der auf den Pfiff seines Herrn herbeieilt. »Ihr Herren«, sagte Artus, »wir wollen dieses Schiff besteigen, denn es wäre eine traurige Sache, sich von einem Abenteuer abzuwenden, das sich so reizend anbietet.« Während die Männer das Schiff bestiegen, bemerkten sie, daß es sehr schön und mit kostbaren, reich geschmückten Seidenstoffen be hangen war. Doch fanden sie sonst niemanden an Bord. Und sowie sie alle drei an Deck standen, entfernte sich das Schiff wieder vom Ufer, obwohl kein Mensch am Steuerruder saß und niemand die Segel be diente. Und langsam brach die Nacht herein, doch plötzlich flammten zu beiden Seiten des Schiffes hundert Fackeln auf, so daß es vom Bug 69
bis zum Heck in goldenem Glänze erstrahlte. Und aus dem Schiffsin nern stiegen zwölf Frauen herauf, schöner als die Männer je welche erblickt hatten. Und sie begrüßten Artus und seine Gefährten und hie ßen sie freudig willkommen und brachten ihnen solch köstliche Spei sen und solch erlesene und wohlriechende Weine, daß Artus dachte, er habe noch nie ein so reiches und üppiges Mahl vor sich gehabt. In fröhlicher Laune langten die Männer zu, und als sie schließlich satt waren, wurde ein jeder von einer der Frauen in eine Kammer hinun tergeführt, die für sie bereitet war. Und sie legten sich in Betten, so weich, daß sie den Eindruck hatten, auf dicken, übereinandergestapel ten Wolken zu schweben. Und ihre Ohren wurden von süßen Melodi en umsäuselt, und mit den leisen Klängen vermischte sich das Zischen des Wassers, das das Schiff umschäumte. So schlummerten sie ein, und bald fielen sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als am anderen Morgen König Uriens erwachte, fand er sich in sei nem eigenen Bett zu Hause in Camelot, und er wunderte sich sehr und fragte sich, wie er wohl dorthin gelangt sei. Und als er zu seiner Frau Morgan hinüberschaute, fand er sie noch schlafend, doch auf ihrem Gesicht lag ein leises Lächeln, als wüßte sie um ein Geheimnis, das sie nicht preisgeben wolle. König Artus fand sich am Morgen in einer finsteren und abscheuli chen Grube wieder und vernahm das Stöhnen und die Seufzer vieler anderer Männer. »Wer seid ihr, daß ihr so kummervoll stöhnt und seufzt«, fragte er, sobald er wieder bei vollem Bewußtsein war. »Wir sind zwanzig Ritter und sitzen hier gefangen, manche von uns schon seit sieben Jahren«, antwortete einer der Männer. »Aus welchem Grunde?« fragte Artus. Und ein anderer antwortete: »Sir Damas, der Herr dieses Hauses, ist ein grausamer und ungerechter Tyrann, der seinem jüngeren Bruder Sir Ontzlake seinen Anteil am väterlichen Erbe verweigert. Sir Ont z lake hat schon oft vorgeschlagen, mit seinem Bruder um die Länder, die ihm zustehen, einen Zweikampf zu führen. Doch Sir Damas weiß, daß er ihm weder mit Schwert noch Lanze gewachsen ist und verlangt deshalb, daß die Sache von anderen Kämpfern für ihn ausgetragen 70
wird. Doch kein Ritter, den er gefragt hat, wollte für ihn kämpfen. So begann er allmählich alle Ritter zu hassen, und dafür hat er in den letz ten sieben Jahren alle, die sein Gebiet betraten, gefangengenommen und in diese stinkende Grube geworfen. Schon viele Ritter sind hier elend verendet, und uns, die wir noch übrig sind, erwartet dasselbe Schicksal, wenn nicht bald Hilfe kommt.« Noch während der Mann sprach, kam eine Frau die finstere Treppe herunter, mit einer Lampe in der Hand, denn nur wenig Tageslicht drang in den Kerker. Und sie sagte zu Artus: »Edler Herr, wie steht's mit Euch?« »Das kann ich kaum sagen«, sagte Artus, »auch weiß ich nicht, wie ich an diesen Ort gelangt bin.« »Es kommt nicht darauf an, wie Ihr hierhergekommen seid«, ant wortete die Frau, »aber wenn Ihr befreit werden wollt, müßt Ihr für meinen Vater in den Kampf treten und Euch dem Manne entgegenstel len, den sein Bruder heute hierherschickt. Der Sieger wird Herr all dieser Länder werden.« Artus schwieg. Noch nie hatte er in einer ungerechten Sache ge kämpft. Doch er war noch jung und hatte heißes, frisches Blut in den Adern, und dann dachte er an ein Leben in diesem finsteren Loch, fernab vom Licht der Sonne, und an die Gesichter seiner Freunde und daran, wie herrlich es war, ein Pferd unter sich zu spüren. Und dann dachte er auch an das Schicksal der zwanzig Männer, die mit ihm im Verlies waren. »Ich werde für Euren Vater kämpfen«, sagte er schließlich, »falls Ihr mir schwört, daß ich zusammen mit diesen zwanzig Rittern freige lassen werde, gleichgültig, ob ich gewinne oder verliere.« »Das verspreche ich Euch«, sagte die Frau. »Dann bin ich zum Kampfe bereit; nur daß mir dazu noch Roß und Rüstung fehlen.« »Roß und Rüstung werdet Ihr bekommen, und zwar die besten im ganzen Lande.«
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Als Artus ihr Gesic ht im Schein der nach oben leuchtenden Lampe betrachtete, glaubte er, die Frau schon einmal gesehen zu haben. »Wart Ihr je an König Artus' Hof?« fragte er. »Nein, ich bin nur die Tochter von Sir Damas. Ich war noch nie am Hofe«, sagte sie. Damit hatte sie gelogen, denn sie war eine Dienerin von Morgan der Fee. Doch Artus schenkte ihr Glauben, denn er war ein schlichter und vertrauensseliger Mensch. Und die leise warnende Stimme, die er eben in seinem Innern vernommen hatte, verstummte wieder. Und er folgte ihr die Treppe hinauf und trat durch die Tür in das helle Tageslicht hinaus. Zur gleichen Zeit, als Artus in seinem Verlies erwachte, fand sich Sir Accalon von Gallien neben einem tiefen Brunnen im Hofe eines mächtigen Ritterschlosses. So nahe beim Brunnen wachte er auf, daß er sich im Schlafe nur ein bißchen hätte drehen müssen, und er wäre in den Brunnenschacht gestürzt und hätte den Tod gefunden. Als sich Sir Accalon wieder einigermaßen gesammelt hatte, dachte er: ›Nun stehe Gott dem König Artus und König Uriens bei, denn die Mädchen auf dem Schiff waren gewiß düstere Spukgestalten und keine sterblichen Mädchen. Wir haben uns alle von ihnen hinters Licht führen lassen. Und falls ich aus diesem Abenteuer mit heiler Haut davonkomme, werde ich solche Hexen töten, wo immer sie mir begegnen.‹ In diesem Augenblick kam ein sehr häßlicher Zwerg mit einem gro ßen Maul und einer plattgedrückten Nase, die beinahe das ganze Ge sicht ausfüllte, herbei und begrüßte ihn. »Herr Ritter, ich komme zu Euch von Eurer Geliebten, der Königin Morgan der Fee höchst per sönlich.« Nun liebte Accalon Morgan die Fee wirklich über alles in der Welt, denn er hatte keine Ahnung, daß sie genau wie die Mädchen vom Schiff eine Hexe war und bösartigen Spuk trieb. Und sein Herz mach te Sprünge, und er fragte: »Was will denn meine Frau an diesem fremden Ort von mir?« »Sie bittet Euch, um ihretwillen gegen einen Ritter zu kämpfen, den sie aus gutem Grunde haßt, denn er hat ihr einst übel mitgespielt. Da mit Ihr für den Kampf besser gerüstet seid, schickt sie Euch Excalibur, 72
das Schwert des Königs Artus. Und sie läßt Euch bitten, aus Liebe zu ihr bis zum äußersten und ohne Erbarmen zu kämpfen.« Da streckte Accalon die Hand aus und nahm von dem Zwerg das Schwert, das ihm dieser mit beiden Händen entgege nhielt, in Emp fang. Es kam ihm zwar sonderbar vor, daß ihm Morgan statt des eige nen Schwertes dasjenige des Königs schickte. Doch wahrscheinlich hatte sie das nur der starken Kraft wegen getan, die Excalibur inne wohnte. Und Artus, wo immer er sich befinden mochte, konnte es je denfalls nicht schaden, wenn er dieses eine Mal sein Schwert benüt z te; so dachte er, und schon fühlte er von dem Schwert eine solche Kraft ausgehen, als ob es in seinen Händen lebendig würde, und er freute sich sehr darüber. »Kehre nun zu Morgan der Fee zurück und sage ihr, daß ich so tapfer für sie kämpfen werde, wie es sich für einen ehrenhaften Ritter geziemt.« Dann kamen sechs Knappen und führten Sir Accalon in den Schloß saal, und sie setzten ihm Speise und Trank vor, und dann rüsteten sie ihn und setzten ihn auf ein schönes Schlachtroß und führten ihn auf eine flache Wiese hinaus, die genau in der Mitte lag zwischen dem Landsitz von Sir Ontzlake und dem prächtigen Schloß von dessen Bruder. Und gleichzeitig bemühten sich in derselben Weise sechs Knappen um König Artus. Doch gerade als der König in den Sattel steigen wollte, kam ein Mädchen herbeigeeilt und sagte: »Herr, Eurer Schwe ster träumte, Ihr müßtet heute kämpfen, und sie läßt Euch deshalb Eu er Schwert schicken.« Und Artus sah, daß sie Excalibur in den Händen hielt, und er zog das geliehene Schwert, das er sich bereits umgegürtet hatte, wieder aus der Scheide und steckte dafür das eigene hinein. Dann stieg er aufs Pferd und ritt davon, gefolgt von den Knappen und den zwanzig freigelassenen Rittern. Irgendwie wäre es ihm lieber gewesen, nicht seine Halbschwester, sondern Ginevra hätte von dieser Gefahr ge träumt und ihm das Schwert geschickt. Doch keinen Augenblick lang zweifelte er ernstlich daran, daß das Schwert, das er in die Scheide gesteckt hatte, wirklich Excalibur war. 73
So kamen die beiden Kämpfer zur Wiese, um die sich schon ein dichter Ring von Zuschauern gebildet hatte. Beide hielten das Visier geschlossen, und beide trugen Schilde ohne Wappenbild, so daß kei ner den ändern erkennen konnte. Da tjosteten sie so lange miteinander, bis sie sich gegenseitig vom Pferd gestoßen hatten, und dann griffen sie zu den Schwertern. Und sie versetzten einander manchen schweren Schlag, und Accalons Schwert fand immer wieder die schwachen Stel len in Artus Rüstung, so daß er ziemlich viel Blut verlor. Doch der König mochte noch so gezielt und hart zurückschlagen, es schien, daß seine Schwerthiebe dem Gegner kaum irgendwo die Haut ritzten. Da ging Artus plötzlich ein Licht auf: das Schwert in seiner Hand war gar nicht Excalibur. Denn es besaß keinerlei Kampfkraft, und auch die Schwertscheide an seinem Gürtel gab ihm nicht den geringsten Schutz. Und als er sah, daß sich der Boden von seinem eigenen Blut rot und röter färbte und vom Gegner kein Tropfen darauffiel, schwand ihm bald aller Zweifel: sein Gegner hielt Excalibur in der Hand! Aber dennoch blieb ihm nichts anderes übrig, als, so gut es ging, mit dem eigenen Schwert weiterzukämpfen. So focht er unermüdlich, obwohl ihn der Blutverlust immer mehr schwächte. Schließlich trat er ganz erschöpft einen Schritt zurück, um etwas Atem zu schöpfen und sich nach einer Stelle auf dem Kampfplatz umzusehen, die noch nicht durch Blutflecken rutschig war. Doch Sir Accalon sprang ihm nach und schrie: »Nein, Herr Ritter, Eure Ruhepause ist noch nicht ge kommen!« Da wurde Artus von Wut und Verzweiflung gepackt, und mit wan kenden Schritten ging er auf seinen Gegner los und versetzte ihm mit mehr Glück als Verstand einen so heftigen Hieb an die Helmseite, daß Accalon beinahe gestürzt wäre. Doch so kräftig hatte Artus zugeha u en, daß seine Klinge dabei in tausend Stücke sprang. Und zum zwei ten Mal in seinem Leben stand er mit einem wertlosen Knauf in der Hand da. Da ließ Accalon endlich von ihm ab und sagte: »Ihr seid unbewaff net und habt viel Blut verloren, und ich habe keine Lust, Euch zu tö ten. Ergebt Euch nun meinem Erbarmen.«
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»Nein!« schrie Artus. »Das werde ich nicht. Denn ich habe gelobt, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, und ich will viel lieber hun dertmal ehrenhaft sterben als ehrlos weiterleben! Und wenn Ihr mich jetzt, wo ich keine Waffe mehr habe, erschlagt, so habt Ihr selbst die Schande zu tragen!« »Diese Schande will ich auf mich nehmen«, sagte Accalon und ver setzte ihm wieder einen mächtigen Schlag. Doch Artus konnte ihn mit dem Schild auffangen, und dann ging er von neuem schwankend auf seinen Gegner los und schlug ihm mit solcher Wucht den schweren Schwertknauf ins Visier, daß Accalon drei Schritte zurücktaumelte. Nun befand sich in der bunten Menge, die das Kampffeld säumte, auch eine feine Dame, die erst, als der Kampf schon in vollem Gange war, unbemerkt erschienen war. Frau Nimue, die Artus sein Schwert verliehen und Merlin unter dem Weißdornbusch eingeschläfert hatte, war wahrhaftig etwas spät erschienen, denn die Erhabenen Wesen kümmern sich in der Tat wenig um die Zeit. Aber sie hatte gewußt, daß der junge König an diesem Tage durch seine Halbschwester in eine schlimme Gefahr gebracht worden war, und so war sie gerade noch rechtzeitig erschienen. Und als Sir Accalon das Gleichgewicht wiedergewonnen hatte und eben zum nächsten Schlag ausholen wollte, machte sie mit dem Gras halm, den sie zwischen den Fingern drehte, eine unauffällige, schnelle Bewegung, und das echte Schwert Excalibur schien sich der Hand, die es hielt, wie von selbst zu entwinden und landete zu Artus' Füßen. Artus schleuderte den wertlosen Knauf fort, stürzte sich auf Excali bur und sprang mit dem eigenen Schwert in der Hand in sichere Di stanz zum Gegner. »Zu lange mußte ich dic h entbehren«, rief er, »und schweren Schaden hast du mir zugefügt!« Und als er bemerkte, daß die Scheide immer noch an Accalons Seite hing, warf er seinen Schild weg, stürzte sich auf Accalon, der ihn wachsam beobachtete, packte die Scheide, zerriß Schnallen und Riemen, bis er sie freigezerrt hatte, und warf sie dann weit hinter sich. Dann stürzte er sich noch einmal auf Accalon und versetzte ihm ei nen solchen Schlag auf den Kopf, daß der Ritter auf der Stelle zu 75
sammenbrach und ihm das rote Lebensblut aus Nase, Mund und Oh ren rann. Artus stellte sich mit erhobenem Schwert über ihn. »Nun bin ich an der Reihe, und wenn Ihr Euch nicht meinem Erbarmen ergebt, werde ich Euch erschlagen.« »So erschlagt mich denn«, stöhnte Sir Accalon, »denn ich habe niemals mit einem besseren Ritter gekämpft, und ich spüre, daß Ihr mit Gottes Hilfe kämpft. Doch ich habe geschworen, bis zum äußer sten mit Euch zu kämpfen, und deshalb kann ich nicht um Gnade fle hen.« Da kam Artus diese Stimme zum erstenmal seltsam vertraut vor, denn bis jetzt hatte er ja keine Zeit gehabt, auf sie zu achten. Und er senkte seine Klinge und sagte: »Ihr seid ein tapferer Ritter. Wie ist Euer Name und aus welchem Lande stammt Ihr?« »Ich komme vom Hofe des Königs Artus und bin ein Ritter der Ta felrunde und heiße Sir Accalon von Gallien.« Da wurde Artus von einer entsetzlichen Trauer gepackt, und er mußte an den Spuk der vergangenen Nacht und an das Erwachen am Morgen denken. Schließlich fragte er: »Sir Accalon, wie kamt Ihr denn zu Excalibur?« »Ich erhielt es von Morgan der Fee, die ich schon seit vielen Jahren über alles in der Welt liebe. Heute morgen sandte sie mir das Schwert und ließ mich bitten, um ihretwillen bis zum Äußersten gegen einen Mann zu kämpfen, der mir an diesem Tage begegnen werde.« Und wieder mußte er vor Schmerzen stöhnen. »Aber nun sagt mir, wer Ihr selber seid, daß ich Euch töten sollte?« »Ach, Accalon«, seufzte Artus, »ich bin Euer König.« Da entfuhr Accalon ein kummervoller Schrei, denn mehr als alles andere entsetzte ihn die böse Absicht seiner Geliebten. »Edler, guter Herr, nun flehe ich um Euer Erbarmen, denn wir sind beide verraten worden, und ich habe Euch nicht erkannt.« »Wie hättet Ihr mich denn auch erkennen sollen?« sagte Artus. »Ach, das ist alles meiner Schwester zuzuschreiben. Merlin hat mich ja immer wieder vor ihr gewarnt und mir gesagt, was sie im Innersten 76
für eine Frau sei und was sie vorhabe. Und trotzdem habe ich ihr ge traut und sie gerne an meinem Hofe gesehen. Doch jetzt ist Schluß damit«, sagte Artus mit Tränen in den Augen, »jetzt ist endgültig Schluß.« Da kamen alle Menschen, die zugeschaut hatten, zu Artus, dem großen König, und erflehten ebenfalls Gnade. Und Artus zeigte Er barmen und rief Sir Damas und Sir Ontzlake zu sich. Und er entschied folgendes: Sir Damas mußte seinem Bruder allen Grundbesitz und alle Rittergüter, die ihm als Erbe zustanden, übergeben, doch Sir Ontzlake mußte dafür jedes Jahr mit einem Zelter Tribut zahlen. »Denn das«, sagte Artus verächtlich, »ist ein Roß, das besser zu Euch paßt als ein Schlachtroß, Sir Damas, der Tapfere!« Und außerdem erlegte er Sir Damas auf, den zwanzig Rittern die Waffen und die Rüstung zurück zugeben und sie freizulassen und in Zukunft die Finger zu lassen von Rittern, die ihr Abenteuer suchten. Und Sir Ontzlake bat er, ihn sogleich an den Hof zu begleiten. Und als er erfuhr, daß sich ganz in der Nähe ein Nonnenkloster befand, lud er Sir Accalon auf den Sattel seines Pferdes, setzte sich vor ihn auf das Pferd und brach auf. Sie ruhten sich im Kloster aus und ließen sich die Wunden pflegen. Doch Sir Accalon hatte beim letzten entscheidenden Schlag so viel Blut verloren, daß er am dritten Tage starb. Artus, der sich bald wie der einigermaßen erholt hatte, legte den Leichnam seines Freundes in stummem Zorn auf eine Pferde-Bahre, ließ aus Sir Damas' Schloß sechs Knappen holen und sagte: »Nun bringt das zu meiner Schwe ster, der Königin Morgan der Fee, und sagt ihr, es sei ein Geschenk von mir. Und sagt ihr auch, daß ich wieder im Besitz von Excalibur bin.« Unterdessen dachte Morgan die Fee, die sich in Camelot befand, schon, Artus sei nun tot und ihr alter Traum gehe endlich in Erfüllung. Sie wollte nämlich Sir Accalon von Gallien heiraten und sich zusam men mit ihm auf den britannischen Thron setzen. Und als sie sah, daß König Uriens immer noch schlief, dachte sie kaltblütig: ›Und nun der nächste Schritt!‹ Mit leiser Stimme rief sie nach einer ihrer Dienerin 77
nen. »Geh und hol mir das Schwert des Königs«, befahl sie im Flü sterton. Und das Mädchen blickte sie an und bemerkte das leise Lächeln auf ihrem Gesicht und die dunkel funkelnden Augen und schrie voller Entsetzen auf: »Herrin, nein! Nein, ich bitte Euch! Wenn Ihr Euren Herrn erschlagt, werdet Ihr niemals lebend davonkommen!« »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte die Köni gin. »Lange habe ich gewartet auf diesen Tag und auf diese Stunde. Nun geh und bringe das Schwert.« Doch das Mädchen flüchtete sich zu Sir Uwain, dem Sohn der Kö nigin, der erst vor kurzem ein Ritter der Tafelrunde geworden war, und flehte ihn an: »Kommt schnell zu meiner Herrin, Eurer Mutter, denn sie hat vor, Euren Vater, den König, zu erschlagen, und sie hieß mich, ihr sein Schwert zu bringen, damit sie ihn, noch während er in ihrem Bette schläft, ermorden kann!« »Kehre schnell zurück und tue, was sie dir auftrug«, sagte Uwain. »Um den Rest werde ich mich selbst kümmern.« Das Mädchen kehrte also nach einer kurzen Weile mit dem Schwert zurück und übergab es mit zitternden Fingern der ruhigen Hand ihrer Herrin. Und Morgan die Fee zog langsam das Schwert aus der Scheide und bemerkte nicht, daß Uwain hinter ihrem Rücken in die Kammer getreten war und sich im Schatten der Türvorhänge versteckt hielt. Und drei Atemzüge lang stand sie vor ihrem schlafenden Gatten und überlegte, wo sie am besten hinstechen sollte. Doch als sie schließlich die schwere Klinge hob und zum tödlichen Schlag ausholte, sprang Uwain aus seinem Versteck und packte ihre Schwerthand und ent wand ihr das Schwert. Da drehte sie sich heftig um und schaute ihn an, und Uwain stand keuchend vor ihr und wurde weiß im Gesicht, als hätte er selbst eben den Todesstoß erhalten. »Verräterin!« schrie er. »Was habt Ihr vor? Wärt Ihr nicht meine Mutter, und ich wollte, Gott hätte mir eine andere gegeben, so würde ich Euch mit diesem Schwert jetzt das Herz durchbohren.« »Nein, nicht! Die Höllenfeinde haben mich versucht!« schrie seine Mutter. »Sie haben das alles getan, nicht ich – schaut doch, ich bin schon wieder ganz bei Sinnen. Oh, mein Liebling, erbarmt Euch me i 78
ner, und ich will Euch versprechen, daß ich dem Geflüster der Höllen feinde nie mehr mein Ohr leihen werde.« »Schwört!« sagte Uwain. Und die Königin, die unter seinem erbarmungslosen Blick scha u derte und zitterte, schwor. Und der junge Ritter steckte das Schwert seines Vaters in die Scheide, drehte sich um und verließ die Kammer. Am Abend dieses Tages kamen die sechs Knappen mit dem Leic h nam Sir Accalons und der Botschaft des Königs an. Da brach Morgan der Fee wahrhaftig beinahe das Herz, denn sie hatte Sir Accalon auf ihre Art wirklich geliebt, und nicht nur ihre eit len Hoffnungen auf die britannische Krone lagen nun vor ihr auf der Totenbahre. Doch um sich nicht zu verraten, verbarg sie ihren Kum mer. Auf keinen Fall durfte Artus sie bei seiner Rückkehr noch am Hofe antreffen, denn, das wußte sie wohl, um alles Gold aus den Ho h len Hügeln würde er sie nicht am Leben lassen. Und raffiniert, wie sie war, konnte sie von einem der Ritter erfahren, an welchem Ort sich ihr Bruder ausruhte. Und noch vor Sonnenaufgang ließ sie sich ihr Pferd aus den Ställen bringen und ritt mit einigen wenigen Dienerinnen da von. Den ganzen Tag und tief in die Nacht hinein ritten sie dahin, bis sie am Mittag des folgenden Tages das Kloster erreichten, wo sich Artus so lange aufhalten wollte, bis die Wunden völlig verheilt wären. Morgan erkundigte sich bei der Äbtissin, wo der König sich befin de, und als sie erfuhr, daß er noch schlief, war sie insgeheim froh und sagte: »Dann laßt ihn ruhig schlafen. Ich bin nämlich seine Schwester, und als ich hörte, wie schwer er verwundet wurde, bin ich von weit hergeritten, um ihm Beistand zu leisten. Deshalb werde ich mich eine Weile zu ihm setzen und ihn später vielleicht selbst aufwecken.« Und da sie seine Schwester war, wollten ihr weder die frommen Frauen noch der Ritter, der vor Artus' Kammer Wache stand, die Bitte abschlagen. Und so wurde sie denn eingelassen. ›Erschlagen kann ich ihn nicht‹ sagte sie sich, ›bei all diesen Le u ten, oder höchstens, wenn ich mein eigenes Leben aufs Spiel setze. Doch ich kann ihm wenigstens Excalibur entwenden, und dann habe 79
ich ihn später vielleicht in meiner Gewalt.‹ Doch als sie ans Bett ge treten war, sah sie, daß Artus, obwohl er wirklich schlief, Excalibur fest in seiner Rechten hielt. Da blieb ihr nur noch die letzte ihrer üblen Hoffnungen. Sie sah sich im Räume um und entdeckte auf einer gro ßen, geschnitzten Holztruhe am Fußende des Bettes die Schwertsche i de. Und die geheime Macht dieser Scheide war ihr ebenso bekannt wie Merlin. Und sie nahm die Scheide an sich und versteckte sie zwi schen den Falten ihres Mantels. Das war zwar weniger, als sie erhofft hatte, aber es war besser als gar nichts. Dann setzte sie sich eine Weile ans Bett für den Fall, daß es jema n dem einfallen sollte hereinzuschauen. Dann erhob sie sich wieder und verließ leise die Kammer und sagte den Nonnen, die sie in der Vor kammer fand, der König schlafe einen so holden Schlaf, daß es schade wäre, ihn aufzuwecken. Und sie bestieg ihr Pferd und ritt, gefolgt von den Dienerinnen, davon. Als Artus bald darauf erwachte, bemerkte er mit einem Blick, daß die Schwertscheide weg war. Ganz aufgebracht wollte er wissen, wer ihn denn, während er schlief, besucht habe. Und als er erfuhr, daß Morgan die Fee dagewesen sei, schrie er die Wachen an: »Schlecht habt ihr mich bewacht!« »Herr«, sagte die Äbtissin, »wir wagten es nicht, Eurer eigenen Schwester ihre Bitte zu verweigern.« Da ließ sich Artus Pferd und Rüstung bringen und ließ auch Sir Ontzlake sagen, er solle sich bewaffnen und zu ihm kommen. Der eil te bald herbei, und die beiden Männer verfolgten Morgan die Fee. Nach einer Weile erblickte Artus in weiter Ferne seine Schwester und ihre Dienerinnen und gab dem Pferd die Sporen, um sie einzuho len. Doch als Morgan bemerkte, daß sie von ihrem Bruder verfolgt wurde, flüsterte sie etwas in das Ohr ihres Pferdes, und sogleich schoß es wie ein Märchenroß durch die Luft dahin und zog alle Dienerinnen hinter sich her. Doch Artus und Ontzlake ließen sich nicht so schnell abschütteln, obwohl Morgan in rasender Eile durch die Wälder jagte. Und als sie zuletzt auf das Ufer eines dunklen Sees inmitten der Bä u me zuraste, rief sie, ohne daß jemand sie hören konnte: »Was mich auch immer erwarten mag, mein Bruder soll die Schwertscheide, die 80
ihn beschützt, nie wiedersehen!« – und warf die glänzende Scheide mitten in den See, wo das Wasser am tiefsten war, und sofort wurde sie vom Gewicht des Goldes und der Edelsteine in die Tiefe gezogen. Morgan wußte, wo sie nun Zuflucht finden konnte, und ritt eine Weile in rasender Geschwindigkeit weiter, und sie wäre beinahe von ihren Verfolgern schon eingeholt worden, als sie in ein offenes Tal kam, mit Wiesen, auf denen viele große Steine standen. Da wandte sie in höchster Eile und Not einen Zaubertrick an. Und als der Zauber gewirkt hatte, standen in dem Tal plötzlich sieben große Steine mehr als zuvor, und von Morgan der Fee und ihren Dienerinnen blieb keine Spur. Der König, der sie verfolgte, sah, was geschehen war, konnte aber nicht mehr feststellen, in welche Steine seine Schwester und ihre Die nerinnen verwandelt worden waren, und so dachte er, die Verwand lung sei die Strafe Gottes. Und obwohl er noch immer zornig war, hat te er doch auch Mitleid mit ihnen. Dann suchte er mit Sir Ontzlakes Hilfe das ganze Tal nach der verlorenen Schwertscheide ab. Doch schließlich mußte er aufgeben, und schweren Herzens ritt er davon und empfand nicht einmal ein Siegesgefühl, obwohl er doch ein Recht dazu gehabt hätte. Und nachdem er das Tal wieder verlassen hatte, verwandelte Mor gan sich und die Mädchen wieder in ihre gewohnten Gestalten zurück und sprach: »Nun, meine lieben Frauen, nun können wir uns wenden, wohin wir wollen.« Artus hat seine Scheide nie mehr finden können, und so mußte er sich für Excalibur eine neue machen lassen. Sie war ebenso reich und schön verziert wie die alte, doch wohnte ihr keine besondere Kraft in ne. Und von diesem Tag an verlor auch Artus, wann immer er ver wundet wurde, Blut – genauso wie alle anderen Menschen. Artus und Sir Ontzlake ritten traurig nach Camelot zurück, wo sie von Königin Ginevra und dem ganzen Hof freudig begrüßt wurden. Doch noch am selben Abend, als der König und seine Ritter bei ei nem kräftigen Mahle saßen, betrat ein junges Mädchen den Großen Saal, mit einem Mantel in der Hand, und noch niemand im ganzen Saal hatte jemals einen so wunderbaren Mantel gesehen. Er war aus 81
feinem, vergoldetem Stoff und über und über mit Fellen und Edelstei nen geschmückt. Und das Mädchen brachte den Mantel zu Artus, ver beugte sich und sprach: »Mein König, Eure Schwester Morgan die Fee schickt mich zu Euch und bittet Euch um Verzeihung für ihre Übeltaten. Ich soll Euch versichern, daß die bösen Geister, die sie ver sucht haben, endgültig von ihr gewichen sind und daß sie nie mehr versuchen wird, Euch Schaden zuzufügen, und zum Zeichen ihrer Be trübnis über ihre schlimmen Absichten schickt sie Euch diesen Man tel, in der Hoffnung, daß Ihr ihn oft tragen und an ihm Gefallen finden mögt.« Artus betrachtete den Mantel und bewunderte seine Schönheit, und er glaubte, Morgan könne ihre Bosheit wirklich ein für allemal abge legt haben; stets hatte er zuviel Vertrauen. Und so streckte er die Hand aus, um das Geschenk in Empfang zu nehmen. Doch noch ehe er den Mantel berührt hatte, entstand unter den Frauen im Saal auf einmal Unruhe, und der König ließ die Hand sinken und schaute sich um. Und plötzlich tauchte neben ihm Frau Nimue auf, die kein Mensch hatte eintreten sehen. »Herr«, sagte sie zum König, »zieht diesen Mantel nicht an und faßt ihn auch nicht an und laßt auch keinen Eurer Ritter in seine Nähe kommen, bevor Ihr ihn auf den Schultern derjeni gen gesehen habt, die ihn Euch bringt.« Artus betrachtete die Frau eine Weile, und obwohl sie eine andere Gestalt angenommen hatte, erkannte er – vielleicht mit ihrer Hilfe -, daß sie die Frau vom See war, die von Merlin geliebt wurde und die ihm sein Schwert gegeben hatte. Und er mußte an einen Ausspruch Merlins denken: »Die Erhabenen Wesen sind weder gut noch böse, ebensowenig wie der Regen, der den Hafer zum Schwellen bringt oder ganze Felder überschwemmt, gut oder böse ist; sie sind einfach.« Und dann war ihm, als ob er sich an Merlins Stimme nicht mehr erinnerte, sondern sie deutlich an seinem eigenen Ohr hörte: »Traue ihr. Wer immer sie ist, du kannst ihr immer trauen. Für eine Weile ist sie mit deinem Geschick ebenso verbunden wie mit dem meinen.« Dann war es wieder still, und Artus bemerkte die Ritter, die in sei ner Nähe standen und ihn mit seltsamen Blicken betrachteten, als ob
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sie nicht verstünden, warum er so dastand und zuhörte, obwohl nie mand etwas sagte. Da sagte Artus: »Frau, ich nehme Euren Rat an.« Und indem er sich zur Botin seiner Schwester wandte, fügte er hinzu: »Junge Frau, ich würde diesen Mantel zuerst gerne an Euch bewundern.« »Nein, Herr«, sagte sie rasch, »ein Königsmantel würde mir gewiß schlecht stehen.« »Trotzdem sollt Ihr diesen Mantel tragen, bevor sich ihn der König um die Schultern legt«, sagte Artus und gab zwei Knappen, die in der Nähe standen, ein Zeichen. Und sie ergriffen das Mädchen und legten ihm den Mantel gewaltsam um die Schultern. Und noch während sie sich schreiend wehrte, stach zwischen den Händen der Knappen plötz lich eine helle Flamme hoch empor, und beinahe hätte das Dach des Saales Feuer gefangen, und von dem Mädchen und dem Mantel blieb nichts übrig als ein kleines, rauchendes Häufen Asche auf dem Boden. Von diesem Tage an hörte Morgan die Fee auf, Artus nachzustellen und zog sich ins Reich Gore zurück, das ihrem Gatten gehörte und in dem sie ein eigenes Schloß besaß, und sie machte eine richtige Fe stung aus ihrer Zufluchtsstätte. So hatte sich das Reich endlich eines weiteren Feindes entledigen können.
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6 Sir Lancelot vom See Gerade als sich der König und seine Ritter am Vorabend des Oster tages zur Tafel setzen wollten, trat einer der Knappen zu Artus und sagte: »Mein König, ein Fremder steht vor der Tür und möchte Euch sprechen, doch seinen Namen wollte er mir nicht verraten.« Artus schaute den Saal hinunter und erblickte im Eingang einen jungen Mann, und er sagte: »Führe ihn zu mir. Vielleicht wird er mir seinen Namen sagen.« Da durchschr itt der junge Mann den Saal und kniete wortlos vor dem König nieder. Er war ziemlich grobknochig und sehr häßlich, und die beiden Gesichtshälften wollten nicht zueinander passen, und der eine Mundwinkel schmollte, während sich der andere belustigt und fröhlich in die Höhe zog, und eine der schwarzen Augenbrauen war gestreckt wie ein Falkenflügel, während die andere zerzaust war wie das Ohr eines Köters, der sich gerade gebalgt hat. Doch unter den Brauen blickten zwei große, graugrüne Augen hervor, und der König glaubte, noch niemals einen so ruhigen Blick gesehen zu haben.
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»Wer seid Ihr?« fragte Artus. »Und weswegen seid Ihr hierherge kommen?« »Ich bin Lancelot, der Sohn des Königs Ban von Benwick, der mit Euch in der Schlacht von Bedegraine gekämpft hat. Und ich bin zu Euch gekommen, weil dies mein Wunsch war, soweit ich mich zu rückerinnern kann, und auch weil Merlin mich hieß, Euch um den Rit terschlag zu bitten. Und er ließ Euch sagen, bevor er sich unter dem Weißdornbusch zur Ruhe legte, ich sei sein letztes Vermächtnis an Euch.« »Den Ritterschlag sollt Ihr noch morgen früh, am feierlichen Ostermorgen, erhalten«, sagte Artus und reichte dem häßlichen jungen Mann die Hand, und Lancelot senkte einen Augenblick den Kopf und berührte sie mit der Stirn. »Ich danke Euch, Herr«, sagte er und wandte sich ein wenig um. Da bemerkte Artus, daß ein rothaariger junger Mann unauffällig hinter Lancelot getreten war. »Das ist mein Vetter und guter Freund Lionel, der mich als Knappe begleitete. Doch würde er den Ritterschlag ge nausogut verdienen wie ich!« Und der König betrachtete den Knappen mit dem roten Schöpf und sagte: »Und was meint Lionel dazu? Möchtet Ihr am Ostermorgen ebenfalls zum Ritter geschlagen werden?« »Gerne erhielte ich den Ritterschlag«, antwortete Lionel, »doch nicht am Ostermorgen, denn da könnte ich ja unmöglich gleichzeitig Lancelots Knappe sein. Ich möchte nicht, daß sich ein fremder Knap pe seiner Rüstung annehmen und ihn während der Feier bedienen muß.« »Das ist wohl gesprochen. Ihr sollt ihm noch drei Tage lang als Knappe dienen, und wenn Ihr Eure Pflichten zu seiner Zufriedenheit erfüllt habt, sollt Ihr am vierten Tage zum Ritter geschlagen werden«, sagte der König. Ihm gefiel das Aussehen des jungen Mannes, und neben Lancelots eigenem Sitz und den anderen dreien, die leerstanden und warteten, waren in der Tafelrunde da und dort schon Lücken entstanden, denn mancher Ritter hatte im vergangenen Jahr sein Leben lassen müssen; und diese Plätze mußten ja wieder besetzt werden. ›Immer wieder 85
werden Lücken entstehen‹, schoß es dem König durch den Kopf, als wäre ihm das noch nie aufgefallen, ›und immer wieder werden sie neu besetzt werden müssen…‹ Lancelot hielt die ganze Nacht in der Schloßkapelle Wache. Er kniete auf den Chorstufen und hatte Schwert und Rüstung vor den Al tar gelegt. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet, und immer wieder schaute er ins Mondlicht, das durch die Hochfenster in den Raum fiel und seine Rüstung versilberte, dann versank er wieder ins Gebet und sann Gedanken nach, die er niemandem hätte mitteilen können. So seltsam und unharmonisch wie sein Äußeres war auch Lancelots innerster Kern. Vielleicht waren gerade jene frühen Kindheitsjahre, die für seine Erinnerung wie unter einem dichten Schleier verborgen waren, der Grund, weshalb er stets glaubte, etwas suchen zu müssen. Er hatte nie das Gefühl gehabt, ein Junge wie die anderen Jungen, ein Mensch wie andere Menschen zu sein. Und er trug eine große, über wältigende Hoffnung in sich, die eigentlich mehr zu einem Mönch als zu einem Ritter gepaßt hätte. Er hoffte nämlich, Gott werde ihn, wenn er einst dessen würdig sei, eines Tages ein Wunder vollbringen lassen. Doch bevor dies geschehen konnte, mußte er der beste Ritter der ga n zen Welt werden. So kniete er die ganze Nacht hindurch in der mond beschienenen Kapelle und betete darum, daß er der stärkste und tap ferste und geschickteste Ritter, ja der beste Ritter überhaupt werden möge. Er betete um Gottes Hilfe, daß er niemals die eigene oder frem de Ehre beflecken möge. Und er betete für das Wunder, das Gott durch ihn wirken sollte. Der Mond ging unter, und die Sonne begann aufzusteigen, und als die Zeremonie des Badens und des Anlegens der Rüstung vorüber war, erhielt Lancelot im Großen Saal am Ostermorgen von König Ar tus den Ritterschlag. Danach schnallten ihm zwei Dienerinnen der Königin die Sporen an. Doch den Schwertgurt schnallte ihm Königin Ginevra höchst per sönlich um. Das tat sie, teils, weil er der Sohn eines Königs war, doch mehr noch aus reiner Freundlichkeit. Denn sie hatte gehört, wie Sir Kay, der Pflegebruder und Seneschall des Königs, sich bei einem an 86
deren Ritter über das Aussehen des Neulings lustig machte und sagte, daß Lancelot wohl kaum je bei Zweikämpfen oder Turnieren den Schmuck eines Mädchens auf dem Helm tragen werde. Obwohl die Königin oftmals ihren König umgürtet hatte, machte es ihr Mühe, Lancelots Gurt zuzuschnallen. Und als der junge Ritter das bemerkte, half er mit der eigenen Hand nach, und so berührten sich ihre Finger, und beide sahen sogleich auf und blickten sich in die Au gen. Und ihre Blicke konnten sich nur schwer wieder voneinander lö sen. Ihre Gesichter wurden milchweiß, und die schwarzen Pupillen ihrer Augen weiteten sich. Für eine ganze Weile schien sich im Saale nichts zu rühren, und selbst das Feuer auf dem Herd hatte aufgehört zu prasseln. Schließlich rissen sie mit großer Anstrengung ihre Blicke voneinander los, und Ginevra schnallte den Gurt endlich fest, doch tat sie das mit zitternden Fingern. Während der folgenden drei Tage machten unter manchen Rittern, deren Anführer Sir Kay war, zahlreiche Gerüchte und Klagen die Runde: wie kam es, daß ein so junger und gänzlich unerfahrener Mann zum Ritter geschlagen und zur Tafelrunde zugelassen wurde? Viele sahen später darin den Grund, weshalb Lancelot bald danach auf sein erstes Abenteuer ritt, und glaubten, er wolle nur seine Kraft unter Be weis stellen und das Murren der Neider und Spötter zum Schweigen bringen. Und Lancelot ließ sie in ihrem Glauben. Doch in Wirklich keit hatte er einen anderen Grund. Am Abend des Tages, an dem auch Lionel den Ritterschlag erhalten hatte und der König und Sir Gawain nach dem Essen beim Schach saßen, begann Lancelot, ganz unwill kürlich die Königin zu beobachten, welche das Kinn in die Hand ge stützt hatte und einer alten Weise zuhörte, die der Harfenspieler des Königs für die versammelten Ritter spielte. Und der Schein der Fak keln verwob sich mit ihrem schwarzen, schimmernden Haar. »Ah, ist sie nicht eine schöne Frau?« bemerkte Lionel leise neben ihm. »Gewiß wäre sie die schönste der Hofdamen, wenn sie nicht die Königin wäre.« Und Lancelot sagte: »Ja« und blickte auf seine Hände. Und nach ei ner Weile fügte er hinzu: »Ich will den König bitten, mich auf ein Abenteuer reiten zu lassen.« 87
»Laß mich mitreiten«, sagte Lionel. Und sowie das Schachspiel beendet war, trat Lancelot vor den Kö nig, kniete nieder und bat um Erlaubnis, am nächsten Morgen zusam men mit Lionel auf Abenteuer ausreiten zu dürfen. Der König schaute ihn an und sagte dann: »Schenkt ihnen keine Beachtung. Sir Kay war schon ein unglücklicher Junge, und jetzt ist er ein unglücklicher Mann, und ich fürchte, er wird es immer bleiben.« »Es bekümmert mich nur wenig«, sagte Lancelot, »ob Sir Kay mich des Ritterstandes und meines Platzes an der Tafelrunde für würdig er achtet oder nicht. Aber es bekümmert mich sehr, ob ich mich selbst für würdig erachte.« Da ließ ihn König Artus seines Weges ziehen, und ebenso Lionel, und so brach Lancelot am anderen Morgen nach der Messe zusammen mit Lionel auf. Und an Abenteuern sollte es ihnen wahrhaftig nicht fehlen, denn obwohl die Piraten und die Krieger aus dem finsteren Norden und aus den Bergen im Westen besiegt und in ihre eigenen Gebiete zurückge trieben worden waren, herrschte immer noch Unruhe im Land. Da gab es viele Lehnsherren, die meinten, es käme einzig und allein auf die starke Hand an, und die Macht und Recht ständig miteinander ver wechselten. Und als der Sommer langsam zu Ende ging, stießen La n celot und Lionel auf manche dieser Herren und fochten manchen Strauß mit ihnen aus. Und wenn sie sie besiegt hatten und die Herr schaften um Gnade flehten, nahm ihnen Lancelot jedesmal den Schwur ab, fortan dem britannischen König zu dienen, und diesen Schwur mußten sie vor dem König persönlich wiederholen. Doch manchmal mußten Lancelot und Lionel auch auf Tod und Leben kämpfen, wie zum Beispiel, als sie einmal auf einen gewissen Sir Car rados trafen. Dieser wollte nicht um Gnade flehen, und Lancelot tötete ihn schließlich nach einem langen, harten Kampf und befreite die Ge fangenen, die Carrados in seinem Turme gefangenhielt und für die er Lösegeld erpressen wollte. Dann ritten Lancelot und Lionel weiter und wurden bald in das nächste Abenteuer verwickelt. Doch eines Tages sollte Lancelot sich an Carrados wieder erinnern. 88
An einem Spätsommertag, der so heiß war, daß die Luft flimmerte wie ein Mückenschwarm, kamen die beiden Vettern zu einem riesi gen, alten Apfelbaum. Er wuchs dicht neben einer Hecke und war schwer beladen mit unzähligen halbreifen Früchten. Die beiden Ritter waren schon über die Grenzen hinaus und weit in das Land Gore ein gedrungen, ohne es zu wissen. Der Baum bot kühlen Schatten, und Lancelot war des Reitens und Kämpfens müde, und sein Herz tat ihm weh vor Sehnsucht nach der Königin, und so hatte er große Lust, sich in den Schatten zu legen und auszuruhen. Da stiegen die beiden von den Pferden, banden ihnen die Vorderbeine zusammen und ließen sie grasen. Dann legten sie sich unter den Ästen in das hochgewachsene, kühle Gras. Lancelot, der den Kopf auf seinen Helm gebettet hatte, fiel sofort in Schlaf. Doch Lionel konnte nicht einschlafen, und nach einer Weile richtete er sich wieder auf, lehnte den Rücken an den Baumstamm und begann Grashalme zu kauen und den Pferden beim Grasen zuzuscha u en. Da hörte er plötzlich die Hufschläge fremder Pferde, und als er die Blicke über das Feld, das offen vor ihm lag, schweifen ließ, sah er drei Ritter, die um ihr Leben ritten, und dahinter einen vierten, der sie in wildem Galopp verfolgte. Lionel dachte, er habe noch nie einen so großen und mächtigen Ritter gesehen, und verglichen mit seinem rie sigen Schlachtroß, kamen ihm die Pferde der anderen Ritter wie kleine Stuten vor. In diesem Augenblick holte der Ritter den ersten der drei Flüchtlinge ein und schlug ihn vom Pferd. Dann donnerte er auf den zweiten und dritten los und verfuhr in derselben Art mit ihnen. Darauf stieg er vom Roß und kehrte, das Pferd an den Zügeln führend, zu den drei Rittern zurück, warf sie einen nach dem anderen auf ihre eigenen Pferde und band sie mit den Zügeln fest. Dann stieg er wieder in den Sattel und trieb die jämmerlichen Gestalten vor sich her. Sir Lionel erhob sich leise, band den Helm um und gab acht, daß er Lancelot nicht weckte. Lancelot hatte die meisten Kämpfe dieses Sommers bestritten, und nun glaubte Lionel, end lich sei sein eigenes Abenteuer gekommen. ›Wenn ich diesen Ritter besiege‹ dachte er, ›und seine Gefangenen befreie, werde ich gewiß große Ehre gewin 89
nen.‹ Da band er sein Pferd los, stieg in den Sattel und verfolgte die kleine Gruppe, die sich am fernen Horizont im heißen Dunst schon zu verlieren drohte. Doch da er alles aus seinem Pferd herausholte, gelang es ihm schließlich, die Gruppe einzuholen. Und er schrie dem riesigen Ritter zu: »Haltet an!« Dieser kehrte wortlos um, legte die Lanze ein, donnerte auf Sir Lio nel zu und traf ihn mit der Lanzenspitze am Schulterstück, so daß er rittlings aus dem Sattel flog. Dann stieg der Ritter vom Pferd, fesselte Lionel und band ihn auf den Sattel von dessen Pferd, genau wie er es zuvor mit den drei anderen Rittern gemacht hatte, und trieb nun die vier beladenen Pferde vor sich her. Und als er zu seinem Landsitz kam, ließ er die Ritter ausziehen und mit dornigen Zweigen auspeit schen und warf sie dann in ein Steinverlies tief unter der Erde, in dem schon viele beklagenswerte Ritter lagen, die er bei anderer Gelege n heit gefangengenommen hatte. Nun war kurz vorher Lancelots Halbbruder Ector, der den Beina men ›von den Sümpfen‹ führte, nach Camelot gekommen, denn er wollte da zum Ritter geschlagen werden. Und da Lancelot und Lionel schon auf Abenteuer ausgeritten waren, bat er, ihnen folgen zu dürfen, und ritt ebenfalls fort. Lange suchte er sie vergeblich, bis er eines Ta ges einen Holzfäller traf, und da er wußte, daß er seine Verwandten am ehesten dort antreffen würde, wo es nach Abenteuer roch, fragte er: »Guter Herr, wird hier in der Gegend irgendwo ein Abenteuer aus gefochten?« »In der Tat, Herr Ritter«, antwortete der Holzfäller. »Nicht weit von hier steht das stark befestigte Haus von Sir Tarquinius; und nahe am Haus fließt ein Fluß über eine Furt – ein guter Trinkplatz für die Pfer de -, und hinter der Furt steht eine große Trauerweide, und von den Ästen des Baumes hängen die Schilde aller Ritter, die Tarquinius im Kampfe besiegt und in das Verlies unter seinem Haus geworfen hat. An dem Baume hängt auch ein Becken aus feinstem Kupfer. Wenn Ihr mit dem Speerende darauf schlagt, wird Sir Tarquinius erscheinen und mit Euch kämpfen. Dann möge sich der gute Gott Eurer Seele erbar men.« 90
Sir Ector dankte dem Alten und ritt auf dem Wege, den er ihm ge wiesen hatte, dahin, bis er an die Furt kam, und sah da die alte Trau erweide, und von den Ästen baumelten viele Schilde, und manche wa ren schon rostig und vom Regen ganz abgewaschen, andere dagegen waren neu und glänzten. Da bemerkte er auch den Schild seines Vet ters Lionel. Die Wut preßte ihm die Kehle zusammen, und als er das Kupferbecken erblickte, schlug er mit dem Speerende heftig darauf, bis der ganze Wald dröhnte und die Tauben, von den Ästen aufflatter ten. Und als er niemanden kommen sah, ritt er bis zu den Knien ins Wasser hinein und ließ sein Roß trinken. Und während er noch im Wasser stand, schrie eine Stimme vom Ufer: »Herr Ritter, da Ihr mich herbeigerufen habt, steigt aus dem Wasser und rüstet Euch zum Kampf mit mir!« Da gab Sir Ector dem Pferd die Sporen, ritt aus dem Wasser heraus, legte die Lanze ein und ritt in vollem Galopp auf den riesigen Ritter zu, der am Ufer auf ihn wartete, und versetzte ihm einen so schnellen und wütenden Stoß, daß der fremde Ritter mitsamt seinem Roß sich einmal im Kreise drehte. »Das war ein trefflicher Schlag! Ein ritterlicher Schlag!« sagte Sir Tarquinius und lachte und donnerte nun seinerseits auf Sir Ector los und traf ihn mit der Lanze unter dem Arm und warf ihn sauber aus dem Sattel, so daß er durch die Luft wirbelte und durch das Tor und über den ganzen Hof purzelte, bis er schließlich auf dem Boden lie genblieb und alle viere von sich streckte. »Nun seid Ihr mir ausgelie fert«, sagte der große Ritter. »Fleht Ihr um Gnade?« »Niemals!« preßte Sir Ector zwischen den Zähnen hervor. »Trotzdem werde ich Euch begnadigen und, statt Euch zu töten, nur gefangennehmen, denn Eure Kühnheit erfreut mich sehr«, sagte Tar quinius. Und er rief seine Diener und Waffenträger herbei und ließ Sir Ector ausziehen und mit dornigen Zweigen auspeitschen und hinterher in das dunkle Verlies unter seinem Hause werfen. Dort fand sich Sir Ector in Gesellschaft all jener Ritter, deren Schilde er zuvor an der Weide gesehen hatte. Und er entdeckte auch Sir Lionel.
