ARTUS SAGEN NEU ERZÄHLT VON
ULLA LEIPPE
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ARTUS SAGEN NEU ERZÄHLT VON
ULLA LEIPPE
©Copyright bei Füllhorn-Sachbuchverlag GmbH Stuttgart Lizenzausgabe für die Xenos Verlagsgesellschaft m.b.H. Lottbekheide 17, 2000 Hamburg 65
Titelbild: D’Agostini Innenillustrationen: Friedrich Dohrmann Umschlaggestaltung: Klingenberg Werbeagentur GmbH, Hamburg
VORWORT
Die Sagenkreise, die sich an den Namen des Königs Artus knüpfen, kennen wir fast nur noch aus der großen Dichtung des höfischen Mittelalters, das sich in Italien, Frankreich und Deutschland der Stoffe bemächtigte und das Heldenlied aus wirrer Kampfzeit zu einer Fülle selbständiger Dichtungen, zum Spiegel höfischen Rittertums, verarbeitete. Keltische Feenmotive, die vielfach gebrochene Gralssage, Erinnerungen an die Helden Karls des Großen, inbrünstige Gottsuche – das alles verband sich mit den Lebensformen des Rittertums zu Liebesromanen, Seelendramen, Abenteurergeschichten. Unter der Hand Chrestiens de Troyes, Hartmanns von Aue und des unvergleichlichen Wolframs von Eschenbach fanden sie ihre schönste, ihre glühendste Gestalt. Wer die Romane als Sagen für die Jugend nacherzählen will, muß den roten Faden finden, der sie miteinander verbindet – und ihn selbst dort knüpfen, wo es sich nicht wie bei Wolframs „Parzival“ um eine geschlossene Dichtung handelt. Die frische, unbekümmerte, leidenschaftlich bewegte Fabel und die Helden, die jeder für sich eine Ausprägung des ritterlichen Ideals darstellen, stehen im Vordergrund der Erzählung, und das Spielerische, Draufgängerhafte überwiegt das uns etwas fern gerückte Bild des Rittertums in seiner geschlossenen, ja sozial abgeschlossenen und starr an höfische Gesittung gebundenen Erscheinung. Und schließlich kommt das mitreißende Grundmotiv zu seinem Recht, das sich sonst in der Fülle der Geschichten verliert: Die Brüderlichkeit, Reinheit
und Treue der Ritterrunde, ihr Verrat und der Untergang in einer großartig düsteren, von Schuld und Verhängnis heraufbeschworenen Szene.
KÖNIG ARTUS
König Artus’ Herkunft
Jahrhundertelang erzählte man sich in Europa von dem großen König Artus, der über das Inselland Britannien und über die Bretagne herrschte. Alte Geschichtsschreiber, die noch Wirklichkeit und Sage miteinander vermischten, berichteten von ihm, der etwa zur Zeit König Dietrichs von Bern gelebt haben soll; aber keine Urkunde, kein Tagebuch seiner Hofhaltung, kein königlicher Erlaß ist vorhanden, aus denen wir entnehmen könnten, wann Artus – ja, ob er überhaupt gelebt hat. Die Sehnsucht der Menschen nach einer Herrschergestalt in wirren Zeiten, die Ordnung schafft und die edelsten Männer um sich versammelt, hat sich in seinem Namen verkörpert. Nachdem Jahrhunderte hindurch die Geschichten von König Artus von Mund zu Mund weitergegeben worden waren, ergriffen große Dichter in Frankreich und Deutschland etwa zur Zeit des Kaisers Barbarossa den Stoff und formten ihn zu kunstvollen Verserzählungen. Sie machten Artus zu einem Mann ihrer eigenen, der Ritterzeit, und alles, was sie an ritterlichen Tugenden bewunderten, gossen sie in die Gestalten seiner Tafelrunde. Diesen Dichtern, vor allem Wolfram von Eschenbach und Hartmann von Aue, erzählen wir hier nach, damit noch einmal die bunten Abenteuer und der ritterliche Mannesmut jener alten Tage zu neuem Leben erwachen. In Britannien herrschte König Uterpendragon, das heißt Drachenhaupt. Er war jung und ungestüm, aber er hatte einen
treuen Berater, Merlin, von dem die Leute raunten, daß er Zauberkraft besitze und vieles voraussagen könne, was dem Land in Zukunft beschieden sei. Uterpendragon vertraute dem weisen Merlin in allen Dingen und unternahm nichts Wichtiges, ohne ihn vorher um Rat zu fragen. Aber Merlin war oft nicht zu finden, und manchmal zeigte er sich in seltsamen Verkleidungen, in denen die Ritter ihn nicht und der König erst spät erkannten. Merlin liebte seine eigenen Wege, und Uterpendragon gab ihm alle Freiheit, zu gehen, wann und wohin er wollte. Oft fragte er neugierig: „Merlin, wo bist du gewesen?“ Aber der Zaubermächtige lächelte nur und deutete hinaus, irgendwohin in die weite Welt. „Ich war dort draußen, ich war bei mir selbst.“ Nun begegnete Uterpendragon eines Tages der wunderschönen Arnive, die mit einem seiner Herzöge verheiratet war und ihren Mann treu liebte. Der König wurde von heftiger Zuneigung zu der Frau seines Lehnsmannes erfaßt. Tag und Nacht ging Arnive ihm nicht aus dem Sinn, er war zerstreut, wenn seine Getreuen ihn um Befehle baten, er vergaß, daß er sein Reich gegen Feinde zu schützen hatte. Unter vielen Vorwänden holte er den Herzog und seine Frau an den Hof und warb mit Blicken und Geschenken um die Gunst Arnives. Als sie erkannte, daß der König sie liebte, erschrak sie sehr: Wie sollte sie dem Mächtigen widerstehen? Im geheimen vergoß sie manche Träne, denn sie wußte wohl, daß Uterpendragon versuchen würde, ihren Mann, den Herzog, von ihr fernzuhalten; sie mußte sogar fürchten, daß er ihm nach dem Leben trachte, um sie zu erringen. Und so kam es auch. Bei einem Fest im Schloß des Königs bevorzugte Uterpendragon die schöne Arnive so auffällig, flüsterte ihr heiße Liebesworte zu und bestürmte ihr Herz mit vielen süßen Versprechungen, daß sich Arnive nicht mehr zu helfen wußte. Bedrückt berichtete sie ihrem Gemahl von der Kränkung, die
ihm hier am Königshof widerfuhr, und bat ihn, noch in derselben Nacht mit ihr davonzuziehen. Grollend brach der Herzog auf – zornig blieb der König zurück, und seine Ritter empörten sich über den Lehnsmann, der es wagte, den König zu beleidigen und von seinem Fest zu verschwinden. Wochen gingen ins Land, unruhig und unwirsch schien der König, und sein Gefolge schob die üble Laune auf seinen Zorn auf den Herzog. Da rieten sie ihm, Arnives Mann Krieg anzusagen, zur Rache für die Beleidigung, und Uterpendragon war so verblendet, daß er einwilligte. Sein Heer sammelte sich und zog vor die stark befestigte Burg Tintajol, in der Arnive mit ihrem Mann lebte. Doch der Herzog fand viele Bundesgenossen, und die Belagerung zog sich in die Länge. Abend für Abend saß der König grübelnd in seinem Zelt, geplagt von schlechtem Gewissen und doch unfähig, von seiner Sehnsucht nach Arnive zu lassen. In seiner Not sandte er nach Merlin, doch keiner der Boten, die er in alle Himmelsrichtungen schickte, fand den Weisen. Eines Abends aber stand Merlin plötzlich vor ihm. „Ich weiß, was dich quält. Arnive begehrst du. Ich schaff’ dir Arnive her. Gib du, was ich fordre.“ „Was immer du verlangst, Merlin, ich verspreche es dir.“ „Arnive erringst du, noch heut’ wird sie dein. Den Sohn mußt du lassen. Ich fordre den Sohn.“ Ach, was kümmerten den König jetzt künftige Söhne! Unbedenklich versprach er Merlin den ersten Sohn, den Arnive ihm schenken würde. Merlin verwandelt den König in die Gestalt des Herzogs, brachte ihn ans Burgtor und sah zu, wie Uterpendragon nun willig eingelassen wurde. Arnive empfing den Mann, den sie für den ihren halten mußte, mit heftigen Tränen: „Ach Liebster, in welche Not sind wir geraten! Und alles ist um meinetwillen so gekommen!“ Der falsche Herzog blieb die
Nacht bei ihr und ging erst bei Morgengrauen davon. Der rechte Herzog aber fand in dieser Nacht den Tod vor den Wällen seiner Burg, als er einen verzweifelten Ausfall gegen die Belagerer machte. Merlin erwartete den König und ließ ihn ein Bad in einer Wunderquelle nehmen – da erhielt er seine Gestalt zurück. Der Herzog war tot, seine Leute ergaben sich, und der Krieg hatte ein Ende. Uterpendragon warb jetzt offen um Arnive, und weil sie ihm nun ohne Schutz ausgeliefert war, nahm sie schließlich seine Hand an und lebte als Königin an seiner Seite. Uterpendragon tat alles, was er vermochte, um sie das Leid vergessen zu lassen, das er selbst ihr zugefügt hatte, und als Arnive spürte, daß sie ein Kind haben sollte, wurde sie wieder fröhlich. Aber der Knabe, den sie zur Welt brachte, wurde ihr genommen. Uterpendragon hob das Kind empor, küßte es heftig und sprach: „Arnive, wir dürfen ihn nicht behalten. In einer dunklen Stunde habe ich versprochen, ihn fortzugeben. Aber tröste dich, ich gebe ihn in gute Hut.“ Wie sollte sich wohl die Königin trösten, der man ihr Kind nahm! Sie fügte sich, aber sie mußte immer einen Schauder überwinden, sooft sie Uterpendragon sah. Als der König mit dem Knaben aus dem Zimmer trat, stand, wie aus dem Boden gewachsen, ein alter Bettler vor ihm: „König, nun gib mir, was du mir gelobt hast!“ Schweigend reichte Uterpendragon ihm das Kind. Der Bettler sprach: „Tröste dich, König, dein Sohn ist berufen. Ein mächtiger König, schützt er dein Reich.“ Uterpendragon sah ihm nach – Reue und Hoffnung stritten in seiner Brust. Merlin brachte das Kind zu einem Dienstmann des Königs und gebot ihm, den Knaben wie seinen eigenen aufzuziehen, ihn jagen und reiten zu lehren.
„Das Kind heißt Artus. Hüte ihn gut! Mehr sollst du nicht wissen.“ So wuchs Artus im Hause des Dienstmannes auf, ahnte nichts von seiner hohen Geburt, wurde zärtlich geliebt von den Pflegeeltern und lebte in brüderlicher Eintracht mit deren Sohn Keie. Uterpendragon und Arnive bekamen ein zweites Kind, die Tochter Sangive. Sie wurde später die Frau des Königs Lot von Norwegen und die Mutter des strahlenden Helden Gawan, von dem noch viel zu erzählen ist.
Das Reich ohne Herrscher
In den folgenden Jahren hatte Uterpendragon manchen Krieg um das Land mit den Heiden zu führen, denen das christliche Reich ein Dorn im Auge war. In schweren Kämpfen verteidigte er Glauben und Herrschaft, aber er verlor sein Leben dabei. Zu Tode verwundet lag er auf der Bahre, da trat noch einmal Merlin zu ihm. Er kannte des Königs tiefste Sorge: Wer sollte jetzt das Reich schützen? Wo war der starke Arm, dem sich die Großen des Landes fügen würden? Merlin beugte sich über den Sterbenden: „König, sei ruhig. Es lebt dir ein Sohn. Gerecht ist und kühn er, zum Herrscher berufen. Er sorgt für den Frieden, er sorgt für das Volk.“ Mit seinem letzten Lächeln dankte Uterpendragon dem treuen Berater, dann schloß er für immer die Augen. Die Lehnsleute wollten sofort einen neuen König wählen, damit das verwaiste Land nicht die Überfälle der Heiden auf sich ziehen sollte. Aber Merlin gebot ihnen Geduld: „Ein Wunder enthüllt euch den kommenden Herrscher. Gott selbst wird euch geben den mächtigen Herrn.“
Sie sahen ihn zweifelnd an, aber sie gehorchten und spähten nur überall nach Zeichen, die ihnen den neuen König verraten sollten. An einem Sonntagmorgen im Winter, als Eis und Schnee die Straßen bedeckten, schritt ein Zug von Rittern aus der Kathedrale, in der sie die Messe gehört hatten. Da standen sie staunend vor einem gewaltigen Felsblock, der sich plötzlich vor der Kirche erhob. Ein Schwert steckte im Stein, und eine Tafel verkündete: „Wer das Schwert aus dem Stein zieht, wird König von Britannien.“ Sie traten heran und griffen nach dem Knauf, rüttelten und zogen – aber das Schwert zitterte nicht einmal. Entmutigt ließen sie ab, beschämt, daß sie nicht imstande waren, die geforderte Tat zu vollbringen. Auch Leute aus dem Volk wollten sich unter dem Gelächter der Ritter daran versuchen,
aber das Schwert widerstand, niemand schien zum König berufen. Schließlich wandten sie sich ab und zogen, Ritter und Bürger, hinaus zum Turnier, das für diesen Tag angesetzt war.
Auch Keie ritt zum Turnier, und Artus, der sechzehn Jahre alt war, trug ihm die Waffen. Vor dem Tor merkte Keie, daß er vergessen hatte, sein Schwert umzugürten, und er bat Artus, es ihm zu holen. Der lief in die Stadt zurück, sah den großen Block mit dem Schwert darin und dachte, das könne er ja Keie bringen. Er trat zum Block, faßte den Knauf, und das Schwert glitt von selbst aus dem Stein und lag ihm in der Hand. Er lief Keie nach, um ihm die Waffen zu bringen, da strahlte das Schwert so hell, daß alle aufmerksam wurden und den Knaben fragten, woher er es habe. Artus sagte: „Es steckte in dem Stein auf dem Domplatz.“ „Aus dem Stein vor der Kathedrale? Das kann nicht sein! Das Schwert steckt so fest im Block, daß keiner der starken Herren es auch nur ein Stückchen bewegen konnte! Und du junger Geselle willst es herausgezogen haben?“ Sie nahmen Artus in die Mitte, führten ihn eilig zum Platz zurück und ließen ihn das Schwert in den Stein stoßen. Fest saß es wieder darin, und keiner der Männer, die nacheinander herantraten und es herauszuziehen versuchten, konnte es bewegen. Dann ergriff Artus wieder den Knauf, und nun sahen alle, wie das Schwert willig aus dem Stein ihm in die Hand glitt! Sie wunderten sich und ärgerten sich: Sollte dieser einfache Knabe, gewiß keines Königs Sohn, ihrer aller Herr sein? Sie nahmen ihm das Schwert aus der Hand und wendeten es nach allen Seiten. „Escalibor“ stand darauf geritzt, aber dieser Name, den das Schwert trug, half ihnen auch nicht weiter.
Nun erhob sich ein wilder Tumult, die Herren riefen: „Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen!“ Die Bürger frohlockten: „Einer aus unserer Mitte! Er wird die übermütigen Fürsten ducken!“ In dem Aufruhr stand nur einer still – Artus. Verwundert sah er in die Menge, seine Hand hielt das schimmernde Schwert. Von dem Lärm beunruhigt, trat jetzt der Bischof aus seinem Hause, gebot Ruhe und ließ sich berichten, was geschehen war. Dann hallte seine Stimme über den Platz: „Gott selbst hat gesprochen! Er hat diesen Knaben zum König berufen! Beugt euch, Ihr Herren!“ Aber sie rissen die Schwerter aus den Scheiden, sie klirrten mit den Waffen, sie schrien und bedrängten Artus. Da sprach der Bischof wieder: „Schämt euch, daß Ihr dem Zeichen des Herrn nicht vertraut! Dieser Knabe hier ist euch zum Herrscher bestimmt! Aber wir wollen mit der Krönung bis zum Pfingstfest warten – bis dahin gebiete ich euch Ruhe zu halten!“ Er trat zu Artus und bat ihn, ihm das Schwert zu überlassen: „Bis zu dem Tage, an dem Ihr zum König gekrönt werdet, will ich das Zeichen Eurer Berufung hüten!“ Artus übergab ihm willig die Waffe und kehrte ruhig ins Haus des Dienstmannes zurück, wo Keie ihn mit großen Augen ansah. Wenn die beiden in den folgenden Monaten zu Spiel und Turnier ausritten, war es jetzt Keie, der Artus die Waffen trug… Auch die Pflegeeltern begannen Artus „Herr“ zu nennen, und an die Stelle der warmen, mütterlichen Liebe, mit der die Frau des Dienstmannes ihren Pflegesohn umgeben hatte, trat allmählich eine fremde Scheu, die Artus nachdenklich machte. Er hielt sich jetzt oft fern von allen Menschen und versuchte, sich ein Leben als König vorzustellen.
Vergebens spähten die Großen des Landes nach Hinweisen auf einen anderen Herrscher aus – auch der Ehrgeizigste unter ihnen vermochte nicht auf irgendein Zeichen der Berufung hinzudeuten. Am Pfingsttag strömten sie in die Kathedrale, wo Artus unter dem Jubel des Volkes und dem unterdrückten Murren der Fürsten zum König gesalbt wurde. Er kniete vor dem Altar und gelobte, seinem Reich ein gerechter Herrscher zu sein, den christlichen Glauben zu schützen und zu verbreiten und niemals zu vergessen, was er dem Lande schulde. Dann richtete er sich hoch auf, erhob das leuchtende Schwert und stand so herrscherlich und kühn vor der Versammlung, daß jeder erkennen mußte, wie edel der Pflegesohn des Dienstmannes war. Nun zog Artus in die Königsburg ein und mußte lernen, die vielen Fragen zu entscheiden, mit denen die Menschen seines Reiches ihn bestürmten. Merlin stand ihm mit Rat zur Seite, und Keie, den er zu seinem Hofmeister machte, brachte mit barschem Wort jeden zum Schweigen, der seinen Herrn nicht gebührend achtete. In diesen ersten Zeiten von Artus’ Herrschaft gewöhnte sich Keie, von dem wir noch oft erzählen werden, eine strenge Miene an, Zucht und Ordnung am Hofe gingen ihm über alles, leidenschaftlich verteidigte er die Würde seines Königs. Und freilich war das nötig. Zwar lief alles Volk begeistert zusammen, wenn Artus durch die Straßen ritt, aber die Großen des Landes hatten sich noch nicht damit abgefunden, daß ihnen jetzt ein König von unbekannter Herkunft gebot – mancher von ihnen ging außer Landes, andere dienten nur widerwillig dem neuen Herrn. Da griff Merlin ein. Seltsame Wunderzeichen ließ er die Herren sehen, und als auch das noch nicht half, sie von Artus’ göttlicher Berufung zu überzeugen, trat er eines Tages vor die
Hofgesellschaft und sprach: „Ihr glaubt nicht den Zeichen. Ihr glaubt nicht dem Wunder. So glaubt diesem Siegel!“ Er zog seine Pergamentrolle aus seinem Gewand, die von König Uterpendragon selbst unterzeichnet und gesiegelt war und alles berichtete, was mit Artus’ Geburt zusammenhing. Laut las Merlin die Urkunde vor, dann drängten sich die Ritter um ihn und betasteten das Siegel, und nun erst waren sie bereit, aus ehrlichem Herzen Artus die Treue zu halten. „Artus ist Uterpendragons Sohn!“, so lief die Kunde durchs ganze Land. Artus aber ließ sich sogleich zu Arnive führen und verneigte sich vor der Frau, die seine Mutter war. Sie schloß ihn heftig in die Arme und weinte um die verlorenen Jahre. Dann ergriff sie die Hand ihrer Tochter Sangive und legte sie in Artus’ Hand: „Sie ist deine Schwester. Noch trägt sie Trauer um euren Vater, aber nun darf sie unter dem Schutz eines starken Bruders auf ein fröhlicheres Leben hoffen. Du wirst ihr den Gatten aussuchen, der ihrer ebenbürtig ist!“ ∗ Vertrauensvoll lächelte Sangive den neugefundenen Bruder an – und Artus sprach: „Du wirst mich vieles lehren müssen, Schwester, was ich bisher nicht gekannt habe; ich weiß nicht, wie man mit edlen Damen umgeht, und Reigentanz und Lautenspiel habe ich nie kennengelernt. Nun erst, scheint mir, bin ich ein richtiger König, der eine erfahrene Mutter und eine liebliche Schwester als Zierde seines Hofes hat!“
∗
Möglicherweise auftretende Unterschiede in den verwandtschaftlichen Verhältnissen gegenüber anderen Darstellungen erklären sich aus der Vielzahl der Überlieferungen.
Hilfe für König Leodegan
Aber Artus hatte wenig Zeit, an Spiel und Tanz zu denken, denn überall an den Grenzen bedrängten die Heiden sein Land, und immer aufs neue ritt Artus mit seinen Getreuen zu gewaltigen Kämpfen, in denen er seine Grenzen befestigte. Artus war jung, mutig und draufgängerisch, seine Ritter wie er – und wo sie kämpften, siegten sie auch. So strahlte Artus’ Name bald in vollem Glanz des Ruhms und lockte immer mehr kühne Ritter herbei. Einige Jahre vergingen mit Kriegen an allen Grenzen. Nur ein festliches Ereignis unterbrach die Kämpfe: die Hochzeit Sangives mit König Lot von Norwegen. Zum erstenmal war der Artushof der Mittelpunkt eines glanzvollen Festes. Von weither kamen die Ritter mit ihren Damen nach Tintajol, wo der König am liebsten Hof hielt. In tausend bunten Farben schimmerten die Gewänder der Frauen, das Licht der Kerzen spiegelte sich in den Ritterrüstungen, die an den Wänden aufgehängt worden waren. Und bei diesem Fest gründete König Artus auf Merlins Rat die berühmte Tafelrunde. Ihr sollten die besten und ritterlichsten Männer angehören, und keiner unter ihnen durfte sich über den anderen erheben: Deshalb waren alle Plätze um eine große runde Tafel angeordnet, und der König saß, auf leicht erhöhtem Sitz, mitten zwischen ihnen allen. Von diesem Tage an war es eine hohe Ehre, in König Artus’ Tafelrunde berufen zu werden. Hundertfünfzig Ritter gehörten ihr an, und jeder von ihnen hatte gelobt, überall und zu jeder Stunde bereit zu sein, den Bedrängten zu helfen, und wenn das eigene Leben dadurch in Gefahr geriete. Das Volk, über das Artus herrschte und dessen Sorgen er so gut aus den Jahren kannte, in denen er selbst als
einer von ihnen gelebt hatte, verehrte die Ritter der Tafelrunde, von denen Artus hohe Zucht verlangte: Sie durften nicht auf der Jagd über reife Kornfelder reiten, nicht wahllos den Bauern das Vieh wegfangen, wenn es ihnen gerade in den Sinn kam. Junge Mädchen aus allen Ständen waren sicher vor dem Übermut der Herren, denn Artus bestrafte jeden schwer, der eine Jungfrau kränkte oder mit Gewalt zur Liebe zwingen wollte. Wo ein Streit ausbrach, war Artus bereit, ihn zu schlichten, und der Ruf seiner Gerechtigkeit breitete sich über das ganze Land aus. So kehrte nach Jahren, in denen das Volk von der übermütigen Ritterschaft geplagt worden war, endlich Ruhe im Reiche ein, und da auch der äußere Friede durch Artus’ Heer gesichert war, blühte sein Reich auf. Aber eines fehlte dem jungen Herrscher: Noch keine Frau hatte sein Herz gewonnen, der Thron war ohne Königin. Da erreichte ihn die Kunde, daß der alte König Leodegan vom Reich Carmelide von seinem Nachbarn schwer bedrängt werde, von dem riesigen Dänenkönig Rion, der durch seine Grausamkeit berüchtigt war: Er pflegte den Besiegten die Bärte auszureißen und sie an seinen Mantel nähen zu lassen! Mit diesem häßlichen Schmuck prahlte er überall, und jetzt hatte er verkündet, daß er nun den schönen Silberbart von Leodegan an seinen Mantel heften wolle! Leodegan hatte keinen Sohn, der sein Reich verteidigt hätte, und das Heer der Feinde, das sich vor seinen Grenzen sammelte, schien unabsehbar groß. Da kam ihm Hilfe von Artus, der mit allen Rittern und seiner ganzen Heeresmacht Leodegan zu Hilfe eilte. Er traf im rechten Augenblick ein: Schon drangen Rions Männer in das Land, verwüsteten die Felder, raubten die jungen Burschen und die Mädchen, erschlugen, was sich ihnen entgegenstellte, und bahnten sich unaufhaltsam den Weg nach Carohais, der Stadt, in der Leodegans Burg lag. Artus’ Heer zog heran – voran wehte das
Banner, das Merlin gebracht hatte – keiner wußte, woher er es hatte: ein Drache mit langem Schweif, der sich ringelte. Feuer schien aus dem Rachen des Lindwurms zu schlagen, und der Feind, der das Banner aufragen sah, erschrak wie vor einem lebendigen Ungetüm. Merlin selbst hielt es hoch über den Heerhaufen. König Leodegan empfing König Artus mit lautem Dank. Zur Nacht ruhten die Ritter in der Burg von Carohais, am anderen Morgen aber meldeten die Späher, daß der Feind schon nahe vor der Burg läge, und vereint zogen die Heere von Artus und Leodegan ihm entgegen. Da donnerten die Hufe über die Ebene unter der Burg, Feldgeschrei scholl von links und rechts, die Banner wehten – und in einem Augenblick waren die Ritter auf beiden Seiten so in wildem Getümmel miteinander vermischt, daß man kaum Freund und Feind unterscheiden konnte. Viele Männer mußten an diesem Tage ihr Leben lassen, gepanzerte Knappen liefen herbei, um ihre verwundeten Herren unter den Pferdehufen wegzuziehen – es war eine mörderische Schlacht. Oben vom Fenster der Burg aus sah die schöne Ginevra, König Leodegans Tochter, angstvoll auf das Kampffeld hinab – es war unmöglich zu erkennen, welche Seite stärker war, und sie rang kummervoll die Hände. Da ließ ein schrecklicher Anblick sie zu Eis erstarren: Sie sah, wie man ihren Vater gefangennahm, vom Pferd riß und ihm den Helm vom Kopf zog! Vergebens drängten sich seine Getreuen heran, um ihn den Feinden zu entreißen – der Trupp, der ihn gefangengenommen hatte, ließ niemanden hindurch und führte den König im Triumph beiseite. So mußte Ginevra sehen, wie man ihrem Vater die Füße an ein Pferd band und den alten König über den Boden schleifte! Ginevra schrie auf und mit ihr alle Frauen, die sie umgaben. Dann aber brauste wie der Sturmwind König Artus herbei, hell strahlte das Schwert Escalibor, und sausend traf es
die Peiniger des Königs auf Helm und Harnisch. So gelang es Artus ganz allein, Leodegan zu befreien, und Ginevra stammelt ein heißes Dankgebet und erflehte alles Glück der Welt für den Befreier ihres Vaters. Als die Feinde sahen, daß Leodegan gerettet war und daß seine Leute sich immer wütender wehrten, ergriffen sie schließlich die Flucht. Sie ließen Tote und Verwundete im Stich und spornten die Pferde an, um sich in Sicherheit zu bringen. Merlin verwirrte ihnen den Sinn und ließ sie lange in die Irre traben, bis sie endlich in ihr eigenes Land zurückfanden und niemals wiederkehrten. König Rion gab es auf, weitere Bärte zu erjagen – er ließ den scheußlichen Mantel vernichten und biß sich auf die Lippen, wenn nur das Wort Bart fiel.
Artus und Ginevra Wenn auch Leodegan und Artus viele Ritter zu beklagen hatten, die tot auf dem Kampfplatz lagen und von den Knappen unter Wehklagen geborgen wurden, so ritten sie doch ihres Sieges froh in die Burg von Carohais ein. Leodegan überwand die Schmerzen und gebot, ein Festmahl zu richten. Um die Feuer geschart saßen die Helden und erzählten einander, was sie im Kampf erlebt hatten; mit glänzenden Augen hörte ihnen Ginevra zu. Auf einen Wink ihres Vaters erhob sich das Mädchen und hielt Artus ein goldenes Becken mit Wasser hin, damit er sich die Hände vor dem Mahle waschen konnte. Artus sah ihr in die Augen: Wie lieblich war Ginevra! Er vergaß, seine Hände ins Wasser zu tauchen, und sie stand still vor ihm und schlug nur den Blick nieder. Endlich rief einer: „Wie lange wollt Ihr noch
die Jungfrau warten lassen?“ Artus zuckte zusammen und dankte artig für den Dienst. Sie ging errötend hinaus und kam mit einem Becher voll Wein zurück, den sie Artus bot: „Herr, ich danke Euch, daß Ihr meinen Vater gerettet habt! Noch nie sah ich einen Ritter so kühn streiten! Und Euer Schwert strahlte wie ein Feuer!“ Artus nahm den Becher, trank und sah sie dabei unverwandt an.
Leodegan seufzte: „Es ist schlimm, alt zu werden und keinen Nachfolger zu haben! Hätte ich einen Sohn, kräftig und kühn, dann wäre mir nicht bange!“ Keie lachte: „So müßt Ihr Eurer Tochter einen Gatten geben, der kühn und stark ist!“ und er wies auf Artus. Das Artusheer blieb einige Wochen im Lande Carmelide, denn Artus wollte abwarten, ob sich die Feinde wieder gegen
Leodegan erheben würden. Oft konnte er mit Ginevra sprechen, und ihre höfische und kluge Art, ihre Schönheit und die Anmut, mit der sie sich bewegte, gefielen ihm täglich mehr. Dann aber kam eine Nachricht, die ihn zum Aufbruch veranlaßte: In seinem Gefolge war sein Vasall Ban, vom Lande Benoic, und dessen Abwesenheit hatte sich ein heidnischer König zunutze gemacht, um in Benoic einzufallen. Schlimme Kunde drang übers Meer, denn Benoic lag auf dem Festland; verzagt schickte die Königin Boten um Boten mit neuen Schreckensnachrichten, und Artus brach mit seinem Heer auf, um Bans Land zu befreien. Ginevra sprach kein Wort, als sie hörte, daß Artus Abschied nehmen wollte, aber ihr Blick verdunkelte sich und ihre Hände zitterten, als sie sie ihm zum Abschiedsgruß bot. Da bat Artus ihren Vater: „Erlaubt, daß ich Eurer Tochter mit einem Kuß für alles danke, was sie mir hier Freundliches erwiesen hat!“ Er neigte sich zu ihr und umschlang sie zärtlich. Sie lehnte sich an ihn und flüsterte: „Kommt heil aus dem Kampf! Meine Gedanken sind allezeit bei Euch!“
König Ban und seine Frau Elaine
König Artus und die Seinen fuhren übers Meer und ritten, so schnell sie konnten, nach der Burg Trebes, der letzten, die noch nicht von Bans Feinden erstürmt worden war. Hier wartete die Königin Elaine voller Ängste auf die Heimkehr ihres Gemahls. Tag und Nacht stand sie auf dem Turm und spähte nach dem Banner ihres Gemahls aus. Wie erleichtert atmete sie auf, als es endlich inmitten einer großen Reiterschar
auftauchte! Nun wußte sie, daß nicht nur Ban selbst, sondern mit ihm eine gewaltige Heeresmacht gekommen war, um das Land Benoic zu befreien. Die Schlacht von Trebes wurde so mörderisch wie die von Carmelide, aber wieder gelang es Artus und seinen Verbündeten, die Feinde in die Flucht zu schlagen. Dann erst konnte Ban seine Frau begrüßen, die ihn mit großer Zärtlichkeit umarmte. In dieser Nacht empfing Elaine einen Sohn, von dem die letzte Geschichte diese Buches berichten wird. Ein schrecklicher Traum ängstigte Elaine, und als sie ihn am anderen Morgen Ban erzählte, bekannte er erschrocken, daß er denselben Traum gehabt habe. Sie berieten miteinander, und Ban ging zu Merlin, um den Weisen um eine Deutung zu bitten. „Wir sahen im Traum viele wilde Tiere miteinander kämpfen, auf der einen Seite von einem gekrönten, auf der anderen von einem ungekrönten Löwen angeführt. Die Tiere zerfleischten einander mit Klauen und Zähnen. Plötzlich brach aus einem Gebüsch ein Leopard hervor, der dort gelauert hatte. Er stürzte sich wild in das Getümmel, und alle Tiere wichen gehorsam vor ihm zurück. Der gekrönte Löwe aber ging einsam davon. Merlin, wir fürchten, daß dieser Traum Unheil ansagt.“ „Wohl bedeutet er Unheil. Das Unheil ist euch nicht bestimmt. Seinen Lehnsmann bekämpfen wird ein mächtiger König, grimmig treibt ihn der Haß. Dann greift Falschheit zum Schwerte und Falschheit vernichtet das Reich.“ Vergebens bat Ban, die dunklen Worte klarer zu deuten, Merlin schwieg und sah in die Ferne. Merlin nahm Abschied von Artus. „Warum gehst du, mein Freund? Wie soll ich ohne deinen Rat mein Reich beherrschen?“
„Ich suche die ferne Quelle. Ihr Wasser spiegelt ein Antlitz. Ich suche die fremde Geliebte. Das Wasser verrät ihr Gesicht.“ „Wann kommst du zurück, Merlin?“ „Zeit strömt hin wie das Wasser. Ich zähle die Tropfen nicht.“ „Ach, Merlin“, bat König Artus, „laß mich nicht zu lange auf dich warten.“ Merlin hob grüßend die Hand und verschwand so rasch wie immer.
Artus kehrt nach Carohais zurück
Boten ritten auf pfeilschnellen Pferden nach Carohais, um König Leodegan zu melden, daß Artus ihn aufsuchen wolle. Da freute sich Leodegan, und Ginevra suchte ihre schönsten Gewänder und ihren kostbarsten Schmuck heraus; jeden Morgen, wenn sie ihre langen blonden Zöpfe flocht, betrachtete sie sich im Spiegel: „Werde ich Artus gefallen?“ und dann ruhten ihre Hände müßig im Schoß, träumerisch wanderte ihr Blick aus dem Fenster, und vor sich sah sie nur den einen, den strahlenden und kühnen Helden. Als Leodegans Späher meldeten, daß Artus’ Heer gelandet und auf dem Marsch nach Carohais sei, ließ Leodegan die Pferde satteln und ritt Artus mit einem großen Gefolge entgegen. Der Frühling war ins Land gezogen, Lerchenjubel mischte sich in den Klang der Flöten und Schalmeien, die den fröhlichen Ritt begleiteten, und Leodegan dachte: „Es ist die rechte Zeit, einen Bräutigam zu begrüßen.“ Artus umarmte den alten König, und auf dem Ritt nach Carohais erzählte er von der großen Schlacht um Trebes. Ginevra empfing Artus im Saal der Burg und erwiderte zaghaft seinen Willkommenskuß.
Aber in den Tagen, die auf Artus’ Ankunft folgten, sprach der König von Britannien nicht das Wort, auf das Leodegan wartete – er warb nicht um Ginevras Hand. Schließlich fragte der alte König: „Artus, irre ich mich in Euch? Mir schien, daß Ihr meine Tochter liebgewonnen habt, und daß Ginevras Herz für Euch schlägt, müßt Ihr gemerkt haben. Wollt Ihr noch hören, daß ich mir keinen lieberen Schwiegersohn denken kann als Euch, meinen Retter?“ „Versteht mein Zögern, Herr“, antwortete Artus. „Ich glaubte, daß Ihr mein Werben um Ginevras Hand längst verstanden hättet. Aber ich möchte mit der Hochzeitsfeierlichkeit warten, bis Merlin wieder bei mir ist.“ „Und wann kommt Merlin?“ „Ich weiß es nicht. Aber er soll dabei sein, wenn ich Ginevra zu meiner Königin mache.“ Mit diesem Bescheid mußte sich Leodegan zufrieden geben, aber heimlich schickte er Boten aus, die Merlin suchen sollten. Sie fanden ihn nicht, doch als sie bedrückt heim nach Carohais ritten, hielt ein alter Schäfer am Wegrande sie an: „Sagt König Artus, daß der Freund, den er erwartet, zu Pfingsten bei ihm sein wird.“ Sie wunderten sich zwar über die Botschaft, richteten sie aber getreulich Artus aus, und nun trat er vor König Leodegan: „Herr, jetzt bitte ich Euch, mir zu Pfingsten Eure Tochter zur Frau zu geben!“ Das Hochzeitsfest wurde in aller Pracht gefeiert, von weither kamen die Gäste, die Leodegan und Artus eingeladen hatten. König Lot erschien mit Sangive und seinem kleinen Sohn Gawan, der Artus so gut gefiel, daß er versprach, ihn an seinem Hof zu seinem Ritter zu erziehen. Merlin kam, mager und abgezehrt, aber mit geheimnisvoll leuchtendem Blick. Und Morgane erschien, eine Verwandte von Artus, von der es hieß, daß sie über Zauberkräfte verfüge und auf der seligen Insel Avalun lebe.
An das Hochzeitsfest schloß sich ein Turnier an, in dem die Ritter der Tafelrunde gegeneinander und gegen die Gäste stritten und ihre Gewandtheit, ihre Kraft und die Schnelligkeit ihrer Pferde von den vielen schönen Damen bewundern ließen. Merlin hielt sich abseits von dem frohen Getriebe, mit Morgane saß er nachts beisammen und unterwies sie in vielen Geheimnissen der Natur. Immer mehr wollte Morgane wissen, und oft merkte Merlin, daß sie nicht nur Zauber, der zum Guten dient, sondern daß sie auch zerstörende Kräfte kennenzulernen wünschte. Dann aber schwieg er.
„Wo bist du gewesen, Merlin?“ fragte Morgane eines Abends. „Ich suchte den Quell und fand ihn. Ich stand und blickte ins Wasser. Ich sah nichts als mein Gesicht.“ „Und da hast du immer gestanden? Und sonst war nichts?“ „Es kam ein schönes Mädchen. Es kam die Fee Niniane. Ihr Antlitz erschien mir im Wasser. Es leuchtete zart und schön.“ „Und hast du mit ihr gesprochen?“ „Ich habe mit ihr gesprochen. Ich habe sie vieles gelehrt. Die Fee wünscht alles zu wissen.“ „Hast du ihr von deinen Zauberkräften etwas verraten?“ „Ich habe ihr alles verraten. Sie schrieb es auf Pergament.“ „Und nichts hast du für dich behalten?“ „Mein größtes Geheimnis behielt ich. Doch liebt sie mich, soll sie es wissen.“ „Sage mir, welches Geheimnis weiß sie nicht?“ „Sie weiß noch nicht, mich zu halten. Die Fee will in Schlaf mich versenken. Ich werde den Zauber sie lehren.“ Merlin sprach wie im Schlaf – und Morgane erschrak. „Wenn du ihr
das verrätst, bist du ihr Untertan. Sie wird dich verderben. Ach Merlin, kehr nicht mehr zu Niniane zurück! Bleib bei mir!“ „Ich kehre zurück zu der Quelle. Ich muß Niniane erringen.“ Da seufzte Morgane.
Artus herrscht über Britannien
Mit seiner schönen jungen Frau kehrte Artus heim in sein Reich – jubelnd begrüßt von Volk und Fürsten. Er herrschte gerecht und sorgte für Ordnung im Lande. Neue Dome ragten über die Häuser der Städte hinweg, feste Burgen krönten die Berge. Auf Jahre des Friedens folgten immer wieder Kriegszeiten, in denen Artus seine Länder diesseits und jenseits des Meeres gegen die Heiden oder andere Feinde verteidigen mußte. Als der römische Kaiser Lucius Tribut vom Herrscher Britanniens forderte, zog Artus mit seiner ganzen Ritterschaft und vielen verbündeten Fürsten tief in den Süden und schlug Lucius in einer gewaltigen Schlacht. Artus’ Ruhm strahlte über ganz Europa, von weither kamen Könige und Ritter, um als seine Gäste das glänzende Leben am Artushof zu genießen. Händler aus dem Morgenland brachten ihre Seiden und Pelze, denn in Tintajol warteten die schönen Frauen begierig auf neue Kostbarkeiten. Die Goldschmiede boten ihre Ringe und Spangen, Becher und Schalen dar, Waffenschmiede fanden für ihre scharfen Schwerter und mit Eisenspitzen bewehrten Lanzen immer neue Bewunderer. Die Spielleute zogen lange, einsame Wege, ja sie fuhren übers Meer, denn am Artushof wurden sie freundlich aufgenommen, reichlich bewirtet und durften in langen Winternächten am Feuer oder auf dem grünen Rasen im Sommer ihre Lieder und
Geschichten vortragen und zum Reigen aufspielen. Viele Fürsten schickten ihre Söhne zu dem mächtigen König, der sie von Zuchtmeistern in allen ritterlichen Künsten unterweisen ließ, während Ginevra und ihre Mädchen liebevoll für sie sorgten. Auf Tintajol weilte Artus besonders gern, aber lange Monate jedes Jahres war er mit seinem Gefolge unterwegs, um überall in seinen Ländern für Ordnung zu sorgen, Streitfälle zu schlichten und Turniere zu veranstalten, in denen seine und fremde Ritter ihren Mut und ihre Geschicklichkeit vor den Augen der vielen edlen Frauen beweisen konnten. Dann trugen die Pferde, die vom Kopf bis zum Schwanz von einer prächtigen farbigen Decke verhüllt waren, ihre gerüsteten und bewaffneten Reiter: Hell schimmerte das blankgeputzte Kettenhemd, der Waffenrock des Ritters leuchtete, vom Helm wehte ein Helmbusch oder drohte ein hölzernes Wappentier, auf dem Schild glänzten Edelsteine, an der Lanze flatterte das Banner. Hinter ihnen ritten in bequemen Sätteln, die mit Glöckchen verziert waren, die Damen des Hofes, und in das Hufgetrappel, das Klirren und Scheppern der Waffen und Rüstungen mischte sich der helle Klang der Flöten und das Trommeln der Spielleute, die den Zug begleiteten. Auf weiter Ebene ließ Artus dann sein Zeltlager aufschlagen, und in das bunte Gewimmel von Menschen, Reitpferden, Tragtieren und Troßwagen kehrte allmählich Ordnung ein. Neben dem Zeltplatz wurde ein Feld für die Spiele abgesteckt, bei denen sich die Ritter im Buhurt übten, dem Gruppenkampf der Reiter, im Speerstechen, wobei jeder versuchte, seinen Gegner – im Spiel mit stumpfer Lanze – in den Sand zu stechen, oder im Zweikampf mit Schwertern, die freilich bei den freundschaftlichen Wettkämpfen nicht geschärft waren. Und jeden Tag führten die Zuchtmeister die Knaben aufs Feld und ließen sie reiten, fechten, sich im Laufen und Klettern
üben. Die Damen saßen vor ihren Zelten, schauten den Rittern zu und stickten mit Goldfäden wunderbare Muster in herrliche Seidenstoffe. Immer mehr Ritter aus ganz Europa zog der Artushof an sich, und jeder strebte nach der hohen Ehre, in die Tafelrunde aufgenommen zu werden. Manch einer vergaß, wie wir in einer Geschichte hören werden, zu Frau und Kind heimzukehren! Und immer wieder verließ der eine oder andere die Runde, um in fernen Ländern Abenteuer zu bestehen und sich Ruhm zu erwerben. Dann brachte oft ein Spielmann die Kunde von seinen Taten an den Artushof, und wenn der Ritter heimkehrte, gab es ein Fest zu seinen Ehren; lange saßen sie abends beieinander und hörten begierig zu, wenn er seine Erlebnisse berichtete. Es gab noch eine andere Runde, von der man geheimnisvoll raunte: Die Ritter des Grals auf der Burg Munsalvaesche. Auch für die Herren der Tafelrunde war es der höchste Ruhm, der den des Artushofs noch überstrahlte, in die Gralsrunde aufgenommen zu werden, aber es gelang nur ganz wenigen, und von der Suche nach dem Gral wird dieses Buch noch viel zu erzählen haben. Von Kummer und Schmerz blieb auch Artus nicht verschont: Einem Zauberer gelang es, seine Mutter Arnive und später auch seine Schwester Sangive zu entführen. Keiner wußte, wo sie gefangengehalten wurden, Artus ritt mit seinem Gefolge kreuz und quer durch die Lande, immer neuen Spuren nach, aber er fand sie nicht, und niemand konnte ihm sagen, wo die Burg des Zauberers liegen mochte, von der alle Leute raunten, daß dort viele edle Frauen in strenger Abgeschlossenheit leben müßten. Davon wird noch berichtet, wenn die Abenteuer des Ritters Gawan erzählt werden. Ein anderer Kummer für Artus war es, daß Merlin, nicht wiederkehrte, so oft der König auch
seiner bedurfte. An einem Sommerabend erschien ein fremder Sänger am Artushof und erzählte, daß Merlin ihn gesandt habe. „Von Merlin kommst du?“ rief der König. „Wo ist er? Führ’ mich zu ihm!“ Aber der Sänger schüttelte den Kopf: „Herr, ich weiß es nicht. Als ich vor zwanzig Tagen die Burg von Carohais verließ, wo ich lange zu Gast weilte, stand in dunkler Nacht plötzlich eine Gestalt am Wegrand – verhüllt und kaum zu sehen. Keinen Schritt vermochte ich zu gehen, kein Wort zu sagen, ich war wie gebannt. Da sagte eine Stimme: ,Der Sänger soll sprechen am Hofe des Königs. Der Sänger vernehme, was ich ihm gebiete.’ Dann trug mir die Stimme auf, was ich Euch, Herr, überbringen solle und fügte hinzu: ,Es grüßt seinen König der Zauberer Merlin.’“ „Und wie lautet Merlins Botschaft?“ „Herr, ich verstehe sie nicht, sie klingt auch nicht froh. Vielleicht wißt Ihr die Deutung?“ „Sprich!“ „Der Ring wird zerbrechen, die Runde zerstieben. Untreue nagt an der Wurzel des Reichs. Es werden sich hassen, die vordem sich liebten, der Sohn hebt die Waffe gegen den Vater.“ Betroffen saß der König, erschrocken starrten Männer und Frauen den Sänger an. „Weiter weißt du nichts?“ „Nein, Herr, vergebt – anderes ist mir nicht aufgetragen worden.“ Da erhob sich König Artus: „Ihr Herren, sucht mir Merlin! Ich muß wissen, was er mit seinen dunklen Worten meint! Wenn er mir Gefahr verkündet – wie kann ich ihr begegnen, ohne sie genau zu kennen? Ich gebe euch vierzig Tage Frist, um Merlin zu suchen!“ Am anderen Morgen brachen die Ritter nach allen Himmelsrichtungen auf zur ungewissen Suche nach Merlin. Sie fragten jeden einsamen Schäfer und jeden Fischer an einem
See; sie ritten durch die Städte und verirrten sich in riesigen Wäldern – aber sie fanden keine Spur von Merlin. Ritter Gawan ritt allein, in tiefe Gedanken versunken, durch den Wald. Er verehrte Artus, seinen Oheim, mehr als alle anderen und wünschte nichts sehnlicher, als Merlin zu finden und ihn an den Hof zu bringen. Der Tag war schwül und windstill, kein Blatt rührte sich, kein Vogel erhob die Stimme. Da sah Gawan einen blühenden Weißdornbusch stehen, der mit allen Blättern rauschte und geheimnisvoll bewegt wurde, es klang, als ob er flüsterte. Und plötzlich vernahm Gawan eine Stimme: „Gawan, du Treuer, hörst du mich – Merlin?“ Atemlos flüsterte Gawan: „Merlin, ich höre dich, aber ich sehe dich nicht.“ „Nie wirst du mich sehen. Nie kehr’ ich zurück.“ „Was ist geschehen, Merlin, wo bist du? Warum kommst du nicht?“ Gawan blickte wild nach allen Seiten, aber nur der Weißdornbuch rührte und regte sich im totenstillen Wald. „Die Fee Niniane hält hier mich gefangen. Sie bannte in Schlaf mich, im Schlaf ist sie mein. Hier unter dem Weißdorn verrinnt mir das Leben. Sie lernte den Zauber, sie gibt mich nicht frei. Ich schlafe, ich träume. Ich halte umfangen schlafend und träumend die mächtige Fee.“ „Merlin! Merlin, erwach! Merlin, Merlin!“ Von Schrecken geschüttelt schrie Gawan den Namen hinaus, und das Echo warf seinen Ruf zurück. „Merlin! Merlin!“ klang es fern und ferner. Als die Ritter nach vierzig Tagen zu Artus zurückkehrten, hatte niemand eine Spur von Merlin gefunden, bis auf Gawan, und der hatte nur seine Stimme gehört.