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Nachdem sic h die beiden mit einem traurigen Lächeln begrüßt hat ten, sprach Sir Ector: »Aber sagt mir, wo ist denn Sir Lancelot, mein Bruder, man hat mir nämlich gesagt, ihr wärt zusammen weggeritten.« »Ach!« rief Sir Lionel. »Ich habe ihn heute mittag unter einem Ap felbaum zurückgelassen, als er noch schlief, und bin dem tyrannischen Herrn dieses Ortes nachgeritten. Wahrscheinlich schläft er immer noch unter dem Baume.« Und in der Tat, Lancelot schlief unter dem Apfelbaum bis spät in den Nachmittag hinein. Und während er noch schlief, ritten vier Köni ginnen auf weißen Mauleseln vorbei, und vier berittene Ritter beglei teten sie, und die Ritter hielten mit den Speerspitzen einen Baldachin von grüner Seide über die Frauen, um ihre zarte Haut vor den Sonne n strahlen zu schützen. Und als sich die Gruppe dem Baume näherte, fing Lancelots Pferd den Geruch der fremden Tiere auf und begann zu wiehern. Und als die Vorüberreitenden in die Richtung schauten, aus der das Wiehern kam, erblickten sie ein Schlachtroß mit zusammen gebundenen Vorderbeinen und neben dem Roß einen Ritter, der unter einem Apfelbaum schlief, in voller Rüstung. Nur den Helm hatte er abgenommen und als Kopfkissen benutzt. Und eine der Frauen – es war Morgan die Fee – erkannte ihn mit ihren magischen Kräften. »Es ist Sir Lancelot vom See«, sagte sie, »der Ritter, der von allen Rittern meines Bruders der größte sein wird.« Da betrachteten alle vier Königinnen das Gesicht des Schlafenden, und sie sahen durch seine Häßlichkeit hindurch auf das, was die Frau en zeit seines Lebens dann sehen sollten. Da entstand ein Streit unter ihnen, welche von ihnen ihn zum Liebhaber gewinnen sollte. »Wir dürfen nicht länger hier bleiben und uns um ihn zanken«, sag te Morgan die Fee schließlich. »Ich werde ein Netz des Schlafes über ihn werfen, so daß er noch drei Stunden lang weiterschlafen wird, und so können wir ihn zu meinem Schloß zurückbringen. Wenn er dann aufwacht, soll er selbst eine von uns wählen.« Denn im Grunde ihres finsteren Herzens war sie sich dessen gewiß, daß sie schöner sei als die anderen Frauen. Und selbst wenn ihre Schönheit versagen sollte, blieben ihr noch ihre Zauberkünste, um ihn zu umgarnen. 92
So stieg Morgan vom Pferd, kniete neben Lancelot und bewirkte den magischen Schlaf, indem sie mit den Zeigefingern seine geschlos senen Augenlider leicht berührte. Und nachdem sie wieder in den Sat tel gestiegen war, legten die Ritter Lancelot, der nun so tief schlief wie Merlin unter seinem Weißdornbusch, auf seinen Schild und trugen ihn in ihrer Mitte zum Schloß der Königin zurück und zogen Lancelots Pferd hinter sich her. Und als sie im Schloß, das Chariot hieß, anka men, legten sie den Schlafenden auf ein Lager aus Stroh in das Schloßverlies. Als Lancelot nach einer Weile erwachte und sich in seinem seltsa men Gefängnis fand, bemerkte er neben sich ein Mädchen, das ihm ein Tablett mit Brot und Fleisch und einen Becher Wein hinhielt. »Wie steht es mit Euch, Herr Ritter?« fragte sie ganz freundlich. Und Sir Lancelot blickte sich verwundert um und sagte: »Wie bin ich denn hierhergekommen. Ich bin doch unter einem Apfelbaum einge schlafen.« »Nein, dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte das Mädchen. »Labt Euch nun an der Speise. Morgen sollt Ihr mehr erfahren.« Das sagte sie mit warmer Stimme, denn der junge Ritter, der nun ganz in der Hand ihrer Herrin und der anderen Königinnen war, tat ihr leid. Und sie verließ Lancelot. Aber Lancelot rührte die Speise nicht an, sondern lag die ganze Nacht über hungrig und wach und ängstlich und zornig auf der Spreu. Am anderen Morgen öffnete sich die Tür wieder, und die vier Kö niginnen traten ein, und jede trug ein wunderbares Seidenkleid mit herrlichen Juwelen. Und eine von ihnen, die fast so schön und beinahe gleich alt war wie seine Mutter in Benwick – er hatte ja keine Ahnung, daß es Morgan die Fee war -, sprach zu ihm: »Ei, Herr Lancelot vom See, wir kennen Euch, obwohl Ihr uns nicht kennt. Wir wissen, daß Ihr der Sohn eines Königs seid und dazu bestimmt, der größte von al len Artusrittern zu werden, und ebenso wissen wir, daß es nur eine Frau in Eurem Herzen gibt, und daß es die Königin neben Artus ist. Doch nun werdet Ihr sie verlieren und sie Euch, denn Ihr sollt diesen Ort nie mehr lebendig verlassen, wenn Ihr nicht eine von uns an ihrer Stelle zur Geliebten wählt.« Und sie lächelte ihn an und wölbte den 93
Hals und umschmeichelte und umschnurrte ihn wie eine wohlgenährte Katze, denn sie zweifelte nicht an seiner Wahl. »So wählt denn, süßer Ritter.« »Vor eine schwierige Wahl stellt ihr mich da«, sagte Lancelot, »zu sterben oder eine von Euch zur Geliebten zu nehmen. Aber es fällt mir nicht schwer, meine Wahl zu treffen. Wenn es unbedingt sein muß, will ich lieber hier sterben als mich in eine von euch verlieben, denn ihr seid allesamt falsche Schmeichlerinnen, und wenn ich den Tod er leide, werde ich wenigstens meine Ehre nicht verlieren. Und was die Königin angeht: gebt mir Pferd und Rüstung zurück, und ich will im Kampf gegen jeden Ritter beweisen, daß sie ihrem Herrn, dem König, die treueste Gattin ist, die je gelebt hat.« »Ihr weist uns also ab?« sagte Morgan die Fee, und ihre Augen ver engten sich zu einem Schlitz, wie bei einer Katze, bevor sie faucht. »Ihr weist mich ab?« Und die Frauen machten kehrt und stürzten hinaus, den Duft von Muskat und Rosenöl mit sich nehmend. Und dann wurde die Gefäng nistür mit lautem Krachen zugeschlagen. Als das Licht, das durch die hochgelegenen, kleinen Fenster herein fiel, anzeigte, daß es allmählich Abend wurde, kam das junge Mäd chen wieder mit Brot, Fleisch und Wem und stellte alles auf den hö l zernen Stuhl neben dem Strohlager und fragte Sir Lancelot noch ein mal: »Wie steht es mit Euch?« »Ich glaube, es war noch nie so schlecht um mich bestellt wie jetzt«, sagte er, »denn ich habe mir den Zorn von vier Frauen zugezo gen, die mich hier gefangenhalten, und sie werden sich bald fürchter lich an mir rächen, wenn ich ihnen nicht entkommen kann.« Das Mädchen schaute auf das Essen, das es eben hereingetragen hatte, und stieß einen leisen Seufzer aus. »Das ist wahr, denn ich habe gehört, wie sie miteinander sprachen. Und weil Ihr ihre Liebe zurück gewiesen habt, lieben sie Euch in der Tat nicht!« Und dann, wie wenn sie im selben Augenblick einen Entschluß gefaßt hätte, wandte sie sich zu Lancelot und blickte ihm ins Gesicht. »Es macht mir wahrha f tig Kummer, Euch in der Gewalt dieser Königinnen zu sehen, denn sie haben schon viele gute Ritter zu Fall gebracht. Ich empfinde nichts für 94
sie und bin ihnen auch nicht verpflichtet. Ich will Euch helfen, falls Ihr mir ebenfalls helft.« Lancelot schaute sie mit einem prüfenden Blick an und fragte sich, ob er ihr wohl trauen könne, und dann hatte er das Gefühl, daß er es durfte. »Verhelft mir zur Flucht«, sagte er, »und ich werde alles tun, was Ihr von mir verlangt, solange es nicht gegen meine Ehre geht.« »Dann will ich Euch meine Sorge anvertrauen. Mein Vater, König Bagdemagus, hat für nächsten Dienstag ein Turnier ausrufen lassen, in dem er mit dem König von Northgalis, dessen Königin eine der Frau en ist, die Euch hier gefangenhalten, kämpfen wird. Viele Ritter wer den hinkommen, und bei dem letzten Turnier dieser Art haben drei Ritter, die auch am Dienstag mitkämpfen werden, meinen Vater be siegt. Wenn Ihr an diesem Tage an seiner Seite mitkämpft, werde ich Euch zur Flucht verhelfen.« »Euer Vater ist mir als guter Ritter und gerechter Herrscher be kannt«, sagte Lancelot, »und so werde ich im Turnier gerne in seinen Reihen mitstreiten.« »Dann werde ich morgen früh vor Tagesanbruch zu Euch kommen und Euch hier abholen und für Roß und Rüstung sorgen.« Am ändern Morgen kehrte das Mädchen mit einem großen Schlüs selbund wieder zurück. »Ich habe den Wachen ein Schlafmittel in den Wein geschüttet«, sagte sie, »aber sie werden nicht lange schlafen. Wir müssen uns also beeilen!« Und sie führte Lancelot durch zwölf verschlossene Türen hinaus. Die letzte Tür war eine Hintertür in der Außenmauer des Schlosses. Draußen empfing sie der frische, frühmorgendliche Duft des Waldes, und sie atmeten befreit auf. Dann brachte das Mädchen Lancelot über das offene Feld zu einer versteckt gelegenen Stelle am Waldrand. Da warteten schon Roß und Rüstung auf ihn, und sie half ihm die Rü stung anziehen und aufs Pferd steigen. »Zwölf Meilen nördlich von hier«, sagte das Mädchen, »liegt ein Benediktinerkloster. Erwartet mich dort, ich werde meinen Vater zu Euch bringen.«
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»Bei Gott, ich werde Euch nicht im Stich lassen«, sagte Lancelot und trieb sein Pferd in den Wald hinein. Gegen Abend erreichte er das Kloster, und die Mönche hießen ihn willkommen und führten sein Pferd zum Stall und brachten ihm zu essen und zeigten ihm einen Platz zum Schlafen. Lancelot blieb zwei Tage lang bei ihnen und wartete auf König Bagdemagus. Und am drit ten Tage kam das Mädchen mit seinem Vater und einer tüchtigen Rit terschaft. Das war am Sonntag. Am Dienstag ritten sie dann zum Tur niergelände, wo sie vom König von Northgalis und seinen Rittern er wartet wurden. Das war auf einer schönen, weiten Wiese, die von vie len Zelten umsäumt war, die in allen Farben eines Gartens im Sommer gestreift und gescheckt waren. Sir Lancelot kämpfte so edelmütig und tapfer mit den Rittern von Bagdemagus mit, daß er drei Ritter der Tafelrunde zu Fall brachte und noch viele andere Ritter, und König Bagdemagus wurde der Turnier sieg zugesprochen. Dabei war Lancelot selbst von niemandem erkannt worden, denn er trug den weißen Schild, den man ›Virgescue‹ nennt und der von Rittern getragen wird, die noch keinen eigenen besitzen. Und Lancelot verschonte alle Ritter, die er zu Fall gebracht hatte, und schickte sie zu König Artus, dem mußten sie die Treue schwören, und sie mußten ihm sagen, der namenlose Ritter habe sie gesandt. Das tat er, weil er nicht wollte, daß zwischen ihm und den anderen Rittern der Tafelrunde eine Mißstimmung aufkäme. Und als es zu dämmern begann, kehrte er mit Bagdemagus und des sen junger Tochter auf ihr Schloß zurück. Natürlich konnte das Mäd chen nicht mehr zu Morgan der Fee, deren Dienerin es gewesen war, zurückkehren, nachdem es Lancelot zur Flucht verholfen hatte. Lance lot wurde herzlich aufgenommen, und man bot ihm viele kostbare Ge schenke. Doch er wollte sie nicht annehmen und sagte: »Nein, das war eine klare Abmachung zwischen Eurer Tochter und mir, und beide haben wir unseren vollen Anteil erhalten.« Am anderen Morgen verabschiedete er sich, denn er hatte nun nichts anderes mehr im Sinn, als seinen Bruder Lionel zu finden, der verschwunden war, während er unter dem Apfelbaum schlief. Und bevor er wegritt, sagte er noch zu der Königstochter: »Falls Ihr je 96
wieder meine Hilfe benötigt, laßt es mich wissen; ich werde Euch nicht im Stich lassen, wenn ich noch am Leben bin.« Und er setzte sich aufs Pferd und ritt davon, und nie hat er erfahren, daß die Tochter des Königs ihm lange mit dem salzigen Geschmack ihrer Tränen auf den Lippen nachsah. Lancelot war viele Tage lang im Walde unterwegs, und schon reif ten die ersten Beeren an den kuppelförmigen Brombeersträuchern, und die ersten goldgelben Flecken erschienen zwischen den grünen Farnwedeln, jedoch von Lionel hatte er immer noch keine Spur ge funden. Da traf er eines Tages auf einem engen Waldpfad den Holz fäller, dem auch Sir Ector begegnet war, und er fragte ihn dasselbe, was ihn schon Ector gefragt hatte, und erhielt auch ziemlich dieselbe Antwort. So kam er schließlich zur Furt neben dem befestigten Ritter gut und zur großen Weide, deren Äste ins Wasser hingen. Und er sah die Schilde, die wie seltsame Früchte von den schweren Ästen herab hingen. Und da entdeckte er auch die Schilde seines Vetters Lionel und seines Halbbruders Ector. Sir Lancelot ritt auf den Baum zu, und nachdem er das kupferne Becken entdeckt hatte, schlug er mit dem Speerende darauf ein, bis der Boden herausfiel. Doch kein Mensch erschien. Er tränkte sein Pferd an der Furt, dann ritt er vor den Toren des Rittergutes auf und ab und begann sich dermaßen zu ärgern, daß das Pferd unter ihm ganz unmutig wurde. Schließlich erblickte er fern am Waldrand einen rie sengroßen Ritter in voller Rüstung auf dem mächtigsten Schlachtroß, das er je gesehen hatte. Und vor sich her trieb er ein zweites Pferd, auf dessen Sattel ein Ritter festgebunden war. Und als der fremde Ritter immer näher kam, erkannte Lancelot an der Bemalung des Schildes, der vom Sattel des gefangenen Ritters herabhing, daß es Sir Gaheris, der jüngere Bruder Sir Gawains, war. Da ritt Lancelot auf die beiden zu. »Edler Herr!« rief Lancelo t schon von weitem. »Nehmt diesen verwundeten Ritter vom Pferd und laßt ihn ausruhen, während wir beide unterdessen unsere Kräfte mes sen wollen, denn nun habt Ihr meinen Brüdern von der Tafelrunde wirklich genug Schmach und Schmerz zugefügt. Verteidigt Euc h al so!« 97
»Gerne«, schrie Sir Tarquinius zurück, »um so lieber, wenn auch Ihr zu dieser Gesellschaft gehört. Ich trotze Euch und all Euren Brü dern!« »Genug der Worte«, sagte Lancelot, »nun ist es Zeit für den Kampf!« Und Tarquinius ließ das Pferd mit Sir Gaheris im Sattel los, und er und Lancelot ritten so weit auseinander, bis die ganze Wiese vor der Festung zwischen ihnen lag. Dann legten sie die Lanzen ein, spornten die Pferde zum Galopp, jagten mit lautem Getöse aufeinander los und brachten sich mit den Speeren, die beide mitten auf den Schild des Gegners prallten, mit lautem Krachen mitsamt den Pferden zu Fall. Nachdem sich beide zur Seite gerollt hatten, außer Reichweite der trampelnden Pferdehufe, zückten sie die Schwerter, stürmten wie zwei Rothirsche im Oktober aufeinander los, versetzten einander mächtige, weit ausholende Schläge, die an manchen Stellen die Rüstungen zer rissen, und schlugen sich blutige Wunden, wo immer sie eine Lücke in der Deckung des Gegners fanden. So kämpften sie beinahe zwei Stun den miteinander, bis sie schließlich beide erschöpft ein paar Schritte zurückwankten und sich auf ihre Schwerter stützten. »Ihr seid der beste und stärkste Ritter, mit dem ich je gekämpft ha be«, sagte Sir Tarquinius, und er rang hinter seinem Visier nach Atem. »Ein guter Kämpfer war mir schon immer angenehm. Ich wette, ich weiß, wer Ihr seid. Ich gebe Euch die Hand darauf: Wenn ich verliere, will ich Euch alle Ritter ausliefern, die ich gefangenhalte.« »Und wer, meint Ihr, bin ich?« fragte Sir Lancelot. »Sir Lancelot vom See, der meinen Bruder Sir Carrados erschlug und dem ich Rache geschworen habe.« »Ach!« sagte Sir Lancelot. »Der bin ich in der Tat! Ich habe Sir Carrados in ehrlichem Kampfe erschlagen, doch wenn Ihr Rache ge schworen habt, dann soll sein, was sein muß.« »Das steht fest«, sagte Sir Tarquinius, »und wir werden nicht von der Stelle weichen, bis einer von uns beiden tot ist.« Da begannen sie wieder miteinander zu kämpfen, so erschöpft sie waren und so unsicher sie auch auf den Beinen standen. Und Sir Tar 98
quinius' Visier sank immer weiter herunter, und seine Wachsamkeit ließ immer mehr nach, da plötzlich sprang Sir Lancelot mit einem Satz auf ihn zu, ließ den Schild fallen und packte ihn beim Helmbusch und versetzte ihm einen Schwertstreich an den Hals, so wuchtig, daß er ihm beinahe den Kopf abgetrennt hätte. Tarquinius stürzte zu Boden, und das Krachen der Rüstung dröhnte durch den ganzen Wald bis zu den Wipfeln der Bäume hinauf. Da ging Lancelot zu Sir Gaheris und band ihn vom Sattel los, und als er sah, daß er nicht allzu schlimm verwundet war, schickte er ihn zur Burg mit der Bitte, die gefangenen Ritter zu befreien. »Und grüßt sie bitte alle von Sir Lancelot vom See und sagt ihnen, sie sollen in aller Höflichkeit vor dem nächsten Ostertag bei Artus in Camelot er scheinen. An Ostern werde ich dann auch zum Hofe reiten.« Da ging Sir Gaheris zur Burg und überwältigte die Wache, die ihm den Weg versperren wollte, und befreite die Gefangenen, unter denen sich auch Sir Lionel und Sir Ector und Sir Kay befanden. Unterdessen wusch sich Lancelot im kalten, klaren Wasser der Furt die Wunden aus. Dann pfiff er sein Pferd herbei und ritt dem nächsten Abenteuer entgegen. Hierhin und dorthin ritt er, und die Wälder begannen in allen Farben zu leuchten. Und La ncelot half vielen Frauen aus bitterer Not und be siegte viele böse Ritter und erlebte viele seltsame Abenteuer. Aber es wurde immer kälter und kälter, und er hatte keinen Schutz gegen den Winterregen und keine Zufluchtsstätte, wo er nachts sein Haupt hinle gen konnte. Weihnachten kam immer näher, und die Tage wurden immer kälter, und die Hufe fingen schon an zu singen im Frost. Da kam Lancelot eines Abends, als die Sonne eben hinter den Bäumen verschwand, zu einem schönen Landhaus, und er bat die betagte Herrin des Hauses um Unterkunft für die Nacht, und sie nahm ihn gastfreundlich auf. Nach dem sie sein Pferd gefüttert und in einem warmen Stall untergebracht hatte, bereitete sie Lancelot ein üppiges Nachtmahl, denn sie wußte, welchen Hunger junge Burschen zuweilen haben können, und als sol chen schätzte sie Lancelot ein. Dann brachte sie ihn in die Dachkam mer über dem Hauseingang, in der eine Pritsche stand, die mit groben 99
Leintüchern und dicken Decken bezogen war. Und das Heu war noch frisch und verbreitete seinen Duft im ganzen Raum. Sobald die Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte, zog er die Rüstung aus und legte sich in Hemd und Reithosen zwischen die Laken und schlief sofort ein. Aber nach kurzer Zeit wurde er von hellklingenden Hufschlägen geweckt, denn der Boden war inzwischen gefroren, und der Reiter schien es äußerst eilig zu haben. Dann hörte er, wie an das Tor ge pocht wurde. Lancelot wälzte sich aus dem Bett und spähte zum Fen ster hinaus. Die Landschaft war in weißes Mondlicht getaucht, und die Schwelle und der Sims des Pförtnerhäuschens funkelten im Frost. Da entdeckte er einen Ritter, der sich verzweifelt gegen drei andere Ritter verteidigte. ›Drei gegen einen ist keine faire Sache‹, sagte Lancelot zu sich selbst, ›gleichgültig, auf welcher Seite das Recht ist.‹ Die Hausbe wohner aufzuwecken würde jetzt zu lange dauern. Außerdem hatte er nur ältere Menschen gesehen, und die haben ja nicht mehr das beste Gehör. Lancelot fegte mit einem Schlag die Decken von der Pritsche, knüpfte sie an den Enden zusammen, befestigte das eine Ende am Fensterbalken, warf das unbefestigte andere Ende zum Fenster hinaus und packte das Schwert Joyeux, das neben dem Bett lag. Dann schleuderte er seinen Schild auf die Ritter hinunter, und während es schallte und schepperte, ließ er sich an seinem Seil hinabgleiten. »Wenn ihr schon gegen einen einzelnen Mann kämpfen wollt«, schrie er, »dann gegen mich!« Die Ritter waren entsetzt zurückgewichen, als Lancelot vor ihnen die Mauer herunterkam, und nun stiegen sie von den erschreckten Pferden und stürzten sich auf Lancelot und bedrängten ihn und den anderen Ritter von allen Seiten. Doch Lancelot hatte seinen Schild wieder geschnappt, handhabte ihn mit großem Geschick wie eine Waffe und war zugleich so gut durch ihn geschützt, als hätte er eine Rüstung getragen. Er stemmte seinen Rücken gegen die massiven Torbalken, trieb die Angreifer immer wieder zurück und lachte ihnen ins Gesicht. Der verfolgte Ritter wollte ihm zur Seite stehen, doch Lancelot schrie nur: »Nein, drei gegen einen wollten sie, drei gegen 100
einen sollen sie haben! Überlaßt sie nur mir!« Der Ritter fügte sich nur allzu gerne, zog sein Pferd zur Seite und beteiligte sich nicht mehr am Kampf. Und durch sechs weitere Schlägen mit Joyeux, die den Rittern auf den Helmbusch niedersausten, daß ihre Zähne zusammenschlugen, brachte er sie schließlich zu Fall. Ächzend und stöhnend kämpften sie sich allmählich wieder auf die Beine, während sich Lancelot auf sein Schwert stützte und etwas schneller atmete als gewöhnlich. »Herr Ritter, wir erflehen Eure Gna de, denn Euch ist keiner gewachsen!« brachten sie keuchend hervor. Doch Lancelot hatte unterdessen Zeit gehabt, einen Blick auf den Schild des geflüchteten Ritters zu werfen, und an der Bemalung hatte er erkannt, daß es sich um Sir Kay handelte. Da war ihm klar, weshalb der Ritter so verzweifelt geflohen war und sich so bereitwillig aus dem Kampfe zurückgezogen hatte, denn Sir Kay war in der Tat kein großer Kämpfer. Lancelot hätte beinahe laut herausgelacht, doch er unterdrückte das Lachen und sagte nur: »Nein, ich möchte nicht, daß ihr euch mir ergebt. Ergebt euch Sir Kay.« Das brach den dreien wahrhaftig noch den Rest ihres Stolzes. »Herr«, sagte einer von ihnen, »wir sind Sir Kay nachgejagt und hät ten ihn auch ohne weiteres besiegt, wenn Ihr Euch nicht plötzlich ein gemischt hättet. Warum sollen wir uns also ihm ergeben?« »Wenn ihr es nicht tut«, sagte Lancelot schlicht, »muß ich anne h men, daß ihr nicht um Gnade flehen wollt, also werde ich euch in die sem Fall töten.« Da gaben sie nach und baten Sir Kay um Gnade. »Zur Osterzeit«, sprach Lancelot, »sollt ihr alle in Camelot eintref fen und dem König und der Königin Ginevra Treue geloben und euch ganz ihrer Gnade und ihrem Erbarmen unterstellen. Und sagt, daß ihr von Sir Kay gesandt seid. Nun steigt in die Sättel und verschwindet!« Und als die drei verschwunden waren, schlug er mit dem Schwert knauf an das Haustor, bis das ganze Haus wach war und die alte Hausherrin erschien und ihnen öffnete. »Ich dachte, Ihr seid im Bett«, sagte die alte Frau ganz überrascht. 101
»Das war ich auch«, sagte Lancelot, »doch ich stieg zum Fenster hinaus, um einem Freund und Gefährten die nötige Hilfe zu bringen.« Und sobald sie eingetreten waren, erkannte Sir Kay Lancelot, und etwas steif – denn es fiel ihm nicht leicht, sich für etwas zu bedanken – sagte er zu ihm: »Es scheint, daß ich Euch mein Leben verdanke.« »Das ist gern geschehen«, sagte Lancelot, dem es fast ebenso schwerfiel, Dank entgegenzunehmen, wie es Sir Kay schwerfiel, ihn auszusprechen. Und nachdem Sir Kay die Rüstung ausgezogen und man etwas ge gessen hatte, gingen die beiden Ritter auf die Dachkammer hinauf, legten sich ins warme Stroh und zogen die Decken über sich und schliefen bald ein. Doch Lancelot wachte schon am frühen Morgen auf, während Sir Kay noch schnarchte. Und als er im schwächer werdenden Schein der Nachtlampe auf den Pflegebruder des Königs herabschaute, fiel ihm Artus' Ausspruch ein: »Er war ein unglücklicher Junge, und nun ist er ein unglücklicher Mann, ich fürchte, er wird sein Leben lang unglück lich sein.« Lancelot wußte, daß sich viele Ritter über Kay lustig machten und sich keine Gelegenheit entgehen ließen, ihn herunterzumachen. Er mußte innerlich lächeln und zog sich ganz leise, um Kay ja nicht auf zuwecken, dessen Rüstung an, die ihm gar nicht so schlecht paßte, denn sie waren sich an Körpergröße ziemlich gleich. Nur die Schulter riemen mußte er etwas lockerer schnallen. ›Für einmal soll er stolz und unbelästigt umherreiten‹, dachte Lancelot und hob Kays Schild vom Boden auf, behielt jedoch sein eigenes Schwert. Er verließ die Kammer, so leise er konnte, und verabschiedete sich von der alten Frau. Dann holte er Kays Pferd aus dem Stall und ritt davon, und als Kay erwachte, stellte er bestürzt fest, daß ihm Roß und Rüstung fehl ten. Lancelot war schon tief in den Wald gedrungen, als er sich plötzlich fragte, ob Kay den Scherz wohl so freundlich aufnehmen werde, wie er gemeint war, oder ob er in Wirklichkeit grausam und hochmütig gehandelt habe. Doch inzwischen war es zu spät umzukehren, und so mußte er die Sache auf sich beruhen lassen. 102
Am anderen Tag stieß er auf vier Ritter von der Tafelrunde, die um eine Eiche saßen. Es waren Sir Ector von den Sümpfen, sein Halbbru der, Sir Segramur der Begehrliche, Sir Uwain, der Sohn Morgans der Fee, und Sir Gawain, der der ganzen Bruderschaft der Tafelrunde als ihr Haupt vorstand. Und als sie Sir Kay, wie sie meinten, auf sich zureiten sahen, stießen sie einander in die Seiten und begannen zu la chen, und Sir Segramur ritt auf Kay zu und versetzte ihm einen Schlag, worauf ihn Lancelots Speerspitze mit sicherem Stoß aus dem Sattel beförderte. »Dieser Mann hat doch breitere Schultern als Sir Kay«, sagte Ector. »Wir wollen sehen, ob er auch meinen Schlag parieren kann!« Und Lancelot beförderte auch ihn aus dem Sattel.» Bei meiner Treu«, sagte Sir Uwain, »das ist nicht Sir Kay! Er hat Kay gewiß erschlagen und seine Rüstung gestohlen.« Und auch er ritt gegen Lancelot – und hörte noch das Krachen des Zusammenpralls, bevor ihm schwarz vor Augen wurde. Da packte Sir Gawain seinen Speer und ritt in gestrecktem Galopp gegen Lancelot. Der spornte sein Pferd vor dem Gegenschlag plötzlich so heftig an, wie das nur wenige Reiter fertigbringen, so daß er Ga wain mitsamt seinem Roß zu Fall brachte. Dann ritt Lancelot in aller Ruhe weiter. Und er mußte unter seinem Helm lächeln und dachte: ›Nun, immerhin habe ich Sir Kay vier Stürze und viele Hautschürfun gen erspart.‹ Und dann dachte er auch: ›Gott möge den erfreuen, der diesen Speer gemacht hat, denn ich hatte noch nie einen besseren in der Hand!‹ Und die vier Ritter kamen allmählich wieder zur Besinnung und halfen einander auf die Beine und holten ihre Pferde. »Das war bestimmt nicht Sir Kay«, sagte Sir Segramur. Und Sir Gawain meinte: »Ich glaube, das war Sir Lancelot. Er war zwar nur noch drei Tage am Hof, nachdem er zum Ritter geschlagen worden war, aber ich habe aufgepaßt, wie er sich am zweiten Tag beim Tjosten schlug, und ich erkenne ihn auch an seinem Ritt.« Und sie besprachen unterwegs noch mancherlei, während sie nach Camelot ritten, wo sie Weihnachten feiern wollten. 103
Und Sir Lancelot ritt immer noch durch die verschneiten Wälder und packte jede Gelegenheit zu einem Abenteuer am Schöpf. Der Winter kam immer näher, und es begann zu schneien, und schon bald lag dichter Schnee auf der Erde und auf den Ästen, und in langen, fin steren Nächten heulte der Wind wie ein ganzes Wolfsrudel. Eines Tages, als es schon auf den Frühling zuging, begegnete ihm das seltsamste aller Abenteuer, die er in diesem Jahre auf seinen ein samen Ritten erlebt hatte. So sonderbar war dieses Abenteuer, daß es ihm noch lange hinterher wie ein Traum erscheinen wollte. Und das war so gekommen: Als er einmal auf einem Waldweg ritt, begegnete ihm eine junge Frau, die dick vermummt war, denn es war bitter kalt. Die Frau schaute ihm ins Gesicht – denn Lancelot ritt, wie die meisten Ritter, wenn sie nicht gerade kämpften, mit geöffnetem Visier – und rief: »Ach, Sir Lancelot! Gott sei Dank, daß wir uns get roffen haben!« »Wie kommt es, daß Ihr meinen Namen kennt?« fragte Lancelot, der sich schon daran gewöhnt hatte, mit Sir Kay verwechselt zu wer den, denn er trug immer noch dessen Schild.» Vergangene Ostern war ich an König Artus' Hof und habe am Tage, nachdem Ihr Ritter geworden wart, meinem Bruder beim Tjosten zu gesehen.« Und vor Aufregung ergriff sie seine Zügel, wie wenn sie ihn mit sich ziehen wollte, so daß Lancelots Pferd erschrak und zu tänzeln anfing. »Sachte«, sagte Lancelot. »Was möchtet Ihr denn von mir?« »Ach, Herr Ritter, ich bedarf dringend Eurer Hilfe – und zwar für meinen Bruder, von dem ich Euch eben berichtet habe. Denn heute morgen hat er mit einem bösen Ritter gekämpft, mit Namen Gilben der Bastard. Und er hat Sir Gilbert erschlagen, doch wurde er selbst dabei schwer verletzt. Die Wunde hört einfach nicht auf zu bluten, er schwebt zwischen Leben und Tod. Nicht weit von hier wohnt eine Hexe, die Allewes heißt, – und als ich sie ganz verzweifelt um Hilfe bat, lachte sie mich aus und sagte, die Blutung werde nicht eher ge stillt, als bis ich einen Ritter gefunden hätte, tapfer genug, um sich in die Kapelle zu wagen, die ›die Gefährliche‹ heißt, wo Sir Gilberts Leichnam nun liegt. Und dann müsse er das Schwert, das dort liegt, 104
und ein Stück vom Tuch, mit dem der Leichnam bedeckt ist, heraus holen. Wenn er dann mit dem Schwert die Wunde berührt und hinter her den Stoff um das Schwert wickelt, wird das Bluten gestillt und mein Bruder wieder gesund.« »Das ist eine merkwürdige Geschichte«, sagte Sir Lancelot, »aber wer ist denn Euer Bruder?« »Herr, er ist Sir Meliot von Logure.« Da wurde Lancelot für einen Moment ganz schweigsam, denn er er innerte sich noch gut an den jungen Ritter, der noch nicht lange in Camelot war, als er selbst von Benwick gekommen war, und von dem das Gerücht ging, er sei irge ndwie mit Nimue, der Frau vom See, verwandt. Und seine Nackenhaare sträubten sich ein wenig, und das Gefühl zu träumen überkam ihn. Doch dann sagte er: »Dann ist er ja ein Bruder von der Tafelrunde. Ich werde tun, was ich kann, um ihm zu helfen.« »Dann, Herr«, sagte die Frau, »folgt diesem Pfad, denn er bringt Euch zur Gefährlichen Kapelle. Ich werde hier auf Euch warten, bis Ihr zurückkommt. Und Gott steh Euch bei, daß Ihr zurückkommt. Denn außer Euch gibt es keinen anderen lebenden Ritter mehr, der dieses Abenteuer bestehen könnte.« Da machte sich Lancelot auf den Weg. Das Eis begann schon wie der zu schmelzen, während der tauende Schnee überall von den Ästen fiel. Nach einer Weile kam er zu einer Lichtung neben dem Weg, und mitten darauf stand zwischen rabenschwarzen Eiben eine graue, düste re Kapelle. Lancelot stieg ab, band das Pferd an das schmale Tor und trat in den Kapellenhof. Und da sah er, daß von den verkrümmten Ästen des größten Baumes neben der Kapellentür viele Schilde herab hingen, und zwar verkehrt herum, im Zeichen des Todes. Und dann erblickte er zwischen den Eiben über dreißig Ritter, die in schwarzer Rüstung und mit gezückten Schwertern dastanden. Sie waren alle mindestens einen Kopf größer als gewöhnliche Menschen. Und ihre Visiere waren geöffnet und zeigten kahle Totengesichter, und als La n celot nähertrat, grinsten sie ihm entgegen und knirschten mit den Zä h nen, doch kein einziger blies eine Atemwolke in die kalte Luft. Und Angst legte sich wie kalter Nebel um Lancelot, und wieder sträubten 105
sich ihm die Haare im Nacken, doch diesmal stärker als zuvor. Doch er zückte das Schwert und brachte den Schild in Stellung und ging fe sten Schrittes auf die Männer zu, wie ein Ritter, der zur Schlacht schreitet. Und als er schon ganz nahe war, wichen sie zurück und zerstreuten sich in alle Richtungen, doch ohne im schmutzigen Schnee die gering ste Spur zu hinterlassen. Und Lancelot schritt auf die Kapelle zu und trat über die Schwelle. Nur eine einzige Lampe, die vom Gewölbe hing, beleuchtete den Raum. Unter der Lampe lag ein Toter auf einer Bahre, ganz eingehüllt in eine karmesinrote Seidendecke. Und Lancelot schien es hier drin nen noch zehnmal kälter als draußen in der rauhen Winterluft, und die Kälte drang ihm bis ins Mark. Er zog das Schwert, bückte sich neben der Bahre und schnitt einen langen Streifen aus der roten Seidendecke heraus, die den nackten Leichnam bedeckte. Und während er den Streifen noch herausschnitt, begann sich der Boden unter seinen Füßen zu neigen, wie wenn es un ter der Kapelle einen Erdrutsch gegeben hätte, und die Lampe pendel te an ihrer Kette durch den Raum und warf absonderliche Schatten auf die Wände, so daß es schien, als wäre der Raum vom Schlag düsterer Flügel erfüllt, und dann schien es auch, als ob sich Sir Gilberts Leic h nam unter der Decke rührte. Lancelot schlug das Herz bis zum Hals, und der Schreck preßte ihm die Kehle zu. Doch die Erde beruhigte sich wieder, und die Lampe hing nach ei ner Weile wieder ruhig und senkrecht herunter, die düsteren Schatten hatten sich verzogen, und der Tote lag unter der Decke reglos da. Und als Sir Lancelot sein Schwert wieder einsteckte, bemerkte er neben der Bahre ein anderes prächtiges Schwert. Er hob es auf, stopfte den roten Seidenstreifen in die Höhlung seines Schildes und trat wieder in das graue Licht des verschneiten Kapellenvorplatzes hinaus. Die schwarzen Ritter standen wieder wartend zwischen den Eiben. Und sie fuhren ihn wie aus einem Munde mit schrecklicher Stimme an: »Ritter Lancelot, leg dieses Schwert nieder, oder du wirst ster ben!« 106
»Ob ich lebe oder sterbe«, sagte Lancelot, »durch Worte laß ich mir dieses Schwert nicht rauben. Kämpft mit mir, wenn ihr es haben wollt.« Und wie schon beim ersten Mal wichen sie wieder vor seinen Au gen zurück, ohne eine Spur im Schnee zu hinterlassen. Und so ging er wieder zum Torpfosten, wo er sein Pferd angebunden hatte. Doch ne ben dem Pferd erwartete ihn eine fremde Frau, deren Gesicht bis auf zwei große Augen ganz im Schatten eines dunklen Schleiers lag. Und sie sagte mit ganz leiser, aber eiskalter Stimme: »Sir Lancelot, bitte laßt dieses Schwert hier zurück. Es wird Euch den Tod bringen!« »Das werde ich nicht, trotz Eurer Bitte«, sagte Lancelot. Und die Frau lachte leise, und ihr Lachen klang, wie wenn Eiszapfen aneina n derstoßen. »Wie weise Ihr seid! Hättet Ihr das Schwert nämlich auf meine Bitte dagelassen, so wärt Ihr nie mehr an Artus Hof zurückge kehrt und hättet die Königin Ginevra nie mehr erblickt. Nun sollt Ihr mich, zum Zeichen, daß wir keine üblen Absichten gegeneinander he gen, küssen und dann Eures Weges ziehen.« »Nein!« sprach Lancelot, der schon die Zügel des Pferdes in der Hand hielt. »Gott bewahre!« Da stieß die Frau einen schrillen Klageschrei aus und schien plötz lich ganz dünn zu werden und begann zu zittern, als ob ihr der Wind in die Knochen gefahren wäre. »Ach, ich Elende! Nun sind all meine Mühen umsonst. Denn viele Male habe ich Euer Bild im Traume ge sehen, tags im Wasser von Bächen und abends im Schein von Feuern, und ich hatte Euch zu lieben begonnen. Ich war es, die die Gefährliche Kapelle errichtet hat, um Euch in die Falle zu locken und im Netz meiner Zaubersprüche zu fangen. Und hättet Ihr mich geküßt, so wür det Ihr jetzt tot in meinen Armen liegen und für immer mir gehören, Ihr, der Ihr der beste von allen Artusrittern seid. Aber Ihr habt etwas in Euch, das über meine Kräfte geht, und so konntet Ihr mein Zauber netz zerreißen. Habt Erbarmen mit mir, denn ich bin eine gebrochene Frau…« Da vermutete Lancelot, daß sie die Hexe Allewes sei, von der ihm Sir Meliots Schwester erzählt hatte, und er schlug etliche Male das 107
Kreuz. »Gott behüte mich vor Euren raffinierten Künsten«, rief er, schwang sich aufs Pferd und ritt davon. Lancelot nahm denselben Weg zurück, den er gekommen war, bis er wieder zu Meliots Schwester kam, die noch immer an derselben Stelle stand. Und als sie ihn erblickte, klatschte sie in die Hände und brach in Freudentränen aus. Dann legte sie wieder, aber diesmal nur leicht, die Hand auf die Zügel und führte Lancelot zum nahegelegenen Schloß ihres Bruders. Sir Meliot lag auf dem Bett, und der Arzt und die Knappen standen hilflos um ihn herum, und aus seiner Hüftwunde kam von Zeit zu Zeit immer noch etwas Blut heraus. Sir Lancelot trat an das Bett, zog das Schwert, das er aus der Kapel le mitgebracht hatte, berührte mit der Klinge die blutende Wunde, säuberte die Schwertspitze mit dem Seidenstreifen, und sofort hörte der Blutfluß auf, und die Wunde schloß sich, und Sir Meliot stieß ei nen langen Seufzer aus, richtete sich im Bett auf und war wieder ge sund und munter. Und zwischen zwei bangen, langen Herzschlägen fragte sich Lance lot, ob das das Wunder sei, um das er Gott so lange und so inbrünstig gebeten hatte. Doch dann erkannte er, daß es sich hier um etwas ganz anderes handelte. Hier waren Magie und Hexenkunst im Spiel gewe sen. Und er spürte auch, daß sein Wunder, wenn er es je würde voll bringen dürfen, sich durch irgend etwas ankündigen würde, durch das Gefühl, von Gottes Kraft wie von einer lodernden Flamme erfüllt zu sein. Hier hatte er einfach einen Bann gebrochen, nichts weiter. Aber trotzdem war er froh, Sir Meliot, seinen Bruder in der Tafel runde, gerettet zu haben. Und die drei genossen das Beisammensein, und Lancelot blieb mehrere Tage bei ihnen. Doch als der Schnee zu schmelzen begann, sagte er zu Meliot: »Nun muß ich aufbrechen, denn es paßt schlecht zu einem Ritter auf Abenteuersuche, sieben Nächte lang in einem weichen Federbett zu verbringen. Und bevor ich um Ostern an Artus' Hof zurückkehre, erwarten mich noch einige Abenteuer. Kommt zu dieser Zeit ebenfalls zum Hof, dann treffen wir uns dort wieder.« 108
Lancelot ritt kreuz und quer durch das bewaldete Land, und oft ritt er auf sumpfigen Wegen, die zur Hälfte unter Wasser standen, in dem sich abends die Sonne spiegelte, und die Gänse flogen schreiend auf, wenn er vorbeiritt, und zogen nordwärts. Und er kam zu den Hoch mooren in den westlichen Bergen und setzte seinen Ritt auf Waldwe gen fort. Und überall erwachte der Frühling. Das Schöllkraut säumte die Wegböschungen, und die Knospen der Kirschbäume entfalteten sich über Nacht zu Blüten, und die Lerchen hoch oben über dem be bauten Ackerland schmetterten ihre süßen, herzerweichenden Melodi en in die Luft. Und Lancelot erlebte so viele Abenteuer, daß ein Ge schichtenerzähler, der sie alle erzählen wollte, nie damit fertig würde. Und bald war Lancelots Name in aller Menschen Munde, obwohl er erst neunzehn Jahre alt war. In den letzten Tagen vor Ostern ritt Lancelot wieder nach Camelot zurück. Als er, barhäuptig, aber immer noch in Kays Rüstung, in den Gro ßen Saal trat, erkannten Sir Gawain und Sir Ector von den Sümpfen und Sir Uwain und Sir Segramur den Mann, der sie alle mit einem einzigen Speer zu Fall gebracht hatte, sogleich wieder, und sie bra chen in schallendes Gelächter aus. Und dann erzählte Sir Kay, dem das Blut ins Gesicht stieg, wie ihn Sir Lancelot gerettet hatte, wie die Rüstungen vertauscht wurden, wie er dann friedlich nach Hause gerit ten sei und niemand gewagt habe, sich ihm in den Weg zu stellen, da er doch in Lancelots Harnisch steckte. Aber obwohl er sich nicht wie die anderen an seiner eigenen Geschichte belustigen konnte, erzählte er sie dennoch zu Ende. Lancelot hatte das Gefühl, als sei ihm für ir gend etwas verziehen worden, und er legte dem Seneschall einen Moment lang den Arm um die Schulter. Und dann kamen König Bagdemagus und Sir Meliot von Logure hinzu, und hinter ihnen erschienen die Ritter, die Lancelot aus Sir Tarquinius' Händen befreit hatte, und alle Ritter, die er besiegt und zu Artus und der Königin geschickt hatte, und der Große Saal hatte kaum genug Platz für alle. Es hätte der Augenblick des größten Stolzes und Triumphes in La n celots Leben sein können, als er hervortrat und vor dem König nieder 109
kniete. Aber auch die Königin war in den Großen Saal gekommen, um ihn willkommen zu heißen und die befreiten Gefangenen und die be siegten Ritter, die er ihr geschickt hatte, zu empfangen. Sie trug ein goldgelbes Damastkleid und saß neben dem König, und im Schein der Fackeln leuchteten ihre Augen noch heller als die Juwelen an ihrem Hals. »Wir haben von den Taten gehört, die Ihr in den vergangenen Mo naten vollbracht habt«, sagte der König. »Nun habt Ihr Eure Stärke in der Tat bewiesen, und niemand wird mehr in Zweifel ziehen, daß Ihr trotz Eurer Jugend ein Recht auf den Ritterstand habt.« Und die Königin beugte sich etwas vor und sagte: »Lange Zeit wart Ihr fort, und wir freuen uns, daß Ihr wieder da seid.« Und Lancelot kniete vor ihr nieder, und sein Herz begann plötzlich zu klopfen. Für sie war er ja ein Jahr lang auf Abenteuer geritten, und nun war das Jahr vorbei, und er war zurückgekehrt. Und Ginevra war immer noch da, und nichts hatte sich verändert.
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7 Sir Gawain und der Grüne Ritter Von allen anderen Artusrittern hatte sich Sir Gawain schon immer durch sein auffälliges Aussehen und seine geheimnisvolle Wesensart deutlich unterschieden. Gawain hatte leuchtend rotes Haar und das dazu passende feurige Temperament, das schnell, manchmal gefähr lich schnell, aufloderte, sich aber ebenso schnell wieder besänftigen konnte. Er stammte vom Alten Volk ab, und Gaheris und der jüngste Bruder der drei, Agravane, der erst seit kurzem am Hofe war, natür lich ebenfalls. Und auch Gawains Vetter Uwain und auf mütterlicher Seite auch Artus selbst hatten diese Abstammung. Doch das allein wä re noch nichts allzu Besonderes gewesen. Aber es waren über ihn auch viele seltsame Gerüchte im Umlauf: Die Bauern erzählten sich, seine Kräfte nähmen mit dem Lauf der Sonne zu und ab. Und so war es kein Wunder, daß das seltsamste Abenteuer, von welchem die Tafelrunde jemals vernahm, von Gawain bestritten wurde. An jenem Weihnachtstag, als Sir Lancelot immer noch unterwegs war, hielt Artus Hof in Camelot, denn erst später sollte er mit dem Hof in Carlisle Weihnachten feiern. Die Weihnachtszeit wurde mit großen 111
Feierlichkeiten begangen, und schon nahte der Neujahrstag. Nun war Weihnachten hauptsächlich eine kirchliche Angelegenheit, während Neujahr ein Tag allgemeiner fröhlicher Feste war, und so hatte sich am Neujahrsabend der ganze Hof zum Festmahl versammelt. Die Rit ter der Tafelrunde saßen alle auf ihren Sitzen, während sich die übri gen Ritter und die Knappen an die Seitentafeln gesetzt hatten. Sogar die Königin war mit ihren Zofen gekommen und saß unter einem sei denen Baldachin am oberen Saalende, von wo aus sie den ganzen Raum überblicken konnte, denn nach dem Bankett waren die Tänze an der Reihe. Schon trugen die bedienenden Knappen auf großen Platten Gänse und Wildbret und Schwäne und kunstvoll zubereitete Mandel und Honigkuchen, die die Form von Schiffen und Türmen hatten, her ein. Und überall funkelte der Rotwein in den Kristallgläsern, und der ganze Saal war vom tanzenden Fackelschein und den lustigen Weisen des Harfenspielers erfüllt, der zu Füßen der Königin saß. Dann erschallten Trompetenstöße, und vier Pagen trugen hoch über den Schultern einen Wildschweinkopf herein, der mit herrlich duften den Lorbeerblättern garniert war. Doch gerade als sie den Schweins kopf auf den Tisch stellen wollten, flogen die großen Saaltüren plötz lich auf, und ein kalter Windstoß fuhr herein, und die Lichter der Fak keln krümmten sich seitwärts, und die Flammen der großen Holzfeuer duckten sich tief in die Herde. Und die finsteren Schwingen des Win des hatten auch etwas Schnee in den Saal geweht. Der Harfenspieler hielt mitten im Lied inne. Die festliche Gesell schaft wurde mit einem Male stumm, und jedermann blickte zur Tür hin und in die gähnende Nacht hinaus. Und im ganzen Saal, in dem noch eben fröhliches Gelächter und heitere Melodien erklungen wa ren, war plötzlich eine ernste Stille eingetreten. Und dann erdröhnten auf den vereisten Pflastersteinen draußen im Hof plötzlich Hufschläge, und aus der Finsternis ritt ein riesiger Mann in das Fackellicht, das auf und ab flackerte, wie um ihn zu begrüßen, und das Pferd, das ihn trug, war ebenfalls vo n riesiger Gestalt. Bei seinem Anblick hielt der ganze Saal den Atem an, denn etwas so Seltsames hatte noch niemand am Hofe gesehen: der Mann war von mächtigem Gliederbau und hatte anmutige Gesichtszüge und hielt sich 112
im Sattel wie ein König. Doch er trug keine Rüstung, sondern war nur von Kopf bis Fuß in ein schönes, leuchtendes grünes Gewand gehüllt, und Grün ist die Farbe der Erhabenen, nicht die der Sterblichen. Wams und Hose unter dem dick gefütterten Mantel waren ebenfalls grün, wie auch der von Edelsteinen besetzte Gurt, den er um die Hüfte trug. Der Sattel des Pferdes bestand aus edlem, grünem, mit Gold ver ziertem Leder, ebenso wie das Pferdegeschirr, das bei jedem Schritt des riesigen Tieres ein leises Glockenläuten ertönen ließ. Grünlich goldene Sporen funkelten an den Absätzen seiner Stiefel, welche die Farbe von Moos hatten, wie man es unter alten Eichbäumen findet. Selbst sein dicker Haarschopf und der krause Bart waren von der selben Farbe, und auch das Roß unter ihm war vom stolzen Scheitel bis zum Schwanzende grün, und die Mähne war wundervoll gefloch ten und mit Goldfäden durchwirkt. In der einen Hand trug er eine rie sige Axt aus grünem Stahl, der mit demselben seltsamen Grün-Gold durchzogen war, und mit der anderen Hand hielt er eine junge Stech palme hoch empor, die voller Beeren war, die im Fackelschein wie rote Juwelen funkelten. Doch außer den weihnachtlichen Stechpal menbeeren war alles, selbst die Funken, die die Pferdehufe aus den Steinen schlugen, als er in den großen Saal ritt, grün. Ein leuchtendes und feuriges Grün, das lebendige Grün der Frühlingszeit. In der Mitte des Saals hielt er an, warf die Stechpalme auf den Bo den und ließ den Blick über die ganze Runde schweifen. Und vom König bis zum jüngsten Knappen hatte ein jeder im ganzen Saal das Gefühl, diese grün-gelben Augen, die einem stolzen und mächtigen Waldtier hätten gehören können, hätten einen Moment lang unmittel bar und tief in die eigenen Augen geblickt. Dann schrie er mit einer Stimme, die die Wände erdröhnen ließ: »Wo ist der Herr dieses Saales, denn mit ihm und mit keinem ändern will ich sprechen.« Und nachdem der Donner seiner Stimme wieder verrollt war, saß der ganze Saal noch mindestens drei Herzschläge lang wie gelähmt da, und kein Laut war zu hören, außer dem leisen Geflüster der Herd flammen. Dann sagte Artus: »Ich bin hier der Herr, und ich heiße Euch willkommen. Aber nun steigt bitte vom Pferd, und während sich 113
meine Stallknechte um das Tier kümmern, setzt Euch zu uns und feiert mit, denn es ist die letzte Nacht des alten Jahres.« »Nein, das werde ich nicht«, sagte der Fremde. »Ich bin nicht ge kommen, um mit Euch Feste zu feiern. Aber ich bin auch nicht ge kommen, um Krieg zu beginnen. Das könnt Ihr daraus ersehen, daß ich keine Rüstung trage, und an dem grünen Zweig, den ich mit mir gebracht habe. Aber die Kunde von der Tapferkeit Eurer Ritter ist bis zu meinem Hause gedrungen. Und schon seit einiger Zeit möchte ich diese Tapferkeit gerne einmal auf die Probe stellen.« »Nun denn«, sagte Artus, »ich bin sicher, Ihr werdet unter meinen Rittern mehr als genug finden, die sich gerne mit Euch auf eine Tjoste einlassen, falls dies Euer Wunsch ist.« »Das kann schon sein«, sagte der Grüne Ritter, »doch zum aller größten Teil sehe ich hier nur bartlose Knaben herumsitzen, die ich mit dem leichten Schlag einer Brombeerstaude umwerfen könnte. Nein, die Mutprobe ist anderer Art. Einer Eurer Ritter soll gegen mich antreten und diese Axt, die in der ganzen Welt an Gewicht und Schär fe nicht ihresgleichen hat, in die Hand nehmen und mit ihr einmal zu schlagen. Nur die Stelle, auf die er schlagen muß, will ich bestimmen. Und dann muß er schwören, daß ich das Recht habe, auf dieselbe Stel le zurückzuschlagen, falls ich noch lebe, und zwar von heute ab ge rechnet in einem Jahr und einem Tag.« Und wieder war der ganze Saal stumm. Und die Ritter schauten ein ander an und schauten wieder weg, hier und dort atmete einer schwer, oder es biß sich jemand auf seine Unterlippe. Doch kein einziger wag te, die Herausforderung des schönen und gewaltigen Fremdlings an zunehmen. Da brach der Grüne Ritter in ein langes, lautes, spöttisches Geläch ter aus. »Kein einziger von euch? Ist das überhaupt der Saal des Kö nigs Artus? Und ihr, die ihr hier feiert, aber es nicht wagt, eine kleine Herausforderung anzunehmen, seid ihr denn überhaupt die Ritter der Tafelrunde, die Blüte des Rittertums? Ach, schämt euch und laßt die Köpfe hängen. Ich sehe, ich habe eine nutzlose Reise unternommen!« Artus sprang auf, obwohl er genau wußte, daß es für den großen König nicht statthaft war, eine solche Herausforderung anzunehmen, 114
und warf dem Fremden einen Blick voller Trotz zu. »Doch! Einer! Steigt ab, gebt mir die Axt und macht Euch auf den Schlag gefaßt!« Doch fast im gleichen Augenblick war auch Sir Gawain aufge sprungen. »Mein Herr, mein edler Onkel, ich erhebe Anspruch auf dieses Abenteuer, denn ich trage immer noch die Schmach des Todes jener Frau, die ich enthauptet habe, mit mir herum, und ich muß noch den Beweis erbringen, daß ich würdig bin, in der Tafelrunde zu sit zen!« Gawain nannte Artus nur selten ›Onkel‹, denn sie hatten beinahe dasselbe Alter. Er tat es gewöhnlich nur zum Scherz. Und die scherz hafte Anrede durchdrang den Panzer der Wut, mit dem sich Artus plötzlich umgeben hatte, und erweichte sein Herz, denn der König spürte sofort, daß Gawain die Wahrheit sprach. Da holte er tief Atem, öffnete die Faust und sagte: »Mein lieber Neffe, das Abenteuer gehört Euch!« Sir Gawain verließ seinen Platz und schritt zur Mitte des Saals, während sich der Grüne Ritter aus dem Sattel schwang. »Es ist gut, daß ich einen Streiter gefunden habe, der mir in Artus' Saal gege nü bertritt«, sagte er. »Wie nennt Ihr Euch?« »Ich bin Gawain, der Sohn des Königs Lot von Orkney und der Neffe meines Lehnsherrn, des Königs. Doch wie nennt Ihr Euch?« »Die Menschen oben im Norden, wo ich zu Hause bin, nennen mich den Ritter von der Grünen Kapelle«, antwortete der Fremde. »Bestä tigt nun mit einem Schwur die Abmachung zwischen uns: daß Ihr auf die Stelle, die ich bestimme, einmal schlagen werdet. Und daß Ihr Euch in einem Jahr und einem Tage meinem Schlage, nur dem einen, stellen werdet.« »Ich schwöre es bei meiner Ritterehre.« »Nehmt die Axt und macht Euch zum Schlag bereit.« Gawain ergriff die riesige, fürchterliche Axt und ließ sie ein wenig hin- und herschwingen, um ihr Gewicht und ihren Schwerpunkt zu fühlen. Dann kniete der Grüne Ritter vor ihn auf den Boden, beugte sich etwas vor, und zog sein langes, flammend- grünes Haar über den Scheitel nach vorn, so daß der Nacken freilag. 115
Einen Augenblick lang schien alles Leben aus dem Saal gewichen zu sein, und Gawain stand wie versteinert da. »Auf die Stelle meiner Wahl«, sagte der Grüne Ritter. »Schlagt nun zu.« Und der Saal belebte sich wieder, und Gawain schwang die Axt in einer Art wilden Wut und stieß dazu eine n Schlachtruf aus, und dann legte er seine ganze Kraft in den Schlag und ließ die Axt mit Wucht niedersausen. Das Eisen schnitt durch Fleisch und Knochen und schlug auf dem Steinboden auf, und die Funken sprühten wie auf einem Amboß. Und der Kopf des Grünen Ritters sprang von den Schultern und rollte über den Boden, fast bis vor die Füße der Königin. Da fuhr ein schrecklicher Aufschrei durch die Menge, und während jedermann erwartete, der riesige Leib würde nun vornüberfallen, schüttelte der Grüne Ritter le icht die Schultern, erhob sich und schritt auf seinen Kopf zu. Er hob ihn vom Boden auf, faßte ihn bei den Haa ren und bestieg sein Pferd, das ruhig auf ihn wartete. Dann hielt er den Kopf in die Höhe, wandte das Gesicht Sir Gawain zu und sagte: »Schaut zu, daß Ihr Euren Schwur haltet und trefft mich in einem Jahr und einem Tage!« »Wie soll ich Euch finden?« fragte Gawain, dessen Lippen toten bleich waren. »Reitet durch Wales und in den Wald von Wirrel. Und wenn Ihr nicht den Mut verliert, so werdet Ihr mich noch vor dem Mittag des bestimmten Tages gewiß finden.« Und er schwenkte das Pferd rasch herum, berührte es mit dem ge spornten Absatz an der Seite, und schon war er draußen im nächtli chen Schneegestöber, und sein Kopf baumelte immer noch von seiner Hand. Und dann verhallten die Hufschläge allmählich in der kalten Winternacht. Doch im Saal hatte der Grüne Ritter tiefe Stille hinterlassen, und es dauerte eine ganze Weile, bis der Harfenspieler wieder mit der Hand über die glänzenden Saiten glitt und das Fest wieder in Gang kam und die fröhliche Stimmung zurückkehrte. 116
Der Schnee schmolz, und an den Rändern des Waldes begannen schon die ersten Knospen zu erscheinen. Und zu Ostern kam Sir La n celot von seinen Abenteuern wieder an den Hof zurück, wie schon er zählt wurde. Der Kuckuck begann sich wieder zu melden, und auf den Waldwegen standen Füchse und waren im nächsten Moment wieder verschwunden. Und dann wurde auf den Äckern im ganzen Land die Ernte eingebracht. Und es kam die Zeit der Brombeeren, und das Farnkraut begann sich wieder zu verfärben. Und als Michaeli kam, war es Zeit, daß Gawain aufbrach und seinem furchtbaren Abenteuer entgegenritt. An jenem Michaelitag hielt König Artus in Caerlon Hof; und da hatten sich Sir Gaheris und Sir Agravane und Lancelot und Lionel und dessen Bruder Bors, der von Klein- Britannien herübergekommen war und erst seit kurzem zur Tafelrunde gehörte, und Sir Uwain und Sir Bedivere und König Bagdemagus und Sir Lamorack und Sir Gryflet und noch viele andere Ritter eingefunden. Und ihre Herzen waren alle bedrückt, und das Fest verlief freudlos und ohne Würze, denn das Ge schick Sir Gawains, der nun fortreiten mußte und gewiß nie wieder kommen würde, machte allen großen Kummer. Und Gawain zog mit Hilfe seines Knappen die Rüstung an und gür tete sich das Schwert um. Dann bestieg er Gringolet, seinen großen Rotschimmel, und ritt davon. Tagelang durchritt er das alte Grenzland von Wales, bis er in die wilden und düsteren Berggegenden von Nordwales kam. Durch steile Täler ritt er und an reißenden Wasserfällen vorbei und durch finstere Bergwälder. Und oft wurde er von wilden Tieren und noch wilderen Menschen angegriffen und mußte um sein Leben kämpfen, immer mit der Gewißheit vor Augen, daß am Ende seines Abenteuers doch der Tod auf ihn wartete. Inzwischen war es Winter geworden, die Berge lagen nun hinter ihm, und bald erreichte er die Stelle bei dem Ort Clwyd, die ›das Heilige Haupt‹ genannt wird, und danach kam er zur Quelle des Heiligen Winfried, die am Ufer einer breiten und gräulich schimmernden Meeresbucht mit dem Namen Dee lag. Er überquerte bei Ebbe die breite Bucht, und kaum hatte der Rotschimmel wieder festen Grund unter den Hufen, da brauste die Flut wieder herein. Dann 117
ritt er durch einen Salzsumpf und näherte sich immer mehr dem ural ten Wald von Wirrel, der aus der Ferne wie ein finsterer Haarschopf aussah. Und während er durch den Wald ritt, traf er auf manchen Holzfäller, dann auf einen Bettelmönch und etwas später auf eine alte Frau, die Zweige sammelte, und jedesmal erkundigte er sich nach dem Grünen Ritter. Und auch wenn er einmal bei einem Schweinehirten oder bei einem Kohlenbrenner Unterkunft für die Nacht erhielt – und in diesen Nächten wähnte er sich glücklich, denn gewöhnlich mußte er sich in seinen Mantel rollen und sich in der Wurzelgrube eines vom Sturme gefällten Baumes ins Laub legen -, fragte er stets nach dem Ritter von der Grünen Kapelle, doch niemand konnte ihm Auskunft geben. Und die Zeit wurde immer kürzer… Am Heiligen Abend ritt Gawain, ein müder Mann auf einem müden Pferd, das bis zum Bauch schmutzbedeckt war, endlich zwischen den bedrohlichen, alten Bäumen, die mit ihren gekrümmten, flechtenbe schwerten Ästen nach ihm zu greifen schienen, auf eine offene, von schönen, friedlichen Bäumen umgebene Wiese hinaus. Ein mit Wei den gesäumter Bach schlängelte sich durch die Wiese. Jenseits des Bachs stieg das Land sanft an, und zuoberst auf der Anhöhe erglänzte in den letzten Strahlen der Abendsonne ein prächtiges und wunder schönes Schloß. ›Gott sei Dank‹, dachte Gawain und strich Gringolet zärtlich über das zuckende Ohr. ›Hier werden wir mehr als genug Platz und Speise finden, und an einem Abend wie heute wird man uns gewiß freundlich aufnehmen‹. Und er überquerte den Bach und ritt zum Schloß hinauf und schlug mit dem Schwertknauf an das hölzerne Tor. Und sogleich öffnete sich das Tor, und im Eingang erschien der Pförtner. »Guter Mann«, sagte Gawain, »bitte meldet Eurem Herrn, ein Ritter vom Hofe des Königs Artus sei auf einem Abenteuer hierhergeritten und bitte für sich und sein Pferd um Unterkunft.« »Mein Herr, der Besitzer dieses Schlosses, heißt jeden willkommen, der hier am Tor anklopft, besonders wenn er in der höchsten Nacht des Jahres erscheint«, sagte der Pförtner und trat zur Seite, damit Ga 118
wain durch das Tor in den äußeren Schloßhof reiten konnte. Da eilten Knappen herbei und führten Gringolet zum Stall, während andere Gawain durch den Innenhof und dann in die Schloßhalle führten, wo der Schloßherr vor einem prasselnden Feuer stand. Zu seinen Füßen lagen drei Wolfshunde und hatten die Bäuche der Wärme zugekehrt. Der Schloßherr war von großer Gestalt, ziemlich breitschultrig und vielleicht eine Spur zu dick. Sein Gesicht war vom Wetter gezeichnet, doch freundlich und offen, und seine Haarmähne war so rot wie Ga wains eigenes Haar. Und als Gawain den Raum betrat, stieß er die Hunde zur Seite und schritt ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. »Willkommen, Herr Ritter, hier sollt Ihr Euch wie zu Hause fühlen, und alles, was mir gehört, gehört auch Euch, solange es Euch beliebt hierzubleiben.« »Ich danke Euch, edler Herr«, sagte Gawain und hatte den Mann schon ins Herz geschlossen. »Gott vergelte Euch Eure Gastfreund schaft.« Und sie schlugen sich auf die Schultern, als wären sie alte Freunde. Dann führten die Knappen Gawain zur Gästekammer hinauf, die unter dem Dach lag, und halfen ihm beim Ausziehen der Rüstung und brachten ihm ein rotes Gewand, das mit einem weichen Luchsfell ge füttert war. Dann begleiteten sie ihn wieder zum Saal hinunter, wo ge genüber dem Schloßherrn ein zweiter Stuhl für ihn hingestellt worden war. Und einer der Hunde kam mit wedelndem Schwanz auf ihn zu und legte ihm das Kinn auf die Knie. Unterdessen deckten die Knappen die Speisetafel mit einem schö nen weißen Tischtuch. Dann trugen sie die Speisen herein und stellten die Weinkrüge auf. Als Gawain all die leckeren Dinge sah und roch, lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Und das Feuer und sein dickgefüttertes Gewand durchwärmten allmählich seinen erschöpften Körper, und bald fühlte er sich so wohl wie scho n lange nicht mehr. Und als das Essen vorüber war, sagte der Schloßherr: »Kommt mit, Sir Gawain, denn Ihr habt meine Frau noch nicht gesehen, und sie freut sich schon darauf, Euch zu begrüßen.«
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Sie gingen zusammen über die Treppe hinter dem Saal zum Ge mach der Gattin des Schloßherrn hinauf. Das war wahrhaftig ein prächtiges Gemach. Die Wände waren grün gestrichen und überall mit kleinen Goldsternchen geschmückt. Und die Schloßherrin saß mit ih ren Mädchen neben dem Feuer und hielt einen niedlichen Schoßhund auf den Knien. Und als sie Gawain zulächelte, dachte er, eine so schö ne Frau habe er in seinem Leben noch nie gesehen, denn sie erschien ihm noch schöner als Ginevra. Die Frau hieß ihn mit freundlicher Stimme willkommen, während die Mädchen ein Schachbrett mit sil bernen und kristallenen Figuren herbeitrugen und es vor den Schloß herrn und dessen Gast stellten. Und Gawain verbrachte einen so heite ren und angenehmen Abend, daß er für eine Weile beinahe vergessen hätte, welch düsterem Abenteuer er entgegenging. Und als es Zeit zum Schlafen war, führten ihn die Knappen in ei nem feierlichen Zug und mit Kerzenlichtern wieder in seine Kammer zurück, stellten einen Becher mit süßem Würzwein neben das Bett und verließen ihn wieder. Vier Tage brachte Gawain bei heiteren Festen und fröhlichen Tä n zen zu, wie es nur recht und billig ist während der Weihnachtszeit. Und immer weilte die Frau des Hauses in seiner Nähe und unterhielt sich mit ihm und lächelte ihm zu und schenkte ihm in jeder Hinsicht ihre Aufmerksamkeit. Doch am Abend des vierten Tages spürte Gawain, daß er sein Abenteuer nicht mehr länger hinausschieben durfte. Als er dies der Frau und dem Schloßherrn mitteilte, wurden sie sehr traurig und ver suchten ihn zu überreden, länger dazubleiben. Doch Gawain hielt an seinem Vorsatz fest. »Ich bin nun schon zu lange geblieben und habe Eure Gesellschaft sehr genossen, doch nun ruft mich mein Abenteuer. Denn bis zum Mittag des Neujahrstages muß ich den Ritter von der Grünen Kapelle finden und weiß noch nicht einmal, wo sic h diese Ka pelle befindet.« Da lachte der Schloßherr und schlug sich mit der großen Hand auf das breite Knie. »Das ist wahrhaftig eine gute Botschaft; denn ich kenne die Grüne Kapelle gut. Sie liegt keine zwei Pferdestunden von hier! Bleibt also noch bis zum Morgen des Neujahrstages bei uns, und 120
dann wird Euch einer meiner Knappen zu dem Ort führen, und ihr werdet ankommen, noch bevor die Sonne im Zenit steht.« »Dann will ich gerne noch bleiben«, sagte Gawain, »und mich an Eurer Freundschaft erfreuen und Euc h in allem willig zu Diensten sein.« Er dachte nämlich: ›Wenn das die drei letzten Tage meines Le bens sind, so wäre es schön, sie in Gesellschaft solcher Freunde zu verbringen.‹ »Dann haben wir also noch drei schöne Tage vor uns«, sagte der Herr des Schlosses, »und die will ich verbringen, wie ich die drei letz ten Tage des alten Jahres stets zu verbringen pflege, nämlich auf Jagd. Doch Ihr, der Ihr einen so weiten und beschwerlichen Weg hinter Euch habt und dem bei der Grünen Kapelle gewiß noch eine schwere Probe bevorsteht, bleibt lieber zu Hause und laßt es Euch gut gehen. Und leistet meiner Frau, die sich jedesmal, wenn ich ein Wildschwein oder einen Rothirsch jagen gehe, über ihre Einsamkeit beklagt, Ge sellschaft. Und an den Abenden werden wir gemeinsam fröhliche Fe ste feiern.« »Gerne tue ich das«, sagte Gawain. Der Schloßherr lachte wieder, und seine Augen glänzten in seinem wettergegerbten Gesicht. »Und da es Zeit zum Spielen und Scherzen ist und ich heute zu allem aufgelegt bin, wollen wir ein feierliches Abkommen miteinander treffen: jeden Abend werde ich Euch geben, was immer ich am Tage erjagt habe; und Ihr sollt mir dafür geben, was immer Ihr im Schloß gefunden habt. Darauf wollen wir schwören, wer auch immer dabei besser abschneiden mag.« »Das ist ein feines Abkommen, gerne leiste ich meinen Eid darauf«, sagte Gawain, und die beiden gaben sich einen kräftigen Handschlag wie zwei Männer, die einen Handel abschließen. Am anderen Morgen rief der Schloßherr seine Jagdgenossen und die Hunde zusammen und ritt auf Jagd und folgte in den Wäldern von Wirrel und Delamare den Spuren eines Rothirschs. Doch Gawain lag noch im Bett und fühlte sich noch schläfrig, denn er war es nicht ge wöhnt, so spät zu Bett zu gehen. Da trat die Frau des Schloßherrn auf leisen Sohlen zu ihm in die Kammer und setzte sich auf die Bettkante und begann, ihn zu necken. Und allmählich gingen ihre Neckereien in 121
verliebtes Reden über und sie warf Gawain süße Worte zu. Und Ga wain antwortete ihr seinerseits mit heiteren und höflichen Scherzen und hielt alles für ein Spiel zwischen ihnen. Und schließlich stand die Frau auf und wollte sich wieder entfernen. »Gott vergelte Euch diese vergnügliche Stunde«, sagte sie, »doch es fällt mir schwer zu glauben, Ihr seid Sir Gawain, wie Ihr behauptet.« »Warum denn?« fragte Gawain ganz verdutzt. Und sie lachte. »Würde Sir Gawain so lange mit einer Dame zuge bracht haben, ohne ein einziges Mal um einen Kuß zu bitten?« »Glaubt mir, teure Frau, ich fürchtete, das würde Euch mißfallen«, sprach Gawain, »doch da Ihr mich jetzt wieder verlassen wollt, bitte ich Euch in der Tat in aller Bescheidenheit um einen Kuß.« Da nahm die Frau sein Gesicht zwischen die Hände und küßte ihn zärtlich und entfernte sich dann. Und Gawain rief nach den Kammer dienern, denn nun wollte er aufstehen. Am Abend kehrte der Schloßherr wieder zurück, und auf dem Rük ken seines Jagdponys lag der Kadaver eines schönen Rothirschs. Er bat seine Jäger, das Tier zu Gawain zu bringen, der ihn schon im Schloßhof erwartete. »Seht, hier ist die Frucht meiner Jagd, die ich Euch, gemäß unserer Abmachung, überreiche.« »Ich danke Euch von Herzen für dieses Geschenk«, sagte Gawain, »und bitte Euch, morgen, wenn der Hirsch gebraten ist, in Eurer eige nen Halle mit mir zu Abend zu speisen. Und nun will ich Euch dafür geben, was ich heute in diesem Schloß gewonnen habe.« Und er legte seinem Gastgeber die Hand auf die Schulter und küßte ihn einmal. »Ah, das war ein schönes Geschenk, und ich danke Euch sehr da für«, sagte der Schloßherr. »Doch würde ich gerne wissen, wer Euch diesen Kuß gegeben hat.« »Nein«, sprach Sir Gawain, »das gehört nicht zur Abmachung.« Und dann setzten sie sich und nahmen in guter Gesellschaft das Abendbrot ein. Am folgenden Morgen ließ der Schloßherr die Hunde für die Schweinsjagd holen und ritt wieder fort. Und wiederum lag Gawain noch im Bett und fühlte die angenehme, ungewohnte Schläfrigkeit, bis 122
die Frau des Schlosses wieder erschien und sich auf die Bettkante setzte, während ihr kleiner Schoßhund hinter ihr hertappte und sich in der Schleppe ihres langen Kleides verkroch. Und wieder begann sie, Gawain sanft zu necken und spielte mit Worten und versuchte, auch ihm einige Liebesworte zu entlocken. Doch Sir Gawain gab ihr alle ihre Worte elegant wieder zurück, und das tat er so freundlich, daß er die Frau nicht im geringsten kränkte. Schließlich verließ sie ihn wie der, doch diesmal war zum gestrigen Kuß noch einer dazugekommen. Als es dämmerte, kehrte der Schloßherr wieder heim, und seine Jä ger legten den haarigen Kadaver eines Wildschweins vor Gawain hin. »Hier, mein Gast, habt Ihr die Frucht der heutigen Jagd«, sagte der Schloßherr. »Gerne nehme ich die Frucht Eurer Jagd entgegen«, sagte Gawain, »und bitte Euch, morgen abend wiederum mit mir zu speisen.« »Und was bekomme ich dafür von Euch?« »Was ich empfangen habe, seit ihr heute morgen aufbracht«, sagte Gawain und legte dem Schloßherrn die Hände auf die Schultern und gab ihm zwei Küsse. »Das und nicht mehr habe ich heute gewonnen, und nun schenk' ich sie Euch.« Und dann setzten sie sich zusammen mit den übrigen Schloßrittern an die üppige Tafel und verspeisten den Rothirsch, den Gawain am Abend zuvor zum Geschenk erhalten hatte. Und die Frau des Schlos ses setzte sich mit ihren Mädchen ebenfalls dazu und sandte Gawain von Zeit zu Zeit dunkle, süße Blicke zu, doch er tat so, als ob er nichts merke. Und an diesem Abend dachte Gawain, daß es, abgesehen von sei nem Abenteuer, auch noch aus anderen Gründen ratsam sei, am fo l genden Morgen aufzubrechen. Und als er dies seinem Gastgeber mit teilte, sagte der große Mann: »Aber nein, weshalb denn?« »Morgen ist der letzte Tag des alten Jahres. Und am Mittag des fo l genden Tages muß ich am verabredeten Ort den Grünen Ritter tref fen.« »Habe ich Euch denn nicht bei meiner Ritterehre geschworen, daß sich der Ort nur zwei Meilen von hier befindet und daß Ihr noch vor 123
Mittag dort eintreffen werdet? Und außerdem umfaßt unsere Abma chung insgesamt drei Tage.« Der Schloßherr rief am Morgen des Silvestertages seine Jäger und seine Hunde herbei und ritt wieder in den finsteren Wald zur Jagd, während Gawain noch schlief und viele wirre Träume hatte, von sei ner Begegnung mit dem Grünen Ritter, die nun so unerbittlich näher rückte. Als er erwachte, schien die matte Wintersonne bereits ins Zimmer, und die Frau des Schlosses stand schon vor seinem Bett und beugte sich über ihn. Als sie sah, daß er wach war, gab sie ihm einen langen Kuß, dann trat sie etwas zurück und schaute auf ihn hinunter und lach te immer noch, doch in ihrem Lachen klang auch leichte Trauer mit. »Nur einen einzigen Kuß«, sagte sie, »Euer Herz wird doch nicht etwa im Winter gefrieren? Oder werdet Ihr am Hofe von einer Frau erwar tet?« »Nein, liebe Frau«, sagte Gawain sanft, »und mein Herz ist noch frei. Doch, schönste und bezauberndste Frau, ich kann es nicht an Euch verschenken, denn Euer Herr, der Herr dieses Schlosses, ist mein Gastgeber. Falls ich seine Gattin liebte, befleckte ich mein Rit tergelübde.« »Aber mein Gemahl reitet doch zur Jagd und wird erst am Abend zurückkehren, und niemand wird etwas erfahren, nicht einmal er selbst, und so wird er sich nicht gekränkt fühlen. Können wir uns nicht am heutigen Tage ein einziges Mal lieben? Oh, wie wäre der Rest meines Lebens versüßt! Stets könnte ich daran zurückdenken, wie Gawain von Orkney mich einst in den Armen hielt.« Gawain schüttelte den Kopf. »Es wäre trotzdem ein Vergehen, auch wenn niemand jemals davon erführe. Nein, liebe Frau, es darf nicht sein.« Noch eine ganze Weile lang beschwor sie ihn, doch er lehnte all ih re Bitten ab. Schließlich stieß sie einen tiefen Seufzer aus, wie je mand, der sich geschlagen gibt. Dann küßte sie ihn noch einmal und sagte: »Sir Gawain, von allen lebenden Rittern haltet Ihr Euren Ge lübden wohl am allerbesten die Treue. Und so will ich Euch nicht 124
mehr plagen. Doch laßt mir noch etwas zur Erinnerung an Euch. Ich will es gut bewahren, und vielleicht wird es mir ein bißchen Trost ge währen.« »Ach«, sagte Gawain, »ich habe nichts, was ich Euch geben könnte, denn für diese Reise habe ich nur das Nötigste mitgenommen.« »Dann werde ich Euch etwas von meinen Sachen geben. Nehmt diesen grünen Gürtel und tragt ihn zu meinem Andenken.« »Frau, ich kann nicht Euer Ritter sein und ein Zeichen Eurer Gunst an mir tragen.« »Er ist ja so klein«, sagte die Frau. »Ihr braucht ihn ja gar nicht of fen zu tragen, sondern im Verborgenen, so daß niemand ihn sehen wird und nur ich darum weiß. Bitte nehmt ihn an, denn Euch steht ei ne große Gefahr bevor, das weiß ich gewiß. Der Gürtel enthält eine geheime Kraft, und solange Ihr ihn tragt, wird er Euch wie ein Amu lett beschützen. Doch laßt ihn niemanden sehen und sagt meinem Herrn kein Wort.« Und da er unmittelbar vor der Begegnung mit dem fürchterlichen Grünen Ritter stand, konnte Gawain der Versuchung nicht widerste hen und nahm den Gürtel, der aus golddurchwirkten grünen Bändern bestand, und band ihn sich unter dem Hemd um den Hals. Da küßte ihn die Frau zum dritten Male und entfernte sich. Als die Nacht hereinbrach, kehrte der Schloßherr von der Jagd zu rück, doch diesmal brachte er nichts mit als eine Fuchshaut, die er mit der Hand hin- und herschwenkte. »Ach! Das war eine dürftige Jagd heute!« sagte er, als er Gawain im Hofe traf, »und dies ist alles, was ich Euch am letzten der drei Tage geben kann.« »Dann scheint es, daß ich heute mehr gewonnen habe als Ihr. Denn ich habe das für Euch«, sagte Gawain, legte dem Gastgeber die Hände auf die Schultern und gab ihm drei Küsse. Dann schritten sie Schulter an Schulter fröhlich scherzend zusam men in die große Halle, wo das Nachtessen bereitstand und verspei sten das Wildschwein, das der Schloßherr am Tage zuvor heimge bracht hatte. 125
Doch den grünen Gürtel, den sich Gawain unter dem Hemd um den Hals geschlungen hatte, erwähnte er mit keinem einzigen Wort. Am Morgen des Neujahrstages stand Gawain in aller Frühe auf, obwohl er nur wenig geschlafen hatte. Er rief nach den Knappen, die ihm in die Rüstung halfen, doch achtete er die ganze Zeit wohl darauf, daß niemand die Halsschleife unter dem Hemd bemerkte. Dann brach te man ihm das Essen, das aus dunklem, krustigem Brot, kaltem Schweinefleisch und einem Becher Wein bestand. Dazu gab es noch eine Schale voll gelber Äpfel, die vom letzten Sommer stammten und ganz verschrumpelt waren. Doch er verspürte keinen großen Appetit. Er trank etwas Wein und aß einen Apfel, das war alles. Dann trat er in den Hof hinunter, wo die Stallknechte schon mit Gringolet, seinem Roß, auf ihn warteten. Und als das Pferd, das geschmeidig und wohlgenährt aussah, seinen Herrn erblickte, wieherte es vor Freude, und Gawain streichelte es ei nige Male und sprang dann in den Sattel. »Lebt wohl; Sonne und Mond mögen Eure Schwelle beschützen«, sprach er zum Schloßherrn, der heruntergekommen war, um von Gawain Abschied zu nehmen. Von der Gattin des Schloßherrn dagegen war keine Spur zu sehen. »Wenn ich könnte, würde ich alles unternehmen, was ich vermag, um Euch Eure Freundlichkeit zu belohnen. Aber ich glaube, ich werde den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben.« Und mit diesen Worten ritt Gawain durch die weitgeöffneten Tore hinaus, dicht gefolgt von einem der Knappen, der ihn zur Grünen Ka pelle bringen sollte. Und Gawain jagte über die Zugbrücke und ver schwand im gräulichen Licht eines feuchten, nebligen Morgens. Bald peitschte der Wind Schneeregen durch die Luft. Roß und Reiter ka men an Wäldern und Sümpfen und unfruchtbarem Ödland vorüber, bis sie zur Schwelle eines breiten Tales gelangten, das zwischen steilen, felsigen Abhängen lag. Da hielten sie die Pferde an und schauten in das Tal hinab, in dem sich riesige Nebelschwaden langsam in die Hö he schraubten. »Herr Ritter«, sagte der Knappe, »ich habe Euch so weit geführt, als es mir gestattet ist. Dort drüben unter dem Nebel liegt die Grüne Ka pelle, die Ihr sucht. Und dort werdet Ihr auch den Grünen Ritter fin 126
den, der stets auf einen Kampf wartet und jeden, der an ihm vorbei will, erschlägt. Niemand, der sich mit ihm auf einen Kampf einläßt, kommt mit dem Leben davon. O Herr, reitet nicht dort hinab! Nie mand wird es je erfahren; ich werde Euch nicht verraten, das schwöre ich, denn auch ich möchte einmal zum Ritter geschlagen werden.« »Habt Dank«, sagte Gawain, »doch meine Ehre ist dahin und mein Rittertum zerstört, wenn ich mich nun nicht an meine Verabredung halte. Gott wird schon wissen, wie er seine Diener erretten kann, falls dies in seiner Absicht liegt.« »Dann beschütze Euch Gott«, sagte der Knappe. »Folgt dem Fels pfad dort drüben, er wird Euch ins Tal hinabführen. Mitten durch das Tal fließt ein Bach; die Grüne Kapelle steht am anderen Ufer. Lebt wohl, Gawain, denn ich wage nicht, Euch noch weiter zu begleiten.« Da lenkte Sir Gawain das Roß mit sanfter Hand auf den Felspfad und ritt talwärts. Zu seiner rechten Seite stiegen die Felsen senkrecht in die Höhe, und zu seiner linken Seite fielen sie senkrecht hinab und verloren sich tief unten im Nebel. Und durch den Nebel drang das dumpfe Rauschen des Bachs zu ihm herauf. Schließlich ritt er durch die Nebeldecke hindurch. Bald war die Luft wieder ziemlich klar, und nach einer Weile erreichte er die Talsohle und sah einen schmalen Bach, der sich seinen Weg zwischen den Felsen und den Wurzeln flechtenbehangener Erlen bahnte. Doch nirgends konnte er etwas von einer Kapelle erblicken, bis er sich eine Weile umgesehen hatte und dann etwas weiter oben und auf der anderen Seite des Bachs einen niedrigen, grünen Erdhüge l entdeckte, der mit Erlen und Haselb ü schen bedeckt war. Und als er, noch immer im Zweifel, auf den Hügel zuritt, war ihm, als höre er im Rauschen des dahinstürzenden Wassers noch etwas anderes: es klang wie das Geräusch einer Sense, die mit einem Schleifstein geschliffen wird, und es schien aus der Tiefe des Wassers zu kommen. ›Das muß die Grüne Kapelle sein‹, dachte er, ›und grün ist sie ja in der Tat. Aber es ist eben keine christliche Kapelle, sondern ein gehe i mer Ort in den Hohlen Hügeln. Drinnen schärft der Grüne Ritter be stimmt seine Waffe, die mir heute den Tod bringen wird.‹ 127
An einer Stelle, wo der Bach etwas breiter war und ein paar Meter über seichten Kieselgrund lief, setzte er mit dem Pferd dennoch mutig über, und als er das andere Ufer erreicht hatte, stand er unmittelbar unterhalb des grünen Erdhügels. Gawain stieg aus dem Sattel und band Gringolets Zügel an einem Erlenast fest. Und während hier und dort immer noch Nebelschwaden durch das graufarbene Licht zogen, rief er: »Herr Ritter von der Grünen Kapelle, ich bin zu unserem Neu jahrstreffen hergekommen, wie abgemacht.« »Wartet, bis ich meine Axt geschärft habe«, rief die mächtig dröh nende Stimme zurück, die er noch gut im Ohr hatte, und im hohlen Hügelinnern hallte es lange nach. »Ich werde gleich kommen. Und dann sollt Ihr den Gruß empfangen, den ich Euch versprochen habe.« Gringolets Ohren zuckten vor Aufregung, er warf den Kopf herum und zeigte das Weiße der Augen. Doch Gawain blieb ungerührt und wartete ruhig. Nach einer Weile verstummte das Geräusch von Sense und Schleif stein, und aus einem finsteren Winkel unter den Haselzweigen trat der Grüne Ritter hervor, und er sah genauso aus wie vor einem Jahr und einem Tag, als er in Artus' Saal hereingeritten kam: schön und schrecklich zugleich. In der Rechten hielt er eine lange Axt, die lang sam hin und her pendelte und deren Schneide aus grünem Stahl so scharf war, daß man damit sogar den Wind hätte verletzen können. »Seid willkommen, Sir Gawain«, rief der Grüne Ritter. »Dreimal willkommen heiße ich einen so tapferen Ritter! Zieht nun den Helm aus und macht Euch bereit für den Schlag, den ich Euch schulde für jenen ändern, den Ihr mir gestern nacht vor einem Jahr in Artus' Saal versetzt habt.« Gawain löste den Helmriemen und nahm den Helm ab und schob die gepanzerte Haube über den Hals zurück. Dann ließ er den Blick ein letztes Mal über die verschneite Winterlandschaft schweifen. Und dann kniete er nieder und beugte das Haupt nach vorn und erwartete den Schlag. »So schlagt denn zu«, sagte er. Der Grüne Ritter schwang die riesige Axt in die Höhe, und Gawain hörte noch voller Schrecken, wie sie pfeifend niedersauste. So wird wohl auch einem zusammengekauerten Vogel zumute sein, der die 128
sausenden Flügelschläge eines herunterstürzenden Falken hört. Und unwillkürlich zuckte er zurück, und der Schlag ging ins Leere. Der Grüne Ritter stützte sich auf den langen Stiel seiner Axt und grinste ihm zu, aber es war wie das Grinsen eines Tieres aus dem Ur wald. »Ist das wirklich Gawain mit dem tapferen Herzen? Als Ihr die Axt schwangt, bin ich bei Eurem Schlag nicht zurückgezuckt.« »Verzeiht! Meinem Mut fehlt der Glaube, daß ich mir meinen Kopf wieder auf die Schultern setzen kann, nachdem Ihr ihn abgetrennt habt«, sagte Gawain mit einem grimmigen Lächeln. »Aber ich werde nicht wieder zurückschrecken. Nun, schlagt schnell zu!« »Das werde ich tun«, sagte der Grüne Ritter, und wieder schwang er das fürchterliche Ding empor, und wiederum sauste es pfeifend in die Tiefe. Doch diesmal rührte sich Gawain so wenig wie einer der Felsen am Bach. Doch das Blatt verfehlte den Nacken um Haaresbreite und bohrte sich tief in den moosigen Torfboden. »Schlagt zu!« schrie Gawain. »Es war nicht abgemacht, daß Ihr mich zum Narren halten solltet!« »Ja, das stimmt«, gab der Grüne Ritter zu, »doch streckt Euren Kopf jetzt etwas weiter vor…« Und zum dritten Male schwang er die Axt in die Höhe und ein paarmal sausend um den Kopf herum und ließ sie dann sausend nie derfahren. Und diesmal spürte Gawain am Hals einen Stich wie von einer Viehbremse, und ein dünner Blutfaden rann ihm zwischen Brust und Kettenpanzer hinunter, und neben ihm steckte die Axt im Boden und zitterte noch. Da sprang Gawain auf und zog das Schwert. »Nun habe ich den Schlag erhalten, und Ihr habt mich zum Bluten gebracht, und wenn Ihr nun nochmals zuschlagen wollt, so bin ich nicht mehr an meinen Schwur gebunden und darf mich verteidigen!« Der Grüne Ritter stand wieder auf seine Axt gestützt da und läche l te. Und plötzlich bemerkte Gawain, daß seine Kleidung, obwohl sie nach wie vor grün war, die eines Mannes war, der auf Jagd reitet, und daß das ja gar nicht der Grüne Ritter war, der vor ihm stand, sondern 129
sein freundlicher Gastgeber der letzten Woche. Und dann begriff er, daß der Grüne Ritter und der Schloßherr ein und derselbe waren. »Gawain, Gawain«, sagte der Ritter, »Ihr habt den Schlag in der Tat ausgehalten, und ich habe nicht die Absicht, noch einmal zuzuschla gen. Wahrhaftig, wenn ich es beabsichtigt hätte, wäre Euer Kopf schon beim ersten Schlag davongerollt.« »Weshalb denn dieses Spiel mit den drei Schlägen?« fragte Gawain ganz außer Atem. »Die ersten beiden Schläge, die Euch verfehlten, waren dafür, daß Ihr Euer Versprechen treu eingehalten habt, denn als ich auf Jagd war, hat Euch meine Frau einen und am anderen Tage zwei Küsse ge schenkt, und als ich am Abend heimkehrte, habt Ihr sie mir getreulich weitergegeben. Der dritte Schlag, der Euch etwas Blut gekostet hat, war für das Versprechen, das Ihr gebrochen habt, als Ihr mir am drit ten Tage zwar die drei Küsse, nicht aber die grüne Hüftschlaufe mei ner Frau gabt.« Und er bemerkte den Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Ritters und begann herzlich zu lachen. »Oh, ich weiß alles, was zischen Euch vorgefallen ist. Es war mein Wille, daß sie Euch versuchte, und hättet Ihr der Versuchung nachge geben und Eure Ritterehre und mein Haus befleckt, dann würdet Ihr nun in der Tat enthauptet zu meinen Füßen liegen. Und was den gr ü nen Gürtel betrifft, so habt Ihr ihn nur genommen und versteckt, weil Ihr um Euer Leben bangtet. Ihr seid noch jung, und das müßte wirk lich ein trauriger Geselle sein, der das Leben, das ihm Gott geschenkt hat, nicht ein klein wenig liebte. Doch jetzt habe ich diesem Leben etwas Blut abgezapft, und so ist Euch der Gürtel vergolten.« Gawain zog den Gürtel, der aus grünen Bändern bestand, aus sei nem Versteck und hielt ihn dem Ritter hin. »Dennoch muß ich mich schämen. Ich bin es nicht wert, an der Tafelrunde zu sitzen.« »Nein«, sagte sein Gastgeber, der Grüne Ritter, und strahlte vor Freundlichkeit. »Ihr seid einfach noch jung, und das Leben pulst Euch heiß durch die Adern. Und habe ich nicht gesagt, daß Euch vergeben ist? Es wird wohl kaum einen Ritter geben, der ein größeres Recht hätte, an der Tafelrunde zu sitzen als Ihr. Behaltet den grünen Gürtel als Erinnerung an dieses Abenteuer. Begleitet mich nun zum Schloß 130
zurück, damit wir das Ende der zwölf Weihnachtstage gemeinsam fe i ern können.« Aber Gawain wollte nicht bleiben. »Ich muß nun wieder zu meinem Lehnsherrn zurückkehren«, sagte er, während er sich den grünen Gür tel wieder um den Hals band. »Doch bevor ich gehe, würde ich gerne wissen, edler Herr, wer Ihr seid und wie es kommt, daß Ihr der Herr des Schlosses seid, auf dem ich so herzlich aufgenommen wurde und eine so schöne Zeit verbracht habe, und zugleich der Grüne Ritter, der nicht stirbt, wenn ihm sein Haupt von den Schultern geschlagen wird?« »Ich heiße Sir Birtilack«, sagte der andere. »Ich beschloß, den Mut der Ritter von der Tafelrunde selbst auf die Probe zu stellen, denn viel habe ich vernommen vom Hofe des Königs Artus, obwohl ich hier oben in dieser Einöde lebe. Im übrigen – wollt ihr bitte die Pfade der Zauberkunst nicht ergründen.« Da verabschiedeten sie sich wie gute Freunde, die sich von Kindes beinen an kennen. Und Gawain ritt durch den Wald vo n Wirrel und das unwegsame Grenzland von Wales zu König Artus' Hof zurück, wo sein Sitz in der Tafelrunde, den er sich nun so wohl verdient hatte wie kaum ein zweiter Ritter, auf ihn wartete.
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8 Beaumains, der Küchenritter Es wurde im Laufe der Zeit zur Gewohnheit von König Artus, daß er sich am Pfingsttage, nachdem sich alle Ritter der Tafelrunde, die kommen konnten, in Camelot eingefunden hatten, nicht eher zur Tafel setzte, als bis sich irgend etwas Seltsames und Außergewöhnliches ereignet hatte oder ein Abenteuer begann. In den späten Vormittagsstunden eines schönen Pfingsttages stand Sir Gawain am Fenster des Großen Saals und schaute hinaus, als er unten im Hof drei Männer zu Roß und hinter ihnen einen Zwerg zu Fuß entdeckte. Die drei Männer stiegen ab und überließen die Pferde dem Zwerg. Und während sie auf die große Halle zuschritten, stützte sich einer der Männer auf die Schultern der beiden ändern, die er um mindestens einen Kopf überragte. »Hier kommt Euch Eure seltsame Begebenheit entgegen, wenn mich nicht alles täuscht, mein König«, sagte Gawain, der sich vom Fenster abgewandt hatte und auf den König und die Ritter zuging. 132
Kurz darauf betraten die drei Männer den Saal, und der junge Riese in ihrer Mitte stützte sich immer noch auf die Schultern der beiden än dern Männer. Alle drei waren schäbig gekleidet, und ihre Gewänder waren von der Reise überall ganz schmutzig, doch der Großgewach sene besaß trotz seiner offensichtlichen Schwäche ein außerordentlich gewinnendes Aussehen: er hatte braungebrannte Haut und gersten blondes Haar und Augen, die so blau und klar waren wie der Himmel in der Frühe eines Märztages. Er hatte lange Beine und Arme und breite Schultern, und die Hände, trotz ihrer riesigen Größe, verrieten deutlich einen Schwertträger und Reiter. Das jedenfalls war Lancelots Eindruck, nachdem er den Mann genau betrachtet hatte. Und Lancelot verstand sich auf derartige Dinge. Als die drei den ganzen Saal durchschritten hatten und vor dem er höhten Sitz, auf welchem Artus saß, haltmachten, ließ der große junge Mann die Arme von den Schultern seiner Begleiter fallen und richtete sich vor dem König auf. Und ohne erst abzuwarten, bis er vom König angesprochen wurde, sagte er: »Gott behüte Euch, Herr König, und Eure ganze Ritterschaft. Ich bin gekommen, um von Euch drei Gaben zu erbitten.« Seine Mundwinkel zogen sich etwas in die Höhe. »Nicht unvernünftige Gaben, sondern solche, die sich mit Eurer Ehre wohl vertragen. Die erste werde ich jetzt, die beiden ändern werde ich heute in zwölf Monaten von Euch erbitten.« »So bittet«, sagte Artus, dem der junge Mann schon auf den ersten Blick gefallen hatte, »und ich will Euch gewähren, worum Ihr fragt.« »Ich bitte Euch um Speise und ein Dach über dem Kopf, bis die zwölf Monate herum sind«, sagte der junge Mann. »Nein, junger Mann, so bittet doch um etwas Besseres.« »Ich wüßte nichts anderes – bis heute in zwölf Monaten.« »Also gut, so sollt Ihr gespeist und beherbergt werden. Denn das habe ich noch keinem Mann verweigert«, sagte Artus. »Nun sagt mir aber Euren Namen.« »Das würde ich lieber nicht, bis zur gegebenen Zeit«, sagte der fremde Mann.