König Artus blickte um sich: Von Gold und Silber strahlte der Saal; die Ritter der Tafelrunde saßen brüderlich zusammen, die schönen Frauen waren ihm noch nie so holdselig erschienen wie in diesem Augenblick: Aber einen Herzschlag lang war es Artus, als ob alle Farben zu Grau und Schwarz
verblichen – der Saal mit seinen Menschen schien sich wie in Rauch aufzulösen –, um sich sah Artus öde nächtliche Heide. Dann aber atmete er hoch auf und schüttelte den Bann von sich: „Ihr Herren, Merlin kommt nicht zurück. Seine letzte Warnung verstehen wir nicht. Aber ich weiß, was Merlin uns sagen wollte: Die brüderliche Liebe der Artusritter, ihre Reinheit und Treue, sie gilt es zu bewahren.“ Erst nach vielen Jahren ging Artus der Sinn von Merlins Botschaft schmerzlich auf – davon wird in der letzten Geschichte des Buchs erzählt.
PARZIVAL
Gamuret
Trauer herrschte im Lande Anschaue, als König Gandin in ritterlichem Kampfe sein Leben gelassen hatte. Nun ruhte er in der Gruft seiner Burgkapelle, und sein ältester Sohn saß auf dem Thron von Anschaue. Der neue Herr hatte die Fürsten seines Reiches zu sich rufen lassen, damit sie ihm den Treueid schwuren und ihre Länder aus seiner Hand zu Lehen empfingen. Von überall waren sie herangeritten und hatten die Schilde zum Zeichen der Trauer um den alten König mit der Spitze nach oben getragen. Sie standen im weiten Saal, der junge König saß auf erhöhtem Sitz vor ihnen. Gern gelobten sie ihm treue Gefolgschaft, aber dann trat einer aus ihrer Mitte vor den Herrscher und bat: „Herr, Ihr seid König, und wir werden Euch zu jeder Stunde die Treue halten, wie wir sie Eurem Vater gehalten haben. Aber erlaubt uns eine Bitte: Euch als dem Ältesten ist alles zugefallen, die Krone und aller Besitz. Was wird aus Eurem jungen Bruder Gamuret? Nach unserem alten Recht erbt er nichts, und ärmer ist er als wir alle, wenn ihn Euer gütiges Herz nicht beschenkt. Deshalb bitten wir: gebt ihm ein Stammesgut, das auch ihn zu einem reichen Mann macht und dessen Namen er führen kann!“ Der König lächelte: „Es freut mein Herz, daß Ihr diese Bitte vorgetragen habt – aber sie ist überflüssig, denn gern teile ich alles, was ich besitze, mit Gamuret, meinem liebsten
Gefährten. Einen neuen Namen braucht er nicht, denn er ist wie ich ein Fürst von Anschaue und deshalb ein Anschewin.“ Dankend verneigten sich die Fürsten, und die Augen der alten Königin strahlten vor Freude über ihre lieben Söhne. Aber ungestüm sprang Gamuret vor den König hin: „Herr und Bruder, ich danke Euch für alles, womit mich Eure brüderliche Liebe beschenken will. Aber ich mag nicht ein bequemes Leben von Eurer Gunst führen! Um Reichtum ist mir nicht bange, den will ich mir wohl erwerben! Ich muß in die Welt hinaus, Abenteuer suchen, im Kampf mit edlen Rittern zeigen, was mein Mut wert ist!“ Bekümmert nickte der König: „Ich hab’ es befürchtet, daß ich dich nicht bei mir halten kann, Bruder.“ Gamuret achtete nicht darauf, daß seine Mutter ihr Gesicht abwandte, damit er ihre Tränen nicht sehen sollte. Er bat den König: „Wollt Ihr mir eine Gunst gewähren, dann rüstet mich und meine Knappen so aus, daß wir an fremden Höfen vom Reichtum des Landes Anschaue erzählen können! Gebt mir gute Pferde und Waffen, starke Schilde und eine Rüstung!“ So ging es zu, daß der Tod des alten Königs dem Lande doppelte Trauer einbrachte, denn nicht nur der junge Herrscher und die Mutter ließen Gamuret traurig ziehen, sondern sein Scheiden bedrückte jedermann, weil Fürsten und Ritter, Diener und Mädchen, den fröhlichen jungen Gamuret gern hatten. Und doch ahnte keiner, daß ihn niemand in der Heimat wiedersehen sollte. Auf des Königs besten Pferden ritten sie aus, Gamuret und seine sechzehn Knappen, – die schärfsten Schwerter und festesten Schilde hatte ihnen der Herr geschenkt. Tragpferde folgten dem lustigen Zug mit einer schweren Last von Kostbarkeiten, denn die alte Königin hatte immer noch mehr glänzende Seidenstoffe, Pelzwerk, silberne und goldene Becher und Schüsseln aus ihren Schatztruhen geholt, um sie
ihrem lieben Sohn auf die Fahrt mitzugeben. Sie glaubte, ihr müsse das Herz brechen, als er davonritt – er aber winkte fröhlich zurück und spornte sein Roß: „Auf, meine Gesellen, wir wollen die weite Welt erobern, und nur den allermächtigsten Herren werden wir dienen!“ Auf Gamurets Schild und seinem samtenen Mantel glänzte sein Wappenzeichen – ein schlanker Panther. Aber als er eine Zeitlang von einem Land ins andere geritten war und sich Ruhm und Ehre erworben hatte, diente er eine Weile einem großen Herrscher im Orient, und da änderte er sein Zeichen: Nun prangte ein Anker, aus Hermelin geschnitten, auf der Decke seines Pferdes, und an Schild und Waffen trug er das gleiche Zeichen. Grün war sein Waffenrock, golden die Schnüre, und hell schimmerte der weiße Anker. Wohin er auch kam, gefiel er den Männern und den Frauen: Er war schön und prächtig anzusehen, sprach höflich mit allen, die ihm begegneten, stand in jedem Kampf und in jedem Turnier seinen Mann und half als rechter Ritter den Bedrängten, wo er nur konnte. Überall erklang der Ruhm des Ritters mit dem weißen Anker.
Gamuret und Belakane
Eines Tages kam er auf seiner weiten Fahrt in ein neues Reich, das hieß Zazamank. Es war kein christliches Land, Mohren lebten dort, die ihre heidnischen Götter verehrten. Die schöne Mohrenkönigin Belakane war in großer Not, ihre Burg wurde von einem großen Heer belagert. Sie hatte Haß und Rache auf sich gezogen, als sie einen Ritter verschmähte, der um ihre Hand warb und schließlich dabei sein Leben verlor. König
Kaylet von Spanien führte das Heer der Belagerer, täglich kam es zu blutigen Zweikämpfen vor den Toren der Stadt, und das Feldzeichen der Feinde wehte drohend über der Ebene vor der Burg. Als nun Gamuret in die Stadt geritten kam – mit einem Gefolge von zwölf edlen Jünglingen und den Knappen, die seine Tragtiere mit all den Schätzen führten, die er inzwischen erworben hatte – , staunte das ganze Volk; ein Knabe rannte ins Schloß und berichtete den Männern der Herrscherin, daß ein großer Held eingezogen sei und gewiß Hilfe bringen werde. Da atmete die Königin Belakane auf und hoffte, daß sich endlich ihre Not wenden werde. Freundlich empfing sie den fremden Ritter, in einem langen Gespräch berichtete sie ihm, wie es zu Krieg und Belagerung gekommen sei. „Meine Leute sind tüchtig und tapfer, aber das Heer der Feinde ist zu groß – seht nur hin, wie es wimmelt von Zelten und Pferden! Wenn Ihr für mich kämpfen wollt, bin ich Euch allezeit dankbar. Und ich glaube gern, daß Ihr zu streiten wißt!“ Gamuret gefiel ihre höfliche und edle Art, und er dachte bei sich, daß dunkle Haut und fremder Glaube die Schönheit einer Frau nicht verdunkeln. Sie aber seufzte heimlich, denn der schöne junge Ritter nahm schon ihr Herz gefangen. Als sie nun den Abendtrunk bringen ließ und ihm damit das Zeichen zum Aufbruch gab, verabschiedete er sich mit dem Versprechen, seinen Mut und die Stärke seiner Arme und Waffen für sie einzusetzen. Am anderen Morgen ritt der junge Held auf die Ebene hinaus, die vom Kampf vieler Tage zerstampft war. Hell leuchtete das Grün seiner Kleider in der heißen Sonne – und schon kam ihm ein feindlicher Ritter entgegengesprengt. Da gab es kein Bedenken – Gamuret wandte sein Pferd gegen den Fremden, und bald krachten Schild und Speere unter wuchtigen Stößen.
Gamuret blieb Sieger, aber sofort stellte sich ihm ein neuer Gegner zum Streit. Auch Gamurets Männer und die Streiter aus Zazamank warfen sich in den Kampf, daß die Ebene bald von Kampfgeschrei und Schwerterklang hallte. Mancher mußte sein Leben lassen, aber wer sich ergab und versprach, künftig Frieden zu halten, wurde geschont und gefangen ins Lager gebracht. Da sah Gamuret einen Ritter heransprengen, von dessen Helm ein Straußenvogel wehte, und er wußte, daß es Kaylet, der König von Spanien und sein eigener Vetter, sein mußte. Mit ihm wollte er nicht kämpfen, darum bat er einen Gefangenen, Kaylet zum Frieden zu überreden. Das Heer der Belagerer hatte so viele Recken verloren, daß man gern auf weiteren Kampf verzichtete. Gamuret zog mit seinen Leuten und den Gefangenen in die Burg ein, und nach ihm drängte das ganze Volk der Stadt, jubelte ihm zu und feierte ihn als Helden. Belakane, die dem Kampf vom Fenster aus zugesehen hatte, führte ihn freudestrahlend zu einem Sitz. Sie nahm ihm mit eigener Hand die Waffen ab und ließ ihm einen Becher reichen, damit er seinen Durst stillen konnte. Auch den gefangenen Fürsten bot sie höflichen Willkomm, und es war ihr recht, daß man den König von Spanien, Kaylet, ins Schloß holte, wo Gamuret ihn als Vetter begrüßte und die Königin bat, den alten Streit zu vergessen und Kaylet freundlich aufzunehmen. „Ich tu es gern“, sagte Belakane, „denn wie könnte ich Euch, Gamuret, eine Bitte abschlagen? Ihr habt mich von Sorgen und Leid befreit, Euch gehört jetzt mein Land und, wenn Ihr sie nicht verschmäht, auch meine Hand.“ Gamuret verneigte sich vor der schönen Frau: „Ich danke Euch, Herrin, und ich weiß nichts Lieberes, als Euer Gemahl zu werden.“ Da jubelten alle, die im Saal waren, und begrüßten Gamuret als ihren König. Sie feierten eine prächtige Hochzeit, während unten auf der Ebene die Belagerer ihre Zelte räumten
und mit Hab und Gut davonzogen. Gamuret beschenkte seine Knappen und die Männer von Zazamank, die der Königin so lange treu beigestanden hatten, aus seinen Schätzen und aus den Schatztruhen Belakanes, denn ein rechter Ritter belohnt und schenkt gern. Nun war er also König eines großen Reiches, aber um sich sah er außer seinen eigenen Männern tagaus, tagein nur fremde, dunkle Gesichter. Es war ihm auch leid, daß Belakanes Volk an seinen alten Götzen hing, und allmählich begann er, sich nach einem Land zu sehnen, in dem Glocken läuteten und ein Priester die Ritter segnete. Er war noch zu jung und abenteuerlustig, um lange an einem Ort stillzusitzen – und so kam es, wie es kommen mußte: er wollte fort. Weil er aber Belakane sehr lieb hatte, fürchtete er sich vor ihren Tränen und Vorwürfen beim Abschied, und deshalb zog er heimlich davon. In dunkler Nacht ließ er seine Schätze, seine Pferde und Waffen, seine Knappen und Junker in ein Schiff bringen, dann stahl er sich davon. Er ließ nur einen Brief zurück, in dem er seine Frau um Verzeihung bat und ihr erklärte, daß er ihr lieber und inniger angehören würde, wenn sie sich taufen ließe. „Wenn du einen Sohn von mir erhältst, laß ihn wissen, daß sein Vater selbst aus königlichem Hause stammte. Er braucht sich seiner Verwandtschaft nie zu schämen. Laß ihn ritterlich erziehen, bis ich wieder zu euch komme.“
So zog Gamuret auf neue Abenteuer hinaus und ließ seine Frau in vielen Tränen zurück. Sie bekam einen Sohn, der war ganz sonderbar gefleckt: weiße und dunkle Stellen wechselten sich auf seiner Haut ab.
Sie nannte ihn Feirefiß und erzog ihn zu einem Ritter, der seinesgleichen nicht hatte: so tapfer und stark, so freigebig und mächtig wurde Gamurets Sohn, als er herangewachsen war. Aber seinen Vater sollte er niemals sehen.
Gamuret und Herzeleide
Das Schiff führte Gamuret und seine Leute übers Meer nach Spanien, denn Gamuret wollte seinem Vetter Kaylet folgen, fand ihn aber nicht und zog seinen Spuren nach. Nach langer Fahrt gelangte er endlich in das Land Waleis, wo die schöne Königin ein großes Turnier ausgerufen hatte. Von weither kamen die Ritter und Fürsten herangezogen, mächtige Herren, die mit großem Gefolge ritten und einander an Pracht zu übertreffen suchten. Sie gedachten in Waleis nicht nur Ruhm und Ehre zu erwerben, sondern hofften, die Hand der Königin zu erhalten, denn sie hatte sich selbst als Preis für den Sieger gelobt: den Tüchtigsten und Mutigsten von allen wollte sie als Gatten auf den Thron erheben. Gamuret vernahm die Kunde, als er sich der Stadt der Königin näherte. Er sah das fröhliche Getümmel, sah die Knappen die Pferde striegeln und Schwerter blank fegen, sah sie die Speere glätten und die Helmzier herrichten. Da lachte sein Herz vor Freude: „Hierher hat mich das Glück geführt! Hier gibt es Kampf und Feste! Mein gutes Pferd, morgen werden wir beide zeigen, was wir können! Nichts Schöneres gibt’s, als unter den Augen edler Frauen mit tüchtigen Rittern zu kämpfen!“ Vor der Stadt ordnete er seine Leute zu einem prunkvollen Aufzug: Neben ihm ritt ein Fiedelmann und spielte ein
munteres Lied zum Klappern der Pferdehufe; Flöten klangen dazwischen. Aber dann folgten Trommeln und Posaunen mit solchem Lärm, daß die Bürger der Stadt erschrocken aus dem Morgenschlaf fuhren und an die Türen stürzten: Einen so prächtigen Ritter hatten sie kaum gesehen! Gamuret winkte lachend nach allen Seiten. Er hatte sein rechtes Bein übermütig über den Pferdehals gelegt – aber plötzlich erblickte er die Königin am Fenster ihres Schlosses, und rasch nahm er das Bein herunter. Auf dem weiten Feld, wo die Herren ihr Lager aufgeschlagen hatten, fand er einen Platz, auf dem die Knappen seine kostbaren Zelte spannen konnten. Er befahl ihnen, Fähnchen an die Speere zu heften, mit denen er kämpfen wollte, und singend machten sie sich daran, an hundert starke Speere die Wimpel mit dem Anker zu binden. Gamuret ritt umher und begrüßte Freunde und Fremde, und hier fand er auch seinen Vetter Kaylet und konnte ihm von allem berichten, was er inzwischen erlebt hatte. Nur zögernd erzählte er aber, daß er seine Frau Belakane heimlich verlassen habe, es bedrückte ihn, die edle Königin in Trauer um ihn zu wissen. Da klang ein Ruf durch das Lager: „Warum warten wir mit dem Kampf bis morgen? Laßt uns doch heute schon ein Vorturnier veranstalten, damit wir uns üben!“ Allen war es recht, jeder lief zu seinem Pferd, jeder rief nach den Knappen, damit sie Harnisch, Beinschienen, Helm und Speere brächten. Gamuret sprang in voller Rüstung auf sein Pferd – einen Steigbügel brauchte er nicht! Schnell fand jeder Ritter einen Gegner, den er nur an seinem Wappenzeichen erkennen konnte, weil das Gesicht unter dem Helm verborgen war. Gamuret spornte sein Pferd, ritt in gewaltigem Anlauf den Gegner an und stieß ihm den Speer so heftig gegen den Schild, daß der andere vom Pferd stürzte.
„Gesiegt!“ lachte Gamuret. Beschämt erhob sich der Gestürzte, überließ, wie es sich gebührte, sein Pferd dem Sieger und ging bekümmert davon. Und wieder gab Gamuret seinem Pferd die Sporen, rannte einen neuen Gegner an und stieß auch ihn vom Roß. Immer wilder wurde das Getöse, der Staub wölkte hoch auf, gepanzerte Knappen liefen von allen Seiten herbei, um ihren gestürzten Herren auf die Füße zu helfen und neue Speere zu bringen. Je länger das Turnier dauerte, um so heftiger wurden die Kämpfe, und schon mischte sich heller Schwerterklang in das Krachen der Speere und Schilde. Gamuret mußte sein
erschöpftes Pferd – das ja den schwer gepanzerten Ritter zu tragen hatte – bald gegen ein neues austauschen. „Hütet euch vor dem mit dem Anker!“ rief ein Knappe gellend über das Feld, denn es blieb keinem verborgen, daß Gamuret der stärkste Streiter war. Und auch die Damen, die von fern zusahen und versuchten, im Getümmel ihre Freunde und Verwandten zu erkennen, bewunderten den Ritter im grünen Waffenrock. „Ihm wird der Preis gehören, Frau Herzeleide“, flüsterten sie der Königin zu, „und ich sage Euch, einen besseren Mann werdet Ihr nie wieder finden!“ Als sich der Tag schon neigte und die letzten Sonnenstrahlen auf Schwerter und Rüstungen blitzten, wurde immer noch gekämpft. Aber allmählich lichtete sich das Kampfgetümmel, und mehr und mehr Ritter verließen den Platz, besiegt und ohne Pferde und Waffen. Hundert Speere hatte allein Gamuret vertan! Und immer noch suchte er nach neuen Gegnern, an denen er seine Kraft und Geschicklichkeit beweisen konnte. Da sah er eine kleine Schar heranziehen, deren Wappen ihm nur allzu bekannt war: Der Panther von Anschaue grüßte ihn von Waffenröcken und Feldzeichen! Aber was hatte es zu bedeuten, daß die Fremden ihre Schilde umgekehrt, mit der Spitze nach oben, trugen? War neue Trauer über das Land Anschaue gekommen? Gamuret ritt ihnen entgegen, hob das Visier und gab sich zu erkennen. Da erfuhr er, was mit einem Schlage seine Freude an dem schönen Tag verdarb: Sein Bruder, der König von Anschaue, war auf fernem Kampffeld gefallen, und auch seine Mutter lebte nicht mehr, der Kummer über die Söhne, den gefallenen und den, der ausgeritten und nie wieder heimgekehrt war, hatte sie getötet. „Nun hat mein Anker Grund gefunden“, seufzte Gamuret, „aber der Grund heißt Schmerz und Trauer.“ Das Turnier war beendet. Müde und erschöpft saßen die Ritter in ihren Zelten, manch einer voller Groll, weil das Glück ihm nicht zur Seite
gestanden hatte, andere strahlend vor Freude über ihre Siege. Und viele hörte man den Ritter mit dem Anker loben, denn Gamuret hatte die gewonnenen Pferde an Ritter verschenkt, die nicht reich wie er selbst waren. In Gamurets Zelt ging es stiller zu, denn trübe saß der Held zwischen seinen Freunden. Da meldete ein Knappe die Königin Herzeleide, und die Männer sprangen auf, sie höflich zu begrüßen. Herzeleide kam mit vielen edlen Damen und Herren, aber sie selbst überstrahlte alle durch Schönheit und vornehmes Auftreten. „Ich grüße Euch, Herr Gamuret. Ihr seid der Sieger des Turniers, und künftig der Herr dieses Landes und mein Gemahl.“ Gamuret schwieg. Verwundert stieß ihn Kaylet an: „Warum antwortest du der Königin nicht?“ Langsam erhob sich Gamuret und verneigte sich vor der Königin. „Verzeiht, Herrin, daß ich Euch nicht freudiger begrüße. Aber ich habe eine traurige Botschaft erhalten – mein Bruder ist tot, und meine Mutter auch, die ich so viele Jahre nicht gesehen habe!“ Die Königin sagte: „Ich verstehe Euren Kummer, und als Eure Frau will ich ihn aus treuem Herzen mit Euch tragen.“ Wieder blieb Gamuret stumm, und wieder mahnte ihn Kaylet, Herzeleide zu antworten. Endlich faßte Gamuret sich ein Herz und begann: „Verzeiht noch einmal, Herrin. Ich kann Euer Gemahl nicht werden, denn ich habe eine Frau, die Königin Belakane von Zazamank.“ Da riefen die Ritter: „Sie ist ja eine Mohrin und dir nicht christlich angetraut! Sie ist nicht dein Weib – Herzeleide wird es sein.“ Aber Gamuret meinte: „Die Königin hat sich dem Sieger des Turniers gelobt – aber das Turnier soll ja morgen erst stattfinden, heute haben wir doch nur unsere Waffen geübt!“
Die Königin war tief errötet und schwieg nun auch. Aber die Herren waren anderer Ansicht: „Das Turnier kann nicht mehr abgehalten werden, denn wir alle sind müde, unsere Speere sind verbraucht, unsere Pferde erschöpft, und wer heute Sieger ist, hat das Turnier gewonnen!“ „Ich will die Fürsten des Landes zu einem Rat berufen“, erklärte Frau Herzeleide. „Sie sollen urteilen, ob Gamuret Sieger des Turniers ist. Ich bitte Euch, wartet hier, bis der Schiedsspruch gefallen ist.“ Gamuret versprach es, und die Königin nahm Abschied mit ihrem Gefolge. Gamuret aber lag die lange Nacht wach und dachte an Belakane und daran, daß er ihr, die schon soviel Kummer um seinetwillen erlitten hatte, nun vielleicht noch schlimmeres Leid zufügen müßte. Am anderen Tag versammelten sich alle zu einer Messe und begaben sich dann in einen großen Saal, wo die Fürsten über das Turnier entscheiden sollten. Noch einmal erklärte Gamuret, daß er ein Weib im Mohrenlande habe und daß er nicht Sieger des wirklichen Turniers sei. Aber der Schiedsspruch lautete: „Wer hier den Helm aufgesetzt hat, hat auch am Turnier teilgenommen, denn ein weiteres wird nicht stattfinden. Kaum ein Ritter hat noch rüstige Pferde und genügend Waffen, um noch einmal den Kampf zu beginnen. Gamuret ist der Sieger, und der Sieger muß den Preis entgegennehmen.“ Die Königin trat freundlich auf den traurigen Gamuret zu: „Herr, Ihr seid mein, Ihr habt es gehört. Laßt die Mohrin fahren, denkt nicht mehr an die Frau, die Euch nicht christlich angetraut werden konnte. Ihr seid der tapferste Ritter, und der soll über mein Reich Waleis herrschen!“ Da bat Gamuret um ein wenig Zeit, um sich zu bedenken, und sie wurde ihm gewährt. Er blieb in Waleis, und allmählich verlor sich seine Traurigkeit. Die Vögel sangen, der Rotdorn blühte an allen Wegen, die schönen Frauen und edlen Ritter
grüßten ihn voll Ehrerbietung, und Frau Herzeleide war so schön und so freundlich zu ihm – da gewann sie Gamurets Herz, und er vermählte sich ihr in einem prächtigen Hochzeitsfest. „Ich will diesem Lande ein fröhlicher König sein“, versprach Gamuret. „Und ihr, meine Getreuen aus Anschaue, laßt nun auch den Kummer. Kehrt eure Schilde wieder aufwärts, reitet heim und berichtet von mir. Will’s Gott, so werde ich bald heimkommen und mein Erbe in Anschaue übernehmen. Ach, ich wollte, daß es nicht nötig wäre und daß mein Bruder noch am Leben wäre!“ Und er ließ den Anker von seinem Wappen entfernen und trug nun wieder den Panther von Anschaue. Ein paar Monate lebte er fröhlich an Herzeleides Seite, war seinem Volk ein guter Herr und freute sich über das fröhliche, reiche Leben ringsum und über seine schöne Frau, die ihn herzlich lieb hatte. Aber eines Tages hörte er, daß ein König in fernem Land, dem er einstmals gedient hatte, in schwere Bedrängnis geraten und von vielen Feinden belagert sei. Da bat er Herzeleide, ihn ziehen zu lassen, damit er dem einstigen Herrn zur Hilfe kommen könne. Herzeleide wußte, daß sie es ihrem jungen Gemahl nicht abschlagen konnte, aber sie weinte heimlich viele Tränen. So zog er davon, und diesmal ritt er nicht munter und hochgemut von dannen, sondern wandte sich viele Male um und blickte nach dem weißen Tuch, das Herzeleide vom Fenster ihres Schlosses wehen ließ. Sie blieb mit schwerem Herzen zurück, und vergebens versuchten die Freundinnen, sie zu erheitern. Lange, lange kam keine Nachricht, aber eines Morgens, als die Königin gerade aus schwerem Traum erwacht war, ritt Gamurets liebster Knappe in die Burg ein, verlangte, die Königin zu sprechen, und brachte ihr die Nachricht, daß Herr Gamuret gefallen sei. Da war es aus mit Freude und Lebenslust.
Frau Herzeleide, die strahlende junge Königin, sank wie leblos zu Boden, und als sie sich nach langen Stunden wieder erhob, war das Lachen für alle Zeit aus ihrem schönen Gesicht verschwunden.
Parzivals Kindheit Nach einiger Zeit lag der armen Königin Herzeleide ein schöner, gesunder Sohn im Arm. Da lächelte sie zum erstenmal ein klein wenig: „Nun ist mir Gamuret doch zurückgekommen – in seinem Kind halte ich ihn an meinem Herzen.“ Sie nannte den Knaben Parzival, und Parzival ist es, von dem wir nun erzählen werden. Ohne Vater wuchs er auf, wie sein Halbbruder Feirefiß, aber, wie er, treu gepflegt und erzogen von einer edlen Mutter. „Ein Ritter sollst du nicht werden“, flüsterte Herzeleide ihrem Sohn ins Ohr. „Ich will nicht, daß du in die Welt ziehst und Abenteuer suchst wie dein Vater. Dich will ich nicht verlieren, immer sollst du bei mir bleiben und mein Trost und meine einzige Freude sein! Rittertum – das ist das schlimmste, was es für uns Frauen gibt. Es treibt die Männer von uns fort und verlockt sie zu Gefahren, in denen sie ihr Leben verlieren! Das Leben ist so schön, mein Sohn, du sollst es da führen, wo es rein und ohne Gefahren blüht!“ So gab sie ihr ganzes Land in die Hut treuer Fürsten, verließ mit dem Kind das Schloß und zog fort aus der Welt, in einen großen Wald. Auf einer einsamen Lichtung stand ihr kleines Haus, und die Diener und Mädchen, die sie mit sich nahm, brauchten nicht für Prunk und glänzende Hofhaltung zu sorgen, sondern bestellten das Feld und brachten Frau Herzeleide, was sie geerntet hatten, das kräftige Brot, die
Früchte der Bäume, den Honig der Bienen, Allen hatte sie streng befohlen, dem Kind niemals etwas von Rittern zu berichten. „Wenn er nichts hört und nie etwas davon weiß, wird er auch nicht den Wunsch haben, in die Welt auf Abenteuer zu ziehen, und immer bleibt er bei mir.“ Um des Kindes willen versuchte sie, ihren Kummer um Gamuret zu bezwingen. Parzival wuchs prächtig heran, so schön, wie man noch kaum jemals einen Menschen gesehen hat. Morgens wusch er sich am Bach, der durch die Wiese lief; in seinem einfachen Kittel sprang er über Stock und Stein und kannte bald alle Tiere des Waldes. Ein Vergnügen hatte ihm seine Mutter doch nicht nehmen wollen: Sie erlaubte ihm, sich einen Bogen und Pfeile zu machen, und damit schoß er im Walde nach den Vögeln. Wenn aber dann die lustigen Sänger tot vor ihm lagen, wurde er zornig und traurig und schalt mit den Vögeln. Als er größer wurde, ging ihm auf, was Tod bedeutet, und es machte ihm keine Freude mehr, Vögel zu schießen. Nun lief er durch den Wald, ohne den Bogen zu spannen, und horchte auf den vielstimmigen Gesang, der aus Büschen und Bäumen drang. Das Flöten der Drosseln, das Plaudern der Grasmücke, die nächtlichen Lieder der Nachtigall – alles füllte sein junges Herz zum Zerspringen. Er wußte nicht wie ihm war, traurig und froh zugleich kehrte er zu seiner Mutter zurück. Als sie ihn so langsam mit gesenktem Kopf kommen sah, fragte sie: „Was ist mit dir, Parzival? Sag, was dich bedrückt!“ „Ich weiß es nicht, Mutter. Die Vögel machen mir das Herz so schwer. Sie sind so klein und singen so herrlich – wenn ich doch fliegen und singen könnte wie sie!“ Frau Herzeleide war betrübt: Wie gern hätte sie ihrem Sohn alles ferngehalten, was sein Gemüt beschwerte! Und sie zürnte den Vögeln und hätte sie am liebsten ganz verbannt. Parzival
fragte verwundert: „Was haben sie dir denn getan? Warum willst du sie nicht mehr dulden?“ Da seufzte die Mutter. „Du hast recht, Parzival. Es war töricht von mir. Daß die Schönheit unser Herz mit Sehnsucht und Kummer erfüllen kann, gehört zum Menschenleben. Gott hat es so gewollt.“ „Gott? Was ist denn Gott, Mutter?“ Frau Herzeleide erkannte in diesem Augenblick, daß sie etwas sehr Wichtiges versäumt hatte, daß sie ihren Sohn zwar gelehrt hatte, die Augen offenzuhalten und zu beobachten, was in der Natur um ihn herum vorging, daß er aber nichts wußte von dem, was über den Menschen steht. Und so begann sie ihm von Gott zu erzählen: „Er ist das Größte und Herrlichste, was wir kennen, strahlender als der Tag, mächtiger als die Sonne, freundlicher als der Blick der liebsten Menschen. Er ist mächtig und erbarmt sich unser, wenn wir ihn anrufen. Hilf, Herr – so mußt du zu ihm beten, und er wird dir helfen.“ „Wenn Gott der Mächtigste und Herrlichste ist, will ich ihm dienen“, rief Parzival. „Wo ich ihm begegne, will ich ihm meine Dienste anbieten. Ach, wenn er mir nur bald erscheinen wollte!“ Und die Mutter küßte lächelnd ihren lieben Sohn. So lebten sie lange glücklich in ihrem verborgenen Winkel, und Frau Herzeleide freute sich über ihren Entschluß, den Sohn fernab von den Menschen und ohne Wissen um Ritterart und Abenteuer aufzuziehen. Aber eines Tages geschah etwas, das alle ihre Wünsche und Pläne vernichtete.
Parzival zieht in die Welt
Parzival streifte umher. Statt des Bogens trug er jetzt einen kurzen Wurfspieß, mit dem man das Wild erlegt. Als er aus dem Walde auf eine grüne Wiese trat, erblickte er plötzlich Wesen, die er noch nie gesehen hatte: Drei Ritter in schimmernden Rüstungen ritten auf stolzen Pferden vorbei. „Was ist das?“ fragte sich Parzival. „Ist das Gott? Gott in dreifacher Gestalt?“ Und schon kniete er nieder, um ein Gebet zu sprechen. Aber lachend über den Toren ritten die drei vorüber. Doch nun kam ein vierter, prächtiger anzusehen als die anderen. Sein Waffenrock schleifte bis auf die Erde, Helm und Schwert blitzten, die eisernen Ringe, aus denen sein Kettenhemd zusammengefügt war, klirrten – „Das ist ganz gewiß Gott!“ rief Parzival, kniete wieder nieder und rief den Fremden an: „Herr Gott, hilf mir!“ Verwundert hielt der Fremde sein Pferd an und betrachtete den hübschen Jungen, der ihm trotz seines einfachen Kittels vornehm und edel erschien. „Gern helfe ich dir, aber ich bin nicht Gott. Steh auf, du sollst nicht vor Menschen knien.“ „Aber wenn du nicht Gott bist – was bist du dann?“ „Ich bin ein Ritter, und die Männer, die du eben vorüberreiten sahst, sind es ebenfalls.“ „Wenn ein Ritter so prächtig ist, dann will ich auch einer sein. Wer macht die Ritter?“ Lächelnd erwiderte der Fremde: „Der König Artus verleiht Ritterschaft.“ „Dann will ich zum König Artus gehen und ihn bitten, daß er mich zum Ritter macht. Ich muß nur meiner Mutter Nachricht
geben. Aber sag mir, was sind das für seltsame Ringe, die du um deinen Leib gewickelt hast?“ „Sie schützen mich. Wenn ein Mann sein Schwert gegen mich zückt, dann kann es nicht durch die Ringe dringen, und ich bleibe heil.“ „Und ein Schwert? Was ist das?“ Der Fremde hatte seinen Spaß an dem eifrigen Frager und zeigte ihm seine Waffen, seine Rüstung und alles, was ein Ritter braucht. „Ich habe einen Wurfspieß“, erklärte Parzival, „damit kann ich auch streiten, wie du sagst. Aber ein Schwert ist hübscher.“ Der fremde Ritter seufzte: „Dir fehlt der Verstand, armer Junge, und doch bist du so hübsch und scheinst aus vornehmem Geschlecht zu stammen – Gott helfe dir auf allen deinen Wegen!“ Er strich dem Jungen freundlich über das Haar und ritt davon. Frau Herzeleides Bauern, die auf dem benachbarten Felde arbeiteten, hatten die Unterredung des jungen Herrn mit den Fremden beobachtet und fragten einander furchtsam: „Was wird die Herrin sagen, wenn sie hört, daß ihr Sohn nun doch Ritter gesehen hat? Sie wird uns schelten, daß wir es nicht verhindert haben!“ Sie nahmen ihre Sicheln auf und gingen langsam heim, den Kopf voll schwerer Ahnungen. Parzival war leichten Fußes nach Hause gelaufen. „Mutter!“ rief er schon von weitem. „Ich will ein Ritter werden! Ich ziehe zu König Artus und bitte ihn, daß er mich zum Ritter macht!“ Frau Herzeleide erbleichte – nun war es geschehen, was sie befürchtet hatte: Ihr Sohn hatte Verlangen nach dem Rittertum, das ungestüme Blut seines Vaters trieb ihn fort von ihr. Sie wußte, daß sie ihn verloren hatte, daß die Jahre des Glücks vorbei waren und nie wiederkommen konnten. Lange Zeit sprach sie kein Wort. Als aber Parzival immer eifriger drängte, ihn zu König Artus ziehen zu lassen, dachte sie bei sich: „Hilf Gott, es ist kein anderer Weg. Von nun an kann ich ihn nicht
mehr hier im Walde halten. Aber ich will ihn so unter die Menschen schicken, daß ihm die Welt verleidet wird – dann kommt er vielleicht doch zurück.“ Und in ihrer Not beschloß sie, Parzival wie einen Narren auszustatten. Sie nähte ihm einen Anzug aus einem einzigen Stück Sackleinen, die Hosen gingen bis zum Knie, an den Füßen saßen grobe Schuhe aus dem Fell eines eben geschlachteten Kalbes, und seine langen blonden Haare sahen unter einer Narrenkappe hervor. Auch ein Pferd gab sie ihm auf sein Bitten, aber ein elendes, mageres, auf das sich nie ein Knappe oder gar ein Ritter gesetzt hätte. Aufmerksam hörte er ihren letzten Lehren zu: „Mein Sohn, grüße alle Menschen freundlich im Namen Gottes. Von Alten nimm guten Rat an, sie sind weise und werden dir das Rechte sagen. Ein Ritter dient edlen Frauen, und wenn er einen Ring von ihnen bekommen kann, ist es ein rechtes Glück für ihn. Schöne Frauen mußt du mit einem Kuß begrüßen, um ihrer Schönheit Ehre anzutun. Und noch eines will ich dir sagen: Dein ist das Land Waleis, das ich deinem Vater in die Ehe gebracht habe. Aber ein fremder Fürst hat es uns entrissen. Werde ein rechter Ritter und erkämpfe dir dein Reich wieder!“ „Das will ich tun, Mutter, ich habe ja meinen Wurfspieß, damit will ich ihn schon bekämpfen, daß er mir mein Erbe wieder herausgibt!“ Aber seinen Namen kannte er nicht, seine Mutter verschwieg ihn, damit er nicht als Gamurets Sohn erkannt und geehrt werden sollte.
In dieser Nacht schlief Parzival fest und glücklich und träumte von prächtigen Rittern. Aber seine Mutter lag die dunklen Stunden wach und betete, daß Gott ihren Sohn leiten und ihm helfen möge. Am anderen Morgen nahm Parzival fröhlichen
Abschied und ritt auf seinem elenden Klepper lustig davon. Frau Herzeleide sah ihm nach, bis sein blonder Schopf hinter der Wegbiegung verschwand – dann sank sie tot zu Boden. Und Parzival wußte es nicht und ahnte es nicht. Er ritt wohlgemut davon, immer der Nase nach. Als der Abend kam, band er sein Pferd an einen Baum und legte sich getrost ins grüne Gras. In aller Frühe weckte ihn der Gesang der Vögel, er erhob sich, bestieg das Pferd und ritt weiter. Im Morgengrauen kam er an einen kleinen Fluß, suchte eine Furt und überquerte sie. Am anderen Ufer fand er kostbare Zelte aufgespannt, stieg vom Pferd und betrachtete alles mit großer Neugier. Das prächtigste Zelt war aus Samt, mit Pelzen verziert und mit bunten Schnüren gespannt. Er wäre gern eingetreten – und schon riß er unbedacht einen Pflock aus und drang ins Zelt ein. Drinnen fand er eine wunderschöne Frau im tiefsten Schlaf. Leise trat er an sie heran und bestaunte ihren kostbaren Schmuck. Da fielen ihm die Worte seiner Mutter ein, daß er sich freuen solle, den Ring einer edlen Frau zu erhalten. Er beugte sich über die Schläferin und zerrte so ungeschickt an ihrem Ring, daß sie erschrocken in die Höhe fuhr. Rasch riß er ihr auch noch eine Spange vom Gewand und tat dann das, was er nach den Lehren seiner Mutter für richtig hielt: Ehe die Dame sich wehren konnte, packte er sie mit beiden Armen und küßte sie viele Male heftig auf den roten Mund. Dann ließ er sie los: „So, nun habe ich Hunger. Gebt mir bitte zu essen!“ Da lachte sie trotz ihres Schreckens und erkannte, daß sie einen jungen Narren vor sich hatte. „Wie bist du hereingekommen? Wer hat es dir erlaubt? Gib mir den Ring zurück und verschwinde!“ „Nein, den muß ich behalten. Aber dort steht ja Brot auf dem Tisch, gestattet, daß ich davon nehme!“
Ungerührt von ihren Scheltworten aß und trank er tüchtig. „Nun geh aber, Junker!“ drängte die Frau. „Gib mir den Ring zurück und mach dich davon. Wenn mein Mann von der Jagd heimkommt, wird er dich hart bestrafen, und auch mit mir wird er schelten.“ „Ach, Strafe fürchte ich nicht – – ich habe ja meinen Wurfspieß, um mich zu wehren. Aber ich kann nicht leiden, daß Ihr gescholten werdet, deshalb lebt wohl!“ Und zu ihrem Entsetzen trat er noch einmal auf sie zu und gab ihr einen herzhaften Abschiedskuß. Dann verschwand er.
Die Dame war die Herzogin Jeschute, die wunderschöne Gemahlin des Herzogs Orilus. Wo immer der Herzog hinzog, ob auf Abenteuer oder zur Jagd wie eben jetzt, stets nahm er seine Frau mit sich, denn er war ein von Eifersucht geplagter
Mann, der seine Liebste nie aus den Augen zu lassen wagte; und doch war sie treu und hatte niemals einem anderen Mann auch nur einen Blick zugeworfen. Mit Seufzen wartete Frau Jeschute nun auf die Heimkehr ihres Mannes, denn sie wußte wohl, daß sie ihm den Besuch des Fremden nicht verschweigen konnte. Und richtig! Als der Herzog heimkam, sah er die Spuren im taufeuchten Gras, den abgerissenen Zeltpflock, und ahnte, daß sich jemand an Jeschutes Zelt zu schaffen gemacht hatte. Mit zornrotem Kopf trat er ungestüm ein und bemerkte das ängstliche Gesicht seiner Frau. Sofort fuhr er auf sie los: „Du hast also Besuch gehabt? Ein fremder Mann war bei dir! Wo ist die Spange an deinem Gewand?“ Schluchzend wollte sie ihm erklären, was geschehen war: „Ein junger Narr ist hier eingedrungen, als ich noch im Schlafe lag. Er führte sich sehr ungezogen auf, obwohl er ein hübscher Junge war.“ „Hübsch fandest du ihn also? Er hat dir gefallen? Weh dir, du Ungetreue! Sicher hast du ihn verlockt, dich hier aufzusuchen, während ich jagte. Wer weiß, wie lange du schon mit ihm geliebäugelt hast! Ich Armer! Ich Betrogener! Das wirst du mir büßen!“ Weinend sprach Frau Jeschute: „Ach liebster Herr, wenn du wüßtest, welch dummer Junge er war! Er hat mir Ring und Spange entrissen, nichts gab ich ihm freiwillig, und die Küsse, die er mir gab, hab’ ich wahrhaftig nur sehr ungern geduldet!“ „Geküßt hat er dich! Wo ist der Bursche? Das wird er mit seinem Leben bezahlen müssen! Und du, Ungetreue, für die ich so ehrenhafte Turniere bestanden, die ich vor allen Damen hoch erhoben habe, du wirst jetzt fühlen, was es heißt, Herzog Orilus zu hintergehen! Aus ist es mit deinem schönen Leben! Du wirst kein Gewand mehr von mir bekommen, in diesem Kleid, das du trägst, wirst du mir folgen, auf dem elendesten Klepper sollst du reiten, den ich finden kann! Nichts mehr von prächtigem Sattelzeug und klingenden Glöckchen am
Sattelbogen! Einen Strick werde ich dir in die Hand geben, damit magst du dein Pferd leiten. O du schlechte Frau! Nie mehr will ich das Zelt mit dir teilen, nie mehr mit dir an einem Tische essen!“ Die Herzogin schluchzte: „Daß du so ungerecht bist, schmerzt mich am tiefsten. Du kränkst deine eigene Ritterehre, wenn du mich so strafst. Ein rechter Ritter verstößt nicht seine Frau, er glaubt ihr, er hilft ihr, die Schmach, die ein Fremder ihr angetan hat, zu rächen!“ Aber Herzog Orilus war schon aus dem Zelt gestürmt und suchte wild nach dem kümmerlichsten Pferd, das er finden konnte. Fortan sah man Frau Jeschute demütig und von allen gemieden hinter ihrem Gemahl durch die Lande ziehen, und die Leute tuschelten und glaubten, sie werde sicher zu Recht so hart gestraft. Das hatte Parzivals Torheit angerichtet – so hatte der junge Mensch, der in die Welt zog, um ein Ritter zu werden, seine Mutter unwissentlich getötet und eine schöne Frau durch seine Dummheit ins Unglück gebracht. Was wird er fühlen, wenn ihm sein Unrecht aufgeht? Denn immer kann er nicht so kindlich und töricht bleiben… Noch aber ritt er unbekümmert durch den Wald, freute sich, wenn die Sonne auf die hübsche Spange schien und in Jeschutes Ring funkelte. „Meine Mutter wird mich loben“, sprach er zu sich selbst, „wenn ich ihr erzähle, daß ich am ersten Tag schon Ring und Kuß einer edlen Frau erhalten habe!“
Sigune
Da störte ihn ein heftiges Weinen aus seinen fröhlichen Gedanken. Er ritt ihm nach und fand unter einem hohen Baum eine Frau sitzen, die vom Weinen ganz entstellt war und sich ihre schönen Zöpfe in übermäßigem Schmerz zerrauft hatte. Auf ihrem Schoße lag ein toter Ritter. Es war Frau Sigune, und der Erschlagene, den sie so beweinte, ihr Freund Schionatulander. „Wenn Ihr auch traurig seid, will ich Euch doch grüßen“, sprach Parzival sie an. „Meine Mutter hat es mich so gelehrt. Was sitzt Ihr hier so bekümmert? Laßt sehen – ach, der Mann in Eurem Schoß lebt nicht mehr! Es hat keinen Sinn, daß Ihr ihn haltet – wir müssen ihn begraben, Herrin. Ich werde Euch helfen. Aber sagt mir, wer ihn erschlagen hat – ich werde ihn rächen. Seht hier meinen festen Wurfspieß – damit töte ich den, der Euren Liebsten umgebracht hat!“ Frau Sigune warf einen traurigen Blick auf Parzival. „Du bist ein lieber Junge und scheinst aus edlem Blut zu sein – aber mit einem Wurfspieß wirst du den Mann nicht bekämpfen, der Schionatulander umgebracht hat. Mein Freund fiel in ritterlichem Kampf, und mir ist alle meine Freude genommen. Wollte Gott, ich brauchte nicht mehr lange das Licht des Tages zu sehen, es scheint mir düster und unfreundlich. Aber wer bist du? Wie heißt du?“ „Ich bin ein Mensch, den Gott wie alle anderen erschaffen hat.“ Sie lächelte und fragte, wie seine Mutter ihn denn riefe. „Lieber Junge, hübscher Junge, guter Junge, so ruft sie mich.“ Da wußte Sigune, wer er sei. „Dann bist du Parzival. Dein Name bedeutet »Mitten hindurch«. Ich weiß, deine Mutter hat dir nie gesagt, woher du stammst, aber so will ich es dir
berichten, denn ich bin deine Verwandte. Meine Mutter und die deine sind Schwestern, und ich liebe Frau Herzeleide sehr. Dein Vater war ein Fürst von Anschewin, und dir sind große Reiche zugefallen – aber weil deine Mutter sich nicht um ihr Hab und Gut kümmerte und mit dir in der Einsamkeit lebte, haben fremde Fürsten dein Erbe geraubt. Dieser mein lieber Freund hier, Schionatulander, hat für dich gekämpft. Der Herzog Orilus hat ihn erschlagen.“ Da schwor Parzival Rache und wollte wissen, wie er reiten müsse, um Orilus zu treffen. Aber Frau Sigune fürchtete für das Leben ihres jungen Vetters und schickte ihn einen falschen Weg. Er nahm Abschied von ihr und ritt davon – begierig, den Tod des Ritters zu rächen.