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»Ganz wie Ihr wollt«, sagte Artus. »Doch ich wüßte gerne, wer Ihr seid, denn Ihr seid einer der schönsten jungen Männer, die ich je gese hen habe.« Und mit diesen Worten gab er den Mann in Sir Kays Ob hut, dem er auftrug, ihn zu bewirten und unterzubringen wie den Sohn eines Herzogs. »Das ist er bestimmt nicht«, sagte Sir Kay spöttisch, »er ist gewiß nicht einmal der Sohn eines Edelmannes, sonst hätte er um Pferd und Rüstung gebeten. Ich werde ihn in der warmen Küche unterbringen und ihm zu essen geben, soviel er wünscht. Wenn das Jahr um ist, wird er fett sein wie ein Mastschwein. Und da er seinen Namen nicht nennen will, werde ich ihm selbst einen geben: ich werde ihn Beau mains – das heißt ›Schönhand‹ – nennen, denn ich habe in der Tat noch nie Hände gesehen, die größer und schöner waren als die seinen, aber auch noch nie welche, die weniger an Arbeit gewöhnt zu sein schienen als die seinen.« Bei diesen Worten erschien eine tiefe Furche zwischen den rötli chen Brauen in Gawains Gesicht, denn auch ihm gefiel der junge Mann sehr; für Sir Kay und seine Scharfzüngigkeit aber hatte er nicht viel übrig. Und Sir Lancelot bemerkte: »Ich würde mich an Eurer Stel le in acht nehmen, Herr Seneschall, denn mir scheint, der Junge hat mit seinen Händen schon anderes vollbracht, als Holz zu spalten und sauberzumachen. Und ich wäre nicht überrascht, wenn er sie eines Tages auch dazu gebrauchen würde, Euch Euer Gespött heimzuzah len.« Artus dagegen schwieg. ›Der Junge verrät Ausdauer‹, dachte er. ›Wenn er sein Rittertum nur unter Mühen erringen will, so ist das sein eigener Wunsch, und es wird ihm auch nichts schaden.‹ Beaumains selbst sagte kein Wort zu alledem. So diente er ein volles Jahr in der Küche, und die anderen Küche n jungen machten sich oft über ihn lustig, denn die Arbeiten, mit denen sie schon längst vertraut waren, waren ihm alle neu, bis er mit der Zeit die verschiedenen Handgriffe so geschickt ausübte, daß ihnen das Spötteln verging. Aber Sir Kay machte ihm mit kleinlichen Schikanen und stichelnden Bemerkungen das Leben schwer. Sowohl Sir Gawain als auch Sir Lancelot hatten ihm angeboten, als Knappe in ihre Die n 134
ste zu treten, obwohl sie nicht wußten, wer er war. Doch beide Male lehnte er höflich ab und blieb in der Küche. Er erhielt sein Essen und hatte eine warme Schlafstelle in der Nähe des Herds, doch wirklich freundlich waren eigentlich nur die Hunde zu ihm und Sir Gawain, der ihm ein- oder zweimal im Vorübergehen auf die Schulter klopfte, und auch Sir Lancelot, der ihm zu Weihnachten drei Silbermünzen schenk te, so daß er sich einen warmen Rock kaufen konnte. Doch an keinem einzigen Tage gab er Sir Kay ein böses Wort zurück oder beklagte sich über irgend etwas. Und auch mit den anderen Küchenjungen ver lor er nie wirklich die Geduld, selbst wenn er einmal versuchte, ihnen bessere Manieren beizubringen, indem er den einen oder anderen von ihnen rasch mit dem Kopf in den Pferdetrog tauchte. Und so kam das nächste Pfingstfest immer näher heran. Am Pfingstmorgen, als sich die Ritter gerade im Großen Saal ver sammelten, kam plötzlich eine junge Frau hereingerannt und kniete vor dem König nieder und flehte ihn um Hilfe an. »Für wen denn?« fragte Artus. »Für Euch selbst? Was ist denn ge schehen?« »Für meine Schwester, Frau Lionese«, sagte die Frau, »sie sitzt in ihrem Schloß gefangen, das von einem grausamen Tyrannen, dem Ro ten Ritter aus dem Roten Lande, belagert wird. Alle ihre Besitzungen hat er verwüstet, und nun verlangt er sogar, daß sie sich ihm auslie fert.« Und noch ehe sie geendet hatte, eilte Beaumains, der vom Boge n gang aus, der Küche und Saal verband, alles mit angehört hatte, auf den König zu. »König Artus, ich danke Euch für Speis und Trank und Unterkunft, die Ihr mir in den vergangene n zwölf Monaten in Eurer Küche ge währt habt. Nun erbitte ich die beiden übrigen der drei Gaben, die Ihr mir versprochen habt.« »Bittet«, sprach Artus. »Als erstes bitte ich, daß Ihr mir den Kampf mit dem Roten Ritter überlaßt, denn ich denke, daß ich es wo hl verdient habe, ein Abenteu er bestehen zu dürfen.« 135
»Das denke ich auch«, sagte der König. »Und welches ist die ande re Bitte?« »Daß mich Sir Lancelot vom See begleiten soll, bis er mich für wert erachtet, den Ritterschlag zu erhalten. Denn von ihm und von niema n dem sonst möchte ich zum Ritter geschlagen werden.« Der König warf seinem Freund, dem besten all seiner Ritter, einen fragenden Blick zu, und Lancelot nickte. »Euer Wunsch soll erfüllt werden«, sagte der König. Doch die Frau war inzwischen wieder aufgestanden. »Ihr wollt mir also keine andere Hilfe mitgeben als Euren Küchenjungen, während in diesem Saal doch die besten Ritter der ganzen Christenheit sitzen?« rief sie voller Empörung. Und das Blut schoß ihr ins Gesicht und bil dete zwei rote Flecken über ihren Wangenknochen, und Tränen der Wut standen in ihren leuchtenden Augen. »So behaltet Eure Hilfe für Euch, ich verzichte darauf!« Und sie stürzte hinaus und rief mit schril ler Stimme den Pagen herbei, der im Hof ihren Zelter auf und ab führ te. Und sie stieg in den Sattel und ritt zornentbrannt davon. Und während die Ritter draußen noch die Hufschläge des Zelters hörten, meldete ein Page dem König, der Zwerg, der vor einem Jahr mit Beaumains gekommen war, stehe mit einem Streitroß und einem schönen Schwert im Vorhof und erwarte seinen Herrn. Da verließ Beaumains in Begleitung vieler Ritter den Saal und be grüßte den Zwerg wie einen alten Kumpan. Dann nahm er das Schwert und gürtete es sich um, bestieg das große Schlachtroß und ritt davon, und der Zwerg folgte ihm auf seinem kräftigen, kleinen Pferd. Und auch Sir Lancelot ließ sich Roß und Rüstung bringen und ritt den beiden nach einer Weile nach. Doch Lancelot ritt nicht alleine fort, denn auch Sir Kay ließ sich Pferd und Rüstung bringen und sagte: »Auch ich will meinem Kü chenburschen nachreiten, aber ich will ihm nicht den Ritterschlag ge ben, sondern eine gehörige Tracht Prügel dafür, daß er sich so wichtig macht!« »Bleibt lieber zu Hause, guter Mann, und eßt Euer Nachtmahl«, sagte Sir Gawain. Doch Sir Kay hörte vor lauter Wut gar nicht zu. 136
Und Sir Lancelot lächelte hinter seinem Helm nur sein schiefes, etwas trauriges Lächeln. Kay ritt alleine und schnell voran – Lancelot blieb etwas zurück, denn er wollte sich vorerst nicht einmischen und nur zuschauen, was passierte -, und so holte er Beaumains gerade in dem Moment ein, als dieser die junge Frau erreichte. »Beaumains!« schrie er. »He, Kü chenbursche, wenn du dir einbildest, du könntest die Kochtöpfe ein fach stehenlassen, um den Ritter zu spielen, dann will ich dir zeigen, wie dieses Spiel geht!« Und Beaumains riß das Pferd herum und sagte mit einer ganz un gewohnten Stimme. »Lernt selbst erst einmal die Spielregeln, Sir Kay! Ich kenne Euch nur als unhöflichen Ritter. Ich warne Euch: nehmt Euch vor mir in acht!« Da legte Sir Kay den Speer ein und stürmte auf Beaumains los. Der hatte keinen Speer, zog sein Schwert, und im letzten Moment riß er das Pferd zur Seite und schlug mit der flachen Schwertseite Kays Speer in die Höhe und stieß die Schwertspitze unter den gerillten Rand von Kays Schulterstück, und Kay flog rücklings aus dem Sattel, und aus seiner Wunde tropfte Blut auf die trockene Erde. Dann stieg Beaumains vom Pferd, nahm Kays Speer und Schild, stieg wieder in den Sattel und ritt seines Wegs. So manche kleine Grausamkeit und Gemeinheit wurde durch diesen einen Schlag vergolten. Da stieg auch Sir Lancelot vom Pferd, und nachdem er sich verge wissert hatte, daß Kay nur leicht verwundet war, half er ihm in den Sattel, tätschelte das Pferd am Hals und sagte: »Bring ihn nach Hause. Du hast mehr Verstand als er.« Und dann stieg auch er wieder in den Sattel und ritt weiter. Inzwischen hatte Beaumains die Frau wieder eingeholt – doch wur de er alles andere als freundlich begrüßt. Denn obwohl sie einen er freulichen Anblick bot, war ihr Name – sie hieß Linnet – bei weitem das Beste an ihr. »Wie kannst du es wagen, mir nachzureiten«, rief sie. »Kehr in deine Küche zurück, Beaumains. Ah, ich kenne deinen Na men, den dir derselbe Ritter gab, den du mit einem gemeinen Schlag zu Fall gebracht hast. O wie plump und grob sind doch deine Hände – 137
gerade gut genug, um Gänse zu fangen und den Boden aufzuwi schen.« Und mit einer Stimme, die immer schriller wurde, schrie sie: »So halte doch endlich etwas Abstand von mir, du stinkst ja nach Küche n fett!« »Sagt, was Ihr wollt«, erwiderte Beaumains ruhig, »ich werde nicht umkehren. Euer Abenteuer ist für mich bestimmt, so hat es König Ar tus gewollt, und ich werde keinen Augenblick von meiner Bahn ab weichen, solange Leben in meinen Adern ist.« »Ausgerechnet du willst ein solches Abenteuer siegreich durchstehen, Küchenjunge«, höhnte die Frau. »Warte nur, bald wirst du vor einem so gewaltigen Feind stehen, daß du eher sämtliche dicken Suppen, die du in Artus' Küche gegessen hast, wieder ausspeist, als dich gegen diesen Mann zu behaupten.« »Ich werde mein Bestes tun, und wir werden ja sehen, wie die Sa che ausgeht«, sagte Beaumains ruhig. Und er ließ die Frau etwas vor anreiten und ritt ihr nach. Bald kamen sie zu einem verdorrten Dornbusch, an dem ein schwarzer Speer und ein schwarzer Schild hingen. Und vor dem Busch saß ein riesiger Ritter, der von Kopf bis Fuß in einer schwarzen Rüstung steckte, und daneben graste sein rabenschwarzer Schlachtroß. »Flieh nun das Tal hinunter, bevor dieser Ritter im Sattel sitzt«, sagte Linnet, »denn dies ist der Schwarze Ritter vom Schwarzen Land, und niemand kann gegen ihn bestehen.« »Vielen Dank für die Warnung«, sagte Beaumains und ritt unbeirrt geradeaus, als hätte sie nichts gesagt. Und als sie nur noch ein paar Pferdelängen vom Busch entfernt wa ren, stand der Schwarze Ritter auf und sagte: »Hohe Frau, ist das der Kämpfer, den Ihr von Artus' Hof mitgebracht habt?« »Nein, Herr Ritter, das ist nur ein schmieriger Küchenbursche, der mir nachreitet, ob es mir paßt oder nicht. Deshalb bitte ich Euch, ihm eine Lektion zu erteilen, mir ist schon ganz übel von seinem Ge stank.« 138
»Gut«, sagte der Schwarze Ritter, indem er sein schwarzes Streitroß herbeipfiff, »dann werde ich ihn einmal aus seinem schönen Sattel hauen, denn für einen Küchenjungen ziemt es sich ohnehin, zu Fuß zu gehen, statt zu reiten, und außerdem kommt mir sein schönes Pferd gerade recht.« »Ihr mögt Euch gerne um mein Pferd bewerben«, sagte Beaumains, »und könnt es auch behalten, wenn Ihr es mir nehmen könnt! So kommt und versucht es, oder laßt die Dame und mich passieren.« »Nein«, sagte der Schwarze Ritter, »das geht nicht, daß ein Kü chenbursche einer schönen Frau gegen ihren Willen nachreitet.« »Darüber müßten der Küchenbursche und die Frau entscheiden«, sagte Beaumains, und seine Stimme war nicht mehr ganz so ruhig wie bisher. »Aber in Wahrheit bin ich kein Küchenbursche, sondern ein geborener Edelmann, und sogar von edlerem Blute als Ihr selbst!« Der Schwarze Ritter schwang sich in den Sattel und nahm Schild und Speer von den Zweigen des Dornbuschs. Dann stellten die beiden sich im gehörigen Abstand auf, wandten die Pferde und donnerten aufeinander los. Und der schwarze Speer zersplitterte auf Beaumains' Schild, doch Beaumains stieß seinem Gegner den Speer an einer Ge lenkstelle durch den Kettenpanzer ins Fleisch, und der Schwarze Rit ter flog aus dem Sattel. Als die Dame sah, daß der Schwarze Ritter tot war, riß sie ihren Zelter herum, gab dem Pferd heftig die Sporen und ritt wortlos davon. Doch Beaumains stieg ab und zog dem toten Ritter die Rüstung aus – sie war schön und schlicht, und da, wo die Sonne darauffiel, leuchte te sie in einem rötlich-blauen Glanz – und zog sie sich an. Nur das ei gene Schwert und Kays Speer behielt er. Und während er mit Hilfe des Zwergs gerade die letzte Schnalle befestigte, kam Sir Lancelot, der aus einiger Entfernung von seinem Sattel aus alles gelassen beo bachtet hatte, auf ihn zu. »Nun, glaubt Ihr, Euren Ritterschlag verdient zu haben?« Lancelot hatte das Visier geöffnet, und Beaumains blickte ihm un verwandt in das schiefe Gesicht und lächelte. »Ja, Herr«, sagte er und wußte, daß er das Recht hatte, ja zu sagen, und daß er von keinem an deren' als Lancelot den Ritterschlag empfangen wollte. 139
»Das glaube ich auch von ganzem Herzen«, sagte Lancelot. »Aber sagt mir zuerst, wie Ihr heißt; ich werde es für mich behalten, solange Ihr wünscht.« »Herr«, sagte Beaumains, »ich bin Gareth, der jüngste Sohn des Königs Lot von Orkney und der zweitjüngste Sohn der Königin Mar gawse.« Da wurde es eine Weile still auf der Lichtung. Irgendwo in weiter Ferne stieß ein Eichelhäher einen Warnruf aus. »Wie kommt es dann, daß weder Sir Gawain noch Sir Gaheris, noch Sir Agravane, die doch alle Eure Brüder sind, Euch erkannt haben, als Ihr an den Hof kamt?« »Es sind acht Jahre vergangen, seit mich einer von ihnen zum letz ten Mal gesehen hat; und selbst ein Bruder verändert sich in den Jah ren zwischen neun und siebzehn«, sagte Beaumains, der von nun an einfach Gareth hieß. »Aber wahrhaftig, ich glaube, Gawain war mir vom ersten Augenblick an wohlgesinnt, denn er war das ganze Jahr über immer wieder freundlich zu mir, wie auch Ihr selbst.« »Dann kniet nieder, Gareth von Orkney«, sagte Lancelot. Und als der junge Mann vor ihm kniete und den strohblonden Kopf beugte, gab ihm Lancelot den leichten Schlag zwischen Schulter und Hals, und das war ja – abgesehen von der Nachtwache und der Zere monie – im Grunde genommen alles, was dazugehörte, um einen Mann zum Ritter zu machen. »Steht auf, Sir Gareth, und reitet Eures Weges. Bei Eurer Rückkehr werdet Ihr in der Tafelrunde sicherlich einen Platz finden, denn Ihr seid schon auf dem besten Wege, ein wertvoller Ritter zu werden.« Da erhob sich Sir Gareth und zog sich den Helm an und bestieg das schwarze Roß und überließ sein eigenes dem Zwerg. Die Wege der beiden trennten sich: Lancelot ritt nach Camelot zurück, während Ga reth Frau Linnet nachritt. Als Gareth Linnet wieder eingeholt hatte, rief sie ihm mit gellender Stimme zu: »Du mußt dir nicht einbilden, ich würde dic h jetzt als meinen Ritter akzeptieren, nur weil du einen besseren Ritter mit einem feigen Schlag getötet hast! Pfui! Reite mir bloß aus der Nase, denn 140
dein Geruch macht mich krank! Aber zum Glück brauche ich dich nicht allzulange auszuhalten, denn bald wird uns ein Kämpfer bege g nen, der dich genauso behandeln wird, wie du den Ritter, dessen Rü stung du jetzt trägst, behandelt hast. Es wäre besser, du würdest flie hen, solange es noch Zeit ist!« »Ich laufe vor niemandem davon«, sagte Gareth, »und ich werde Euc h niemals verlassen, solange dieses Abenteuer nicht zu einem glücklichen Ende gebracht ist.« Nicht lange waren sie dahingeritten, die Frau zornig voraus, Sir Ga reth etwas hinter ihr und zuletzt der Zwerg, da hörten sie Hufschläge und Krachen im Unterholz, und vor ihnen ritt ein Ritter in vollkom men grüner Rüstung auf den Weg heraus. Über der Rüstung trug er einen grünen Überwurf, dazu hatte er einen grünen Schild und einen grünen Speer, und auf dem Pferd lag eine grüne Satteldecke, und auch der Helmbusch, der aus schmalen Streifen von Seide bestand, die im Winde flatterten, war grün wie junge Birkenblätter. »Seid mir gegrüßt, hohe Frau«, sagte der Ritter und verstellte den Weg mit seinem Pferd. »Ist der Mann, der mit Euch reitet, mein Bru der, der Schwarze Ritter?« »Nein«, sagte Linnet, »das ist bloß ein Küchenbursche, der ihn auf gemeine Weise erschlagen und ihm hinterher die Rüstung gestohlen hat.« »Dann habt Ihr einen guten Ritter erschlagen«, sagte der grüne Mann, »und für diesen hinterhältigen Schlag werde ich Euch töten!« »Kein unfairer Schlag«, sagte Gareth, »ich erschlug ihn in ehrli chem Kampf, und der Vorteil war eindeutig auf seiner Seite, denn ich hatte nur mein Wams und keine Rüstung. Und so habe ich mir die Rü stung als rechtmäßige Kampfesbeute geno mmen.« Da legten die beiden Männer die Lanzen ein und begannen auf dem Waldweg einen heftigen Zweikampf, und als die Speere restlos zer splittert waren, griffen sie zu den Schwertern. Und als Gareth den Grünen Ritter – der nicht derselbe war wie jener, mit dem Sir Gawain es zu tun gehabt hatte – schließlich aus dem Sattel gezwungen hatte, kämpften sie zu Fuß weiter. Und die ganze Zeit verspottete Linnet den Grünen Ritter und schalt ihn mit lauter Stimme und rief: »Was, 141
braucht Ihr so lange, um mit einem Küchenjungen in gestohlener Rü stung fertig zu werden?« Da wurde der Grüne Ritter so wütend, daß er Gareth mit einem Schlag den Schild entzweischlug. Gareth schüttelte die beiden Schildhälften vom Arm, packte das Schwert mit beiden Händen, sprang auf seinen Widersacher zu, schwang die blitzende Klinge hoch empor und ließ sie so kraftvoll auf den grünen Helm busch niedersausen, daß der Grüne Ritter umfiel wie ein Hase, den der Stein einer Schleuder getroffen hat, und halb betäubt liegenblieb. Da flehte er mit matter Stimme um Gnade. »Ob ich Gnade walten lassen soll, muß die Dame entscheiden«, sag te Gareth, der immer noch über ihm stand. »Denn wenn sie nicht um Euer Leben bittet, müßt Ihr sterben!« »Dann muß er sterben«, sagte Linnet, »denn ich werde mich hüten, einen Küchenburschen um etwas zu bitten!« »Edler Herr Ritter«, sprach da der gestürzte Mann, »verschont mein Leben, ich werde euch dafür den Tod meines Bruders verzeihen. Ich will zusammen mit meinen dreißig Rittern in Eure Dienste treten.« »Gerne verschonte ich Euer Leben, wenn die Dame es so wünsch te«, sagte Gareth. Langsam erhob er das Schwert, um zum Todesstoß auszuholen, und die Augen des Grünen Ritters folgten der Klinge vo l ler Angst. »Halt ein!« schrie Linnet. »Erschlagt ihn nicht, ich bitte Euch, Kü chenjunge!« Gareth ließ das Schwert sinken und nickte ihr in aller Höflichkeit zu. »Ihr könntet etwas freundlicher darum gebeten haben, doch Ihr habt immerhin darum gebeten, hohe Frau, und ich will Eurem Wun sche gerne nachkommen.« Dann wandte er sich zu seinem am Boden liegenden Gegner. »Herr Ritter mit der grünen Rüstung, ich schenke Euch das Leben. Steht auf und begebt Euch mit Euren dreißig Rittern nach Camelot. Schwört König Artus die Treue und sagt ihm, der Kü chenritter habe Euch gesandt.« »Ich danke Euch wahrhaftig für Euer Erbarmen«, sagte der Grüne Ritter. »Doch bald neigt sich der Tag. Begleitet mich zu meiner Burg und seid für eine Nacht mein Gast. Am Morgen werden wir dann jeder 142
seines Weges ziehen, ich mit meinen Rittern in Richtung Camelot, Ihr und die Dame weiterhin Eurem Abenteuer entgegen.« So verbrachten sie die Nacht beim Grünen Ritter. Und wieder über häufte die Frau Sir Gareth mit Hohn und Spott und wollte nicht dul den, daß er sich mit ihr an denselben Tisch setzte. »Eine Schande ist es zu sehen, wie Ihr diesen Küchenburschen wie einen Ehrengast be handelt«, sagte sie empört. Doch der Grüne Ritter entgegnete: »Eine noch viel größere Schande wäre es, ihn unehrenhaft zu behandeln, denn er hat bewiesen, daß er ein guter Kämpfer ist, jedenfalls ein besserer als ich.« Und er führte Sir Gareth zu einem Seitentisch, nahm aber selbst neben ihm Platz. Am anderen Morgen brachen sie auf, und jeder ritt seines Weges. Und wie zuvor begann Linnet, Sir Gareth wieder wegen seines Kü chengeruchs und seiner großen Hände zu verhöhnen, und verlangte, daß er mehr Abstand halten solle. Und wie zuvor trug Sir Gareth alles mit Gelassenheit und gab ihr kein böses Wort zurück, sondern sagte nur: »Frau, es ist nicht höflich von Euch, mich derart zu verspotten, denn ich habe Euch bis jetzt gute Dienste geleistet, und vielleicht wer de ich Euch in Zukunft noch bessere leisten.« »Das«, gab die Frau zurück, »wollen wir erst einmal abwarten!« Doch dabei betrachtete sie ihn zum ersten Mal wie ein menschliches Wesen, und da fühlte sie sich plötzlich etwas verlegen und biß sich in die Unterlippe. Nach einiger Zeit führte der Pfad aus dem Wald heraus, und in der Ferne wurden die Mauern und Türme und ineinander verschachtelten Dächer einer schönen Stadt sichtbar. Vom Waldrand bis zur Stadt er streckte sich eine weite, frischgemähte Wiese, und rund um die Wiese standen Zelte aus blauer Seide, und zwischen den Zelten spazierten Ritter und Damen in langen Seiden- und Damastgewändern, tiefblau wie die Zelte, auf und ab, und überall führten Pagen Schauhunde mit Halsbändern aus feinem blauem Leder an der Leine, und Knappen richteten Pferde ab, deren prächtiges Geschirr die gleiche Farbe hatte. In der Mitte der Wiese erhob sich ein Zelt, das größer und schöner war als alle übrigen, und neben dem Eingang steckte ein blauer Speer senkrecht in der Erde, und gegen den Speer lehnte ein blauer Schild. 143
»Jetzt ist es aber höchste Zeit, daß du die Flucht ergreifst«, sagte die Frau, »denn dort drüben steht das Zelt Sir Persants von Indien, den man auch den Blauen Ritter nennt. Er ist einer der besten Kämpfer der ganzen Welt, und um ihn herum lagern fünfhundert Ritter. Selbst Sir Gawain und Sir Lancelot würde es schlecht bekommen, wenn sie ihm bewaffnet entgegentreten müßten. Deshalb sag' ich dir noch einmal, fliehe, solange es noch Zeit ist.« Doch das sagte sie schon mit etwas freundlicherer Stimme. »Es sieht fast so aus, als würdet Ihr wirklich um meine Haut ban gen«, sagte Sir Gareth hinter geschlossenem Visier, und in seiner Stimme klang ein leises Lächeln mit. »Nein, deine Haut macht mir keinen Kummer. Aber das belagerte Schloß meiner Schwester ist nur noch sieben Meilen entfernt, und nun fürchte ich immer mehr, Ihr könntet besiegt werden, noch bevor wir es erreicht haben.« Plötzlich schien ihr bewußt zu werden, was sie da ge sagt hatte und daß sie ihn damit ja als ihren Kämpfer anerkannte. Und sie warf ihm schnell einen Blick zu, doch sein Gesicht blieb hinter dem Visier verborgen. Und sie fuhr mit halberstickter Stimme fort, denn ihre Wut war noch immer nicht ganz verraucht: »Was seid Ihr denn eigentlich für ein Mensch? Wirklich ein Edelmann? Oder doch ein geistloses Suppengeschöpf? Denn wahrhaftig, noch nie hat eine Frau einen Ritter so schmählich behandelt wie ich Euch, und doch habt Ihr mir immer nur höfliche Antworten gegeben und mir weiterhin Eure Dienste erwiesen.« »Frau«, sprach Sir Gareth, »Eure harten Worte haben einem guten Zweck gedient. Denn sie haben mich wütend gemacht, und meine Wut hat mir im Kampf mit meinen Feinden den Arm gestärkt. Und was die Frage betrifft, ob ich von edler Abstammung bin: jedenfalls habe ich Euch nach Art eines Edelmanns gedient, und ob ich einer bin oder nicht, das werdet Ihr zur gegebenen Zeit schon sehen.« Da trat aus dem großen Zelt ein Knappe, kam auf Sir Gareth zu und sagte, sein Herr lasse den Schwarzen Ritter fragen, ob er in friedlicher oder kriegerischer Absicht gekommen sei. »Geh zu deinem Herrn zurück und sage ihm, daß er das selbst ent scheiden soll«, sagte Sir Gareth. 144
Und der Knappe kehrte wieder zum Zelt zurück. Nach einer kleinen Weile kam ein zweiter Knappe mit einem großen, eisengrauen Schlachtroß hinter dem Zelt hervor, und das Roß stampfte unruhig mit den Hufen im Gras auf und biß am Zaumzeug herum. Dann trat Sir Persant in einer blauen Rüstung, die im Sonnenlicht schimmerte wie die Flügeldecken mancher Käfer, aus dem Zelt. Er bestieg das Pferd, ergriff Schild und Speer und ritt auf Sir Gareth zu, der auf seinen Be scheid wartete. »Dann will er also Streit«, sagte Sir Gareth, und er gab dem schwarzen Roß die Sporen und jagte dem Blauen Ritter entgegen. Und sie prallten so heftig zusammen, daß beide Speere in drei Stük ke sprangen und die Pferde zu Fall kamen. Die Ritter brachten sich außer Reichweite der ausschlagenden Hufe, stürzten sich mit gezoge nen Schwertern aufeinander und schlugen und hackten aufeinander ein, bis die Funken flogen. Schließlich traf Gareth den Blauen Ritter so heftig am Helmbusch, daß die Helmriemen zerrissen und der Helm weit wegflog und der Ritter zu Boden stürzte. Und ohne zu warten, bis sie darum gebeten wurde, flehte die Dame für den gestürzten Ritter um Gnade, und Sir Gareth senkte sofort sein hocherhobenes Schwert und sagte: »Ich werde Gnade walten lassen, weil diese Frau darum bittet, und auch, weil Ihr ein so tapferer Ritter seid, daß mir ganz warm ums Herz wird; und da wäre es eine wahre Schande, einen solchen Mann zu töten. Sammelt also Eure Gefolgs leute und reitet nach Camelot und erweist König Artus die gebührende Ehre, und sagt ihm, daß Ihr vom Küchenritter gesandt seid.« »Das werde ich gewiß tun«, sagte der Blaue Ritter, »doch da es nun schon zu dunkeln beginnt und die Schatten immer länger werden, bitte ich Euch, daß Ihr mit der Dame, die Euch begleitet, als meine Gäste bei mir speist und übernachtet.« So waren sie eine Nacht lang die Gäste des Blauen Ritters. Frau Linnet hatte inzwischen aufgehört, Sir Gareth zu verspotten. Und als das Mahl beendet war, erzählte sie Sir Persant, daß sie zum Schloß ihrer Schwester, das vom Roten Ritter aus dem Roten Land belagert wurde, unterwegs seien, und auch, was für Kämpfe ihr Gefährte zu bestehen hatte. Und schließlich sprach sie: »Sir Persant, bitte schlagt 145
diesen Edelmann zum Ritter, bevor wir wieder aufbrechen, so daß er den Roten Ritter als Ebenbürtiger herausfordern kann.« »Das tue ich mit Freuden«, sagte Sir Persant, »wenn er damit ein verstanden ist, von mir den Ritterschlag zu empfangen.« »Und wie gerne empfinge ich ihn von Euch!« sagte Sir Gareth, »wenn ich ihn nicht schon gestern von Sir Lancelot empfangen hätte.« »So, und mit welchem Namen wurdet Ihr denn zum Ritter geschla gen?« wollte Sir Persant wissen. »In meinem eigenen. Ich bin Sir Gareth von Orkney, der Sohn des Königs Lot und der Königin Margawse.« Und die Frau schaute Sir Gareth an und öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, und schloß ihn wieder und sagte kein Wort. Und der Blaue Ritter betrachtete die beiden und mußte ein wenig lächeln. Am ändern Morgen nahmen sie voneinander Abschied, und Sir Per sant ritt mit seinen Rittern in Richtung Camelot, und Sir Gareth und Linnet ritten zum Schloß von Frau Lionese. Und noch ehe es Mittag wurde, hatten sie die sieben Meilen zurückgelegt und kamen an den Rand einer großen, flachen Ebene, und in einiger Entfernung sah Sir Gareth ein schönes Schloß, dessen hohe Türme stolz in den Morgen himmel ragten. Und zwischen ihnen und dem Schloß befand sich ein großes Lager aus lauter scharlachroten Zelten, und zwischen den Ze l ten sahen sie viele Ritter umhergehen, und ihre Rüstungen und ihre Waffen und das Geschirr ihrer Pferde hatten die Farbe von Klatsch mohn. Ein herrlicher Anblick wäre das alles gewesen, wenn nicht eine Gruppe dunkler Bäume in der Mitte des Lagers gestanden hätte. Denn als Sir Gareth etwas näher ritt, sah er, daß etwa vierzig Ritter an den Ästen hingen wie an Galgen. Sie waren noch in voller Rüstung, die Schilde hingen ihnen um den Hals, und auch die vergo ldeten Sporen leuchteten noch an ihren Absätzen. Und alle waren sie schon lange tot, auf schmähliche Weise umgekommen. »Ein übler Anblick dort drüben«, sagte Sir Gareth.
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»Ach! Das sind die Leichname derer, die vor Euch hierher gekom men sind, um meine Schwester zu befreien«, sagte Linnet. »Seid Ihr mutig genug weiterzumachen, wo sie alle zusammen versagt haben?« »Ich kann es nur versuchen«, stieß Sir Gareth zwischen den Zähnen hervor, »und das ohne Verzug.« Da sah er, daß an einer großen Plata ne in der Mitte der Baumgruppe ein elfenbeinernes Horn hing und ritt auf den Baum zu. »Nein!« rief die Frau ihm nach. »Rührt das Horn nicht an! Noch nicht!« Und als sich Sir Gareth umwandte und sie fragend anblickte, sagte sie: »Wenn das Horn ertönt, kommt der Rote Ritter heraus, um mit dem Mann, der hineingeblasen hat, in den Kampf zu treten.« »Das habe ich vermutet.« »Doch der Ritter nimmt während des ganzen Vormittags an Kräften zu, und am Mittag ist er stärker als sieben Ritter zusammen, doch am Nachmittag schwinden ihm die Kräfte wieder, und wenn die Sonne untergeht, ist er zwar noch ein starker und fürchterlicher Kämpfer, aber doch nicht mehr als das. Laßt das Horn bis zum Nachmittag in Ruhe, oder Ihr werdet bei Sonnenuntergang denen dort drüben an den Bäumen Gesellschaft leisten.« »Das hätte ich auch verdient«, sagte Gareth, »wenn ich mir hier die Zeit vertreiben wollte, bis der Ritter am schwächsten ist.« Und er nahm das Horn vom Ast herunter. Das war in der Tat das größte Horn, das er je in der Hand gehalten hatte; es war kunstvoll aus einem ganzen Elefantenstoßzahn geschnitzt. Er setzte es an die Lippen und ließ einen so lauten Ton erschallen, daß es von den Schloßmauern widerhallte und alle Bewohner zu den Fenstern eilten und die ganze Gefolgschaft des Roten Ritters aus den Zelten stürzte, um zu sehen, wer einen solchen Lärm machte. Dann trat auch der Rote Ritter selbst aus seinem Zelt, in blutroter Rüstung und mit blutroten Waffen, und zwei Knappen brachten ihm sein rotes Kampfroß, und der Rote Ritter sprang mit einem Satz in den Sattel. Doch Sir Gareth blickte zu einem der Schloßfenster hinauf, aus dem ein Mädchen zu ihm herunterblickte. Ihr Gesicht, bleich wie eine 147
Anemone, leuchtete plötzlich in leidenschaftlicher Hoffnung auf. Und ein paar weiße Hände streckten sich ihm beschwörend entgegen. Da war es, als ob sich plötzlich etwas seiner Brust entrang und auf un sichtbaren Schwingen dem Mädchen im Fenster zuschwebte – und nie mehr zurückkehren würde. »Das ist meine Schwester, die Frau Lionese«, sprach Linnet, als sie bemerkte, wohin seine Blicke gingen. »Ich wußte, daß sie das sein mußte«, sagte Gareth, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. »Wahrhaftig, ich kann mir nichts Schöneres wünschen, als für sie zu kämpfen und sie meine Frau zu nennen.« »Dort«, sagte Linnet, »kommt der Rote Ritter geritten.« Gareth riß seinen Blick vom Fenster los, und als er sich umschaute, sah er den Roten Ritter in vollem Galopp auf sich zureiten, und seine Rüstung, die in der Morgensonne wie Feuer glänzte, blendete ihn. »Ach, hört auf, zu diesem Mädchen hinaufzuschauen, schaut lieber auf mich!« schrie der Rote Ritter. »Denn ich bin der letzte Anblick, der Euch vergönnt ist, bevor auch Ihr dort drüben baumelt!« Sir Gareth trieb sein Roß aus dem Schatten der Bäume mit ihrer entsetzlichen Last und trabte auf das offene Feld zwischen dem Lager und dem Schloß hinaus. Die beiden Männer ritten auseinander, bis sie den richtigen Abstand hatten. Dann wandten sie die Pferde, legten die Speere ein und stürmten aufeinander los, daß es krachte wie bei einem Gewitter aus heiterem Himmel. Beide Speere trafen mitten in den gegnerischen Schild und zersplitterten in tausend Stücke, und der Harnisch der Pferde zerriß, als ob er nur aus Seidenfäden bestanden hätte, und Pferde und Reiter kamen in einem großen Knäuel zu Fall. Beide Pferde waren tot, und beide Ritter waren betäubt und blieben eine ganze Weile reglos liegen. Schon glaubten die Zuschauer, sie hät ten sich beide den Hals gebrochen, und sie fragten sich, wer wohl der Fremde sei, daß er den Roten Ritter derart überwältigen konnte, ob wohl die Sonne noch nicht einmal im Zenit stand. Doch nach einer Weile begannen sich die Ritter zu bewegen, und dann erhoben sie sich schwankend und mit viel Mühe wieder, zückten die Schwerter und stürzten sich aufeinander wie zwei verwundete Löwen, die um ihr Leben ringen. Eine geschlagene Stunde wütete der 148
Kampf, und die Schwerthiebe klangen wie das Dröhnen von Hammer und Amboß in einer Schmiede, und von den Wänden des Schlosses hallte der Lärm wider, und rötliche Funken stoben im hellen Tages licht. Als es zwölf Uhr wurde und die Sonne genau im Zenit stand, schlug der Rote Ritter Sir Gareth das Schwert aus der Hand und warf sich über ihn und brachte ihn mit dem bloßen Gewicht seines Körpers zu Fall. Vor Gareths Augen begann sich alles zu drehen und zu verfinstern, doch obwohl ihm das Bewußtsein zu schwinden begann, hörte er ge rade noch, wie Linnet ihm zurief: »Oh, Sir Beaumains, wo ist Euer Mut geblieben? Meine Schwester steht am Fenster und weint vor Kummer über Eure Niederlage und den Verlust all ihrer Hoffnung, die sie in Euch gesetzt hatte!« Da bäumte er sich mit letzter Kraft noch einmal auf und wälzte sich über den Roten Ritter und packte ihn mit mächtigem Griff und ent wand ihm das Schwert und riß ihm den Helm ab, um dem Kampf ein Ende zu machen. »Gnade!« stöhnte der Rote Ritter. »Ich erflehe Eure Gnade! Schont mein Leben, wenn Ihr ein wahrer Ritter seid!« »Habt Ihr denn die Leben derer geschont, die dort drüben an den Ästen baumeln?« brüllte Gareth und hob das Schwert. »Nein! Noch nicht!« würgte der Ritter hervor. »Haltet ein, und ich will Euch den Grund sagen!« »Das müßte allerdings ein sehr triftiger Grund sein!« sagte Sir Ga reth. »Darüber sollt Ihr urteilen. Ich liebte einmal ein Mädchen. Nie hat ein Mann mehr geliebt als ich! Doch sie erzählte mir, daß ihr Bruder Carrados von Sir Lancelot vom See erschlagen worden sei und daß sie nichts von mir wissen wolle, bis ich ihren Bruder gerächt hätte, und dazu müsse ich hundert Ritter des Königs Artus töten und sie wie Aas aufhängen. Dann und nur dann wolle sie meine Geliebte werden.« Da begann auch Linnet zu klagen und zu bitten. »All das ist das Zauberwerk von Morgan der Fee, denn sie hoffte, damit Artus und seinen edelsten Rittern Kummer und Schande zu bereiten. Doch dank 149
Eurer Kraft und Eurem Mut ist es ihr mißlungen. Und wirklich, der Mann, der jetzt zu Euren Füßen liegt, hat all das nur getan, weil er in ihrem Zauberbanne stand, und das mußte ich Euch bis zu diesem Au genblick verschweigen. Sein Tod wird jetzt den getöteten Rittern auch nichts mehr nützen, und so bitte ich Euch, laßt ihn am Leben.« Da ließ Gareth das Schwert sinken, stützte sich darauf und atmete schwer. »Ich verschone Euer Leben«, sagte er. »Begebt Euch zu Kö nig Artus und schwört ihm Treue und sagt, der Küchenritter habe Euch gesandt.« Der Rote Ritter kämpfte sich stöhnend auf die Beine. »Ich werde tun, wie Ihr gebietet, denn Ihr habt mich in ehrlichem Wettkampf be siegt.« Dann gingen sie ins rote Zelt, und die Nachmittagssonne drang durch die Seidenwände, und das Zeltinnere leuchtete wie ein roter Rubin. Und Linnet salbte und verband die Wunden der beiden Män ner. Und während sie die beiden pflegte, trat ein Kaplan aus dem Schloß und ließ die Leichname der Beklagenswerten von den düsteren Bäumen nehmen und sorgte für ein christliches Begräbnis. Dann wurden mehrere Pferde gebracht, und der Rote Ritter stieg in den Sattel und mit zur Brust gesenktem Haupt ritt er in Begleitung seiner Ritter nach Camelot. Da sprach Frau Linnet zu Gareth: »Kommt mit!« Und sie gingen zum Schloß hinauf und schritten über die hallende Zugbrücke, die man für die beiden heruntergelassen hatte, und betra ten den äußeren Schloßhof. Die Schloßbewohner drängten sich um sie und schrien und lachten vor Freude, doch Sir Gareth kamen sie alle wie Traumgestalten vor, als er hinter Linnet den inneren Hof betrat. Und da stand auf der Schwelle zum Saal in einem grünen Kleid, das über und über mit Blumen bestickt war – Frau Lionese. »Schwester, hier ist der Kämpfer, den ich zu Eurer Rettung gebracht habe«, sagte Linnet. Und Frau Lionese streckte ihm zum Gruß die Hand entgegen und sagte: »Ach, Herr Ritter, mit welchem Namen soll ich Euch danken?« 150
»Ich bin Sir Gareth von Orkney, der Sohn von König Lot und Kö nig Artus' Schwester und der Bruder von Sir Gawain«, sagte Gareth, und er kniete nieder und ergriff ihre beiden Hände und spürte, wie klein und weich sie waren. Doch der Boden wankte unter seinen Fü ßen und wie aus weiter Ferne hörte er Frau Lionese weinen. »Oh, sei ne Wunden! Er wird ohnmächtig – er stirbt! Was sollen wir tun?« Und auch Linnets Stimme drang noch schwach an sein Ohr: »Ruft die Knappen und laßt ihn ins Gästegemach bringen und schickt je manden in die Küche, um heißes Wasser und saubere Leintücher zu holen.« Mehrere Tage lang lag er krank, denn er war wirklich schwer ver wundet worden, und Linnet machte ihm Umschläge mit übelrieche n den Salben, bis das Wundfieber gestillt war und die Wunden zu heilen begannen. Und Frau Lionese setzte sich mit Geißblattzweigen und zarten Akeleiblüten an sein Bett, während ihre Minnesänger unter dem Fenster zu seiner Erheiterung spielten. Doch in Wahrheit brauchte er keine andere Erheiterung, als dazu liegen und Frau Lionese zu betrachten. Und als die Wunden fast verheilt waren, sagte er eines Tages zu ihr: »Zarte Frau, das waren die süßesten Tage meines Lebens, und wenn ich soweit genesen bin, daß ich wieder fortreiten kann, werde ich all meine Freude hier für immer zurücklassen, es sei denn, Ihr gebt mir ein Versprechen.« »Und was muß ich Euch versprechen?« fragte sie und schlug die Augen nieder. »Daß Ihr mich nach Camelot begleitet und an König Artus' Hof mit mir Hochzeit feiert.« Da legte ihm Lionese beide Arme um den Hals und küßte ihn ganz ernst und sagte kein Wort, doch das war auch nicht nötig. Als an diesem Abend die beiden Schwestern zusammensaßen und die Haare kämmten, sagte Lionese: »Liebe Schwester, ich wollte, Ihr könntet so glücklich sein wie ich. Ihr und nicht ich solltet ihn ja ei gentlich lieben, nach all den Gefahren, die ihr um meinetwillen zu sammen bestanden habt.« 151
»Nach all den beleidigenden Worten, die ich ihm gesagt habe?« sagte Linnet und begann zu lachen. »Nein, obwohl er so groß und stark und tapfer und treu ist – für mich ist er zu sanftmütig. Ich würde mich nach zwölf Monaten mit ihm langweilen.« »Aber Ihr werdet uns doch zum Hofe des Königs begleiten?« »Das werde ich«, sagte Linnet. »Vielleicht finde ich in Camelot ei nen Ritter, der besser zu meinem Temperament paßt.« Und als Gareths Wunden wieder verheilt waren, brachen die drei nach Camelot auf, und der Zwerg folgte ihnen nach. Als sie in Camelot eintrafen, waren der Grüne Ritter und der Blaue Ritter und der Rote Ritter mit ihrem Gefolge schon da. Und alle hatten dem König bereits die Treue geschworen und ihm gesagt, sie seien vom Küchenritter gesandt. Und der König und die Königin und alle Ritter der Tafelrunde hießen die drei herzlich willkommen. Sir Lance lot sagte zu Sir Gareth: »Denkt Ihr, daß es jetzt an der Zeit ist, uns zu sagen, wer Ihr seid?« Da sagte Beaumains, der Küchenritter, vor der ganzen Versamm lung schlicht und einfach: »Ich bin Gareth von Orkney.« Gawain entfuhr ein Schrei. »Da habt Ihr Euren Küchenritter, Sir Kay! Wußte ich es doch! Habe ich nicht vom ersten Augenblick eine Verwandtschaft mit ihm gefühlt? Habe ich nicht immer gesagt, der Junge hat gutes Blut in den Adern?« Und er trat herbei und umarmte seinen jungen Bruder herzlich und klopfte ihm voller Freude auf die Schultern, und dasselbe taten auch Gaheris und Agravane. Und als sich der fröhliche Lärm wieder etwas gelegt und Gareth seine Abenteuer der Reihe nach erzählt hatte, nahm er Lioneses Hand und bat den König, sie heiraten zu dürfen. »Mein lieber Neffe und jüngster Ritter«, sagte der König, »wenn Euch das Mädchen gefällt, so sollt Ihr in drei Tagen hier Hochzeit fe i ern.« Und so wurden Sir Gareth und Frau Lionese drei Tage später ver heiratet. Und nach der Feier in der St. Stephanskirche feierte man im Großen Saal, und als das Festmahl zu Ende war, machten die Knappen 152
im hinteren Teil des Saals für Minnesang und Tanz Platz. Es wurde später und später, und Lancelot und Gawain saßen in einer Ecke, mit einem Becher Wein, und schauten den von Gareth und Lionese ange führten Tänzern zu. Und Gawain sagte: »Ich an seiner Stelle hätte mich für die jüngere Schwester entschieden.« »Das blonde Weib dort?« sagte Lancelot. »Ach ja, das Herz trifft seine eigene Wahl, obwohl sie manchmal schwer zu begreifen ist.« Und es klang, als wäre er vierzig und nicht vierundzwanzig Jahre alt. Und er hütete sich wohl, die Blicke zur Königin wandern zu lassen, die unter dem seidenen Baldachin saß und den Tänzen zuschaute. Statt dessen schaute er stumm Gaheris und Linnet nach, die hinter dem Brautpaar tanzten, und bemerkte, wie sie jedesmal, wenn sie der Tanz wieder zusammenführte, schnelle verliebte Blicke tauschten. ›Wie herrlich und feurig sich die beiden umwerben, dachte er. Doch er sagte nur: »Ich glaube, auch Linnet wird zu Eurer Sippe stoßen, noch bevor die Blätter sich verfärben.« Und so geschah es auch.
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9 Lancelot und Elaine Noch vor der Hochzeit von Gaheris und Linnet war Lancelot schon wieder aufgebrochen, denn es drängte ihn neuen Abenteuern entge gen. Von allen Rittern der Tafelrunde war er derjenige, der am häufig sten wegritt, und man glaubte, das tue er nur, weil er immer noch mehr Ruhm und Ehre gewinnen wolle. Manchmal ritt er zu seinem Schloß ›Joyeux Gard‹, das ihm Artus in Nordwales zur Verfügung ge stellt hatte, doch meistens verschwand er einfach irge ndwohin in die Wildnis, um seinen Hunger nach neuen Abenteuern und Gefahren zu stillen. Aber in Wahrheit ritt er nur, um die Ehre der Königin und seine ei gene Ehre zu schützen. Denn seine Liebe zu Ginevra und ihre Liebe zu ihm wurde mit jedem Frühling und Sommer und jedem Winter stärker. Und wenn es ihm immer schwerer wurde, sie jeden Tag am Hof zu sehen, mit ihr zu sprechen oder mit ihr auf Falkenjagd zu ge hen oder beim Tanz ihre Hand zu berühren, und er doch die ganze Zeit 154
wußte, daß sie Artus' Gemahlin war, und er es schließlich am Hofe nicht mehr länger aushielt, dann konnte es geschehen, daß er sich Pferd und Rüstung bringen ließ und Hals über Kopf alleine fortritt. Und dann war ihm, als müsse er sich von allem losreißen und sein Herz blutend zurücklassen… So war er, als Gaheris in diesem Herbst Hochzeit feierte, wieder einmal über alle Berge und ritt gerade durch ein seltsames Ödland. Die Felder um die wenigen Siedlungen sahen trostlos und verlassen aus, und die Bäume, die in anderen Landstrichen in dieser Zeit im Schein der Herbstsonne golden und kupfern schimmerten, streckten hier nur einige dürre, braune Blätter in den milchig trüben Himmel. Und eines Tages führte ihn der Zufall über die große Brücke nach Corbenic, und er erblickte vor sich einen großen Turm und um den Turm herum die zusammengekauerten Dächer von Corbenic. Und noch während er über die Brücke zur Stadt ritt, verließen die Bewo h ner Häuser und Arbeit, kamen in Scharen herbei, drängten sich um sein Pferd und hielten es bei den Zügeln und den Steigbügeln und rie fen ihm vielerlei zu, wie jemandem, der allen bekannt und von jeder mann geschätzt ist. »Willkommen, Sir Lancelot, die Zierde des Ritter standes! Nun wird unsere Frau von ihrem furchtbaren Geschick er löst!« »Und welches ist ihr Geschick?« fragte Lancelot, dem es schwer fiel, aus dem Stimmengewirr klug zu werden. »In diesem Turm schmachtet sie, festgebannt in einem kochendhe i ßen Bad«, erwiderten die Bewohner, »schon fünf Jahre währt ihre Qual. Das alles hat sie den bösen Zauberkünsten von Morgan der Fee und der Königin von Northgalis zu verdanken. Die beiden waren auf ihre Schönheit eifersüchtig – denn so schön ist sie, daß man sie Elaine die Lilie nennt -, und in dem Turm muß sie eingeschlossen bleiben bis zum Tag, an dem sie der beste Ritter der Welt befreien wird!« Und während ihm das die Bewohner der Stadt erzählten, drängten sie Lancelot und sein Pferd die Straßen hinauf und auf den Turm zu. »Ich sehe nicht ein, warum das gerade mir gelingen sollte, wenn so viele gute Ritter vor mir gescheitert sind«, sagte Lancelot. »Aber ich will tun, was ich kann.« Und er saß vor dem gewölbten Turmeingang 155
vom Pferde ab, stieg die Wendeltreppe im Innern des Turmes hoch, und die Einwohner der Stadt folgten ihm nach. Oben am Treppenkopf kam er zu einer Eisentür. Die Tür war von innen verriegelt, doch als Lancelot sie mit der Hand berührte, sprang das Schloß sofort auf. Er stieß die Tür auf und trat ein. Da schlugen ihm Dampfschwaden ent gegen und hüllten ihn ein; doch durch den heißen Dampf hindurch sah er in der Mitte des Raums einen großen Zuber stehen, der mit koche n dem Wasser gefüllt war, darin saß Frau Elaine, die ihm die Hände fle hend entgegenstreckte. Lancelot durchschritt die Dampfschwaden, die im kalten Luftzug, der durch die offene Tür hereinströmte, immer dünner wurden, und ergriff Elaine bei der Hand, und sie stand auf und stieg aus dem siedenden Wasser. Da drängten sich die Frauen, die Lancelot die Treppe hinauf gefolgt waren, um Elaine, und eine zog ihren eigenen Arbeitskittel aus und wickelte ihn um Elaines Kopf, und eine zweite hüllte sie in ihren Mantel, denn Elaine war nackt wie eine Nadel. Und als sie notdürftig bekleidet war, ergriff sie Lancelots Hand und sagte: »Herr, ich danke Euch für meine Befreiung. Und nun wollen wir, wenn es Euch recht ist, zur Kapelle hinübergehen und Gott dafür danken.« Da schritten sie die Treppe hinab und kamen durch eine enge Gasse zur Kapelle, und das ganze Volk strömte ihnen nach, und alle waren stumm vor lauter Freude. Da knieten Sir Lancelot und Frau Elaine die Lilie vor dem Altar nieder und dankten Gott. Und Lancelot sann wie der eine kleine Weile nach: War dies vielleicht das Wunder, das er mit Gottes Kraft vollbringen durfte? Doch abermals spürte er, daß es et was anderes war, daß er einfach einen magischen Bann gebrochen hat te. Und als die beiden dann wieder ins Sonnenlicht hinaustraten, be trachtete Lancelot Frau Elaine und sah, daß die Röte, die das siedende Wasser verursacht hatte, schon aus ihrem Gesicht zu weichen begann und das hellblonde Haar schon fa st trocken war. Und er begriff, war um sie von den Menschen Elaine die Lilie genannt wurde, und es schien ihm, er habe noch nie eine schönere Frau gesehen, außer der Königin Ginevra. 156
Da wandte Elaine den Kopf und lächelte Lancelot sehr würdevoll und zugleich sehr anmutig zu und sagte: »Herr Ritter, würdet Ihr mich jetzt, wo wir Gott unseren Dank abgestattet haben, vielleicht nach Hause begleiten?« »Sehr gerne«, sagte Lancelot, »wenn Ihr mir sagen wollt, wo Ihr zu Hause seid.« »Es ist nicht weit. Ich wohne am anderen Ende der Stadt«, sagte die junge Frau. »Und zwar im Schloß von Corbenic. Mein Vater ist nä m lich König dieses Landes.« Da wußte Lancelot plötzlich, weshalb die Bäume dürr und die Luft und das ganze Land öde und gottverlassen schienen, denn wie jeder mann im ganzen Reich hatte auch er von König Pelles von Corbenic gehört. König Felles wurde auch der ›Sieche König‹ genannt, einer Wunde wegen, an welcher er schon seit langer, langer Zeit litt und die nie he i len wollte. Und Lancelot hatte gehört, wie mit dem König zugleich auch das ganze Land getroffen wurde und wie es seither viele Dürren und magere Ernten gegeben hatte und großes Leid über das ganze Land gekommen war. Seltsame Geschichten hatte er gehört, auch über das Schloß von Corbenic… Doch jetzt war nicht die Zeit, stehenzubleiben und solchen Dingen nachzusinnen, denn das Mädchen schaute ihn immer noch erwar tungsvoll an, und ihre Hand lag in der seinen, und sie wartete darauf, nach Hause begleitet zu werden. So bestieg er sein Pferd und hob sie vor sich in den Sattel und ritt mit ihr durch die Gassen, und viele Menschen folgten ihnen eine Wei le in aller Stille nach. Schließlich erreichten sie den höchsten Punkt der Stadt und standen vor dem Schloß, hoch oben auf den Felsen. Und unmittelbar neben dem Schloß fiel der felsige Hang steil ab zum halb ausgetrockneten Bett des Flusses, der tief unter ihnen seine Schleifen zog. Im breiten Außenhof des Schlosses wurden sie schon von den Schloßbewohnern erwartet und freudig willkommen geheißen, und Elaines Zofe n eilten voller Freude, aber auch ganz besorgt herbei und brachten ihre Herrin auf ihre Gemächer. Und während sich ein paar 157
Knappen des Pferdes annahmen und es zu den Ställen führten, brach ten andere Lancelot zum Gästegemach und waren ihm beim Auszie hen der Rüstung behilflich. Danach wurde Lancelot in den großen Schloßsaal geführt, und die Tische standen schon für das Abendessen bereit und waren mit weißen Leinentüchern gedeckt. Und König Pel les, der mehr einem Schatten glich als einem Menschen aus Fleisch und Blut, lag auf einer vergoldeten Liege, um die die Ritter und Ho f damen standen, während Elaine ganz nahe bei ihm saß und seine ver dorrte Hand hielt. »Ach, Sir Lancelot vom See«, sagte König Pelles – denn wie auch den Einwohnern von Corbenic war ihm Lancelots Name wohlbekannt -, »Gottes Segen ruhe auf Euch. Ich schulde Euch ewigwährenden Dank dafür, daß Ihr meine Tochter gerettet und zurückgebracht habt, wo schon so viele vor Euch versagt haben.« Da sagte ihm auch die ganze Versammlung Dank, und alle begr üß ten ihn, und man führte ihn zum Ehrenplatz an der Tafel, und dann setzte sich jedermann zum Mahl an den Tisch. Und noch bevor die Speisen aufgetragen wurden, geschah etwas Seltsames. Doch Lancelot war später nie ganz sicher, ob das Ganze nicht vielmehr ein Traum gewesen war; vielleicht einer jener seltsa men Wachträume, die er als Knabe zuweilen gehabt hatte und von de nen er manchmal vermutete, sie hätten etwas mit den Jahren seiner frühesten Kindheit zu tun, über die sich ein undurchdringlicher Schleier des Vergessens breitete, mit jenen Jahren, die ihm Zeit seines Lebens das Gefühl gaben, etwas anders zu sein als andere Menschen. Er wollte eigentlich nur einen Blick auf das große Fenster hoch oben an der entfernten Giebelwand werfen, als er im Gegenlicht der Abendsonne eine Taube erblickte, die mit ausgebreiteten Flügeln vor dem Fenster schwebte; und von ihrem Schnabel hing ein kleines Weihrauchgefäß herab, durch und durch aus Gold. Und der feine Rauchschleier, der sich durch den ganzen Saal zog, duftete wie die herrlichsten Gewürze der ganzen Welt. Und plötzlich öffneten sich die großen Portale unter dem Fenster weit, und eine Jungfrau in weißen Gewändern und einem weißen Schleier trug einen Kelch herein, der von einem weißen Samttuch verhüllt wurde. Und vom Kelch ging, 158
obwohl er verhüllt war, ein so blendender Lichtschein aus, daß nie mand direkt hineinzuschauen wagte. Die Jungfrau näherte sich der Speisetafel, und es schien, als ob ihre Füße den Boden gar nicht be rührten und sie von einer unsichtbaren Macht getragen würde, und mit dem hocherhobenen Kelch machte sie die Runde um die Tafel, und dann entfernte sie sich wieder, und sowie sie die Türschwelle über schritten hatte, schlossen sich wie von selbst die Portale wieder hinter ihr. Darauf trat im ganzen Saal große Stille ein, und Lancelot hatte das Gefühl, bessere Speise und besseren Trank genossen zu haben als ir gendein Sterblicher. Und er konnte sich später auch nicht entsinnen, daß in jener Nacht noch irgendwelche anderen Speisen aufgetragen worden wären oder daß irgend jemand danach verlangt hätte. Lancelot hob den Kopf, den er andächtig gesenkt gehalten hatte, während der Kelch die Runde machte, und fragte: »Herr König vom Ödland, was hat dieses Wunder zu bedeuten?« »Es ist wirklich ein Wunder«, sagte König Pelles, »denn der Kelch, der soeben an Euch vorübergezogen ist, ist der heilige Gral. Das ist der Kelch, aus dem der Herr vor der Kreuzigung beim letzten Abend mahl getrunken hat und in dem nachher sein heiliges Blut aufgefangen wurde. Es wird Euch wie allen Menschen bekannt sein, daß dieser Kelch später durch Joseph von Arimathia nach Britannien gebracht wurde. Und zuerst wurde er an die heilige Stätte gebracht, die Joseph in diesem Lande begründet hat – nach Avalon, dem Land der Apfe l bäume. Später wurde der Gral hier in Corbenic aufbewahrt, und ich, der ich aus Josephs Stamme bin und von den Menschen der ›Sieche König‹ genannt werde, heiße auch ›Hüter des Grals‹. Einst wird der Gral auch um Artus' Tafel die Runde machen, so wie Ihr es heute hier erlebt habt, und er wird alle Ritter der Tafelrunde zu ihrem größten und letzten Abenteuer aufrufen. Und dann wird das Britannische Reich unter König Artus seine Blütezeit erleben, und die Flamme von Logres wird leuchten wie nie zuvor, bevor sich wieder von neuem die Finsternis über ihr schließen wird.« Noch mehrere Tage blieb Lancelot in Corbenic, doch den Gral hat er seit jener Nacht nie mehr erblickt. Zwar war er von Camelot fortge 159
ritten, um seiner Liebe zur Königin zu entkommen, doch diese Liebe hatte ihn überallhin verfolgt, und da sie gerade so schnell war wie sein Pferd, half ihm alles Reiten nichts. So sah er für eine Weile keinen Grund, wieder weiterzureiten. Und Frau Elaine begleitete ihn oft auf kleinen Spazierritten oder spielte mit ihm Schach, und wenn sie an warmen, sonnigen Herbstabenden draußen im verwilderten Schloßgar ten spazierten, tauschten sie viele Worte miteinander. Doch Lancelots Herz war die ganze Zeit bei Ginevra, und so fiel es ihm gar nicht auf, daß sich Elaine in ihn verliebt hatte, und er ahnte nicht, wie viele Nächte sie weinte, bis der Schlaf sie tröstete. Doch Brissen, Elaines alte Amme, ahnte es wohl. Und Brissen ging zu König Pelles und holte sich bei ihm Rat. Sie selbst war aus dem Stamm des Alten Volkes und kannte die geheimen Kräfte der Kräuter und verstand sich auf alle Zauberkünste, deren sich die Frauen bedienen, und wie viele ihres Stammes hatte sie auch ein wenig das zweite Gesicht. Und nachdem sie sich mit dem König bera ten hatte, trat sie in Elaines Gemach und sagte: »Mein kleines Vöge lein, so weint doch nicht so bitterlich, denn obwohl sein Herz nur Gi nevra liebt, sollt Ihr ihn eine Weile zum Geliebten haben. Ihr werdet ihm einen Sohn gebären; den sollt Ihr Galahad nennen, denn das war auch seines Vaters erster Name. Gala had wird der beste Ritter der Welt werden, er wird die Wunden Eures Vaters heilen und das Ödland von seinen düsteren Schatten erlösen.« Und dann begann die Amme ihre Prophezeiungen in die Wege zu leiten. Am nächsten Abend verließen Elaine und Brissen auf geheimen Wegen das Schloß. Und etwas später pochte ein Mann, der Brissens Gatte war – doch das wußte Lancelot nicht -, an die Tür des Gästege machs. Und nachdem Lancelot geöffnet hatte, drückte ihm der Mann rasch etwas in die Hand, und als Lancelot genauer hinsah, glaubte er, den Ring zu erkennen, den Ginevra oft getragen hatte. Ihm blieb fast das Herz stehen, und ohne aufzublicken fragte er: »Wo ist meine Her rin, die Königin?« »Im Schloß von Gase, kaum fünf Meilen von hier durch den Wald. Sie ist alleine und läßt Euch zu sich bitten.« 160
Da ließ sich Lancelot das Pferd bringen und jagte in wildem Ritt bei Sturm und Wetter durch die Nacht und mit ihm einer der Knechte, der ihm den Weg zeigen mußte. Und die Zweige der kahlen Bäume über seinem Kopf wurden vom Wind hin und her gepeitscht, und die Äste stöhnten und knarrten, und auf dem ganzen Wege war es Lancelot, als ob ihm Ginevras von weichem Haar umrahmtes Gesicht aus der Ferne durch die Finsternis entgegenleuchtete. Und als sie endlich das Schloß von Gase erreic hten, ließ er sich aus dem Sattel fallen und fragte die nächstbeste Person: »Wo ist die Köni gin?« »Sie fühlte sich müde und ist zu Bett gegangen«, sagte Brissen. Und der wilde Sturm und das Pochen des eigenen Herzens hatten Lancelot so durcheinandergebracht und betäubt, daß er nicht merkte, daß es Elaines Amme war, die vor ihm stand. Und daher wunderte er sich auch in keiner Weise über ihre Anwesenheit. »Kommt erst einmal in den Saal, setzt Euch ans Fenster und trinkt einen Becher Wein«, sagte die alte Frau, »denn Ihr seid ja ganz durch näßt und müßt müde sein vom langen Reiten, bei diesem Wetter.« Lancelot ließ sich von ihr in die warme, ruhige Halle führen, die nur noch vom flackernden Herdfeuer erleuchtet war. Und dann spürte er einen kristallenen Becher mit heißem Würzwein zwischen den Hän den, und er trank ihn in einem Zuge leer. Und sogleich fühlte er sich in allen Gliedern durchwärmt, und es war ihm, als sähe er alles durch einen goldenen Schleier hindurch, und von Herzschlag zu Herzschlag wuchs seine Freude darüber, daß Gine vra so nahe war… »Kommt nun mit«, sagte Brissen und führte ihn eine Wendeltreppe hoch. Das große Gemach über dem Saal lag in völliger Finsternis, so daß er nicht einmal die Fensterschlitze sehen konnte. »Ginevra?« sprach er leise in den Raum und schritt über die Schwelle ins Dunkle. Als er am anderen Morgen erwachte, sickerte schon das erste Ta geslicht durch die Ritzen in den Läden herein. Lancelot drehte sich im Bett nach seiner geliebten Königin um. Da erst bemerkte er, daß Elai 161
ne an ihrer Stelle lag und noch schlief. Da überkam ihn große Bestür zung, und als er sich alles in Erinnerung rief, was geschehen war, verwandelte sich die Bestürzung in tiefen Schmerz und dann in rasen den Zorn. »Verräterin!« schrie er und sprang aus dem Bett und riß das Schwert vom Schrank und zog es aus der Scheide. »Ihr habt mich be trogen! Dafür sollt Ihr sterben!« Und Elaine erwachte, und sie blickte mit vor Schreck geweiteten Augen zu ihm auf und wagte sich nicht von der Stelle zu rühren, denn Lancelot hielt das blanke Schwert über ihre Brust. »Zu lange habe ich gelebt, um eine solche Schande ertragen zu können«, sagte er. Und als sie immer noch nichts sagte, begann er wieder zu schreien, wie jemand, der Todesqualen leidet. »Elaine, war um habt Ihr mir das angetan?« »Wegen der Prophezeiung«, sagte sie. »Weil durch uns Galahad entstehen soll, der meinen Vater heilen und die düsteren Schatten von diesem Lande entfernen und die Suche nach dem heiligen Gral voll enden wird. Und weil – o Lancelot, ich habe alles nur aus Liebe zu Euch getan; weil ich nicht mehr ohne Euch leben mochte und weil Ihr, wenn es nicht die Höflichkeit gebot, nie zu mir hergeschaut habt.« Und sie richtete sich im großen Bett auf und begann zu weinen. Da warf Lancelot das Schwert in die Ecke und sagte, obwohl ihm die Worte in der Kehle steckenbleiben wollten: »Ich werde Euch nicht töten. Es war nicht Euer Fehler, und ich will Euch alles verzeihen. Schaut – zum Zeichen, daß ich Euch verzeihe, will ich Euch küssen.« Und er nahm sie in die Arme und küßte sie unbeholfen zwischen die Augenbrauen. Doch als sie ihn ebenfalls küssen wollte, stiegen Kummer und Ent setzen wieder in ihm hoch, und mit einem lauten Schrei rannte er zum Fenster, schlug die Läden auf und sprang hinaus. Er landete in einem Beet von verwelkenden Spätrosen. Und als er auf die Füße sprang, blutete er im Gesicht und am Körper, denn er war nur mit einem Hemd bekleidet. Dann rannte er auf die halbverfallene Mauer am an deren Ende des Schloßgartens zu, laut stöhnend, wie wenn ihm das Herz gebrochen wäre, und kletterte über die Mauer und floh den felsi 162
gen Hügel hinunter und über den ausgetrockneten Fluß und ver schwand in den dunklen Schatten der Herbstwälder. Weihnachten ging vorbei und dann Ostern. Schon schallte der Ruf des Kuckucks wieder durch die Wälder. Doch von Lancelot kam im mer noch keine Nachricht nach Camelot. Und als ein ganzes Jahr vor über war, beschloß Sir Bors, Lancelots Vetter, nicht mehr länger zu warten, und brach auf, um ihn zu suchen. Das Schicksal wollte es, daß ihn seine Suche auch nach Corbenic führte, wo er von König Felles und Elaine, seiner Tochter, freundlich empfangen wurde. Und Elaine trug ein neugeborenes Kind auf den Armen. Und als sich Bors höflich vor Elaine verbeugte und den Säugling beinahe mit dem Gesicht berührte, schlug das Kind plötzlich die Au gen auf, und Sir Bors kamen die großen grau- grünen Augen im ver schrumpelten Gesichtchen irgendwie bekannt vor. Und dann schaute er ganz verwundert Elaine an und erkannte, daß das Kind, das sie an der Brust trug, die se Augen unmöglich von ihr haben konnte. Elaine begann zu lächeln, und ihr Lächeln hatte etwas Stolzes und Trauriges zugleich an sich, und sie sagte: »Ja, Herr Ritter, das Kind ist von mir und von Lancelot. Er heißt Galahad, und er wird eines Tages sogar seinen Vater überragen, denn er wird der größte und vollkom menste Ritter der ganzen Christenheit sein.« »Sir Lancelot?« fragte Bors. »Ist er da?« »Er war da«, sagte Frau Elaine. »Leider nicht mehr.« Und sie er zählte Sir Bors, wie Lancelot nach Corbenic gekommen war und wie er in Raserei verfiel und in die Wälder floh, wie niemand ihn hatte finden können und daß seither auch keine Nachricht von ihm gekom men war. Da war Sir Bors arg betrübt. Und nachdem er am anderen Morgen die Messe gehört hatte, ritt er traurig von dannen und schlug wieder den Weg nach Camelot ein. Und als er wieder zurück war und die Königin ihn fragte, ob er auf Lancelots Spur gestoßen sei, verneinte er, denn er wollte ihr den Kummer, den ihr seine Nachricht bereiten mußte, ersparen. Doch die Sache belastete und bekümmerte ihn im Innern zu sehr, als daß er sie 163
hätte ganz für sich behalten können, und so schüttete er nach einer Weile sein Herz aus und erzählte Sir Ector von den Sümpfen und Sir Owain und noch einigen anderen Rittern davon. Und ein Geheimnis, das einmal zwei oder vier Ohren gehört haben, ist fortan kein wohlge hütetes Geheimnis mehr. Und so erfuhr allmählich der ganze Hof, oh ne daß jemand genau wußte, woher die Kunde eigentlich kam, daß Sir Lancelot von König Felles' Tochter eine n Sohn hatte und daß er ver rückt geworden war. Und so erfuhr natürlich auch die Königin davon. Und eine Zeitlang war Ginevra halb von Sinnen vor Kummer und Zorn, und das war um so schlimmer, als sie sich nichts anmerken las sen durfte. Und König Artus konnte nur ohnmächtig zusehen und sich und anderen weismachen, daß Ginevra nur um den Verlust eines teu ren Freundes trauere. Dabei wäre ihm selbst beinahe das Herz gebro chen, obwohl er nach außen hin die Ruhe zu bewahren wußte. Und so verging ein zweites Jahr, und bald war schon ein guter Teil des dritten Jahres vorbei. Und obwohl Sir Ector und Sir Gawain und viele andere Ritter der Tafelrunde aufgebrochen waren, um Lancelot zu suchen, kehrte keiner mit einer Nachricht zurück. Da begab sich Frau Elaine mit ihren Zofen eines Tages in den Gar ten, um sich ein bißchen die Zeit zu vertreiben. Es war gerade der Tag von Maria Lichtmeß, und die ersten Schneeglöckchen hatten im ver wilderten Garten zu blühen begonnen. Die Zofen hatten einen vergo l deten Lederball mitgenommen, denn es war zu frostig, um in der La u be zu sitzen oder auf den überwachsenen Pfaden zu lustwandeln. Die Frauen warfen sich scherzend und lachend den Ball zu und vergnügten sich, bis er mitten in ein Gebüsch neben der alten, halbvertrockneten Quelle am Ende des Gartens fiel. Eines der Mädchen rannte ihm nach – und kam mit vor Schreck weit geöffneten Augen und bestürztem Gesicht wieder zurückgerannt. »Herrin!« rief sie. »Neben der Quelle schläft ein Mann; o Herrin, es ist bestimmt der Mann aus den Wäldern, laßt uns von hier fliehen!« »Nein«, sagte Elaine, »ich will erst selbst nachsehen.« Und sie wur de plötzlich ganz ruhig. Es war, als ob sie etwas ahnte, noch bevor sie die Zweige auseinanderschob und neben der Quelle stand… 164
Sie erkannte ihn sofort. Sir Lancelot lag mit dem Kopf auf dem Arm in tiefem, tiefem Schlaf, wie ein gejagtes Tier, das eine lange und rasende Flucht hinter sich hat. Er war mager wie ein Wolf nach einer langen Hungersnot, und er trug immer noch das zerrissene Hemd, wie an dem Tage, als er in den Wald geflohen war, und um die Hüfte hatte er sich das Fell eines Tieres gebunden. Und sein Haar war inzwischen ergraut. Elaine sank neben ihm zu Boden und weinte, als wollte ihr das Herz brechen. Da trat Brissen, ihre alte Amme, hinzu und sagte: »Weckt ihn nicht auf, denn vielleicht hat sich sein Wahnsinn noch nicht ganz besänftigt, und wenn er nun geweckt wird, könnte er wieder zu toben anfangen.« »Was sollen wir tun?« flüsterte Elaine. »O meine Liebe, meine Lie be, was sollen wir nur tun?« »Ich werde ihn in einen Zauberschlaf hüllen, so daß er noch eine gute Stunde weiterschlafen wird«, sagte die alte Amme. »So können wir ihn, während er schläft, ins Schloß und in die Wärme bringen und ihn in die Turmkammer legen, wo wir ihn dann pflegen können.« Da sang Brissen eine Zaubermelodie und machte mit den Finger spitzen magische Bewegungen. Und die Zofen brachten ein Stück fe i nes Hirschleder und wickelten Lancelot darin ein und trugen ihn über eine Hintertreppe in die Turmkammer hinauf und legten ihn auf das Bett. Und während einige Zofen ein paar parfümierte Äste eines Ap felbaumes in den Ofen legten und sie anzündeten, entfernten Elaine und die alte Amme das zerfetzte Hemd und wuschen die Wunden aus und bestrichen sie mit Wundsalbe. Am ganzen Körper war er zerkratzt und voller Schnittwunden wie ein alter Jagdhund. Da waren die schmalen, silbergrauen Narben von alten Speerwunden aus seinen Rit tertagen und den Wunden, die er sich an jenem Morgen an den Dor nen gerissen hatte, und dann hatte er noch eine große Narbe, die noch nicht ganz verheilt und stark blutunterlaufen war, an der Hüfte. »Das war ein Hirschgeweih«, sagte Brissen, »es hätte ihn beinahe das Leben gekostet.« Und Elaine mußte wieder weinen, als sie ihn betrachtete, wie er ab gemagert auf dem Hirschfell lag und die Rippen hervortraten und er 165
überall verwundet war und sein Gesicht selbst im tiefen Schlaf einen kummervollen Ausdruck hatte. Dann legten ihn die Frauen unter warme Decken und überließen ihn Brissen, die" auf ihn aufpaßte, während Elaine zu ihrem Vater ging und ihm sagte, daß Lancelot wieder da sei. Doch außer Elaine, dem König, der alten Amme und den Zofen wußte niemand in ganz Corbenic, wer oben in der Turmkammer lag. Der Zauberschlaf, in den Brissen Lancelot versetzt hatte, ging all mählich in einen gewöhnlichen Schlaf über, doch Lancelot erwachte erst am späten Vormittag des folgenden Tages. Und als er die Augen aufschlug, fiel sein Blick auf den Baldachin über dem Bett, auf dem ein weißer Hirsch, der im Geweih ein goldenes, leuchtendes Kruzifix trug, immerfort durch einen grünen Wald aus gestickter Seide jagte und von weißen Hunden verfolgt wurde. Da erschien eine tiefe Falte zwischen seinen Augen, und er blickte ganz bestürzt um sich, doch der Wahnsinn, der ihn mehr als zwei Jahre lang umklammert hatte, war nun von ihm gewichen, und sein Blick war wieder klar und ruhig. Dann begann er sich im Raum umzusehen, und als Elaine rasch aus der Fensterlaibung, in der sie bis jetzt gesessen hatte, hervorkam und sich über ihn beugte, stützte sich Lancelot mühsam auf die Ellbogen und rief: »Wie bin ich hierhergekommen? Um Himmels willen, Frau, sagt mir, wie ich hierhergekommen bin?« »Herr Ritter«, sagte Elaine, »ich weiß es kaum zu sagen. Es mach ten in den vergangenen Monaten viele Gerüchte die Runde über einen Mann aus den Wäldern… Und wenn Ihr dieser Mann seid, und es sieht ganz so aus, dann seid Ihr durch das Ödland geirrt wie ein Ver rückter, der ganz von Sinnen ist. Doch gestern hat Euch Euer Irrweg nach Corbenic zurückgeführt, und dann haben wir Euch schlafend im Garten gefunden, neben der Quelle. Doch jetzt sind Eure Sinne wieder beisammen; bleibt liegen und ruht Euch aus, und eßt und schlaft, dann werdet Ihr bald wieder gesund sein.« Und noch während sie sprach, war er wieder eingeschlafen. Zwei Wochen lang blieb Lancelot im großen Bett und wurde von Frau Elaine und der alten Amme gepflegt. Zwei Wochen lang lag er da und blickte zum weißen Hirsch empor, der vor den weißen Jagd 166
hunden floh. Als er wieder etwas gekräftigt war, saß er im geschnitz ten und gepolsterten Sessel in der Fensternische und schaute in die Winterlandschaft hinaus. Und er war in jeder Weise höflich und dank bar für alles, was Elaine für ihn tat. Sie aber hatte gehofft, er würde ihr mehr zeigen als nur Höflichkeit und Dankbarkeit, und das tat er nicht. Und auch nach seinem Sohn erkundigte er sich kein einziges Mal. Und als er sich wieder kräftig genug fühlte, um zu reiten, bat er um Kleider und ein Pferd und nahm von König Felles und von Elaine der Lilie Abschied. »Mein Vater würde uns ein Schloß geben«, sagte Elaine, »und ich würde Euch immer lieben. Ich will für Euch leben, wenn Euch das gefällt, auch nur für eine kurze Weile. Ich will für Euch sterben, wenn Euch damit mehr gedient ist.« »Ihr sollt weder für mich leben noch sterben«, sagte Lancelot. »Ei nes Tages wird ein anderer Ritter herkommen und Euch die Liebe schenken, die Ihr von mir erwartet.« Und der sieche König auf seiner vergoldeten Liege schwieg, denn Galahad war nun auf der Welt, und das war im Grunde genommen das einzige, was für ihn zählte. Und Elaine stand auf dem Schutzwall und schaute Lancelot nach. Diesmal weinte sie nicht mehr, denn es war, als wären all ihre Tränen ausgetrocknet wie das Ödland. Sir Lancelot ritt auf dem kürzesten Wege nach Camelot zurück. Und der ganze Hof freute sich und staunte darüber, daß er nach so langer Zeit doch noch lebendig zurückkam, nachdem ihn viele Ritter so lange vergeblich gesucht hatten. Nur die Königin, die aus Höflich keit auch erschienen war, um ihn zu begrüßen, freute sich nic ht über sein Erscheinen. Drei Tage lang versuchte sie, ihm die kalte Schulter zu zeigen. Doch dann hielt sie es nicht mehr aus und schickte eine ihrer Zofen zu ihm und ließ ihm ausrichten, daß sie ihn in ihren Gemächern zu emp fangen wünsche. Daran war nichts Besonderes, denn schon immer pflegte Ginevra den einen oder anderen Ritter der Runde, den sie ger ne mochte, gelegentlich in ihre Gemächer oder in den Schloßgarten rufen zu lassen, um sich mit ihm zu unterhalten oder um ihn auf die 167
Falkenjagd mitzunehmen oder mit ihm dem Harfenspieler zu la u schen. Aber Sir Lancelot spürte, daß er kein angenehmes Mußestünd chen vor sich hatte, und als er die Treppe zu den Gemächern der Kö nigin hinaufstieg, schlug ihm das Herz bis zum Halse. Die Zofen der Königin saßen um das Feuer herum, spielten mit ei nem Welpen und lauschten den Melodien eines kleinen walisischen Harfenspielers, eines alten Mannes mit grauen Haaren, der in ihrer Mitte saß. Doch die Königin saß abseits beim hohen Westfenster, und die letzten Sonnenstrahlen fielen auf die Stickarbeit auf ihrem Schoß. Sie blickte kurz auf, als Sir Lancelot die Kammer betrat, und zeigte mit der Hand auf den Stuhl, der vor der gegenüberliegenden Wand stand. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie stickte einen feuerroten Drachen auf goldenen Damastgrund – ein neuer Schildbe zug für den König. Die Fensternische bildete in der dicken Mauer fast einen kleinen Raum für sich und lag ganz im klaren, bleichen Winterlicht, während der Rest des Gemachs bereits im Schatten lag. Sir Lancelot kniete vor der Königin nieder und verharrte eine ganze Weile, ohne sich auch nur leise zu bewegen, bis Ginevra schließlich von ihrer Arbeit aufschaute und mit leiser, aber deutlicher Stimme, und wie wenn sie zu einem Fremden sprechen würde, sagte: »So seid Ihr also wieder zu uns zu rückgekehrt, Sir Lancelot?« »Ich bin zurückgekehrt«, sagte Lancelot. »Es war eine lange Zeit.« Sie sah, daß sein Haar ergraut war und sein seltsam schiefes Gesicht die Spuren tiefen Kummers zeigte, und im Herzen mußte sie jammern über ihn. Doch sie sagte nur: »Es war eine lange Zeit«, und zog einen neuen roten Faden aus dem Knäuel, der neben ihr lag. »Wahrhaftig, ich wundere mich, daß Ihr überhaupt noch gekommen seid.« »Ich mußte kommen«, sagte Lancelot. »Ich sehe nicht, warum. Ihr hättet doch, nachdem Ihr wieder zu Sinnen gekommen wart, in Corbenic gewiß alles gefunden, wonach Euer Herz begehrt. Man sagt, König Felles' Tochter sei sehr schön, und das wird gewiß wahr sein, denn man nennt sie sicher nicht ohne Grund Elaine die Lilie.« 168
»Sie ist sehr schön«, sagte Lancelot, »aber nicht sie, sondern Euch liebe ich.« Und das war das erste Mal, daß solche Worte zwischen ihnen aus gesprochen wurden. Und in die tiefe Stille, die nun eintrat, fielen lang sam hintereinander drei Harfenakkorde. Dann sagte Ginevra: »Doch die Mutter Eures Sohnes heißt Elaine.« Und Lancelot sagte: »Ginevra, es war nicht so, wie Ihr denkt. Man brachte mir einen Ring, der ganz dem gleicht, den Ihr selber tragt, und sagte mir, Ihr ließet mich rufen. Dann erhie lt ich einen Trank, und dann wurde ich in eine Kammer geführt, die finster war wie die Nacht. Und ich glaubte, Ihr wäret es wirklich.« Der rote Seidenfaden entglitt Ginevras Hand, und sie schaute von der Stickerei auf und begegnete seinem Blick. Und lange schauten sie sich so in die Augen. Und nichts mehr wurde an jenem Abend zwi schen ihnen gesprochen. Doch von diesem Abend an war die Liebe zwischen Lancelot und Ginevra anders geworden. Sie war nun stärker als jemals zuvor, doch sie war auch nicht mehr so schlicht, wie sie früher gewesen war. Denn nun waren der Zweifel und die Eifersucht und die Reue hinzugekom men. Und bald kamen auch noch die Schuldgefühle, denn von nun an machten sie keine Versuche mehr, sich aus dem Wege zu gehen. Und aus ihrer Vereinigung wurde viel Leid und Verlust und Düsternis ge boren, für sie selbst wie auch für König Artus und das ganze Reich, genauso wie es Merlin vorausgesagt hatte, bevor er unter dem Weiß dornbusch den Zauberschlaf fand. Und Elaine? Nachdem Sir Lancelot sie verlassen hatte, wurde sie von Tag zu Tag magerer, und sie siechte dahin wie eine Lilie, der Sonne und Regen genommen wurden. Der Frühling ging vorüber, der Sommer blühte auf, bald fielen die ersten Schneeflocken in den Schloßgarten. Und als es wieder Sommer wurde, wußte sie und je dermann im ganzen Schloß, daß sie nicht mehr lange zu leben hatte. Da ließ sie Galahad in ein Kloster bringen und bat die Nonnen, für ihn zu sorgen und ihn in frommer Gesinnung aufzuziehen und dafür zu sorgen, daß er später, wenn er in die Jünglingsjahre komme, von ge eigneten Männern in allen Rittertugenden unterrichtet werde. 169
Und sie sprach mit ihrem Vater und ihrer alten Amme und allen Menschen ihrer Umgebung und sagte allen, was sie ihr zuliebe tun sollten, wenn sie gestorben sei. Und alle weinten und versprachen ihr, alle ihre Wünsche zu erfüllen. Dann ließ sie sich Pergament, Tinte und Feder bringen und schrieb einen Brief. Und als sie den Brief beendet hatte, gab es nichts mehr, was sie noch hätte erledigen müssen, und wie ein Vogel, der sich in die Luft schwingt, entflog ihre Seele dem Leibe. Da erfüllten ihre Diener alle ihre Aufträge. Sie kleideten sie in ihr schönstes Seidengewand und legten sie auf eine Bahre, schoben ihr das zusammengerollte Pergamentstück zwischen die Hände und tru gen sie aus dem Ödland hinaus durch die spätsommerlichen Wälder, bis sie an einen Fluß kamen, der auf seinem Wege zum Meer auch an Camelot vorbeifließt. Dann bauten sie ihr eine Barke, die ganz mit schwarzen Tüchern behangen wurde, legten Elaine hinein und be streuten die Barke zuletzt über und über mit unzähligen Spätsommer blumen. Und dann gaben sie dem schwarzen Boot einen alten, stum men Steuermann bei und überließen es der Strömung. So trieb die Barke auf dem Fluß dahin, bald im Schatten mächtiger Erlen, bald zwischen offenen Wiesen, bis das Schiff schließlich etwas unterhalb von Camelot auf Sand lief. Artus und die Königin standen gerade am Schloßfenster, von dem aus man das ganze untere Flußtal überschauen konnte – es war dassel be Fenster, wo sich Ginevra und Lancelot nach seiner Rückkehr un terhalten hatten -, als sie beide die schwarzbehangene Barke still den silbernen Strom hinuntergleiten und oberhalb der großen Brücke am Ufer auflaufen sahen. Artus rief Sir Kay herbei. »Seht Ihr jene schwarze Barke? Ich habe ein seltsames Gefühl bei diesem Anblick. Holt Sir Bedivere und Sir Agravane und seht genauer nach und erstat tet mir dann Bericht.« Da stiegen Sir Kay und die zwei anderen Ritter zum Fluß hinab, und bald kehrte Kay wieder zum König zurück und sagte: »Mein Kö nig, in der Barke liegt der Leichnam einer schönen Frau, und außer ihr haben wir nur noch einen alten Steuermann gefunden, der kein Wort spricht; ich glaube, er ist stumm.« 170
»Wahrhaftig eine wunderliche Sache«, sagte der König. »Wir wo l len den Leichnam dieser Frau nun selbst betrachten.« Und er bot der Königin den Arm, und begleitet von vielen Rittern, schritten sie die engen Gassen von Camelot hinab, und immer noch zogen die Schwal ben zwischen den Dächern ihre Schleifen. Und als sie schließlich un ten am Fluß angekommen waren, betrachteten sie die schwarze Barke und dann den Leichnam der Frau, der ganz in ein silbern schimmern des Gewand gehüllt war. Ihr Haar war in der Mitte gescheitelt und zur Hälfte über die Brust gekämmt, und es sah fast aus, als ob sie lächelte und nur schliefe. »Das ist ein trauriger Anblick«, sagte der König. Er fragte den alten Mann, wer die Frau sei, erhielt jedoch keine Antwort. Und die Königin sagte leise: »Wie schön sie ist. Wie eine Lilie, die vom frühzeitigen Frost gebrochen wurde.« Da bemerkten sie den Brief in ihren Händen, die gefaltet über der Brust lagen. Und der König kletterte in die Barke und zog das Perga mentstück sorgsam aus den Händen heraus, erbrach das Siegel und begann vorzulesen. »Edelster Ritter, Sir La ncelot, mein innig geliebter Herr, nun hat mich, da Ihr mich nicht nehmen wolltet, der Tod genommen. Ich, die ich Elaine die Lilie genannt wurde, habe Euch wahrhaftig geliebt, und deshalb flehe ich zu allen Frauen, daß sie für mich beten. Gebt mir ein ehrenhaftes Begräbnis und betet für meine Seele, Sir Lancelot, Ritter der Ritter.« Das war alles. Nun war auch Sir Lancelot unter den Rittern, die den König und die Königin zum Fluß hinunterbegleitet hatten. Er hatte nur einen schne l len Blick auf die Königin geworfen, und nun stand er wie versteinert und angewurzelt im Gras der Uferböschung. Und nachdem Artus zu Ende gelesen hatte und alle Versammelten sehr betrübt wurden, be deckte Lancelot das Gesicht mit den Händen und begann laut zu stöh nen. Als er die Hände wieder vom Gesicht nahm, sagte er: »Mein Herr und König, mein Herz ist betrübt über den Tod dieser Frau. Gott weiß, daß ich ihren Tod niemals gewünscht habe, doch ich konnte sie nicht lieben, wie sie mich geliebt hat.« 171
»Die Liebe kommt, wann sie will, und läßt sich nicht befehlen noch festhalten«, sagte der König, und es war, als ob er damit zugleich Lancelot antworte und zu sich selber spreche. Dann ordnete er an, wo der Leichnam der Frau bis zum Begräbnis unterzubringen sei, und wandte sich zum Gehen. Bevor auch die Königin wegging, sagte sie zu Lancelot: »Ihr hättet ihr vielleicht doch mit etwas mehr Freundlichkeit begegnen können, um sie zu retten.« Und Lancelot spürte den Boden unter sich wanken, denn er war in vielen Dingen ein einfacher Mensch, und er konnte die Frauen nie verstehen, am allerwenigsten die Königin. Am anderen Tag wurde Elaine in aller Ehre in der Kirche von St. Stephan beigesetzt, und Sir Lancelot spendete den Meßgroschen für ihre Seele und streute die letzten Sommerrosen und Geißblattzweige auf das Grab. Und als die Beerdigungsfeier vorbei war, kehrte der alte, stumme Diener wieder zum Fluß zurück, wo die Barke auf ihn wartete, stieß vom Ufer ab und stakte flußaufwärts. Und Lancelot hatte nun einen neuen Kummer und eine neue Schuld zu tragen. Er versenkte beides tief in sein Inneres, und allmählich ver narbte die Wunde, doch diese Narbe trug er bis ans Ende seiner Tage mit sich herum.
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10 Geraint und Enid Und so vergingen viele, viele Jahre, und zu jedem Pfingstfest fa n den sich die alten und jungen Ritter des Königs nach alter Sitte in Camelot ein und setzten sich um die runde Tafel im Großen Saal. Doch zu anderen Zeiten des Jahres pflegte Artus an verschiedenen Or ten seines Reiches zu residieren, einmal in Carlisle, dann in London, dann wieder in Caerlon, denn er wollte mit allen Provinzen des Re i ches eine enge Verbindung pflegen. Einmal hielt er um die Osterzeit gerade in Caerlon Hof, und als er sich am Ostersonntag mit den Rittern, die ihn begleitet hatten, zum Mahle setzen wollte, schritt ein großgewachsener junger Mann in den Saal, und so hoch trug er das rotblonde Haupt, daß es aussah, als trüge er eine Fackel herein. Er war von Kopf bis Fuß in Seide gekleidet und trug schöne, gefärbte Lederstiefel, und an seinem Gurt hing ein Schwert mit einem goldenen Knauf. Und als er den ganzen Saal durchschritten hatte, kniete er vor dem König nieder, das Haupt immer noch hoch erhoben, und sprach: »Seid gegrüßt, mein König.« 173
»Seid auch Ihr mir im Namen Gottes gegrüßt«, sagte Artus. »Euer Gesicht kommt mir bekannt vor, doch kenne ich Euren Namen nicht.« »Ich bin Geraint, der Sohn Erbins, dessen Land an das Reich König Markes aus Cornwall angrenzt. Ihr habt mich einst als Kind gesehen, als mein Vater für Euch in den Kampf zog.« »Und was führt Euch jetzt zu mir, Geraint, Sohn des Erbin?« »Ich habe mich in letzter Zeit im Walde von Dean aufgehalten«, sagte der junge Mann, »und da entdeckte ich heute morgen auf den Waldwegen einen Hirsch, wie ich noch nie einen gesehen habe, voll kommen weiß und mit einem Gang, sage ich Euch, stolzer als der aller übrigen Hirsche des Waldes. Deshalb habe ich mir den Unterschlupf des Tieres gemerkt und bin schnell hierhergekommen, um Euch davon zu benachrichtigen.« »Das war recht getan«, sagte der König, »morgen wollen wir in al ler Frühe aufbrechen und den wunderlichen Hirsch jagen.« Und er gab den Jägern und den Knechten den Befehl, sich auf die Jagd vorzube reiten. Die Königin sagte: »Herr, laßt mich morgen mitreiten, um dieser Jagd zuzuschauen.« »Das mögt Ihr gerne tun«, sagte der König, »auch könnt Ihr alle Mädchen mitnehmen, die dazu Lust haben.« Und nachdem alles beschlossen war, nahm das Fest seinen Fort gang; die Harfenspieler begannen zu spielen, und Scherze erheiterten die ganze Runde, bis es Zeit zum Schlafen war. Doch als der Tag anbrach und die Jagdhunde aus ihren Hütten ge holt wurden, war Geraint noch nicht erschienen, und auch Ginevra lag noch im Bett. »Laßt sie nur weiterschlafen«, sagte der König. »Sie können uns ja später nachreiten, wenn ihnen danach ist.« Und dann bestieg er das Pferd und ritt mit Kay und Gawain und an deren Jagdgenossen auf der Suche nach dem weißen Hirsch in den Wald. Kurz darauf erwachte Königin Ginevra. Sie rief ihre Mädchen, und während ihr einige beim Anziehen halfen, schickte sie eine n Pagen zu den Ställen, um nachzusehen, welche von den noch übrigen Pferden 174
für die Frauen geeignet waren. Doch die Jagdgesellschaft hatte alle Zelter mitgenommen, nur die Stute der Königin und noch eine andere waren da. Da wählte die Königin halb lachend und halb erbost eines der Mädchen aus und sagte: »Was für selbstsüchtige Wesen sind doch die Männer! Wir werden ihnen nachreiten.« Nach einer Weile stiegen die beiden in den Sattel, ritten durch das Schloßtor hinaus und folgten dem breiten Schwarm der Jäger und Hunde und Pferde in der Ferne. Und als sie so dahinritten, hörten sie Hufschläge, die immer lauter wurden, und als sie sich umschauten, kam Geraint auf einem silbergrauen Pferde herangeritten. Er trug die selbe Kleidung wie am Abend zuvor, eine damastseidene Tunika und darüber einen blau-violetten Mantel, der hinter ihm im Wind flatterte und auf dessen Saum goldene Äpfel aufgestickt waren. »Gott zum Gruß, Herrin«, sagte er, »ich habe verschlafen und des halb den Aufbruch der Jagdgesellschaft verpaßt.« »Ich auch«, sagte die Königin, »aber wir werden sie bald einholen, denn wenn wir uns auf jenen Hügelkamm stellen, können wir schon die Hörner und die Musik der Jagdhunde hören.« Da ritten sie zusammen auf die Anhöhe hinauf und blickten ins of fene Land hinaus. Und während sie warteten und den fernen Jagd klängen lauschten, hörten sie wieder Hufschläge, und drei Reiter ritten auf dem Wege unter ihnen vorbei. Als erstes sahen sie einen Zwerg, der auf einem kleinen, tänzelnden Roß daherritt und eine lange, gefähr lich aussehende Peitsche in der Hand hielt. Ihm folgte eine Frau in einem blauen, goldverzierten Sei dengewand. Sie saß auf einem schönen cremefarbenen Zelter von stolzer und ebenmäßiger Gangart. Und den Schluß machte ein großer Ritter, der in voller Rüstung steckte und ein rötlichgraues Schlachtroß ritt. »Geraint«, sagte die Königin, »wißt Ihr, wer jener Ritter sein könn te?« »Nein, Frau«, sagte Geraint, »denn er reitet mit geschlossenem Vi sier, und das Zeichen auf seinem Schild ist mir unbekannt.«
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»Angharad«, sagte die Königin darauf zu ihrem Mädchen, »gehe bitte zum Zwerg und frage ihn, wer sein Herr ist.« Da ritt das Mädchen zum Zwerg hinunter und fragte ihn in aller Höflichkeit nach dem Namen seines Herrn. »Den sage ich Euch nicht«, sprach der Zwerg. »So werde ich ihn selber fragen; vielleicht hat er bessere Umgangs formen als Ihr.« »Das sollt Ihr nicht, bei meiner Treu!« sagte der Zwerg. »Und warum nicht?« fragte das Mädchen. »Weil Ihr nicht würdig seid, mit einem Menschen wie meinem Herrn zu sprechen!« Doch das Mädchen drehte den Kopf des Pferdes dennoch in Ric h tung des Ritters. Da schlug ihr der Zwerg so wütend mit der Peitsche übers Gesicht, daß sofort das Blut floß. Das Mädchen kehrte schluchzend zur Königin zurück und erzählte, was vorgefallen war. »Dieser Zwerg wird mir sagen, wer sein Herr ist«, sagte Geraint, beinahe außer sich vor Wut, und er gab dem Pferd die Sporen und ga loppierte den grasbewachsenen Abhang hinunter und fragte den Zwerg nach dem Namen des Ritters, der hinter ihm herritt. »Den sage ich Euch nicht«, sagte der Zwerg. »So werde ich Euren Herrn eben selber fragen.« »Tut das lieber nicht«, sagte der Zwerg. »Und weshalb nicht?« fragte Geraint. »Weil Ihr nicht würdig seid, mit einem Menschen wie meinem Herrn zu sprechen.« »Ich habe schon mit größeren Herren als dem Euren gesprochen«, sagte Geraint, riß sein Pferd herum und ritt auf den Ritter zu. Doch auch der Zwerg wandte rasch das Pferd, ritt ihm nach und stieß einen schrillen Schrei aus, und die lange Peitschenschnur fuhr Geraint ins Gesicht, und sofort begann auch ihm das Blut hervorzu schießen. 176
Geraints Temperament loderte nicht weniger rasch auf als das Ga wains, und so hatte er die Hand im Nu am vergoldeten Schwertknauf. Doch blieb ihm noch ein Fünkchen gesunden Menschenverstands, und er dachte: ›Das wäre eine ärmliche Rache, diese Mißgestalt zu er schlagen, um dann selbst, da ich ja ohne Rüstung bin, von diesem Rit ter erschlagen zu werden.‹ Und so ritt auch er wieder zu Ginevra zurück. »Herrin, wenn Ihr erlaubt, will ich diesem Ritter nachreiten, bis wir an einen Ort kommen, wo ich mir Rüstung und Speer ausleihen kann. Dann wird er mir sagen, wer er ist und Buße tun für die Kränkung, die er Euch und Eurem Mädchen zugefügt hat.« »So reitet ihm nach«, sagte die Königin, »doch ich bitte Euch, laßt mir so bald wie möglich Nachricht zukommen!« »Binnen zweier Tage«, sagte Geraint, »sollt Ihr von mir hören, falls ich dann noch am Leben bin.« Und so ritt Geraint dem Zwerg und dem Ritter und der Dame nach, den ganzen Tag lang, durch steile Täler und über Hochmoore, an Waldrändern entlang, wo die wilden Kirschbäume bereits in der Osterblüte standen, bis sie gegen Abend endlich zu einer befestigten Stadt kamen, die an einem Fluß lag und in deren Herzen sich stolz und stark eine Burg erhob. Als sie durch die schmalen Gäßchen auf die Burg zuritten, strömten von überall die Leute herbei, um sie zu begr ü ßen. Und wohin sie auch blickten, in jedem Haus und in jedem Hof sahen sie Männer und Pferde, und überall wurden Schilde geputzt und Rüstungen hergerichtet und Pferde gestriegelt oder beschlagen. Und Geraint schien es, als höre er mitten in all dem Lärm, wie die Männer sich immer wieder zuriefen: »Der Sperber! Der Sperber!« Und als sie zum Schloß kamen, standen die Tore weit offen. Und der Zwerg, der Ritter und die Dame ritten hinein. Doch für Geraint hatte kein Mensch ein freundliches Lächeln, und obwohl die Stadt vor Rüstungen strotzte, fand er nirgends eine zum Ausleihen. So kam er, als es schon zu dämmern begann, schließlich zu einer Wiese am Stadtrand. An deren anderem Ende, unmittelbar vor dem Waldrand, sah er eine alte Ritterburg stehen, halb zerfallen, mit efeubedeckten Türmen. Nur ein Teil des Gebäudes schien noch wet 177
terfest zu sein und bewohnt zu werden, denn er war schwach beleuc h tet. Und als er näher heranritt und froh war, der lärmigen Stadt glück lich entronnen zu sein, und hoffte, hier jemanden zu finden, der ihm sagen könnte, wo er Speer und Rüstung ausleihen könne, sah er einen alten, ergrauten Mann am Fuße einer gebrochenen Marmortreppe sit zen. Die Kleider des Alten sahen verschossen und abgetragen aus, doch mußten sie einst kostbar gewesen sein wie seine eigenen. Geraint hielt das Pferd an und betrachtete den Mann einige Auge n blicke stumm. Der Alte schaute zu ihm hinauf und lächelte. »Ihr scheint ja ganz in Gedanken versunken, junger Mann.« »Ich bin in Gedanken versunken.« Geraint lächelte zurück. »Denn ich bin fremd hier und weiß nicht, wo ich für die Nacht Unterkunft finde. Seit ich in diese Stadt geritten bin, schenkt Ihr mir den ersten freundlichen Blick.« »Tretet mit mir ein, ich werde Euch und Eurem Pferd das Beste ge ben, was ich besitze.« »Gott vergelte Euch Eure Freundlichkeit«, sagte Geraint, ließ sich müde vom Sattel gleiten, nahm das Pferd bei den Zügeln und folgte dem Mann in einen ha lbzerfallenen Saal. Da band er das Pferd fest und stieg hinter dem Mann eine Treppe hoch, die zur beleuchteten Kammer führte. Es mußte einst ein sehr schöner Raum gewesen sein, doch nun, im Schein des Herdfeuers und der paar wenigen Talgkerzen, sah er recht schäbig und dunkel vom Ruß aus, und überall auf der einst hell ge tünchten Wand waren feuchte Flecken. Und neben dem Feuer saß in einem Stuhl mit einer hohen Rückenlehne eine alte Frau. Sie trug ein abgenutztes und zerrissenes Seidengewand, das wie das Gewand ihres Gemahls einst ebenfalls sehr schön gewesen sein mußte. Und während Geraint sie betrachtete, dachte er, sie müsse, als sie noch jung und vom Leid unberührt war, schön gewesen sein wie eine Rose am Weg rand. Neben ihr am Boden saß auf einem Kissen ein Mädchen in ei nem alten, zerknitterten Mantel. Als Geraint ihr von feinen Haarsträh nen umrahmtes Gesicht im Feuerschein betrachtete, schien es ihm, sie sei noch viel schöner, als die alte Frau einst gewesen sein mußte. 178
»Tochter«, sprach der alte Mann, »Ihr seid der einzige Knappe, der sich dieses Fremden annehmen, und der einzige Knecht, der sich um sein Pferd kümmern kann.« Da forderte sie Geraint auf, sich auf eine Bank neben dem Tisch zu setzen, und begann ihm die feinen Lederstiefel auszuziehen. Danach stieg sie in den Saal hinunter und gab dem Pferd zu trinken und auch Heu mit einem Maß Getreide. Dann kam sie wieder zurück und deckte den Tisch und trug gekochtes Fleisch und einfaches Schwarzbrot auf und dazu auch eine Scheibe Weißbrot und einen Krug mit verdünntem Wein – wohl zu Ehren des Gastes, dachte Geraint. Und während sie aßen und das Mädchen sie bediente, erkundigte sich Geraint in aller Höflichkeit bei dem Alten, wie es komme, daß er und die Seinen an diesem halbzerstörten Ort lebten, und warum sie niemanden hätten, der sie bediene oder ihnen helfe. »Bestimmt«, sagte er, »war das nicht immer so?« »Nein, wahrhaftig«, sagte der Alte, »ich war einst im Besitze der Stadt und der Burg dort drüben. Ich war der Herzog eines großen Re i ches.« »Und wie um Himmels willen habt Ihr das alles verloren?« »Durch meinen falschen Stolz«, sagte der alte Mann. »Ich habe ei nen Neffen, er ist der Sohn meines Bruders, dessen Herzogtum ich zusammen mit meinem eigenen geführt habe, solange er noch ein Kind war. Doch als er heranwuchs und in die Mannesjahre kam und seine Länder selbst in die Hand nehmen wollte und Anspruch auf sie erhob, hielt ich ihn noch nicht für reif dazu, eine so schwere Bürde zu tragen. Deshalb verweigerte ich ihm seinen Besitz. Da begann er mich zu bekriegen und bewies in der Tat, daß er der stärkere von uns zwei en war. Dann nahm er sich nicht nur sein eigenes Herzogtum, sondern das meine dazu, und er ließ mir nichts übrig als dieses halbverfallene Haus, in das ich mit meiner Frau und meiner Tochter, die damals erst ein Kind war, einziehen mußte.« »Das ist eine traurige Geschichte«, sagte Geraint, »und sie geht mir sehr zu Herzen. Doch nun erzählt mir, was der große Lärm in der Stadt zu bedeuten hat und warum überall Waffen geschmiedet und bereitgestellt werden, und auch über den Ritter, die Dame und den 179
Zwerg, die in das Schloß ritten und mit Freuden willkommen gehe i ßen wurden, erbitte ich Aufklärung.« »Die Waffen sind für ein großes Turnier, das morgen stattfinden wird. Jedes Jahr am zweiten Tage nach Ostern spannt mein Neffe ei nen Silberstab zwischen die Gabel eines Haselzweiges auf der Wiese unterhalb der Stadt, dann befestigt er an dem Stab einen schönen Sperber an den Gelenken, und aus aller Herren Länder strömen die Ritter herbei, um im Turnier den Sperber zu gewinnen und ihn der Dame ihres Herzens als Siegestrophäe zu überreichen. Der Ritter, von dem Ihr sprecht, hat den Sperber in den beiden vergangenen Jahren schon gewonnen, und wenn er ihn auch heuer erringt, wird er große Ehre erlangen und fortan der ›Sperberritter‹ heißen.« »Ach, wie gerne würde ich ihm trotzen, wenn ich nur Rüstung und Speer hätte, denn zu diesem Zweck bin ich ihm ja eigentlich nachge ritten, obwohl ich noch nichts vom Sperber wußte«, sagte Geraint und berührte mit der Hand seine gerötete Wange. Und dann erzählte er seinem Gastgeber, dem Herzog Ynwl, von den Kränkungen, die der Königin und ihrem Mädchen und ihm selbst widerfahren waren. »Ich gebe Euch gerne meine eigene Rüstung«, sagte der alte Herzog und schüttelte den Kopf. »Sie ist altmodisch und verbeult und viel leicht sogar rostig, denn ich habe schon lange nicht mehr den Mut ge habt, einen Blick auf sie zu werfen. Einst, bevor Alter und Leid mei nen Rücken gebeugt haben, war ich etwa so groß wie Ihr. Doch ach, das wird uns nichts helfen, denn Ihr habt kein Mädchen, das Euch be gleitet, und man wird Euch nicht in die Liste der Teilnehmer eintra gen, wenn nicht die Frau Eures Herzens mit Euch reitet und Ihr feier lich erklärt, sie sei die Schönste der ganzen Welt, und in ihrem Namen in den Kampf tretet.« Geraint schwieg eine Weile. Und als er wieder aufschaute, fiel sein Blick auf Enid, die in ihrem zerlumpten Kleid im Feuerschein dasaß. Da faßte er sich ein Herz und sagte: »Herr, könnte nicht Eure Tochter mit Eurer Erlaubnis morgen mit mir reiten, wenn sie selbst damit ein verstanden ist? Wenn ich heil und als Sieger aus dem Kampf hervor gehe, werde ich ihr für den Rest meines Lebens meine Liebe und mei 180
ne Treue schenken; sollte ich aber getötet werden, dann wird sich ihr Los dadurch nicht verschlechtert haben.« »Enid?« fragte der Herzog. Und die alte Herzogin betrachtete ihre Tochter mit einem fragenden Lächeln. Enid errötete über und über. Dann sagte sie zu Geraint: »Gerne will ich Euch morgen begleiten.« Und das war das erste Mal, daß sie ihn direkt ansprach. Da holte der alte Herzog seine Rüstung aus dem wurmstichigen Schrank, wo er sie aufbewahrt hatte. Und noch bevor sie zu Bett gin gen, hatten sie den schlimmsten Rost weggeschabt und hier und dort einen zerrissenen Riemen ersetzt. Geraint dachte bei sich, daß Enid, wenn sie nicht ein Mädchen gewesen wäre, wirklich einen guten Knappen abgegeben hätte. Und als sich ihre Hände auf der zerschla genen Rüstung begegneten, blickten sie beide auf und lächelten sich zu. Am anderen Morgen standen sie in aller Frühe auf, und mit der Hil fe des Herzogs zog Geraint die Rüstung an, während das Mädchen das Pferd und den alten Zelter striegelte – denn das waren die beiden ein zigen Pferde, die ihnen zur Verfügung standen. Und während die Schatten noch lang waren, kamen sie zu der breiten Wiese unterhalb des Schlosses, und der Platz war schon ganz voll mit Rittern und ihren Damen und Knappen, die, große Schlachtrosse am Zügel führend, auf und ab schritten. Die mit Seidentüchern überdachten Tribünen unter den Schloßmauern waren bis auf den letzten Platz mit Zuschauern be setzt. Und am anderen Ende der Wiese saß der Sperber schon festge bunden auf der silbernen Stange in der Gabel des Haselzweigs. Da schallten Trompetenstöße durch die sonnige Morgenluft. Und dann trat der große Ritter, dem Geraint am vergangenen Tage nachge ritten war, zum seidenen Baldachin, unter welchem, seine Dame saß, und rief mit lauter Stimme auf die offene Wiese hinaus, so daß es je dermann hören mußte: »Edle Frau, kommt mit mir, wir wollen zu sammen den Sperber holen. Euch steht er zu, denn Ihr seid hundertmal schöner als alle anderen Frauen. Und will es Euch irgend ein Ritter verwehren, so muß er mit mir kämpfen!« 181
»Wartet!« schrie Geraint und nahm damit die Herausforderung an. »Berühr t den Sperber nicht, denn die Frau, die mich begleitet, ist noch schöner als Eure Frau, und in ihrem Namen erhebe ich Anspruch auf den Sperber!« Da brach der Ritter in ein schallendes Gelächter aus. »Ihr?« rief er nach einer Weile. »Ein Bauernflegel, der irgendwo in einem Weggra ben eine verbeulte Rüstung gefunden hat? Tretet nur an, wir wollen miteinander kämpfen, falls Ihr Lust darauf habt, den Schädel einge schlagen zu bekommen!« Da ritten die beiden bis an die äußersten Enden der Wiese, wandten die Pferde herum und schossen in vollem Galopp aufeinander los. Sie prallten so heftig zusammen, daß die Speere sofort zersplitterten. Da erhielten der Ritter und Geraint neue Speere, der eine vom Zwerg, der andere vom Herzog. Und wieder ritten sie aufeinander los, und wieder zerbrachen die Speere, und so ging es auch beim dritten Male. Doch dann brachte der Herzog Geraint einen Speer, der nicht neu war, son dern alt und voller Kerben und Flecken, und sagte zu ihm: »Herr Rit ter, diesen Speer erhielt ich am Tage, als ich zum Ritter geschlagen wurde, und er hat mich bei keiner einzigen Tjoste im Stich gelassen.« Geraint bedankte sich bei ihm und legte den Speer ein. Und zum vierten Male donnerten sie von den äußersten Enden der Wiese her aufeinander los. Und auch diesmal zerbrach der Speer des Ritters, doch Geraints alter Speer blieb ganz und bohrte sich so stark in den feindlichen Schild, daß die Sattelriemen rissen und der große Ritter mitsamt dem Sattel in hohem Bogen über die Kruppe seines Pferdes flog. Auch Geraint schwang sich aus dem Sattel, und während sich der andere wieder auf die Beine kämpfte, zückte Geraint sein Schwert mit dem vergoldeten Knauf und stürzte auf den Ritter los. So kämpften sie, Klinge an Klinge, und stießen und drängten sich auf der ganzen Wiese herum, bis ihre Rüstungen ganz zerhauen waren und nur noch lose am Leib hingen und sie an allen möglichen Stellen Blut verloren und ihnen allmählich schwarz wurde vor den Augen. Schließlich schien es, als ob der Verteidiger des Sperbers die Überhand gewö nne, 182
doch da schrie der alte Herzog Geraint plötzlich zu: »Denkt an die Schmähungen, die Euch und der Königin zugefügt wurden!« Da entbrannte Geraints Zorn von neuem, wie eine rote Flamme lo derte er in ihm auf, und im Nu war es ihm wieder licht vor den Augen. Und er raffte seine letzte Kraft zusammen, riß das Schwert in die Hö he und ließ es mit lautem Krachen auf den Kopf des Ritters niederfa l len. So mächtig hatte er zugeschlagen, daß sich das Schwert durch Helm und Panzerhaube fraß und dem ändern tief ins Fleisch drang, bis auf die Schädelknochen. Der Ritter stürzte zu Boden, und das Schwert entfiel seiner Hand. Dann erhob er sich auf die Knie und flehte Geraint um Gnade an. »Die sollt Ihr haben«, sagte Geraint, der über ihm stand, »unter der Bedingung, daß Ihr zur Königin Ginevra geht und das Unrecht, das ihr und ihrem Mädchen durch Euren Zwerg widerfahren ist, wiedergut macht. Und sagt ihr, daß Geraint, Erbins Sohn, Euch schickt. Für das Unrecht, das Ihr mir angetan« – er lächelte unter dem zerbeulten Helm ein grimmiges Lächeln – », bin ich schon genügend entschädigt. Doch noch etwas verlange ich: daß Ihr mir Euren Namen sagt, nachdem ich mich zuerst in aller Höflichkeit vergeblich nach ihm erkundigt habe.« »Ich werde zur Königin gehen, wie Ihr verlangt«, stöhnte der Ritter. »Und was meinen Namen angeht, Geraint, Sohn des Erbin: ich bin Edern, der Sohn des Nudd.« Da erschienen Knappen und brachten ihn fort und kümmerten sich um seine Wunden. Und später wurde er auf sein Pferd gesetzt, und dann ritt er, zusammen mit dem Zwerg und der Dame, hängenden Hauptes gen Caerlon. Da sagte Geraint zu dem Mädchen Enid: »Geht nun und nehmt den Sperber von der Silberstange, denn Euch und keiner anderen steht er rechtmäßig zu.« Dann kam der junge Herzog mit seinem ganzen Gefo lge, und alle begrüßten und lobten Geraint und baten ihn, sie zum Schloß zu beglei ten. »Habt Dank«, sagte Geraint, »doch wo ich die letzte Nacht ver bracht habe, will ich auch diese verbringen.«
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»Ganz wie Ihr wollt; doch wenigstens sollt Ihr und auch mein On kel und seine Frau und seine Tochter es heute nacht dort bequemer haben.« Und als Geraint zusammen mit dem Herzog Ynwl und seinen bei den Frauen wieder zum alten Ritterhaus kam, fanden sie zu ihrer Überraschung schon die Diener des jungen Herzogs vor. Sie hatten nämlich eine Abkürzung genommen, und nun richteten sie den Wohn raum her wie zu einem Fest. Und auf einem offenen Feuer wurde Wasser gekocht, damit sich Geraint das Blut und den Schweiß abwa schen konnte. Und nachdem Geraint sich gewaschen hatte, war auch der junge Herzog mit seinen Schloßrittern eingetroffen, und auch Gäste, die zum Sperberturnier gekommen waren, hatte er mitgebracht. Und der alte Herzog, der ein neues pelzgefüttertes Gewand trug, blickte in die Runde und wußte nicht, ob er wachte oder ob ihm träumte, als er all die wunderbaren Speisen und die Getränke auf dem Tisch sah und die frische Wasserminze, die man auf den Boden gestreut hatte, und die kostbaren Stoffe, die über die armseligen Möbel gespannt worden wa ren. Und überall leuchteten ihm goldene Gegenstände entgegen, die einst ihm selbst gehört hatten. Doch von der alten Herzogin und dem Mädchen Enid war keine Spur zu sehen, und als sich der Herzog beim Kämmerer nach ihnen erkundigte, sagte dieser: »Sie sind in der obe ren Kammer und ziehen die Kleider an, die ihnen der Herzog mitge bracht hat.« Und Geraint sagte: »Schickt bitte jemanden hinauf und laßt Enid sagen, sie solle ihr altes Kleid anbehalten, bis sie an König Artus' Hof kommt, wo die Königin sie dann nach ihrem eigenen Geschmack ein kleiden wird.« So kam Enid wieder in ihrem alten, zerlumpten Kleid in den Saal hinunter. Doch für Geraint war sie im alten Kleid nicht weniger schön als die anderen Frauen in ihren leuchtenden Seiden- und Damastge wändern. Dann setzten sich alle zum Mahl an den Tisch. Und während des Mahles schlossen in dieser Nacht der alte und der junge Herzog mit einander Frieden. Und der junge Herzog versprach, dem Ynwl alle 184
Ländereien und Güter, die ihm einst gehört hatten, wieder zurückzu geben. Am anderen Tag nahm Enid von ihrem Vater und ihrer Mutter Ab schied. Und dann brach sie, immer noch in ihrem schäbigen Kleid, doch auf einem geschmeidigen, kastanienbraunen Zelter, den ihr der Herzog aus den eigenen Ställen mitgegeben hatte, zusammen mit Ge raint nach Caerlon auf, und das war ein langer Weg. Und auf der be handschuhten Faust trug sie den Sperber mit. Inzwischen war es dem König und seinen Rittern gelungen, den weißen Hirsch zu erlegen. Am folgenden Tag schickte die Königin Späher auf die Schutzwälle, die nach Geraint Ausschau hielten. Da entdeckten sie am frühen Nachmittag, als sie zur Brücke, die über den Usk führte, hinunterschauten, einen Zwerg auf einem großen Roß, und hinter ihm eine junge Frau auf einem Zelter und zuletzt einen Ritter in verbeulter und zerschlagener Rüstung, der in sich zusammengesunken im Sattel saß und mit hängendem Kopf einherritt. Und einer der Späher eilte zur Königin und meldete ihr, was er ge sehen hatte: einen Zwerg und eine Frau und einen ganz erschöpften Ritter. »Doch ich habe keine Ahnung, wer sie sind.« »Aber ich habe eine«, sagte die Königin. »Bringt den Ritter und die Frau zu mir, sobald sie das Tor passiert haben.« So wurden Edern, der Sohn des Nudd, und seine geliebte Frau zu Königin Ginevra in das große Gemach geführt. Und Edern kniete vor Ginevra nieder und erzählte ihr alles, was sich ereignet hatte; wie Ge raint ihn besiegt und ihn zu ihr geschickt hatte, um das Unrecht, das er ihr und ihrem Mädchen zugefügt hatte, wiedergutzumachen. Und er bat die Königin voller Demut um Verzeihung. Und die Königin verzieh ihm und gab den Befehl, ihn auf das größ te Gästegemach zu bringen, und dann wurde Morgan Tudd, Artus' Ho färztin, herbeigerufen, und sie begann, Ederns zahlreiche Wunden zu pflegen. Sodann begrüßte die Königin auch die Frau des Ritters in al ler Freundlichkeit und gab sie in die Obhut ihrer Mädchen. Und sie beauftragte die Späher, weiterhin auf dem Schutzwall zu bleiben und nach Geraint Ausschau zu halten. 185
Als es bereits zu dämmern begann, sahen sie Geraint endlich zum Schloß reiten, in Begleitung von Frau Enid in ihrem abgetragenen Kleid. Und obwohl Enids Haltung verriet, daß sie ziemlich müde war von der langen Reise, hielt sie immer noch den Sperber auf der Faust. Sowie die Königin davon erfuhr, rief sie all ihre Mädchen zusam men und begab sich in den inneren Schloßhof, um die beiden zu be grüßen. »Seid mir in Gottes Namen willkommen«, sagte sie zu Ge raint, »und auch die Frau, die Euch begleitet und für die Ihr den Sper ber gewonnen habt, heiße ich herzlich willkommen.« Da ihr das meiste von der Geschichte schon bekannt war, nahm Ge raint an, daß Edern sein Versprechen offenbar gehalten hatte und be reits vor ihm in Caerlon eingetroffen war. Und er stieg ab und half dem Mädchen aus dem Sattel, und während die Pferde und der Sper ber von Knappen weggebracht wurden, nahm Geraint Enids Hand und führte sie zur Königin. Und als das Mädchen vor ihr auf die Knie sank, beugte sich Ginevra über sie und nahm sie in die Arme. »Herrin«, sagte Geraint, »ich habe mein Versprechen gehalten, und der Name des Ritters ist Edern, der Sohn des Nudd; aber das werdet ihr bereits wissen.« »Gewiß«, sagte die Königin, »denn gerade vor ein paar Stunden ist er hier eingetroffen; er hat mich um Verzeihung gebeten für das Un recht, das sein Zwerg mir und meinem Mädchen angetan hat, und mir gesagt, Ihr hättet ihn hergeschickt. Und dann erzählte er mir, wie ihr miteinander um den Sperber getjostet habt.« »Geht es ihm gut? Er war ein tapferer Kämpfer«, sagte Geraint. Und die Königin lächelte. »Es könnte schlimmer um ihn stehen. Er liegt oben im Gästegemach, wo die zahlreichen Wunden, die Ihr ihm schlugt, gepflegt werden. Und seine Frau ist auch bei ihm.« Da erschien Artus mit seinen Rittern. Und Geraint stellte dem Kö nig Frau Enid vor und erzählte die Geschichte zu Ende und sagte dem König, er wolle morgen mit Enid Hochzeit halten, und bat Artus um seine Einwilligung.