Parzival am Artushof
Nach langem Ritt durch den Wald stand Parzival vor einem breiten Fluß. Am Ufer erhob sich ein einzelnes Haus, in dem ein Fischer wohnte. Parzival verspürte Hunger und bat den Fischer, ihm zu essen zu geben und für die Nacht zu beherbergen. Der geizige Mann ließ sich aber erst dazu herbei, als ihm Parzival Frau Jeschutes Spange als Lohn anbot. Da war er bereit, ihn am anderen Morgen über den Fluß zu fahren und ihn zum Hofe des Königs Artus zu bringen. So geschah es. Parzival fuhr über den Fluß und sah in der Ferne eine große Stadt mit vielen Türmen. „Da wohnt der König Artus“, erklärte ihm der Fischer. „Aber weiter will ich Euch nicht führen, geht nur selbst.“ Denn er dachte bei sich, daß man den jungen Narren mit seinem wunderlichen Kleid, seinem Wurfspieß und den groben Schuhen, mit dem dürren,
müden Pferd doch nur verspotten werde. Parzival ritt allein über ein breites, von bunten Blumen leuchtendes Feld. Da sprengte ihm ein Ritter entgegen – ganz in Rot gekleidet, und rot war das Zaumzeug seines Pferdes, rot sogar sein Haar. „Gott schütze Euch! So zu grüßen hat mich meine Mutter gelehrt. Wo finde ich den König Artus?“ Der Ritter lachte über den drolligen Narren. „Reite nur weiter, in der großen Stadt findest du den König in seiner Burg. – Aber warte! Du sollst eine Botschaft von mir ausrichten. Ich bin des Königs Vetter Ither, und man nennt mich, wie du wohl begreifen wirst, den roten Ither. Ich gehöre zur Tafelrunde des Königs, aber ich zürne ihm, denn er hat mir einen Teil meines Erbes vorenthalten. Siehst du den Becher in meiner Hand? Den habe ich heute morgen vom Tisch des Königs fortgenommen. Leider ist dabei Wein auf das Kleid der Königin gespritzt. Du richtest in der Tafelrunde aus, wer mir den Becher wieder abnehmen will, soll hierher kommen und mit mir darum kämpfen. Wir wollen doch sehen, wer der Stärkste ist! Aber bestelle auch, daß es mir sehr leid tut, das Kleid der Königin Ginevra mit Wein begossen zu haben – das war ungeschickt und ungehörig!“ Parzival versprach, den Auftrag auszurichten, und ritt davon, sah sich aber immer wieder nach der strahlenden Rüstung des Ritters um und dachte: „Die muß ich haben! So prächtig will ich auch zu Pferde sitzen!“ Er ritt in das Getümmel der Stadt, alles Volk lief zusammen und lachte über den Narren, der unbekümmert und freundlich nach allen Seiten seinen Gruß rief. So kam er schließlich in die Burg, stieg vom Pferd und trat in den Saal, wo König Artus mit den Damen und Herren des Hofes noch beim Mahl an dem großen runden Tisch saß. „Seid Ihr der König? Gott schütze Euch – so hat es mich meine Mutter gelehrt.“
Lachend dankte Artus für den Gruß und fragte, was der Narr wünsche. „Ihr sollt mich zum Ritter machen! Es dauert schon viel zu lange, bis ich die Ritterschaft erhalte. Ich weiß, daß Ihr es seid, der Ritter macht. Aber zuvor muß ich Euch einen Auftrag ausrichten von dem roten Ritter, der draußen auf der bunten Wiese wartet: Es tut ihm leid, daß er Wein über das Gewand der Königin vergossen hat, und wer ihm den Becher wieder abnehmen will, muß mit ihm kämpfen. Herr König, laßt mich das tun! Ich möchte gern seine schöne Rüstung haben!“ „Nun sei aber geduldig, Junker“, mahnte der König. „Gern will ich dir zur Ritterschaft verhelfen, und morgen werde ich dir eine schöne Aussteuer suchen und dich lehren, was ein Ritter ist und wie er sich betragen muß. Heute ist nicht Zeit dazu.“ Aber Parzival stampfte ungezogen mit dem Fuß auf: „Ich will keine andere Rüstung als die des roten Ritters! Die sollt Ihr mir schenken!“ „Das kann ich nicht. Auch wenn ich ihn darum bäte, würde Ither mir nichts schenken – er zürnt mir, obwohl ich ihn sehr gern habe.“ „Dann versprecht mir, daß ich die Rüstung behalten darf, wenn ich jetzt hinausreite und mit ihm um den Becher kämpfe.“ Laut lachten alle – der Gedanke war zu drollig, daß der junge Mann, im Narrenkleid und mit einem Wurfspieß bewaffnet, mit einem der besten Ritter fechten wollte! Nur der Oberhofmeister des Königs, Keie, brummte grämlich: „Laßt ihn doch! Mir ist dieser Junge genau so gleichgültig wie der rote Ither. Sollen sie doch kämpfen – mir ist es gleich, wer von beiden wiederkommt!“ Schließlich ließ Artus Parzival hinausziehen und versprach ihm Ithers Rüstung, wenn er den roten Ritter besiegen könne. „Der arme Junge wird ja dabei den Tod finden“, seufzte der
König, „schade um ihn. Trotz dem Narrenkleid ist er sicher von edler Abkunft.“ Der Knappe Iwanet, dem Parzival gefiel, nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinaus, um ihn zu begleiten. Parzival setzte sich auf sein Pferd – und alle Damen sahen ihm von einem niedrigen Balkon aus zu. Unter den Frauen war auch die schöne Kunneware, die noch nie gelacht hatte: Sie hatte einmal das seltsame Gelübde abgelegt, daß sie erst dann lachen wolle, wenn sie den Mann sähe, der zum höchsten Ruhme bestimmt sei. Und nun, als sie den jungen Toren in seinem Narrenkleid auf dem elenden Klepper erblickte, scholl plötzlich laut und herzlich ihr Lachen durch den ganzen Saal – sie selbst war verwundert darüber. Ärgerlich aber war der Oberhofmeister, Herr Keie. Er griff die Zöpfe der schönen Kunneware, hielt sie eisern fest und tat etwas, das noch niemand in dieser edlen Runde erlebt hatte: Sein Stock sauste auf den Rücken der Frau herab – er schlug sie! Und er schalt: „Was fällt Euch ein? Ist das ein gutes Benehmen? Laut zu lachen ist schon unziemlich für eine Dame, aber daß Ihr, die Ihr so viele herrliche Ritter hier habt vorbeireiten sehen, diesem Narren zulacht, ist unerhört! Mein Stock wird Euch lehren, Euch künftig besser zu betragen!“ Alle Damen und Herren saßen erstarrt vor Schrecken, nur ein Ritter fuhr heftig auf: Er hatte nämlich gelobt, niemals ein Wort zu sprechen, solange Kunneware nicht gelacht habe! Nun schalt er Herrn Keie: „Gebt nur acht! Ihr habt Kunneware geschlagen um dieses Jungen willen! Ich ahne schon, daß dieser Junge dafür Euch einmal gründlich bestrafen wird!“ Aber der Oberhofmeister war um eine Antwort nicht verlegen: „Wenn das erste Wort, das aus Eurem Munde kommt, eine Drohung gegen mich ist – dann werde ich Euch lehren, wieder zu schweigen oder bessere Dinge zu sagen!“ Und schon fuhr sein Stock dem Ritter an Hals und Kopf.
Draußen stand noch Parzival und hatte alles mitangehört. Er packte seinen Wurfspieß fest und hätte ihn fast auf Keie geschleudert, merkte aber, daß er im Gedränge leicht jemand anders verwunden könne und unterließ es. Doch er beschloß, das schöne Fräulein später einmal für den Kummer zu entschädigen, den sie seinetwegen und ganz unschuldig erlitten hatte. Dann nahm er Abschied von dem Knappen Iwanet und ritt hinaus auf die Wiese, wo Ither sein ungeduldiges Pferd zügelte. „Nun, was bringst du für Botschaft? Wer will mit mir um den Becher kämpfen?“ „Ich“, antwortete Parzival. „Aber zieh deine Rüstung aus, sie gehört mir, der König hat sie mir geschenkt.“ „Wahrhaftig, der König verschenkt meine Rüstung!“ lachte Ither. „Das ist eine ganz neue Sitte, und ich glaube nicht, daß du den König richtig verstanden hast. Nun pack dich!“ „Zieh die Rüstung aus! Mir gehört sie jetzt!“ schrie Parzival ungeduldig. Nun wurde es dem roten Ritter zu bunt – er gab seinem Roß einen leichten Schenkeldruck, und sofort flog es Parzivals Pferdchen entgegen, und ehe der Junge etwas geahnt hatte, saß er schon im Gras, von Ithers Speer getroffen, und gut getroffen! Das Blut lief ihm aus der Schulter. Ither glaubte, den Jungen für seine Keckheit genügend bestraft zu haben, und wollte sein Pferd wenden. Aber wie der Blitz stand Parzival auf den Beinen, zielte mit seinem Wurfspieß und schleuderte ihn so, daß er Ither durch die Augenschlitze in der Schutzkappe ins Gehirn drang. Leblos sank der rote Ritter zu Boden, auf schmähliche und unritterliche Weise getötet. Und so töricht und unerfahren war Parzival, daß er keine Scham fühlte, sondern sich eifrig bei dem Toten hinkniete, um ihm die Rüstung zu nehmen. Das aber war leichter gesagt als getan – der Junge hatte keine
Ahnung, wie man die Beinschienen und den Helm öffnet. Er riß und zerrte daran herum und vergoß zornige Tränen, als es ihm nicht gelang. Die beiden Pferde standen dabei und wieherten in der heißen Mittagssonne so unglücklich, daß Iwanet es hörte und hinzulief. Da fand er den großen Ritter Ither tot und den Fremden daneben, wie er sich vergebens mit der Rüstung abmühte. „Aber du bist ja ein großer Held! Wie hast du das fertiggebracht, den roten Ither zu töten! Komm, ich helfe dir!“ Und Iwanet, der sich nicht viel Gedanken darum machte, ob Parzival den Gegner ritterlich besiegt habe, half ihm, den toten Mann zu entwaffnen. Dann wünschte Parzival, sofort die neue Rüstung anzulegen, er ließ sich den Harnisch über sein sackleinenes Narrenkleid legen, die blitzenden Beinschienen über die groben Schuhe schnallen. Er drehte und wendete den Hals in der ungewohnten harten Halsberge, er fühlte das Gewicht des schweren Helms auf seinem Kopf, der nur von der leichten Narrenkappe bedeckt gewesen war, er wog den schweren Schild in der Hand und ließ sich zeigen, wie man das Schwert aus der Scheide zieht. „Und nun gib mir den Wurfspieß!“ Aber Iwanet belehrte ihn, daß ein Ritter nicht mit dem Wurfspieß kämpfe und erklärte ihm, wie man den Speer hält, wenn man im Turnier den Gegner anreitet, um ihn vom Pferd zu stechen. Das war Parzivals ritterliche Lehre – wenig genug! Und ein unerfahrener, törichter Junge blieb er auch noch in der roten Rüstung. Aber kräftig war er! In der schweren Rüstung sprang er aufs Pferd und fragte nicht nach einem Steigbügel. Nun saß Parzival auf dem Roß Ithers, schön und stattlich wie ein rechter Ritter. Er sagte Iwanet Lebwohl und bat ihn, König Artus eine Botschaft zu überbringen: „Sag dem König, daß ich nun habe, was ich wollte, die Rüstung des roten Ither. Und bitte ihn, daß er die Dame, die um meinetwillen Schande und
Schläge dulden mußte, in seinen Schutz nimmt, bis ich selbst ihre Ehre verteidigen kann.“ Er ritt davon und ließ den toten Ither auf der Wiese liegen. Iwanet sah ihm nach und pflückte dann ringsum die schönsten Blumen, mit denen er den Toten bedeckte. Aus Parzivals Wurfspieß und einem Stück Holz band er ein Kreuz zusammen, das er neben dem Leichnam in die Erde steckte. Dann ging er zurück an den Hof und meldete, was geschehen sei. Seine Nachricht wurde mit großer Trauer aufgenommen, denn alle hatten den stolzen Ither gern in ihrer Runde gesehen und wußten, wie viele Kämpfe er ritterlich gewonnen hatte. Daß er nun von einem Knaben erschlagen worden war, dünkte sie besonders hart. Vor allem war es Königin Ginevra, die um ihn trauerte. „Ach, daß die Männer so ungestüm sein müssen! Ihr Zorn und ihre Freude am Kampf bringt uns Frauen viel Kummer! Schöner, lieber Ither, wie froh wäre ich, dich noch bei uns zu sehen! Nun leuchtet dein rotes Haar nicht mehr, nun ist dein Lachen verklungen. Ach Ither, welch trauriger Tag, an dem du uns entrissen wurdest!“
Parzival bei Gurnemanz
Parzival aber ritt zufrieden weiter, ohne Ziel und Weg. Schließlich sah er eine hohe Burg mit vielen Türmen vor sich aufragen. „Hier verstehen sie aber zu säen“, dachte er. „Bei meiner Mutter wächst nichts so hoch. Aber es regnet sicher zuviel bei uns zulande.“ So töricht war er noch, daß er glaubte, Türme würden gesät und wüchsen von selbst in die Höhe! Er ritt durchs offene Burgtor auf einen weiten grünen Platz, auf dem ganz allein ein alter Mann mit einem Sperber auf der
Hand saß. „Gott schütze Euch – so hat es mich meine Mutter gelehrt“, grüßte Parzival. Der Alte blickte den Fremden an, der, von Kopf bis Fuß gewappnet, wie in unfreundlicher Absicht daherkam. Doch hell klang Parzivals Stimme unter dem Helm hervor: „Ihr seid ein alter Mann, und meine Mutter hat mich gelehrt, von Alten guten Rat anzunehmen. Deshalb bitte ich Euch, mich alles zu lehren, was Ihr wißt!“ Gurnemanz, so hieß der Herr der Burg, bat ihn freundlich, das Visier hochzuklappen, und nun kam Parzivals fröhliches, junges Gesicht zum Vorschein. Da dachte der Alte, daß der Fremde trotz seines wunderlichen Betragens wohl von edler Herkunft sein müsse, und meinte: „Gut, Ihr sollt von mir hören, was ich Euch lehren kann. Mir scheint, Ihr habt es nötig trotz Eurer prächtigen Rüstung.“ Er warf seinen Sperber in die Luft. Pfeilschnell flog der Vogel durch ein offenes Fenster in den Burgsaal, wo die Knappen müßig saßen und schwatzten. Der Sperber war das Zeichen, daß ihr Herr sie zu sehen wünschte, und wie der Blitz rannten die Jungen in den Burghof. „Wir haben einen Gast, der bei uns bleiben wird. Versorgt sein Pferd und bringt ihm alles, was er braucht.“ Ein Knappe ergriff den Zügel von Parzivals Pferd und bat den Reiter freundlich, abzusteigen. „Aber nein! Wie kann ich denn absteigen? Ein Ritter reitet – ich bleibe sitzen!“ Die Knappen wandten sich ab, um ihr Lachen zu verbergen, dann redeten sie so lange freundlich auf ihn ein, bis er bereit war, vom Pferd zu steigen. Sie führten ihn ins Haus und halfen ihm, den Helm abzunehmen, Harnisch und Beinschienen zu lösen – und wieder mußten sie ihr Lachen verbeißen: Denn was unter der prächtigen Rüstung zum Vorschein kam, war ein Narrenkleid aus Sackleinen! Einer von ihnen lief zum Herrn, berichtete ihm von der seltsamen Kleidung des Fremden, und Gurnemanz sprach kopfschüttelnd zu sich selbst: „Ein
sonderbarer Vogel ist mir da ins Haus geflogen! Mit ihm werde ich wohl noch manche Mühe haben.“ Wie es jeder gute Gastgeber tat, ließ er dem fremden Ritter bequeme, kostbare Kleidung bringen. An der Hand führte er ihn in die Burgkapelle, in der sich die Insassen der Burg zur Messe versammelten. Da hatte er seine liebe Not, Parzival, der noch nie in einer Kirche gewesen war, flüsternd und ihn auf die Knie ziehend zum richtigen Benehmen anzuleiten. Parzivals keckes Gesicht zeigte einen neuen Ernst, als er die Andacht der anderen wahrnahm. Beim gemeinsamen Mahl fragte Gurnemanz seinen Gast nach Namen und Herkunft, und bereitwillig gab Parzival alles zum besten, berichtete auch ganz getreulich, auf welche Weise er den Ring und die Spange der Dame erworben hatte, ohne die tadelnden Blicke seiner Zuhörer zu bemerken. Als er von Ithers Tod erzählte, seufzte Gurnemanz: „Ither war ein tüchtiger und berühmter Ritter, und daß er mit einem Wurfspieß erschlagen wurde, scheint mir ein schlimmes und ungerechtes Ende. Nun tragt Ihr seine Rüstung und seid der rote Ritter – bemüht Euch, den Namen mit Ehren zu tragen.“ Gleich nach dem Essen zog der Burgherr Parzival beiseite und brachte ihm die ersten Regeln höfischen Betragens bei. „Hört auf, Euch wie ein kleines Kind zu benehmen und immerfort von Eurer Mutter zu reden! Ein Mann liebt und ehrt seine Mutter und vergißt sie nie – aber er beruft sich nicht fortwährend auf sie, sondern weiß, was er zu tun hat, aus sich selbst.“ Alles, was Gurnemanz ihm an den nächsten Tagen erklärte und ihn lehrte, nahm Parzival bereitwillig auf, so daß er begann, sich nicht mehr wie ein kecker Knabe, sondern wie ein Mann zu betragen, den der Burgherr mehr und mehr ins Herz schloß.
„Ein rechter Ritter nimmt sich der Bedrängten an. Wenn du einen Menschen in Not siehst, hilf ihm, auch wenn es dir selbst ans Leben gehen könnte. – Sei nicht geizig, teile anderen von dem mit, was du erwirbst, aber tu es mit Verstand, verschwende nicht! – Vor allem aber rede nicht so viel, frage nicht immerzu. Du mußt dich zurückhalten, die Augen offen haben, aber niemanden mit Fragen lästig fallen! Mancher Mensch trägt einen geheimen Kummer, über den er nicht sprechen mag. Ein Ritter sieht, wo er helfen muß, und tut es ohne Worte. Zuviel fragen ist keine gute Art.“ Dies besonders nahm sich Parzival, der bisher so offenherzig geschwatzt und gefragt hatte, sehr zu Herzen.
Herr Gurnemanz, dem drei Söhne im Kampf gefallen waren, hatte nur noch ein Kind, die zarte junge Liasse. Wer wollte es ihm verdenken, daß er nur zu gern Parzival fest mit seinem Hause verbunden und ihm die schöne Tochter anvertraut hätte! So gab er den beiden jungen Menschen manche Gelegenheit, vertraulich miteinander zu plaudern. „Aber einen Ring kannst du Liasse nicht nehmen – sie ist noch zu jung und besitzt keinen Schmuck.“ Parzival spürte den Wunsch seines Gastgebers, und die zarte Liasse war ihm sehr lieb. Aber sollte er künftig auf Gurnemanz’ Burg ein bequemes Leben führen? Es drängte ihn hinaus in die Welt, ritterlichen Abenteuern entgegen, und er bat Herrn Gurnemanz, ihn ziehen zu lassen. Liasses Kummer sänftigte sich, als ihr Parzival versprach, eines Tages als ruhmreicher Ritter zurückzukehren.
Parzival bei Kondwiramur
Parzival zog fröhlich davon, nur manchmal zügelte er sein Pferd und ritt langsam dahin, wenn ihm nämlich der Gedanke an Liasse das Herz beschwerte. Er fand überall gute Aufnahme, hielt die Augen offen und lernte die Menschen und ihr Treiben kennen. Aber er hütete sich, Fragen zu stellen und sprach nie, ohne vorher seine Worte genau zu bedenken. Eines Tages ritt er an einem Fluß entlang bis zu dessen Mündung, an der eine Stadt mit vielen Türmen lag. Wer in die Stadt wollte, mußte über eine schwankende Brücke aus Flechtwerk reiten, und Parzival schickte sich schon dazu an, als ihm auf der anderen Seite gewappnete Ritter heftig abwinkten und versuchten, ihn auf alle Weise fernzuhalten. Er ließ sich aber nicht beirren, stieg vom Pferd und führte es über die schwingende Brücke. Die Leute auf der anderen Seite hielten den gewappneten Fremdling für einen Feind, zogen sich in die Stadt zurück und meldeten ihrer Herrin, daß neue Gefahr drohe. Die Stadt Belrapeire war nämlich in großer Not: Sie wurde von dem gewaltigen Heer des Königs Klamidee belagert. Klamidee warb um die Königin Kondwiramur, die aber nichts von seiner Liebe wissen wollte und deshalb seine Rache dulden mußte. Das feindliche Heer hielt die Stadt fast ganz umschlossen, so daß weder Nahrungsmittel noch Hilfe den Belagerten gebracht werden konnten. Nur die eine schwankende Brücke verband sie noch mit der Welt draußen. Parzival klopfte heftig ans Tor, aber lange antwortete niemand. Er ließ nicht ab, bis er endlich eine verzagte Mädchenstimme hörte: „Wer begehrt Einlaß? Kommt Ihr als Feind? Wir haben schon Feinde übergenug!“
Parzival beruhigte sie und versprach Hilfe, wenn man ihn nur einlassen wolle. Da öffnete sich das Tor spaltweit, so daß er sich gerade noch mit dem Pferd hindurchwinden konnte. Das Mädchen bat ihn zu warten, bis die Königin von seiner Ankunft unterrichtet sei. Nun empfing ihn der Marschall der Königin und geleitete ihn durch die Stadt zur Burg. Verwundert sah Parzival auf die Leute, die bewaffnet mit Speeren und Spießen auf der Straße standen, trübselig und allesamt schrecklich mager. „Hier herrscht wirklich Not und Kummer“, dachte er bei sich. Er wurde zur Königin Kondwiramur geführt; vorher aber nahm man ihm die Waffen ab und ließ ihn mit Brunnenwasser den Rost vom Gesicht waschen – denn wenn ein Ritter den Helm abband, war er vor Rostflecken kaum zu erkennen, und mochte der Helm außen noch so blank glänzen! Als Parzival nun sauber und frisch vor ihnen stand, ein strahlender, kräftiger junger Mann, da seufzten alle, die ihn betrachteten: In Belrapeire gab es nicht einen Menschen, dem nicht der Hunger die Wangen ausgehöhlt hätte, und keiner hatte starke Arme und frische Farben wie der Fremde – in Belrapeire schlotterten die Hemden um klapperdürre Glieder! Parzival dachte: „O weh, hier gibt es wenig zu beißen! Die Königin wird beschämt sein, einen Gast nicht nach Gebühr bewirten zu können!“ Aber solche Gedanken vergingen ihm, als ihn die Königin Kondwiramur im Schlosse willkommen hieß. Bisher hatte er oft mit Sehnsucht an Liasse gedacht, aber nun schwand ihr Bild für alle Zeiten aus seinem Herzen wie die Mondsichel vor der Morgensonne, so wunderschön war Belrapeires Königin. Sie war wohl die schönste Frau, die jemals ein Ritter sah, alle anderen verblaßten neben ihr. Und nicht nur ihr Gesicht und ihre Gestalt berückten jeden, sondern ihre weiche Stimme, ihr herzliches Lachen, ihre Freundlichkeit und ihr hoher Anstand wurden mit Recht ebenso gerühmt. Parzival fühlte sein Herz
heftig schlagen, als er Kondwiramur erblickte, und fortan gab es in seinem Leben kaum einen Augenblick, in dem es nicht für seine Königin schlug. Sie sah ihn an – und auch von ihr nahm die Liebe Besitz. Aber er sprach kein Wort, er fand keines. Und obwohl er doch längst erkannt hatte, daß sich die Königin und ihre Leute in schlimmer Not befanden, fragte er nicht, denn Gurnemanz hatte ihm ja das Fragen verboten. Sie wunderte sich sehr: „Hat mich denn der Hunger schon so häßlich gemacht, daß er mich nicht einmal fragen und anreden mag?“ Parzival verbrachte die Nacht in einem prächtigen Gemach unter Seiden- und Pelzdecken. Müde vom Ritt, schlief er fest und traumlos – bis ihn ein Schluchzen weckte. Da sah er die Königin auf dem Teppich vor seinem Bett knien, weinen und die Hände ringen. Aber auch jetzt fragte er nicht nach ihrem Kummer, sondern erhob sich und bot ihr einen Platz auf seinem Lager. Sie saßen die lange Nacht beieinander; die Königin berichtete Parzival von ihrem Leid, von der hartnäckigen Werbung König Klamidees und von dessen Heer, das die Stadt belagerte, von den vielen Kämpfen, in denen ihre besten Leute gefallen waren. „Morgen kommt der Ritter Kingrun vors Tor, er ist Klamidees Heerführer. Er will mich zwingen, seines Königs Frau zu werden. Doch lieber stürze ich mich vom Turm hinunter in den Burggraben, als daß ich Klamidees Gattin werde!“ „Königin, habt keine Furcht! Ich selbst werde gegen Kingrun kämpfen, und wenn Gott meinem Arm Kraft verleiht, besiege ich ihn.“ Und lange noch sprach Parzival tröstend auf sie ein. Als der Morgen graute, ging Kondwiramur in ihr Gemach zurück.
Kampf und Sieg
Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf ein gewaltiges Heer, das gegen die Stadt anrückte, mit wehenden Bannern und wüstem Feldgeschrei. Allen voran ritt der stolze Kingrun. Parzival war schon gerüstet und kam ihm entgegen. An diesem Tage mußte er seinen ersten Schwerterkampf bestehen. Wild schlugen die Männer aufeinander los, und mehr als einmal wankte Parzival unter den wuchtigen Hieben seines Gegners. Aber endlich glückte es ihm, Kingrun mit einem Schlag zu Boden zu werfen. Er setzte ihm das Knie auf die Brust und hob drohend das Schwert. Da mußte der stolze Kingrun, der sich rühmte, noch nie besiegt worden zu sein, um sein Leben bitten. „Dann versprich mir Frieden“, forderte der Sieger. „Das will ich. Ich gelobe dir Sicherheit, ich werde dich niemals angreifen.“ „Nicht mir sollst du Sicherheit geben, nicht mein Gefangener sollst du sein. Wenn du dein Leben behalten willst, reite an den Hof von König Artus. Da lebt eine schöne Frau, die meinetwegen geschlagen wurde. Biete ihr meinen Gruß, diene ihr und verteidige ihre Ehre.“ Herr Kingrun mußte es versprechen, so sauer es ihn ankam. Wir wollen berichten, wie es ihm erging. Er wurde freundlich am Artushof aufgenommen und richtete Parzivals Botschaft getreulich aus. Einer aber erschrak sehr, als Kingrun der Dame Kunneware seine Dienste anbot: Das war Herr Keie. Er meinte bei sich, es sei wohl besser, gleich um gut Wetter zu bitten, und redete Kingrun an: „Seid willkommen! Wenn auch Euer Besieger mir zürnt, so können wir doch gute Freunde werden. Ihr müßt mir helfen, Kunneware zu versöhnen. Was könnte ich wohl für sie tun? O ich weiß es: Ich werde ihr einen großen Pfannkuchen backen lassen!“ Etwas Besseres fiel Herrn Keie nicht ein.
Vor Belrapeire herrschte den ganzen Tag ein wildes Kampfgetümmel, auf beiden Seiten wurde tapfer gestritten, und erst, als sich die Dunkelheit über das Feld legte, trennten sich die ermatteten Ritter. Aus allen Häusern liefen die Bürger herzu, als Parzival in die Stadt einritt, zum erstenmal nach langer Zeit gab es wieder zuversichtliche Mienen, und mitten in einem vor Freude lärmenden Haufen gelangte Parzival endlich ins Schloß. Wie dankbar begrüßte ihn Kondwiramur! Er hatte sie aus der Gefahr dieses Tages gerettet – und der Mann, den sie zu lieben begonnen hatte, war der schönste und tapferste Held! Bescheiden nahm Parzival den Dank der Herrin entgegen und versprach ihr, nicht eher vom Kampfe abzulassen, bis alle Feinde vertrieben seien. Nun hätten sie gern ein Festmahl miteinander gehalten, und Parzival dachte mit Unbehagen, wie er wohl seinen Bärenhunger mit dem kärglichen Essen stillen sollte, das sich die armen Städter seinetwegen sogar noch vom Munde absparen mußten. Aber ein Wunder geschah: Im Hafen trieben zwei Schiffe an, die bis oben hin mit Fleisch, Brot, Früchten, Honig, ja mit Wein beladen waren! Das feindliche Heer hatte die Ankunft der Schiffe nicht verhindern können, und nun strömte die ganze Stadt aus den Mauern, alt und jung drängten sich am Kai, und die Kaufleute auf den Schiffen verkauften im Handumdrehen alle Ware gegen teures Geld und erhielten noch gute Worte obendrein. Der Marschall sorgte dafür, daß jeder sein Teil bekam, und nach langen Monaten der Not sah man nun den Rauch aus hundert Schornsteinen steigen, hörte die Braten brutzeln und schnupperte tief den Duft der guten Speisen ein. Am Hof der Königin ging es besonders festlich zu, denn wenn auch noch keiner es aussprach, so sah doch jeder, daß Parzival und die schöne Kondwiramur einander liebten. In
dieser und der folgenden Nacht saßen die beiden wieder beieinander und erzählten sich so vieles, sahen sich immer wieder in die Augen und fanden zärtliche Worte füreinander. Aber noch war die Gefahr für die Stadt nicht vorbei, denn jetzt wurde gemeldet, daß Klamidee selbst mit einer neuen Streitmacht heranrückte. Er hatte geflucht und getobt, als er von Kingruns Niederlage hörte. „Und ich dachte doch, die Stadt sei ausgehungert und die Königin werde mir als leichte Beute zufallen! Gut, sie soll spüren, daß ich sie dennoch zwingen kann!“ So führte er sein Heer zu einem Angriff gegen die Stadt, aber von Parzivals mannhaften Kämpfen ermutigt, schlugen sich Kondwiramurs Ritter tapfer mit den Feinden. Sogar die Bürger liefen mit Spießen und Schwertern auf das Kampffeld und beteiligten sich am Getümmel. Parzival hatte alle Mühe, sie davon abzuhalten, besiegte Feinde wahllos zu töten. „Laßt die Besiegten leben! Ihr sollt sie gefangennehmen, aber nicht töten! Wer wird denn einen wehrlosen Gegner umbringen!“
Klamidee saß fest auf seinem Roß, ergrimmt und verzweifelt. Er brauchte Parzival nicht erst zum Zweikampf zu fordern – der rote Ritter kam ihm entgegen, und wieder ging es an ein Stechen und Schlagen, von dem alle, die es sahen, noch nach vielen Jahren erzählten. Klamidee war stark und kühn – aber Parzival schlug sich besser, und endlich lag auch Klamidee besiegt am Boden. Schon erwartete er den Todesstreich, denn er wußte ja, daß er wegen der Not, die er über Belrapeire gebracht hatte, den Tod verdiente. Aber er bat: „Laßt mir das Leben! Kondwiramur ist dein – du gewinnst keine Ehre, wenn du mich tötest! Ich will den Krieg einstellen und dir Frieden für alle Zeit versprechen.“
„Dann reite an den Hof von König Artus, grüße ihn und biete deine Dienste der Dame an, die meinetwillen Schläge erlitten hat.“ So kam es denn, daß eines Tages ein gewappneter Mann mit zerhauenem Schwert und verbeultem Schild langsam in den Hof von König Artus ritt und nach der Dame fragte, die um des roten Ritters willen Schande erlitten hatte. Frau Kunneware lachte: „Ein zweiter Ritter, der meine Ehre beschützen wird!“ Sie nahm ihm den Helm ab, da hörte man Herrn Kingrun rufen: „O weh, mein Herr und König! So seid Ihr auch besiegt? Nun hat König Artus Glück, denn jetzt sitzen zwei weitere Ritter an seiner Tafelrunde, die sonst ihr eigenes Land zu schützen wußten.“ Artus nahm ihn freundlich auf, und Herr Keie zog Klamidee beiseite und flüsterte: „Herr, Euer Besieger muß aber sehr übertrieben haben! Es braucht doch nicht zwei Ritter, um Kunneware vor mir zu schützen! Was hab ich denn anderes getan, als sie nur Zucht und Ordnung gelehrt?“ Es war ihm gar nicht wohl – er dachte mit Sorgen daran, wie sich der rote Ritter an ihm wohl rächen würde.
Parzival auf Munsalvaesche
Parzival herrschte nun als König in der Stadt Belrapeire, an der Seite seiner schönen Kondwiramur. Eines Tages aber bat er sie um Urlaub: „Ich will meine Mutter aufsuchen, die sich sicherlich um mich grämt. Sie soll wissen, daß ich jetzt Ruhm und Ehre und die schönste und liebste aller Frauen errungen habe! Laß mich für kurze Zeit fortreiten – du weißt, daß ich bald zu dir zurückkomme!“ Ungern ließ ihn Frau Kondwiramur ziehen, aber sie dachte voller Mitleid an
Parzivals verlassene Mutter und wünschte ihr, daß sie den Sohn bald wieder in ihren Armen halten werde. Niemand hatte berichtet, daß Frau Herzeleide schon lange unter der Erde lag. Ganz allein ritt Herr Parzival durchs Land, und er ritt schnell – getrieben von der Sehnsucht nach der Mutter und nach Kondwiramur. Am Abend schon kam er an einen großen See, auf dem er Männer beim Fischen sah. Einer von ihnen war so prächtig gekleidet, wie wohl noch nie vorher und nachher ein Mann zum Fischen gezogen ist. Ihn rief Parzival an: „Herr, sagt mir, wo ich für die Nacht eine Herberge finde?“ Langsam und hohl tönte die Antwort über den See: „Weit und breit gibt es nur ein einziges Haus. Es ist meines, und ich will Euch gern für die Nacht aufnehmen. Reitet bis vor den Burggraben und bittet, daß man Euch die Brücke herunterlasse!“ Parzival dankte, ritt weiter und kam vor den Graben, an dem die Brücke hochgezogen war. Alles war sehr still. Die Burg lag jenseits des Grabens auf einem steilen Felsen. Parzival rief: „Laßt mir die Brücke herunter!“ Am Tor hielt ein Knappe Wache, der fragte, wer er sei und was er wolle. Parzival antwortete: „Der Fischer hat mich hergewiesen!“ Da fiel wie mit einem Zauberschlage die Brücke herunter, Parzival ritt hinüber und spornte sein Pferd, daß es den steilen Pfad zur Burg hinaufklomm. Auf dem Burgplatz wuchs Gras – man sah, daß hier niemals Kampfspiele abgehalten wurden, denn sonst wäre der Boden wohl zerstampft gewesen. Parzival fragte sich, ob er hier überhaupt ritterliche Gesellschaft finden werde – da öffnete sich schon das Tor, eine Schar von Rittern drängte heraus, nahm ihn freundlich in Empfang und versorgte das Pferd. Der Gast bat um Wasser, um sich den Staub und Rost abzuwaschen, und legte dann einen kostbaren Pelzmantel um, den ihm die Knappen brachten. Da staunten alle über den
schönen Fremden. Parzival aber wunderte sich, daß alle Damen und Herren des Hofes so traurig schienen, so bedrückt. Er hätte gern den Grund gewußt, aber fragen – nein, fragen wollte er nicht. Und er nahm sich vor, die Augen gut offenzuhalten, um zu sehen, was es hier für eine Not habe. Man führte ihn in den Burgsaal, der größer und glänzender war als alles, was Parzival bisher gesehen hatte. Hunderte von Kerzen erhellten ihn, auf dem Boden lagen kostbare Teppiche, und überall waren Polster darüber verteilt, auf denen die Ritter Platz nahmen. Vier große marmorne Feuerstellen verbreiteten Wärme, und an dem stärksten Feuer lag der Burgherr, der Fischer, der Parzival zu Gast geladen hatte. Parzival bemerkte wohl, daß der Burgherr krank schien, er war in viele Decken und schwere Pelze gehüllt und zitterte doch vor Kälte oder Schmerzen. Trotzdem empfing er den Gast herzlich und bot ihm einen Platz neben sich. Parzival sah sich um und blickte in traurige Gesichter. Alle Stimmen klangen gedämpft, niemand wagte ein lautes Wort oder gar ein Lachen. Und plötzlich verstummte jedes Geräusch: Ein Knappe sprang in den Saal und hielt hoch über sich eine Lanze, aus der Blut quoll! Da erhoben alle Anwesenden ein Geschrei, jeder weinte bitterlich, und den Burgherrn schüttelte es wie im Krampf. Der Knappe trug die Lanze hinaus, und wieder senkte sich die Stille über die Gesellschaft.
Dann öffnete sich eine breite Tür, vier herrlich geschmückte Frauen traten herein, die hohe Kerzen in den Händen hielten. Ihnen folgten andere, die eine Bank aus Elfenbein vor den Burgherrn stellten, und wieder neue, und stets anders und prachtvoll geschmückte brachten eine Tischplatte aus einem einzigen leuchtenden Edelstein und legten sie auf die
Elfenbeinbank vor den König. Immer mehr edle Frauen erschienen, ihre Gewänder leuchteten in allen Farben, die Gürtel waren mit funkelnden Steinen besetzt, Blumen schmückten das Haar, Ringe und Spangen blitzten im Kerzenlicht. Parzival wußte kaum, ob er träumte oder wachte – soviel Pracht und soviel Traurigkeit hatte er noch nie beisammen gesehen! Denn immer noch saßen alle Ritter mit betrübten Gesichtern da, und der Burgherr schien fast seinem Tode nahe. Die schönen Frauen brachten dem Herrn alles, was zu einem Mahle gehört, Geräte und Becher aus purem Golde. Dann erschien die Herrlichste und Vornehmste von allen. Ehrfurchtsvoll stellten sich die anderen Frauen ihr zur Seite. Sie trug in der Hand auf grünem Seidentuch eine Schale, von der ein Leuchten ausging, heller als alle die hundert Kerzen im Saal – es war der Gral, der Inbegriff aller Vollkommenheit und aller Freude, die ein Mensch auf der Erde ersehnen und erreichen kann. Sie setzte den Gral vor dem Burgherrn auf die Edelsteinplatte. Und nun begann ein eifriges Laufen, denn jetzt trugen die Knappen die Tische für die Ritter herein, setzten sie nieder und bedeckten sie mit feinen Tüchern, kostbaren Geräten und Bechern. Andere reichten Schalen herum, in deren Wasser sich jeder die Finger wusch, und ein feiner Junker bot das Seidentuch, mit dem sie sich die Hände trockneten. Und wo blieben die Speisen? Staunend sah Parzival, wie auf dem Tisch vor dem Gral plötzlich Brot und Wein, Fleisch und Früchte standen – so vielerlei, so ganz verschiedene Dinge, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er merkte, daß jeder Ritter nach dem griff, was er sich offenbar gerade gewünscht hatte: Es war der Segen des Grals, daß er allen Rittern der Gralsrunde die Speisen
bescherte, die sie sich wünschten – ohne Koch und Küche. Die edlen Herren waren beim Gral zu Gaste. „Und doch sind sie so bedrückt!“ dachte Parzival. „Was mag ihnen fehlen? Aber ich will nicht fragen. Vielleicht ist es den Herren nicht lieb, wenn sie nach ihrem seltsamen Dasein gefragt werden.“ So verschloß er seine Gedanken, saß höflich und stumm neben den anderen und die Wunder und die Pracht, die er ringsum sah, die schönen Frauen, ihr Schmuck, ihre Kleider – das alles fesselte ihn so sehr, daß er nicht weiter über die Trauer der Gesellschaft nachdachte. Er war noch sehr jung.
Nun brachte ein Knappe ein Schwert, wie Parzival es noch nie gesehen hatte; silbern glänzte die Schneide, der Griff war aus Rubin gemacht. Der Burgherr reichte es dem Gast: „Nehmt das Schwert als Gastgeschenk. Ehe mich Gott mit Krankheit schlug, habe ich es oft geführt, und es hat mich nie im Stich gelassen. Tragt es zur Ehre Gottes und der Ritterschaft!“ Und nun hätte Parzival wohl fragen dürfen – oder gar fragen müssen? Aber er dachte an Gurnemanz’ Lehre und schwieg, ergriff nur mit tiefer Verneigung das kostbare Schwert und freute sich darüber. Er bemerkte kaum, daß nicht nur der Burgherr, sondern alle Damen und Herren ihn flehend anblickten. Der Gral wurde hinausgetragen, die Tische abgeräumt. Müde wünschte der Burgherr seinem Gast eine gute Nacht. Man führte Parzival in das schönste Schlafgemach, in dem er je geruht hatte, Knappen entkleideten ihn, nahmen ihm die Schuhe ab und führten ihn an sein Lager. Kaum lag er, kamen vier hübsche Mädchen mit Wein und Säften und baten ihn, noch ein wenig wach zu bleiben und ihnen von seinen Abenteuern zu erzählen. Er gefiel ihnen so gut, wie er da lag, mit dem frischen Gesicht, das unter der Seidendecke
hervorsah! Parzival tat ihnen den Gefallen, trank auch ein wenig und wünschte dann eine gute Nacht. Als die Knappen sahen, daß er eingeschlafen war, stellten sie die Kerzen auf den Teppich und gingen davon.
Er schlief nicht gut, er träumte wirr und schrecklich, stöhnte und warf sich auf seinem Lager umher. Als er erwachte, lag er mit Schweiß bedeckt. Es war heller Tag. Niemand war zu sehen, alles blieb still. Auf dem Boden lagen sein Harnisch und zwei Schwerter – neben dem, das er einst Ither abgewonnen hatte, die ihm vom Burgherrn überreichte Waffe. Er wunderte sich: „Warum legt man mir die Rüstung hin? Soll ich weiterreiten? Oder steht hier ein Kampf bevor, in dem ich den Rittern helfen kann? Das täte ich gern!“ Er wappnete sich rasch und gürtete sich beide Schwerter um. Als er aus dem Zimmer trat, fand er keinen Menschen, alle Räume waren leer und verlassen, kein Knappe ließ sich sehen. Seine Sporen klirrten, seine Schritte hallten in den weiten Sälen – sonst war kein Laut zu hören. Parzival stieg die Treppe hinunter – kein Mensch war zu sehen, leer lag der Burghof in der Morgensonne, nur sein Pferd stand an einer Linde angebunden. Wie zornig wurde Parzival! „Ist das eine Art, den Gast zu verabschieden? Ihn einfach schlafen zu lassen? Ich sehe doch an dem zertretenen Gras, daß die Ritter aufgebrochen sind – warum haben sie mich nicht geweckt und mitgenommen? So freundlich hat man mich gestern aufgenommen, und so unhöflich betragen sich die Herren heute!“ Grollend bestieg er sein Pferd.
Als er es zum Tor hinauslenken wollte, ließ ihn eine gellende Jungenstimme herumfahren: „Ihr seid ein Schafskopf! Konntet Ihr nicht den Mund aufmachen? Nun habt Ihr Euer Glück verspielt und unseres dazu!“ Ehe Parzival den Frechen erwischen konnte, war der schon hinter einer Tür verschwunden. Zornig ritt Herr Parzival, den man hier einen Schafskopf gescholten hatte, aus dem Tor, den vielen Pferdespuren nach. „Ich werde sie mit meinem guten Pferd sicher noch einholen, und dann sollen sie sehen, was meine Waffenhilfe wert ist!“ Ach Parzival! Keine Ahnung sagte dem Zornigen, das es vorbei war für ihn mit den Tagen übermütigen Abenteuers und ritterlicher Kampfeslust!
Die Fährte verlor sich, und der Reiter gab es auf, nach den Spuren zu suchen. „Ich will meinen eigenen Weg reiten. Wo man mir so unhöflichen Abschied gegeben hat, will man nichts mehr von mir wissen. Aber warum hat man mich so behandelt?“
Die zweite Begegnung mit Sigune
Er ritt jetzt langsam und nachdenklicher dahin. Plötzlich riß ihn ein heftiges Jammern und Weinen aus seinen Gedanken. Er fand unter einem hohen Baum eine weißhaarige, elend gekleidete Frau, einen toten, einbalsamierten Ritter. „Herrin, was klagt Ihr?“ Diesmal fragte Parzival – jetzt hatte er die Lehre von Gurnemanz vergessen. „Kann ich Euch helfen?“ Trübe blickte die Frau ihn an. „Ich weiß nicht, wer Ihr seid, aber wäret Ihr auch der beste Ritter, könntet Ihr mir nicht helfen. Hier liegt mein Freund, tot seit langem, und ich beweine ihn all’ meine Tage hindurch, die ich noch auf der Erde leben muß. Reitet weiter, seid glücklich, wenn Gott es Euch gestattet.“ Als Parzival sich nicht zufrieden gab und weiter in sie drang, sich aus dem Walde führen zu lassen, fragte sie plötzlich: „Wie seid Ihr in diese Einsamkeit gekommen? Hier gibt es weit und breit kein Haus. Nur eine einzige Burg auf steilem Felsen würdet Ihr hier finden – aber wer sie absichtlich sucht, findet sie nie. Nur den, der von Gott dazu auserwählt ist, führt sein Weg nach Munsalvaesche, der Burg der höchsten Glückseligkeit auf Erden, dem Hort des herrlichsten Schatzes. Wie mancher wäre gern nach Munsalvaesche gelangt, wo der Gral alle Freuden spendet! Und möchte doch endlich der
Auserwählte kommen! Denn jetzt herrscht Trauer auf Munsalvaesche. Der Burgherr Anfortas ist lange schon krank, Gott hat ihn mit Elend geschlagen, weil er seine Pflicht verletzt und den Gral entweiht hat. Wenn der Rechte kommt, wird Anfortas von seiner Krankheit geheilt, sein Retter besteigt den Gralsthron und erhält die höchsten Ehren der Ritterschaft.“ Langsam sprach Parzival vor sich hin: „Große Wunder habe ich dort erlebt.“ „Du bist Parzival!“ rief die Frau. „Binde den Helm auf, damit ich dein liebes Gesicht sehe!“ Parzival gehorchte, und endlich erkannte er auch Frau Sigune. Erschrocken rief er: „Und wo ist dein dunkles Haar geblieben? Warum bist du so elend?“ „Sigune bin ich, aber die Sigune von einst ist tot. Seit du mich damals unter dem Baum gefunden hast, habe ich nur noch um meinen Liebsten Schionatulander getrauert, und ich werde es tun, bis Gott mich von diesem Leben erlöst. – Und du bist in Munsalvaesche gewesen! Ich grüße dich, Parzival, Herrlichster von allen! Du warst von Gott ausersehen! Anfortas’ Schwert erkenne ich, das Wunderschwert. Es bleibt beim ersten Schlag immer heil, wie fest und hart auch Helm und Harnisch derer sind, gegen die du es schwingst. Aber mußt du einen zweiten Schlag tun, dann zerspringt es. Es wird wieder heil, wenn du die Stücke in die Quelle Lag tauchst und die rechten Worte dazu sprichst. Hast du sie gelernt? Und sag mir, ist Anfortas gesund? Herrscht die Freude wieder auf der Gralsburg?“ Parzival schwieg. Wie düster erschien ihm plötzlich der helle Tag! Eine unerklärliche Traurigkeit durchdrang sein Herz, mühsam atmete er. „Hast du die Frage getan, die Anfortas erlöst?“ drängte Sigune. „Hast du ihn mitleidig und hilfsbereit nach dem Grund seiner Leiden gefragt?“ „Ich habe nicht gefragt.“
„Weh dir, Parzival!“ schrie Sigune auf. „Du hast alles verloren. Du warst auserwählt und hast dich nicht bewährt. Gott hat dich nach Munsalvaesche geführt, dein mitleidiges Herz sollte sich der Bedrängten erbarmen, und du hast herzlos geschwiegen! Ist das deine Ritterehre, daß dich der Schmerz anderer Menschen nicht rührt? Warum hast du nicht nach Anfortas’ Leid gefragt?“ „Ach liebe Sigune, schilt mich nicht so! Was ich verfehlt habe, will ich büßen.“ „Büßen? Daß du den Gral versäumt hast, kannst du nicht büßen. Gott zürnt dir. Verfluchter Mann! Reite weiter. Ich will dich nicht mehr sehen.“ Stumm grüßte Parzival, stumm ritt er von dannen.
Parzival trifft auf Herzog Orilus
Parzival grübelte und verstand nicht, was er versäumt hatte. Gurnemanz hatte ihn unterwiesen, nicht mit Fragen lästig zu fallen – und die Lehre hatte er befolgt. Aber tief in seinem Herzen erwachte schon die Einsicht, daß höfische Sitten da nicht gelten können, wo es um eine höhere Pflicht geht: um Mitleid und Hilfe für die Bedrängten. Gedankenlos hatte er das Wichtigste versäumt, Menschenliebe und tätige Hilfe. Er schämte sich, aber noch ahnte er nicht, wieviel Leid ihm daraus erwachsen sollte. Er trug den Helm offen und ließ die kühle Waldluft um die heiße Stirn streichen. Als er so in Gedanken dahinritt, begegnete er einer Frau, die in Lumpen und halbnackt auf dem elendsten Pferd saß, das Parzival je gesehen hatte. Er erkannte sie nicht – aber sie hatte das Gesicht des Menschen nicht
vergessen, der ihr soviel Kummer gemacht hatte. Es war Frau Jeschute, die nun jahrelang in diesem beschämenden Aufzug durch die Lande ritt. Parzival wunderte sich sehr, zumal er vor der Dame einen prunkvoll gekleideten Ritter traben sah. Parzival näherte sich der Frau und bot ihr seine Hilfe an. „Ihr könnt mir nicht helfen – und dabei seid Ihr es, dem ich meine schreckliche Lage verdanke!“ „Herrin, das kann nicht sein! Wie wäre das möglich? Seit ich Ritterehre kennenlernte, habe ich nie einer Dame Unrecht zugefügt!“ Sie schluchzte nur und versuchte, mit ihren Lumpen – denn an ihrem Hemd war eigentlich nur der Kragen noch heil – ihre Nacktheit zu verbergen. Sie erinnerte ihn an sein Abenteuer im Zelt, und schließlich bat sie ihn weinend, sie zu verlassen. „Der Ritter, den Ihr dort seht, trachtet Euch nach dem Leben!“ Da band sich Parzival den Helm fester, zog den Gesichtsschutz herunter und machte sich zum Kampf bereit. Und schon sprengte Herzog Orilus wortlos mit eingelegtem Speer auf ihn los. Die Speere zersplitterten unter dem Anprall, beide zogen die Schwerter und hieben aufeinander los. Laut klang der Kampf durch den stillen Wald, und Frau Jeschute rang die Hände. Sie schwangen die Schwerter, daß Schild und Helm schartig wurden, daß die funkelnden Edelsteine absprangen. Schließlich gelang es Parzival, seinen Gegner vom Pferd zu reißen und ihn rücklings über einen Baumstamm zu legen. In dieser unbequemen Lage mußte Herzog Orilus Frieden geben! „Was verlangt Ihr von mir?“ fragte er. „Ihr sollt Eure Dame wieder zu Ehren kommen lassen.“ „Das will ich nicht! Sie ist eine treulose Frau, sie hat mich hintergangen. Fordert an Lösegeld, was Ihr wollt, ich bin reich genug – aber mit der Herzogin versöhne ich mich nicht wieder!“
Jeschute hätte gern den Streit geschlichtet, wagte es aber nicht, weil es doch um sie ging. Parzival beharrte auf seiner Forderung: „Ihr versöhnt Euch mit der Dame, die Euch ganz gewiß niemals Schande gemacht hat – sonst hätte Gott mich nicht diesen Zweikampf gewinnen lassen! Gebt zu, daß ich der Frau wieder die Ehre erkämpft habe! Und dann will ich, daß Ihr mit Eurer Frau an den Hof von König Artus zieht und einer Dame Dienste anbietet, die um meinetwillen Schläge erdulden mußte.“ Dem Herzog war sein Leben lieb, und wenn er es nur um diesen Preis behalten sollte – nun, da gab er nach. Widerwillig bot er Frau Jeschute seinen blutverschmierten Mund, und die Dame in ihren Lumpen küßte ihn herzlich.
Zu dritt ritten sie weiter, bis sie an die Klause eines Einsiedlers kamen. Kein Mensch ließ sich blicken. An einem Heiligenschrein lehnte ein großer bunter Speer. Den ergriff Parzival: „Bei diesem Zeichen des Rittertums und bei dem Heiligtum schwöre ich, daß Frau Jeschute nichts Unrechtes getan hat! Ich war ein Tolpatsch, als ich in ihr Zelt eindrang, ich wußte nichts von wahrem Rittertum, und es tut mir von Herzen leid, daß ich ihr die Spange und den Ring entriß. Den Ring gebe ich Euch zurück – die Spange hab ich leider vertan.“ Nun endlich überwand Orilus sein böses Mißtrauen. Mit Freude und Reue zugleich nahm er seine Frau in die Arme und gab ihr jetzt erst den rechten Versöhnungskuß. Dann hängte er ihr seinen prachtvollen Mantel um, und von dieser Stunde an begann wieder eine glückliche Zeit für die arme Frau Jeschute. Die beiden nahmen Abschied von Parzival, ritten zu dem Zeltlager, wo ihr Gefolge wartete, und erfrischten sich nach der langen Fahrt und dem blutigen Kampf. Schön geschmückt und auf stolzen Pferden ritt das wieder vereinte Paar an den
Hof von König Artus, wo es freundlich aufgenommen wurde. Herzog Orilus fragte nach der Dame, der er seine Dienste anbieten solle, und wurde zu ihr geführt. Da erkannte er in Kunneware zu ihrer beider Erstaunen seine eigene Schwester! Ihre Freude teilten alle, die anwesend waren – bis auf einen, Herrn Keie. Er sah, daß ihm Herzog Orilus finstere Blicke zuwarf, und fürchtete schon um sein Leben. „Hätte ich mich damals nur besser beherrscht! Wer konnte aber auch ahnen, daß der junge Narr ein großer Ritter werden würde, der immer neue Herren zu Kunnewares Ehre herschickt!“ Er bat Herrn Kingrun, für diesen Tag das Amt des Hofmarschalls zu übernehmen, damit er nicht dem Herzog unter die Augen treten müsse. Aber er sorgte wenigstens für ein herrliches Festmahl, das er in Kunnewares Zelt schickte. König Artus freute sich, wieder einen tapferen Ritter für seinen Hof gewonnen zu haben, aber nun hätte er auch zu gern den roten Ritter selbst in seiner Tafelrunde gesehen. Deshalb fragte er sein Gefolge, ob es mit ihm ziehen wollte, Parzival zu suchen, und alle stimmten freudig zu. Doch seine Ritter mußten ihm versprechen, unterwegs nicht jeden Fremden zum Zweikampf zu fordern. „Zügelt Eure Lust am Kämpfen! Wir kommen in fremdes Land und müssen uns vorsichtig und nicht wie Strauchritter aufführen!“ Wer da meinte, daß er unbedingt einen Zweikampf ausfechten müsse, brauchte dazu die Erlaubnis des Königs.
Die drei Blutstropfen
Unterdessen ritt Parzival einsam umher. Er war mit sich selbst zerfallen, denn sein Versäumnis auf Munsalvaesche bedrückte ihn täglich stärker, und Sigunes böse Worte gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Den Gral mußte er wiederfinden! Darüber vergaß er sogar Kondwiramur. Eines Morgens ritt er über eine dünne Schneedecke, die über die Frühlingsblumen gefallen war. Da sah er einen Sperber eine Gans greifen, die ihm noch entkommen konnte. Drei Blutstropfen fielen in den Schnee. Parzival hielt sein Pferd an und starrte auf die roten Tropfen. Er sah plötzlich Kondwiramur vor sich, ihren roten Mund, ihr weißes Kinn. Verzaubert blickte er auf das Blut, keinen Schritt ritt er weiter. Ruhig stand das Pferd, starr saß der Mann. So erblickte ihn ein Knappe vom Gefolge König Artus’. Er hielt den schwer gewappneten Ritter für einen Feind. Eifrig lief er ins Lager zurück und schrie aus Leibeskräften: „Wacht auf! Im Walde steht ein fremder Ritter in Waffen! Sicher hat er ein Heer bei sich! Auf! Feinde sind in der Nähe!“ Als erster hörte ihn ein junger Ritter, der schon lange auf seinen ersten Zweikampf brannte. Da er Ginevras Neffe war, drang er in ihr Zelt ein und bat sie stürmisch, bei König Artus die Erlaubnis zum Kampf für ihn zu erwirken. Sie fuhr ihm lächelnd durchs Haar und ging zu Artus. Der König gab ungern seine Zustimmung, denn hier, in der Nähe des Gralsheeres, hätte er lieber gesehen, wenn sich seine Ritter friedlich verhalten hätten. Aber schließlich gestattete er Ginevras Neffen, den unbekannten Ritter aufzusuchen.
Der junge Ritter rüstete sich eilig, schwang sich auf sein Pferd und ritt in den Wald. Parzival hörte und sah ihn nicht, noch immer starrte er wie gebannt auf die Blutstropfen. „He!“ schrie der junge Mann. „Was wollt Ihr hier bei König Artus’ Zeltlager? Sucht Ihr Streit?“ Parzival antwortete nicht. Zornig schalt der andere: „Ihr glaubt wohl, weil ich jung bin, könnt Ihr mich verachten? Bin ich keiner Antwort wert?“ Und schon spornte er sein Pferd, um den unbeweglichen Fremden anzurennen. Dabei erhielt Parzivals Roß einen Stoß, so daß es sich umdrehte. Damit kamen die Blutstropfen Parzival aus dem Gesicht, und nun erkannte er verwundert einen Ritter, der ihn mit eingelegtem Speer bedrohte. Da faßte Parzival den seinen fester und hob mit leichtem Stoß den Fremden aus dem Sattel. Dann wandte er sich und starrte wieder auf die Blutstropfen. Ginevras Neffe erhob sich verdutzt. Er schämte sich schrecklich, so rasch besiegt worden zu sein, und schlich sich, das Pferd am Zügel führend, ins Lager zurück, wo man ihn natürlich mit seinem mißglückten Abenteuer neckte. Nur Ginevra tröstete ihn: „Beim nächsten Kampf wird es dir besser gehen!“ Die Niederlage des jungen Ritters wurmte vor allem Herrn Keie. Er ging zum König und schlug ihm vor: „Laßt mich mit dem unbekannten Ritter kämpfen! Das ist ja eine Schande für den Hof von König Artus, wenn der Fremde dort noch immer drohend stehenbleibt! Das gehört sich nicht – hier in der Nähe unseres Lagers hat kein Ritter etwas zu suchen, der uns nicht freundlich um Aufnahme bittet!“ So erhielt auch Herr Keie die Erlaubnis zum Zweikampf. Eifrig sprengte er Parzival entgegen und sah ihn verzückt auf die Blutstropfen starren.
Er redete ihn an: „Herr, Ihr wollt uns wohl kränken! Ihr wollt König Artus’ Ritterrunde beleidigen? Warum habt Ihr Euch hier so drohend aufgepflanzt? Ich werde Euch jetzt an einem Strick zum König führen!“ Seine Scheltworte, mit denen er den roten Ritter zum Kampf reizen wollte, verhallten ungehört. Parzival war wie taub – er nahm nichts wahr außer dem Blut, vor sich sah er nur Kondwiramur. Da stieß Keie ihn heftig an. Parzivals Pferd
wandte sich, da sah der rote Ritter das Blut nicht mehr, sondern erkannte nur einen Gegner, der ihm mit eingelegtem Speer entgegenstürmte. Er ritt ihn an, und beider Männer Speere bohrten sich bei dem Anprall tief in den Schild des Gegners. Parzivals Speer zersplitterte. Keie stürzte, sein Pferd mit ihm – und das war gleich tot. Keie aber hatte den linken Arm und dazu das rechte Bein gebrochen, lag im Schnee und schimpfte und jammerte. Parzival merkte nichts davon – er hatte sich wieder umgedreht und starrte auf die Tropfen im weißen Schnee. Keies Gezeter rief Knappen und Herren herbei, die ihn behutsam ins Lager trugen. Manch einer lachte heimlich: Das geschieht Herrn Keie recht! Der Ritter Gawan – Artus’ liebster Gefährte und nach Parzival der schönste und tapferste Ritter – beugte sich über den armen Keie und bedauerte ihn herzlich. Aber Keie schalt: „Was bedauerst du mich? Du sollst mich lieber rächen! Zieh hinaus und kämpfe mit ihm! Jetzt macht dieser grobe Mensch den Mund nicht auf, aber später wird er überall erzählen, daß König Artus keine Männer mehr hat!“ Als Gawan zögerte, wurde Keie immer zorniger: „Jetzt kannst du zeigen, ob du wirklich der große Held bist, als den man dich überall preist! Was hast du eigentlich in den Adern? Blut oder Wasser?“ Gawan lächelte über Keies Ärger, hätte nun aber selbst gern gewußt, was es mit dem fremden Ritter auf sich habe. Er bestieg sein Pferd und ritt hinaus, nahm aber kein Schwert mit. Den Fremden fand er sogleich und grüßte ihn freundlich – Parzival hörte es nicht. Da ritt Gawan nahe an ihn heran: „Herr, wollt Ihr Streit auch mit mir, weil Ihr meinen Gruß nicht erwidert? Was habt Ihr gegen mich und meine Freunde, die Ihr eben besiegt habt? Warum seid Ihr uns feindlich gesinnt?“ Es kam keine Antwort, Parzival war weit fort in seinen Gedanken. „Kondwiramur“, flüsterten seine Lippen. Endlich
bemerkte Gawan, worauf der rote Ritter so verzaubert starrte, nahm sich den Mantel ab und warf ihn über die Blutstropfen. Da wich der Bann von Parzival, er hob das Haupt wie einer, der aus tiefem Schlaf kommt: „Kondwiramur! Wo bist du nun? Eben warst du mir nah, ich sah deinen roten Mund und dein weißes Kinn! Ach, wie lange bin ich schon fort von Belrapeire!“ Dann endlich fiel sein Blick auf den gewappneten Gawan. „Wolltet Ihr mit mir kämpfen? Aber wo ist mein Speer?“ „Den habt Ihr in einem Zweikampf zersplittert.“ „Aber gegen wen? Und wo? Und was wollt Ihr von mir? Ihr habt weder Schwert noch Schild bei Euch – was begehrt Ihr von mir? Glaubt Ihr, ich kämpfe gegen einen unbewaffneten Mann?“ „Ich will keinen Kampf“, entgegnete Gawan. „Ich bitte Euch freundlich, mit mir zu kommen. Hier ganz in der Nähe ist das Lager eines der mächtigsten Könige, edle Herren und schöne Frauen sind in seinem Gefolge. Kommt mit mir, ich verbürge mich dafür, daß Ihr willkommen seid!“ „Eure Worte sind freundlich, aber sagt mir auch Euren Namen. Wer ist Euer Herr?“ „König Artus heißt er, und auch mein Name ist nicht unbekannt. Ich bin sein Neffe, ich nenne mich Gawan. Kommt nur mit mir, edler Herr.“ „Du bist es, Gawan! Das ist mir lieb, denn von dir habe ich nur Gutes gehört. Immer schon habe ich gewünscht, mit dir zusammen zu reiten und zu leben.“ Er hatte seinen Helm abgenommen, und nun erkannte auch Gawan den jungen Fremden, der einstmals im Narrenkleid an Artus’ Hof erschienen war. „Du bist Parzival – du bist, den wir alle suchen. Ich habe dich gefunden!“
„Ich kann dir nicht folgen“, antwortete Parzival, „denn ich habe einen Streit mit einem Manne von Artus’ Gefolge. Er hat meinetwegen eine schöne Frau geschlagen, und ich muß mich erst an ihm rächen, ehe ich das Hoflager des Königs betreten kann.“ Laut lachte Gawan: „Lieber Parzival, das hast du schon getan! Herr Keie war es, der die schöne Kunneware schlug – und ihn hast du hier vorhin mit deinem Speer vom Pferd gerannt. Sei nur zufrieden – für die Schläge, die er damals austeilte, hat er jetzt unter großen Schmerzen zu stöhnen! Arm und Bein sind ihm gebrochen.“ Parzival wußte zwar immer noch nicht, wie alles zugegangen, aber er war zufrieden und ritt mit Gawan ins Lager. Unterwegs vernahm er, daß er vor Keie noch einen anderen Ritter besiegt hatte, und wieder schüttelte er verwundert den Kopf. Im Hoflager des Königs führte Gawan den Gast zuerst zu der schönen Kunneware. „Herrin, hier ist Euer Ritter, der Mann, der Euch drei edle Herren zu Euren Diensten sandte.“ „Welch schöner Tag, daß ich Euch wiedersehe, Herr!“ begrüßte sie ihn. „Ich habe Euretwegen zum erstenmal gelacht – und noch fröhlicher bin ich heute, wo ich Euch danken kann! Laßt Euch den Rost vom Gesicht waschen und erlaubt, daß ich Euch mit einem Kuß begrüße!“ Dann ließ sie aus ihrem Zelt – sie war eine reiche Fürstentochter – prächtige Gewänder für Parzival holen, und als sie sah, daß der neue Mantel noch keine Schnüre hatte, riß sie sich ein Band von ihrem eigenen und schnürte Parzivals damit zu. Das war freilich eine besondere Ehre, die er wohl zu würdigen wußte. Der Gürtel, den sie ihn umlegte, war mit Edelsteinen besetzt, den Mantelkragen schloß sie mit einem großen Rubin. Als Parzival so in seiner Jugend und Schönheit vor ihnen stand, bewunderten ihn alle, die ihn sahen, und meinten, daß
sie noch nie einen so herrlichen Mann gesehen hätten. Er erschien ihnen wie ein Engel – freilich ohne Flügel. Nun kam auch der König, den roten Ritter zu begrüßen: „Willkommen bei uns! Wir sind ausgezogen, Euch zu suchen, und Gawan ist das Glück und die Ehre zugefallen, Euch zu uns zu bringen. Parzival, Ihr habt mir Kummer und Freude gemacht, Kummer, als Ihr Ither erschlugt, Freude, als Ihr Kingrun, Klamidee und Orilus an meinen Hof gesandt habt. Nun macht mir die Freude und sagt zu, wenn ich Euch in meine Tafelrunde aufnehmen will.“ Parzival wußte, daß der König ihm damit eine hohe Ehre bot. Er nahm sie um so lieber an, als die anderen Ritter sich herzlich darüber freuten. König Artus lud zu einem Festmahl, das nach dem Brauch der berühmten Tafelrunde veranstaltet wurde. Weil die Runde ihr Fest nicht in der Burg des Königs, sondern im Zeltlager hielt, schlug man den runden Tisch im Freien auf – das bißchen Schnee war längst geschmolzen, die Frühlingsblumen im weichen Gras bildeten den schönsten Teppich. Frauen und Jungfrauen speisten mit den Rittern, aber nur diejenigen, die ihren Gemahl oder einen ihnen zu Diensten stehenden Ritter bei sich hatten – die anderen mußten von fern zuschauen, und das war ihnen gewiß recht betrüblich. Als die Damen erschienen, wandte sich Parzival zur Königin und bat sie, seinen Gruß entgegenzunehmen. „Verzeiht, Herrin, daß ich Euch so großen Kummer zufügte, als ich Ither erschlug!“ Sie sprach: „Ihr seid mir willkommen. Daß Ihr Euch so Frau Kunnewares angenommen habt, macht Euch viel Ehre. Freilich betrübt mich Ithers Tod, aber Ihr wart damals noch unbelehrt und wußtet nicht, was Ritterart ist.“ Zum Zeichen der Versöhnung küßte sie Parzival auf den Mund.
Kundries Fluch
Fröhlich setzten sie sich zum Mahl. Knappen und Mägde eilten mit Speisen herbei, Scherzworte flogen über den Tisch, ein Sänger machte sich bereit, seine Lieder vorzutragen. Da erschien plötzlich eine seltsame Gestalt am Waldrand und näherte sich der lustigen Runde: Auf einem kostbar geschmückten Maultier ritt eine Frau, deren Anblick alle mit Grausen erfüllte. „Kundrie! Die Gralsbotin Kundrie kommt! Was bringt sie?“ Lähmendes Schweigen ergriff die ganze Gesellschaft. Kundrie ritt heran. Sie war noch prächtiger gekleidet als die Damen des Hofes; lang hing ihr leuchtend blauer Mantel herab, Edelsteine blitzten von ihrem Gürtel. Aber der mit Pfauenfedern geschmückte Hut konnte nicht die borstigen Haare verdecken, nicht die Ohren, die wie die eines Bären geformt waren. Sie streckte drohend die Hände aus, die an Löwenkrallen erinnerten. Kundrie verhielt ihr Pferd vor dem König: „Einst warst du hoch geehrt, König Artus! Jetzt hast du Schande über dich und deine Tafelrunde gebracht. Nie mehr wird man von Euch allen Gutes rühmen! Du hast einen Mann aufgenommen, der sich wie ein Ritter gebärdet, aber der erbärmlichste Mensch auf der Welt ist!“ Starr vor Schrecken erwarteten sie alle Kundries nächste Worte. Keiner wagte aufzusehen – wen mochte sie meinen? Sie wandte sich Parzival zu: „Ihr seid es, die Schande der Ritterschaft! Ihr nennt Euch den roten Ritter nach Ither, den Ihr erschlagen habt. Aber Ither war ein untadeliger Mann, und Ihr führt seinen Namen zu Unrecht. Fluch über Euch! Ihr habt das schlimmste Leid über Menschen gebracht!
Warum war Euer Herz verschlossen, als Ihr in Munsalvaesche an der Gralstafel saßt? Gott führte Euch dorthin, denn Ihr wart ausersehen, Munsalvaesche zu erlösen. Aber Euer Herz ist ein Stein. Hat Euch der Schmerz des Gralsritters nicht gerührt? Gibt es außer Euch wohl noch irgendeinen Menschen, der Anfortas in seiner Qual sähe und nicht nach seiner Krankheit fragte? Euer Ruhm ist dahin. Ihr seid verflucht.“ Und weiter tönte ihre rauhe Stimme durch den Frühlingstag: „Euer Vater war ein edler Herr, Eure Mutter hat Euch liebevoll erzogen. Aber Euer Herz ist kalt und leer. Noch nie war ein Mann zu so hoher Ehre berufen, doch Ihr seid es nicht wert, daß Euch der elendste Knecht freundlich ansieht. Ihr habt einen Halbbruder im Lande Zazamank, der ist weiß und schwarz gefleckt und hat nicht den Segen der christlichen Taufe empfangen. Aber viel edler handelt er als Ihr! Er würde eher den Namen Christ verdienen als Ihr, der Gottes Ruf mißachtet hat! Ihr kennt kein Erbarmen, Ihr seid kein Ritter. Weh’ über Euch, Parzival, weh’ über König Artus’ Tafelrunde, und wehe, dreimal wehe über Munsalvaesche!“ Jetzt rang Kundrie weinend die Hände, wandte ihr Pferd und ritt davon. Über die Schulter rief sie noch dreimal ihr furchtbares „Wehe!“
Parzival verläßt die Tafelrunde
Das Schreckensbild war verschwunden, aber alle Freude hatte Kundrie mit sich genommen. Die schöne Kunneware weinte, und auch Frau Ginevra wischte sich die Tränen vom Gesicht.
Stumm und bedrückt saßen die Ritter, keiner wagte es, Parzival anzuschauen, der finster vor sich hinblickte. Nur der König Klamidee, der, von Parzival besiegt, hier als Ritter Kunnewares weilte, meinte, es sei der rechte Augenblick, Parzival um einen Dienst zu bitten. Während sich alle von der Tafel erhoben und sich in ihre Zelte begaben, trat er zu ihm und bat: „Ihr habt mich besiegt vor Belrapeire und mir die Fürstin entrissen, die schöne Kondwiramur, die ich mehr als mein Leben liebte. Nun bin ich hier als der Gefangene Kunnewares. Das aber ist unerträglich, wenn es lange dauern soll. Helft mir dazu, daß Kunneware meine Gemahlin wird. Ich habe sie herzlich lieb, will sie zu meiner Königin machen und mit mir in mein Reich nehmen.“ Parzival riß sich aus seiner Betäubung, bereit, Klamidee diesen Dienst zu leisten. Da auch Kunneware den König gern hatte, nahm sie mit Freuden seine Werbung an, und ihr Bruder Orilus war zufrieden, daß seine Schwester zur Königin erhoben wurde. Trübe stahl sich Parzival aus dem Kreis der Fröhlichen. Da trat eine Frau auf ihn zu, die als Gast an Artus’ Hof weilte. Es war die reiche Ekuba, eine Heidin, die aus ihrem fernen Land gekommen war, um die Christen und ihre Sitten kennenzulernen. Jedermann achtete sie wegen ihres herzlichen und höflichen Wesens. „Herr Parzival, Kundrie hat von einem Mann gesprochen, der mir vertraut ist – von Eurem Bruder Feirefiß, meinem Vetter. Er sieht freilich anders aus als alle anderen Menschen, denn seine Haut ist an manchen Stellen schwarz und an anderen weiß. Aber er ist ein mächtiger und berühmter Fürst, und sein Volk betet ihn an. Ihr, Herr Parzival, erinnert mich an ihn, auch Ihr seid liebenswert und kraftvoll, und ich weiß, daß Ihr Euch hohen Ruhm erworben habt. Was Ihr verfehlt haben
mögt, werdet Ihr wieder gutmachen – was Ihr an Anfortas versäumt, werdet Ihr an Hilfe anderen Bedrängten geben!“ Parzival dankte ihr. „Ihr wißt zu trösten, Herrin.“ Dann ging er König Artus nach, bei dem sich die vornehmsten Ritter versammelt hatten. „Dieser Tag, Herr, hat mir die Ehre gebracht, in die Tafelrunde aufgenommen zu werden – und mich danach in die tiefste Schande gestürzt. Ich bin hart verflucht worden. Nun mögt Ihr mir die Freundschaft kündigen, ich darf mich nicht beklagen. Herrn Gurnemanz’ Lehre hat mich in das Unglück gebracht: Er befahl, nicht soviel zu fragen, und das hat mir in Munsalvaesche den Mund verschlossen. Ach, daß ich so töricht war! Nun hab’ ich das Beste auf der Welt versäumt, und wie könnte ich meiner Frau Kondwiramur wieder unter die Augen treten? Wie kann sie einem so geschmähten Mann angehören? Ich gehe fort von euch allen. Ich will den Gral suchen – ich muß ihn finden! Ach, armer Anfortas, meinetwegen nimmt deine Not kein Ende!“ Die Ritter verstanden, daß er nicht länger bei ihnen bleiben mochte. Sie boten ihm ihre Hilfe an – aber er wußte, daß er ganz allein auf die Suche nach dem Gral ziehen mußte. König Artus versprach, sich um sein Land zu kümmern, wenn dort ein starker Fürst gebraucht würde. Frau Kunneware nahm mit Tränen Abschied, und Gawan begleitete ihn zu seinem Pferd. „Freund“, sprach Gawan, „ich wünsche dir alles Glück. Du wirst es brauchen. Gott sei mit dir!“ „Ach, was will Gott?“ seufzte Parzival. „Ich wollte ihm dienen und habe ihn immer verehrt. Warum hat er es zugelassen, daß ich in solche Not kam? Ich handelte nicht aus Bosheit oder Unbarmherzigkeit, sondern nur töricht und gedankenlos. Ich will Gott den Dienst aufsagen. Er ist kein milder Herr.“ Parzival legte seinen Harnisch an und warf Kunnewares kostbaren Mantel darüber. Stattlich und schön wie immer saß
er zu Pferde, aber sein Herz war schwer. Er ritt im Schritt, traurig sahen ihm alle nach. Auch Artus brach auf und kehrte heim mit seinem Gefolge. Die reiche Heidin Ekuba begab sich an den Hafen, wo ihre Schiffe lagen, um heimzufahren. So war allen die Freude an der Geselligkeit genommen.
Die Suche nach dem Gral
Jahrelang ritt Parzival durch die Lande, immer allein, oft zu Gast bei freundlichen Leuten, zuweilen an Königshöfen und auf den Burgen der Edelleute, ein gern aufgenommener Gast. Er half allen, die er in Not fand, er verschenkte, was er in ritterlichem Kampf gewann, denn nichts machte ihm Freude: Er suchte den Gral. Kein Tag verging, an dem nicht die Sehnsucht nach Kondwiramur sein Herz bedrückte, aber er wollte sie nicht wiedersehen, ehe er sich nicht vor der Schande befreit hatte. Ja, er sandte ihr nicht einmal eine Botschaft, keinen Gruß, und wäre nicht dann und wann eine Kunde vom roten Ritter zu ihr gedrungen, dann hätte Kondwiramur nicht gewußt, daß ihr lieber Mann noch am Leben war. Eines Tages gelangte Parzival auf seinem einsamen Ritt an eine stille Klause, in der er Sigune zum drittenmal wiederfand. Sie hatte hier Schionatulander begraben, sich die Klause daneben errichtet und brachte nun ihr Leben mit Gebeten und im Gedenken an ihren Liebsten zu. Parzival erkannte die Frau, die er im Fenster der Klause sah, nicht sofort, denn Sigune war nun von Entbehrungen und Kummer so entstellt, wie sie selbst es wünschte: Da ihr die Freude ihres Lebens geraubt war, hatte sie alle Gedanken an kostbare Kleidung und schöne Gestalt weit von sich getan; in einer grauen Kutte, mit weißem Haar
und bleichem Gesicht sah Parzival sie dort sitzen. Er stieg höflich vom Pferd und fragte die Frau, ob er helfen könne. Sie wies ihm eine kleine Bank an, auf die er sich setzen konnte, und dann berichtete sie ihm, was sie hier in die Einsamkeit geführt hatte. Da erkannte er Sigune, nahm sein Visier ab und gab sich selbst zu erkennen. Sie fragte ihn sogleich: „Parzival, lieber Vetter, wie steht es mit dem Gral? Hast du ihn gefunden?“ „Ich suche ihn immer noch“, antwortete Parzival. „Und ehe ich ihn nicht gefunden habe, will ich nicht zu Kondwiramur zurückkehren, nach der sich doch mein Herz jeden Tag sehnt. Sei nun nicht hart zu mir, Sigune! Ich weiß, daß ich schwer gefehlt habe, als ich die erlösende Frage in Munsalvaesche nicht stellte. Aber ich büße es Stunde um Stunde.“ Da sprach sie: „Mein Groll gegen dich schwindet dahin, wenn ich sehe, wie traurig du bist. Von deinem übermütigen Stolz ist nichts mehr zu spüren. Ach, ich möchte dir helfen, den Gral zu finden! Aber wer ihn sucht, findet ihn nicht. Nur wen Gott dazu auserwählt, den führt er nach Munsalvaesche. Doch vielleicht hat dir Gott vergeben, weil du dein ganzes Leben der Suche nach dem Gral geweiht hast. Vielleicht gibt es einen Weg für dich: Täglich kommt Kundrie von Munsalvaesche hierhergeritten. Sie bringt mir das wenige Essen, das ich brauche, und sie war heute bei mir. Zwar weiß ich nicht, ob sie nach Munsalvaesche zurückgekehrt ist, aber versuch es! Du wirst die Spuren ihres Pferdes noch erkennen – reite ihnen nach, und möge Gott dir gnädig sein, daß du dann den Gral wiederfindest!“ Parzival dankte ihr herzlich und nahm Abschied von Sigune. Er fand die Spur von Kundries Pferd und folgte ihr lange Zeit. Da kam ihm plötzlich ein gewappneter Ritter entgegen, hielt sein Pferd neben Parzival und fragte: „Was tut ihr hier? Ihr reitet über das Saatfeld meines Herrn! Das sollt Ihr büßen! Kein Mensch darf den
Besitz von Munsalvaesche verletzen, ohne einen Kampf zu wagen!“ Und schon band sich der fremde Ritter seinen Helm fester. Parzival dachte bei sich, daß er doch wohl nur über Farnkraut und nicht über ein Saatfeld geritten sei, aber wenn es denn einen Zweikampf kosten solle – nun gut! Die beiden faßten ihre Speere, ritten mit Wucht einander entgegen und stießen sich beim ersten Anprall gegenseitig vom Pferd. Parzivals Roß stürzte einen Felsen hinunter und blieb unten tot liegen, und ihm selbst wäre es nicht besser ergangen, wenn nicht ein Baum seinen Sturz aufgefangen hätte. Er erhob sich und sah, daß der andere verschwunden war und sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sein Pferd mitzunehmen. So kam Parzival zu einem neuen Roß, bestieg es und ritt weiter. Aber die Spur, der er gefolgt war, fand er nicht wieder, und Sigunes Wort fiel ihm schwer aufs Herz: „Wer den Gral sucht, findet ihn nicht.“ Sollte ihm denn Munsalvaesche für alle Zeiten verborgen bleiben? Jahre zogen dahin, einsam ritt Parzival durch die Lande. Er bestand manches Abenteuer, und sechzig überwundene Ritter schickte er an den Artushof, tapfere Männer, die der König mit Freude empfing. Und jedesmal seufzte er: „Ach, wenn er doch selbst wiederkäme! Wenn der Fluch, der über seinem Leben liegt, gelöst würde!“ Parzival kümmerte sich nicht um Tag und Stunde. Kam der Abend, dann legte er sich unter einem Baum zur Ruhe oder fand Aufnahme auf einer Burg. Wenn der Wind kalt über die Berge pfiff, schlug er sich den Mantel fester um die Rüstung, fiel der Schnee, dann war ihm das nur recht: Wie der Schnee alles gleichmäßig mit Kälte und Weiß bedeckte, so hatte sich sein Kummer über alles gelegt, was sonst sein Gemüt erhellt hatte. Und wenn dann die ersten Blumen aus dem Gras leuchteten, seufzte er nur: „Ein neuer Frühling? Und ich suche noch immer nach Munsalvaesche!“
Da er ja Gott den Dienst aufgesagt hatte, trat er in keine Kapelle oder Kirche, vermied die Priester, hörte nicht den Chorgesang der Mönche und nahm an keiner Messe mehr teil.
Parzival bei Trevrizent
Am Ende eines langen, harten Winters ritt Parzival durch einen schneebedeckten Wald. Da kamen ihm Fremde entgegen, ein Mann mit seiner Frau und seinen schönen Töchtern. Sie trugen einfache, grobe Kleidung, die sie kaum vor der Kälte zu schützen vermochte, und Parzival wunderte sich, was diese Leute zu Fuß in dem unwegsamen Wald täten. Noch mehr aber verwunderte sich der Mann über den geharnischten Ritter. Als ihn Parzival freundlich nach dem Weg fragte, antwortete der Fremde: „Hier findet Ihr wohl weit und breit keine Herberge. Aber wie geht es zu, daß Ihr heute in vollem Harnisch durch das Land reitet?“ „Ich reite immer gerüstet, denn ein Mann, der fremd durch ein unbekanntes Land zieht, muß auf Gefahren gefaßt sein.“ „Aber heute?“ „Was ist denn mit diesem Tag? Warum wundert Ihr Euch?“ „Herr, wißt Ihr denn nicht, daß heute Karfreitag ist?“ „Nein“, sagte Parzival, „mir sind die Tage und Wochen dahingeflossen, ich weiß kaum, ob es Frühling oder Herbst ist.“ „Dann laßt es Euch sagen: am Karfreitag ziemt es sich nicht, so prächtig in voller Rüstung auf dem Pferde zu stolzieren! Heute ist Gottes Opfertag, und wie wir müßtet Ihr zu Fuß und in einem Bußgewand Euren Weg machen. Der Tag, an dem
sich Gott über uns Menschen erbarmte, muß von uns demütig gefeiert werden. Unserer Sünden sollen wir gedenken und Gott danken, daß er uns vom ewigen Tode erlöst hat.“ „Gott ist mir feind“, sprach Parzival finster. „Ich habe ihm immer treu gedient, aber er hat mich in Schuld fallen lassen. Doch wenn heute der Tag ist, an dem er den Menschen hilft, so möge er an mir seine Barmherzigkeit beweisen!“ „Dann, Herr, solltet Ihr dorthin wandern, woher wir kommen: zu dem frommen Einsiedler, dem wir unsere Sünden gebeichtet haben und der uns Gottes Willen kundtut. Reitet dorthin.“ Die Töchter des Fremden baten ihren Vater, den Ritter nicht ohne Bewirtung weiterziehen zu lassen, sondern ihn erst auf ihre Burg zu laden, und er tat es gern. Aber Parzival dachte: „Soll ich mit den Leuten, die zu Fuß gehen, marschieren und mein Pferd am Zügel führen? Das sähe doch sehr seltsam aus!“ Denn wer gewohnt ist, die Welt vom Pferderücken aus zu betrachten, nimmt ungern den Weg unter die Füße, und die rechte Demut war Parzival immer noch fern. Deshalb sagte er den Leuten Lebewohl und ritt allein weiter: „Lauf, mein Pferd, such mir den Weg! Du wirst mich zum Einsiedler führen!“ Endlich gelangte er an die stille Klause, deren Bewohner Trevrizent hieß. Parzival erkannte den Platz, obwohl er nun unter dem Schnee begraben lag, an dem einst der bunte Speer gelehnt hatte, der Speer, den er an sich genommen und bei dem er Herzog Orilus geschworen hatte, daß Jeschute ihm die Treue nicht gebrochen habe. Der Einsiedler stand vor seiner Höhlenklause und empfing den Ritter mit harten Worten: „Wie ist es möglich, Herr, daß Ihr an diesem heiligen Tag zu Pferde sitzt? Und in voller Rüstung! Wollt Ihr am Karfreitag Abenteuer bestehen, den Frieden der Welt stören und kämpfen? Schämt Euch! Seid Ihr denn kein Christ? Steigt ab!“ Parzival schwang sich schnell herab und grüßte den Einsiedler
ehrerbietig. „Herr, nun gebt mir Rat! Ich möchte Sünde und Schuld von mir werfen!“ „Das will ich tun. Überlaßt mir jetzt Euer Pferd, Ihr seid mein Gast.“ Er zog das Pferd unter eine Felswand, wo es Schutz vor dem bitterkalten Wind fand. Dann bat er Parzival in seine Höhle, in der es nicht viel gab, was einem Gast zur Bequemlichkeit dienen konnte – Strohbündel zum Schlafen, eine Kutte, die sich der Ritter überwarf, nachdem er die Rüstung abgelegt hatte. Ein schlichter Altar stand in der Höhle, und hier fand Parzival auch den Heiligenschrein wieder, bei dem er einst geschworen hatte. „Herr“, fragte er den Einsiedler, „ich kenne diese Stelle, aber als ich hier war, lag sie in warmem Sonnenschein, und der Heiligenschrein stand draußen. Damals habe ich hier einen Speer fortgenommen.“ „Ich weiß es, ich habe ihn vermißt.“ „Dann wißt Ihr vielleicht auch, wie lange es her ist?“ „Viereinhalb Jahre gingen ins Land, seit der Speer hier verschwand.“ „Viereinhalb Jahre“, sprach Parzival trübe vor sich hin. „Und seitdem habe ich nie mehr Freude empfunden. Ach Herr, helft mir, daß ich meinen Frieden wiederfinde!“ „Was ist es, das Euch bekümmert?“ „Ich habe Gott treu gedient, aber er hat mich nicht vor Schuld bewahrt. Nun hasse ich ihn. Wenn er den Menschen hilft, warum nicht auch mir? Was nützt es, daß ich Rittertaten vollbringe und den Bedrängten helfe, wenn er mir nicht helfen will?“ Der fromme Mann sah ihn erschrocken an. „Berichtet mir, wie alles zugegangen ist, und dann legt Euren Haß ab. Gott läßt sich nicht zwingen und läßt sich nichts abtrotzen.“
Und er sprach lange von Gottes Barmherzigkeit, bis Parzivals Herz sich für seine Worte öffnete. „Und nun nennt mir die Ursache Eures Kummers“, schloß der Einsiedler. „Ich suche den Gral.“ „Das ist ein törichter Wunsch, denn niemand kann den Gral erjagen. Nur wer berufen wird, sieht ihn. Ich weiß es.“ Parzival bat ihn, vom Gral zu erzählen, verschwieg aber, daß er selbst auf Munsalvaesche gewesen war. „Der Gral“, begann der fromme Mann, „ist der Inbegriff von Gottes Gnade. Wer ihn einmal erblickt, wird in der nächsten Woche nicht sterben, und wenn er ihn zweihundert Jahre lang ansähe. Er verleiht denen, die ohne Sünde sind, Jugendkraft und Schönheit. Viele Ritter und edle Jungfrauen dienen ihm. An jedem Karfreitag erscheint eine Taube, die Botin des Himmels, und von ihr erhält der Gral neue Kraft. Wer der
Gralsrunde angehört, braucht sich um Essen und Trinken nicht zu sorgen, der Gral spendet alles, was sich ein Mensch nur wünschen mag. Zuweilen erscheint eine geheimnisvolle Schrift auf dem Gral – der Name eines Mannes oder einer Jungfrau, die Gott zum Dienst am Gral beruft. Der Name verschwindet wieder, aber der Auserwählte kommt, von Gott hingeführt.“ „Wenn Gott gerecht ist, soll er meinen Namen auf dem Gral erscheinen lassen!“ warf Parzival heftig ein. „O weh, Ihr seid sehr hochmütig, Herr. Auf diese Weise werdet Ihr nie nach Munsalvaesche gelangen, Hochmut entfernt nur immer mehr vom Gral. Seht, ich weiß es. Ich bin Trevrizent, der Bruder des Gralkönigs Anfortas. Glücklich lebten wir unter dem Segen des Grals, aber mein Bruder vergaß, was er dem Heiligtum schuldig war. Wenn er auf Abenteuer ritt, geschah es nicht um der Ehre des Grals willen, sondern wegen einer schönen Frau. Ihr Name war sein Kampfruf, für sie erfocht er seine Siege, sie lag ihm Tag und Nacht im Sinn. Da strafte ihn Gott. Ein vergifteter Pfeil verwundete ihn, und niemals ist Anfortas von seiner Wunde genesen. Er leidet bitterste Schmerzen, und von Woche zu Woche verlängert der Anblick des Grals sein Leben, das ihm zur Qual geworden ist. Aus aller Welt kamen die berühmtesten Ärzte, und es gibt kein heilkräftiges Kraut, keinen Wunderstein, keine Medizin, die man nicht an ihm versucht hätte; alles blieb vergebens. Ich bin in die Einsamkeit gezogen, um Gott zu dienen und Heilung für Anfortas zu erflehen. Es gab eine Erlösung für ihn, und einmal schien sie nahe. Da kam ein fremder Ritter, von dem Anfortas Heilung erwarten durfte. Ach, mein Bruder wäre gesund gewesen, und dem Fremden war der Gralsthron zugedacht! Er hätte nur die erlösende Frage stellen müssen, auf die Anfortas wartete, die er aber nicht selbst veranlassen durfte. Doch der Fremde tat die Frage nicht!
Vielleicht war er zu töricht, denn so kalt kann keines Menschen Herz sein, daß ihn der Anblick solcher Qual nicht zu Mitleid bewegt hätte! Nun ist die Erlösung vertan, und wenn Gott nicht noch Erbarmen übt, wird Anfortas in alle Ewigkeit krank dahinsiechen, und dem Gral wird immer ein starker König versagt bleiben! Nun kennt Ihr meinen Namen – wollt Ihr mir nicht den Euren nennen?“ Zögernd sprach Parzival: „Ich bin aus edlem Hause, Gamuret, der Anschewin, war mein Vater. Ich habe ihn nicht gekannt, er fiel im Streit. Er hätte nie getan, was ich verübt habe: Ich erschlug Ither, den roten Ritter, und nahm dem Toten die Rüstung. Vielleicht zürnt mir Gott deswegen.“ „Bist du Gamurets Sohn, dann heiße ich dich doppelt willkommen – denn du bist mein Neffe. Deine Mutter Herzeleide war meine Schwester.“ „Sie war es, Herr?“ „Herzeleide lebt nicht mehr. Sie starb an dem Tage, als du in die Welt geritten bist. Sieh, Parzival, am Tode deiner Mutter bist du ebenso unwissentlich schuld geworden wie an Ithers schmählichem Ende.“ Da bedeckte Parzival sein Gesicht mit den Händen und blieb lange schweigend sitzen. Endlich sah er auf: „Oheim, nun will ich Euch auch das Schlimmste bekennen: Ich war der Tor, der Munsalvaesche erlösen sollte und die Frage nicht stellte.“ „Unglückseliger Parzival!“ rief Trevrizent aus. „Jetzt sehe ich wohl, daß du alle Freude verloren hast. Aber ich weiß auch, daß du aus Torheit nicht fragtest: Du hast kein kaltes und unbarmherziges Gemüt! So sollst du hoffen, Parzival: Gott hat dich nicht verstoßen, ich selbst bin der Ratgeber, zu dem er dich schickt! Bleibe bei mir, bis du Frieden mit dir selbst und mit Gott geschlossen hast. Verzage nicht an Gott, er wird dir doch noch helfen.“
Noch mancherlei erzählte Trevrizent seinem Neffen von den Wundern Munsalvaesches, von der blutenden Lanze, vom See, in dem der Gralskönig von Zeit zu Zeit fischte, von den Rittern und Jungfrauen, die im Dienste des Grals standen. Die Jungfrauen blieben nur eine Zeitlang in Munsalvaesche, dann wurden sie Gemahlinnen hoher Fürsten. Die Ritter aber mußten unvermählt bleiben, nur der Gralskönig selbst holte sich eine Gattin auf den Thron. Wenn irgendwo ein Königreich verwaist war und keinen Herrn hatte, sandte der Gral einen Ritter aus, der dem fernen Lande als König diente und sich dort vermählte. Die Kinder der Gralsjungfrauen und der Ritter, die in fernen Reichen zum König erhoben wurden, waren wiederum zum Gralsdienst berufen. Parzival hörte ihm aufmerksam zu, und seine Sehnsucht nach dem Gral wuchs: Aber er begehrte ihn nicht mehr so trotzig, sondern bescheiden und voll stiller Hoffnung. Zwei Wochen verbrachte Parzival in der Klause des Einsiedlers. Er legte sich neben Trevrizent auf das Stroh, er aß mit ihm, was dem frommen Manne zur Nahrung diente, Wurzeln und Kräuter, die Trevrizent im Sommer gesammelt hatte. Das war freilich eine andere Kost, als der Ritter sie sonst gewohnt war! In diesen Tagen verstand es Trevrizent, Parzivals Herz für die Einsicht zu öffnen, daß Gott auch ihm helfen werde, und als die beiden voneinander Abschied nahmen, vergab er Parzival seine Sünden; wenn er auch kein Priester war, so hatte ihm Gott wegen seines frommen Lebens doch die Kraft verliehen, Sünden zu vergeben.