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»Gerne gebe ich meine Einwilligung«, sagte der König, »ich habe wohl noch nie eine schönere Frau gesehen als die Tochter dieses Her zogs, obwohl sie so armselige Kleider trägt.« Doch die Königin sagte: »Ich glaube, Geraint hat sie in ihren alten Kleidern zu mir gebracht, um mir die Freude zu machen, aus meinen eigenen Kleidern eines auszuwählen, das ihrer Schönheit angemessen ist.« Und sie führte Enid eilig auf ihre Gemächer, während sich Geraint mit dem König und seinen Rittern in dem Großen Saal an die festliche Tafel setzte. Und an diesem Abend wurde beschlossen, Enid als Brautgeschenk den Kopf des weißen Hirschs zu überreichen. Am anderen Tag begab sich Enid in einem goldverzierten Damast kleid zur Schloßkapelle. Dort legte der König selbst vor dem Hocha l tar ihre Hand in Geraints Hand, und damit waren sie verheiratet. Und nach der Hochzeit wurden drei Tage lang Feste gefeiert. Am Tage wurde getjostet und gejagt, und an den Abenden wurde im Großen Saal festlich gespeist und zu fröhlicher Harfenmusik getanzt. Doch am vierten Morgen ging Geraint zum König und sagte ihm: »Herr König, nun ist es Zeit für mich, nach meiner Heimat Cornwall aufzubrechen, um Frau Enid meinem Vater vorzustellen, denn ihr An blick wird in seine alten Tage gewiß Freude bringen.« Da wurde der König traurig, und die Königin und ihre Zofen waren sehr betrübt über den Verlust von Frau Enid, denn in diesen drei Ta gen hatte sie mit ihrer sanften Liebenswürdigkeit die Herzen des ga n zen Hofes gewonnen. Aber sie wußten, daß es nur recht und billig war von Geraint, sie nun zu seinen Verwandten in die Heimat zu bringen. Sie rüsteten sich also zur Reise, und nachdem sie am anderen Mor gen die Messe gehört hatten, brachen sie auf. Und eine kleine Schar der besten Ritter der Tafelrunde begleitete sie, und allen voran ritten Sir Lancelot und Sir Gawain. Sie überquerten den Severn in den flachbäuchigen Barken, die stets am Ufer warteten, um Reisende und ihre Pferde hinüberzubringen. Dann wandten sie die Köpfe der Pferde in Richtung Obercornwall und ritten in einem fort, bis sie nach zwei Tagen das Schloß von Erbin, Geraints Vater, erreicht hatten. 187
Der alte Schloßherr begrüßte seinen Sohn und dessen Gemahlin mit großer Freude. Und volle drei Tage lang wurde tagsüber mit Falken gejagt, und Zweikämpfe wurden abgehalten, und abends wurde nach dem festlichen Mahl musiziert, genau wie kurz zuvor in Caerlon. Schließlich nahmen die Artusritter wieder Abschied und kehrten zu ihrem eigenen Herrn zurück. Und Geraint machte sich daran, die Grenzen seines Landes neu zu befestigen, denn da sein Vater schon alt und nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte war, waren sie an manchen Stellen unsicher geworden. Und auch sonst sah er überall, wo es ihm nötig schien, nach dem Rechten. Und wann immer und wo immer ein großes Turnier stattfand oder getjostet wurde oder Geschicklichkeitsproben gefordert wurden, war Geraint zur Stelle, und er ergriff jede Gelegenheit, gegen die be sten Ritter anzutreten. Doch mit der Zeit waren alle Grenzmauern wieder befestigt und sicher, und dem Land und dem Volk von Ge raints Vater mangelte es an nichts mehr, und alle Ritter, die ihn zum Kampfe herausgefordert hatten, waren besiegt. Und so gab es nichts mehr, wofür er sich hätte einsetzen müssen, nichts mehr, was seine besondere Geschicklichkeit erfordert hätte. Und Geraint begann, sich mehr und mehr von seinen alten Kampffreunden zurückzuziehen, und verbrachte die Zeit auf seinen Gemächern oder im Schloßgarten, im mer mit Enid zusammen, denn mit ihr zusammenzusein war das einzi ge, was ihm niemals Verdruß bereitete. Und so entfremdeten sich ihm mit der Zeit auch die Herzen seiner Untertanen, und unter seinen Hausknappen machten verschiedene Ge rüchte die Runde. Die einen behaupteten, Enid habe ihn behext, wäh rend andere argwöhnten, er sei gar nicht der wirkliche Sohn des Herrn Erbin. Und all das kam nach einer Weile auch dem alten Erbin zu Oh ren, und da ließ er Enid zu sich auf die Kammer rufen und erzählte ihr, welche Gerüchte im Umlauf waren, und fragte sie, ob es ihre Schuld sei, daß Geraint nach und nach all seine Freunde verlassen und sein früheres Ritterleben völlig aufgegeben habe und alle seine Zeit nur noch mit ihr verbringe. Da erschrak Enid sehr, als sie dies hörte, und ganz verzweifelt rang sie die Hände und schaute dem alten Mann ins Gesicht und sagte: 188
»Wahrhaftig, mein Herr, das ist alles meine Schuld, denn ich dachte immer nur, wie schön es sei, Euren Sohn an meiner Seite zu haben, während ich doch nach Wegen hätte suchen müssen, ihn seinen Ge schäften nachgehen zu lassen. Es ist mir in meiner Verliebtheit gar nicht aufgefallen, daß er seine Gefährten im Stich ließ und seinen Kampfesmut sinken ließ und daß er mir seine ganze Lebensweise auf geopfert hatte. Doch ich schwöre Euch, das habe ich nie von ihm ver langt. Und ich fände es auch schlimm, so etwas überhaupt nur zu wünschen, denn ich möchte, daß er der tapfere Ritter bleibt, in den ich mich verliebt habe und für den ich meine Heimat und meine Ver wandten verlassen habe.« »Dann sagt ihm dies«, sagte der alte Herr freundlich. Doch obwohl Enid es immer wieder versuchte, brachte sie es nicht über sich, es ihm zu sagen. Wie konnte sie ihn denn verletzen? Und daß ihn ihre Worte verletzen mußten, das wußte sie genau. Außerdem hatte sie auch ein klein wenig Furcht vor seinem hitzigen Tempera ment, das sogar hitziger war als das Gawains. Eines frühen Sommermorgens, nachdem sie wieder einmal die ga n ze Nacht schlaflos verbracht hatte, betrachtete Enid Geraint, der neben ihr noch schlief. Gerade fielen die ersten Sonnenstrahlen durchs Fen ster herein und auf seine entblößte Brust, denn er hatte im Schlaf die Decken etwas zurückgeschoben. Und sie stützte sich auf die Arme, um ihn besser sehen zu können, und betrachtete sein vom wirren blonden Haar umrahmtes Gesicht und die sich hebende und wieder senkende Brust, und sie bemerkte, wie er selbst im Schlafe seine Hand nach ihr ausgestreckt hielt. Und plötzlich preßte sich ihre ganze Liebe zu ihm in ihrer Kehle zusammen, daß sie beinahe erstickte, und dann begann sie zu weinen. »Ach, mein Gott. Ach!« schluchzte sie leise. »Durch mich sollt Ihr, wie man sagt, Eure Tapferkeit und Eure Kraft verloren haben! Ach, ach, daß Ihr nicht mehr jener Ritter seid, den ich einst liebte! Das war ein schlimmer Tag für uns beide, als ich einwilligte, Euch zu heira ten!« Und ihre Tränen fielen auf Geraints nackte Brust und weckten ihn auf, so daß er ihre Worte, halb träumend und noch nicht voll bei Sin 189
nen, vernahm. Und er glaubte, sie beklage den Verlust seiner ritterli chen Tapferkeit und weine zugleich um einen anderen Ritter, den sie gerne zum Gemahl gehabt hätte. Da sprang Geraint plötzlich mit ei nem Satz aus dem Bett, blind vor Wut und Schmerz, und stieß sie zur Seite, als sie sich an ihn klammern wollte, und rief seinen Knappen und befahl ihm, die Rüstung zu bringen und sein Pferd zu satteln und sich zur Reise bereit zu machen. Dann blickte er auf Enid hinunter, die auf dem Boden vor seinen Füßen lag, und sagte: »Frau, laßt auch Eure eigene Stute satteln, denn wir werden ausreiten. Und wir werden nicht eher zurückkehren, als bis Ihr wißt, ob ich mein Rittertum gänzlich verloren habe oder nicht. Und nicht eher auch, als bis Ihr wißt, ob ich nicht gerade so liebens wert bin wie jener Ritter, um den Ihr eben geweint habt.« Und er schenkte ihrem Schluchzen keinerlei Beachtung, und auch ihre Beteuerungen, daß sie keinen anderen Mann liebe, beachtete er nicht. Und dann suchte er seinen Vater auf und teilte ihm mit, daß er auf Abenteuer ausreite. »So plötzlich?« fragte der alte Mann. »Und wer begleitet Euch denn?« »Enid, meine Gemahlin«, sagte Geraint in schroffem Ton und ver ließ den Vater wieder, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und ging zum Knappen, der mit seiner Rüstung schon auf ihn wartete. Unterdessen war Enid in die kleine Kammer gegangen, in der ihre Kleider aufbewahrt wurden. Sie hatte keine ihrer Zofen gerufen, denn wenn sie betrübt war, konnte sie keine Gesellschaft ertragen. Und zu erst wollte sie aus lauter Stolz ihre schönsten Gewänder und ihre go l denen Armringe anziehen. Doch dann holte sie das alte, zerlumpte Kleid aus dem Schrank, denn sie sagte sich, ›wenn er mich in diesem Gewände erblickt, wird er sich an den Tag erinnern, an dem er mich zum erstenmal gesehen und sich in mich verliebt hat. Er wird sich daran erinnern, wie ich um seinetwillen Heim und Eltern verließ, und das wird sein Herz besänftigen und ihn mir wieder geneigt machen.‹ Und sie zog das schäbige Kleid an und ging in den Hof hinunter.
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Doch als Geraint in voller Rüstung herunterkam und sie ein paar Schritte von seinem Schlachtroß entfernt auf ihrer Stute warten sah, hatte sein Gesicht einen Ausdruck, als wäre es aus Stein gehauen. »Steigt auf«, sagte er, »nehmt die Straße, die den Hang hinaufführt, und reitet mir voraus – weit voraus. Und wendet Euch nicht nach mir um, was Ihr auch hören oder sehen mögt.« Und als sie gerade zu einer letzten Bitte ansetzen wollte, schnitt er ihr das Wort ab und sagte: »Und sprecht kein Wort zu mir, wenn ich Euch nicht zuerst anspreche.« So bestieg Enid die Stute und ritt traurig durch das Tor hinaus und schlug den Pfad ein, der nach Norden zu den hochgelegenen Mooren hinaufführte. Nach einer Weile neigte sich der Weg in ein kleines Tal hinunter, das dicht bewaldet war, und als sie sich dem Waldrand näherten, sah Enid zwei bewaffnete Männer im Schatten der Bäume auf ihren Pfer den sitzen. Es waren Raubritter, die davon lebten, den Reisenden auf zulauern und sie auszuplündern. Und der eine sprach zum ändern: »Da kommt eine anständige Beute auf uns zu! Zwei Pferde und eine Frau, hm, und eine schöne Rüstung des Ritters, der mit gesenktem Haupt daherreitet. Er sieht mir nämlich nicht aus wie einer, der es mit uns zweien aufnehmen kann!« Und als Enid das hörte, dachte sie: Zwar hat er mir verboten, mich nach ihm umzuwenden oder ihn anzusprechen. Doch davor muß ich ihn warnen! Und sie wandte das Pferd und ritt schnell zu Geraint zu rück und erzählte ihm, was sie eben gehört hatte. Doch Geraint sagte nur: »Überflüssig, umzukehren und mir solche Warnungen zu bringen, wo Euch das Herz doch nur lachen würde, wenn ich von diesen beiden Schurken erschlagen würde. Nur eines verlange ich von Euch: daß Ihr mir gehorcht und schweigt!« In diesem Augenblick kam der vordere der beiden Raubritter auf ihn losgaloppiert. Doch Geraint riß sein Pferd im letzten Moment zur Seite, so daß ihn die feindliche Speerspitze verfehlte. Dann machte er eine schnelle Kehrtwendung und schlug den Gegner mit quergehalte nem Speer rücklings aus dem Sattel, so daß er kopfüber zu Boden stürzte und sich den Hals brach. Dann donnerte er auf den zweiten 191
Ritter zu und rammte ihm die Speerspitze durch den Kettenpanzer und warf ihn aus dem Sattel. Und tot wie sein Kumpan blieb auch er lie gen. Dann stieg Geraint ab und zog den beiden die Rüstungen aus und band sie über den Rücken ihrer Pferde und knüpfte den Tieren die Zü gel zusammen. Dann stieg er wieder in den Sattel und sagte zu Enid, die alles schweigend mitverfolgt hatte: »Reitet mir nun wieder voraus und treibt die Pferde vor Euch her. Und egal, was Ihr hört oder seht, wendet Euch nicht mehr nach mir um, und sprecht mich auch nicht mehr unaufgefordert an, denn – bei Gott sei es gelobt – es soll Euch schlecht bekommen, wenn Ihr es trotzdem tut!« Und so tat Frau Enid, wie er verlangte. Bald kamen sie wieder aus dem Wald heraus, und der Weg führte sie durch eine kahle und offene Moorgegend. Da sah Enid unterwegs in weiter Ferne die Gestalten dreier Ritter, die sich über das Heide kraut und zwischen den niedrigen Dornbüschen auf sie zubewegten. Und der Wind wehte aus ihrer Richtung und trug ihr die Worte des vordersten Reiters zu, als die Gruppe schon ziemlich nahe war. »Jetzt hat unsere Sternstunde geschlagen! Vier Pferde und drei Rüstungen – und auch die Frau, denn was will denn dieser erbärmliche Ritter gegen uns unternehmen!« Da dachte Enid: ›Er hat mir verboten, mit ihm zu sprechen. Wenn ich es aber nicht tue, bedeutet das vielleicht seinen Tod, und viel lie ber wäre mir, es bedeutete meinen eigenen Tod.‹ Und wiederum kehr te sie um und warnte Geraint vor der Gefahr, die ihm drohte. »Eure Warnung bedeutet mir wahrhaftig weniger als die Mißach tung meiner Befehle!« sagte Geraint. Und im selben Moment galoppierte der erste der drei Raubritter mit eingelegter Lanze auf Geraint los, doch dieser riß sein Pferd so ge schickt zur Seite, daß ihn der Speer des ändern nur am Schildrand er wischte, während sein eigener Speer den Gegner voll traf, so daß die ser in hohem Bogen aus dem Sattel geschleudert wurde und tot war, ehe er unten aufschlug. Und in derselben Weise fertigte Geraint den zweiten und den dritten Mann ab. Dann stieg er vom Pferd, zog den drei Rittern die Rüstungen aus, band sie auf die Rücken ihrer Pferde, 192
verknotete die Zügel miteinander, übergab die Pferde Enid und erteilte dieselben barschen Befehle wie zuvor. »Reitet mir jetzt wieder voraus, treibt die fünf Pferde vor Euch her und mißachtet meine Anordnungen nicht noch einmal, denn sonst werde ich Euch töten müssen.« So ritten sie wieder weiter; der Weg wurde sehr beschwerlich, denn er führte durch lästiges Dickicht, und so hatte Enid die größten Schwierigkeiten, die Pferde ordentlich vor sich her zu treiben. Doch sie hielt sich tapfer und beklagte sich mit keinem einzigen Wort. Und Geraint sah, wie sehr sie sich anstrengen mußte, und in seinem Herze n regte sich Mitleid, doch er gab diesem Gefühl nicht nach und ritt ein fach mit gesenktem Haupt weiter. Nach einer Weile sah Enid vier Raubritter, die neben dem Weg im verschlungenen Gestrüpp eines Schwarzdornbusches lauerten. Als sie dem Gestrüpp immer nä her kamen, stieß einer der Wegelagerer ein rauhes Gelächter aus und rief den drei anderen zu: »Da kommt uns wahrhaftig ein fetter Braten entgegen! Pferde und Rüstungen – ach, und sogar eine Frau, und der Ritter, der hinter ihr herreitet, scheint den ganzen Haufen nur mit Müh und Not zusammenhalten zu können, – er wird es sich kaum leisten können, sich auf einen Kampf einzulassen!« Und Enid lief ein fürchterlicher Schauer den Rücken hinunter, als sie diese Worte hörte, und sie dachte: ›Wenn ich ihm jetzt wieder nicht gehorche, wird mich mein Herr bestimmt töten.‹ Doch dann dachte sie: ›Wenn ich ihn nicht warne, wird er selbst bestimmt getötet werden.‹ Und sie machte kehrt, so gut es mit ihren fünf Pferden eben ging, und ritt zu Geraint zurück und erzählte ihm, was sie gehört hatte. »Gibt es denn nichts mehr im Himmel und auf der Erde, was Euch davon abhalten könnte, meine Befehle zu mißachten!« sagte Geraint. »Ich sehe diese Männer, und ihre Absicht liegt klar zutage, aber ich fürchte sie nicht.« Diesmal wartete er nicht, bis er angegriffen wurde, sondern gab dem Pferd die Sporen und jagte auf die Männer zu, mit eingelegtem Speer. Den ersten traf er mitten in den Schild, so daß er aus dem Sattel flog, und den zweiten erwischte es an der Brust, und der Speer bohrte sich ihm durch die Rüstung ins Herz. Und den dritten traf es an der Kehle, und er hatte den Hals gebrochen, noch bevor er den Boden er 193
reichte. Und dann holte er zum vierten Mal aus wie zu einem trium phierenden Finale und führte den schwierigsten Schlag, den Helm buschschlag, der dem Gegner den Helm vom Kopf schlägt und ihm dabei den Hals bricht. Dann stieg er vom Pferd, zog den getöteten Rittern die Rüstung aus und band die Rüstungen auf ihren Sätteln fest, und dann übergab er die Pferde wieder Enid und hieß sie wieder vorausreiten. Während sie noch im Walde dahinritten, brach die Dämmerung her ein, und schließlich wandte sich Geraint zum erstenmal von sich aus an Enid und sprach: »Reitet zu jenen Bäumen hinüber. Es wird zu dunkel, um sicher zu reisen. Morgen früh brechen wir wieder auf.« »Ganz wie Ihr wünscht«, sprach Enid, und sie ritten in den Schutz der Bäume, wo es bereits dunkler war. Dann stieg Geraint ab und hob Enid aus dem Sattel, doch weder in den Bewegungen seiner Hände noch in seiner Stimme lag eine Spur von Zärtlichkeit. »Hier ist eine Tasche mit Nahrung«, sagte er. »Eßt und paßt auf die Pferde auf und schlaft mir nicht ein, sonst entläuft Euch noch ein Pferd!« Und er streckte sich auf der Erde aus und benutzte seinen Schild als Kopfkissen, während Enid neben der Eßtasche saß. Aber sie rührte das Essen nicht an und starrte vor sich hin. Und der Mond stieg zwischen den Bäumen empor und verbreitete ein silbernes Licht, und dann setz te die nächtliche Waldmusik ein; eine Eule rauschte vorbei, und ri gendwo schrie eine Füchsin nach ihrem Männchen, und im Unterholz raschelte es. Geraint lag reglos da, doch er schlief ebensowenig wie seine Frau, die für ihn Wache halten mußte. Und als sich die Pferde bewegten, schepperte leise sein Helm, der am Sattel hing. Aber dann begann die mondkühle Finsternis einem warmen Som mermorgen zu weichen, allmählich zeichneten sich die Farne und die Fingerhüte in der Dämmerung ab, irgendwo ließ ein Kuckuck seinen heiseren Schrei vernehmen. Und Geraint erwachte und fühlte sic h ganz steif in der Rüstung, und ohne Enid mit einem Wort zu begrüßen, setzte er sie wieder auf ihre Stute und sagte: »Nehmt die Pferde und reitet wie gestern voraus.« An diesem Tage ritten sie durch eine freundlichere Landschaft, und von Zeit zu Zeit kamen sie an Feldern vorbei, auf denen Bauern in 194
langen Reihen mit Sicheln das Gras schnitten. Und es begegneten ih nen auch keine Abenteuer mehr. Doch gegen Abend erblickten sie in der Ferne eine Stadt mit vielen schindelbedeckten Häusern und dem schlanken Turm einer Kirche, der sich wie die Knospe einer Schwert lilie in den Himmel reckte, und am anderen Ende der Stadt sahen sie eine mächtige Burg, die aussah, als wäre sie aus dem Grund, auf dem sie stand, hervorgewachsen. Und als sie nach einer Weile das Burgtor erreicht hatten, bat Geraint um Unterkunft für die Nacht. Der Pförtner ließ sie in den Hof ein und musterte die Frau im zer lumpten Kleid, die neun Pferde vor sich her trieb, mit einem etwas abschätzigen Blick, und auch den Ritter, der ihr folgte, maß er mit fragenden Blicken. Und während Knappen und Pagen ihnen aus dem Sattel halfen und die Pferde wegführten, trat der Graf, der Herr des Schlosses und der ganzen Stadt, in den Schloßhof und hieß sie herzlich willkommen. Dann begaben sie sich in den Schloßsaal und setzten sich an die Speisetafel, und Geraint und Enid mußten nebeneinander Platz ne h men. Doch sobald das Mahl beendet war und sich die Burgbewohner wieder entfernten, um sich ihren abendlichen Spielen und sonstigen Zerstreuungen hinzugeben, rückten die beiden wieder weit auseina n der. Der Graf sprach zuerst mit Geraint und erkundigte sich nach dem Zweck seiner Reise. »Kein anderer, als nach Abenteuern auszuschauen und ein jedes, das mir begegnet, anzunehmen, wenn ich Lust dazu habe«, antwortete Geraint und blickte dabei auf seine Hände, die schlaff auf den Knien lagen. Aber er sah nicht gerade aus wie ein Mann, dem die Abenteuer, die ihm in den Weg kamen, besonderen Spaß machten. Und während sich der Graf mit Geraint unterhielt, schaute er durch den Saal zu Enid hinüber, die verlassen und traurig dasaß und ins Feuer starrte, und er dachte, noch nie habe er eine so schöne Frau gesehen. Da sagte er: »Herr, gestattet Ihr, daß ich zu diesem Mädchen hinübergehe, das traurig und einsam dasitzt, und mich mit ihr etwas unterhalte?« »Wenn Ihr wollt. Das ist mir gleichgültig«, sagte Geraint, ohne auf zusehen. 195
So schritt der Graf durch den Saal, zog einen gepolsterten Sessel heran, und mit den Worten »Ihr gestattet?« setzte er sich neben Enid. »Schöne Frau«, sagte er, und seine Stimme war so sanft, als spräche er zu einem Falken, den er nicht von der Faust verscheuchen wollte, »verzeiht – aber ich glaube, es macht Euch nicht gerade ein besonde res Vergnügen, diesem Ritter nachzureiten.« »Sein Weg ist mein Weg«, sagte Enid. »Und Ihr habt weder Diener noch Zofen, die Euch begleiten.« »Es macht mir mehr Vergnügen, mit meinem Herrn zu reiten, als Diener und Zofen um mich zu haben.« »Aber er ist doch ein Schuft, daß er so mit Euch umspringt«, sagte der Graf. »Ich würde Euch besser behandeln, wenn Ihr dableiben wollt.« Enid schaute ihn an, als wüßte sie nicht, ob sie recht gehört hatte. Und als sie merkte, daß sie ihn richtig verstanden hatte, sagte sie schlicht: »Diesem Manne habe ich ewige Treue geschworen, und ich habe nicht die geringste Absicht, mit ihm zu brechen.« »Denkt noch einmal darüber nach«, sagte der Graf. »Wenn ich den Mann erschlage, kann ich Euch für mich behalten, solange es mir paßt, und wenn ich Euer überdrüssig werde, kann ich Euch wieder fortschicken. Doch wenn Ihr mir freiwillig folgt, werdet Ihr meine Gemahlin und Herrin all meiner Länder sein, und ich werde Euch treu sein und Euch lieben bis an mein Ende.« Da schwieg Enid lange, um Zeit zu gewinnen, und sie grübelte dar über nach, was sie nun tun mußte. Und schließlich schien es ihr am besten, so zu tun, als würde sie den Absichten des Grafen entgege n kommen. So sagte sie rasch und mit leiser Stimme: »Dann wollen wir es folgendermaßen anstellen. Morgen muß ich mit jenem Ritter wei terreiten wie bisher, doch nach einiger Zeit werde ich so tun, als hätte ich mich verirrt. Und Ihr sollt mir mit ein paar Männern nachreiten und mich entführen, wenn ich mich von meinem Herrn entfernt habe, und mich hierherbringen, bevor er mich einholen kann. Dann werde ich Euch gehören, und er wird nie erfahren, daß es mein eigener Wille war.« 196
Und damit war der Graf zufrieden. Am anderen Tage brachen die beiden auf. Wie gewohnt ritt Enid wieder voran und trieb die neun Pferde vor sich her. Doch sobald die Stadt mit der Burg ein gut Stück hinter ihnen lag, hielt Enid am Weg rand an und wartete auf Geraint. Und als Geraint dies sah, hielt er zu erst selbst an, doch dann ritt er, wütend wie zuvor, weiter, bis er Enid eingeholt hatte. Da gab sie dem Pferd einen kleinen Stoß mit dem Ab satz und ritt neben Geraint weiter. Und unterwegs erzählte sie ihm, was sich in der vergangenen Nacht zwischen ihr und dem Grafen abgespielt hatte. »Er kann uns jeden Augenblick einholen, und ich fürchte, er wird mehr bewaffnete Män ner mitbringen, als selbst Ihr verkraften könnt. Laßt uns deshalb diese gefangenen Pferde freilassen und in den Wald fliehen, wo wir ihm entkommen können.« Diesmal hörte sich Geraint die ganze Geschichte bis zum Ende an, obwohl er immer noch einen finsteren Gesichtsausdruck hatte. Und als sie fertig war, sprach er in einem Ton, der zum erstenmal seit zwei Tagen nicht mehr ganz so grob war: »Obwohl Ihr Euch immer noch nicht um meine Befehle kümmert, scheint es mir doch, daß Ihr in der Tat entschlossen seid, mein Leben zu retten. Aber ich werde nicht da vonlaufen wie ein Hase vor den Jagdhunden. Wenn sie uns verfolgen, so werde ich sie hier erwarten. Ihr aber sollt Euch in den Wald bege ben, und falls ich getötet werde, sollt Ihr zu Artus' Hof zurückkehren, denn dort werdet Ihr in Sicherheit sein.« »Nun war ich Euch schon so oft ungehorsam, daß es auf einmal mehr auch nicht mehr ankommt!« sagte Enid in einer plötzlichen An wandlung von Mut und Kühnheit, und zum ersten Mal in diesen zwei Tagen mußte Geraint sie anschauen. Und er sah, wie ihr Blick über das Wegstück, das sie zuletzt zurückgelegt hatten, hinglitt. Und als er in dieselbe Richtung schaute, sah er in der Ferne eine riesige Staub wolke, die immer größer wurde und in den Strahlen der Morgensonne wie Gold schimmerte. Und als die Staubwolke immer näher kam, er kannte er einen Trupp bewaffneter Reiter, die im Galopp auf sie zu kamen, und ihre Helme und Schwertspitzen blinkten in der Sonne. 197
»Gebt mir die Pferde«, sagte er, »und macht wenigstens den Weg frei, so daß ich genug Platz zum Kämpfen habe.« Und er zog das Vi sier herunter. »Das könnt Ihr nicht! Nicht einmal Ihr, mein Herr. Es müssen ja an die hundert Reiter sein, und Ihr seid doch ganz allein!« rief Enid ver zweifelt aus. »Tut, was ich befehle, wenigstens einmal«, befahl Geraint, und sei ne Stimme klang ganz dumpf hinter dem Visier. »Es gibt schon Mit tel, gegen eine solche Überzahl anzukommen.« »Was habt Ihr vor?« »Eine unritterliche Sache. Und jetzt verschwindet hinter den Bä u men!« Diesmal gehorchte Enid. Geraint wartete mitten auf dem Weg und sah die immer größer werdende Staubwolke auf sich zukommen, und dann hörte er das Ge trappel der Hufe immer deutlicher. Und im richtigen Moment band er die gefangenen Pferde los und versetzte dem hintersten Pferd einen so kräftigen Schlag, daß es nach vorne sprang und die vorderen mitriß und alle Pferde den Weg hinunterrasten, direkt auf die herangaloppie renden Reiter zu, und die erbeuteten Rüstungen schepperten auf ihren Rücken. Der Graf und seine Begleiter stießen Flüche aus und versuchten, ih re Stuten zur Seite zu ziehen, doch da waren die losgelassenen Pferde schon mitten unter den Reitern, und der ganze Haufen geriet in Ver wirrung. Während seine Verfolger noch wütend und fluchend mit ihren wildgewordenen Pferden kämpften und ein großer Tumult ausgebro chen war, legte Geraint die Lanze ein und donnerte auf sie zu. Er raste mitten in den feindlichen Reiterhaufen hinein, und den ersten Mann hatte er mit der Lanzenspitze aus dem Sattel befördert, noch ehe die Männer wußten, was geschehen war. Und noch bevor die Reiter ihre eigenen Speere einlegen konnten, fegte Geraint mit der Breitseite der Lanze drei weitere Ritter vom Sattel. Und als ihm sein eigener Speer 198
in der Hand zerbrach, warf er den Stumpf weg und zückte das Schwert. Die Staubwolke wurde immer größer und dichter und hüllte die Kämpfer ganz ein, so daß Enid, die vom Waldrand aus alles verfolgte, nur das Waffengeklirr und die Schreie der Männer und das Wiehern und Getrampel der Pferde hörte. Und hier und dort blitzten immer wieder die Schwertklingen auf, die sich immer mehr röteten. Und im mer wieder brach ein reiterloses Pferd aus dem Haufen aus und raste davon. Doch keines davon war Geraints silbergrauer Zelter. Lange und verzweifelt mußte er kämpfen, und er tobte und wütete wie ein Eber, der vo n den Jagdhunden in die Enge getrieben worden ist und jeden Moment in Stücke gerissen werden kann. Doch sie wa ren mindestens achtzig an der Zahl, und er war allein. Für einen sol chen Kampf konnte es nur einen Ausgang geben. Und schließlich lag er mit vielen Wunden wie tot da, nur daß ein Toter nicht so heftig aus seinen Wunden blutet. Da ließen die Angreifer von ihm ab, und Enid glitt vom Sattel her unter und eilte zu Geraint und kniete sich neben ihn in den Schmutz. Sie beugte sich über ihn und schien dem Grafen und seinen Männern, die um ihn herumstanden, keinerlei Beachtung zu schenken. Leise be gann sie zu weinen und zu jammern. »Ach, nun hegt der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe, erschlagen da, und die Schuld an seinem Tode trage ich!« »Und was ist nun mit dem Versprechen, das Ihr mir gegeben habt?« fragte der Graf und hob sie vom Boden hoch. »Kommt nun mit mir zum Schloß zurück. Dort werden wir schon die Mittel finden, Euren Kummer zu vertreiben.« Und er setzte sie wieder auf ihre Stute und gab seinen Männern den Befehl, die Leichname der von Geraint erschlagenen Ritter zum Schloß zurückzutragen. Und auch Geraint ließ er mitsamt seinem Schwert auf seinen Schild legen und ebenfalls ins Schloß tragen. Er selbst nahm die Zügel von Enids Stute in die Hand und führte das Pferd und die Frau zum Schloß. Enid sprach während des ganzen Weges kein einziges Wort, sondern starrte immerfort vor sich hin, wie 199
wenn sie stets etwas Furchtbares vor Augen hätte und von dem An blick ganz betäubt wäre. Als sie in den Großen Saal kamen, legten die Ritter Geraint, der immer noch auf seinem Schild lag, auf das Podium am anderen Ende des Raumes. Dann ließ der Graf ein Gemach herrichten und Rosen wasser zum Waschen erwärmen, und auch schöne Seidengewänder ließ er aus den Schränken holen, damit Enid ihr abgetragenes und staubiges Gewand, das nun auch mit Geraints Blut befleckt war, mit einem neuen vertauschen konnte. »Ich finde keinen Geschmack an smaragdgrünen Damastkleidern und scharlachroten Seidengewändern, wenn mein Herr nicht mehr lebt«, sagte sie. »Ach, schöne Frau, seid nicht so betrübt«, sagte der Graf. »Was heißt es schon, wenn dieser Ritter nun tot ist? Habt Ihr nicht eine rei che Grafschaft und dazu noch ihren Herrn, der Euch Euren Ritter er setzen kann? Ich werde Euch wieder glücklich machen, wenn Ihr es nur erlaubt.« »Ich werde mein Lebtag nie mehr glücklich sein«, sagte Enid; und sie weigerte sich, ein neues Kleid anzuziehen. »Kommt wenigstens zum Essen mit«, sagte der Graf, als die Tische zum Mittagsmahl gedeckt waren. »Schaut, Ihr sollt hier neben mir Platz nehmen.« Und er nahm ihre Hand und führte sie an ihren Platz. »Eßt«, sprach er wieder, und er setzte ihr selbst die köstlichsten Bissen auf Weißbrotscheiben vor. Doch plötzlich sagte Enid mit klarer, kalter Stimme: »Ich schwöre bei Gott, daß ich nicht eher essen werde, als bis mein Herr sich von seinem Schild erhebt und mit mir ißt.« »Das ist ein Schwur, den Ihr nicht einhalten könnt«, sagte der Graf, »denn dieser Mann ist bereits tot.« »Dann werde ich in dieser Welt nie mehr essen«, sagte Enid mit derselben klaren und kalten Stimme. »So trinkt denn«, sagte der Graf und schenkte ihr Weißwein in den Becher, der neben ihr stand. »So trinkt denn wenigstens, das Feuer des Weines wird Euch schon wieder auf andere Gedanken bringen.« 200
»Ich werde nicht eher trinken, als bis sich mein Herr erhebt und mit mir trinkt.« Da verlor der Graf schließlich die Fassung, und er schrie sie an, als wäre sie ein ungehorsamer Hund. »Da Euch freundliche Worte nichts bedeuten, wollen wir einmal sehen, ob Euch das etwas gilt.« Und er schlug sie so kräftig ins Gesicht, daß der Abdruck seiner Hand sich auf der weißen Haut rötlich abzeichnete. Enid stieß einen fürchterlichen Schrei aus und sprang von ihrem Platz hoch. »Wenn mein Herr noch lebte, würdet Ihr es nicht gewagt haben, mich zu schlagen!« Nun hatte Geraint schon vor einer Weile begonnen, wieder zu sich zu kommen, und es war ihm, als hätte er auf dem Grund eines tiefen Wassers gelegen und stiege nun allmählich wieder zum Licht und zur Welt der Menschen empor. Doch obwohl er hörte, was sich zwischen Enid und dem Grafen abspielte, wußte er nicht recht, ob er wirklich lebte und ob die Dinge um ihn herum wirklich waren oder ob er alles nur träumte. Und eine ganze Weile lag er so da, ohne sich zu bewe gen, wie zwischen zwei Welten. Doch Enids Schrei durchbohrte ihn wie ein Schwert, und plötzlich war er hellwach. Und als er seine Frau so weinen hörte, kehrten seine Kräfte schnell wieder. Im Nu sprang er auf, griff nach dem Schwert, das neben ihm lag, stürzte sich auf den Grafen und schlug so kräftig zu, daß ihm die scharfe Klinge den Kopf entzweispaltete. Erst die Tischkante hielt den Schwung des Schwertes auf, während der Graf mit dem Oberkörper vornübersackte. Da brach ein großer Tumult aus, und außer Enid ergriffen alle, die im Saal waren, eiligst die Flucht, denn sie merkten nicht, daß ein Le bender mit seinem Schwerte zugeschlagen hatte, sondern glaubten, ein Toter sei wieder lebendig geworden und werde sie nun einen nach dem ändern mit magischer Kraft abschlachten. Geraint war allein im Großen Saal. Er wischte das Schwert an der weißen Tischdecke ab und blickte zu Enid hin, die wie angewurzelt und kreidebleich dastand und ihn anstarrte. Und plötzlich durchfuhr die Liebe zu ihr sein Herz wie ein stechender Schmerz, der noch grö ßer war als der Schmerz seiner Wunden. Doch nun war nicht der Au 201
genblick, zärtliche Worte auszutauschen; jetzt gab es Dringlicheres zu tun. »Enid«, sagte er, und seine Stimme war sanft und voller Zärtlich keit, »wißt Ihr, wo sich die Ställe befinden?« »Ja«, sagte sie, und dann fügte sie hinzu: »Soll ich die Pferde ho len?« »Wir werden sie zusammen holen«, sagte Geraint, »und zwar so fort, bevor die Männer des Grafen wieder Mut fassen und zurückkeh ren, denn ich kann mir in meinem Zustand nicht noch einen Kampf leisten.« So eilten sie zu den Ställen und fanden ihre Pferde und sattelten sie und stiegen auf und ritten zu den weit geöffneten Toren hinaus, und keine Menschenseele stand ihnen im Wege oder sah sie verschwinden. Sie schluge n den Weg ein, der zum Wald führte, der wie eine finste re Wolke am Horizont lag. Auf offenem Feld war die Sommerhitze sehr groß, und Geraint war unter der Rüstung ganz schweiß- und blut verklebt, und die Hitze brachte die Wunden zum Schwellen, und der Kopf begann ihm zu schwirren. Als sie den Wald erreicht hatten und noch ein kurzes Wegstück weitergeritten waren, wandten sie sich vom Pfade ab und ritten zwischen den dichtstehenden Bäumen hindurch, bis sie das Gefühl hatten, vor den Männern des Grafen in Sicherheit zu sein. Unter einer großen Eiche stiegen sie aus dem Sattel und ban den die Zügel der Pferde an einen herunterhängenden Ast, und dann half Enid Geraint beim Ausziehen der Rüstung. Und als sie die vielen Wunden sah, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und begann zu weinen. Und während sie ihm half, die Schnallen und Bänder zu öff nen, vernahmen sie den Klang von Jagdhörnern, der durch den Wald hallte. Mit diesen Hornklängen hatte es die folgende Bewandtnis: König Artus war mit seiner Jagdgesellscha ft von Camelot fortgeritten, um auf den fernen südwestlichen Hügeln zu jagen. Und ihr Jagdlager hat ten sie ganz in der Nähe auf einer schönen Waldlichtung errichtet. Was Geraint und Enid gehört hatten, war das Horn eines Jägers des Königs, der seine Hunde herbeirief. Und beinahe im selben Auge n blick hörten sie, wie ein Reiter durch den Wald galoppierte. Und nach 202
einer Weile erschien auf dem Hirschpfad, der an der Eiche vorbeiführ te, kein anderer als Sir Kay, der Seneschall des Königs, und ritt auf die beiden zu. Geraint erkannte ihn, doch Kay wußte nicht, wer Geraint war, denn den Schild hatte er im Saal des Grafen gelassen. Und obwohl er den Helm losgebunden hatte und sein Gesicht zu sehen war, war es so blutbefleckt und zerschunden, daß ihn außer Enid wohl niemand hätte erkennen können. Und Enid selbst beschäftigte sich gerade mit Ge raints Rüstung, so daß Kay auch ihr Gesicht nicht sehen konnte. Da wollte Kay wissen, was Geraint so dicht beim Jagdlager des Kö nigs tue. »Ich stehe hier im Schatten eines Baumes, um mich vor der Sonne zu schützen«, sagte Geraint und schwankte etwas auf seinen Beinen. »Wer seid Ihr? Und wohin geht Eure Reise?« »Was die Frage betrifft, wer ich sei, so ist das meine eigene Ange legenheit, und was meine Reise angeht, so führt sie mich die Wege des Abenteuers.« »Nach Eurem Aussehen zu urteilen, hat sie Euch an einige unglück liche Orte geführt«, sagte Sir Kay. »So laßt lieber eine Weile von Abenteuern ab und kommt mit zu König Artus, sein Zelt steht ganz in der Nähe.« »Das werde ich nur tun, wenn es mir paßt«, sagte Geraint, der keine Lust hatte, von Sir Kay Befehle entgegenzunehmen. »Es liegt nicht an Euch, das zu bestimmen!« schrie Kay. »Ihr sollt um Gottes willen mitkommen, wenn ich es Euch sage!« Und er ritt mit gezücktem Schwert auf Geraint los. Doch Geraint griff nach sei nem eigenen Schwert, das an der Eiche lehnte, und ohne es erst aus der Scheide zu ziehen, versetzte er Kay mit der Breitseite einen Schlag unters Kinn, so daß der Seneschall rücklings aus dem Sattel flog und auf einem Teppich aus vergilbten Eichenblättern liegenblieb, alle vie re von sich gestreckt. In diesem Augenblick tauchte auch Lancelot, der Kay gefolgt war, auf. Das Licht, das durch die Wipfel drang, ließ helle Flecken auf sei nem grauen Haar tanzen, und eine seiner Brauen war ernst und gerade, 203
während die andere noch wilder geschwungen war als sonst, als er das Pferd anhielt und sich den letzten Akt des Schauspiels ansah. »Oh, Sir Kay, Sir Kay«, sagte er, als sich der Seneschall mühsam und stöhnend erhob, »werdet Ihr denn nie lernen, Euren Gegner ric h tig einzuschätzen?« Dann wandte er sich zu Geraint und sagte: »Verzeiht, Herr Ritter, Ihr seht etwas mitgenommen aus – wenngleich sich heute hier manche Ritter aufhalten mögen, um die es noch schlimmer bestellt ist als um Euch. Doch seid Ihr nicht Geraint, der Sohn des Erbin?« »Das bin ich«, sagte Geraint. »Und auch Enid, Eure Gemahlin, ist bei Euch. Ihr seid an einem glücklichen Tag zu uns zurückgekehrt. Kommt nun bitte mit mir zum König, damit auch er sich über Eure Rückkehr freue.« »Das werden wir gerne tun«, sagte Geraint, »da Ihr uns so höflich bittet.« Inzwischen waren auch andere Ritter und einige Knappen erschie nen; und sie führten die beiden müden Pferde weg und wollten auch Geraint helfen, der kaum mehr gehen konnte. Doch er wies jede Hilfe ab und faßte Enid bei der Hand. Und so gingen sie, in Begleitung der Männer des Königs, zum Jagdlager hinüber. In der Mitte der Lichtung stand ein großes, gestreiftes Zelt, dicht neben den Kochgruben, wo der stattliche Hirsch, der an diesem Tage erlegt worden war, über den Flammen geröstet wurde. Artus saß auf einem Haufen von Farnkräu tern gegen seinen Sattel gelehnt vor dem Zelteingang, und Cabal, der jüngste der Hunde, die diesen von Artus so geliebten Namen trugen, lag ihm zu Füßen. Lancelot sagte: »Herr König, wir bringen Euch heute abend eine ed le Beute zurück, denn seht, wir haben Herrn Geraint und seine Frau gefunden und mitgebracht.« Da hieß der König die beiden freudig willkommen, und Geraint wollte vor ihm niederknie n und wäre beinahe umgefallen, wenn ihn Enid nicht sofort gestützt hätte, so daß er sich an sie anlehnen konnte.
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»Später«, sagte der König, »will ich die Geschichte dieses Abenteu ers hören; doch ich glaube, zuerst müssen wir wohl für andere Dinge sorgen.« Und er rief Morgan Tudd herbei und ließ Geraint in ein Zelt tragen, wo er sich ausruhen konnte und mit Enid und der Ärztin allein war. Der König und seine Männer blieben im Jagdlager, bis Geraint sich so weit erholt hatte, daß er wieder reiten konnte. Und dann ritt die ganze Gesellschaft nach Camelot zurück, und alle waren in bester Stim mung. Diesmal ritt Enid weder voraus noch hinterher, sondern Seite an Seite mit Geraint, inmitten der ganzen Hofgesellschaft. Und als sie in Camelot eintrafen, wurden sie vo n Königin Ginevra bereits erwartet, denn sie hatten Boten vorausgesandt, um ihre An kunft anzukündigen. Da sprach Ginevra zum König: »Mein Herr und Gebieter, tretet nun mit der ganzen Gesellschaft ein in den Großen Saal und an die Tafelrunde, denn es ist ein Wunder geschehen, das Ihr sehen müßt.« Und als der König und die Ritter den Saal betreten hatten, sahen sie auf der hohen Rückenlehne eines Sitzes der Tafelrunde, der bisher leer gestanden hatte, seit der letzte Inhaber gestorben war, in schönen Goldbuchstaben Geraints Namen leuchten. So wurde Geraint ein Ritter der Tafelrunde. Und als er später wie der in sein eigenes Land, zu seinem eigenen Volk zurückgekehrt war und nach dem Tode seines Vaters ein starker und gerechter Herrscher wurde, versäumte er es nie, solange er lebte und solange es die Tafe l runde gab, an Pfingsten zu den feierlichen Versammlungen nach Ca melot zu reiten.