Parzival und Feirefiß
Und Parzival setzte seinen einsamen Weg fort. Es war wie immer: Er ritt durch viele Länder, kam an manchen Fürstenhof, bestand Zweikämpfe und siegte, verschenkte, was er gewann, und suchte doch immer nach Munsalvaesche, jetzt aber mit einer leisen Hoffnung, daß sich sein Schicksal doch noch wenden würde. Nie verließ ihn die Sehnsucht nach Kondwiramur: „Ach, der Gral und meine Geliebte liegen im Streit miteinander! Solange ich ihn nicht gefunden habe, kann ich ihr nicht unter die Augen treten – und würde ich sie dennoch aufsuchen, so bliebe mir Munsalvaesche immer verschlossen!“ Auch an den Hof von König Artus brachte ihn der Zufall, und wieder war es Gawan, der Parzival fand. Diesmal aber kam es so, daß die beiden sich zu spät erkannten. Schwer gewappnet standen sie einander gegenüber, und da Parzival längst nicht mehr die rote Rüstung trug, die ihm zu prunkvoll erschien und die er dem toten Ither abgenommen hatte, ahnte Gawan nicht, mit wem er einen Zweikampf begann. Erst als Parzival seinen Freund besiegt hatte, als die beiden sich die Helme abbanden, erkannten sie einander und begrüßten sich voll Freude. Gawan bat Parzival, ihn in Artus’ Zeltlager zu begleiten, aber sein Freund zögerte: „Man hat mich dort beschimpft, und ich bin ehrlos davongezogen. Weiß ich denn, wie man mich heute empfangen wird?“ Gawan beruhigte ihn: „Wir alle haben von deinen Taten gehört, jedermann weiß, daß du ein tapferer Ritter bist und wohl wert, an Artus’ Tafelrunde zu sitzen. Vergiß, was Kundrie dir zurief – wir alle haben dich lange entbehrt.“
So sprach auch König Artus, als Parzival ihn aufsuchte. Und als der Abend kam, saß er wie einst in der fröhlichen Runde, hörte die Scherzworte ringsum, sah, wie die Ritter den schönen Damen den Hof machten, und vernahm, was jeder von seinen Abenteuern zu berichten hatte. Darüber wurde Parzival immer stiller und bedrückter. „Schöne Frauen sehe ich hier – aber keine ist so lieblich und gütig wie Kondwiramur. Was soll ich hier bei den Fröhlichen? Auch Kondwiramur trauert ja einsam um mich. Hier ist kein Platz für mich.“ Ehe noch der Morgen graute, wappnete er sich und ritt heimlich davon. Als die übrigen es entdeckten, bedauerten sie es sehr, vor allen anderen König Artus. Schon bald fand er ein neues Abenteuer: Auf einer Waldlichtung hielt der prächtigste Ritter, den Parzival je gesehen hatte. Ihm flimmerten die Augen – von der Rüstung des Fremden glitzerten die Edelsteine, auch dessen Mantel war von unten bis oben damit besetzt, und mitten auf dem Schild glänzte der riesigste Rubin, den Parzivals Augen je erblickt hatten. Der Fremde sah Parzival kommen – und machte sich zum Zweikampf bereit, auch Parzival verspürte heftige Lust, seine Kräfte mit dem Prächtigen zu messen. Beim ersten Anprall zersplitterten die Speere, und der Fremde geriet in Zorn: Noch nie war er auf einen Gegner gestoßen, der nicht beim ersten Stoß aus dem Sattel gestürzt wäre! Sie griffen zu den Schwertern und tummelten die Rosse, bis die armen Tiere, ermüdet von der schnellen Bewegung und dem schweren Gewicht ihrer gepanzerten Reiter, sich nicht mehr vom Platz rühren wollten. Nun sprangen die Ritter auf die Erde und setzten den Kampf fort. Die Schwerter schwangen sie hoch in die Luft, um bald mit der einen, bald mit der anderen Schneide
zu schlagen, es blitzte und dröhnte über die Lichtung, Feuerfunken sprühten von den Edelsteinen auf den Schilden. Da zersprang mit einem scharfen Laut Parzivals Schwert, die Waffe, die er dem erschlagenen Ither geraubt hatte. Sofort ließ der andere vom Kampfe ab – gegen einen Unbewaffneten kämpfte er nicht. Jetzt fielen die ersten Worte zwischen beiden, und Parzival wunderte sich über die höfliche und geschickte Art, mit der der Fremde ihn anredete; die Worte klangen zwar ein wenig gedämpft unter dem Helm hervor, aber keiner von beiden wollte sein Gesicht zeigen. „Ihr seid ein tapferer und kraftvoller Mann, ich sehe es wohl und freue mich, einen so starken Gegner gefunden zu haben. Jetzt aber, wo Euer Schwert in Eurer Hand zersprungen ist, laßt uns die Glieder ins Gras strecken und der Ruhe pflegen. Nachher mögen wir unseren Kampf fortsetzen!“ Sie setzten sich ins Gras, und wieder begann der Fremde mit seinen höflichen Worten: „Wenn ich in meine Länder heimkehre, bei allen Göttern, von diesem Tag werde ich vieles zu berichten haben, seid Ihr doch der Tapferste, den ich bei den Christen getroffen habe. Wollt Ihr mir eine Ehre antun, dann nennt mir Euren Namen!“ „Ihr habt eine Waffe, ich habe keine – meint Ihr, daß Ihr mich deshalb zwingen könnt, meinen Namen preiszugeben?“ „O nein“, antwortete der Heide, und er lachte leise. „Wenn es eine Schande ist, den Namen zu nennen, nun, bei meinen Göttern, dann will ich sie auf mich nehmen, edler Herr. Ich bin ein Anschewin.“ „Das möchte ich wohl wissen, wieso Ihr Euch einen Anschewin nennt! Anschaue ist mein, mit allem, was dazu gehört, und ich habe auf nichts verzichtet, keinen Wald, keinen Acker, keine Burg, kein Tier und kein Gesinde. Herr, Ihr müßt Euch einen anderen Namen wählen – der Anschewin bin ich!“
Als der andere nicht antwortete, fuhr Parzival fort: „Aber fern, im Morgenland, habe ich einen Bruder, der mit Recht den Namen Anschewin führen kann. Wollt Ihr mir nicht Euer Angesicht zeigen? Ich verspreche gern, daß ich nicht kämpfen werde, solange Ihr nicht völlig gerüstet seid.“ „Bei meinen Göttern! Glaubt Ihr, ich hätte Angst vor einem Kampf? Wo ist denn Euer Schwert? Nun, und hier liegt meines, griffbereit neben mir. Wenn wir ringen wollen, werde ich Euch schon zeigen, edler Herr, was ich auch ohne Waffen vermag. Seht her – ich werfe mein Schwert fort – jetzt haben wir beide gleiche Aussichten auf Sieg oder Niederlage!“ Dann fuhr er fort: „Ihr habt einen Bruder im Morgenland? Wollt Ihr mir beschreiben, wie dieser Bruder aussieht?“ „Wie ein beschriebenes Pergament; schwarz und weiß, ganz kraus durcheinander. So hat man es mir erzählt.“ Der Fremde nahm seinen Helm ab – Parzival tat es ihm rasch nach – es war Feirefiß! Wie groß war die Freude! Sie beendeten ihren Streit mit einem Bruderkuß, und Feirefiß sagte: „Noch nie habe ich so auf einen Kampf gebrannt wie vorhin, als ich dich sah – einen Kampf ohne Haß, in dem ich nur meine Kräfte mit dir messen wollte! Du warst mir, lieber Bruder, vertraut, obwohl ich dich nie gesehen hatte.“ Dann pries er seine Götter – er war ja ein Heide – die ihn diesen Tag erleben ließen. „Wohl dem Tag, an dem ich dich erblickte, du Preis aller Ritterschaft!“ Parzival lachte: „So schön wie Ihr kann ich meine Worte nicht setzen, ich sehe schon, daß Ihr nicht nur reich und berühmt, sondern auch gelehrt seid. Ich gestehe aber gern, daß ich noch nie einen so starken Gegner getroffen habe wie heute!“ Feirefiß bat Parzival, ihn du zu nennen, aber der meinte: „Das wäre nicht schicklich. Ihr seid ein mächtiger König, der über mehr als ein Land herrscht!“
Und Feirefiß berichtete, daß er mit fünfundzwanzig Heeren aus verschiedenen Ländern, die alle in ihrer eigenen Sprache redeten, hierhergekommen sei. Eine große Flotte mit seinen Leuten läge in einem Hafen und warte auf ihren Herrn. „Ich schenke dir, lieber Bruder, zwei Länder, Zazamank und das Nachbarreich, die unser Vater Gamuret einst erobert hat! Um unseren Vater zu suchen, bin ich aufgebrochen. Sag mir, Parzival, wo ich ihn finde!“ „Ach, unseren Vater findest du nicht. Lange schon lebt er nicht mehr, in ritterlichem Kampf hat er sein Leben verloren. Auch ich habe ihn nie gesehen.“ Feirefiß weinte vor Kummer, daß er seinen Vater nun nicht mehr finden sollte, und lachte vor Glück, daß er seinem Bruder begegnet war. Und immer wieder pries er seine Götter, die ihn hierher geführt hatten. „Nun komm mit mir, Parzival. Ich will dich zu meinen Schiffen führen, du sollst die Heere sehen, die jetzt dir gehören, aus den Ländern, die ich dir geschenkt habe.“ Aber Parzival schlug ihm vor, ihn an den Hof von König Artus zu begleiten. „Dort werdet Ihr die edelsten Ritter und den besten König kennenlernen. Viele schöne Frauen schmücken den Artushof.“ Das gefiel Feirefiß wohl. Parzival holte das fortgeworfene Schwert und stieß es seinem Bruder in die Schwertscheide. Dann ritten sie davon, und zum erstenmal nach langer Zeit war auch Parzival fröhlich und vergaß seinen Kummer.
Wieder am Artushof
König Artus wartete noch mit seinem Zeltlager an demselben Platz, er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, daß Parzival wieder zu ihnen zurückfinden werde, und eine Kunde von dem großen Zweikampf war bis zu ihm gedrungen. Parzival führte seinen Bruder zu seinem liebsten Freund Gawan, der sogleich seinen Knappen befahl, den beiden Rittern die Rüstungen abzunehmen. Dann zog er Parzival beiseite und fragte neugierig: „Wen hast du da mitgebracht? So einen seltsamen Mann habe ich noch nie gesehen! Aber er gefällt mir gut – er ist ein hübscher Mann trotz seiner Hautfarbe.“ Als er hörte, daß Feirefiß Parzivals Bruder war, begrüßte er ihn in aller Höflichkeit. „Da Ihr beiden miteinander gekämpft habt, kennt Ihr Euch um so besser“, meinte er. Dann richtete er den Brüdern ein prachtvolles Festmahl aus. Auf den grünen Rasen wurden lange Matratzen, und darüber gesteppte Kissen, die mit bunten Seidentüchern bedeckt waren, gelegt. Hinter den Sitzen spannte man an Pfählen Teppiche, an die sich die Sitzenden lehnen konnten. So war alles zur Bequemlichkeit gerichtet. Ehe das Mahl begann, erschien König Artus mit seinem Gefolge – und mit festlicher Musik; Posaunen, Trommeln, Flöten und Schalmeien verkündeten schon von weitem mit großem Getöse das Nahen des Hofes. Das alles gefiel Feirefiß sehr, und den König begrüßte er mit großer Ehrerbietung und wohlgesetzten Reden. Die beiden Herrscher – der christliche König und der Heide – setzten sich zusammen und erzählten einander von ihren Taten und Abenteuern, und als Feirefiß die Namen aller Ritter aufzählte, die er im Zweikampf besiegt hatte, gab es großes Gelächter und viel Staunen, so seltsam klangen die fremden Namen.
Noch keiner hatte je ähnliche vernommen: König Amaspartins von Schipelpointe, Graf Gabarins von Assigarzionte, Graf Lisavander von Ipopotitikon, König Thoaris von Orastegentesin, Herzog Karub von Duskontemedon, Graf Astor von Pamfatis, König Jetakran von Gampfassasche, Graf Jurans von Blemunzin. Und immer weiter schwirrten die seltsamen Namen, die Feirefiß mit großer Zungenfertigkeit hervorbrachte. Die schönen Damen schüttelten den Kopf: Wie groß war doch die Welt, und wie viele sonderbare Länder gab es darin! Die Ritter aber meinten, bei so vielen ritterlichen Herren in aller Welt gäbe es auch für sie noch manches Abenteuer zu bestehen. Da wurde auch Parzival übermütig und suchte die sonderbarsten Namen der Männer hervor, die er in Turnieren besiegt hatte. Wenn er auch noch die Ritter aufgezählt hätte, die er im Kampf auf Tod und Leben überwunden hatte, wäre wohl kein Ende gewesen. So prahlten sie alle mit ihren Taten und priesen sich gegenseitig. Feirefiß fand wieder die höflichste Form: „Ich danke dir, Bruder, du Blüte der Ritterschaft! Denn dein Ruhm ist auch der meine. Bei meinen Göttern! Ich wußte nicht, welch Kleinod ich hier finden würde!“ Auf einen Wink von Gawan brachten seine Knappen die Rüstung des Heidenkönigs, die von allen Anwesenden bewundert wurde. Und dann schlug Gawan ein großes Fest für den kommenden Tag vor. König Artus bat er, Feirefiß in die Tafelrunde aufzunehmen, was freundlich gewährt wurde und worüber sich der Heidenkönig herzlich freute. Gawan bereitete in aller Eile die Festlichkeit vor, und sein Reichtum gestattete es ihm, alles so prächtig zu machen, wie man es sich nur wünschen konnte. In die Mitte eines riesigen Platzes wurde ein runder Tisch gesetzt: das Sinnbild von König Artus’ Tafelrunde, an der jeder Platz ein Ehrenplatz war. Die übrigen vielen Gäste, die geladen waren, speisten an
kleinen Tischen ringsherum. Draußen vor dem mit bunten Schnüren umzogenen Festplatz war Raum genug für ein Kampfspiel, bei dem nicht Zweikämpfe ausgetragen wurden, sondern geschlossene Reitergruppen gegeneinander rannten. Da gab es viel fröhliches Geschrei, und die Damen sahen mit Vergnügen die Farben ihrer Ritter im Getümmel aufblitzen. Plötzlich erschien auf kostbar geschmücktem Roß eine verhüllte Frauengestalt. Von Sattel und Mantel leuchteten gestickte Tauben, die Zeichen des Grals, und jeder erkannte die Gralsbotin Kundrie, die ihr Gesicht unter einem Schleier verbarg. Sie ritt auf König Artus zu, grüßte ihn ehrerbietig und suchte dann Parzival. Behend sprang sie vom Pferd und warf sich dem Ritter zu Füßen: „Verzeiht, edler Herr, daß ich Euch einst so beschimpft habe! Versöhnt Euch mit mir! Wenn Ihr mir auch keinen Versöhnungskuß geben mögt, so reicht mir doch die Hand zum Zeichen der Verzeihung!“ Parzival wandte sich finster ab, aber Artus flüsterte: „Versöhnt Euch mit ihr! Sie ist ja nur die Botin, die einen Auftrag auszurichten hatte. Daß sie heute kommt und Euch freundlich grüßt, bedeutet Gutes für Euch und uns alle!“ Da bezwang Parzival seinen Haß und reichte ihr aus ehrlichem Herzen die Hand. Rasch erhob sich Kundrie, warf den Schleier ab und ließ ihr Gesicht sehen. Sie war keineswegs schöner geworden, und manch einen der Anwesenden schauderte es bei ihrem Anblick, aber heute lachte sie freundlich, und das machte sie angenehmer. Sie bewies jetzt, daß sie eine Frau von hoher Bildung war und ihre Worte wohl zu finden wußte. „Heil dir, Sohn des Gamuret! Und Euch, den gefleckten Feirefiß, heiße ich herzlich willkommen! Parzival, Euer Name ist auf dem Gral erschienen: Ihr sollt des Grales Herr sein und mit Eurer Gattin Kondwiramur in Munsalvaesche herrschen! Nach Euch wird Euer Sohn Lohengrin – denn Kondwiramur
hat Euch mit Zwillingssöhnen beschenkt – Herr und Hüter des Grals sein. Ihr werdet Anfortas erlösen, Seligkeit wird auf Munsalvaesche einziehen!“ Sie pries ihn lange und laut mit vielen schönen Worten: „Ihr habt Eurer Seele den Frieden errungen und geduldig nach dem Gral gestrebt. Das lohnt Euch Gott!“ So ging dieses Fest fröhlich zu Ende, diesmal hatte Kundrie nur Freude gebracht.
Parzival wird Gralskönig
Parzival bat Feirefiß, ihn zum Gral zu begleiten, und der willigte gern ein. Dann erhob sich der Heidenkönig zu einer zierlichen Rede, in der er um die Gunst bat, allen Anwesenden große Geschenke machen zu dürfen. „Meine Schiffe sind voller Kostbarkeiten, wie man sie hierzulande nicht kennt. Keiner soll sich meiner Geschenke zu schämen brauchen. Gebt mir einen Boten, König Artus, den ich zum Hafen schicke, damit meine Leute die Gaben herbringen können.“ König Artus versprach, noch vier Tage an diesem Platz zu warten, bis Feirefiß’ Geschenke zur Stelle seien. Außer Parzival hatte noch mancher andere Ritter im Sinne gehabt, nach dem Gral zu suchen, aber nun erkannte jeder, daß der Gral nur den Auserwählten zuteil wird. Da gaben sie ihr Verlangen danach auf und bewunderten den Mann, dem diese höchste Ehre des Rittertums verliehen wurde, um so mehr. Parzival und Feirefiß ritten nun davon, nach Munsalvaesche. Das bedauerten viele, vor allem die Damen, die Feirefiß mit seinen ausgesuchten Komplimenten verwöhnt hatte. Kundrie
begleitete die beiden Ritter, damit sie ohne Gefährdung durch die Wachen des Gralsheeres reiten könnten. Als sie sich Munsalvaesche näherten, stießen sie auch sogleich auf schwer gewappnete Ritter, die das Land verteidigten, und Feirefiß verspürte schon große Lust, einen Zweikampf zu beginnen, aber Kundrie griff ihm rasch in die Zügel und hielt ihn zurück. Die Gralsritter erkannten an den immer heller glänzenden Tauben auf Kundries Gewand, daß sie gute Botschaft brachte. Einer von ihnen sprengte nach Munsalvaesche zurück: „Unsere Not hat ein Ende! Kundrie bringt uns den Mann, der uns erlösen wird von unserem alten Leid!“ Und die Gralsritter zogen zu Fuß hinaus, um die Nahenden zu begrüßen und ins Schloß zu geleiten. Dort fand Parzival König Anfortas in schrecklichen Schmerzen liegen, und noch einmal erwachte in ihm die Scham, daß er ihn vor Jahren ungerührt in seinem Siechtum zurückließ. Parzival ging in den Raum, in dem der Gral bewahrt wurde. Er fiel vor ihm in die Knie – dreimal, um der Dreifaltigkeit Gottes willen. Dann schritt er auf den Gralskönig zu und fragte – klar tönten die Worte in die Stille: „Was schmerzt dich?“ In demselben Augenblick erhob sich Anfortas, heil und gesund an allen Gliedern, und so strahlend schön, wie ihn früher niemand gesehen hatte! An seiner Hand bestieg Parzival den Gralsthron. Anfortas befahl den Gral in seine treue Hut. Nun war Parzival der mächtigste und reichste König im Abendland, wie es sein Bruder Feirefiß im Morgenland war. Und jetzt durfte er endlich auch daran denken, Kondwiramur wiederzusehen. Kondwiramur hatte Botschaft erhalten, daß Parzival Gralskönig geworden sei und daß alle ihre Not und ihre
jahrelange Einsamkeit ein Ende habe. Da machte sie sich mit ihrem Gefolge und den beiden Söhnen Lohengrin und Kardeiß auf, ihrem Gemahl entgegenzuziehen. An der Stelle, wo Parzival einst die Blutstropfen im Schnee gesehen hatte, wollte er ihr begegnen. Auf dem Wege dorthin kam er bei Trevrizent vorbei, grüßte den Einsiedler ehrfürchtig und bat ihn um seinen Segen. „Nun siehst du, Parzival“, sagte der fromme Mann, „daß Gott viele Geheimnisse hat. Wir können sie nicht ergründen. Er führt uns seine Wege, und wer ihm demütig dient, kommt zu Gnaden.“ Parzival dankte ihm. Dann spornte er ungeduldig sein Pferd, um endlich Kondwiramur zu begegnen. Er fand ihr Zeltlager im ersten Morgengrauen, als alles noch schlief. Leise trat er in ihr Zelt, da lag die Königin, wunderschön anzusehen, nur mit einem Hemd bekleidet. Parzival rührte vorsichtig an ihre Schulter, da erwachte sie, schlug sich erschrocken die Bettdecke um und sah ihn strahlend vor Liebe an. Neben ihr lagen ihre beiden Söhne, die Parzival mit Freudentränen in die Arme schloß. Der Tag ging hin in tausend Freuden. Am anderen Morgen versammelte Parzival die Ritter aus Kanvoleis, die ihre Königin hergeleitet hatten. Er hob seinen Sohn Kardeiß hoch empor und rief: „Seht hier Euren König! Mein Sohn Kardeiß erbt alle meine Länder, bis auf Munsalvaesche, das einmal Lohengrin gehören soll, Ihr alle empfangt jetzt Euer Eigen von diesem Knaben hier zu Lehen! Er wird mit Euch nach Kanvoleis reiten. Kondwiramur und Lohengrin ziehen mit mir nach Munsalvaesche!“ Und es war hübsch anzusehen, wie der kleine Kardeiß mit wichtiger Miene den Herren ihre Lehen bestätigte.
Weinend verabschiedeten sich die Kanvoleiser von ihrer Königin, die versprach, sie oft zu besuchen. Kardeiß winkte seiner Mutter fröhlich zu. Dann ritten Parzival und die Seinen zurück nach Munsalvaesche. Unterwegs suchten sie die Klause auf, in der Parzival Sigune zuletzt gesehen hatte. Sie fanden die Frau nicht mehr, der Schmerz um Schionatulander hatte ihr endlich das Herz gebrochen, und sie war neben ihrem Liebsten beigesetzt worden. Nachts erreichten sie Munsalvaesche, das Feirefiß mit hundert Kerzen festlich beleuchtet hatte. Der kleine Lohengrin weigerte sich aber ängstlich, den gefleckten Onkel zu küssen, und Feirefiß lachte schallend. „Wir werden uns noch gut vertragen, mein Neffe!“
Feirefiß und Repanse
Noch in derselben Nacht sollte der Gral vor der Gralsrunde erscheinen. Parzival erlebte wie im Traum alles, was er schon einmal gesehen hatte. Wieder trug die reinste und schönste der Gralsjungfrauen das Heiligtum – Anfortas’ Schwester Repanse de Schoye, und ihr Anblick bewegte Feirefiß so heftig, daß die weißen Stellen seiner Haut noch bleicher wurden. Dann lachte er, als sich die Goldgefäße von selbst mit den köstlichen Speisen füllten – denn er sah den Gral nicht, nur die Seide, auf der er getragen wurde. Das konnte nicht anders sein, denn ein Heide vermochte den Gral nicht zu erblicken. Es bekümmerte ihn nicht sehr – ihm lag nur noch Repanse im Sinn, und er liebte sie ebenso heftig und plötzlich, wie die
Liebe zu Kondwiramur einstmals seinen Bruder Parzival überfallen hatte. Da ging er zu Anfortas und bat ihn, um Repanse werben zu dürfen. „Ich will auch ein Christ werden, wenn das nötig ist!“ Parzival, der ihn nun endlich duzte, weil er jetzt an Macht seinem Bruder gleich war, riet ihm, sich taufen zu lassen und danach um Repanse de Schoye zu werben. „Wie erkämpft man die Taufe?“ fragte Feirefiß. „Laß mich nur gleich aufs Kampffeld und um die Taufe streiten!“ Da erhob sich großes Gelächter, und Parzival versprach, Feirefiß zu lehren, was ein Christ ist. Am anderen Morgen wurde der Heidenkönig in die Kapelle geführt. Feirefiß kniete nieder, das Taufbecken – aus einem einzigen Rubin geschnitten – wurde gegen den Gral geneigt und füllte sich von selbst mit Taufwasser. Ein alter Priester redete Feirefiß ins Gewissen und ließ ihn seinen Heidengöttern für alle Zeiten abschwören. Feirefiß tat es – aber freilich zunächst nur, um das geliebte Mädchen zu gewinnen, erst nach und nach ging ihm der wahre Sinn der Taufe und des christlichen Wesens auf, und später hat er in seinen morgenländischen Reichen geholfen, das Christentum zu verbreiten. In dem Augenblick, als das Taufwasser über seine Stirn rann, sah Feirefiß den Gral. Der getaufte Feirefiß warb mit aller Glut um Repanse, die bald vergaß, daß er so seltsam aussah, ihn täglich lieber gewann und schließlich mit ihm verbunden wurde. Nun hielt es aber den König aus dem Morgenland nicht mehr in Munsalvaesche – er wollte heimziehen, bat aber Anfortas, mit ihm zu kommen. Doch Anfortas sprach: „Ich will mein Leben hier im Kreise der Gralsrunde verbringen, ich will fröhliche Tage auf Munsalvaesche sehen nach den langen Jahren des Leids.“ Da hätte Feirefiß gern den kleinen Lohengrin mit sich
genommen, aber auch das konnte nicht sein, weil Lohengrin zum Gralskönig nach seinem Vater auserwählt war. So zog Feirefiß mit Repanse allein davon, kam endlich an den Hafen, wo seine Schiffe immer noch warteten und seine Leute ihn wie einen längst Verlorenen stürmisch begrüßten, und fuhr übers Meer. Mit seiner schönen Gattin und den Kindern, die sie ihm schenkte, lebte er lange und hoch geehrt, und von Zeit zu Zeit tauchten seine Boten in Munsalvaesche auf, berichteten von den fernen Freunden und brachten kostbare Geschenke. Und Herzeleides Sohn, der als Narr in die Welt gezogen war, viel Ruhm und viel Schande, viel Glück und unermeßliche Trauer erlitten hatte, herrschte nun als weiser und glücklicher König auf dem Gralsthron.
DIE ABENTEUER DES EDLEN RITTERS GAWAN
Gawans Herkunft
Unter den ersten Rittern, die König Artus in seine berühmte Tafelrunde berief, war sein Neffe Gawan, ein Sohn des Königs Lot von Norwegen und Artus’ Schwester Sangive. Nach der Sitte der Zeit war Gawan schon als kleiner Knabe zu seinem Onkel geschickt worden, weil man glaubte, an einem fremden Hof werde ein künftiger Ritter besser erzogen als unter den nachsichtigen Augen liebevoller Eltern. Das war gewiß recht hart für ein Kind, aber jeder Fürst rechnete es sich zur Ehre an, einen Königssohn sorgsam zu einem Mann heranzubilden, der später in allen Taten von der höfischen Zucht und Weisheit seiner Erzieher zeugte. Manch junger Edelmann kehrte aber nie in seine Heimat zurück, wurde Vater und Mutter fremd und fühlte sich nur am Hofe seines Lehrmeisters zu Hause. Daraus entstand oft großer Kummer und zuweilen folgenreicher Irrtum. Nicht nur Gawan kam von Norwegen an den Artushof, seine Brüder folgten ihm später, und von ihnen wird in einer anderen Geschichte noch viel die Rede sein. Jetzt nehmen wir die Spuren des edlen Gawan auf, von dem uns der Dichter Wolfram von Eschenbach berichtet. In der Erzählung von Parzivals Gralssuche ist viel von Gawan zu vernehmen, und was er erlebte, dünkt uns oft wie ein Spiegelbild von Parzivals Abenteuern.
Gawan wuchs so tapfer, so edel heran, daß König Artus ihm schon in jungen Jahren den Ritterschlag verlieh. Immer wieder kehrte er an den Artushof zurück, sein Name, an den sich der Ruhm schon früh heftete, war in der ganzen Ritterwelt bekannt, und Parzival liebte wohl keinen Freund so sehr wie diesen. Ehe König Artus zu einem der mächtigsten Fürsten des Abendlandes wurde, den nur der Gralskönig an Rang übertraf, hatte er manchen harten Krieg zu bestehen, und immer war Gawan an seiner Seite und erkämpfte seinem Herrn beachtliche Siege. Stark, kühn, schön, treu und mächtig – diese Eigenschaften, die einen Ritter ausmachten, vereinte Herr Gawan.
Gawan wird zum Zweikampf gefordert
Auf jenem Fest, bei dem Parzival durch die bösen Worte der Gralsbotin Kundrie aus der Tafelrunde vertrieben wurde, erfuhr auch Gawan eine bittere Kränkung. Ein Fremder ritt an die Gesellschaft heran, dessen Schild und Waffenzeichen niemand kannte, der seinen Helm verschlossen und das Schwert, freilich in der Scheide, in der gehobenen Hand hielt. Er fragte nach Artus, grüßte ihn und rief: „Herr, empfangt meinen Gruß. Euer Ruhm strahlt über alle Länder, Eure Ritter gelten als die tapfersten weit und breit, ich grüße sie allesamt. Nur einen nehme ich aus, und von ihm will ich nicht begrüßt werden, von ihm möchte ich gehaßt sein! Es ist Herr Gawan. Ich bin hier, um Rache für meinen König zu fordern, den Gawan tückisch erschlagen hat. Ich fordere Gawan zum Zweikampf.“
„Mit bösen Worten kommt Ihr, Herr“, antwortete König Artus. „Ihr erhebt eine schwere Anklage gegen einen Mann, den wir alle als ehrenhaft kennen, von dem bisher niemand etwas Übles sagen konnte. Ihr müßt Euch irren.“ Gawans jüngster Bruder aber bat: „Gawan, laß mich für dich kämpfen! Du hast mich aus manchen Gefahren gerettet, nun laß mich einmal alles vergelten dürfen!“ Doch Gawan sprach: „Ich weiß nicht, wer dieser Mann hier ist und wer sein König war. Das eine aber kann ich euch allen versichern: Nie habe ich einen Mann hinterrücks erschlagen! Und keinen Gegner, den ich im Zweikampf überwand und der sich für besiegt erklärte, habe ich getötet.“ „Doch den König von Askalun habt Ihr heimtückisch ermordet, als er Euch mit freundlichem Gruß begegnete! Da habt Ihr alle Ritterehre verspielt. Wenn Ihr je wieder als ein aufrechter Mann gelten wollt, dann kämpft mit mir um Eure Ehre! Ich bin Kringrimursel, ein Fürst aus Askalun. Vierzig Tage von heute an gerechnet, erwarte ich Euch in Askalun. Ihr werdet freies Geleit durch unser Land finden, niemand wird Euch angreifen, bis Ihr Euch mir zum Kampf gestellt habt. Ich habe meine Herausforderung überbracht. Ich scheide. Gott sei mit Euch allen – nur den einen, den Treulosen, behüte er nicht!“ Und schon sprengte er davon. „Ich muß nach Askalun“, sprach Gawan. „Was Kingrimursel behauptet, ist ungerecht und falsch. Nie bin ich dem König von Askalun begegnet, nichts weiß ich von seinem Tod. Aber wenn ich meine Ehre behalten will, muß ich zum Kampf nach Askalun reiten.“ Ungern sahen ihn Frauen und Ritter ziehen, aber jeder verstand, daß er nicht bleiben konnte. Er wählte sich sorgfältig seine Ausrüstung: Drei alte Schilde nahm er mit, die zwar nicht so kostbar wie seine anderen, aber dafür besonders stark waren. Sieben auserlesene Streitrosse kaufte er, zwölf scharfe Speere mit eisernen Spitzen gaben ihm die Freunde,
und König Artus stattete seinen Neffen mit Silber, Gold und vielen Edelsteinen für die weite Fahrt aus. Dann brach Gawan mit seinem Gefolge von Knappen auf.
Gawan in Bearosche
Als er schon einige Tage unterwegs war, sah er hinter sich von einem Hügel herab einen langen Zug gewappneter Männer. Reiter folgte auf Reiter, die Banner wehten, die Pferde wieherten. Den Gewappneten folgten ihre Knappen mit den Speeren, dann kamen Maultiere, die schwer an Harnischen, Speeren, Schwertern und Zeltbahnen trugen, und schließlich eine bunte Menge von Mädchen, die den Männern folgten, um im Lager für sie zu sorgen und mit ihnen zu feiern. Gawan verhielt sich ruhig, und keiner behelligte ihn, weil jeder, der vorüberritt, ihn zu den Scharen rechnete. Einen kleinen Junker, der hinterher trabte, hielt er an: „Was ist das für ein Aufgebot? Wohin geht es? Wer führt das Heer?“ Ärgerlich erwiderte der Junge: „Warum spottet Ihr über mich? Wollt Ihr prüfen, ob ich die Ritter kenne? Schließlich wißt Ihr als Ritter ja besser Bescheid, wem Ihr folgt!“ Als Gawan ihm erklärte, daß er nicht zum Heer gehöre, bat der Knappe lange und umständlich um Verzeihung für seine Unfreundlichkeit und gab dann endlich Auskunft: „Es sind zwei große Heere, die gegen die Burg Bearosche ziehen. König Meljanz führt sie an. Er will Bearosche belagern und besiegen, denn er zürnt dem Burgherrn. Aber ich sage Euch, Herr, er zürnt zu Unrecht, wir alle wissen es. Der Burgherr Lippaut hat König Meljanz erzogen, als er seinen
Vater früh verlor, und auf Bearosche faßte Meljanz heftige Liebe zu Lippauts Tochter Obie. In allen Ehren! Er begehrte sie zur Gemahlin, aber sie hat ihn hochmütig abgewiesen – sie sagt, daß sie ihn niemals lieben wird. Nun meint König Meljanz, daß ihr Vater ihr geraten hat, seine Werbung so lieblos abzulehnen, und deshalb will er Lippaut bestrafen. Lippaut ist sein Vasall, und ungern kämpft er gegen seinen König. So hat er auch kein Heer gesammelt, sondern nur Bearosche befestigt. Wir alle ziehen gern auf Kampf und Abenteuer, aber es ist uns leid, daß wir den guten Lippaut bekriegen sollen! Und nun, Herr, gebt mir den Abschied – ich muß die anderen einholen!“
Er sprengte davon und ließ Gawan grübelnd zurück: „Was soll ich tun? Ich möchte wohl an diesem Krieg teilnehmen und Bearosche helfen. Aber ich muß darauf achten, rechtzeitig in Askalun zu sein, sonst hält man mich dort für einen Feigling. Trotzdem, ich werde nach Bearosche reiten und wenigstens zusehen, wie sich der Kampf dort anläßt!“ Er wartete, bis sich das große Heer verzogen hatte, und ritt dann mit seinem Gefolge langsam hinterher, bis er vor Bearosche kam. Auf einem weiten Feld vor der Stadt, die hoch auf einem Berge lag, hatte sich das Heer der Belagerer bereits eingerichtet. In dem Gewirr von stampfenden Pferden, schnaubenden Maultieren, müßigen Rittern und eilfertigen Mädchen waren die Knappen dabei, die Zelte aufzuschlagen und die Schnüre zu spannen, und immer wieder kam es zum Streit zwischen ihnen, wenn sie zu dicht beieinander am Werk waren und die bunten Zeltschnüre sich verwirrten. Durch das Treiben ritt nun Gawan mit seinen Knappen, verwundert angestarrt von den Leuten, die ihn aber für einen unbekannten Ritter des eigenen Heeres hielten. So gelangte er unangefochten bis vor die Stadt und erkannte, daß er auf keine Weise hineinkommen konnte: Die Tore der Stadtmauern waren mit Steinen zugemauert! Fürst Lippaut hatte es so befohlen, denn er wollte ja von sich aus auf einen Kampf verzichten und nur verhindern, daß die Feinde in die Stadt eindringen konnten. Schützen mit Armbrüsten standen oben auf der Mauer, bereit, auf jeden Angreifer zu zielen. Gawan ritt um den Berg herum, bis er dorthin kam, wo sich die Burg des Fürsten unmittelbar an der Stadtmauer erhob. Hier fand er Schatten unter hohen Bäumen und beschloß, sein Lager aufzuschlagen. Auf dem Söller der Burg stand die Fürstin mit ihren Töchtern Obie und Obilot – um Obies willen war ja der Krieg entbrannt, und nun starrte sie auf das gefahrdrohende Treiben zu ihren Füßen. Ihre
Mutter beobachtete sie aufmerksam und merkte, daß Obie nur immer nach einem suchte: nach dem König Meljanz, dessen Liebe sie doch so hochfahrend verschmäht hatte. Da seufzte die Fürstin leise und dachte: „Mir scheint, daß meine Tochter den Mann, den sie abgewiesen hat, gern sieht. Ach, dieses ganze Unglück wäre vermieden worden, wenn sie ihr Herz hätte sprechen lassen!“ Als die Frauen auf dem Söller Gawan bemerkten, sein Gefolge, die schönen Streitrosse, die prächtige Ausrüstung mit Zelten und kostbaren Gewänder, als sie begannen, die Saumtiere zu zählen, die seine große Habe trugen, hätten sie zu gern gewußt, was es für eine Bewandtnis mit diesem Fremden habe. Der kleinen Obilot gefiel der Fremde so, daß sie zu ihrer Schwester sagte: „Sieh nur, ein großer Herr ist gekommen! Sicher ist er ein stattlicher Ritter, der uns helfen wird!“ Obie verzog das Gesicht: „Der soll ein Ritter sein? Ein Krämer ist er, siehst du nicht seine Kisten und Kasten? Der will nur seine Waren loswerden!“ Das alles hörte Gawan, und es verdroß ihn ziemlich: Wie konnte man ihn für einen Krämer halten? Er lachte aber doch, als er Obilot sagen hörte: „Das ist niemals ein Kaufmann, ein Ritter ist er, ganz gewiß! Und viel schöner und stärker als Meljanz!“ Als Obie ihr darauf in die Haare fahren wollte, war die Fürstin ihrer Sache sicher: Obie liebte Meljanz und konnte den Gedanken nicht ertragen, daß ein anderer Mann ihn an Pracht und Schönheit übertreffen sollte! Innen in der Stadt hielt Lippaut Rat mit seinen Fürsten. Man hatte ihm gemeldet, daß an der anderen Seite des Berges, dort, wo die Feinde nicht lagerten, ein Heer unter der Führung seines eigenen Bruders zu seiner Hilfe erschienen war. Nun bestürmten ihn seine Leute:
„Herr, laßt uns kämpfen! Wir sind stark genug – seht Euch nur das Heer der Belagerer an – das sind ja alles ganz junge Leute, die wir leicht besiegen können, jetzt, wo Euer Bruder uns mithilft! Laßt die Tore wieder freimachen, laßt uns hinausreiten und uns mit den Feinden messen! Hofft Ihr denn immer noch, daß König Meljanz einlenken wird? Es geht nicht nach Eurer Unschuld, er will Krieg!“ Lippaut seufzte. „Wie kann ich denn gegen meinen eigenen Herrn kämpfen? Wie kann ich meinen König zum Gefangenen machen! Das wäre Untreue, und ich kann es nicht.“ Aber sie drangen lange in ihn, er spürte ihren Unwillen und fürchtete, sie würden ihm nicht mehr gehorchen, so daß er endlich nachgab. Da wurden die Steine aus den Toren gerissen, und schon stürmten die ersten Gewappneten hinaus, den Feinden entgegen. Gawan lagerte noch immer auf seinem Platz unter der Burg. Er sah, wie unten die Kämpfe begannen, und hörte Obie sagen: „Siehst du, Obilot, wie mein Ritter kämpft? Meljanz benimmt sich wirklich königlich! Und dein Ritter? Da liegt er an der Mauer und wartet nur darauf, daß wir ihm seine
Sachen abkaufen! Und das soll ein Ritter sein! Ein Krämer ist er!“ „Wenn er ein Kaufmann ist, gut, dann soll er mir etwas abkaufen“, antwortete flink die kleine Schwester. „Dann soll er meinen Dank erkaufen! Du wirst es schon sehen!“ Ach, Obie war rasend vor Zorn – auf sich selbst, weil sie Meljanz abgewiesen hatte, auf ihn, weil er sich so bitter rächte, auf alle Welt. Und ihre Wut ließ sie an dem ersten besten aus – das war nun eben Herr Gawan. Sie schickte ihm einen Pagen, der ihn fragen sollte, ob der Krämer wohl gute Stoffe zu verkaufen habe. Der arme Junge ging zaghaft an Gawan heran, wurde aber mit einem so finsteren Blick empfangen, daß er nur irgendeinen Unsinn stotterte und sofort wieder umkehrte. Da ließ Obie dem Burggrafen ausrichten: „Unter dem Ölbaum lagert ein Kaufmann, der uns betrügen will. Das muß der Burggraf verhindern. Er soll ihn forttreiben und die sieben schönen Pferde nehmen, die uns gut zustatten kommen.“ Nun, der Burggraf tat, was Obie gewünscht hatte, ging vors Tor und hinaus zu Gawan, erkannte aber beim ersten Blick, daß beileibe kein Krämer eine Ware verkaufen wollte, sondern daß hier ein edler Ritter saß. Höflich sprach er ihn an: „Herr, Ihr seid hier fremd. Verzeiht, daß uns die Not der Stadt versäumen ließ, Euch mit Ehren zu empfangen. Erlaubt mir, daß ich Euch in die Stadt führe und Euch bewirte!“ Gawan dankte, ließ seine Knappen alles wieder zusammenpacken und befahl ihnen, ihm in die Stadt zu folgen. Obilot klatschte vor Freude in die Hände, aber Obie hatte sofort einen anderen schändlichen Plan bereit. Sie schickte ein Mädchen zu ihrem Vater und ließ ihm ausrichten, daß ein Falschmünzer in die Stadt käme. „Sage meinem Vater, der Fremde hat reiche Schätze bei sich, die er nur auf unrechte
Weise gewonnen haben kann. Die soll mein Vater ihm abnehmen!“ Das Mädchen tat wie geheißen, und Fürst Lippaut dachte: „Das kommt mir gut zustatten! Soll ich nun wirklich Krieg führen, dann brauche ich Geld, um meine Leute zu belohnen. Einem Falschmünzer unrechtes Gut fortzunehmen, ist nur recht und billig.“ Er wandte sich aber zunächst an den Burggrafen, der seinen Gast zu sich nach Hause gebracht hatte, und berichtete ihm von Obies Mitteilung. Da lachte der Burggraf: „Der Fremde, der in unsere Stadt gekommen ist, verdient, ehrenvoll aufgenommen zu werden! Das ist kein Falschmünzer, sondern ein reicher Ritter, der uns gewiß im Kampf beistehen wird!“ Lippaut wollte sich selbst davon überzeugen, ging mit dem Burggrafen zu Gawan und erkannte sogleich, daß er einen edlen Mann vor sich hatte und grüßte ihn freundlich. „Seid willkommen in Bearosche, nehmt unsere Gastfreundschaft an, solange es Euch behagt. Aber ich bitte Euch: Helft uns im Krieg gegen König Meljanz!“ „Gern würde ich mit Euren Männern in den Kampf ziehen“, antwortete Gawan, „aber ich darf hier nicht die Zeit versäumen. Ich bin zu einem Zweikampf geladen und habe noch einen weiten Weg. Denkt, wenn ich verwundet würde und meine Fahrt nicht fortsetzen könnte! Jedermann würde mich künftig als Feigling beschimpfen, wenn ich nicht rechtzeitig nach Askalun käme!“ Soviel der Fürst auch in ihn drang, Gawan blieb fest, und der Fürst verabschiedete sich bekümmert. Draußen vor dem Haus des Burggrafen stieß Lippaut auf seine kleine Tochter Obilot, die mit ihrer Freundin spielte. „Vater, will der fremde Ritter für uns kämpfen?“ fragte sie.
Lippaut berichtete, daß der Fremde seine Bitten abgeschlagen habe, aber Obilot meinte: „Laßt mich nur machen. Mir wird er die Hilfe nicht verweigern.“ Mit ihrer Freundin besuchte sie Herrn Gawan. Er sprang höflich auf, als die kleine Dame hereintrat, und dankte ihr, weil sie ihn so tapfer gegen ihre Schwester in Schutz genommen hatte. „Lieber Herr“, sagte die Kleine und sah ihn ernsthaft an, „noch nie habe ich mich mit einem Mann unterhalten, und ich hoffe, daß ich es recht mache und nichts Dummes rede. Ich bitte Euch um Hilfe. Wenn ich älter wäre, würdet Ihr mir doch die Bitte nicht abschlagen? Laßt es mich nicht entgelten, daß ich noch so jung bin! Seid mein Ritter, kämpft für mich! Zieht morgen mit den anderen hinaus und streitet in meinem Namen! Ich will Euch dafür meine Liebe schenken.“ Gawan lächelte: „Kleine Herrin, Ihr seid schon so klug – dann wißt Ihr wohl auch, daß ein Ritter sein Wort nicht brechen darf? Und dann müßt Ihr verstehen, daß ich Eure Bitte abschlage, weil ich mein Wort einlösen und in ein fernes Land weiterreiten muß.“ Sie sah ihn nur flehend an und hob die kleinen Hände: „Liegt Euch denn nichts daran, daß ich Euch liebhaben will?“ „Zur Liebe seid Ihr fünf Jahre zu jung, Herrin“, antwortete er, aber er tat es freundlich und ohne Spott, denn die Kleine rührte sein Herz. Und endlich bezwang sie ihn doch: „Kleine Herrin, ich will für Euch kämpfen! Das soll heißen, ich werde das Schwert sein, daß für Euch kämpft – Ihr seid es, die eigentlich den Streit ausficht. Ihr müßt an mich denken und um Glück für mich beten.“ Mit gleichem Ernst nickte sie: „Ich bin Eure Herrin und Euer Schutz, mein Herz wird Euch Frieden geben, mein Gebet Euer Glück schaffen.“ Gawan nahm ihre kleinen Hände zwischen die seinen: „So jung Ihr auch seid, Herrin, so habt Ihr doch das Herz einer
edlen Frau.“ Ihre Augen leuchteten. Plötzlich aber sprang sie auf: „Ich muß Euch doch ein Feldzeichen geben, damit Ihr morgen unter meinem Zeichen kämpft! Sonst würde man Euch ja auslachen, wenn Ihr für eine Dame streitet, die Euch nicht einmal eine kostbare Gabe zum Zeichen ihrer Liebe überreicht hat!“ Rasch schlüpfte sie hinaus und zog ihre Freundin an der Hand mit sich. Gawan rief ihr nach: „Wenn Ihr erst erwachsen seid, wie viele Ritter werden sich da um Euren Dienst bemühen!“ Draußen fragte die Freundin: „Obilot, was willst du denn dem Ritter schenken? Wir haben ja doch nur unsere Puppen! Du kannst aber gern meine haben, wenn du denkst, daß eine Puppe das richtige Geschenk ist! Meine Puppe ist schöner als deine!“ Auf dem Weg zur Burg ritt Herr Lippaut an den beiden vorüber. Da rief ihn seine Tochter an: „Vater, jetzt mußt du mir helfen! Der Ritter hat eingewilligt, morgen für mich zu streiten, jetzt muß ich ihm aber ein Geschenk machen, ein Zeichen meiner Liebe. Kannst du mir nicht helfen? Ich besitze ja nichts, keinen Ring, keine Spange.“ Lächelnd hob Lippaut seine kleine Tochter vor sich auf sein Pferd, und rasch beugte sich ein Ritter aus seinem Gefolge herunter und nahm Obilots Freundin zu sich aufs Roß. Obilot schlang die Arme um ihren Vater und flüsterte: „Ich hab den fremden Ritter so gern! Bitte, laß mich ihm etwas sehr Schönes schenken, das er morgen an seinen Schild oder seinen Helm heften kann!“ Fürst Lippaut ging mit seiner Tochter zu seiner Gemahlin: „Unser Kind hat etwas Wunderbares erreicht! Der Fremde wird für uns kämpfen, und er steht mir ganz so aus, als ob wir an ihm die stärkste Hilfe haben. Nun sorge du dafür, daß Obilot ihm ein Geschenk machen kann!“ Da wurden in aller Eile die kostbaren Stoffe geholt, die in der
Burg lagen: Grüner Samt und mit Gold durchwirkte Seide. Daraus nähte man ein Kleid für Obilot, wie sie es noch nie besessen hatte, so schön und reich war es. Nur ein Arm blieb unbedeckt, denn den Ärmel sollte Gawan sich an seinen Schild heften. Der Ärmel wurde nur einmal an Obilots Arm gehalten, damit durch die Berührung die schützende Kraft von Obilots Liebe auf ihn überginge. Dann brachte die kleine Freundin den Ärmel zu Gawan. Er dankte feierlich und heftete den Ärmel auf seinen Schild. „Nun wird mir alles wohl gelingen!“ Und er verneigte sich vor dem Wege, den Obilot vorher gegangen war: „Gesegnet seien deine Schritte, kleine Herrin!“
Der Kampf
Nachts herrschte eifriges Treiben in Bearosche. Schanzen wurden aufgeworfen, an den Toren Wachen mit Speeren, Armbrüsten und Wurfgeschossen aller Art aufgestellt. Am anderen Morgen brandeten die Heere von beiden Seiten aufeinander los, nach wenigen Augenblicken schon war die Ebene von Kampfgetümmel und Feldgeschrei erfüllt. Gawan suchte das Zeichen des Königs Meljanz, fand ihn und stellte ihn zum Zweikampf. Die Wucht, mit der sie einander berannten, war so groß, die Kraft, die ihre Speere gegen den Schild des anderen trieb, so gewaltig, daß beide vom Pferde stürzten und sie zu Fuß mit den Schwertern weiter kämpften. Dabei war Meljanz aber im Nachteil, denn Gawans Speer hatte sich in seinen Arm gebohrt, saß dort fest, und das Blut rann herunter. Wäre König Meljanz nicht so behindert gewesen, hätte er sicher noch lange weitergestritten, so aber ergab er
sich, gelobte Frieden und ließ sich als Gefangenen nach Bearosche bringen. Überall wurde tapfer gekämpft, aber die Ritter aus Bearosche gewannen langsam die Oberhand. Auf Seiten der Belagerer stritt ein unbekannter Ritter in roter Rüstung, und den konnte niemand bezwingen! Es war Parzival, der von jedem Besiegten forderte, daß Meljanz freigegeben würde; darüber aber konnte nur Lippaut allein entscheiden. Außerdem verlangte Parzival von jedem Gegner, daß er für ihn den Gral erringen solle! Gawan erkannte den roten Ritter, ging dem Freunde aus dem Wege, um nicht gegen ihn kämpfen zu müssen, und sah endlich bekümmert, wie Parzival einsam davonzog. Der rote Ritter, dem sein Roß im Streit umgekommen war – viele Pferde hatten an diesem Tage den Tod gefunden – ritt auf einem anderen, herrenlosen weiter: Gawan erkannte, daß es eines der seinen war – das gönnte er dem Freunde gern.