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11 Gawain und die häßliche Dame Nach einiger Zeit wurde es erneut unruhig im Britannischen Reich. Die Sachsen fingen wieder zu räubern und zu plündern an und be kriegten das Alte Volk aus dem Norden. Doch schließlich konnten die Barbaren zurückgedrängt werden. Und als am Ende eines vollen Jah res im Norden wieder Ruhe eingetreten war, beging König Artus mit seinen Rittern in Carlisle das Weihnachtsfest, und auch Königin Gine vra feierte mit ihren Frauen mit. Als die ganze Gesellschaft am Weihnachtsabend im Großen Saal versammelt war und die Knappen und Pagen gerade einen Gang des Festessens auftrugen, einen Eberkopf, mit Lorbeerblättern dekoriert, waren draußen plötzlich Hufschläge zu hören, und kurz darauf klopfte jemand an die Saaltür. Und als die Tür geöffnet wurde, rannte eine Frau mit aufgelöstem Haar und in einem Mantel, der von dem wilden Ritt durch die winterliche Kälte ganz beschmutzt war, herein und warf 206
sich Artus zu Füßen. »Mein König«, rief sie, »gebt mir Eure Hilfe und entreißt meinen Geliebten dem düsteren Geschick, das ihn getroffen hat!« »Was ich tun kann, soll geschehen«, sagte der König. »Sagt mir schnell, welcher Art dieses Geschick ist, daß Ihr Euch so sehr grämt.« Und er beugte sich zu ihr nieder, um ihr zu helfen, sich zu erheben, doch die Frau wollte nicht aufstehen. »Ich war mit einem Ritter verlobt, der mir teurer war als mein eige nes Herz. Gestern nun ritten wir gemeinsam fort, um unsere Hochzeit vorzubereiten. Der Weg führte uns auch durch den finsteren Wald von Inglewood, und nach einiger Zeit kamen wir an eine Stelle, wo sich die Bäume etwas lichten, und mitten in der Lichtung lag ein dunkler See, dessen Ufer von gezackten Felsblöcken gesäumt war. Und auf einer kleinen Insel mitten im See stand eine Burg, und von den Tür men wehten schwarze Fahnen, und die Zugbrücke war heruntergelas sen. Und als wir so dastanden und ganz verwundert und überrascht zum Schloß hinüberschauten, denn an einen solchen Ort waren wir noch niemals gekommen, da ritt in voller Rüstung eine fürchterliche Gestalt über die Zugbrücke auf uns zu, fast doppelt so groß wie ein gewöhnlicher Mensch, auf einem riesigen Pferd, fast doppelt so groß wie ein gewöhnliches Pferd. Der Riese rief meinem Liebsten zu, er solle mich ihm überlassen und alleine weiterreiten. Mein Geliebter zückte sofort das Schwert, um mich zu verteidigen, doch über dem Ort waltet ein böser Zauber, der ihn sofort in seinen Bann schlug, so daß das Schwert seiner Hand entfiel und er dem bösen Ritter gegenüber ganz ohnmächtig war. Der warf ihn aus dem Sattel und fesselte ihn dann auf den Rücken seines Pferdes, während ich ohnmächtig zu schauen mußte. Ich versuchte, mit dem Ritter zu kämpfen, und erhielt das zur Belohnung.« Sie fuhr sich über das zerschundene Gesicht und über die zerrissenen Kleider und zeigte ihre Hände, die voller Schnittwunden und Quetschungen waren. »Und der Ritter stieß nur ein fürchterliches Gelächter aus und zerrte das Pferd meines Geliebten mit sich und schwang sich auf sein eigenes Pferd und ritt davon. Ich schrie ihm nach, daß ich zum Hof des Königs Artus gehen würde, um von diesem Unrecht zu erzählen und um einen guten Kämpfer zu bit ten, der meinen Geliebten rächen werde, und wenn es der König selbst 207
wäre. Doch er lachte nur noch lauter und rief mir zu: ›Sagt Eurem fe i gen König, daß er mich hier in Tarn Wathelan findet, wenn er Lust dazu hat. Doch ich möchte sehr bezweifeln, ob er genug Mut hat her zukommen!‹ Und dann verschwand er. Das Pferd mit meinem Gelieb ten darauf trieb er vor sich her. Und nun bin ich hergekommen, Herr König, um auf den Knien Eure Hilfe zu erflehen.« Da lief ein zorniges Raunen durch den Saal, die Ritter schauten sich an, und manche Hand hatte schon den Schwertknauf ergriffen, und manch ein Ritter war schon halb aufgestanden. Doch der König sprang mit einem Male von seinem Sitz auf und rief mit lauter Stimme: »Hiermit gelobe ich bei meiner Ritterehre: Der König selbst wird sich diesem Abenteuer stellen und wird das Un recht, das dieser Frau widerfuhr, in vollem Umfang rächen!« Da schlugen viele Ritter, vor allem die jüngeren, mit der Faust auf den Tisch und bekräftigten und begrüßten dieses Gelöbnis lauthals. Doch Gawain sagte: »Onkel, laßt mich auf dieses Abenteuer reiten. Denn ich wittere etwas Übles hinter dieser Geschichte, und das Bri tannische Reich kann seinen König jetzt nicht für längere Zeit entbeh ren!« Doch obwohl sich auch Lancelot und Bedivere und Gareth und in einem unbesonnenen Augenblick sogar Sir Kay anerboten, das Aben teuer auf sich zu nehmen, lehnte der König alle Angebote ab. »Ich danke euch allen, doch nun ist es schon allzulange her, seit der König zum letztenmal auf Abenteuer ausgeritten ist, statt nur zuzusehen, wie seine Ritter fortreiten.« Und während er in die Runde schaute, fügte er plötzlich, halb im Zorn, halb flehentlich, hinzu: »So wahr es einen Gott gibt, Brüder, so wahr bin ich noch kein alter Mann!« Und das sagte er in einem solchen Tone, daß niemand zu protestie ren wagte. Nur die Königin war nicht glücklich dabei. Denn wie Gawain hatte auch sie das Gefühl, daß hinter der Sache etwas Übles stecke, für das sie keinen Namen hatte. Als der König am anderen Morgen die Messe gehört hatte, brachten ihm seine Knappen Rüstung und Schild und gürteten ihm Excalibur um und brachten ihm seinen mächtigen Speer Ron. Und sie holten ihm 208
auch sein kampffreudiges Schlachtroß aus dem Stall. Und dann brach er zusammen mit der Frau von Carlisle auf und ließ sich von ihr zum Wald von Inglewood führen, mitten hinein in das Meer von Bäumen, welches ein riesiges Gebiet bedeckt. Meile um Meile legten sie zurück, bis sie schließlich aus dem Wald wieder herausgelangten, gerade als der rotgolden leuchtende Sonne n ball unterging. Und vor ihnen lag ein See, und die ganze Wasserfläche glühte, wie wenn das Flammenmeer am Horizont sie in Brand ge steckt hätte. Und um den See herum standen die dunklen Uferfelsen. Drüben auf der kleinen Insel sahen sie die Burg, von deren Turmspit zen, die sich scharf im Abendlicht abhoben, rabenschwarze Banner wehten. »Dies ist der Ort«, sagte die Frau. »Oh, Herr König, rettet meinen Geliebten und rächt das Unrecht, das mir widerfahren!« Da nahm Artus das Horn, das am Sattel hing, und blies lange und kräftig hinein, so daß es von den Felsen am See zurückhallte und die Raben aus allen Ritzen und Ecken der Burgmauern aufflogen. Und dann stieß der König noch einmal ins Horn, und schließlich ein drittes Mal, und es war, als würde der Hornruf bis zu den Wolken über der Festung hinaufgetragen und von dort wieder zurückgeworfen. Doch sonst war kein Laut zu hören. Da zückte Artus sein Schwert und stieß seinen Schlachtruf aus und schrie: »Kommt heraus, Herr Ritter von Tarn Wathelan! Euer König ist hier, und er ist es nicht gewohnt, daß man ihn warten läßt!« Und noch während er dies über den See rief, wurde die große Zug brücke langsam heruntergelassen, bis sie den geringen Abstand zwi schen Burg und Seeufer vollkommen überbrückt hatte. Da erschien im Torbogen der Ritter von Tarn Wathelan, und er war wirklich um Be trächtliches größer als ein gewöhnlicher Mensch. Er steckte von Kopf bis Fuß in einer schwarzen Rüstung, und er saß auf einem riesigen, rotäugigen, rabenschwarzen Schlachtroß. »Seid mir willkommen, Kö nig Artus!« schrie er ihm zu. »Schon lange war es mein sehnlicher Wunsch, Euch von Angesicht zu Angesicht im Kampf gegenüberzu stehen, denn in meinem Herzen bekämpfe ich Euch schon lange!« 209
Da stieg ein großer Zorn im König hoch. Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt in vollem Galopp zum Ufer hinunter, während der rie sige Ritter über die Brücke galoppierte und dem König entgegenjagte. »Nun ergebt Euch mir!« schrie ihm Artus zu, so laut, daß er den Lärm der Hufe übertönte. »Ergebt Euch und tut Buße für Eure Übeltat, oder kämpft mit mir!« Doch im selben Augenblick hielt sein Pferd plötzlich an, wie ge lähmt, und hätte ihn beinahe aus dem Sattel geworfen, und es blieb reglos stehen und wieherte laut vor Angst. Und als der König versuc h te, es wieder vorwärtszutreiben, spürte er, wie es am ganzen Körper zitterte. Da befiel ihn große Furcht. Sie legte sich auf ihn wie ein eis i ger Schatten. Und sie war um so schlimmer, als sie sich gar nicht auf den Ritter oder irgend etwas anderes in dieser Welt bezog. Es war eine finstere Seelenfurcht, die sich zwischen ihn und den Himmel drängte, und sie saugte ihm all seine Kraft aus, so daß ihm der Schwert- und der Schildarm ganz erschlafft herabsanken und er ganz und gar ohn mächtig war, sich zu bewegen. ›Das ist des Teufels Werk‹, sagte eine Stimme tief in seinem Innern. ›Des Teufels Werk…‹ Und der Ritter von Tarn Wathelan hielt sein eigenes Pferd eine knappe Speerwurflänge vor ihm an und brach in ein fürchterliches Ge lächter aus, das immer stärker anschwoll und von den Mauern des Schlosses widerhallte. »Nun ist es an Euch, Euch zu ergeben oder mit mir zu kämpfen, Herr König!« Und Artus versuchte unter Aufbietung seiner ganzen Kraft, den Schwertarm zu heben, und so sehr strengte er sich dabei an, daß ihm der kalte Schweiß ausbrach, doch nicht einen einzigen Muskel konnte er bewegen. »Ihr seht!« höhnte der riesige Ritter. »Was – wollt Ihr – von mir?« keuchte Artus. »Nun, jetzt könnte ich Euch töten oder Euch in eines meiner Verlie se werfen, wo Ihr zusammen mit anderen tapferen Rittern zugrunde gehen würdet, und könnte kraft der magischen Kunst, die mir zu Ge bote steht, Euer Reich an mich nehmen. Doch ich habe im Sinn, Euch Euer Leben und Eure Freiheit zu verkaufen. Was haltet Ihr davon?« 210
»Um welchen Preis?« »Um den Preis, daß Ihr am Neujahrstag hierher zurückkehrt und die Antwort auf die folgende Frage mitbringt: Was ist es, das alle Frauen am meisten begehren? Schwört beim heiligen Kruzifix, daß Ihr zu rückkehren werdet, mit oder ohne Antwort auf meine Frage. Und wenn Ihr sie nicht mitbringt, sollt Ihr weiterhin mein Gefangener sein, solange Ihr mir das Lösegeld schuldig bleibt. Und wenn es mir be liebt, werde ich Euch töten und Euren Leichnam in die finsteren Was ser des Sees versenken.« Und Artus hatte keine andere Wahl, als zu schwören, doch tat er das nur widerwillig, voller Scham und Wut über die Erniedrigung, doch auch verängstigt wie eine Fliege, die sich in einem Spinnennetz ver fangen hat. Da machte der Ritter von Tarn Wathelan eine rasche Bewegung mit seinem Speer. Und Artus' Pferd bäumte sich auf und wirbelte auf den Hinterhufen herum und jagte in solch einem rasenden Galopp davon, daß Artus es erst, als sie bereits tief in den Wald hineingeritten waren, mit Mühe und Not wieder anhalten konnte. Da wurde Artus zum erstenmal bewußt, daß die Frau spurlos ver schwunden war, seit sie auf die Lichtung herausgeritten und Tarn Wa thelan vor sich erblickt hatten. Und so ritt er unverrichteter Dinge weg, und die Scham über das, was geschehen war, nagte auf dem ganzen Wege an seinem Herzen. Doch der König kehrte nicht nach Carlisle zurück. Er wollte seinen Tafelrittern nicht eher vor die Augen kommen, als bis er sein Lösegeld bezahlt hätte – falls er es überhaupt je würde zahlen können. Die ganze Woche zwischen Weihnachten und Neujahr ritt der Kö nig über Wald- und Moorwege, nach Norden und Süden, nach Osten und Westen. Und einmal begegnete er einem Mädchen, das Gänse hü tete, und dann einer Frau, die in der Türe einer am Wege gelegenen Bierschenke lehnte. Und einmal begegnete er einer großen Dame, die mit ihren Dienern auf einem weißen Zelter vorbeiritt, an dessen Ge schirr viele kleine klingelnde Glöckchen hingen. Ein andermal traf er eine betagte Nonne, die gerade den Rosenkranz betete. Und jeder die 211
ser Frauen stellte er die Frage, die ihm der Ritter von Tarn Wathelan aufgegeben hatte. »Was ist es, das alle Frauen am sehnlichsten wünschen?« Und jede von ihnen gab eine andere Antwort. Die eine sagte Reic h tum, die andere Schönheit, andere sagten Glanz und Ruhm, wieder andere meinten Macht oder Freude oder Bewunderung, und einige meinten auch Liebe. Und der König bedankte sich bei den Frauen jedesmal in aller Hö f lichkeit und schrieb die Antworten auf ein langes Stück Pergament nieder, das er am ersten Tag seines Abenteuers in einem Kloster erha l ten hatte, damit er nicht etwa eine der Antworten vergessen hätte, wenn er wieder nach Tarn Wathelan kommen würde. Doch sein Herz sagte ihm, daß keine der Antworten die richtige war. So kam schließ lich der Morgen des Neujahrstages heran, und nun schlug er wieder schweren Herzens den Weg nach Tarn Wathelan ein. Und unterwegs mußte er immer wieder an Merlin denken, der nun schon seit langer Zeit unter dem magischen Weißdornbusch schlief, denn wer sonst hät te ihm bei seiner schwierigen Aufgabe helfen können? Die Hügel, an denen er vorbeiritt, sahen dunkler aus als das letzte Mal, und der Wind war schneidender. Und auch der Weg kam ihm viel länger und holperiger vor, und doch hatte er ihn bald zurückge legt. Als er das Ziel der Reise fast erreicht hatte und mit dem Kinn auf der Brust durch ein finsteres Dickicht ritt, vernahm er plötzlich die Stimme einer Frau, die ihm in sanftem und freundlichem Tone zurief: »Seid gegrüßt, Herr König. Gott schütze und erhalte Euch.« Der König wandte sich schnell um, und als er in die Richtung sah, aus der die Stimme kam, erblickte er unmittelbar neben dem Weg eine Frau in einem rosaroten Kleid. Sie saß auf einem kleinen Torfhügel zwischen einem jungen Eichbaum und einer Stechpalme. Und die Farben ihres Kleides waren ebenso lebhaft wie die der Beeren der Stechpalme. Und ihre Haut war braun und welk wie die paar wenigen Winterblätter, die noch an der Eiche hingen. Beim ersten Anblick durchfuhr den König ein Schreck, denn bevor er sie gesehen hatte, glaubte er, eine solche Stimme gehöre gewiß einem schönen Men 212
schen. Aber in Wirklichkeit war sie das häßlichste Geschöpf, dem er jemals begegnet war. Ihr Gesicht wirkte wie ein Alptraum auf ihn, und er konnte es kaum ertragen, die Jammergestalt anzusehen. Ihre Nase war lang und voller Warzen und nach einer Seite gekrümmt, während ihr langes, haariges Kinn nach der anderen Seite hin verkrümmt war. Sie besaß nur ein Auge, und das saß tief unter der hervorspringenden Braue, und ihr Mund war nicht viel mehr als ein unförmiges Loch. Zu beiden Seiten ihres Gesichtes hing ihr das Haar in grauen, verdrehten Locken herab, und die Hände, die sie in ihrem Schoß gefaltet hielt, glichen zwei braunen Tatzen, obwohl die Juwelen, die an ihren Fin gern blinkten, einer Königin würdig gewesen wären. Der König war von ihrem Anblick so betroffen und entsetzt, daß er ihren Gruß zunächst gar nicht erwiderte. Da hob die häßliche Dame langsam ihr Haupt und sandte ihm einen langen, ausdrucksvollen Blick zu, in dem der Kummer und der Zorn und der Stolz eines ga n zen Lebens zu liegen schienen. »Beim Kreuz Christi, Herr König, Ihr seid mir ein unhöflicher Ritter, den Gruß einer Dame so lange unbe antwortet zu lassen! Vergeßt doch nicht Eure guten Manieren, ich weiß nämlich, auf welch einem düsteren Abenteuer Ihr Euch befindet, und vielleicht kann ich Euch behilflich sein, wenn Ihr Euren Stolz et was zähmen wollt.« »Verzeiht, hohe Frau«, sagte der König. »Ich war tief in Gedanken versunken, und der Grund, weshalb ich Euren Gruß nicht erwiderte, war nicht mein Mangel an Höflichkeit. Wenn Ihr wirklich wißt, was für ein Abenteuer mich hierher führt und wenn Ihr die Frage kennt, die ich beantworten muß, und wenn Ihr mir in der Tat helfen könnt, so werde ich Euch, solange ich lebe, in großer Dankbarkeit verbunden bleiben.« »Eure Dankbarkeit allein genügt mir nicht, falls Ihr wollt, daß ich Euch helfe«, sagte die häßliche Dame. »Was braucht Ihr noch?« fragte Artus. »Was Ihr auch von mir ver langt, Ihr sollt es haben.« »Ihr seid schnell bei der Hand mit Versprechungen«, sagte die Frau. »Beschwört beim Kreuz Christi, daß Ihr Wort halten werdet, damit Ihr dieses Versprechen nicht plötzlich bereut. Doch nun hört zuerst zu. Ihr 213
müßt dem Ritter von Tarn Wathelan noch an diesem Tage sagen, was alle Frauen am sehnlichsten begehren oder ihn um Erbarmen anflehen. Doch Erbarmen kennt er nicht. So ist es doch?« »So ist es«, sagte der König. »Ihr habt in den vergangenen sieben Tagen viele Frauen darum be fragt und von allen eine Antwort bekommen; doch von keiner die ric htige. Ich allein kann sie Euch geben, die Antwort, mit der Ihr Euch loskaufen könnt. Doch bevor ich sie Euch verraten will, müßt Ihr beim heiligen Rosenkranz und bei Maria, der Mutter unseres Herrn, schwö ren, mir zu gewähren, was auch immer ich von Euch erbitte.« »Diesen Schwur will ich leisten«, sagte der König und hatte die Hand schon auf dem Kreuz seines Schwertes. »Dann beugt Euch zu mir nieder – näher – näher, damit nicht ein mal die Bäume etwas hören können«, sagte die häßliche Frau. Und während der König niederkniete, stand sie ungeschickt und schwerfä l lig auf und flüsterte ihm das Geheimnis ins Ohr. Da mußte der König laut herauslachen, denn die Antwort war ganz einfach, und das hätte er sich nicht träumen lassen. Doch nach einer Weile faßte er sich wieder und fragte die Frau, welchen Lohn sie be gehre. Doch sie sagte: »Noch nicht jetzt; wenn Ihr die Antwort dem Ritter von Tarn Wathelan gegeben habt und sie sich wirklich als die richtige erwiesen hat, sollt Ihr wieder hierher zurückkehren. Ich werde auf Euch warten. Und nun zieht Eures Wegs. Gott begleite Euch!« Da ritt der König wieder nach Tarn Wathelan. Jetzt erschienen ihm die Hügel wieder etwas heller und der Wind etwas weniger schne i dend, denn er war ganz sicher, nun die richtige Antwort auf die Frage des Ritters zu besitzen. Nach einer Weile erreichte er die Lichtung, und er ließ das Pferd am Ufer grasen und blies einmal kräftig in sein Horn. Diesmal genügte ein einziger Hornruf, denn der Herr des Ortes wartete schon auf ihn, und noch ehe das Echo völlig verhallt war, senkte sich die Zugbrücke mit lautem Getöse, und schon kam der riesige Ritter auf seinem riesi gen schwarzen Pferd dahergeritten, und als er noch einen Speerwurf weit vom König entfernt war, hielt er an. 214
»Nun, kleiner König, bringt Ihr mir die Antwort auf meine Frage?« »Ich bringe Euch viele Antworten, die ich von vielen Frauen erha l ten habe, und gewiß wird auch die richtige darunter sein«, sagte Artus und warf die Pergamentrolle in die gepanzerte Hand des Riesen. Da ließ auch der riesige Ritter das Pferd am Seeufer grasen, und dann las er die aufgeschriebenen Antworten von der ersten bis zur letzten durch. Und nachdem er sie alle gelesen hatte, brach er in ein fürchterliches, schallendes Gelächter aus und schleuderte die Perga mentrolle rückwärts über die Schultern in das himmelblaue Wasser des Sees. »Das sind in der Tat viele Antworten! Einige sind schlecht, einige gut, doch keine ist die wahre Antwort auf meine Frage. Damit bleibt Euer Lösegeld unbezahlt, und Euer Leben und Euer Reich ste hen nun in meiner Hand. Beugt Euren Nacken für den Todesschlag, o großer und erhabener Artus Pendragon, Großkönig von ganz Britanni en!« Und er fuhr mit der Hand an den Schwertknauf. Da sagte Artus: »Gestattet mir noch einen Versuch, Eure Frage zu beantworten, bevor ich mein Leben und mein Reich lasse.« »Also gut, aber schnell«, sagte der Ritter. »Als ich heute morgen hierherritt«, sagte Artus, »traf ich eine Frau in einem rosaroten Kleid, die zwischen einer Eiche und einer Stech palme saß, und sie sagte mir, was alle Frauen am sehnlichsten wün schen, sei, ihren eigenen Willen durchzusetzen.« Da begann der Ritter von Tarn Wathelan vor Zorn zu schnauben und zu heulen. »Das hat Euch bestimmt meine Schwester Ragnell ge sagt, denn nur sie kannte die wahre Antwort. Verflucht sei sie für den Verrat dieses Geheimnisses! War sie häßlich und unglücklich?« »Sie war in der Tat die häßlichste Frau, der ich jemals begegnet bin«, sagte der König. »Falls ich sie erwische, werde ich sie bei lebendigem Leibe über ei nem schwachen Feuer langsam zu Tode rösten, denn sie hat mich um das Britannische Reich gebracht!« brüllte der aufgebrachte Ritter. »Trotzdem sollt Ihr nun frei Eures Weges ziehen, denn das Lösegeld ist bezahlt.« 215
Da ritt der König wieder über das Moorland und durch tiefe Wälder zurück, und plötzlich fühlte er sich so erschöpft, daß er über seinen Sieg kaum erleichtert war. Und als er wieder zur Eiche und zur Stech palme kam, fand er Frau Ragnell, die wie versprochen auf ihn wartete. Er hielt neben ihr an, und nun grüßte er zuerst. »Frau, Eure Antwort war in der Tat die richtige. Dank Eurer Hilfe habe ich mein Leben und mein Reich wiedergewonnen. Nun verlangt Euren Preis, er soll Euch ohne Zögern gewährt werden.« »Ohne Zögern«, wiederholte die Frau, »wenn Ihr nicht nur ein Kö nig seid, sondern ebenfalls ein Mann von Ehre. Dies nun ist der Preis, den ich von Euch verlange: bringt von Eurem Hof in Carlisle einen Ritter zu mir, der tapfer und höflich und auch von ansehnlicher Gestalt ist. Er soll mich zu seiner Geliebten nehmen.« Bei diesen Worten war Artus zumute, als hätte er einen Schlag in den Bauch erhalten. »Frau«, sagte er, »Ihr verlangt etwas Unmögli ches.« »Dann ist also Artus doch kein Mann von Ehre?« fragte die Frau. Und der König antwortete: »Ihr sollt Euren Preis haben, Frau!« Und mit hängendem Haupte ritt er davon. Und er hat nie erfahren, wie ihm die Frau mit ihrem trüben einen Auge nachschaute, mit einem Ausdruck von Hoffnung und von Furcht und von entsetzlichem Schmerz auf dem Gesicht. Am zweiten Tage des neuen Jahres kehrte der König nach Carlisle zurück. Müde stieg er im Hof aus dem Sattel und schritt in den Gro ßen Saal, wo die Ritter der Tafelrunde versammelt waren. Von weitem schon kam ihm die Königin mit ausgebreiteten Armen und vielen Fra gen entgegen, denn die vergangenen acht Tage hatte sie in beständiger Angst gelebt. »Ich habe mich meiner Manneskraft zu sehr gerühmt und kehre zu Euch als ein geschlagener Mann zurück«, sagte der König und atmete schwer. »Herr, erzählt uns, was geschehen ist«, sagte die Königin und wur de plötzlich schneeweiß im Gesicht. 216
»Der Ritter, mit dem ich den Kampf aufnahm, war mehr als ein sterblicher Mensch. Von seinem Schloß und von der ganzen Umge bung strahlte eine düstere Zauberkraft aus, die dem Herzen eines Mannes allen Mut und seinem Arm alle Kraft entzieht. So geriet ich in seine Hand und wurde von ihm gezwungen, mich zu ergeben. Und er schickte mich fort, verlangte aber, daß ich am Neujahrstage mit der Antwort auf eine bestimmte Frage zurückkehre, sonst werde er mir mein Leben und Reich nehmen.« Eine Weile hörte man im Großen Saal nur noch das Holz im Herd knacken und unter irgendeinem Tisch einen Hund, der sich die Flöhe wegkratzte. Da sagte Lancelot ganz freundlich: »Aber, Herr König, Ihr seid doch zu uns zurückgekehrt, und so müßt Ihr diesem Hexenrit ter die Antwort gegeben haben, die er verlangt hat. Und dadurch habt Ihr Eure Ehre mehr als wiederhergestellt.« »Die richtige Antwort konnte ich ihm nur geben, weil ich die Hilfe einer Frau fand. Doch ihre Hilfe war teuer erkauft, und dieses Löse geld kann ich nicht selbst entrichten.« Da fragte ihn Gawain: »Herr König, welches ist denn der Preis, der dieser Frau bezahlt werden muß?« »Sie wollte eine Gegenleistung, aber erst mußte ich dem Ritter die Antwort geben. Und ich – ich versprach ihr zu erfüllen, was auch im mer sie verlange.« Der König begann zu stöhnen. »Und als ich die Frage beantwortet hatte und wieder frei war, kehrte ich zur Frau zu rück und fragte sie nach dem Preis ihrer Hilfe. Da verlangte sie, daß einer meiner Ritter sie zur Frau nehme.« Wieder wurde es ganz still im Saal. Und dann sagte Gawain: »Oh, das ist doch vielleicht gar nicht so schlimm. Ist sie hübsch?« »Sie ist die häßlichste und unglücklichste Frau, der ich jemals be gegnet bin«, sagte der König. »Sie hat eine krumme Nase und ein krummes Kinn, sie ist alt und vertrocknet, und sie besitzt nur ein Au ge. Sie gleicht einem verkrüppelten Dornbusch, sie ist eine Gestalt wie aus einem bösen Traum.« Und zum dritten Male breitete sich tiefe Stille aus im Saal.
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»Wollte Gott, daß ich den Preis selbst bezahlen könnte«, stöhnte Artus. Und Ginevra reichte ihm die Hand wie eine Mutter, die ihr Kind trösten will. Doch sie vermied es, Sir Lancelot anzuschauen, und auch er schaute weg. Da atmeten die Ritter, die schon eine Frau hatten, erleichtert auf, denn nun hatten wenigstens sie nichts mehr zu befürchten. »Doch das könnt Ihr nicht, lieber Onkel, und so muß, damit Eure Ehre rein bleibe, ein anderer den Preis bezahlen.« Agravane, der im mer gerne Unfrieden stiftete, trat ins Licht und sagte mit blitzenden Augen: »Wie wäre es denn mit Euch, Bruder Gawain? Ihr hebt doch immer Eure Treue zum König hervor, als sei sie stärker als die anderer Männer. Und Ihr haltet Euch doch für den Lieblingsritter des Königs, wie Lancelot sich für den Liebling der Königin ansieht!« Lancelot war schon von seinem Sitz aufgesprungen, noch ehe Agravane zu Ende gesprochen hatte. Doch noch schneller als er war bereits Gawain aufgesprungen, und seine blauen Augen funkelten vor Zorn, und seine roten Haare schienen ihm zu Berge zu stehen wie ei nem wütenden Hund. »Kleiner Bruder, Ihr sprecht genau das aus, was ich denke! Herr König, ich werde an Eurer Stelle Eure Dame zur Frau nehmen und damit das Lösegeld bezahlen!« »Ich danke Euch für dieses Angebot«, sagte der König, »doch ich werde und ich kann es nicht eher annehmen, als bis Ihr die Frau mit eigenen Augen gesehen habt.« »Nein, mein Herr und Onkel, ich habe mich entschlossen, das für Euch zu tun, und bin ich schließlich nicht Euer Fürsprecher, wie mein Bruder Agravane sagt?« Und Gawain nahm seinen Weinbecher vom Tisch neben ihm, hielt ihn in die Höhe und sandte den übrigen Rittern einen trotzigen Blick zu. »Trinkt Freunde, auf meine Braut!« Und er leerte den Becher in einem Zuge und setzte ihn hart wieder auf den Tisch. Doch niemand erwiderte den Trinkspruch. »Erst wenn Ihr sie gesehen habt«, wiederholte der König, und seine Stimme klang dumpf und heiser, doch unnachgiebig. Und Cabal, sein riesiger grauer Wolfshund, steckte die Schnauze in seine Hand, und Artus schaute zu dem Hund nieder und kraulte ihn zärtlich hinter den 218
Ohren. Dann schaute er plötzlich wieder auf, wie wenn er eben einen Entschluß gefaßt habe, und ließ seinen Blick in die vom Fackellicht erhellte Runde schweifen. »Morgen werden wir in die Gegend von Tarn Wathelan auf Jagd reiten. Und Gawain soll Frau Ragnell beim hellichten Tage sehen, wenn er nüchtern und bei klarerem Verstand ist als in diesem Auge n blicke. Und auch alle anderen Männer, die noch keine Gemahlin ha ben, sollen sie sich ansehen, bevor irgendeiner von Euch sich für sie entscheidet!« So wurden am anderen Morgen in der Dämmerung die Pferde aus den Ställen und die Jagdhunde aus ihren Hütten geholt, und König Ar tus brach mit seinen Rittern zur Jagd auf. Es war noch sehr kühl, und die ganze Landschaft war mit Reif bedeckt. Die Hunde spürten einen Edelhirsch auf, und die ganze Gesellschaft jagte ihm bis tief in den Wald von Inglewood nach, und die Hornklänge und das Hundegebell schallten weithin durch die Luft. Der Hirsch lockte sie durch ein Dik kicht von Stechpalmen und Eiben und kahlen Eichbäumen und Hasel sträuchern. Und schließlich gelang es den Jägern, das Tier ganz in der Nähe von Tarn Wathelan zu erlegen. Der tote Hirsch wurde zerlegt und einem Jagdpony auf den Rücken gebunden, und dann ritten die Männer wieder nach Carlisle zurück. Jedermann war guter Laune; es wurde gescherzt und gelacht, obwohl der Zelter, den sie mitgenommen hatten, sie nur zu deutlich an den Anlaß ihrer Jagdreise gemahnte. Und gerade deshalb lachten sie nur um so lauter und riefen einander durch die Bäume allerlei Scherzworte zu, um die Sorge in ihren Herzen zum Schweigen zu bringen. Da erblickte Sir Kay, der den anderen immer ein bißchen vorauszu reiten pflegte, zwischen den Bäumen den scharlachroten Zipfel eines Kleides. Er zwängte sich unter den Ästen einer großen Eibe hindurch und blieb unwillkürlich stehen, als er die Frau sah, die in einem leuc h tenden, scharlachroten Kleid zwischen einer Eiche und einer Stech palme saß. »Gott zum Gruß, Sir Kay«, sagte Frau Ragnell. Doch der Seneschall des Königs brachte kein Wort heraus. Auch er hatte gehört, was der König in der vergangenen Nacht in Carlisle von 219
der Frau erzählt hatte. Doch ein so schreckliches und abscheuliches Gesicht hatte er sich wahrhaftig nicht vorgestellt. Und er machte schnell mit den Fingern ein Kreuz, um sich gegen böse Zaubermacht zu schützen. Inzwischen waren auch die übrigen Ritter zu ihm gesto ßen, und allmählich kehrte Sir Kay wieder der Mut zurück. Und weil er Angst gehabt hatte, führte er sich nun noch unhöflicher als sonst auf und begann die Frau in grausamster Weise zu verhöhnen. »Schaut her, das muß, wenn ich die Beschreibung des Königs nicht falsch deute, die Frau sein, die wir suchen. Wer von uns soll sie nun also zum Weib nehmen? Kommt, stellt Euch doch ihre herrlichen Küsse vor, und seid nicht so schüchtern!« Da ritt auch König Artus und ihm zur Seite Sir Gawain heran, und als Sir Kay die beiden erblickte, wurde er still. Und die häßliche Frau, die ihr Gesicht in den Händen verbarg und angefangen hatte zu wei nen, schaute wieder auf, mit einem Ausdruck von unendlich verletz tem und verzweifeltem Stolz. »Da sie einer von uns wirklich zur Frau nehmen muß«, sagte der König mit gepreßter Stimme, »ist es höchst unangebracht zu spotten, Sir Kay!« »Sie heiraten!« rief Sir Kay. »Nun, ich werde das sicher nicht tun! Beim Haupt unseres Hirschen, noch eher würde ich die Hexe von Cit Cot Caledon heiraten!« »Nun gebt endlich Ruhe, Kay!« sagte der König. »Ihr benehmt Euch dieser Frau gegenüber wie ein richtiger Schuft! Nehmt Eure Zunge in acht, oder Ihr gehört nicht länger zu meinen Rittern!« Und die anderen Ritter sahen schweigend zu, halb elend und halb voller Mitleid mit der Frau. Doch einige Ritter schauten auch zur Sei te. Selbst Sir Lancelot tat so, als wäre etwas am Zügel seines Pferdes nicht in Ordnung. Nur Sir Gawain schaute der Frau gerade ins Gesicht, und etwas an ihrem verletzten Stolz und an der Art, wie sie das abscheuliche Haupt hob, erinnerte ihn an einen von Hunden umzingelten Hirsch, und er vermeinte, aus ihrem trüben Blick wie aus weiter, weiter Ferne einen Hilfeschrei herauszuhören. Da sah er sich um und schaute die anderen Ritter an. »Nun, nun, wozu diese ausweichenden Blicke und beküm 220
merten Gesichter. Kay war ja schon immer ein Hund ohne Manieren! Die Sache ist längst abgemacht, denn ich habe dem König doch ge stern nacht schon gesagt, ich würde die Frau heiraten. Und das werde ich auch tun, falls sie mich zum Manne will!« Und mit diesen Worten schwang er sich vom Sattel und kniete ne ben der Frau nieder. »Frau Ragnell, wollt Ihr mich zu Eurem Gemahl nehmen?« Die Frau betrachtete ihn einen Moment mit ihrem einen Auge, dann sagte sie mit einer Stimme, die überraschend lieblich klang: »O nein, Ihr nicht auch, Sir Gawain. Oh, Ihr nicht auch.« Und als er sie ganz verwirrt anschaute, fügte sie hinzu: »Ihr wollt Euch doch nur über mich lustig machen, wie Sir Kay.« »Noch niemals war es mir ernster in meinem Leben«, sagte Sir Ga wain, doch seine Lippen bewegten sich kaum. »Dann überlegt es Euch noch einmal, bevor es zu spät ist. Wollt Ihr wirklich ein so häßliches, mißgestaltetes altes Weib zur Frau nehmen? Was für eine Gattin wäre ich denn für den Neffen des Königs? Was werden die Königin Ginevra und ihre Mädchen sagen, wenn Ihr eine solche Braut zum Hof bringt?« »Niemand wird sich meiner Gattin gegenüber ein unhöfliches Wort erlauben«, sagte Gawain. »Davor werde ich Euch schon zu bewahren wissen.« »Das kann ja sein. Aber Ihr selbst? Ihr werdet Euch schämen, und nur wegen mir«, sagte die Frau. Und wieder begann sie zu weinen, diesmal noch bitterer als zuvor, so daß das ga nze Gesicht feucht und aufgedunsen wurde und sie noch häßlicher aussah. Doch Gawain nahm ihre Hand. »Frau, glaubt mir, wenn ich Euch beschützen kann, so kann ich auch mich selbst schützen«, sagte er und blickte herausfordernd in die Runde der übrigen Männe r. »Kehrt nun mit mir nach Carlisle zurück, denn heute abend werden wir Hochzeit feiern.« »Wahrhaftig«, sagte die häßliche Frau, »Ihr mögt es kaum glauben, aber ich sage Euch, Ihr werdet diese Hochzeit nicht bereuen.« 221
Und sie stand auf und ging auf den grauen Zelter zu, den ihr die Rit ter mitgebracht hatten, und da sahen die Männer auch, daß sie einen Buckel und zu allem Überfluß auch noch ein lahmes Bein hatte. Sir Gawain half ihr in den Sattel und bestieg dann sein eigenes Pferd, das unmittelbar daneben stand. Und der König ritt auf der anderen Seite heran. Dann brach die ganze Gesellschaft wieder nach Carlisle auf, zuvorderst Gawain, die häßliche Dame und der König, und dahinter die Ritter und die Jäger mit den Hunden, die sie an die Leine geno m men hatten, und zuletzt folgte das Jagdpony mit dem toten Hirsch auf dem Rücken. Die Kunde von ihrer Ankunft hatte bereits die Stadttore erreicht, und die Bewohner von Carlisle waren schon aus den Häusern auf die Straßen geströmt, um Sir Gawain mit seiner häßlichen Braut vorbei reiten zu sehen. Und als Artus mit seinen Männern dann durch die Straßen von Carlisle ritt, verstummte die Menge, und hier und da schlugen die Menschen das Kreuz, und eine alte Frau rief ganz ent setzt: »Gott rette uns!« So kamen sie zu den Schloßpforten und ritten in den Hof hinein. An diesem Abend wurden Gawain und die häßliche Dame in der Schloßkapelle vermählt, und die Königin selbst stand neben der Braut, und der König war der Trauzeuge. Und als die Zeremonie vorbei war, kam als erster Sir Lancelot nach vorn und küßte Frau Ragnell auf die vertrocknete Wange, und dasselbe taten auch Sir Gareth und Sir Gahe ris, Sir Ector von den Sümpfen und Sir Bedivere, Sir Bors und Sir Lionel und alle übrigen Männer. Doch das Wort blieb ihnen in der Kehle stecken, als sie Frau Ragnell und Sir Gawain eine glückliche Ehe wünschen wollten, so daß die meisten der Männer nur ein undeut liches Gemurmel herausbrachten. Und die arme Frau Ragnell schaute auf die Köpfe nieder, die sich vor ihr verbeugten und betrachtete die Frauen, die ebenfalls nach vorne traten, um ihr ganz kurz die Finger spitzen zu küssen. Doch ihr auch noch die Wange zu küssen, das brachten sie nicht über sich. Nur Cabal kam herbei und beleckte ihr mit seiner warmen, feuchten Zunge die Hand und schaute mit seinen bernsteinfarbenen Augen zu ihr auf; ihn schien das häßliche Aussehen Ragnells keineswegs zu stören, denn die Augen der Hunde sehen an ders als Menschenaugen. 222
Beim Festmahl, das danach im Großen Saal abgehalten wurde, wirkten die Gespräche und das Gelächter an den Tischen unnatürlich und gezwungen. Jedermann bemühte sich, fröhlich auszusehen. Ga wain und Frau Ragnell saßen während des ganzen Mahls neben dem König und der Königin an der hohen Tafel. Und als das Festmahl end lich vorüber war, rückten die Knappen die Tische zur Seite, so daß es Platz zum Tanzen gab. Da dachte die ganze Gesellschaft, nun könne sich Gawain endlich für ein paar Augenblicke von Frau Ragnell ent fernen und sich mit seinen Freunden unterhalten. Doch er sagte: »Braut und Bräut igam müssen den ersten Tanz anführen«, und er bot Ragnell die Hand. Sie nahm seine Hand und verzog das Gesicht zu einer häßlichen Grimasse, die ein Lächeln andeuten sollte, und humpelte mit ihm auf die Tanzfläche. Und während der langsamen Takte, die nun folgten, wagte unter den Blicken des Königs und auch unter denen von Ga wain niemand im ganzen Saal, den beiden Tänzern so zuzuschauen, als ob irgend etwas nicht stimmen würde. Schließlich ging der Abend zu Ende. Der letzte Tanz war vorbei, und die Harfenspieler entfernten sich, die letzten Weinbecher wurden geleert, und dann wurden Braut und Bräutigam zu den Gemächern hoch oben im Schloß geleitet. Und zu beiden Seiten des geschnitzten und mit Vorhängen versehenen Bettes brannten in großen Haltern vie le Kerze n, und der ganze Raum war von einem flackernden Licht- und Schattenspiel erfüllt, so daß die Figuren auf den Jagdszenen, die auf die Tapeten gemalt waren, sich wirklich in der Landschaft zu bewegen schienen. Der ganze Raum war wie ein Ausschnitt aus einem großen Zauberwald. Und als sich die Knappen und Zofen wieder entfernt hat ten, ließ sich Gawain in den weich gepolsterten Sessel neben dem Herd fallen und starrte gedankenverloren ins Feuer, ohne auf Frau Ra gnell zu achten. Ein plötzlicher Luftzug krümmte die Kerzenflammen zur Seite, und die Figuren auf den Wänden begannen sich wieder zu bewegen, als besäßen sie wirkliches Leben. Und Gawain war es, als hörte er aus weiter, weiter Ferne, wie aus dem Herzen des Zauberwal des heraus, ein schwaches Hornecho.
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Da vernahm Gawain vom Fußende des Bettes her das leise, seidene Rascheln von Frauenkleidern, und eine leise, liebliche Stimme sagte: »Gawain, mein Herr und mein Geliebter, habt Ihr gar kein Wort für mich übrig? Könnt Ihr es gar nicht ertragen, einmal herzuscha uen?« Gawain zwang sich, den Kopf zum Bett zu drehen und Frau Ragnell anzuschauen – und im selben Augenblick sprang er vom Sessel auf und war ganz außer sich, denn dort zwischen den Kerzenhaltern stand in Frau Ragnells scharlachrotem Kleid und mit ihren Juwelen an den Fingern die schönste Frau, die er je erblickt hatte. Ihre Haut schim merte im Kerzenlicht weiß wie Milch, und ihr Haar hatte einen dun kelgelben Glanz, wie Getreide zur Erntezeit. Ihre großen, dunklen Augen suchten die seinen erwartungsvoll, und während ein Lächeln ihren Mund zu umspielen begann, streckte sie ihm die Hände entge gen. »Frau«, sagte Gawain fast außer Atem, und ohne recht zu wissen, ob ihm träumte oder ob er wach war, »wer seid Ihr? Wo ist meine Gemahlin, Frau Ragnell?« »Ich bin Eure Gemahlin, die Frau Ragnell«, sagte sie, »ich bin Frau Ragnell, die Ihr zwischen der Eiche und der Stechpalme gefunden und die Ihr heute abend geheiratet habt, um dadurch die Schuld Eures Kö nigs zu begleichen – und vielleicht auch ein bißchen aus Mitgefühl.« »Aber – aber ich verstehe nicht«, stammelte Gawain, »Ihr seid so verändert.« »Jawohl«, sprach Ragnell, »ich habe mich verändert, nicht wahr? Ich stand unter einem Zauberbann, und auch jetzt bin ich erst zum Teil von ihm befreit. Doch darf ich Euch nun eine kleine Weile in meiner wahren Gestalt gegenüberstehen. Ist mein Herr mit seiner neuen Ge mahlin zufrieden?« Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu, und auch er ging auf sie zu und schloß sie in die Arme. »Zufrieden? O meine teure Liebe, ich bin der glücklichste Mann der ganzen Welt, denn ich wollte nur die Ehre meines Onkels retten, und nun ist mir dadurch der tiefste Wunsch meines Herzens erfüllt worden. Ihr habt in der Tat die Wahrheit ge sprochen, als Ihr sagtet, ich würde diese Heirat nie bereuen, obwohl ich Euch in jenem Augenblick nicht glauben wollte.« Und er zog sie 224
an seine Brust und küßte sie, während sie die Arme um seinen Hals schlang. »Und doch habe ich vom ersten Augenblick an gespürt, wie etwas an Euch tief in meinem Innern ein Echo fand…« Nach einer Weile löste Ragnell die Umarmung. »Hört zu«, sagte sie, »denn nun müßt Ihr eine harte Wahl treffen. Ich sagte Euch schon, daß ich erst zum Teil von jenem Zauberbann befreit bin. Weil Ihr mich zur Frau genommen habt, ist er zur Hälfte gebrochen; aber erst zur Hälfte.« »Was soll das heißen? Ich verstehe Euch nicht.« »Hört zu«, sagte sie noch einmal, »und es wird Euch alles klar wer den. Ich bin zur Hälfte vom Bann befreit, zur Hälfte noch an ihn ge bunden. Denn während der Hälfte jedes Tages muß ich die Gestalt an nehmen, in der Ihr mich zwischen der Eiche und der Stechpalme fa n det. Und nun sollt Ihr entscheiden, ob Ihr lieber am Tage eine schöne und in der Nacht eine häßliche Gemahlin haben wollt, oder umge kehrt.« »In der Tat eine schwierige Wahl«, sagte Gawain. »Denkt nach«, sagte Ragnell. Und Gawain sagte, ohne sich lange zu besinnen: »Oh, meine teure Liebe, seid tagsüber häßlich und nachts schön für mich allein!« »Ach!« sagte Frau Ragnell. »So also wollt Ihr entscheiden? Ich soll also häßlich und mißgestaltet unter all den schönen Frauen der Köni gin herumgehen und muß ihren Spott und ihr Mitleid erdulden, wo ich in Wahrheit doch gerade so schön bin wie sie? O Gawain, soll dies ein Beweis Eurer Liebe sein?« Da senkte Gawain das Haupt. »Nein, ich habe nur an mich selbst gedacht. Wenn es Euch glücklicher macht, so sollt Ihr tagsüber schön sein und am Hofe den Platz einnehmen, der Euch gebührt. Und nachts werde ich dann im Dunkeln Eure sanfte Stimme vernehmen, und das soll mir genügen.« »Das war die Antwort eines wahrhaft Liebenden«, sprach Frau Ra gnell. »Doch ich möchte auch für Euch schön sein, nicht nur für den Hof und die schillernde Welt des Tages, an der mir weniger liegt als an Euch.« 225
Und Gawain sagte: »Jedenfalls müßt Ihr selbst ja schließlich am meisten leiden. Und da Ihr eine Frau seid, werdet Ihr, wie ich glaube, in solchen Dingen mehr Weisheit besitzen als ich. Trefft die Wahl nach Eurem eigenen Willen, teure Liebe, und wozu auch immer Ihr Euch entschließt, es soll mir recht sein.« Da legte Frau Ragnell ihren Kopf ganz sachte auf seine Schulter und begann, zugleich zu lachen und zu weinen. »O Gawain, mein teu erster Herr, da Ihr die Wahl mir überließt und mich nach meinem ei genen Willen handeln laßt, ist der Bann nun ganz gebrochen. Nun bin ich vo llkommen frei und kann Tag und Nacht meine wahre Gestalt tragen. Und auch mein Bruder…« »Euer Bruder?« fragte Gawain völlig überrascht. Und als Ragnell seine Verwirrung sah, zog sie ihn zum großen Ses sel neben dem Feuer und ließ sich neben ihm auf den Teppich nieder und umfaßte mit den Händen seine Knie. »Mein Bruder, der Ritter von Tarn Wathelan«, sagte sie. »Beide wurden wir von Morgan der Fee durch finstere Zauberkunst unserer wahren Gestalt beraubt. Mei nen Bruder schlug sie in ihren Bann, weil sie ihn als Werkzeug benut zen wollte, um einen letzten Schlag gegen König Artus zu führen, mich dagegen, weil ich ihr zu widerstehen versuchte, denn ich besitze auch etwas von ihrer Kraft.« »Doch wie wußtet Ihr, wie Ihr den König retten mußtet?« fragte Gawain. »Zu jedem Zauberbann gibt es einen Schlüssel, mit dem er gebro chen werden kann, doch nur den wenigsten Menschen ist er erreic h bar.« Gawain löste ihr Haar, so daß es sich wie ein Vorhang von korngelber Seide vor ihre beiden Gesichter legte. »Ich war der Schlüs sel zur Rettung des Königs; und als ich den König gerettet hatte, dur f te ich auch Euch um Hilfe für mich und meinen Bruder bitten. Doch falls Ihr meinem Hilferuf nicht gefolgt wäret, hätte mich niemand ret ten können, denn der Schlüssel zu meiner Rettung heißt Liebe.« Als Sir Gawain Frau Ragnell am ändern Tag in den Großen Saal führte, war die ganze Gesellschaft zunächst erstaunt und verwirrt, doch noch größer war die allgemeine Freude, die sich ausbreitete. Und nun wurde noch einmal Hochzeit gefeiert. Und diesmal war es ein 226
wahres Fest, das einen würdigen Abschluß der Weihnachtstage bilde te. Sieben Jahre lang genossen Gawain und Ragnell eine überaus glückliche Zeit, und während all dieser Jahre war Gawain ein noch sanfterer und freundlicherer und beständigerer Mann als zuvor. Doch am Ende dieser Zeit wurde er von Ragnell verlassen. Manche behaup ten, sie sei gestorben, andere, sie habe das Blut des Alten Volkes in sich – hatte sie nicht selbst gesagt, sie habe auch etwas von der alten Zauberkraft? -, und kein Mensch aus dem Stamme des Alten Volkes könne mehr als sieben Jahre mit einem gewöhnlichen Sterblichen zu sammenleben. Wie und warum auch immer: eines Tages war sie fort, und mit ihr auch etwas von Gawains eigenem Wesen. Zwar blieb er nach wie vor ein tapferer Ritter, doch bald zeigte sich wieder sein altes, jäh auflo derndes Temperament an ihm, und er war auch nicht mehr so zielbe wußt und auch nicht mehr ganz so freundlich wie bisher. Und bis an das Ende seiner Tage zehrte der Kummer über ihren Verlust an sei nem Herzen.