Meljanz und Obie
Der gefangene Meljanz wurde nach dem Kampf mit seinem Bezwinger Gawan in die Burg geführt, wo Fürst Lippaut mit seiner Gemahlin und den Töchtern sie erwartete. Die Burgherrin hatte dem König frische Kleider bringen und seinen Arm verbinden lassen. Lippaut trat seinem Herrn entgegen: „König, denkt an die vergangenen Zeiten, als ihr hier in Bearosche wie mein Sohn lebtet. Begrüßt Eure Pflegemutter mit dem Versöhnungskuß!“
„Gern will ich das tun“, antwortete Meljanz, „und auch Obilot grüße ich. Aber die dritte Dame hier im Saal – nein, sie will ich nicht kennen.“ Gawan nahm Obilot, die nicht von der Seite ihres Ritters wich, wie eine hübsche Puppe auf den Arm, küßte sie und hielt ihr frisches Gesichtchen auch Meljanz hin: „Seht in Ihr Eure Bezwingerin, Herr! Ich war nur Ihr Arm und Ihr Schwert. Gelobt Ihr Frieden!“ Auch das erfüllte der König gern, aber Obilot sprach würdevoll von Gawans Arm herunter: „Nicht ich will Euer Gelöbnis haben – meiner Schwester Obie sollt Ihr es geben. Weigert Euch nicht! Ihr seid mein Gefangener, und ich will, daß ihr beide euch versöhnt!“ Das war ein Befehl aus kindlichem Munde, aber er war das rechte Wort, denn es machte es Obie und Meljanz leicht, den Groll fahrenzulassen. Weinend küßte Obie die Wunde an ihres Ritters Arm, weinend bekannte sie, daß sie ihn über alles liebe und nie mehr trotzig und hochfahrend seine Liebe zurückweisen wolle. Das war die rechte Freudenbotschaft für Fürst Lippaut! Seine Tochter, die nun die Gemahlin seines Königs werden sollte, nannte er von jetzt ab Herrin, und die Hochzeit wurde in aller Pracht gefeiert.
Gawan in Askalun
Gawan konnte an dem Fest nicht teilnehmen, er nahm Abschied, reich beschenkt. Obilot sah ihn mit vielen Tränen ziehen, und auch er war traurig, von der Kleinen scheiden zu müssen. Aber er durfte den Zweikampf mit Kingrimursel nicht versäumen!
Durch Hochgebirge und wilde Moore ging seine beschwerliche Fahrt, bis eines Morgens das Meer zu seinen Füßen glänzte und er am Ufer auf steilem Felsen eine riesige Burg liegen sah: das Schloß des Königs von Askalun. Ärger und Sorge wallte in ihm hoch: „So lange bin ich unterwegs, und hier soll ich mich um eines ungerechten Vorwurfs wegen in Gefahr begeben! Wer weiß, was mir hier noch zustoßen kann! Kingrimursel ist ein starker Feind, und ob seine Leute mich in Frieden lassen, wie er es mir versprochen hat? Gott möge mich schützen in diesem feindseligen Land!“ Von der Macht des Königs von Askalun erhielt er gleich eine Vorstellung: Fünfhundert Herren jagten nach Kranichen auf dem weiten Feld vor dem Meer. Gawan ritt mitten durch sie hindurch, keiner kannte den Fremden, der seinen Helm geschlossen hielt. Gawan aber wußte unter den Männern den König von Askalum herauszufinden, und er staunte, wie schön der Mann war: Er erinnerte ihn an Parzival, den herrlichsten aller Ritter. Beide begrüßten einander mit aller Höflichkeit, und der König bat den Fremden, sein Gast zu sein. „Wenn es Euch recht ist, reitet allein weiter in die Stadt und in die Burg – ich möchte hier die Jagd beenden. Wenn Ihr das aber als Unhöflichkeit anseht, bin ich gern bereit, sie abzubrechen und mit Euch in meine Stadt zu ziehen!“ Gawan schien es besser, unerkannt und allein die Burg zu betreten, er dankte also für die Gastfreundschaft und begab sich mit seinem Gefolge in das Schloß von Askalun. Der König hatte ihn an seine Schwester Antikonie gewiesen. Gawan ließ sich zu ihr führen und fand eine edle Frau, die ihn höflich aufnahm. Beide gefielen einander über alle Maßen gut. Sie fragte nach seinem Namen – aber wie durfte er sich zu erkennen geben? Er antwortete also: „Ich bin der Sohn des Bruders der Schwester meines Vaters.“ Mit dieser rätselhaften
Antwort gab sie sich zufrieden, weil ihr der Fremde so gut gefiel. Die beiden saßen allein in vertraulichem Gespräch, und plötzlich legte sich Gawans Arm um ihre Schulter, er wollte sie an sich ziehen, – denn alles hatte er vergessen, was ihn hierhergeführt hatte – Antikonie war die Herrin seines Herzens. Aber in demselben Augenblick trat ein grauhaariger Ritter in den Saal, sah den Fremden so vertraut bei Antikonie sitzen, erkannte ihn und rief mit Donnerstimme: „Schande über Askalun! Da sitzt der Mörder des Vaters und entehrt die Tochter!“ Und immer wieder rief er, während er die Treppe hinunter und aus dem Schloß stürzte: „Da sitzt der Mörder des Vaters und entehrt die Tochter!“ Von allen Seiten wurde der Ruf aufgenommen, aus den Häusern liefen die Leute mit Äxten und Beilen, Speeren und Schwertern. Ohne recht zu wissen, um was es ging, rannten sie ins Schloß, die Treppe hinauf, kamen vor den Saal, in dem Gawan, der seine Waffen nicht bei sich hatte, mit der schönen Antikonie saß. „Sie werden dich totschlagen! Komm!“ Sie riß ihn an der Hand mit sich, durch ein Gemach hindurch bis vor die Tür eines alten Turms. Schon war die Menge hinter ihnen, da zog Gawan mit heftigem Ruck den Riegel aus der Turmtür und stürzte mit Antikonie hinein. Sie sahen sich verzweifelt nach Waffen um, aber im Raum war nichts als ein riesiges Schachspiel. Gawan hielt das Brett als Schild vor sie beide, Antikonie aber ergriff die schweren, goldenen Schachfiguren und schleuderte sie auf die Angreifer. Wer da von einem Turm, einem Springer, einem Läufer oder König getroffen wurde – und sie traf gut! – , der hatte genug vom Kampf und zog sich eilends zurück. Aber schon waren die meisten Figuren verschleudert, als die schlimmste Gefahr erst heranrückte: Der König von Askalun war von der Jagd zurückgekommen und vernahm, daß der angebliche Mörder
seines Vaters im Turm steckte! Da faßte er einen Entschluß, der seine ritterliche Ehre verdunkelte: Er ermunterte die Bürger zum Kampf gegen den Gast, den er geladen hatte, ja, er rief nach seinem Schwert, um Gawan selbst zu erschlagen! Aber Herr Kingrimursel warf sich ihm entgegen: „Ich habe Gawan hergeladen zum Zweikampf mit mir! Ich habe ihm freies Geleit versprochen – und Askalun hat es gebrochen! Das ist ein Treuebruch! König, ich stehe zu meinem Wort! Wenn Ihr Ritter Gawan angreift, müßt Ihr erst mich erschlagen!“ Gawan rief er zu: „Laßt mich zu Euch hinein! Ich werde mit Euch kämpfen – ich will mein Wort halten!“
Nun wurden die Bürger unschlüssig, denn Kingrimursel war geachtet und beliebt in der Stadt, und keiner wollte ihn angreifen oder gar töten. Immer lahmer kämpften sie, und schließlich traten ein paar besonnene Männer vor den König: „Herr, gebt Frieden! Es ist doch kein Ruhm für uns, wenn wir alle gegen zwei Männer und eine Frau streiten! Und wie könnten wir denn Eurer Schwester ein Leid antun? Gebietet Frieden, dann könnt Ihr Euch noch entscheiden, was mit dem Mörder Eures Vaters geschehen soll!“ Längst schon schämte sich der junge König über seinen voreiligen Befehl, und er gebot Frieden; die Leute verzogen sich. Antikonie stellte sich mit zornblitzenden Augen vor ihren Bruder: „Wie konntest du so alles vergessen, was man dich gelehrt hat! Es wird dir immer als Schande angerechnet werden, daß du einen Gast angegriffen hast! Und außerdem hast du gesehen, daß ich ihn zu schützen versuchte: War das nicht genug, dich vom Kampf abzuhalten? Ich will kein freundliches Wort mehr mit dir sprechen, ehe du diese Sache nicht wieder gutgemacht hast.“ Und Kingrimursel sprach noch bitterer: „Als ich Gawan zum Zweikampf in Askalun forderte, habe ich ihm freies Geleit
geboten. Daß es nicht gehalten wurde, fällt auf mich zurück. Das habt Ihr, Herr, wohl nicht bedacht. Die Schande ist mein – aber Ihr habt sie verursacht.“ Wohin der König blickte – er las in allen Blicken nur Zustimmung zu Kingrimursels Worten. Einzig ein Ritter, der jedem Kampf aus dem Wege ging, sich dafür aber mit Worten eifrig hervortat, machte sich auch jetzt wichtig: „König, wozu soviel Gerede um einen Mann, der Euren Vater erschlagen hat? Ein Tod für den anderen! Erschlagt ihn, dann ist der Tod Eures Vaters gerächt.“ Gawan, der ruhig danebenstand, erkannte jetzt, in welcher Gefahr er sich noch immer befand. Aber Kingrimursel griff wieder ein, wies den anderen zurecht und sprach: „Herr Gawan, für diesmal wird es nichts mit unserem Zweikampf – man hat Euch hier zuviel Schmach angetan. Versprecht mir, daß Ihr Euch übers Jahr zum Kampf stellen werdet, und den wollen wir nicht hier in Askalun austragen, sondern vor König Meljanz. Ich hoffe, daß mein König Euch jetzt das Leben läßt – und dann werden wir uns übers Jahr miteinander messen!“ Gawan versprach es. Der König erklärte, daß er mit seinen Fürsten beraten wolle, wie er mit dem Mörder seines Vaters verfahren solle; am anderen Tag werde die Entscheidung fallen. Sie gingen auseinander: Antikonie nahm Gawan und Kingrimursel mit sich, die übrigen begleiteten den König. Antikonie tat alles, um die beiden Ritter den Kampf vergessen zu lassen, ließ sie bewirten und vertrieb ihnen die Zeit mit freundlicher Unterhaltung. Aber Gawan legte sich mit schwerem Herzen zur Ruhe, und bitter bedachte er, daß er ganz unschuldig in diese Not geraten war. Erst später sollte er und seine Widersacher erfahren, daß ein fremder Ritter den alten König von Askalun erschlagen hatte.
Gawans Abschied von Askalun
Der König hielt am anderen Morgen Rat mit seinen Fürsten, und der Vorschlag, den sie ihm machten, dünkte ihn sehr gut: Er war nämlich einer von den Rittern, die von Parzival besiegt worden waren und ihrem Bezwinger versprechen mußten, für ihn den Gral zu gewinnen. Da meinte einer seiner Ratgeber: „König, es ist unmöglich, daß Ihr Euer Versprechen gegen den fremden Ritter einlöst – keiner weiß den Gral zu finden, keiner kann ihn erobern. Übertragt diesen Auftrag an Gawan – dann kommt Ihr mit Ehren aus diesem Streit; Ihr laßt ihm sein Leben, aber seine Strafe ist nicht gering: Jahre wird er vertun, um den Gral zu suchen, und wenn er ihn erobern will, werden ihm die Ritter von Munsalvaesche das Leben nehmen!“ Darauf ließ der König Gawan holen, trug ihm den Vorschlag des Fürstenrats vor und ließ ihn schwören, daß er für ihn den Gral suchen werde. Gawan versprach es, aber er war nicht froh. Ehe er aufbrach, führte man seine acht Knappen zu ihm, die unterdessen im Gefängnis gesessen hatten. Sie baten ihren Herrn kniend um Verzeihung, weil sie nicht an seiner Seite gekämpft hatten: „Herr, Euer Falke, den wir hüten sollten, ist uns entflogen, als Ihr Euch mit der Herrin Antikonie unterhieltet. Wir sind ihm nachgelaufen, und dann haben uns die Bürger gefangengenommen.“ Gawan verzieh ihnen gern, wollte sie aber nicht auf der weiteren Fahrt mitnehmen, sondern schickte sie unter Geleit zurück zu König Artus. Dann nahm er Abschied von Kingrimursel, dessen rechtliches Herz er achtete, und von Antikonie, die ihn ungern scheiden sah. „Es wird mir immer schmerzlich sein“, sagte sie, „daß du hier bei uns soviel Gefahren leiden mußtest. Ich glaube nie und nimmer, daß du es
warst, der meinen Vater umgebracht hat. Aber es ist nun so gekommen, daß wir nicht mehr beieinander bleiben können. Doch wohin du auch gehst, ist mein Herz bei dir, es freut sich mit dir und trägt mit dir deinen Kummer.“
Gawan begegnet Orgeluse
Ein Jahr ging ins Land, in dem Gawan manche Abenteuer bestand. Als die Frist abgelaufen war, kam er an den Hof des Königs Meljanz, wo er auch Obie als die strahlend schöne Gemahlin Meljanz’ wiedersah und mit ihnen den König von Askalun und Kingrimursel. Doch der Zweikampf fand nicht statt, denn inzwischen hatte man erfahren, daß Gawan unschuldig am Tode des alten Königs war. Nun mußte der König von Askalun wieder allein auf die Suche nach dem Gral gehen, und Gawan war des Auftrags ledig. Deshalb konnte er sich endlich auf den Rückweg an den Artushof machen – aber es sollte noch lange dauern, bis er die Freunde der Tafelrunde wiedersah! Eines Tages fand er im Walde ein an einen Baum gebundenes Pferd, das einen Damensattel trug und neben dem ein zerhauener Schild, ein schartiges Schwert, ein zerbeulter Helm lagen. „Das muß ja eine streitbare Frau sein, die hier Rast macht“, dachte er. „Ob ich am Ende mit einer Dame kämpfen soll?“ Aber was er dann fand, war eine weinende Frau, die einen schwer verwundeten Ritter im Arm hielt. Gawan sprang vom Pferd, erkannte, daß der Ritter noch lebte, und beschloß, ihm zu helfen, denn Königin Ginevra hatte ihn gelehrt, wie man Wunden behandelt. Er sah, daß das Blut nicht aus der Wunde
abfließen konnte, nahm ein Röhrchen aus Lindenrinde und saugte es damit ab. Da erwachte der Ritter sogleich aus der Ohnmacht und berichtete Gawan, wie er zu seiner Wunde gekommen: „Setzt Euren Weg nicht fort, es könnte Euch so gehen wie mir! Ich bin einige Meilen von hier auf starke Ritter gestoßen, und einer davon hat mich im Kampf verwundet. Diese edle Dame hat mich auf ihrem eigenen Pferd hierhergebracht.“ Aber Gawan erwiderte: „Dann werde ich mich Eurem Bezwinger stellen und Euch rächen!“ Er verband die Wunde des Ritters mit dem Kopftuch der Frau, sprach den Wundsegen und ritt weiter, einem Abenteuer entgegen, wie er es nie erwartet hätte. Der Weg, der vom Blut des Ritters gekennzeichnet war, führte ihn schließlich vor eine Burg auf einem hohen Felsen; der Weg dort hinauf drehte sich in so vielen Windungen um den Berg, daß es Gawan schien, als ob der ganze Felsen mit der Burg kreiselte. Bevor er hinaufritt, sah er an einem Quell eine Frau sitzen, deren Schönheit ihn wie ein Blitz durchfuhr. Es war Orgeluse, die schönste Frau nach Kondwiramur. Gawan sprang vom Pferd. „Herrin, wie lange ich auch leben mag – nie werde ich eine schönere Frau als Euch sehen!“ Schnippisch erwiderte sie: „Das glaub’ ich Euch.“ Dann musterte sie ihn von unten bis oben und fuhr fort: „Die schönen Worte, die Euch noch auf der Zunge liegen mögen, dürft Ihr Euch sparen! Mir ist es gleich, was ein Herr Jedermann von mir denkt. Bin ich schön, dann bin ich es für meine Freunde. Wenn Ihr die Absicht habt, um meine Gunst zu werben, reitet nur gleich weiter – von mir erhaltet Ihr keinen Dank.“ Er sah ihr fest in die Augen: „Ihr sprecht bittere Worte, Herrin, aber Euer Mund ist rot, und Eure Augen strahlen. Es hilft mir nichts, daß Ihr nichts von mir wissen wollt: Ihr habt
mich eingefangen. Ich möchte Euch immer an meiner Seite wissen.“ „Nun gut, dann nehmt mich mit! Aber Ihr werdet sehen, daß Ihr davon nur Not und Gefahren habt und niemals einen Dank von mir. Nehmt mich nur mit – es wird Euch früh genug reuen!“ „Um Liebe dienen“, antwortete Gawan, „muß jeder Mann. Niemandem wird sie geschenkt, der ihrer nicht wert ist. Ich will Euch dienen, bis Ihr freundlicher zu mir sprecht, und vor Gefahren fürchte ich mich nicht.“ „Dann beweist mir Eure Dienstwilligkeit: Holt mir mein Pferd! Ich halte so lange Euer Roß und erwarte Euch hier. Das meine steht dort drüben – jenseits der schmalen Brücke. Ihr werdet allerlei Menschen auf dem Rasen sehen, es sind meine Leute. Laßt Euch das Pferd geben.“ Gawan ging über die Brücke, kam in einen schönen Garten und fand dort fröhliche Menschen, die tanzten und sangen. Als sie ihn erblickten, wurden sie still und sahen ihm bekümmert nach. Er fand das Pferd, aber ehe er es vom Baum losbinden konnte, trat ein alter Mann auf ihn zu: „Herr, laßt das Pferd hier stehen! Ihr wollt es unserer Herrin bringen, aber daraus wird viel Leid für Euch erwachsen! Unsere Herrin ist schön – aber auch grausam. Mit Freuden stürzt sie die Ritter in Gefahren und Not. Noch jeder hat es bitter bereut, der sich von ihrer Schönheit betören ließ!“ Doch Gawan nahm das Pferd beim Halfter und führte es zurück zu der Dame. Die lachte: „Ihr seid ein Dummkopf! Eine Gans seid ihr. Ihr werdet schon sehen, auf was Ihr Euch eingelassen habt!“ „Eure bösen Worte tun mir nicht weh – um so lieber werdet Ihr später sprechen, wenn Ihr meine Treue erst recht geprüft habt. Laßt Euch aufs Pferd heben!“
„Rührt mich nicht an!“ rief sie und schwang sich mit einem Satz auf ihr Pferd. „Jetzt reitet Ihr voran, Herr Ritter, ich werde Euch folgen. Euer Unglück verläßt Euch nicht.“
Gawan wird betrogen
Sie nahmen den Weg zu dem verwundeten Ritter. Unterwegs riß Gawan eine heilkräftige Wurzel aus, worüber die Dame laut lachte: „Ach, ein Arzt seid Ihr auch? Da kann ich gewiß noch manches lernen.“ Als die beiden zu dem Verwundeten und seiner Dame kamen, spottete die Frau: „Hier könnt Ihr sehen, was Euch erwartet! Der da unten an der Erde ist auch um meinetwillen so zerhauen!“ Gawan tat, als höre er nichts, band dem Mann das Heilkraut auf die Wunde und sah befriedigt, wie sich der Ritter sofort erholte und imstande war, wieder aufzustehen. „Ich danke Euch“, sprach er, „und mein Dank soll sein, daß ich Euch warne: Geht so weit fort, wie ihr nur könnt, von dieser Frau, die hinter Euch geritten kommt! Es ist die Herzogin Orgeluse, und ihr Stolz und ihre Bosheit haben noch jeden zuschanden gemacht, den ihre Schönheit gefangennahm. – Ich will jetzt versuchen, mit meiner Dame in das Kloster zu kommen, das einige Stunden von hier liegt. Dort weiß man Verwundete zu heilen.“ Höflich half Gawan der Dame auf ihr Pferd – da sah er den fremden Ritter auf sein, Gawans, Roß springen und hohnlachend davonreiten! Gawan blieben die Worte im Halse stecken – sprachlos starrte er dem Betrüger nach. Laut lachte Orgeluse: „Ja, jetzt seht Ihr so aus, daß man Euch wirklich lieben muß! Sagte ich, Ihr wärt eine Gans? Da hatte ich freilich
recht! Ihr kamt als ein Ritter, Ihr handeltet wie ein Arzt, jetzt dürft Ihr zeigen, ob Ihr auch als Page zu Fuß neben mir laufen könnt!“ Der fremde Ritter kam noch einmal zurück, hielt in sicherer Entfernung und schrie: „Ich habe dich erkannt, Gawan! Und daß ich dein Pferd entführe, ist meine Rache! Du hast mich einmal gefangengenommen und zu Artus gebracht, und der König hat mich vier Wochen lang mit den Hunden essen lassen!“ „Jetzt erkenne ich dich, du bist es, Urians! Aber du verschweigst, daß du die Schande damals verdient hast! Du hattest eine edle Jungfrau so schwer gekränkt, daß König Artus dir das Leben nehmen wollte. Nur auf meine Bitte hin wurde die Strafe gemildert. Mir scheint, als du vier Wochen mit den Hunden aus einem Trog essen mußtest, hast du hündische Manieren angenommen! Ist das der Dank?“ „Was damals war, ist mir gleich – ich hasse dich und will dieses Pferd haben!“ Damit verschwand Urians. Gawan erzählte Orgeluse alles, was damals am Artushof geschehen war, und Orgeluse versprach, Urians zu strafen: „Nicht, weil er Euch das Pferd genommen hat – das schadet Euch nichts, das lehrt Euch nur, Euch ein andermal besser vorzusehen! – sondern, weil er einem edlen Mädchen Gewalt angetan hat, wie Ihr erzählt. Dafür soll er mir büßen!“ Als die beiden nun ihren Weg fortsetzten, mußte Gawan zu Fuß neben seiner Dame hergehen – mit Harnisch, Schild und Schwert – , für einen Ritter, der eine Frau entführen will, war das freilich eine beschämende Weise! Orgeluse spottete und warnte wieder: „Euer Pferd habt Ihr schon verloren – Ihr werdet sicher noch mehr verlieren, wenn Ihr auf meine Gesellschaft besteht. Wollt Ihr es nicht lieber aufgeben? Ich habe zwar gesagt, daß ich Euch folge – als Euer Unglück – aber ich fürchte, mein Pferd wird ungeduldig werden! Und Ihr
glaubt doch wohl nicht, daß Ihr mir jetzt besser gefallen könnt?“
Ein Knappe erreichte die beiden, um Frau Orgeluses Befehle für die Zeit ihrer Abwesenheit zu erbitten. Der hatte, um die beiden einholen zu können, einem Bauern ein altes Pferd entwendet, und Gawan dachte: „Besser das als keines!“ Sie schickten den Knappen zu Fuß zurück, und Gawan betrachtete trübselig den elenden Klepper, der ihm da in die Hände geraten war. Zum Kampf war er gewiß nicht zu brauchen, ja, Gawan wagte nicht einmal, sich auf ihn zu setzen, um den krummen Rücken nicht vollends einzudrücken. So belud er das Pferd mit Schild und Waffen und zog es trübselig hinter sich her. Laut lachte Frau Orgeluse: „Als Ritter seid Ihr gekommen, als Arzt
habt Ihr einem Verwundeten geholfen, jetzt führt Ihr kümmerliche Ware wie ein Krämer mit Euch! Mein stolzer Entführer – was werde ich an Euch noch erleben!“ Gawan sah sie nur an, und ihre Schönheit besänftigte ihn immer wieder. „Sie zeigt Witz und Verstand“, dachte er, „eines Tages wird sie mir auch Liebe schenken.“ Er war seiner selbst sicher, und die Bosheiten dieser Frau brachten ihn nicht aus der Ruhe. Doch der Weg wurde dem geharnischten Mann schließlich doch recht beschwerlich, und endlich bestieg er vorsichtig sein armseliges Pferd und ritt – wenn man es reiten nennen will. So hatte noch niemand Herrn Gawan zu Pferde gesehen.
Gawan kämpft mit Lischois
Immer ritt die Dame hinter Gawan her – getreu ihrem Wort, daß er sie entführen möge. Aber sie wußte genau, daß der einzige Weg aus der Wildnis dorthin führte, wohin sie ihn haben wollte. Nach langem Ritt erblickte Gawan, was er noch nie gesehen hatte: Vor ihm erhob sich eine riesige Burg mit vielen hundert Fenstern, und hinter jedem Fenster stand eine Frauengestalt! Gawan hielt sein Pferd an – müde ließ es den Kopf hängen – und starrte auf die vielen Frauen – er zählte, er rechnete: Vierhundert Frauen in vierhundert Fenstern mußten es sein! Junge und alte Gesichter blickten auf ihn herab, manche wehmütig lächelnd, andere in banger Sorge. Aber keine Frau nickte ihm zu. Vor der Burg floß ein breiter, reißender Strom. Die Dame winkte dem Fährmann am anderen Ufer, der sein Boot löste und über den Fluß setzte. Während sie warteten,
bemerkte Gawan, daß ein Ritter in voller Rüstung auf ihn zusprengte. Der Fährmann legte sein Boot ans Ufer, die Dame stieg mit ihrem Pferd ein und rief Gawan zu: „Jetzt verlasse ich Euch. Seht zu, wie es Euch weiter ergeht! Es wird nichts Gutes sein, was Ihr hier erlebt – aber ich habe Euch gewarnt.“ Das Boot legte ab, Gawan rief: „Herrin, soll ich Euch nicht wiedersehen? Ist das der Lohn für meine Treue?“ Von der Mitte des Stroms her klang ihr helles Lachen: „Irgendwann einmal werdet Ihr mich wiedersehen, aber das mag ein ferner Tag sein, an dem das geschieht!“ Gawan sah alles, was er an Glück erhofft hatte, mit ihr davonziehen. Und er konnte ihr nicht einmal mehr nachblicken, denn jetzt war die Gefahr für ihn da: Der Ritter brauste heran, und sein eingelegter Speer ließ keinen Zweifel daran, daß er mit Gawan kämpfen wollte. „Ja, mein armes Tier, nun hilft es nichts! Wir müssen uns dem Fremden stellen“, sprach Gawan zu seinem Pferd, legte die Lanze waagerecht auf den Sattelknauf und spornte seinen Klepper. Wie er erwartet hatte, hielt das Pferd dem Anprall nicht stand. Die Speere beider Männer zerbrachen, und Gawan stürzte mit dem Roß zu Boden. Er sprang schnell wieder auf die Füße, der Fremde schwang sich vom Pferd, und nun begann ein hartnäckiger Schwerterkampf, der kein Ende nehmen wollte. Schließlich wurde es Gawan langweilig. Als sein Gegner eben sein Schwert hob, bückte er sich, unterlief den anderen, packte ihn mit beiden Armen, schwang ihn hoch durch die Luft und legte ihn auf die Erde. Er kniete sich über ihn und forderte das Friedensgelöbnis. Herr Lischois hieß der Ritter, den Gawan bezwungen hatte, und Herr Lischois war noch nie besiegt worden. Mit den Zähnen knirschend zischte er: „Ich gebe keine erzwungene Sicherheit! Nehmt mein Leben – Frieden gelobe ich nicht! Ich habe meinen Ruhm als der Unbesiegbare
verloren – nun ist es mir gleich, ob ich sterbe!“ Das war Gawan nicht recht. „Wozu soll ich diesen Mann töten? Was für Ehre bringt es mir ein, wenn ich ihn erschlage?“ Schließlich ließ er ihn sich aufsetzen, ohne daß der Unterlegene geschworen hatte. Da saßen sie nun und wußten nicht, wie es nun weitergehen sollte. Plötzlich kam Gawan der Gedanke an das Pferd des anderen. Er sprang auf, fing es ein, schwang sich darauf und ließ es traben. Da merkte er, daß es sein eigenes Roß war, das ihm der Ritter Urians kürzlich gestohlen hatte! So hatte sich der Dieb nicht lange daran freuen können, Lischois mußte es ihm wieder abgenommen haben. Aber kaum saß Gawan zu Pferde, als sein Gegner aufsprang, das Schwert ergriff und sich von neuem auf Gawan stürzte. Da kam es zu einem zweiten Schwerterkampf, so wild und hartnäckig wie der erste, die Waffen blitzten im Sonnenschein, scharf und hell klang es, wenn die Schwerter auf Helm und Harnisch trafen. Mitten im Streit blickte Gawan auf und sah, daß die vierhundert Frauen an den Fenstern den Kampf beobachteten. Da lachte sein Herz: Von so vielen edlen Damen beim Kampf bewundert zu werden, das machte ihm Freude! Und wieder packte er, als ihm der Schwertarm müde zu werden drohte, seinen Gegner mit den Armen und zwang ihn noch einmal zu Boden. „Gebt Sicherheit!“ Aber Lischois weigerte sich wieder. „Ich habe Euch gesagt: Bringt mich um! Ihr seid stärker als ich, ich mag nicht als Besiegter zu meinen Freunden kommen. Schlagt zu!“ „Warum habt Ihr mich eigentlich angegriffen?“ wollte Gawan wissen. „Die Herrin Orgeluse schickt mir die Ritter, gegen die ich kämpfen soll. Ich streite für sie, und der letzte, den ich besiegt habe, war Ritter Urians. Ich mag Orgeluse nicht als Unterlegener unter die Augen treten. Schlagt doch endlich zu!“
Gawan richtete sich auf. Um Orgeluses wegen ließ er dem Trotzigen sein Leben. „Er oder ich – einer wird ihre Liebe erringen. Ich habe es nicht nötig, ihn deswegen umzubringen.“ Er ließ Lischois aufstehen. Sie setzten sich müde ins Gras, aber nicht nebeneinander!
Der Fährmann
Ruderschläge klangen über den Fluß, der Fährmann legte sein Boot ans Ufer, stieg an Land und kam auf Gawan zu. Er trug einen Sperber auf der Hand. Gawan erkannte, daß der Fährmann ein wohlerzogener, edler Mann war, und dankte ihm freundlich für seinen Gruß. „Herr“, begann der Fährmann, „Ihr habt einen guten Kampf bestanden. Das können die Frauen im Schloß bezeugen. Noch nie ist der tapfere Ritter Lischois besiegt worden, obgleich die Frauen schon vielen Kämpfen zugesehen haben, die er hier für die Herrin Orgeluse bestanden hat. Nun gebt mir bitte, was mir gehört: Wenn hier auf dem Platz vor der Fährstelle ein Zweikampf ausgefochten wird, steht mir das Pferd des Besiegten zu. Das ist mein Recht, und noch niemand hat es mir verweigert. So gebt mir also das Pferd des Herrn Lischois!“ „Nein“, brummte Gawan, „das Pferd bekommt Ihr nicht. Es gehört nämlich nicht Herrn Lischois, sondern er hat es einem Ritter abgewonnen, der es mir gestohlen hatte. Es ist also mein eigenes Roß. Wenn Ihr wollt, nehmt den Klepper, der da hinten so trübselig steht und zum erstenmal in seinem Pferdeleben einen Kampf bestehen mußte. Den könnt Ihr haben.“
Der Fährmann weigerte sich, die arme Mähre mitzunehmen. Schließlich hatte Gawan einen besseren Gedanken: „Den Ritter Lischois, den Ihr so preist, könnt Ihr haben. Nehmt ihn statt des Pferdes, auf dem er saß! Mir ist es gleich, ob es ihn freut oder ärgert – nehmt ihn nur.“ Da freute sich der Fährmann: „Eine so reiche Gabe habe ich noch nie erhalten! Das Lösegeld, das man mir für ihn bieten wird, wiegt sicher fünfhundert Pferde auf! Aber Ihr müßt mir helfen: Bringt mir mein Pfand in mein Boot, denn freiwillig wird Herr Lischois sicher nicht einsteigen.“ „Gut, ich schaffe ihn in Euer Boot, drüben wieder an Land und als Euren Gefangenen in Euer Haus.“ „Dann bitte ich Euch, mein Gast zu sein. Ihr kommt in kein geringes Haus, denn ich war einst Ritter wie Ihr, habe aber mein Hab und Gut verloren. Mir ist nichts geblieben als der Sperber, mit dem ich mir ein paar Vögel für eine Mahlzeit erjage, und das Recht auf die Pferde der auf diesem Feld besiegten Ritter. Aber ich werde Euch gern aufnehmen.“ Gawan dankte: „Ruhe ist mir sehr willkommen, ich habe große Mühe hinter mir, und diejenige, um derentwillen ich sie ertragen mußte, hat sich mir entzogen. Laßt mich bei Euch ausruhen.“ Der Fährmann ahnte, welche Dame Gawan den Kummer angetan hatte, und sah viele Gefahren für ihn kommen. „Herr, in diesem Land ist alles anders, als Ihr es erwartet. Ihr wißt vielleicht nicht, daß Ihr jetzt in ein seltsames Gebiet gekommen seid, das voller abenteuerlicher Dinge steckt. Es ist das Reich von Klinschor, dem Zaubermächtigen. Und nun kommt mit mir.“ Herr Lischois ließ sich geduldig an Gawans Hand zum Boot führen. Das Haus des Fährmanns lag stattlich und fest am anderen Flußufer.
Der Gastgeber rief seine Söhne, damit sie Gawans Pferd versorgten, und seine junge Tochter Bene, die die Ritter ins Haus führte und ihnen die Rüstungen abnahm. Alles war reinlich und hübsch, der Fußboden mit Binsen belegt. Seufzend ließ sich Herr Gawan auf die weichen Kissen nieder, die man für ihn geholt hatte, und hungrig wartete er auf das Essen, als die Knaben Tisch und Tischgerät – alles von guter Art – gebracht hatten. Gawan bat, daß Jungfer Bene mit ihm speisen dürfe, und gern setzte sich das errötende Mädchen zum Gast. Aber zeugten auch Kissen, Decken und Tischgerät vom einstigen Reichtum des Fährmanns, so blieb doch das Mahl bescheidener, als es Herr Gawan gewohnt war: Kräuter, Salate in Essig trug man ihm auf, und das war keine Speise, die man in Ritterburgen und an Königshöfen schätzte! Drei kleine Lerchen hatte der Sperber erjagt, die setzte man Herrn Gawan vor. Da bat Bene: „Herr, wenn es Euch recht ist, gebt meiner Mutter eine davon! Sie hat heute noch kein Fleisch gegessen!“ „Einem so hübschen Mädchen erfülle ich gern jede Bitte“, antwortete Gawan höflich, und die Hausfrau dankte herzlich für die Gabe. Nach dem Essen brachte man lange, dicke Federkissen zum Nachtlager, bedeckte sie mit Samt und Seidenstoffen und legte ein schneeweißes Leinentuch darüber. Zum Zudecken erhielt Gawan den neuen Mantel des Mädchens, der war aus Hermelin. Gawan hätte in dieser Nacht auch auf einem weniger liebevoll bereiteten Lager gut geschlafen, so müde war er. Doch in aller Frühe wurde er wach, stand auf und ging leise vor die Tür. Vor ihm erhob sich die Burg – und im ersten Frühlicht sah er die vielen Frauen hinter den Fenstern stehen und hinausblicken. „Schlafen sie denn nie?“ dachte Gawan. „Wer hat sie wohl alle hierhergebracht? Was tun sie in der
Burg? Etwas so Sonderbares habe ich nie erlebt und nie davon vernommen.“ Da alles im Hause des Fährmanns still blieb, legte er sich noch einmal hin und schlief bald fest ein.
Er erwachte von einem leichten Geräusch und erblickte Bene, die sich neben seinem Lager niedergelassen hatte und ihn freundlich ansah. „Ich wollte Euch gleich zu Diensten sein, wenn Ihr aufwachtet“, sagte sie. „Habt Ihr einen Wunsch, den ich Euch erfüllen kann?“ „Ja. Erzählt mir vom Schloß. Was hat es damit auf sich? Was tun die vielen Frauen, die nie zu schlafen scheinen?“ „Ach Herr, jeden Wunsch will ich Euch gern erfüllen, aber fordert nicht, daß ich Euch davon berichte.“ Gawan drang in sie und bat immer wieder, ihm doch davon zu erzählen. Aber Bene schluchzte nur und brachte kein Wort heraus. Das Weinen hörte der Fährmann, er trat ins Zimmer und fragte, was es gäbe. Da bat ihn Gawan, ihm von dem seltsamen Schloß zu erzählen, doch der Fährmann schwieg, und Bene weinte lauter. „Nun sagt mir doch, warum so viele schöne Frauen von jener Burg herabblicken! Ich möchte wissen, ob sie freiwillig dort sind – wenn sie traurige Tage verbringen, kann ich sie vielleicht befreien.“ „Ach, daß Ihr fragt! Warum müßt Ihr es wissen? Es wird Euch keine Freude machen!“ Aber Gawan bestand darauf, alles zu hören, und schließlich willigte der Fährmann ein. „Herr, viele Ritter haben vor Euch gefragt und sind danach in schwere Gefahr gekommen, ja, die meisten haben ihr Leben dabei verloren. Was für Abenteuer Ihr auch immer bestanden habt – hier erwartet Euch eines, das schlimmer und gefährlicher als alle anderen ist! Terremarveile
heißt das Land – Zauberland. Die Burg trägt den Namen Schastelmarveile – die Zauberburg, und das, was Euch das Leben rauben kann, ist das Zauberbett Litmarveile. Das Land gehört dem Zauberer Klinschor, dessen Macht die vierhundert Frauen, Jungfrauen, Mütter und ehrbare Ehefrauen hierhergezwungen hat. Sie müssen auf dem Zauberberg leben, nie dürfen sie das Schloß verlassen, nie mit einem Mann sprechen. Wer sie erlöst, dem gehört Schloß und Land, Klinschor überläßt es dem Befreier. Aber noch keiner vermochte den Zauber zu brechen, jeder verlor das Leben, der das Zauberbett sah. Ich weiß nicht, wie es dort zugeht, ich weiß nur, daß es das Leben kostet, sich dem Wunderbett zu nähern.“ „So beklage ich die edlen Frauen, die dort gefangen sind. Und ich will sie befreien.“ Bene jammerte, der Fährmann sah Gawan düster an: „Herr, laßt ab davon! Ihr seid so jung! Hätte Euch Orgeluse nicht hierhin gebracht, dann hättet Ihr nie etwas von Terremarveile gehört – vergeßt es, reitet davon!“ Aber Gawan brannte auf das Abenteuer. „Vielleicht gewinne ich auf diese Weise Orgeluse“, dachte er bei sich. Als der Fährmann erkannte, daß sich Gawan nicht abschrecken ließ, beschloß er, ihm wenigstens zu helfen. „Nehmt hier diesen Schild! Er ist zwar alt und ungefüge, aber der stärkste, den Ihr je in der Hand gehalten habt. Laßt ihn nie von Euch, und legt Euer Schwert nicht aus der Hand, was auch immer kommen mag! Reitet bis zum Tor, da hat ein Krämer seine Waren zum Verkauf aufgestellt. Bei ihm könnt Ihr Euer Pferd lassen. Kauft ihm irgend etwas ab und laßt Euer Pferd als Pfand für die Bezahlung – dann wird er es gut hüten!“ „Aber warum soll ich denn nicht in die Burg einreiten?“ „Die Frauen sollen Euch nicht erblicken, Ihr müßt heimlich kommen. Ihr werdet auch keinen Menschen dort oben sehen.
Und vergeßt nicht: Schild und Schwert dürft Ihr nie ablegen! Wenn Ihr meint, daß die Gefahr überstanden ist, beginnt sie erst wirklich!“ Gawan bat um seinen Harnisch, und die weinende Bene half ihm, sich zu wappnen.
In der Zauberburg
Gawan ritt zur Burg und traf unterwegs keinen Menschen außer dem Krämer, der vor dem Tor seine Waren unter einem Zeltdach ausgebreitet hatte. Solche prächtigen Dinge, wie hier zum Verkauf angeboten wurden, hatte Gawan noch nie beisammen gesehen: Kostbarer Schmuck, goldene und silberne Becher und Schalen, Gewänder aus bestickten Seidenstoffen, die aus fernen Ländern kamen. Verwundert fragte Gawan: „Ihr sitzt hier ganz allein und bietet so prachtvolle Dinge an? Wer kauft sie Euch ab? Laßt mich eine Gürtelschließe sehen, die nicht allzu kostbar ist, ich möchte sie wohl kaufen.“ Der Krämer betrachtete den Ritter mit großer Aufmerksamkeit. „Herr, wenn Ihr in die Burg reiten wollt, um ein Abenteuer zu bestehen, kann es wohl sein, daß Ihr nicht zurückkommt. Dann ist Euer Pferd mein. Wenn Ihr aber Glück habt und das Schloß erlöst, gehört Euch alles – auch meine Waren. Ohne die geringste Bezahlung könnt Ihr dann alles mit Euch führen. Laßt Euer Pferd also bei mir.“ Gawan ließ das Pferd beim Krämer und schleppte seinen schweren Schild zu Fuß durch die Burgtore. Mächtige Mauern schützten das Schloß, Türme blickten weit ins Land, ein riesiger Rasenplatz dehnte sich zwischen den einzelnen Gebäuden aus, und darüber funkelte das Dach des größten Hauses in allen Farben des Pfauengefieders. Gawan betrat den weiten Saal, in dem er
ebenfalls keinen Menschen erblickte. Aber überall lagen noch die weichen Kissen, auf denen die vierhundert Frauen gesessen hatten, bevor sie bei seinem Nahen verschwunden waren. Er betrachtete die hochgewölbte Decke, die gemeißelten Säulen, die breiten Fensternischen. „Aber alle Schönheit und Pracht kann nicht über Gefangenschaft trösten“, dachte er. Eine Tür stand offen, Gawan ging hindurch und kam in ein Gemach, in dem nichts als ein Bett stand. Aber was für ein Bett! Es ruhte auf vier Rädern, die aus Rubinen zusammengesetzt waren. Und der Fußboden des Raums war aus Edelsteinen gefügt, so schimmernd glatt, daß sich Gawan mit Mühe auf den Beinen hielt.
Er ging auf das Bett zu – da rollte es von ihm fort; er hinterher – das Bett rollte weiter, und je schneller er ihm nachlief, um so rascher sauste es über den blanken Boden. Schließlich machte Gawan einen gewaltigen Satz und sprang mit Schild und Schwert auf das Wunderbett. Nun aber geriet es erst recht in Fahrt! Es brauste durchs Zimmer, stieß mit Gewalt gegen die Wände, drehte sich wie in Kreisel rasend herum – und Gawan saß drauf und klammerte sich fest. Ihm brach der Schweiß aus: So eine tolle Fahrt hatte er noch nie gemacht! Dabei krachte, dröhnte und hallte es wie der schlimmste Donner, so daß ihm fast Hören und Sehen verging. Schließlich dachte er: „Nun mach, was du willst! Ein rechtschaffener Mann läßt sich durch ein Bett nicht aus der Ruhe bringen!“ Es gelang ihm, sich auszustrecken, den schweren Schild zog er wie eine Decke über sich. Sofort stand das Bett, das Getöse war mit einem Schlage vorbei, tiefe Stille breitete sich aus. Gawan wollte aufatmen, da prasselten plötzlich fünfhundert große harte Steine auf ihn herunter, dröhnten auf den Schild auf und schlugen ihm blaue Flecke am ganzen Körper. Danach sausten fünfhundert scharfe Pfeile auf ihn herab, und jeder traf, jeder drang durch den Schild und klirrte an den Ringen seiner Rüstung. Doch der Schild schütze ihn so, daß kein Pfeil ihn ernstlich verwundete. Wieder trat Stille ein, und Gawan glaubte schon, das Ärgste überwunden zu haben. „Soll ich hier nur etwas erleiden und nicht kämpfen? Nun, mir ist es recht.“ Da öffnete sich die Tür, ein riesiger Kerl mit einer gewaltigen Keule tapste in den Raum, stellte sich vor Gawan und hob seine Waffe. Flink setzte sich der Ritter auf und zog das Schwert. Aber der Kerl brummte nur dumpf: „Mit mir hast du nicht zu kämpfen. Ich schicke dir etwas anderes, das dir den Garaus macht!“ Dann verschwand er wieder durch die Tür. Plötzlich hörte Gawan lautes Fauchen. „Was ist das nun wieder? Wahrhaftig, ich muß zugeben, hier in der Zauberburg
gibt es sonderbare Dinge! Wie gut, daß ich den festen Schild vom Fährmann bekam!“ Durch die Tür, aus der der große Kerl gekommen war, raste jetzt ein Löwe – riesig wie ein Pferd. Gawan sprang auf und hielt dem Tier den Schild entgegen. Der Löwe schlug zu – seine Tatze fuhr durch den Schild hindurch, mit solcher Kraft hatte sie zugestoßen! Gawan hieb die Tatze ab – auf drei Beinen sprang die blutende Bestie auf ihn los. Hin und her ging der wilde Kampf, Blut ergoß sich über den schönen Boden, kaum sah Gawan, wohin er traf. Da richtete sich der Löwe hoch auf und wollte sich auf ihn stürzen – und in demselben Augenblick stieß ihm Gawan das Schwert durch die Brust, so daß das Tier tot zu Boden sank. Aber auch Gawans Kraft war erschöpft, er fiel auf den toten Löwen und blieb dort liegen. So lag er eine Weile ohne Bewußtsein. Da öffnete sich leise die Tür, ein blonder Mädchenkopf schaute herein, ein zweiter erschien, und vorsichtig, zögernd, schaudernd vor all dem Blut traten zwei junge Mädchen ins Zimmer: Sie waren von den Frauen geschickt, sich nach dem Ritter umzusehen, denn wenn sich die Gefangenen auch nicht blicken lassen durften, so wußten sie doch, daß ein Held zu ihrer Befreiung mit dem Zauberbett kämpfte, und voller Angst und Hoffnung zugleich hatten sie auf das Ende des Getöses gewartet. Die beiden Mädchen näherten sich vorsichtig dem hingestreckten Mann, banden ihm den Helm ab und erkannten, daß er noch lebte. Sie holten klares Wasser und gossen es ihm vorsichtig zwischen die Zähne – da schlug er die Augen auf, sah die Mädchen an und versuchte zu lächeln: „Es ist mir nicht recht, daß ihr mich hier so hingestreckt findet! Mir scheint, das ziemt sich kaum für einen Fremden!“ Aber sie lachten: „Herr, Ihr habt heute den größten Preis errungen, den eines Ritters Tapferkeit gewinnen konnte! Hoffentlich sind Eure Wunden
nicht so schlimm, daß wir Euch nicht heilen könnten!“ Gawan sagte: „Muß ich noch weiterkämpfen? Dann bindet mir den Helm wieder zu!“ „Nein, Herr, den Kampf habt Ihr bestanden. Es sind vier Königinnen hier im Schloß, die haben uns hergeschickt. Wir wollen ihnen berichten, daß Ihr lebt – sie werden Euch pflegen und gesundmachen!“ Als die älteste Königin vernahm, daß der Ritter noch lebte, hob sie glücklich die Hände zum Himmel: „Jetzt hat unsere Gefangenschaft ein Ende! Aber sagt mir, Mädchen, daß seine Wunden nicht tödlich sind! Denn wenn er stirbt, werden wir alle erschlagen, dann ist unsere Erlösung vertan.“ Die Mädchen beruhigten sie, und vier andere erhielten den Auftrag, dem Verwundeten sorgfältig den Harnisch abzunehmen. „Haltet aber eine Decke dabei vor ihm, damit er sich nicht schämen muß!“ Währenddessen sorgte die alte Königin für ein weiches Bett, ließ Salben und heilkräftige Wasser bringen und machte alles bereit, Gawan zu helfen. Sein Helm war zerbeult von den Steinwürfen, mehr als ein Pfeil war zwischen die Panzerringe gedrungen – Gawan sah blau und grün und rot aus, wohin man nur blickte. Trotzdem unterließ er es nicht, die Königin höflich zu grüßen. „Ihr müßt jetzt schlafen“, antwortete sie, steckte ihm eine Schlafwurzel in den Mund und bemerkte zufrieden, daß Gawan in einen tiefen, gesunden Schlaf verfiel. Erst am Abend nahm sie ihm die Wurzel aus dem Mund, da erwachte er, sah viele schöne Damen um sich stehen und dachte sofort mit großer Sehnsucht an Orgeluse, die nicht dabei war. Und das trübte seine Freude über die Dankbarkeit der befreiten Frauen. In dieser Nacht schlief er unruhig – nur Orgeluse war in seinen Träumen, und die Wunden schmerzten heftig. „Hier schläft es sich nicht gut!“ seufzte er. „Das eine
Bett hat mich fast umgebracht, und auf diesem kann ich keinen Schlaf finden, weil Orgeluse fern ist!“ Er erhob sich so früh, als alles im Schloß noch schlief, und ging auf Entdeckungsfahrt durch die ganze Burg. Man hatte ihm leichte, kostbare Kleider hingelegt, und während er durch Gänge und Säle der Burg schritt, fühlte er die alten Kräfte wiederkehren. So kam er in einen alten Turm, der alles überragte. Oben fand er ein Gemach, von dem aus er weit ins Land blicken konnte. Die Fenster waren aus hellstem, klarstem Edelstein, und in der Mitte des Raumes stand eine einzige breite Säule, ebenfalls aus Edelsteinen zusammengesetzt. Er betrachtete sie – da entdeckte er etwas sehr Wunderbares: In der Säule sah er alles, was draußen im Lande vor sich ging. Es war, als ob sich alle Länder auf viele Meilen weit um die Säule drehten, und ihr Bild erschien darin ganz klar, ganz fein. Er blickte aus dem Fenster – da sah er nur immer ein Stückchen von der Welt – er wandte sich zur Säule um, da drehten sich Äcker und Wälder, der Strom und die Häuser, die Menschen und die Tiere langsam an seinen Augen vorbei, und er nahm vieles wahr, was er sonst nicht hätte sehen können: Ein Falke schlug nach einer Taube, Fohlen liefen hinter ihrer Mutter her, eine weiße Katze angelte sich einen Fisch aus dem Teich, er sah die Mädchen Wäsche am Strom waschen und einen Jungen, der sich Äpfel aus einem Baum stahl. Gawan wurde nicht müde, in die Säule zu blicken: Hier gab es keine Langeweile, hier konnte man bequem sitzen und dabei alles erleben, was im Lande vor sich ging. Diese Säule hatte der Zauberer Klinschor zu seinem Vergnügen schaffen lassen – aber als sie fertiggestellt war, blickte er nur einmal hinein, seufzte, fand es langweilig und verschwand. Nie wieder war er in der Burg gewesen, nur immer neue Frauen hatte seine Zauberkunst hierher gezwungen.