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12 Sir Percival Nachdem Sir Pellinore getötet worden war, wollte die Königin, sei ne Frau, mit der Welt der Männer nichts mehr zu tun haben. Sie nahm ihren jungen Sohn Percival und zog sich mit ihm in die Wildnis zu rück. Irgendwo in den Berge n und Wäldern von Wales hatte sie eine verlassene Hütte gefunden, die einst von einem Kohlenbrenner be wohnt worden war, und nun machte sie, so gut es ging, für sich und ihren Sohn ein Heim daraus, denn sie wollte ihn fernab von allen Kriegen und Streitereien mit all ihren Grausamkeiten aufwachsen las sen, die viel schlimmer sind als die Grausamkeiten, die zwischen Tie ren vorkommen. So kam es, daß der Knabe von da an bis zu seinem siebzehnten Le bensjahr niemals ein anderes Gesicht sah als das seiner Mutter, und auch von der Welt und dem Dasein und Treiben der Menschen erfuhr 228
er bis zu diesem Zeitpunkte nichts. Eine lange Zeit erinnerte er sich noch an den Hof seines Vaters mit all den Frauen, die nach Muskat und Zibet und Veilchenöl rochen und deren kostbare Gewänder bis zum Boden herabreichten. Und er erinnerte sich auch noch an den Glanz der Rüstungen und an die kräftigen Arme seines Vaters, der ihn oft vom Boden hochhob und auf seine Schultern emporschwang. Und auch an den alten Mann in der Waffenkammer des Schlosses erinnerte er sich, der ihm beibrachte, wie man einen leichten Speer wirft. Doch am längsten blieb ihm die Erinnerung an die Pferde in den Schloßstäl len und auch an die großen Jagdhunde in ihren Hütten, mit denen er sich angefreundet hatte. Doch später verblaßten seine Erinnerungen immer mehr, bis sie sich schließlich ganz verloren und nur noch einige bunte Flecken in seinem Kopf zurückließen, die ebensogut aus einem Traum hätten stammen können. Der Wald und die Berge waren seine ganze Welt und die Tiere des Waldes seine besten Freunde. So gut kannte er das heimatliche Tal, daß er genau wußte, wo die Füchse zu Hause waren und ihre Jungen versteckten, und so vollkommen konnte er den Ruf der Amseln und Drosseln nachahmen, daß ihm die Vögel antworteten, als wäre er ih resgleichen. Und so wuchs er zu einem starken und tapferen, aber doch schlichten jungen Mann heran. Eines Tages, als er wieder einmal durch den Wald streifte, stieß er auf eine alte, schartige Speerspitze, die der Winterregen zwischen den Wurzeln eines großen Baumes frei gelegt hatte. Der abgebrochene Speerschaft war schon ganz verfault und zerfiel sofort, als er ihn berührte. Doch nachdem er zu Hause die Speerspitze saubergerieben hatte, glänzte sie wieder wie neu. Er zeigte sie seiner Mutter, und da huschte ein Schatten über ihr Gesicht und auch über ihr Herz. Doch sie sagte nichts, und Percival schliff die Speerspitze mit einem Stein so lange, bis sie fast den Wind hätte zer schneiden können, so wie es ihm der Alte aus seinem verlorenen Kind heitstraum einst gezeigt hatte. Dann fand er einen geraden Eschenzweig und machte sich einen neuen Schaft, und er übte sich im Werfen seiner neuen Waffe, und bald hatte er sie vollkommen in sei ner Gewalt. Da begann er zu jagen, doch niemals bloß um des Ver gnügens willen, sondern einzig der Nahrung wegen, so wie es auch die wilden Tiere tun. 229
Doch als die Jahre vorübergingen und Percival allmählich mannbar wurde, begann er im Waldleben mehr und mehr etwas zu vermissen. Die Gesellschaft der Mutter und der wilden Tiere genügte ihm nicht mehr, er hatte das Bedürfnis nach anderen Gefährten, ihn dürstete nach anderer Musik als dem Gesang der Vögel und dem Rauschen des Windes in den Bäumen und dem Gemurmel der Bäche. Zwar hätte er nicht genau sagen können, wonach er sich eigentlich sehnte, doch es trieb ihn auf seiner Suche immer weiter und weiter fort. Und an einem schönen Frühlingstage, an dem er sich weiter von zu Hause entfernt hatte als je zuvor, kam er in ein Tal, und durch das Tal wand sich eine Art Hirschpfad, der viel breiter war und viel tiefere Fußspuren aufwies als alle Pfade, die er bisher gesehen hatte. Und als er stehenblieb und sich ganz verwundert umsah, vernahm er Geräusche, wie er sie in seinen Wäldern noch nie gehört hatte. Da er schienen in der nächsten Wegbiegung, an der eine Gruppe von Erlen und andere Bäume standen, vier leuchtende Gestalten. Die eine saß auf einem braunen Pferd, die andere auf einem Rotschimmel, die drit te auf einem grauen Zelter und die vierte auf einem dunklen Fuchs. Percival wußte, was Pferde sind, denn schon oft hatte er wilde walisi sche Ponys gesehen, und jetzt hatte er, so dachte er, einfach eine Art von größeren und prächtigeren und hochtrabenderen Ponys vor sich. Und auch die Reiter hatten eine Gestalt, die der Gestalt vo n Männern glich, und auch seiner eigenen Gestalt, die er oft im Teich unter der alten Weide ganz in der Nähe seines Heimes erblickt hatte. Wie oft hatte er nicht an diesem Teich gesessen und den wilden Tieren zuge schaut, die vom bitteren, dunklen, heilkräftigen Wasser tranken, wenn sie krank waren. Doch statt brauner Haut und rotem Haar und dem Aussehen wilder Tiere hatten diese Gestalten eine Art von harter, glänzender Haut – gerade so glänzend wie seine geliebte Speerspitze , schimmernd und funkelnd wie Gold und Brillanten, so daß ihn der Anblick beinahe blendete. Die vier Gestalten ritten auf dem zertrete nen Pfad mit lautem Hufegetrampel und scheppernden Harnischen auf ihn zu. »Gott zum Gruß«, sagte der vorderste Reiter, als er Percival erreicht hatte, der am Wegrand stand und die vier mit offenem Mund anstaun 230
te. Und er hielt seinen dunklen Fuchs an, und auch die drei anderen Reiter hielten ihre Pferde an und schauten auf den Knaben herunter. Der Kopf des ersten Mannes war entblößt, sein Helm hing am Sat telriemen, und auch die Haube des Kettenhemds hatte er wie eine Ka puze heruntergeklappt. Und Percival bemerkte, daß das dichte Haar des Mannes schon grau war, obwohl er eigentlich gar nicht alt aussah, und sein Gesicht war seltsam schief und wurde noch seltsamer, als er zu lächeln begann, und doch kam es Percival sehr schön vor. »Schon gut, schon gut«, sagte der Fremde, »paßt nur auf, daß Euch die Augen nicht aus dem Kopf herausfallen! Habt Ihr denn noch nie unseresgleichen gesehen?« Percival schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht. Und um die Wahrheit zu sagen, ich weiß nicht, ob ihr aus der Welt der Menschen kommt oder aus der Welt der Engel im Himmel. Meine Mutter hat mir nämlich viel von den Engeln im Himmel erzählt, und ihr leuchtet alle so hell. Und me ine Mutter sagte mir, alle Engel leuchten ganz hell.« Während die drei anderen Männer zu lachen begannen, jedoch auf freundliche und herzliche Weise, sagte der Mann mit dem krummen Gesicht: »Engel sind wir leider nicht! Obwohl vielleicht alle Men schen etwas von den Engeln in sich haben, aber, leider, auch etwas von der Teufelsbrut.« »Wenn ihr also Menschen seid…« begann Percival zögernd. Und nun begann das Gedächtnis in ihm zu arbeiten, und dann tauchten in seiner Erinnerung tief versunkene Bilder von schönen Pferden auf und von Männern, die ebenso glänzten wie diese hier. Und plötzlich ent fuhr ihm die Antwort wie ein Blitz: »… dann müßt ihr Ritter sein!« »Ritter sind wir in der Tat, und unsere Treue haben wir dem König Artus geschworen, der uns zu Rittern der Tafelrunde machte.« »König Artus?« sagte der Junge. »Tafelrunde?« »Artus Pendragon, der König von ganz Britannien«, sagte der Mann mit dem krummen Gesicht mit ernster Stimme. »Und die Tafelrunde ist der Ritterorden, den er gegründet hat. Wir, die wir zu diesem Rit terorden gehören, haben das Gelöbnis abgelegt, stets für die Gerech tigkeit zu kämpfen, die Schwachen zu verteidigen, unsere Schwerter 231
niemals zu besudeln und sie nur im Dienste Britanniens zu gebrauchen und immer und überall Gott, unserem Herrn, zu dienen.« Percival schwieg eine lange Weile und schaute mit leuchtenden Augen zu dem Mann mit dem häßlichen Gesicht auf. Dann sagte er: »Ich möchte auch Ritter sein.« »Vielleicht werdet Ihr das eines Tages«, sagte der Mann freundlich. »Was muß ich tun, um Ritter zu werden?« »Geht zum König nach Caerlon und sagt ihm, ich hätte Euch ge schickt, – ich, Sir Lancelot vom See, der einst vom König das Schloß Joyeux Gard dort drüben in den Bergen erhalten hat. Und wenn Ihr Euch als würdig erweist, wird er Euch zur gegebenen Zeit zum Ritter schlagen.« Und er neigte ganz ernst und würdig das Haupt vor Percival, als wä re er ein Herzog, und ritt zusammen mit den drei anderen Männern seines Weges. Und Percival stand immer noch am Wegrand und schaute den Män nern mit seltsam gemischten Gefühlen nach, und allmählich verhallten die Hufschläge und das Gerassel der Rüstungen in der Ferne. Die Nacht war schon lange hereingebrochen, und als er sein Heim, die Köhlerhütte, erreichte, erwartete ihn schon eine Laterne über der Haustüre, und drinnen war die Mutter gerade dabei, das Nachtessen auf der glühenden Herdasche wieder aufzuwärmen. Es waren Fische, die Percival im seichten Wasser eines Bergteichs mit seinem Speer erlegt hatte. Die Mutter schaute auf, als er eintrat, und betrachtete sein Gesicht und wurde mit einem Male ganz still. Doch Percival selbst konnte nicht lange stillhalten. Zu sehr bedrängten ihn die Neuigkeiten, die er nach Hause gebracht hatte. »Mutter – ich bin Männern begegnet! Zuerst dachte ich, es seien Engel, denn sie glänzten und leuchteten gerade so wie Engel, von de nen Ihr mir erzählt habt. Aber die Männer waren Ritter. Und derjeni ge, der der Anführer zu sein schien, sagte mir, sie stünden im Dienste des Königs Artus von Britannien, und er sagte mir auch, wenn ich zum König ginge und mich als würdig erwiese, so würde er mich ei nes Tages auch zum Ritter schlagen.« 232
»Eines Tages«, sagte die Mutter. »Doch bis dahin ist noch eine la n ge Zeit.« »Nein! Mutter, Ihr versteht mich nicht, morgen schon muß ich fort gehen, ich muß zu Artus nach Caerlon und ihm beweisen, daß ich wert bin, ein Ritter zu werden!« »Ihr?« rief die Mutter ganz verzweifelt. »Ein Junge aus dem Wald, der in Hirschfellen und mit einem alten Speer herumläuft?« Und Percival kauerte sich ihr zu Füßen und legte ihr eine seiner großen, gebräunten Hände auf das Knie. »Aber das ist doch nicht al les, was ich bin, Mutter? Ich dachte oft, es sei nur die Erinnerung an Träume, wenn mir immer wieder glänzende Männer und große Pferde in den Sinn kamen und auch mein Vater, wie er ein goldenes Diadem um die Stirn trug, doch als ich heute die Männer sah, wußte ich plötz lich, daß ich all das nicht geträumt hatte.« Und tief in ihrem Innern, so daß Percival nichts davon merkte, be gann die Mutter zu weinen, denn sie wußte, daß nun die Zeit gekom men war, da sie ihn verlieren mußte. Aber sie legte nur ihre Hand auf die seine und sagte: »Nein, du hast nicht geträumt, dein Vater war König Pellinore von Wales. Aber es ist nun schon mehr als zehn Jahre her, seit er getötet wurde.« »Wer hat ihn getötet?« fragte der Junge. Und für einen Moment lang vergaß er ganz, wie gerne er bald Ritter werden und die große Welt kennenlernen wollte, denn das Gesicht seiner Mutter hatte sich seltsam verändert. »Sir Agravane und Sir Gaheris töteten ihn, aus Rache, denn dein Vater hatte zuerst ihren Vater, den König Lot von Orkney, getötet, doch das war im fairen Kampf geschehen. Und als dein Halbbruder Lamorack deinen Vater rächen wollte, wurde auch er getötet.« »Wenn ich ein Ritter bin«, sagte Percival, »werde ich mich an Agravane und Gaheris für den Tod des Vaters und des Halbbruders rächen.« Doch die Mutter rief aus: »O nein! Nein! Weil ich dich vor den Schrecken der Blutrache bewahren wollte, habe ich dich ja hierherge bracht und dich fernab von allen Menschen und ihrem Treiben aufge 233
zogen! Und nun willst du ausgerechnet dorthin gehen, wo du all diese Ritter treffen wirst!« »Sind sie denn auch in Caerlon?« fragte der Junge nach einer Pause. »Sie sind wie ihre Brüder Gawain und Gareth Ritter der Tafelrun de.« Da fühlte Percival mit einem Male, daß die glänzende Welt der Menschen, die jenseits des Waldes für ihn begann, nicht so einfach war, wie er sie sich zunächst vorgestellt hatte. Doch sogleich mußte er wieder an das seltsam schiefe Gesicht Sir Lancelots denken und wie er ihm vom Pferd herunter zugelächelt hatte und ihm von der Ritterehre erzählt hatte, und da verspürte Percival noch stärker als zuvor den un widerstehlichen Drang, ein Ritter zu werden und der Tafelrunde anzu gehören. Und er sagte: »Mutter, was den Zwist zwischen unserem Haus und dem Haus von Orkney betrifft, so müssen wir das Gott überlassen. Aber ich muß nach Caerlon und zum König gehen. Hier drinnen« – und er legte die freie Hand auf die Brust – »spüre ich, daß ich das tun muß.« Da stieß die Mutter, einen tiefen Seufzer aus, doch sie gab nach. Schon immer hatte sie insgeheim gewußt, daß dieser Tag einmal kommen würde und daß Percival sie verlassen mußte… Da machte sich Percival am folgenden Morgen, in aller Frühe, noch bevor die Vögel richtig wach waren, zur Reise bereit. Die Mutter nahm noch einmal sein Gesicht zwischen ihre Hände und küßte ihn zum letzten Mal, denn sie wußte, daß sie ihn nie mehr wiedersehen würde, und sie sagte: »Vergiß nie, daß dein Vater ein wahrer Ritter war, und vergiß nie, daß ich dich liebe, und halte uns beide in Ehren. Gib acht, was für Menschen du dir zu Freunden machst und in welcher Gesellschaft du reitest, denn du hast ein schlichtes und vertrauensseliges Gemüt. Gib niemals einer Frau An laß, über dich in Tränen auszubrechen, weil du sie unritterlich beha n delt hast. Bete täglich zu Gott, wie ich es dir gezeigt habe, und bitte ihn, daß er dich auf all deinen Wegen begleite. Ich glaube, du wirst eines Tages wirklich ein Ritter, ja, eines Tages wirst du der Ritter sein, der du sein möchtest.« 234
Nachdem Percival ihr versprochen hatte, ihrem Rat zu folgen und ihre Wünsche zu erfüllen, küßte auch er sie ein letztes Mal. Dann nahm er seinen Speer, der am Türbalken lehnte, und zog seines Wegs. Percival hatte nichts von dem vergessen, was ihm die Mutter in der vergangenen Nacht ans Herz gelegt hatte. Doch nun ging er zwischen blühenden Schlehdornbüschen hindurch, denn es war schon Osterzeit. Und während er so durch den Wald zog, begann der Zaunkönig, der den neuen Tag immer als erster ankündigt, seine leise, zarte Melodie zu singen, dann meldete sich auch die erste Drossel und das Rotkehl chen, und schließlich machte sich im Stechginster der Lichtungen auch der Hänfling bemerkbar. Die Sonne, die er im Rücken hatte, mal te eine n riesigen, langen Schatten vor ihm auf den Boden, und Perci val kam auf seinem Weg schnell voran. Manchmal hielt er den Speer in die Höhe und schaute zu, wie die Sonne das Eisen aufblitzen ließ. Und jedem Vogel in den Wäldern von ganz Wales pfiff er eine fröhli che Antwort zu. Den ganzen Tag lang marschierte er durch den Wald, und als die Dämmerung einbrach, aß er vom Brot, das ihm die Mutter mitgegeben hatte, und dann legte er sich in eine windgeschützte Höhlung zwi schen die Wurzeln eines großen, alten Baumes und schlief ein. Und am anderen Morgen war er schon vor Sonnenaufgang wieder auf den Beinen und setzte seinen Weg fort. Eine gute Stunde vor dem Mittag des fünften Tages kam er zu den Toren von Caerlon. Da er in seinem Leben noch nie eine Stadt gese hen hatte, blieb er eine ganze Weile am Stadttor stehen und beobachtete die Menschen, die unter dem gewölbten Torbogen am Pförtnerhaus vorbei ein und aus gingen. Und als er sah, daß niemandem, der durch das Tor schritt, etwas Böses zustieß, ging auch er hindurch, und auch ihm geschah nichts. Die Menschenmenge in den Straßen und Gassen bestand aus lauter Männern und Frauen, die gar nicht anders waren als er und seine Mutter, nur daß sie statt Tierfellen buntgefärbte Tücher trugen. Hier und da starrte ihn jemand an, als er durch die Straßen schritt. Und so ging er straßauf, straßab durch die ganze Stadt, bis er wieder zu einem Torbogen kam. Als er sich anschickte, ihn zu durchschreiten, fragte ihn einer der Männer, die das Tor bewachten, was er hier suche. Und als er antwortete, er suche den 235
was er hier suche. Und als er antwortete, er suche den König, weil er Ritter werden wolle, fingen die Männer an zu lachen, und einer von ihnen tippte sogar mit dem Finger an die Stirn, doch ließen sie ihn passieren. Und so stand Percival schließlich vor dem Eingang zum Großen Saal. Artus saß mit seinen Rittern gerade beim Mittagsmahl, und Sir Kay stand neben dem König an der hohen Tafel und füllte den goldenen Kelch mit Wein. Nun war es Sitte, daß Artus, wann immer der golde ne Kelch gefüllt wurde, seine Ritter ihr Treuegelöbnis erneuern ließ, bevor er ihn herumreichte und jeder der versammelten Ritter einen Schluck daraus trank. Doch von alldem ahnte Percival, der im Schat ten der Saaltür stand, nichts. Wahrhaftig – so etwas Herrliches und Prächtiges wie diesen Saal, in den durch die hohen Fenster die Son nenstrahlen hereinfluteten und auf die gedeckten Tafeln schienen, hat te er noch nicht erlebt. Und dann bestaunte Percival die vielen Ritter und ihre Frauen, die an den Tafeln saßen, und den König, der unter dem golddurchwirkten Baldachin neben der Königin saß. Lange be staunte er so die herrliche Gestalt des Königs, und dann ließ er seinen Blick in die Runde schweifen und suchte nach dem seltsamen Gesicht Sir Lancelots. Doch noch ehe der König den Kelch von Sir Kay in die Hand ge nommen hatte, kam plötzlich lärmend ein Mann in einer rot-goldenen Rüstung, prächtig anzusehen wie das Gefieder eines Goldfasans, an Percival vorbei in den Saal herein und ging geradewegs auf die Festta fel zu. Die ganze Versammlung wandte sich erstaunt nach ihm um. »Heda, Ihr weinsaufenden Hunde!« schrie er in das Rund. »Wenn Weinschlürfen zum Rittertum gehört, so seht Ihr hier einen besseren Ritter als Ihr alle zusammen es seid!« Und mit diesen Worten entriß er Sir Kay den Kelch und leerte ihn in einem Zuge. Dann brach er in schallendes Gelächter aus, drehte sich um und schritt, mit dem Kelch in der Hand, wieder zur Tür. Und dann hörten alle, wie sein Pferd draußen Funken aus den Pflastersteinen schlug, als er im Galopp da vonsprengte. Mit einem Mal brach das eisige Schweigen, das die ganze Gesell schaft wie gelähmt hatte, und Artus sprang auf und fast gleichzeitig 236
mit ihm auch alle seine Ritter. »Bei meiner Ehre!« rief der König. »Eine solche Kränkung darf nicht ungestraft bleiben! Wer bringt mir meinen Kelch wieder zurück?« »Ich!« rief es aus hundert Kehlen auf einmal. »Ich werde ihn zu rückbringen!« »Herr König, überlaßt dieses Abenteuer mir!« »Nein!« sagte Artus. »Dies ist kein Abenteuer für einen von Euch. Der Kerl ist ein Schuft, trotz seiner leuchtenden Rüstung, er verdient es nicht, durch den Speer eines Ritters umzukommen. Wir wollen ihm einen der Knappen, die auf den Ritterschlag warten, nachschicken. Und falls er mir den Kelch wieder zurückbringt und mir auch noch die Rüstung dieses Kampfhahns bringt, werde ich ihn noch zur selben Stunde zum Ritter schlagen!« Da sprang Percival mit einem Satz aus dem Schatten der Saaltür. »Mein König, Herr Artus«, rief er, »laßt mich dem Schurken nachla u fen! Ich brauche schon lange eine Rüstung, und das glänzende Ding, das der Mann trug, kommt mir gerade recht!« Jedermann im Saal drehte sich nach ihm um und erblickte einen großen, kräftigen jungen Mann, braun wie Ahornrinde, mit leuchtend blondem Haar, doch nur mit einem Hirschfell bekleidet und mit einem selbstgemachten Speer ausgerüstet. Da stieß Sir Kay, der solche Gelegenheiten mit seinen schlechten Manieren stets auszunutzen wußte, ein höhnisches Geläch ter aus. »Das ist ein prächtiger Kämpfer für Euch, Herr König! Pfui! Du stinkst ja nach Ziegendreck! Verschwinde hier und kehre zu dei nen Herden zurück, Junge!« »Das ist nicht nötig«, sagte der König zu seinem Seneschall. Dann wandte er sich an Percival und sagte: »Kommt her, wenn wir uns un terhalten wollen, verstehen wir uns besser, wenn nicht der ganze Saal zwischen uns liegt !« Und als Percival vor den König hingetreten war, schien dieser in dem jungen Gesicht plötzlich etwas Interessantes zu entdecken. »Sagt mir bitte, wer Ihr seid.« »Ich heiße Percival, und mein Vater war Sir Pellinore von Wales. Nachdem er getötet worden war, lebte ich mit meiner Mutter zurück gezogen im Wald, doch jetzt bin ich zu Euch gekommen mit dem 237
Wunsch, zum Ritter geschlagen zu werden, wenn Ihr mich für würdig haltet.« »Ein schönes Märchen«, spottete Sir Kay. Doch der König, der Percival immer noch prüfend ansah, sagte: »Ich war mit Eurem Vater befreundet. Er war einer der ehrenhaftesten Ritter meiner Tafelrunde. Ich habe Euch doch sogleich etwas angese hen… Nun gut, dieses Abenteuer sei Euch überlassen. Kehrt mit dem Kelch und der leuchtenden Rüstung dieses Streithahns hierher zurück, und Ihr sollt den Platz Eures Vaters einnehmen.« »Ich werde der beste Ritter sein, den Ihr jemals…« begann Percival, und seine blauen Augen leuchteten vor lauter Eifer. »Davon bin ich überzeugt«, sprach der König. »Doch zuerst müßt Ihr etwas essen.« Percival schüttelte den Kopf. »Nein, so lange will ich nicht warten, Herr König. Bitte, gebt mir ein Pferd.« »Sobald Ihr gegessen habt, wird ein Pferd für Euch bereitstehen. Und auch eine Rüstung und ein Speer«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu. Doch Percival wollte weder eine Rüstung noch Waffen. »Ich habe einen eigenen Speer«, sagte er. »Und auf eine Rüstung kann ich ver zichten, bis ich die schimmernde Wehr des Mannes trage, der Euch den Kelch gestohlen hat.« Doch da er wahrhaftig sehr hungrig war, aß er dennoch ein wenig, wenn auch in großer Eile. Dann stand er wieder auf, verbeugte sich vor dem König und der ganzen Gesellschaft und wollte sich auf den Weg machen. Doch als er schon den halben Saal durchquert hatte, stellte sich ihm eine der Frauen, die zum Gefolge der Königin gehör ten und an einem Seitentisch aßen, in den Weg und sagte: »Gott be gleite Euch, Sir Percival, edelster aller Ritter!« Doch Sir Kay, der Percival auf den Fersen folgte, schlug ihr mit der Hand ins Gesicht und stieß sie zur Seite. »Platz da, dumme Gans, und halte deinen Schnabel!« Da drehte sich Percival nach Kay um, schaute ihn an und sagte: »Nehmt Euch in acht vor mir, wenn ich in meiner glänzenden Rüstung 238
zurück bin! Diesen Schlag werde ich Euch um des Mädchens willen vergelten. Und diese Vergeltung sollt Ihr nicht so bald vergessen!« Mit diesen Worten verließ er den Saal und betrat den Hof, wo ein schöner brauner Hengst schon auf ihn wartete. Und nachdem er mit einiger Mühe in den ungewöhnlich hohen Sattel gestiegen war, ritt er davon. Am Stadttor erkundigte er sich danach, welchen Weg der Rit ter mit der goldenen Rüstung eingeschlagen hatte, und ritt in dieselbe Richtung und ließ dem Pferd die Zügel schießen. Natürlich hatte er in den walisischen Bergen schon viele wilde Ponys eingefangen und ge ritten, bis sie ihn wieder abwarfen, doch auf einem so großen Pferd saß er zum ersten Mal. Aber das Roß, das auf Artus' Anweisung für ihn ausgesucht wurde, war ein kluges Tier, und da es nur eine leichte Last zu tragen hatte, denn er war ja ohne Rüstung, kamen Roß und Reiter viel schneller voran als der flegelhafte Ritter in seiner goldenen Rüstung. Und als die Schatten wieder zu wachsen begannen, holten sie ihn ein, gerade als er in ein offenes Tal hineinritt. »Kehrt um, Kelchdieb!« schrie ihm Percival nach, noch bevor er ihn ganz eingeholt hatte. »Macht kehrt und kämpft mit mir!« Der Ritter hielt an und wandte sich um, und die letzten Strahlen der im Westen untergehenden Sonne fielen auf seine rot- goldene Rüs tung. Und als der Ritter den halbnackten Jungen auf dem Schlachtroß ge wahrte, begann er zu lachen. »Wer bist denn du, du Betteljunge auf einem gestohlenen Roß, daß du glaubst, du könntest mich zwingen, umzukehren und mit dir zu kämpfen?« Und er riß das Pferd mit einem Schwung herum und schaute zu, wie Percival auf ihn zuritt. »Jedenfalls kein Bettler«, sagte Percival. »In Wahrheit komme ich vom Hofe des Königs Artus und reite ein Pferd aus seinen Ställen, um ihm den Kelch zurückzubringen, den Ihr ihm gestohlen habt.« »Und du willst ihn zurückbringen?« sagte der Ritter. »Du?«, und er schüttelte sich vor Lachen in seinem vergoldeten Sattel. »Ergebt Euch mir, und zieht diese Rüstung aus, denn ich kann das glänzende Ding, das Ihr so stolz zur Schau tragt, gut gebrauchen.« Percival besänftigte mit der einen Hand das unruhige Pferd, während er mit der anderen den Speer einlegte, und fügte in ganz nüchternem 239
Ton hinzu: »Aber beeilt Euch! Sonst werde ich Euch zuerst töten und mir dann Kelch wie Rüstung nehmen!« Dem Ritter in der goldenen Rüstung war das Lachen plötzlich ver gangen. Er saß einen Moment stumm und reglos da, wie wenn er sei nen Ohren nicht recht traute, bis er zu brüllen begann wie ein wilder Stier. »Frecher Hund! Du hast deinen Tod herausgefordert, nun sollst du ihn haben!« Und er legte seinen Speer ein, spornte das Pferd, sprengte den steilen Pfad hinunter und steuerte geradewegs auf den halbnackten Grünschnabel zu, der die Stirn hatte, ihn herauszufordern. Doch Percival sprang mit einem Satz vom Pferd, so daß die Speer spitze ins Leere pfiff. Und als Reiter und Pferd an ihm vorbeidonner ten, rief er dem Ritter nach: »Feigling! Angsthase! Zuerst wollt Ihr einen Mann ohne Rüstung mit dem Speer töten, und dann flieht Ihr den Abhang hinunter! Kehrt um und kämpft!« Da zerrte der Mann sein Pferd herum und ritt wieder in vollem Ga lopp den Hang hinauf, mit dem Speer auf Percivals Brust zielend. Per cival wartete bis zum letzten Moment, und plötzlich duckte er sich, und während der tödliche Speer wieder an ihm vorbeisauste, stieß er dem Ritter seinen eigenen Speer durch das Visier, genau zwischen die Augen, und das Eisen drang durch Haut und Knochen tief in das Ge hirn. Der Ritter schwankte einige Augenblicke im Sattel, dann sank er vornüber und fiel vom Pferd, das sofort die Flucht ergriff und allein davonjagte. Percival war seltsam zumute, halb war er entsetzt, halb triumphierte er, als er neben dem Leichnam niederkniete und seinen Speer heraus zog und dann aus der Hüfttasche des Mannes den goldenen Kelch her ausholte. Dann machte er sich daran, dem Ritter die goldene Rüstung auszuziehen. Er löste die Riemen des Helmes und zog ihn dem Ritter vom Kopf. Doch er wußte nicht, wie er ihm den Rest der Rüstung ausziehen sollte, denn er kannte sich nicht aus mit den vielen ver schlungenen Riemen und Schnallen und Tressen und glaubte, die Rü stung bestehe nur aus einem einzigen Stück. Verzweifelt versuchte er, den ganzen Ritter leibhaftig durch die Halsöffnung herauszuziehen, als er hinter sich Hufschläge vernahm, und als er aufsah, bemerkte er 240
einen alten Mann in einfacher, dunkler Rüstung, dessen Helm vom Sattel herunterhing und der vom Pferd zu ihm mit einem Lächeln her unterschaute. »Das war ein kühner Todesstoß«, sagte der alte Mann. »Und dieser Raubritter hat in der Tat den Tod verdient wie nur irgendein Mensch. Doch was habt Ihr nun mit ihm vor?« »Ich will ihm die Rüstung ausziehen, damit ich sie selber tragen kann. Denn ich habe König Artus geschworen, ihm seinen Kelch zu rückzubringen, welchen ihm dieser Mann gestohlen hat, und in der Rüstung dieses toten Ritters zurückzukehren. Der König versprach, mich demnächst zum Ritter zu schlagen, wenn mir beides gelingt und ich mich würdig zeige.« Und wieder versuchte er, den Leichnam aus der Rüstung zu ziehen. »Die Halsöffnung ist einfach zu eng!« »Nein, eine solche Rüstung besteht aus mehreren Teilen«, sagte der alte Ritter, und seine Augen blickten noch freundlicher und schienen zu lächeln. Und er stieg ab und kniete sich neben Percival hin und zeigte ihm, wie man die glänzenden Metallstücke eins nach dem ande ren voneinander losschnallt. »Und nun«, sagte er schließlich, während er sich wieder erhob, »sagt mir bitte Euren Namen.« »Ich bin Percival, der Sohn des Königs Pellinore von Wales.« »Und eines Tages werdet Ihr, so hofft Ihr, Sir Percival von der Ta felrunde sein? Ich heiße Gonemanus und wohne ganz in der Nähe. Seid eine Weile mein Gast und begleitet mich, so daß ich Euch in der Ritterkunst unterrichten kann. Denn zu einem würdigen Ritter gehört noch mehr als eine glückliche Hand im Zweikampf. Später könnt Ihr dann wieder zu Artus zurückkehren und wohlvorbereitet in seine Dienste treten.« So begleitete Percival Sir Gonemanus zu dem alten Ritterhaus, in dem er wohnte, und blieb den ganzen Sommer über bei ihm. Er lernte reiten und mit Schild und Schwert umgehen und alle übrigen Dinge, die ein Ritter beherrschen muß. Und Gonemanus zeigte ihm auch, was Freundlichkeit ist, was Ritterlichkeit und Treue und noch viele andere Eigenschaften, die ein wahrer Ritter besitzen muß. Und vieles hatte 241
Percival ja schon zu Hause in der Hütte des Köhlers von seiner Mutter gelernt, zum Beispiel, wie man ein Gebet verrichtet. Und da Percival ein lernwilliger Schüler war, hatte er bis zum Herbst alles gelernt, was ihm Gonemanus beibringen konnte. Da nahm er eines Tages in aller Höflichkeit von seinem Lehrer Abschied und brach in der glänzenden goldenen Rüstung und mit einem langen Speer in der Hand nach Camelot auf, wo sich um diese Jahreszeit der König aufzuhalten pflegte. Er ritt durch eine goldgelbe und braune und rötliche Herbstland schaft, und das Farnkraut war schon verwelkt und lag verfault auf den Hochmooren, doch hier und da fand er am Rand eines versunkenen Waldweges, der über und über mit gefallenen Blättern bedeckt war, so daß die Hufschläge des Pferdes ganz dumpf klangen, noch ein paar blühende Geißblattzweige. Doch das Herz schlug froh wie im Früh ling in seiner Brust. Und wo immer er anhielt und bei einem Einsied ler oder in einer einsamen Hütte Unterkunft fand, ja schon, wenn er unterwegs nur einmal anhielt und einen Jäger oder einen anderen Re i senden nach dem Weg fragte: immer hatten die Menschen, nachdem er wieder weitergeritten war, das Gefühl, die Sonne sei gerade aufge gangen. Schließlich ritt er in der Frühe eines Morgens die Schneise eines Birkenwaldes hinunter, und vom Förster, bei dem er die Nacht ver bracht hatte, hatte er erfahren, daß Camelot nur noch wenige Meilen entfernt lag. Es war ein nebliger Morgen, und die Wipfel der hohen Buchen verloren sich im weißgrauen Dunst, der wie ein Dach über dem Walde lag, so daß Percival das Gefühl hatte, zwischen den Pfe i lern einer riesigen Kirche hindurchzureiten. Und die Natur war noch vollkommen ruhig, so als warte sie feierlich auf etwas Zartes und Großes. Dann ritt Percival zum Walde hinaus und stand vor dem Rand einer breiten Straße, die voller Spuren und Furchen war und allem Anschein nach von Pferden und Menschen rege benutzt wurde. Der Förster hatte ihm von dieser Straße bereits erzählt und ihm auch gesagt, daß sie nach Camelot führe. Als er nun endlich unter offenem Himmel stand, bemerkte er, daß sich der milchgraue Nebel hier und da lichtete und 242
trübe blaue Himmelsfetzen zum Vorschein kamen. Und als er sich nun kurz vor dem Ende seiner Reise sah, hielt er das Pferd an und holte den goldenen Kelch des Königs aus der Satteltasche. Da fragte er sich plötzlich, ob er ihm den Kelch nicht sogleich hätte zurückbringen müssen, statt ihn während seiner ganzen Ritterausbildung den Som mer über bei sich zu tragen. Und plötzlich befürchtete er, der Kelch könne inzwischen irgendwo zerkratzt oder verbeult worden sein, und als er ihn in seiner Hand herumdrehte, fiel gerade der erste Sonne n strahl durch den Dunst auf das kostbare Gefäß, so daß es in einem Glänze erstrahlte, der ihn beinahe blendete. Und im selben Augen blick flog eine Lerche in die Luft und begrüßte mit ihrem Gesang den neuen Tag. Und Percival war, wie wenn er innerlich plötzlich von ei nem Lichtstrahl durchbohrt würde wie von einem Speer. War es eine Erinnerung? War es eine Botschaft? Doch das seltsame Gefühl war schon wieder vorüber, noch ehe er es deuten konnte. Aber irgendwie wußte er, daß es mit einem anderen Kelch und einem anderen Licht strahl zusammenhing. Und gleichwie die Lerche mit ihrem Lied, so würde auch er einen neuen Tag einzuleiten haben, mit einem Wort und einer Tat, von denen er noch weit entfernt war. Dann schloß sich der Nebelschleier über seinem Haupt wieder, und auch die Lerche verstummte, und Percivals Blick heftete sich wieder auf den Kelch in seiner Hand, und er sann einer Erinnerung nach, die tief in ihm ver sunken war und die sich ihm entziehen wollte wie die Traumbilder beim Erwachen am Morgen. All das hatte er mehr träumend als wachend erlebt, und nun barg er den Kelch wieder in der Tasche. Doch er machte keine Anstalten, das Pferd wieder zum Laufen zu bringen, sondern wartete gedankenverlo ren am Rande der großen Straße und suchte immer wieder aufs neue, jenen verlorenen und wundervollen Augenblick in seiner Erinnerung wiederzufinden. So in Gedanken versunken war er, daß er nicht einmal bemerkte, wie sich ihm vier Ritter näherten, gerade so wie an jenem Frühlingstag im Wald, als er noch ein Knabe war. Es waren Sir Kay und Sir Ga wain und Sir Lancelot und ein Ritter, auf dessen Schild auf goldenem Hintergrund ein blutroter Drache aufgemalt war. 243
»Reitet noch ein Stück weiter«, sagte der König zu Sir Kay, »und fragt jenen Ritter dort mit dem schlichten Schild nach seinem Namen und fragt ihn auch, warum er so gedankenverloren neben der Straße auf seinem Pferd sitzt.« Da ritt Kay den ändern ein Stück voraus, und während er das Pferd neben Percival anhielt, schrie er, unhöflich wie er war: »Heda, Herr Ritter! Wie heißt Ihr, und was führt Euch hierher?« Doch Percival, der immer noch seiner verlorenen Erinnerung nach sann, schien ihn gar nicht zu hören. »Seid Ihr taub?« brüllte Kay und stellte sein Pferd der Länge nach neben Percivals Roß. Und dann schlug er Percival mit dem Handrük ken ins Gesicht. Der Schock und der Schmerz des Schlages brachten Percival im Nu wieder zu sich selber, und jäh den Kopf herumdrehend, rief er: »Nie mand kommt ungeschoren davon, der so dreist zuschlägt!« Und als er den Ritter plötzlich erkannte, sagte er: »Ach, Euch bin ich ja ohnehin noch einen Schlag schuldig.« Und mit diesen Worten wandte er wie der Blitz das Pferd, entfernte sich eine gute Speerwurflänge, legte den Speer ein, schloß das Visier und rief: »Sir Kay, verteidigt Euch!« Auch Kay war etwas rückwärts geritten, und für einen Moment standen sie sich Angesicht zu Angesicht gegenüber, dann gaben sie beide den Pferden die Sporen und jagten aufeinander los. Doch im letzten Augenblick bremste Kay den Lauf seines Pferdes ein wenig, und das war ein Fehler seiner Tjostkunst, während Percival ohne zu zögern weiterritt. So hatte Kays Speer seine Stoßkraft eingebüßt und prallte an Percivals Schild ab, während Percival, der wie ein Blitz da herritt, ihn mit dem Speer an der Schulter traf und ihn beim ersten Stoß aus dem Sattel schleuderte. Dann hielt er an und blieb mit eingelegter Lanze im Sattel sitzen und schaute herausfordernd zu den drei anderen Rittern hinüber. »Falls noch jemand Lust hat, mit mir zu kämpfen, wohlan, ich bin be reit!« rief er ihnen entgegen. »Ich bin entschlossen, mein Recht zu verteidigen, neben der Straße auf meinem Pferd zu sitzen und meinen Gedanken nachzuhängen, ohne von einem windigen Ritter wie diesem da beleidigt oder geschlagen zu werden.« 244
Da sagte Gawain plötzlich: »Das ist Percival, ich schwöre es. Er trägt die Rüstung des unverschämten Ritters, der Euch zu Ostern den Kelch gestohlen hat!« »Reitet zu ihm, Neffe, und bittet ihn, herzukommen und mit uns zu sprechen«, sagte der König, und mit einem leisen Lächeln in der Stimme fügte er hinzu: »Aber fragt ihn in aller Höflichkeit!« So ritt Gawain auf Percival zu, und zum Zeichen seiner freundli chen Gesinnung legte er die Lanze nicht ein. »Edler Herr Ritter«, be gann er, »dort drüben steht der König von Britannien. Er würde gerne mit Euch sprechen.« Und als Percival noch einmal zu den Rittern hinüberschaute, be merkte er plötzlich den roten Drachen auf dem Goldgrund und wußte, daß der Träger dieses Schildes kein anderer als der König sein konnte. Und er sagte: »Ich bitte den König um Verzeihung, daß ich einen sei ner Ritter zu Fall gebracht habe. Doch mir selber tut es nicht leid, denn das war ich ihm schuldig für den Schlag, den er am Tage, als ich nach Caerlon kam, der Dame versetzt hat.« »Was Sir Kay betrifft«, sagte Gawain und warf einen kurzen Blick auf den mitgenommenen Seneschall, dessen Sinne allmählich wieder kehrten und der sich auf die Beine hochrappelte, »überall steckt er seine Nase hinein, und so ist er selber schuld, wenn er oft genug eine draufkriegt.« »Dann kann ich also beruhigt sein«, sagte Percival, »denn nun habe ich sowohl gehalten, was ich Sir Kay, wie auch, was ich dem König versprochen habe, denn in der Satteltasche trage ich den gestohlenen Kelch, und das hier ist die Rüstung des Mannes, der ihn geraubt hat.« Und dann ritt er mit Sir Gawain zum König und dem anderen Ritter hinüber, stieg vom Pferd, kniete vor dem Roß des Königs nieder und sagte: »Herr König, hier habt Ihr Euren Kelch wieder. Nehmt mich nun bitte in die Runde Eurer Ritter auf.« Da sagte Gawain, der plötzlich sehr bemüht zu sein schien, die gro ßen Ritterideale hochzuhalten, schnell, aber nicht unfreundlich: »Ei nen Räuber zu erschlagen und den Seneschall des Königs aus dem Sattel zu werfen ist nicht alles, was ein Mann können muß, der Ritter werden oder gar in die Tafelrunde aufgenommen werden will!« 245
Doch der König sagte: »Gawain, ich weiß schon, was ich tue. Sein Name leuchtet bereits auf seinem Sitz an der Tafelrunde; deshalb bin ich ihm auch hierher entgegengeritten.« Und zu Percival sagte er: »Nehmt Euren Helm ab.« Und nachdem Percival den Helm ausgezogen hatte, beugte er sich vom Sattel zu ihm herunter und versetzte dem vor ihm knienden jun gen Mann in der goldenen Rüstung den leichten Schlag auf das Schul terblatt. »Steht auf, Sir Percival von Wales.« Da ritten sie alle zusammen nach Camelot zurück, und Sir Kay, der mit seinen Schürfungen vollauf beschäftigt war, ma chte den Schluß. Und nachdem Percival den ändern Rittern, die im Saal versammelt waren, die ganze Geschichte erzählt hatte und man den fünf Männern aus der Rüstung geholfen hatte und jeder Ritter zu seinem Platz schritt, da leuchtete in der Tat Sir Perciva ls Name in herrlichen Gold buchstaben auf der hohen Lehne seines Sitzes, der zwischen dem Sitz Sir Gawains und dem Gefährlichen Sitz auf ihn wartete. Sir Percival schaute erst den Namen auf dem Sitz und dann Sir Ga wain an, und sein Gesichtsausdruck wurde plötzlich ganz starr. Ga wain, der das bemerkte, sagte mit ruhiger Stimme: »Nun, ich bin Ga wain von Orkney, und dort drüben sind meine Brüder Gaheris und Agravane und Gareth.« Sir Percival schaute die drei an, und sein Gesicht war immer noch angespannt. Die drei Brüder schauten zurück. Und allmählich wurden die Gespräche im Saal leiser. Denn jedermann wußte, daß es nun an Sir Percival lag, ob die alte Fehde wieder aufgenommen würde oder nicht. Und eine geraume Weile wußte Sir Percival selbst nicht recht, wofür er sich entscheiden sollte. Er hatte zwar einst zu seiner Mutter gesagt, die Entscheidung in dem alten Streit solle Gott überlassen werden. Doch nun schien es, daß Gott sie ihm überlassen wollte. Und nach dem drei lange Atemzüge verstrichen waren, entschied er sich. »In Gottes Namen, Ihr Herren – laßt uns Freunde sein!« »Gerne«, sagte Sir Gareth warmherzig. »Herzlich willkommen in unserer Mitte.« 246
»Einverstanden«, sagte Sir Gawain. »Nehmt zum Beweis meine Hand.« »Einverstanden«, sagte Sir Gaheris und schlug mit der flachen Hand energisch auf den Tisch. Und selbst Sir Agravane rang sich ein dünnes Lächeln ab. Damit schien alles gesagt. Doch die ganze Tafelrunde wußte, daß das, was ihr jüngster Ritter soeben gesagt hatte, eigentlich noch mehr bedeuten sollte, nämlich: »Mein Vater hat den Euren getötet und Ihr den meinen, und daran ist jetzt nichts mehr zu ändern. Und deshalb wollen wir nun die alte Fehde auf sich beruhen lassen.« Und jedermann hatte begriffen, daß die Orkney-Brüder eigentlich sagen wollten: »Wir verstehen und wollen den Frieden annehmen.« Später an diesem Tag sagte der König zum Ersten seiner Ritter: »Gawain hatte recht, als er sagte, einen Räuber zu töten und einen Se neschall aus dem Sattel zu werfen mache noch keinen Ritter aus. Doch ich denke, nun hat der Junge zur Genüge bewiesen, daß er den Ritter schlag verdient hat.« »Es ist ihm bestimmt nicht leicht gefallen, den alten Streit beizule gen«, stimmte Sir Lancelot zu. Die beiden gingen durch den schmalen Obstgarten unterhalb der Westmauern, und zwischen den fernen Hügeln ging gerade die Sonne unter, und die ganze Landschaft war in ein rotes Farbenmeer getaucht. Im Gras lagen viele Äpfel, einige hingen auch noch an den Bäumen, die schon fast kahl waren. Als sie durch eine Hintertür in den Garten hinausgetreten waren, hatte die breite Flußschleife noch das rotglü hende Abendlicht widergespiegelt. Doch nun begannen im Tal bereits die ersten Nebel aufzusteigen… Plötzlich sagte Artus: »Erinnert Ihr Euch noch an Merlin?« Lancelot dachte nach. »Ja«, sagte er nach einer Weile, »aber nur noch schwach. Ich habe ihn nur einmal in meinem Leben gesehen, als ich noch ein Knabe war und drüben in Klein-Britannien lebte, lange bevor ich Euer Ritter wurde. Es war Merlin, der mich zu Euch ge schickt hat.« 247
»Er hat mir einmal gesagt – damals, als Ginevra zu mir kam und die Tafelrunde als Mitgift mitbrachte und wir zum ersten Mal als Bruder schaft beisammen saßen -, er hat gesagt, wenn Percival einst zu uns komme, werde es sein, als wenn ein Herold erschiene.« »Ein Herold?« »Also gut – ein Zeichen. Denn seine Ankunft sei das Zeichen, daß binnen eines Jahres das Geheimnis des heiligen Grals offenbart werde – uns Rittern, hier in Camelot. Und das sei der Beginn der Blüte- und Reifezeit des Reiches von Logres. Und dann würden alle Ritter die Tafelrunde verlassen und zum größten aller Abenteuer ausreiten.« »Wir werden uns wiedersehen«, sagte Lancelot, wie um den König zu trösten. »Manche von uns«, sagte der König. »Doch es wird nicht mehr sein, wie es war, nie mehr.« Und er ließ den Blick auf dem feuerroten Lichtstreifen über den westlichen Hügeln ruhen. »Wir werden getan haben, was in unserer Kraft stand. Für Britannien, für das Reich von Logres. Wie haben wir gekämpft und gebaut und versucht, Ordnung zu schaffen. Wir werden unser Ziel erreicht haben: zwischen einer Finsternis und der nächsten eine glänzende Zeit heraufzuführen. Mer lin prophezeite: Es wird sein, wie wenn der letzte rötliche Abend schimmer am Horizont die ganze Welt mit sich nähme. Das wird das Ende sein.« Lancelot sagte: »Unsere Taten werden so hell leuchten, daß sich die Menschen am Ende der nächsten Finsternis wieder an uns erinnern werden.« Die Nebel stiegen, sie krochen an den Stämmen der Apfelbäume hoch, und bald war der ganze Obstgarten wie eingehüllt, und man hät te meinen können, man befinde sich auf einer Zauberinsel. In Artus dämmerte die Erinnerung an Merlins Stimme, die er nach zwanzig Jahren noch genauso gut im Ohr hatte, wie an dem Tage, als er Excalibur erhielt. »Dort drüben in der Ferne – drüben im Westen – liegt Ynys Witrin, die Glasinsel – Avalon, das Land der Apfelbäume, die Schwelle zwischen der Menschenwelt und dem Land der wahrhaft Lebenden…« Und so nah und klar ertönte die Stimme, als ob Merlin wirklich anwesend wäre. »Und ganz in der Nähe liegt Camlann, der 248
Ort, wo die letzte Schlacht stattfinden wird… Doch nein, das ist eine andere Geschichte, und sie wird erst an einem fernen Tage begin nen…« Die Stimme war zuletzt immer leiser geworden, und Artus' Geist kehrte allmählich wieder in den Obstgarten von Camelot zurück, und an seiner Seite stand nicht mehr Merlin, sondern Lancelot. Und die Stimme, die er im Ohr hatte, war wieder seine eigene. »Es wird spät«, sagte er zu Lancelot, »laßt uns zum Festmahl hinaufgehen und den jüngsten Ritter der Tafelrunde feierlich willkommen heißen.«
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Nachbemerkung Im Laufe des 5. nachchristlichen Jahrhunderts – die Geschichtsbü cher pflegten früher das Jahr 410 als genauen Zeitpunkt zu nennen, doch heute wird allgemein angenommen, daß auch nach diesem Jahre noch einige römische Hilfstruppen im Land verblieben – wurden die letzten römischen Legionen aus Britannien zurückgerufen, da sie zur Verteidigung Roms benötigt wurden. Nun mußten die Britannier die Einfalle der Sachsen aus eigener Kraft abwehren. Wenn ihnen das im ganzen auch nicht glückte, so war ihr Widerstand doch so hartnäckig, daß die Sachsen immerhin insgesamt etwa zweihundertfünfzig Jahre brauchten, bis sie das Land endgültig in ihrer Gewalt hatten. Und den westlichen Landesteil haben sie sogar nie ganz zu beherrschen ver mocht. Trotzdem bedeutete der Abzug der römischen Truppen den Beginn der ›finsteren Zeiten‹, die vor allem so genannt werden, weil aus diesen Zeiten nur ganz wenig überliefert ist. In die Anfänge dieser finsteren Zeiten gehört nun auch die Gestalt des Königs Artus. Viele Menschen, wie auch ich selbst, sind heute der Meinung, daß sich hinter den Artus-Legenden eine reale historische Figur verbirgt: nicht ein König in glänzender Rüstung, mit einer Ta felrunde und einem Märchenpalast in Camelot – nein, sondern ein römisch-britannischer Kriegsführer, der zur Zeit der finsteren Barbaren invasion alles tat, was ein großer Feldherr tun konnte, um die Ein dringlinge fernzuhalten und die damalige Zivilisation vor dem Unter gang zu bewahren. Doch wenn diese Heldenlegenden niemals entstanden wären und wenn sich aus der Fülle keltischer Mythologie und mittelalterlicher Folklore die Artus-Sagen, wie sie uns heute bekannt sind, niemals ge bildet hätten, so wäre unser kulturelles Erbe um etwas unendlich Schönes und Magisch-Geheimnisvolles ärmer. Durch alle späteren Jahrhunderte hindurch sind diese Geschichten immer wieder in ver schiedenster Gestalt erzählt worden, am schönsten von Sir Thomas Malory in seinem ›Le Morte d'Arthur‹. 250
In dem vorliegenden Buch habe ich mich vor allem an die Version von Malory gehalten, jedoch ohne ihm in allem sklavisch zu folgen; auch ein Minnesänger wiederholt ja die Lieder, die aus fernen Zeiten überkommen sind, nie vollkommen unverändert. Immer dichtet er hier und dort etwas hinzu oder läßt etwas weg, oder er schmückt aus oder fügt irgendwo ganz Eigenes ein. Außerdem haben einige der Ge schichten in diesem Band andere Quellen als das Buch von Malory. So geht die erste Geschichte, die von Vortigern und Merlin, von Uther und Igraine und vom leuchtenden Drachen am Himmel erzählt, auf die ›Geschichte Britanniens‹ von Geoffrey von Monmouth zurück. ›Sir Gawain und der Grüne Ritter‹ basiert auf einer mittelenglischen Dichtung. ›Geraint und Enid‹ geht auf ein altes walisisches Buch zurück, das ›The Mabinogion‹ heißt. Die Quelle von ›Sir Gawain und die häßliche Dame‹ ist eine mittel alterliche Ballade. Der erste Teil von Percivals Abenteuern knüpft an eine andere alt englische Dichtung an, in welche auch einiges aus der ›Conte de Graal‹ eingeflossen ist, doch der Schluß ist weitgehend meine eigene Erfindung. Und warum auch nicht, wenn doch auch die Geschichte von Beaumains, dem Küchenritter, ganz der Phantasie von Malory entsprungen zu sein scheint? Auf zwei Dinge möchte ich noch hinweisen. Erstens, daß im Mittel alter etwa um zehn Uhr morgens zu Mittag gegessen wurde, während das Abendessen ungefähr um sechs Uhr abends eingenommen wurde. Zweitens, daß es sich bei einer Tjoste um eine Kraft- und Geschick lichkeitsprobe zwischen zwei Rittern handelte; um eine Art Sport, wenn auch um einen sehr gefährlichen Sport. Ein Turnier dagegen war eine Art Scheingefecht zwischen beliebig vielen Rittern, welches oft mals außer Kontrolle geriet, mit dem Resultat, daß viele Ritter dabei den Tod fanden. R. S.
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