Während Gawan so dasaß und sich an dem Wunder freute, traten vier herrlich gekleidete Frauen zu ihm ins Gemach: „Euch, Herr Ritter, ist alles zu eigen! Ihr habt das Schloß gewonnen und uns erlöst. Heil sei dem Tag, der Euch hierher brachte!“ Es waren vier Königinnen, die ihn begrüßten – die alte Arnive, ihre Tochter und ihre Enkelinnen. Gawan bewunderte ihre Schönheit und die Kostbarkeit ihrer Gewänder – aber sein Herz sehnte sich nach Orgeluse. „Ihr staunt über die Säule?“ fragte die alte Königin. „Sie leuchtet auch in der Nacht und macht offenbar, was an Heimlichkeiten im Dunkeln vor sich geht. In den Jahren unserer Gefangenschaft haben wir allzuoft hineingeschaut, wir sind es müde geworden, der Welt nur zuzusehen. Aber Euch mag es noch Spaß bereiten.“ Gawan blickte wieder in die Säule – da sah er, wie sich unten am Fluß ein Ritter und eine Dame der Fährstelle näherten – Orgeluse! Sie war es, die einen gewappneten Fremden auf den Kampfplatz am Strom geleitete. Der Anblick fuhr ihm als scharfer Schmerz durch alle Glieder, er sprang wild auf. „Was tut ein fremder Ritter dort unten? Bin ich Herr der Burg, dann hat er dort nichts zu schaffen. Er scheint einen Kampf zu suchen – gut, ich werde ihn vertreiben.“ Entsetzt blickten ihn die Frauen an: „Herr, Ihr seid von Euren Wunden noch lange nicht genesen! Ihr könnt nicht kämpfen. Es ist die Herzogin Orgeluse, die dort wieder einen Ritter zum Kampf heranführt, und sie sucht sich nur starke Streiter aus. Laßt den Gedanken fahren – Ihr dürft nicht kämpfen!“ Aber Gawan wandte ein: „Wenn ich wirklich Herr der Burg bin, muß ich es beweisen. Laßt mir meinen Harnisch bringen.“ Und soviel auch die Damen jammerten und die Hände ringen mochten, Gawan wappnete sich, um Orgeluse zu beweisen, daß er jederzeit bereit war, sich für sie zu schlagen. Aber er
schleppte sich mühsam davon, die Wunden brannten, Helm und Harnisch drückten ihn wie nie zuvor. Der Krämer, bei dem er sein Pferd holte, wollte ihn mit lautem Zuruf beglückwünschen, aber Gawan machte ein herrisches Zeichen – laßt mich in Ruhe! Er bestieg sein Pferd, ritt hinunter zum Strom und trat ins Haus des Fährmanns. Mit Freudentränen wurde er dort empfangen – Bene war überglücklich, daß er das Abenteuer im Zauberschloß überstanden hatte. Aber Gawan hörte nicht auf ihre Worte, er bat nur den Fährmann um einen neuen Speer, den er ihm gern gab. Der Speer war so ungefüge und groß wie der Schild, Gawan hatte sonst zierlichere Waffen geführt! Der Fährmann setzte ihn über, drüben erwartete ihn der fremde Ritter – Frau Orgeluse grüßte Gawan spöttisch. Die beiden Männer ritten aufeinander zu, stachen mit den Speeren, und Gawans Gegner fiel beim ersten Stoß vom Pferd! Dieser Fremde nun hatte geschworen, daß er immer nur mit dem Speer kämpfen wollte – wem es gelang, ihn vom Pferd zu stechen, den wollte er als seinen Besieger anerkennen, ohne sich auf einen Schwerterkampf einzulassen. So gelobte er Frieden. Der Fährmann forderte sein Roß und bekam es. „Nun seid Ihr wohl stolz“, spottete Orgeluse, „weil Ihr wieder einmal gesiegt habt? Und das unter den Augen so vieler schöner Damen. Reitet nur rasch wieder hinauf aufs Schloß und laßt Euch bewundern! Denn wenn Ihr meinen Wünschen folgen wolltet, würdet Ihr in einen Kampf geraten, gegen den alles andere ein Kinderspiel war. Laßt also die Finger davon!“ Aber Gawan versicherte ihr, daß er immer noch um ihre Liebe dienen wolle. „Zeigt mir, wo mein nächster Gegner hält!“ verlangte er. „Nun denn, Ihr seid so halsstarrig, daß Ihr endlich einmal eine Lehre verdient. Also kommt mit mir“, sprach die schöne Frau.
Er schickte den Fährmann mit seinem besiegten Gegner auf die Burg und ließ den Damen ausrichten, daß er auf ein neues Abenteuer ziehen müsse. Vierhundert Frauen weinten, als er davonritt.
Gawan kämpft mit Gramoflanz
Jetzt ritt Orgeluse voran, und Gawan freute sich daran, wie stolz sie zu Pferde saß. Sie führte ihn in Klinschors Zauberwald, in dem seltsame, riesenhafte Bäume mit ihren dichten Kronen den Himmel verbargen. Schön war der Wald, vom starken Duft leuchtender Blumen erfüllt, vom Gesang nie gehörter Vögel durchzogen. Vor einer düsteren Schlucht machten sie halt. Ein Wasserfall stürzte vom Felsen in die Dunkelheit und ergoß sich unten brausend und strudelnd in die Enge. Aus dem Wald jenseits des Flusses glänzte ein einzelner Baum mit silbergrünen Blättern hervor. „Von diesem Baum sollt Ihr mir einen Zweig zu einem Kranz pflücken“, forderte Orgeluse. „Der Baum wird von einem Manne bewacht, der mir großen Schmerz zugefügt hat. Alle Freude hat er mir geraubt. Bringt mir den Zweig, so will ich Euch mit meiner Liebe belohnen.“ Sie spottete nicht mehr, in ihren Augen standen Tränen. Und sie weinte noch heftiger, als sie sah, daß Gawans Pferd der Sprung über die Schlucht nicht glückte: Es stürzte mit dem Mann in den Strudel, der schwere Harnisch zog Gawan in die Tiefe, und er wäre verloren gewesen, wenn sich nicht im letzten Augenblick ein Ast gefunden hätte, an dem er sich an Land zog. Dann rannte er flußabwärts, wo sein treues Roß mit den Wirbeln kämpfte, langte mit dem Speer in den Zügel und
konnte das Tier schließlich an Land ziehen. Das Pferd schüttelte sich, daß die Tropfen sprangen – Herrn Gawan schauderte es in der nassen Kleidung. Er stieg wieder auf, ritt an den leuchtenden Baum heran und brach einen Zweig. Da tauchte ein junger Ritter ohne Rüstung auf. Sein langer grüner Samtmantel, der mit Hermelin verziert war, schleifte auf der Erde, vom Hut wehten Pfauenfedern: Soviel Pracht zeigte der Ritter hier in aller Einsamkeit. „Was fällt Euch ein, von meinem Baum einen Zweig zu brechen?“ redete er Gawan an. „Der Baum gehört mir, und niemandem habe ich gestattet, auch nur ein Blatt zu nehmen. Gebt ihn wieder her! Ich würde mit Euch darum kämpfen, aber ich habe geschworen, niemals gegen einen Mann allein zu streiten – nur wenn ich zwei Gegner finde, beginne ich den Kampf!“ „Ihr seid sehr übermütig, Herr“, erwiderte Gawan. „Meint Ihr, daß Ihr Euch für den stärksten Ritter der Christenheit halten dürft? Beweist Eure Tapferkeit, kämpft mit mir! Euer Hochmut ist unerträglich. Holt Eure Rüstung!“ „Ich sehe an Eurem zerhauenen Schwert, daß Ihr zu kämpfen versteht, aber ich will meinen Schwur nicht brechen. Seid Ihr es, der die Zauberburg errungen hat? Das wäre ein Abenteuer für mich gewesen! Aber ich muß meinen Baum hüten, und ich will Euch sagen, wie es dazu gekommen ist: Herzogin Orgeluse verfolgt mich mit ihrem Haß. Ich habe ihren Mann erschlagen, sie entführt und ihr meine Hand und meine Krone geboten. Aber sie schlug alles aus – sie trauert nur um ihren erschlagenen Mann. Nun herrscht Fehde zwischen ihr und mir. Sie schickt mir die Ritter, deren Tapferkeit sie vorher schon erprobt hat, zum Zweikampf, und sie sehnt den Tag herbei, an dem mich einer überwindet und tötet. Aber ich will nicht mehr ihretwegen kämpfen – ich liebe längst eine andere Frau. Es ist Itonje, eine Königstochter, die auf der Zauberburg
gefangengehalten wird. Nie habe ich ein Wort mit ihr sprechen können, immer nur haben sich unsere Augen gegrüßt, wenn ich vor den Fenstern der Zauberburg vorüberritt. Hier diesen Sperber hat sie mir geschickt als Zeichen, daß sie mich liebt. Ihr seid jetzt Herr von Schastelmarveile – helft mir, Itonje zu gewinnen. Von Orgeluse begehre ich nichts mehr. Nehmt diesen Ring, bringt ihn Itonje.“ „Das will ich tun. Aber sagt mir Euren Namen – Ihr könnt ihn mir als besondere Gunst nennen, denn ich habe Euch ja nicht im Kampf dazu gezwungen.“ „Gramoflanz heiße ich. Mein Vater wurde von König Lot von Norwegen getötet. Deshalb gibt es einen Mann, mit dem ich kämpfen werde, wenn ich ihn allein treffe. Das ist der Sohn von König Lot, Gawan. Er ist der einzige Ritter, der sich mir allein stellen soll. Und seine Tapferkeit wird so gerühmt, daß ein Kampf mit ihm meine Ehre nur vergrößert.“ „Itonje ist Gawans Schwester – wußtet Ihr das nicht? Wie könnt Ihr mit einem Mann kämpfen wollen, der Euch die Schwester zur Frau geben soll? Herr, ich bin Gawan. Mein Vater lebt nicht mehr, an mir müßt Ihr den Tod des Euren rächen. Ich will mit Euch kämpfen, um die Ehre meines Vaters zu retten.“ „So seid Ihr Gawan? Das ist mir lieb – denn ich hasse Euch und brenne auf den Kampf. Aber es ist mir auch leid – denn Ihr gefallt mir, und Itonje liebe ich. Wir wollen einen ehrlichen Zweikampf miteinander ausfechten, nicht hier, sondern auf der Ebene von Joflanze. Ich werde fünfzehnhundert schöne Frauen mitbringen, die unser Turnier sehen sollen. Ihr habt ja Damen genug auf Schastelmarveile – bringt sie ebenfalls mit. Es wäre mir lieb, wenn auch Euer Oheim Artus mit seinem Gefolge käme, damit wir die Sache in aller Herrlichkeit ausfechten können. Dann hole ich mir auch die Buße für den Zweig, den Ihr jetzt mitnehmen könnt. Seid in sechzehn Tagen in
Joflanze.“ Gawan war mit allem einverstanden, und sie nahmen freundlichen Abschied voneinander. Als Gawan diesmal sein Roß zum Sprung über die Schlucht spornte, tat es einen so gewaltigen Satz, daß es sicher am anderen Ufer aufsetzte. Gawan ritt auf die stolze Orgeluse zu, sie kam ihm entgegengeeilt warf sich ihm zu Füßen und bat unter Tränen: „Herr verzeiht mir, daß ich Euch in solche Gefahr geschickt habe! Ach, ich habe viel Angst um Euch ausgestanden! Und ich bekenne, daß Ihr der tapferste Ritter seid.“ „Nun sagt Ihr, was ich gern höre, Herrin. So belohnt Ihr meine Treue endlich doch, und liebe Worte aus Eurem Munde stehen Eurer Schönheit besser an!“ „Verzeiht mir auch meinen Spott, Herr. Ich zürnte allen Männern, seit mir Gramoflanz meinen lieben Gemahl erschlagen hat. Ach, mein Herr war der beste und treueste aller Männer! Edel war er, hochgerühmt, und an seiner Seite habe ich nicht einen einzigen kummervollen Tag erlebt. Meine Schönheit hat mir nur Leid gebracht, denn ihretwegen erschlug Gramoflanz meinen Liebsten. Das soll er mir büßen, und jedes Mittel ist mir dazu recht. Jeden Ritter habe ich geprüft, seine Tapferkeit, seine Standhaftigkeit. Mein Spott sollte mir nur zeigen, ob Ihr ein selbstsicherer Mann wärt, der sich von seinem Ziel nicht abbringen läßt, auch wenn ihm Hohn und Nichtachtung begegnen. Noch lebt Gramoflanz – aber ich bin gewiß, daß Ihr mich an ihm rächen werdet!“ „Das will ich, Herrin, um Eurer Liebe willen wage ich den Kampf mit ihm. Doch glaubt es mir: Er bereut, was er Euch antat, und von ihm habt Ihr nichts mehr zu fürchten! In sechzehn Tagen werde ich auf der Ebene von Joflanze mit ihm kämpfen! Aber, Herrin, jetzt seid freundlich zu mir, schenkt mir Eure zärtliche Gunst!“ Sie lachte schon wieder, aber liebevoll und ohne Spott: „In Eure eisernen Arme soll ich mich
schmiegen? Nein, ich werde mit Euch zur Zauberburg reiten, das scheint mir besser!“ Willig ließ sie sich von ihm aufs Pferd heben und duldete es, daß er sie dabei an sich zog. Sie ritten langsam davon. Unterwegs spürte Gawan, daß Orgeluse weinte. „Herrin, was betrübt Euch so?“ „Ich weine um die Jahre, die ich traurig und bitter verbracht habe, und um all die Ritter, die meinetwegen Wunden empfingen. Es ist schlimm, vom Haß besessen zu sein. Glaubt mir, ich war früher liebenswert und freundlich, wie eine Frau zu sein hat. Aber zuviel Schmerz ist mir durch Gramoflanz angetan worden! Um meinetwillen leidet der Gralskönig Anfortas an einer schrecklichen Krankheit; auch ihn betörte meine Schönheit, auch ihn hetzte ich zum Kampf gegen Gramoflanz. Aber der Gralskönig darf nicht zu Ehren einer Frau streiten. Gott strafte ihn mit der Krankheit, und es ist meine Schuld, daß Munsalvaesche trauert. Anfortas schenkte mir den Schatz, den der Krämer vorm Tor von Schastelmarveile feilhält. Ich gab ihn Klinschor, damit er nicht auch mich auf die Zauberburg zwänge. Er gehört jetzt Euch wie alles, was Klinschor besaß und dem vermacht hat, der die Zauberburg befreit. Ach, jeder Ritter war bereit, für mich zu kämpfen, nur einer nicht, ein Ritter in roter Rüstung. Auf meine Bitten antwortete er nur: ,Herrin, ich habe eine Frau, die schöner ist als Ihr, Kondwiramur von Belrapeire ist sie genannt. Ihr gehört mein Herz. Für die Liebe einer anderen Frau streite ich nicht, und der Gral schafft mir Kummer genug.“ „Das war Parzival“, sprach Gawan vor sich hin. Orgeluse berichtete ihm getreulich alles, was sie in diesen haßerfüllten Jahren getrieben hatte, und allmählich schmolz die Rachelust, die ihr Gemüt gefangengehalten hatte. Gawan hoffte auf ihre Hand und ihr Herz, aber er wußte es zu ehren, daß sie auch in dieser Stunde mit Treue an ihren getöteten Gemahl dachte. Als
sie Schastelmarveile wieder vor sich sahen, bat Gawan: „Herrin, Ihr wißt meinen Namen. Aber verratet ihn nicht in der Burg, darum bitte ich Euch herzlich. Ich möchte noch eine Weile unerkannt bleiben.“ Sie versprach es gern. Von der Burg herunter kamen Klinschors Ritter, um ihn als ihren Herrn zu begrüßen, denn Klinschor hatte versprochen, dem Ritter, der den Kampf im Zauberbett bestehen würde, sein Land zu überlassen. Sie ritten mit wehenden Bannern auf Gawan zu und begrüßten ihn mit frohem Geschrei. Und die Frauen in den Fenstern der Burg lachten und winkten ihrem Befreier zu. Am Strom lag die Fähre bereit, der Fährmann half den beiden vom Pferd, die schöne junge Bene nahm Gawan den Harnisch ab und legte ihm ihren Hermelinmantel um, unter dem er schon einmal geschlafen hatte. Das Fährboot war prächtig hergerichtet: weiche Teppiche bedeckten den Boden, Kissen luden zum Sitzen ein. Das war eine andere Überfahrt als am Tage zuvor, als Frau Orgeluse ihren Ritter stehenließ und allein über den Strom fuhr! Diesmal lag das Boot in der Mitte des Wassers still. Bene bot Orgeluse und Gawan frisches Brot, süßen Wein und zwei gebratene Lerchen, die des Fährmanns Sperber erjagt hatte. Von den Fenstern droben sahen die Frauen der Mahlzeit zu. Orgeluse fragte nach den beiden Rittern, die Gawan hier auf dem Feld vor dem Fluß besiegt hatte und hörte, daß einer als Gefangener im Hause des Fährmanns, der andere auf der Zauberburg untergebracht worden war. Da bat die Herzogin Orgeluse, sie freizugeben. „Gern, Herrin“, antwortete der Fährmann. „Herrn Lischois könnt Ihr haben – aber welches Lösegeld gebt Ihr mir? Ich hätte gern die wunderbare Harfe dafür, die der Krämer am Tor unter seinen Waren hütet.“
„Alles, was der Krämer hat, gehört jetzt diesem Ritter hier. Ihn bitte ich, Euch die Harfe zu geben, damit Herr Lischois frei wird.“ „Noch vor Abend sollen beide Ritter, die ich besiegt habe, aus ihrer Gefangenschaft entlassen werden“, versprach Gawan. Wie glücklich empfingen die Frauen aus Schastelmarveile ihren Befreier, der heil aus seinem neuen Abenteuer zurückkehrte! Frau Orgeluse freilich wurde weniger herzlich willkommen geheißen, denn sie galt für allzu stolz und grausam, hatte sie doch immer wieder neue Ritter unter den Augen der gefangenen Frauen miteinander kämpfen lassen. Sie war die einzige schöne Frau weit und breit gewesen, die Klinschor nicht auf die Zauberburg gezwungen hatte – und es dauerte manchen Tag, bis die anderen Frauen den Groll auf Orgeluse ablegten und ihr ehrliche Freundschaft boten. Herr Gawan verlangte einen Knappen, der eine Botschaft in ein fernes Land bringen sollte. Und da er schreiben konnte – für einen Ritter eine seltene Kunst – verfaßte er einen Brief an König Artus, verschwieg, daß er Herr von Schastelmarveile war, bat aber, daß Artus mit seinem ganzen Gefolge auf die Ebene von Joflanze käme. „Ich habe dort einen Zweikampf zu bestehen. Wenn Ihr mir helfen wollt, dann erweist mir die Ehre, mit allen Frauen und Rittern des Artushofs nach Joflanze zu kommen, damit ich hinter der Anhängerschaft meines Gegners nicht zurückzustehen brauche.“ Mehr schrieb er nicht – Herr Gawan liebte die Überraschungen. Als der Bote davonritt, hätte die alte Königin ihn zu gern nach seinem Auftrag ausgefragt, aber der Knappe hielt den Mund, und die Königin ärgerte sich, daß sie nicht einmal wußte, wer ihr Befreier war. Sie bat Gawan, sich auf sein Lager zu legen und seine Wunden, die er vom Zauberbett davongetragen hatte, pflegen zu lassen. Aber Gawan lachte fröhlich: „Erst haben wir Besseres zu tun!“ Feierlich gab er
Lischois und dem anderen von ihm besiegten Ritter die Freiheit zurück und bat sie, seine Gäste auf der Burg zu sein. Dann zog er die schöne Itonje zu einem vertraulichen Gespräch beiseite. Er neckte sie: „So jung seid Ihr noch und habt doch schon einen Ritter, der um Eure Liebe wirbt!“ Sie errötete und sprach unmutig: „Wie könnte das sein! Noch nie habe ich hier mit einem Mann auch nur ein einziges Wort gewechselt!“ „Und doch kenne ich einen mächtigen König, der einen Sperber auf der Hand trägt und mir gestanden hat, ihn von Euch erhalten zu haben. Er ist traurig, wenn er Eure Liebe nicht gewinnt.“ Sie errötete noch tiefer. „Ich habe ihn nur von ferne gesehen, nie mit ihm gesprochen. Aber es ist wahr, daß er mir besser als jeder andere gefällt, den ich je erblickt habe. Um meinetwillen soll er keinen Kummer leiden! Es ist Orgeluse, die ihm nach dem Leben trachtet und ihm keine Ruhe läßt. Ich hasse Orgeluse! Immer neue Ritter schickt sie aus, die Gramoflanz töten sollen! Ach, und ich wünsche nichts mehr, als ihn sprechen zu dürfen und ihm zu sagen, daß er mein Herz besitzt.“ Gawan zog den Ring hervor, den Gramoflanz ihm gegeben hatte. „Hier, Itonje, das schickt Euch der Mann, der Euch liebt. Seid getrost – ich verspreche Euch Hilfe und will nach besten Kräften dafür sorgen, daß Ihr mit dem König vereint werdet.“ Sie dankte ihm mit heißen Wangen. Gawan hatte ihr aber mit keinem Wort verraten, daß er ihr Bruder war. Auch das wollte er später erst offenbaren. Der Abend wurde mit einem großen Fest begangen, bei dem die Frauen zum erstenmal nach den Jahren der strengen Gefangenschaft mit den Rittern zusammentrafen, die sie sonst nur von fern gesehen hatten. Manch zartes Band, das sich bisher nur in Blicken und verstohlenen Winken geknüpft hatte, wurde nun fester geschlungen, und als die Fiedelleute
aufspielten, gab es zum erstenmal fröhlichen Tanz in der Zauberburg. Da schritten die Ritter, an jeder Hand eine Dame, im Reigen, und als Gawan den Nachttrunk auszuschenken befahl, schien es allen viel zu früh. Gawan ließ sich nun endlich seine Wunden mit Salben und Heilwassern behandeln, die Orgeluse mit zarter Hand auftrug, und legte sich dann zur Ruhe. Diesmal schlief er fest und traumlos, kein Zauber und keine Liebesnot bedrängten ihn.
Auf der Ebene von Joflanze
Gawans Bote ritt Tag und Nacht, bis er auf seinem erschöpften Pferd bei König Artus anlangte. Er ließ sich zu Königin Ginevra führen, wie Gawan es ihm geraten hatte, und übergab ihr zuerst den Brief. Sie las ihn: „Du bringst willkommene Nachricht! Seit viereinhalb Jahren habe ich nichts von Gawan gehört, als was fremde Ritter zuweilen berichteten. Sag mir, geht es deinem Herrn gut? Und wo ist er?“ „Ich darf es Euch nicht sagen, Herrin. Aber er ist gesund, wie Ihr selbst bald sehen werdet.“ „Wenn König Artus seine Ritter um sich versammelt, tritt vor ihn und übergib ihm den Brief. Alle sollen die Botschaft hören!“ So geschah es, und als die Ritter vernahmen, daß Gawan ihren Beistand bei einem großen Zweikampf wünschte, waren sie mit tausend Freuden bereit, König Artus nach Joflanze zu folgen. Nur Keie brummte: „Was macht man denn wieder für ein Wesen von einem Mann, der wie ein Eichhörnchen durch die Welt hüpft! Und keiner weiß, wo er jetzt steckt! Macht nur rasch, daß Ihr ihn findet, sonst ist er längst wieder über alle Berge!“
Der Knappe wurde mit der Nachricht zurückgeschickt, daß König Artus mit allen Damen und Herren der Tafelrunde, mit dem großen Gefolge und in voller Herrlichkeit seines Königtums in Joflanze erscheinen werde. Als der Bote zurückkam, fing ihn wieder die alte Königin ab und fragte ihn, was er getrieben habe, aber er bat sie höflich, darüber Stillschweigen bewahren zu dürfen und meinte nur: „Herrin, warum fragt Ihr den Ritter nicht selbst?“ Aber das verbot ihr der Stolz. Gawan verlebte fröhliche Tage auf der Burg, die nun von allem Zauber befreit war. Von der alten Königin erfuhr er die Geschichte der Frauen, die Klinschor durch seine Zauberei hierher gebracht hatte. „Ach, auch ich, so alt ich bin, mußte ihm hierher folgen! Ich trug die Krone eines mächtigen Landes, und auch meine Tochter ist eine Königin. Wir wissen nicht, ob unsere Lieben noch am Leben sind, noch wo sie jetzt weilen. Wir sind frei, aber wohin sollen wir uns wenden?“ Geheimnisvoll sprach Gawan: „Herrin, glaubt mir, Euch steht mehr Freude bevor, als Ihr ahnt. Geduldet Euch noch ein wenig – um so herrlicher wird der Tag sein, von dem Ihr Euer Glück erwarten dürft!“ Sie sah ihn zweifelnd an – wußte der neue Herr von Schastelmarveile mehr als sie alle? Nach ein paar Tagen sah Gawan eine große Gesellschaft die Straße zum Strom hinziehen. An den bunten Bannern erkannte er Artus’ Heer, und Tränen der Freude traten ihm in die Augen. Noch immer aber wollte er sein Geheimnis bewahren und befahl darum, daß der Fährmann niemanden von den Fremden über das Wasser setzen sollte. Vom Fenster aus sah er zu, wie Artus’ Leute die Zelte aufschlugen, er erkannte seine Gefährten aus der Tafelrunde, er sah die Königin so lieblich und stolz – und ihm bangte nicht vor dem Zweikampf mit Gramoflanz: „Wenn meine Freunde und die vielen edlen
Damen, die mir Gutes wünschen, in Joflanze zuschauen, wird mir der Kampf gelingen!“ Artus’ Heer hatte schwere Kämpfe mit den Leuten der Herzogin Orgeluse ausgefochten, denn die Männer kannten einander nicht, und Orgeluses Ritter glaubten, ihr Land gegen Eindringlinge verteidigen zu müssen. Das war Gawans Schuld – warum mußte er auch so geheimnisvoll tun? Am anderen Morgen zog das Artusheer weiter nach Joflanze, und Gawan sammelte seine Ritter, ließ die vierhundert Damen die Pferde besteigen und zog mit den Seinen langsam hinterher. Neben jedem Ritter ritt eine der schönen Frauen, neben Gawan Itonje, die er von Tag zu Tag lieber gewann, wenn er ihr auch immer noch nicht sagte, daß er ihr Bruder sei. Gegen Abend stieß Gawan mit seinem großen Gefolge auf das Heer von König Artus, das bereits das Zeltlager aufgeschlagen hatte. Gawan befahl seinen Rittern und Damen, sich nebeneinander zu einem weiten Ring um das Artuslager aufzustellen – so daß der König und sein Gefolge ganz von den Leuten aus Schastelmarveile umschlossen waren. Der hübsche Anblick veranlaßte Artus, aus seinem Zelt zu treten, sich zu Pferde zu setzen und Gawan entgegenzureiten. War das ein wunderbarer Augenblick, als der König nach so langer Zeit seinen besten Ritter und lieben Neffen wieder vor sich sah! „Gawan, glücklicher Gawan!“ rief Artus. „Mehr als alle Worte mir berichten könnten, sagt mir die Pracht deines Gefolges: Du hast Ruhm, Ehre und Reichtum erworben! Von deinen Abenteuern sollst du uns viele Tage und Nächte erzählen. Sei mir gegrüßt!“ König Artus ritt die ganze Runde der Damen und Herren ab, die unbeweglich auf ihren Pferden saßen. Dann erst sprangen Gawans Ritter auf die Erde, halfen den Frauen vom Pferd, und nun entfaltete sich ein buntes Gewimmel auf dem weiten Feld.
Gawan trat mit den Königinnen und Orgeluse zu Artus ins Zelt. Der König fragte, wer die fünf Damen seien, und nun war der Augenblick gekommen, den Gawan mit soviel Heimlichkeit vorbereitet hatte: „Herr, diese edle Frau ist die Königin Arnive!“ „Meine Mutter!“ rief Artus aus, und sprachlos vor Staunen und Entzücken umfing die Mutter ihren Sohn, den sie lange, lange Jahre nicht gesehen hatte. Aber Gawan hatte mehr Überraschungen bereit: „Und hier seht Ihr Eure Schwester Sangive, meine Mutter, und bei ihr meine beiden Schwestern!“ Sie umarmten einander, sie weinten vor Freude und löschten mit ihren Tränen die bittere Zeit der jahrelangen Fremdheit. Daß Gawan ihr Befreier war, der Enkel, der Sohn und der Bruder der Königinnen, hatten sie nicht vermutet. Wie glücklich waren sie nun! In all dem Tumult der Freude stand Herzogin Orgeluse ein wenig abseits, bis König Artus fragte: „Gawan, wer ist die fünfte Frau?“ „Es ist die Herzogin Orgeluse. Ihr kennt sie nicht, aber ihre Männer kennt Ihr! Als Ihr durch ihr Gebiet geritten seid, ist es, wie ich vernommen habe, zu Kämpfen gekommen.“ „Freilich habe ich manchen Mann verloren, als die Ritter der Herzogin den Zug durch ihr Land verhindern wollten. Es wurde auf beiden Seiten tapfer gestritten, aber einige meiner Leute sind als Gefangene auf die Burg der Herzogin geführt worden.“ Da sprach Orgeluse: „Herr, sie wußten nicht, daß es Freunde und nicht Feinde waren. So laßt mich zu Eurer Begrüßung die Gefangenen freigeben. Ich werde einen Boten heimschicken, der soll Eure Männer holen. Ich will auch befehlen, daß meine Ritter allesamt hierherkommen, damit Gawans Lager für seinen Zweikampf noch vergrößert wird.“ Alle waren damit einverstanden. Nur Herr Keie meinte: „Dieser Gawan muß doch immer etwas Besonderes haben!
Warum schlägt er sein eigenes Lager auf und bleibt nicht in der Tafelrunde? Und wie ist er eigentlich zu diesen vielen Frauen gekommen? Man sollte meinen, daß auf diesem Platz zehnmal so viele Damen wie Ritter versammelt sind!“ Herr Keie zürnte nämlich immer noch, weil Gawan sich geweigert hatte, mit Parzival zu kämpfen, als der dem Hofmarschall Arm und Bein gebrochen hatte. Aber in der allgemeinen Freude hörte niemand auf Herrn Keies mißgünstige Bemerkung.
Gawan und Gramoflanz
Weit entfernt vom Lager des Königs und Gawans hatte Gramoflanz das seine aufgeschlagen – fünfzehnhundert Frauen, wie er vorausgesagt hatte, bevölkerten die große Zeltstadt. Der Platz, auf dem das Turnier ausgetragen werden sollte, lag zwischen den Heeren. Gawan machte sich Sorgen um den bevorstehenden Kampf, denn Gramoflanz war als starker und mutiger Streiter berühmt. So war es nicht zu verwundern, daß Gawan schon früh am Morgen erwachte. Er erhob sich leise, legte den Harnisch an – die Wunden begannen wieder zu schmerzen – und ritt hinaus auf den Kampfplatz. Aber er war nicht der erste: Ganz allein hielt dort ein gewappneter Mann, von dessen Helm ein Zweig leuchtete. Gawan erkannte das Laub von Gramoflanz’ Baum. Also war der König schon vor ihm gekommen! Wollte er den Kampf nun in aller Stille ausfechten? Gawan war es recht. Er spornte sein Roß, der andere tat es ihm nach, und schon prallten die Speere gegen die Schilde. Beide Reiter flogen vom Pferd, sprangen auf die Füße, rissen die Schwerter aus der Scheide
und hämmerten aufeinander los, daß die Schilder krachten und stückweise zerhauen wurden. Beide waren stark und wichen keinem Schlag aus, Gawan merkte kaum, daß seine Wunden brannten – aber er täuschte sich, es war nicht Gramoflanz, gegen den er kämpfte. Denn der König saß noch in seinem Zelt, und schöne Jungfrauen legten ihm gerade die Beinschienen an. Er rüstete sich wohlgemut, lachte und scherzte und ahnte nicht, daß sein Gegner bereits draußen in einem Zweikampf verwickelt war. Da kamen Boten von König Artus zu ihm, richteten ihm den höflichen Gruß ihres Herrn aus und sprachen: „König Gramoflanz, unser König Artus läßt Euch bitten, vom Zweikampf mit seinem Neffen Gawan abzulassen. Was Ihr auch immer gegen ihn auf dem Herzen habt, kann jetzt im Beisein so vieler Ritter und edler Damen geschlichtet werden.“ „Ich danke Eurem König für seinen Gruß“, erwiderte Gramoflanz, „aber kämpfen will ich! Herr Gawan weiß es, und ihm wird es auch nicht recht sein, wenn man unser Turnier verhindern will. Wenn aber die zornige Herzogin Orgeluse etwa König Artus überreden will, daß mich die ganze Tafelrunde angreift, dann sorgt dafür, daß der König nicht auf sie hört: Mit einem einzigen Mann will ich streiten, mit dem edlen Herrn Gawan. Ich bin König Artus und der Tafelrunde nicht feindlich gesonnen, kämpfen will ich nur mit dem einen.“ Und leiser sprach er zu einem Knappen: „Sagt mir, ob Itonje im Zelt des Königs ist! Ich habe gehört, daß alle Frauen von Schastelmarveile mit Gawan hergeritten sind – dann doch wohl auch die schöne Itonje? Sie soll sehen, wie ich kämpfe, um ihrer Liebe willen möchte ich siegen!“ Das wunderte zwar die Knappen, weil Itonje doch nur mit Kummer einem Kampf zwischen ihrem eigenen Bruder und Befreier und ihrem Liebsten zusehen würde, aber sie bestätigten höflich, daß Itonje unter Artus’, ihres Onkels
Schutz im Zeltlager sei. Während sie sich noch besprachen, kam eine zierliche Gestalt durch den Zelteingang geschlüpft, glitt auf Gramoflanz zu und schmiegte sich zutraulich an seine Seite: Jungfrau Bene! Sie war auf einem Boot den Fluß hinabgekommen, um Gramoflanz von Itonje zu grüßen. „Hier, Herr, habt Ihr zum Zeichen ihrer Liebe den Ring zurück, den Ihr Itonje geschickt habt. Sie hat ihn sich vom Finger genommen, damit er Euch im Kampfe schützen soll!“ „Weiß denn Itonje, gegen wen ich kämpfen werde?“ „Nein, Herr, das wissen wir nicht, Itonje und ich. Aber wer es auch sei, Ihr werdet ihn besiegen. Das hoffen wir zuversichtlich, Itonje und ich.“ Gramoflanz war fertig gerüstet – er reckte und streckte sich: „Auf, zum schönsten Kampf meines Lebens!“ Und in der Hoffnung, daß Itonje die Pracht sehen werde, ließ er sich von zwölf Jungfrauen begleiten, die auf ihren Pferden saßen und die Stangen eines Sonnendaches festhielten. So ritt Gramoflanz unter einem seidenen Schirm in den Kampf, und das hatte hier noch niemand gesehen. Was aber war aus Gawan geworden? Noch immer kämpfte er, aber matter wurde sein Arm, langsamer fielen die Schläge seines Schwertes, er taumelte in der heißen Sonne.
So fanden ihn seine Knappen. „Herr Gawan!“ schrien sie entsetzt. Bei diesen Worten ließ sein Gegner das Schwert fallen und trat zurück: „O weh mir! Jetzt habe ich gegen meinen liebsten Freund gekämpft! Über mir liegt kein Segen. Schuld ist mein Schicksal.“ Gawan fragte verwundert: „Seid Ihr nicht Gramoflanz? Wer seid Ihr?“ Der Fremde hob den Helm: „Gawan, sieh mich an, ich bin Parzival.“ Gawan lachte trotz allem: „So mußte es wohl einmal kommen. Aber mir ist es recht, daß wir beide unsere Kräfte gemessen haben. Von dir lasse ich mich gern besiegen – aber nur von dir. Und noch wenige Minuten, dann hättest du mich am Boden gesehen. Sei nicht betrübt – der Kampf kann zwischen uns beiden keine Feindschaft stiften!“ Er riß sich den Helm vom Kopf, taumelte und sank zu Boden. Die Knappen hoben ihn auf und fächelten ihm mit einem Hut aus weißen Pfauenfedern Kühlung zu. Inzwischen rückten von beiden Seiten die Turnierzuschauer heran, Damen und Herren auf geschmückten Pferden. Vom Sattelbogen der Frauen klangen die Glöckchen, die Federn an den Hüten wehten, die Banner schwangen im Wind. So kamen sie zu dem großen Kampfplatz, den Gramoflanz, der Herausforderer, abgesteckt hatte. Einen so großen Platz hatte es wohl kaum noch für ein Turnier gegeben. Zwischen den buntbemalten Grenzpfählen erstreckte sich das Feld vierzigmal so lang, wie es ein Turnierpferd zum Anlauf braucht! Verwundert sah Gramoflanz, daß hier bereits ein Streit ausgetragen war. Er ritt in das Feld, bemerkte, daß der eine der Kämpfer Gawan gewesen war, und bedauerte ihn herzlich. Gawan erhob sich mühsam:
„Hier steh ich, Gramoflanz. Ich bin bereit, mit dir zu kämpfen.“ „Das wäre wohl nicht recht“, antwortete der König. „Du bist jetzt kein Gegner für mich. Ruh dich aus bis morgen früh, dann wollen wir unseren Streit austragen – um die Ehre deines Vaters Lot und um den Zweig, den du mir geraubt hast.“ Da trat Parzival vor: „Herr, erlaubt, daß ich mit Euch kämpfe! Gawan ist mein Freund, ich möchte ihn vertreten.“ „Vielleicht seid Ihr auch ein ganz tapferer Ritter“, sprach Gramoflanz hochmütig, „aber für mich nicht der rechte Mann. Es gibt nur einen einzigen, den ich als einzelnen Gegner annehme, das ist Gawan.“ Jungfrau Bene lief auf Gramoflanz zu: „Gawan ist es, gegen den Ihr kämpfen wollt! Itonjes Bruder! Ihr seid böse, Ihr seid untreu und schlecht! Wie könnt Ihr denn gegen den Mann streiten, der Euch seine Schwester geben soll?“ Höflich verneigte sich Gramoflanz: „Sagt Itonje, daß ich ihr in allen Dingen ihre Wünsche erfüllen werde. Aber von diesem Kampf kann ich nicht lassen, ohne meine Ehre zu verlieren. Das wird auch Itonje nicht wollen.“ Da wandte Bene ihm heftig den Rücken und ritt nicht mit ihm, sondern mit Parzival und Gawan zurück.
Es war noch die Zeit, bevor Parzival den Gral gewann, die Zeit seines Leides und seiner Scham. Deshalb mußte ihn Gawan mühsam überreden, mit in Artus’ Zeltlager zu kommen. „Es muß sein“, sagte Gawan; da fügte sich Parzival. Er wurde freundlich empfangen, nur ein Mensch geriet seinetwegen in Verlegenheit: Das war Orgeluse, die es nicht vergessen konnte, daß Parzival einstmals nicht für sie streiten wollte und als einziger Ritter ihrer Schönheit widerstand. Sie dachte um so bitterer daran, als sie an Parzivals Helm erkannte, daß auch er
Gramoflanz einen Zweig von seinem Baum geraubt hatte – und nicht um ihretwillen! Doch hatte Orgeluse Gawan so lieb, daß sie um seinetwillen Parzival mit einem Kuß begrüßte. „Warum weinst du, Bene?“ fragte Gawan. „Herr, wie sollte ich denn nicht weinen? Itonjes wegen bin ich betrübt. Wenn sie erfährt, daß ihr Bruder und der Mann, den sie liebt, miteinander kämpfen wollen, wie unglücklich wird sie sein!“ „Dann sag ihr nichts davon, Bene. Sie braucht es ja nicht zu wissen.“ „Wie hart seid ihr Männer! Beide liebt ihr Itonje, und doch fügt ihr dem Mädchen soviel Schmerz zu! Wenn einer von euch beiden getötet wird, dann hat Itonje keinen frohen Tag mehr!“ Bene verschwieg, was sie wußte, aber als alle zusammen beim Mahl saßen, bemerkte Itonje die verweinten Augen ihrer Freundin. „Was ist mit Bene? Warum weint sie? Und wie kommt sie hierher? Ich habe sie doch zu Gramoflanz geschickt?“ Und Itonje wurde blaß vor ungewisser Angst. Wenn auch Itonje und Bene die Herzen schwer waren, so achteten die anderen nicht viel darauf, denn sie alle waren glücklich, daß Parzival wieder in ihrer Runde saß. Er war es, den sie nach seinen Abenteuern fragten, aber er mochte nicht viel erzählen. Der Kummer um den Gral und um Kondwiramur lastete zu schwer auf seiner Seele. Einmal erhob er sich: „Gawan, mein Freund, laß mich morgen für dich mit Gramoflanz streiten! Ich habe einen Zweig von seinem Baum gebrochen – also muß er auch an mir den Raub rächen! Du bist erschöpft, durch meine Schuld. Hätte ich dich nicht für den König gehalten, dann wäre es nie zu einem Streit gekommen und du könntest morgen mit ungebrochener Kraft den Zweikampf austragen. Laß mich für dich fechten!“
„Ich danke dir“, antwortete Gawan. „Aber ich selbst muß kämpfen.“ Da weinte Itonje laut auf. Parzival aber prüfte seine Beinschienen und den Harnisch, ließ sich einen neuen Schild bringen und wog den Speer in der Hand. Dann erst legte er sich schlafen. Am anderen Morgen war er der erste, der sich erhob. Verstohlen rüstete er sich und ritt auf den Platz hinaus – da traf er auf Gramoflanz. Denn Gramoflanz war so früh erschienen, damit nicht wieder ein anderer Ritter ihm den Ruhm des Tages stehlen sollte. „Daß ich mich gestern verspätet habe, reut mich. Diesmal will ich der erste sein.“ Als er den gewappneten Ritter auf dem Turnierplatz erblickte, meinte er, Gawan sei so früh erschienen. „Nun gut, fangen wir an! Zuschauer werden sich schon einfinden!“ Also begann der Kampf. Parzival und Gramoflanz ritten viele Male mit eingelegten Speeren gegeneinander, die Lanzen zersplitterten, aber beide saßen fest im Sattel. Schließlich hatten sie alle Speere verstochen, sprangen auf die Erde und schwangen die Schwerter gegeneinander. „Der Mann ist stärker, als ich erwartete“, dachte Gramoflanz. Später, nach diesem Kampf, hat er niemals mehr behauptet, daß er nur gegen mindestens zwei Ritter zugleich kämpfen wolle… Parzival gewöhnte ihm seinen Hochmut ab. Sie schlugen aufeinander ein, und der Streit nahm kein Ende. Gawan war an diesem Morgen müde und elend aufgestanden, und bevor er zum Zweikampf ritt, begab er sich in die Messe und ließ sich segnen. So kam es, daß er erst spät mit seinem Gefolge auf dem Turnierfeld erschien – da erlebte er das gleiche wie am Tage zuvor Herr Gramoflanz: Sein Gegner war bereits in einen Kampf verwickelt.
Von allen Seiten lief man jetzt herzu, die Streiter zu trennen – Gramoflanz war so erschöpft, daß er zugab, der Unterlegene zu sein. Aber wie zornig war er, als sie sich die Helme abbanden und er erkannte, daß er nicht gegen Gawan gestritten hatte! Nun war es Gawan, der ihm anbot, den Kampf auf den nächsten Tag zu verschieben, und Gramoflanz war es recht. Sie trennten sich. König Artus sprach zu Parzival: „Du hast nun doch gegen Gramoflanz gekämpft, obwohl Gawan es nicht wollte. Nun muß dein Freund es hinnehmen, daß man dich rühmt!“ Aber Gawan meinte: „Parzivals Ruhm macht mir nur Freude. Und ich bin so zerschlagen und erschöpft, daß mir auch der kommende Tag zu früh für den Kampf ist. Wenn König Artus mich davon befreien könnte, wäre es mir recht.“ Die geschmückten Pferde trugen ihre Reiterinnen und Reiter ins Zeltlager zurück. König Gramoflanz saß mit seinen Getreuen im Zelt. Er schien nicht froh. Zwei Tage waren unnütz verstrichen, noch immer hatte er nicht seinen Zweikampf gegen Gawan ausfechten können, und was schlimmer war: An diesem Tage war er auf einen Gegner gestoßen, der ihn besiegt hätte, wenn nicht die Männer aus beiden Heeren die Streitenden getrennt hätten. Einer seiner Freunde riet ihm: „Du solltest einen Boten zu König Artus schicken und verlangen, daß sich dir nur noch Gawan zum Kampfe stellt. Es geht nicht an, daß man dir andere Ritter entgegenschickt.“ Gramoflanz gefiel der Rat. Er wählte zwei gewandte Junker aus und teilte ihnen mit, was sie König Artus ausrichten sollten. Dann gab er ihnen einen Brief: „Den sollt ihr der Jungfer Bene übergeben. Sie weiß, an wen er gerichtet ist. Macht eure Sache gut, führt euch höflich und bescheiden auf!“
Die beiden stoben eilig davon, schwangen sich auf ihre Pferde und ritten fröhlich zu König Artus.
In Artus’ Zelt saß Itonje und weinte bitterlich. „Lieber Oheim, macht doch diesem Zwist ein Ende! Wie der Kampf morgen auch ausgeht, wird er für mich nur Kummer bringen. Fällt mein Bruder, kann ich nie mehr fröhlich werden, weil mein Liebster ihn getötet hat. Wenn Gawan aber Gramoflanz besiegt und tötet, wird mir sicher das Herz brechen.“ Der König fragte neugierig: „Wie kam es denn, daß du als Gefangene dem König Gramoflanz deine Liebe schenktest? Hast du mit ihm gesprochen?“ „Nein, Herr, niemals ein Wort. Nur von fern hab ich ihn gesehen. Meine liebe Freundin Bene hat die Grüße hin- und hergetragen, ihr habe ich meinen Sperber anvertraut, den sie als Geschenk zum König brachte. Ach, lieber Oheim, es ist doch nur Orgeluses Haß, der die beiden Männer gegeneinander treibt! Könnt Ihr nicht um meinetwillen Frieden zwischen Gramoflanz und Orgeluse stiften? Macht doch, daß der Zweikampf nicht stattfindet!“ König Artus lächelte: „So jung du bist, weißt du doch wohl, was zu tun ist. Und mir scheint, daß du Gramoflanz ehrlich liebst. Weine nicht mehr, ich will alles tun, damit er mit Gawan versöhnt wird.“ Während sie sich besprachen, steckten zwei junge Burschen ihre Köpfe ins Zelt, und Jungfer Bene meinte: „Herr, schickt doch die Buben da draußen fort! Sie hören ja alles mit an!“ Aber die beiden traten näher, bescheiden und höflich; es waren die Junker, die Gramoflanz zu Artus gesandt hatte. Einer wandte sich an den König, während der andere Bene den
Brief in die Hand drückte. „König Artus, unser Herr schickt uns. Er bittet, daß Ihr ihm um Eurer eigenen Ehre willen künftig keinen anderen Ritter als Gawan zum Kampf schicken möget. Ihr habt ein großes Gefolge – wenn Gramoflanz alle Männer nacheinander besiegen soll, wäre das wahrhaftig unrecht! Und schließlich hat er ja nur mit Gawan Streit!“ „Unrecht ist es von Eurem König, daß er Gawan so mit Haß verfolgt“, antwortete Artus. „Habt Ihr gehört, wie sehr Itonje trauert, weil Euer Herr ihren Bruder durchaus bekämpfen will?“ Da warf Bene eilig ein: „König, hier halte ich einen Brief in der Hand, den Gramoflanz an Itonje geschickt hat. Vielleicht bringt er gute Nachricht?“ Itonje riß ihr den Brief aus der Hand, küßte ihn heftig und reichte ihn dann Artus, der ihn aufbrach und las. Lächelnd gab er ihn seiner Nichte: „Mir scheint, daß der König Euch wahrhaftig liebt. Dann faßt nur Mut: Alles wird gut werden!“ Es war ein hübscher Brief, den der König geschrieben hatte: „Fräulein, , ich grüße Euch vieltausendmal. Daß Ihr mir Euer Herz schenkt, macht mich froh zu jeder Stunde. Nie kann ich etwas Unrechtes tun, wenn ich gewiß bin, daß Ihr mich liebt. Ich weiß mir nichts Besseres, als Euch mein Leben lang zu dienen.“ König Artus dachte: „Das mag er gleich beweisen! Er muß mir Itonje von ihrem Kummer befreien und die Herausforderung an Gawan zurückziehen!“ Und weil er wünschte, daß die beiden Junker recht lebhaft und freundlich vom großen König Artus berichten sollten, ritt er selbst mit ihnen durch sein großes Zeltlager, ließ sie die Pracht seiner Ritter bewundern, die Schönheit der Damen, die Ordnung und Zucht, die überall herrschte. Alles zeigte der berühmte König den beiden jungen Leuten und bemerkte mit Vergnügen, wie gut ihnen gefiel, was sie sahen.
Nach dem Ritt gab Artus ihnen einen Auftrag mit: „Reitet zurück zu eurem Herrn und bestellt ihm, daß ich ihn gern als Freund bei mir sähe und nicht als den Feind meines Neffen Gawan. Ich bitte Gramoflanz, mich aufzusuchen. Morgen kann gekämpft werden, wenn es denn durchaus sein soll, heute aber möchte ich ihn als Gast begrüßen. Seid recht geschickt, wenn ihr meine Botschaft ausrichtet! Viel hängt von euch ab!“ Der eine erwiderte: „Gern wollen wir alles getreulich bestellen. Aber soviel wir wissen, ist die Herzogin Orgeluse unserem König feind. Sein Besuch wird ihr Ärger schaffen.“ „Dafür werde ich sorgen“, versprach König Artus. „Euer Herr mag mit wenigen Rittern kommen, recht unauffällig.“ Bene ritt mit den beiden Junkern zu Gramoflanz, der sie freudig empfing. Die Knaben richteten aus, was der König, und Bene, was Itonje gesagt hatte. Beides machte ihn froh, und gern wollte er König Artus aufsuchen. Er wählte sich einige seiner vornehmsten Begleiter aus und nahm auch einen Falkner mit, als ob es auf die Jagd ginge. Viele edle Junker durften mit zu Artus’ Lager reiten. König Artus schickte ihm seinen Neffen, einen Bruder von Itonje, entgegen, den fünfzig adlige Jungen begleitete. Als die beiden Züge aufeinandertrafen, begrüßten sich die Herren höflich, die Jugend aber mit fröhlichem Geschrei. Artus’ Neffe verneigte sich vor Gramoflanz. „Ich bin Itonjes Bruder.“ Darüber freute sich der König, und immer wieder suchte er in den strahlenden Zügen des Jünglings die Ähnlichkeit mit der nur so selten erblickten Geliebten. König Artus bat inzwischen Orgeluse, ihren Groll auf Gramoflanz aufzugeben. „Herrin, von Euch hängt es ab, ob der Zwist beigelegt werden kann. Wollt Ihr Euren Freund Gawan einem so schweren Kampf aussetzen? Die beiden sind starke Streiter, und es ist wohl möglich, daß sie nicht eher vom Kampf ablassen, bis
einer von ihnen auf den Tod verwundet ist. Gawan leidet außerdem noch unter den Verletzungen, die er sich auf der Zauberburg geholt hat. Ich denke, Ihr könnt wohl aufhören, Gramoflanz zu verfolgen: Er hat das, was er Euch angetan hat, büßen müssen, Ihr habt ihm wahrhaftig keinen ruhigen Tag gelassen!“ Als dann noch Gawan seine schöne Geliebte umarmte und herzlich bat, schien ihr Zorn zu verblassen, und das sah vor allem Itonje mit großer Erleichterung. Gramoflanz und seine Herren erschienen vor dem Zelt des Königs, stiegen von den Pferden und grüßten den Gastgeber. Artus sprach zu Gramoflanz: „Ich danke Euch, daß Ihr, ein weit und breit berühmter Ritter und König, zu mir gekommen seid. Nun seht Euch um: Ist hier eine Frau, die Ihr lieber als alle anderen begrüßen wollt, dann gestatte ich Euch, es mit einem Kuß zu tun.“ Da trat der edle junge Gramoflanz auf Itonje zu, schloß sie zum erstenmal in die Arme und flüsterte ihr alles zu, was schon sein Brief gesagt hatte. Ihre Augen strahlten in tiefem Glanz: Daß sie schon so viele Tränen aus Liebe vergossen hatte, machte sie nur noch schöner. König Artus zog den vornehmsten Ritter aus Gramoflanz’ Begleitung beiseite: „Ihr habt jetzt genug mit meiner Frau gesprochen. Jetzt möchte ich mich mit Euch unterhalten.“ Damit führte er ihn in ein kleines Zelt und ließ Gramoflanz Zeit, sich mit den schönen Damen um Königin Ginevra zu unterhalten. Artus sagte zu dem fremden Ritter: „Ihr müßt mir helfen, daß wir Gawan und Gramoflanz miteinander versöhnen – um Itonjes willen.“ „Es ist mein Wunsch“, erwiderte der andere, „daß Frieden gestiftet wird. Doch wer könnte das besser als Itonje selbst? Ihr aber müßt dafür sorgen, daß Frau Orgeluse ihren Zorn begräbt.“ Das versprach Artus gern, und sie gesellten sich
wieder zu den anderen. So edle Ritter hatte man noch selten beieinander gesehen – aber der Schönste von allen war doch immer noch Parzival. Orgeluse war bereit, auf ihre Rache zu verzichten, wenn Gawan einverstanden wäre. Sie stellte aber die Bedingung, daß Gramoflanz nie mehr behaupten dürfe, Gawans Vater Lot hätte den seinen erschlagen – und als Gramoflanz Itonje ansah, zerschmolz sein Haß auf den Norweger, und es fiel ihm leicht, Orgeluses Bedingung zu erfüllen und auf den Zweikampf mit Gawan zu verzichten. So kam endlich der Augenblick heran, da man die Gegner zueinander bringen konnte. Freundlich trat Orgeluse an Gawans Hand vor Gramoflanz. Als er ihr den Versöhnungskuß bot, duldete sie ihn still – aber in diesem Augenblick waren ihr doch die Tränen näher als das Lachen, denn sie dachte an ihren erschlagenen Gemahl: Orgeluse war treu und vergaß auch im neuen Glück nicht das alte. Dann richtete sie sich hoch auf: „Ihr Damen und ihr Herren, vernehmt meinen Entschluß: Ich biete meine Hand und mein Herzogtum Ritter Gawan. Er hat es sich mit Treue und Tapferkeit verdient.“ Ihre Worte enttäuschten so manchen Ritter, der für sie gestritten und sich Lohn erhofft hatte – aber Gawan mußten sie das Glück wohl gönnen. Ein prächtiges Fest wurde gefeiert, bei dem manche schöne Frau sich mit einem der Ritter fürs Leben verband. Gramoflanz schickte Boten zu seinem Heer, ließ das Zeltlager abbrechen und befahl, daß man es nahe bei dem von Artus und Gawan neu errichten solle. So waren alle glücklich – bis auf einen, Parzival. In dieser Nacht nahm er heimlich Abschied. Wir wissen, daß er wieder auf die Suche nach dem Gral ging und endlich auch zu seinem Ziel gelangte. Das ist die Geschichte von Ritter Gawan, der nach viel Mühsal alles errang, was sein Herz begehrte, die schöne Frau, hohen Ruhm und Reichtum.
RITTER ERECS ABENTEUER
Die Begegnung mit dem Zwerg
Als Erec, der Sohn von König Lac, sieben Jahre alt war, hielt sein Vater die Zeit für gekommen, ihn zum Ritter erziehen zu lassen, und schickte ihn an den Hof von König Artus, wo er mit vielen anderen Fürstenkindern in allem unterrichtet werden sollte, was ein künftiger Ritter wissen und können mußte. Höfische Zucht – Selbstbeherrschung, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft – lernte er bald, im Fechten, Ringen, Laufen, Klettern tat es ihm keiner nach. Schnell konnte er reiten und mußte vom Pferderücken herab mit einem hölzernen Schwert und einer kleinen Lanze kämpfen. Später nahm ihn Artus als Knappen in sein Gefolge auf; Erec versorgte die Pferde und mußte bei Tische aufwarten. Und eines Tages schlug ihn der König zum Ritter, schnallte ihm die Sporen an und gürtete ihm ein Schwert um. Königin Ginevra verlieh ihm Harnisch, Helm und Waffen, und nur noch eines fehlte ihm: Noch nie hatte er in einem ernsthaften Zweikampf beweisen können, daß er des Rittertums wert war. An einem schönen Ostermorgen wünschte die Königin, dem Jagdzug der Herren zu folgen, und Erec wurde ihr zum Schutz und zur Begleitung mitgegeben. Er ritt ohne Harnisch und Waffen und sang hell ein Lied vom Frühling: „Der Winter ist vergangen, die dunkle Zeit hat ein Ende, lustig singen die Vögel, blau und rot leuchten die Blumen aus dem grünen Gras.“ Sie waren alle guter Dinge, vom Sattelbogen der Damen klangen hell die Glöcklein, die
Schleier wehten im Morgenwind, die Pferde trabten, als ob auch sie sich über den Frühling freuten. An einer Lichtung begegnete ihnen ein seltsamer Zug: Voran ritt auf mächtigem Pferd ein buckliger Zwerg, ihm folgte eine schön geschmückte Frau, und den Schluß machte ein Ritter in voller Rüstung. Keiner kannte die drei, aber die Königin hätte gern gewußt, wer sie seien: „Wir könnten den Ritter und seine Dame zu uns zu Gast laden. Vielleicht haben sie schon einen weiten Ritt hinter sich und machen gern eine Rast, und sicherlich haben sie uns viel zu erzählen.“ Sie befahl einem der Mädchen, die sie begleiteten, die Fremden höflich nach ihren Namen zu fragen. Das Mädchen ritt hin und wandte sich an den Zwerg: „Gott grüß Euch! Meine Herrin Ginevra möchte Euren Herrn zu Gast laden. Sagt mir doch freundlich den Namen Eurer Herrschaft.“ Da krächzte der Zwerg: „Was fällt Euch ein? Wir sind niemandem Auskunft schuldig!“ Die Jungfrau wollte sich nun an den Ritter selbst wenden, aber der Zwerg verlegte ihr den Weg, ja, damit nicht genug – er hob seine Reitpeitsche und schlug sie dem Mädchen heftig ins Gesicht! Weinend ritt es zurück zur Königin, die sehr erschrak, als sie die Striemen im Gesicht der Jungfrau erblickte: „Was ist dir zugestoßen?“ Das Mädchen berichtete, und die Königin biß sich auf die Lippen vor Zorn, daß man ihrer Begleiterin eine solche Schande angetan hatte. Da bat Erec: „Laßt mich hinreiten und den Kerl bestrafen.“ Ginevra sah ihn zweifelnd an: „Erec, sei aber nicht ungestüm und unvorsichtig! Du bist nicht gewappnet!“ Doch Erec sprach: „Das ist mir gleich. Eine solche Beschimpfung darf ich nicht dulden. Der König hat Euch meinem Schutz anvertraut – laßt mich reiten!“
Er kam zu dem Zwerg und schalt: „Was fällt dir ein, du frecher Wicht! Wie kannst du eine Dame schlagen? Bei mir wirst du das wohl nicht wagen. Sag’ mir rasch, wer dein Herr ist!“ Der Zwerg lachte höhnisch: „Meinst du, ich hätte Angst vor dir? Mach, daß du wegkommst, mein Herr geht euch gar nichts an. Warum seid ihr so neugierig?“ Als Erec nun den Ritter selbst fragen wollte, verstellte der Zwerg auch ihm den Weg, schwang die Peitsche und schlug
wild auf Erec ein. Gleichzeitig zog er mit der anderen Hand sein Schwert heraus und drohte, Erec damit anzufallen, so daß diesem nichts übrigblieb, als sich davonzumachen. Blaß vor Ärger kam er zur Königin zurück, der die Zornestränen in die Augen traten. „Königin, ich muß mich rächen! Eine solche Schande kann ich nicht auf mir sitzen lassen! Ich muß dem Ritter nach und ihn selbst zur Rechenschaft ziehen. Er hat alles mitangesehen und geduldet, daß sein Zwerg mich peitschte!“ „Dann reite erst heim und hol Harnisch und Waffen“, riet die Königin. Aber Erec fürchtete, daß er dann zuviel Zeit verlieren und den Ritter nicht wieder einholen würde. Er verabschiedete sich und ritt unbewaffnet davon. Als er die drei Fremden vor sich sah, verlangsamte er den Schritt und zog ihnen in einiger Entfernung nach, bis sie schließlich in eine Stadt mit einer hohen Burg kamen. Der Ritter verschwand mit der Frau und dem Zwerg im Burghof, und Erec mußte sich überlegen, wo er selbst bleiben wollte – er hatte nichts bei sich, womit er ein Nachtquartier bezahlen konnte. Die Leute in der Stadt waren geschäftig und aufgeregt wie vor einem großen Ereignis, keiner achtete auf den jungen Mann, der auf eine solche unangenehme Lage nicht vorbereitet war. Hin und her zog er durch die Stadt und ritt schließlich zum anderen Tor wieder hinaus: „In der Stadt finde ich keine Herberge, vielleicht glückt es mir hier draußen!“ Er stieß auf eine halbverfallene alte Burg, wo Moos zwischen den Steinen wuchs, der Turm fast eingesunken war, wo weit und breit kein Mensch sich sehen ließ. „Hier kann ich die Nacht zubringen“, dachte Erec. „Das ist immer noch besser als unter freiem Himmel. Und morgen werde ich schon einen Weg finden, um mich zu rächen.“ Er ritt in den grasbewachsenen Burghof ein, stieg vom Pferd und band es an einen Baum. Da kam ihm ein alter, gebeugter Mann entgegen und fragte ihn,
was er hier suche. Erec fürchtete, daß man ihn vertreiben werde, bat aber höflich um ein Nachtquartier. „Alles, was mein ist, steht Euch zur Verfügung“, antwortete der Alte. „Ihr müßt aber vorliebnehmen mit dem, was ich habe – es ist nicht mehr viel, und Ihr seid sicher Besseres gewohnt.“ Die beiden nannten einander ihre Namen, und Erec erfuhr, daß der alte Mann einst ein reicher und mächtiger Graf gewesen, aber von seinen Feinden ausgeplündert war und nun arm und einsam ohne Gesinde, nur mit seiner Frau und seiner Tochter lebte. Der Graf rief die Tochter und befahl ihr, Erecs Pferd zu versorgen. „O nein“, sagte Erec erschrocken, „das zarte Fräulein soll keinen Knappendienst versehen!“ Aber der Graf antwortete: „Wir sind arm, aber wir wissen, was einem Gast zusteht. Enite, nimm das Pferd und führ es in den Stall.“ Erec sah verwundert auf das Mädchen: Es war so schön, wie er an Artus’ Hof noch keines erblickt hatte, und ihre Lieblichkeit leuchtete trotz des verschlissenen, zerlöcherten Kleides. Der Graf und die Seinen boten ihrem Gast, was sie nur hatten, und wenn Erec auch auf Stroh statt auf weichen Kissen liegen mußte, wenn man ihm auch nur Grütze und Rapunzelsalat bieten konnte, so fühlte er sich doch glücklich bei dem höfischen Mann, der edlen Frau und Enite, der schönen Grafentochter. „Was führt Euch her, Herr?“ fragte der Graf, und Erec berichtete von dem Ritter, dessen Zwerg ihn geschlagen hatte. „Das ist Yders mit seinem Zwerg! Ach, Yders hat schon viel angerichtet, er ist gewalttätig und stark! Und ich weiß auch, was er hier will. In der Stadt findet morgen ein großes Fest statt, das der Burgherr alljährlich einmal veranstaltet. Auf dem Burgplatz ist eine hohe Stange errichtet, und darauf sitzt ein Sperber. Der Raubvogel ist der schönsten Frau zugedacht, die
auf dem Fest erscheint, und in den letzten Jahren hat Yders ihn immer für seine Dame geholt, obwohl jeder sagt, daß sie nicht die schönsten waren. Aber weil der Ritter so gefürchtet und so herrschsüchtig ist, beansprucht er in jedem Jahr unangefochten den Sperber und fordert alle diejenigen, die seiner Dame den Preis nicht gönnen, zum Zweikampf heraus. Aber keiner will mit ihm kämpfen. So wird es auch morgen wieder gehen – Yders wird mit dem Preis davonziehen.“ „Das ist eine gute Gelegenheit, mich an Yders zu rächen!“ rief Erec. Und nach einem Blick auf Enite fuhr er fort: „Eure Tochter verdient den Preis – schöner als sie kann keine sein! Laßt mich mit Enite zum Fest ziehen und den Sperber für sie holen!“ Der alte Graf fuhr auf: „Was erlaubt Ihr Euch! Wie könnt Ihr solchen schlechten Scherz machen! Wollt Ihr unsere Armut verhöhnen?“ Erec errötete: „Es ist mein Ernst. Noch nie hat mir ein Mädchen so gut gefallen, und ich möchte, daß sie aus der Armut erlöst und so geehrt wird, wie es ihr zukommt. Ich bitte Euch: Gebt mir Enite mit! Ich werde mit Yders kämpfen, und wenn ich siege, wünsche ich mir als Lohn die Hand Eurer Tochter!“ Enite saß still auf ihrem Platz, aber ihre Augen leuchteten, und der Vater erkannte, daß Erecs Bitte ihr sehr willkommen war. Da willigte er gern ein. „Der Burgherr ist ein Herzog und Enites Oheim. Er wird Euch hoffentlich freundlich aufnehmen.“ „Aber ich brauche eine Rüstung und Waffen!“ rief Erec aus. „Wißt Ihr nicht, wo ich sie bekommen kann?“ „Bei mir. Ich habe noch einen festen Harnisch und gute Waffen. Wenn ich auch alles verlor – davon konnte ich mich nicht trennen. Ihr sollt morgen alles haben!“
Früh am anderen Morgen legte Erec die Rüstung an, wog den schweren Speer in der Hand, ließ das breite Schwert durch die Luft sausen und prüfte den Schild. „Das sind gute Waffen, Herr! Nun ist mir nicht bange vor dem Streit mit Yders!“ Er nahm Enite, wie sie in ihren Lumpen ging und stand, vor sich aufs Pferd und ritt mit ihr in die Stadt. Dort meldete er sich beim Herzog und erklärte, warum er gekommen sei. Der Herzog sagt erschrocken: „Enite! Liebe Nichte! Wie lange habe ich dich nicht gesehen – und wie schön du geworden bist! Aber warum trägst du solche Lumpen?“ Auf ihre Antwort, daß ihr Vater keine Kleider kaufen könne, wandte der Herzog sich ab, weil er sich schämte, seine Verwandten so lange im Elend gelassen zu haben. Er freute sich aber, daß Erec für Enite den Sperber erringen wollte. „Ich will dir kostbare Kleidung bringen lassen, Enite, damit keiner sich über deine zerrissenen Sachen lustig machen kann.“ Das aber verbat sich Erec: „Geputzte Frauen haben es leicht, schön zu erscheinen, aber Enite wird in ihren häßlichen Kleidern alles überstrahlen. Laßt sie nur, wie sie ist.“ Der Herzog biß sich auf die Lippen, aber er mußte die beiden so ziehen lassen.
Der Kampf mit Yders
Auf dem Festplatz waren Ritter, Damen und Bürger um die Stange mit dem Sperber versammelt. Herausfordernd blickte Yders’ Dame um sich: Natürlich würde ihr auch in diesem Jahr der Sperber wieder zufallen! Erec stieg vom Pferd, hob Enite herab und führte sie an der Hand zu der Stange. Laut schallte seine Stimme über den
Platz: „Enite, nehmt den Sperber von der Stange! Euch gehört er, weit und breit ist keine Frau schöner als Ihr!“ Ängstlich streckte sie die Hand aus – da trat Yders hervor und schrie zornig: „Was fällt Euch ein? Diesem Kind in seinen Lumpen sollte der Sperber gehören? Wollt Ihr Euren Spott mit uns treiben? Meiner Dame steht er zu. Tretet zurück!“ Enite weinte, aber Erec stellte sich mannhaft dem Wütenden in den Weg: „Herr, so ist es nicht ausgemacht! Zwei Jahre lang habt Ihr den Sperber zu Unrecht genommen. Jetzt soll er wirklich der Schönsten gehören!“ Das ganze Volk drängte sich um die beiden: „Das Mädchen ist wirklich schön! Viel edler und lieblicher als Yders’ geputzte Dame! Ihr gehört der Sperber!“ Erec fuhr fort: „Ihr müßt mit mir kämpfen, Herr, wenn Ihr diesem Fräulein den Sperber nicht gönnt!“ „Du junger Kerl, meinst du, ich kämpfe mit Knaben? Aus dem Weg!“ Aber Erec ließ nicht locker. „Ich bin gekommen, um Enites Recht zu erkämpfen. Macht Euch bereit!“ Die Knappen des Herzogs trieben die Zuschauer zurück, der weite Platz war leer zum Kampf. Erec flüsterte Enite zu: „Habt keine Angst! Stellt Euch zum Herzog und freut Euch, daß hier für Euch gestritten wird!“ Sie ritten gegeneinander an, mit solcher Wucht, daß beider Speere zersplitterten. Der Stoß war so gewaltig, daß Erecs schwerer Schild Yders an den Kopf prallte. Das hatte dieser noch nie erlebt! Erec erhielt einen neuen Speer, wieder stießen sie aufeinander zu, daß die Pferde in die Knie brachen, aber beide blieben im Sattel. Noch viermal berannten sie einander, dann gelang es Erec, Yders vom Pferd zu stoßen. Sorgsam wendete er sein Pferd, um den Gestürzten nicht zu verletzen, und rief über den Schildrand der weinenden Enite zu: „Seid ruhig, Fräulein! Ich kämpfe für eine gerechte Sache! Mir ist um den Sieg nicht bange!“
Nun begann der Schwerterkampf zu Fuß, der kein Ende nehmen wollte. Erec mußte sich tüchtig wehren, und einmal brach er von einem Schlag gegen den Helm in die Knie, erhob sich aber zugleich wieder und ließ sein Schwert auf Harnisch und Schild seines Gegners sausen. Keiner von beiden gab nach, doch als der Kampf immer länger dauerte, und die Mittagssonne auf sie herunterbrannte, wurden ihre Arme lahm, ihre Streiche fielen immer matter. Da schlug Yders vor: „Laßt uns ausruhen, Herr. Wir streiten jetzt so, daß es eines Ritters nicht würdig ist. Wir müssen neue Kräfte sammeln, damit die Zuschauer sehen, daß wir wahre Kämpfer sind!“ Erec war es recht, beide setzten sich ins Gras und schöpften tief Luft. Die Leute, die ringsum standen, flüsterten: „Wer wird siegen? Ob der junge Held den starken Yders wirklich besiegt?“ Während sie so im Grase saßen, dachte Erec an den Zwerg und seine Beschimpfung – das erfüllte ihn mit ungebärdigem Zorn, und als sie den Kampf wieder aufnahmen, fielen seine Streiche so dicht und schwer, daß er Yders zu Boden zwang! Er kniete sich zu dem Gestürzten, band ihm den Helm ab und schwang drohend das Schwert, als ob er ihn töten wolle. Da flehte Yders: „Junger Held, laßt mir doch das Leben! Was habe ich Euch getan, daß Ihr meinen Tod wollt?“ „Und wolltet Ihr nicht meinen Tod ebenso? Hättet Ihr mich geschont, wenn Ihr gesiegt hättet? Euer Übermut, den hier alles Volk seit Jahren kennt, ist endlich gestraft. Ihr habt Euch nicht als guter Ritter erwiesen.“ „Aber Euch habe ich doch nichts zuleide getan, daß Ihr mir nun ans Leben wollt!“ „Habt Ihr vergessen, was mir Euer Zwerg zugefügt hat? Wißt Ihr nicht, daß er ein Mädchen der Königin Ginevra und mich selbst mit der Peitsche geschlagen hat?“
Da sagte Yders kleinlaut: „Es tut mir leid, ich bekenne, daß ich Unrecht getan habe, und biete Euch Sühne an.“ „Dann schenke ich Euch das Leben“, sprach Erec und ließ den Ritter, der immer noch am Boden lag, schwören, daß er als Buße alles tun werde, was Erec von ihm verlangte. Yders gelobte es und konnte nun endlich aufstehen. „Ihr sollt zu meiner Königin reiten und Euch als ihr Gefangener melden. Ihr habt ihr bitteres Unrecht angetan – von ihr müßt Ihr Euer künftiges Geschick bestimmen lassen! Und den Zwerg gebt mir zur Bestrafung. Er wird es schwer zu büßen haben, daß er sich so roh betragen hat.“ Was blieb dem stolzen Yders übrig – er mußte wohl oder übel in Erecs Bedingungen einwilligen, und als er noch zögerte, zum Artushof aufzubrechen, mahnte Erec ihn, sofort seinen Bußgang zu tun. Trübselig ritt Yders davon, seine Dame mit hängendem Kopf hinterher. Der Zwerg aber wurde zur Strafe ausgepeitscht und mußte noch froh sein, daß man ihm das Leben ließ.
Yders am Artushof
König Artus hatte die Jagd beendet, und er selbst hatte den Hirsch lebend gefangen, der die Beute dieses Tages sein sollte. Damit war Artus auch der Preis zugefallen: die Dame am Hofe zu küssen, die ihm als die schönste erschien. Fröhlich ritt die Gesellschaft zurück, aber im Zeltlager fand Artus seine Gattin zornig und traurig vor. „Jetzt ist keine Zeit, deinen Jagdpreis einzufordern“, sagte sie, „ich bin unerträglich beschimpft worden“, und sie erzählte ihm, was ihr von dem Zwerg des fremden Ritters zugestoßen war. „Und nun sorge ich mich um
unseren Erec. Wie wird es ihm gehen? Ungewappnet ist er dem Fremden nachgeritten, vielleicht hat er schon das Leben verloren!“ Jetzt war es aus mit der Fröhlichkeit, finster setzte sich Artus und überlegte, wie er am besten Erec zu Hilfe kommen sollte, denn er wußte ja nicht einmal, wohin sich sein junger Ritter begeben hatte. Da sah man von weitem einen Ritter heranziehen, entdeckte, daß Blut über seinen Harnisch rann, daß der Helm zerbeult und der Schild zerhauen war. „Das wird Erec sein!“ rief der König froh. „Er sieht nach einem großen Kampf aus!“ Aber der Ritter kam näher, nahm den Helm ab, sprang vom Pferd und warf sich der Königin zu Füßen: „Herrin, ich habe Euch Unrecht angetan. Ich bin Yders. Euer Ritter hat mich besiegt und als Gefangenen hergeschickt. Ich bitte Euch um Verzeihung, daß ich meinem Zwerg seine Frechheit nicht verwiesen habe.“ Die Königin schwieg. Yders fuhr fort: „Aber ich bringe Euch gute Nachricht! Morgen kommt mein Besieger!“ Das machte Ginevra so viel Freude, daß sie Yders aufstehen hieß und ihm verzieh. „Eure Strafe soll sein, daß Ihr hier am Artushofe bleibt.“
Erec und Enite
Wie selig war Enite, als ihr Ritter gesiegt hatte! Sie vergaß ihre Lumpen, sie lief strahlend auf ihn zu, ließ sich aufs Pferd heben und schmiegte sich an seinen Harnisch. Der Herzog bat die beiden, noch bei ihm zu bleiben und an den Spielen und am
Tanz teilzunehmen, die mit dem Fest verbunden waren. Aber immer noch weigerte sich Erec, seiner Dame kostbare Kleidung bringen zu lassen – dem Herzog zur Lehre, der sich so ungerührt von dem Elend seiner Verwandten gezeigt hatte. Nur ein gutes Reitpferd nahm er für sie an. Gegen Abend ritten die beiden fort, kehrten zurück zum alten Grafen und berichteten. Der Graf vergoß Dankestränen vor Freude, daß nach all den Jahren des Elends endlich wieder Glanz und Sieg mit seinem Namen verbunden waren. Höflich brachte Erec seinen Herzenswunsch vor: „Herr, gebt mir nun Enite! Ich möchte sie mit mir zum König Artus nehmen und mich dort mit ihr vermählen.“ Der Graf gewährte es gern, und auch die Mutter war froh, denn sie sah, daß Enite keinen Blick von ihrem Ritter abwandte. Am anderen Morgen nahmen die beiden jungen Leute Abschied, zwar mit vielen Tränen, denn Enite war noch nie von Vater und Mutter getrennt gewesen, aber auch mit tausend Freuden, weil sie bei Erec bleiben sollte. Erec versprach dem Grafen, für ihn zu sorgen, damit er aus seiner betrüblichen Lage erlöst werde. So ritten sie davon – Enite in ihrem zerrissenen Kleid, aber strahlend vor Glück. Immer wieder blickte sich Erec nach ihr um, und was ihr Mund verschwieg, sprachen ihre Augen um so beredter: „Ich hab dich lieb.“ Am Artushof erwartete man die beiden mit großem Gepränge. Die Königin nahm Enite bei der Hand: „Mädchen, diese Kleider müssen verschwinden!“ Und sie ließ das Kostbarste holen, was sich in ihren Truhen fand: Ein weißes Hemd, ein grünes Samtkleid, das Ginevra selbst mit goldenen Bändern schnürte und mit einem großen Edelstein an der Schulter schloß. Darüber fiel ein golddurchwirkter, mit Hermelin gefütterter Mantel. Nun sah man recht, wie edel und
schön die Grafentochter war – und König Artus erinnerte sich an seinen Jagdpreis: Er küßte Enite auf den roten Mund. Erec strahlte: Er hatte seinen ersten Kampf mit großem Ruhm bestanden und sich eine schöne Frau erworben! Nun setzte er sich stolz neben Gawan und die anderen Helden der Tafelrunde, und sogar Herr Keie lächelte ihm wohlwollend zu. Ungeduldig drängte Erec auf die Hochzeit – er mochte keinen Tag länger ohne Enites ständige Gegenwart sein, und auch sie sah ihn so verliebt und sehnsüchtig an, daß Artus und Ginevra beschlossen, die Hochzeit rasch zu feiern. Von weither kamen die Gäste, denn Artus hatte Könige und Fürsten, Ritter und Damen aus allen Landen eingeladen; nicht nur, weil ihm Erec besonders lieb war, sondern um wieder einmal bei einem prächtigen Fest den Glanz des Artushofs zu zeigen. Da ritten sie heran – auf schwarzen und auf weißen Pferden, mit schön geschmückten Frauen. Fast alle trugen zum Zeichen, daß es zu einem Fest und nicht zum Kriege ging, einen Falken oder einen Sperber auf der Hand, und vor allem die jungen Ritter nahmen die Gelegenheit wahr, unterwegs mit ihren Raubvögeln Rebhühner und Hasen, Fasanen und Trappen zu jagen, so daß tagelang kein Vogel mehr in der Gegend zu finden war. Die Hochzeit wurde mit großer Pracht gefeiert. Spielleute unterhielten die Gäste. König Artus hatte Boten rundum geschickt und Fiedler und Sänger eingeladen, aber es kamen auch noch viele ungebeten, die von dem großen Fest gehört hatten, und es wird erzählt, daß dreitausend Spielleute am Artushof versammelt waren, ihre Lieder vortrugen, zum Tanze aufspielten, mit Feuerfressen und Seiltanzen die Versammelten unterhielten. Sie alle durften sich wohl freuen: Wein und köstliche Speisen gab es genug für sie, jeder erhielt kostbare Geschenke, und mancher ritt auf einem Pferd davon, der mühselig zu Fuß gekommen war. Als die Gäste sich wieder
zerstreuten, trugen sie den Ruf von Artus’ Freigebigkeit in alle Lande, und das war ihm recht. Mehr als vierzehn Tage dauerte das Hochzeitsfest von Erec und Enite! In allem Glück vergaß Erec aber nicht Enites Vater: Er ließ ihm als Geschenk von Artus zwei Maultiere mit kostbaren Geräten und herrlichen Gewändern schicken und sandte seinem Vater, dem König Lac, einen Boten mit der Bitte, den Grafen in seinem Land aufzunehmen… und ihm drei ertragreiche Güter zu verleihen. So kam Enites Vater wieder zu Ehren und beschloß sein Leben in behaglichem Reichtum. An das Fest schloß sich ein großes Turnier an, denn die Ritter, die von weither gekommen waren, brannten darauf, ihren Mut und ihre Kraft zu zeigen. Erec besah sich die Rüstung, die er von Enites Vater erhalten hatte, und meinte, sie sei wohl doch nicht prächtig genug für ein großes Turnier! Deshalb bat er ganz bescheiden König Artus, ihm zu besseren Waffen zu verhelfen und bekam auch wunderbare Sachen, Helm und Harnisch glänzten, die Speere wurden mit bunten Fähnchen geschmückt, ein Ärmel von Frau Enite zierte den Schild. Als sich die Ritter von den Damen verabschiedeten, um zum Turnierplatz zu reiten, war wohl kaum einer so strahlend schön wie der junge Erec. Beim Turnier zeichnete er sich mannhaft aus; von den Rittern, die seines Alters waren, kam ihm keiner gleich, und Gawan, Artus’ herrlichster Held, beglückwünschte ihn freundlich: „Jetzt hast du alles, was zum Ritter gehört: Du hast dich tapfer gezeigt, du hast sogar mit bloßem Kopf gekämpft und alle Gegner besiegt. Ich glaube, Erec, du wirst einer der berühmtesten Ritter aus der Tafelrunde werden.“ Frau Enite freute sich herzlich über das Lob, das ihrem Manne galt, aber sie dachte doch besorgt: „O weh, wenn er so kühn und kampfbegierig ist und sogar im Streit vergessen kann, seinen Helm aufzusetzen, werde ich vielleicht nicht lange froh sein dürfen. Erec wird in die Welt ziehen und nach
Abenteuern suchen, und wie leicht kann er dabei sein Leben verlieren!“ Aber sie wußte ja, daß ein junger Ritter sich nicht seiner Frau zuliebe von Abenteuern zurückhalten ließ, und hoffte, daß er immer wieder heil zu ihr zurückkehren werde. Nach dem Turnier nahmen Erec und Enite Abschied von König Artus: Er wollte heim in das Reich seines Vaters, den er seit seinen frühen Kindertagen nicht mehr gesehen hatte. Mit Geschenken reichlich ausgerüstet, ritt er in Begleitung von sechzig Knappen, die er angeworben hatte, davon, und jeder sah das glückliche Paar ungern scheiden. Mit großer Freude hatte König Lac die Botschaft erhalten, daß sein Sohn heimkehren wolle. Er empfing ihn mit allen Ehren und einem Geleit von fünfhundert Lehnsleuten. Selbst hob er Frau Enite vom Pferd: „Gesegnet sei der Tag, an dem du in dies Land kommst!“ Glücklich sah er vom Sohn zur Schwiegertochter: Ein so schönes Paar sollte ihm wohl gefallen! Und als das Fest der Heimkehr gefeiert wurde, übergab er Erec sein Land und seine Krone. Als König herrschte nun Erec über das Reich seiner Väter.
Erecs Wandlung
Am Hofe von Karnant – so hieß die Stadt, in der Erec nun mit Enite lebte – war alles zu einem bequemen Leben vorhanden. Die Diener und Mädchen taten willig ihre Arbeit, die Bauern lieferten Korn, Fleisch und Geflügel, alles ging seinen geregelten Gang. Und da die Lehnsleute ihrem Herrscherhause treu zur Seite standen, gab es für Erec nicht viel zu tun. Um so mehr Zeit widmete er seiner jungen Frau, ja, er mochte sich zu keiner Stunde des Tages von ihr trennen. Was sie gefürchtet
hatte, traf nicht ein: Erec war sein junger Ruhm gleichgültig geworden, er ritt auf kein Turnier, er dachte nicht daran, Abenteuer in der weiten Welt zu suchen. Wenn schon die Morgensonne längst in sein Schlafgemach schien, erhob er sich endlich, ging mit Enite in die Burgkapelle, hörte die Messe und kehrte mit ihr ins Frauengemach zurück. Tausend schöne Worte erfand er täglich für seine Frau, immer neue Kostbarkeiten suchte er heraus, um sie zu schmücken. Wenn seine Ritter ihn baten, ihnen die Ausrüstung für ein Turnier zu geben, schenkte er mit vollen Händen, aber wenn sie ihn dann fragten, ob er nicht mit ihnen ziehen wolle, klopfte er ihnen lachend auf die Schulter: „Mein Freund, ich habe Besseres zu tun! Heute will mir meine Frau Enite einen neuen Reigen beibringen, und morgen kommt der Harfner und lehrt mich das Harfenspiel! Reitet mit Gott und schlagt euch tapfer!“ Das gefiel nun aber seinen Leuten ganz und gar nicht. Wo war denn Erecs Kühnheit geblieben? Hatte er nicht gezeigt, daß er einer der besten Streiter war? Wollte er jetzt auf Ruhm und Ehre verzichten und nur einer Frau noch gefallen? Da fiel manch ein böses Wort im geheimen: „Es war ein schlimmer Tag, als Erec unserer Gebieterin begegnete! Sie hat ihn verzaubert, er ist kein rechter Ritter mehr, er ist ein Weiberheld geworden!“ Wie es zu gehen pflegt, kamen auch Frau Enite solche Worte zu Ohren, und sie kränkte sich sehr und konnte sich nicht mehr darüber freuen, daß Erec bei ihr blieb, statt auf Turniere zu reiten. Oft seufzte sie, wagte aber nicht, ihrem Gemahl den Kummer anzuvertrauen. Doch einmal nachts, als der Mond auf Erec schien und sie ihm im Schlafe selig lächelnd sah, flüsterte sie: „Du armer Mann! Deine Ritter werden dir untreu, am Ende wirst du nur noch mich haben! Und ich Arme! Sie verwünschen mich.“
Da wachte Erec auf und fragte, was Enite gesagt habe. Sie wollte es gern verschweigen, aber er bestand darauf, daß sie ihre Klage wiederhole. Er antwortete kein einziges Wort, legte sich wieder hin, schlief aber nicht mehr, und auch Enite fand keine Ruhe und bedachte sorgenvoll, was Erec wohl nun tun werde.
Erec straft Enite
Am anderen Morgen erhob sich Erec viel früher als sonst, jagte die Knappen aus dem Schlaf und befahl ihnen, zwei Pferde zu satteln, seine Rüstung zu putzen und seine Waffen bereitzulegen. Frau Enite mußte ihr bestes Gewand anziehen und ihr Pferd besteigen. Er trug unter seinem Mantel den Harnisch und den Helm in der Hand: „Der Helm muß ausgebessert werden, die Lederbänder sind gerissen“, behauptete er, als Enite ihn verwundert ansah. Dann schickte er die Knappen in die Burg zurück und ritt mit Enite davon. Draußen vor den Toren von Karnant hielt er an: „Enite, jetzt reite vor mir her, als wenn du mein Knappe wärst. Sprich kein Wort zu mir, was auch immer kommen mag, was du auch hörst oder siehst. Es gilt dein Leben.“ Er sah sie so drohend an, daß sie tief erschrak und keine Frage wagte. Sie spornte ihr Pferd, und in weitem Abstand folgte ihr Erec. Der Ritt führte sie durch einen tiefen düsteren Wald. Plötzlich sah Frau Enite weit vor sich drei finstere Gestalten, bewaffnet mit Keulen und langen Spießen. „O weh“, dachte sie, „das sind gewiß Räuber!“ Sie blickte sich nach Erec um, aber der schien nichts zu bemerken, Enite beobachtete, wie die Räuber sich hinter dicken Bäumen versteckten, um die Reiter
zu überfallen, und sie hörte, wie einer von ihnen sagte: „Das gibt reiche Beute!“ Was sollte sie tun? Sie winkte ihrem Mann zu, sie machte flehende Gebärden, aber er achtete nicht darauf. Da beschloß sie, sein Gebot zu übertreten und ihn zu warnen: „Wenn er mich dafür bestrafen will, mag er es tun. Das ist immer noch besser, als wenn ihn die Räuber erschlagen!“ Und sie rief ihm zu: „Lieber Herr, siehst du nicht die Räuber vor uns? Mach dich bereit, sie werden dich überfallen!“ Erec blickte finster auf und zog sein Schwert aus der Scheide. Schon sprang ihn der eine Räuber mit erhobener Keule an: „He! Jetzt ist es um Euch geschehen!“ Aber ehe er losschlagen konnte, fuhr ihm Erecs Schwert durch den Leib, so daß er ächzend zusammensank. Die beiden anderen rannten davon, so schnell sie ihre Füße trugen. Da wandte sich Erec an seine Frau: „Was fällt dir ein, mein Gebot zu übertreten? Habe ich nicht gesagt, daß du kein Wort mit mir sprechen sollst? So seid ihr Frauen: Was man euch verbietet, müßt ihr natürlich gerade tun! Jetzt nimm dich aber zusammen und reize nicht meinen Zorn! Es könnte sein, daß mir das Schwert locker in der Scheide sitzt, wenn du noch einmal das Wort an mich richtest!“ Enite war nur froh, daß sie ihren Liebsten gerettet hatte. Sie zogen weiter – Enite voran, in großem Abstand Erec hinterher. Es war eine böse Gegend, durch die sie kamen – nach einiger Zeit bemerkte Enite fünf wilde Gestalten zu Pferde, die ihnen offenbar auflauerten, und wieder sah Erec sie nicht, und wieder verstand er nicht die Winke, mit denen sie ihn warnen wollte. „Ach Gott, ich arme Frau! Wenn er jetzt nicht merkt, welche Gefahr ihm droht, wird er sicherlich erschlagen – gegen fünf Räuber kann er sich doch nicht zur Wehr setzen! Ich muß ihn warnen!“ Sie ritt zurück und bat: „Herr, gib acht! Siehst du denn nicht die fünf Räuber da vorn?“
Erec zog das Schwert und spornte sein Pferd. Er ritt den ersten Räuber nieder, den zweiten traf er am Halse, den dritten durch den Leib, dem vierten und dem fünften schlug sein Schwert den Kopf ab – die Räuber waren nicht einmal dazu gekommen, ihn auch nur zu verwunden. Dann wandte sich Erec an seine Frau: „Du hast keinen Gehorsam, scheint mir. Mit dir bin ich schwer gestraft. Ich werde es dich büßen lassen: Von jetzt an wirst du die Pferde striegeln und füttern, als wenn du mein Knecht wärst. Und machst du es nicht ordentlich, dann strafe ich dich auch wie einen Knecht! Wenn einem Pferd etwas zustößt, wirst du meinen Zorn kennenlernen.“ Er gab ihr die Zügel der Räuberpferde in die Hand, und so mußte die arme Enite jetzt sechs Pferde leiten! Die Aufgabe war wirklich fast zu schwer für sie, aber die Tiere schienen zu fühlen, daß Frau Enite Kummer hatte und ließen sich willig von ihr lenken. Inzwischen war es ganz dunkel geworden, und der Wald nahm immer noch kein Ende, kaum konnten sie den Weg erkennen. Müde saß Enite auf ihrem Pferd und hörte nichts als das Rauschen der Bäume und das Getrappel der Pferdehufe.
Enites List
Sie ritten die ganze Nacht hindurch und kamen am anderen Morgen aus dem Wald. Vor ihnen lag eine kleine, von einer Burg gekrönte Stadt, und Erec beschloß, hier endlich Rast zu machen. Ein Knappe kam ihnen entgegen. Er trug einen Krug mit Wein und einen Korb, in dem frisches Brot und schöne Früchte lagen. Als er die erschöpfte Dame auf dem Pferde sah
und bemerkte, daß sie die Zügel von fünf weiteren in der Hand hielt, tat sie ihm sehr leid. Freundlich redete er Erec an: „Herr, ruft doch Eure Dame zurück, die da vorn reitet! Ich möchte Euch gern geben, was ich hier bei mir habe, mir scheint, Ihr könnt es wohl gebrauchen! Ihr seid sicher fremd hier, und mein Herr wird es sich zur Ehre anrechnen, wenn Ihr seine Gäste sein wollt.“ Erec war einverstanden, der Knappe lief zu Enite, führte ihre Pferde zurück und half ihr beim Absteigen. Am Wegrande im schönen grünen Gras breitete er ein Leintuch aus und legte seine Gaben hübsch zurecht, und weil er ein sehr gut erzogener Knappe war, rannte er zum Bach, schöpfte seinen Hut voll Wasser und bot ihn den beiden, damit sie sich die Hände waschen konnten. Nach dem Mahl, das ihnen köstlicher als alles schmeckte, was sie in Karnant genossen hatten, bot Erec dem Knappen ein Pferd an: „Nimm dir, welches dir am besten gefällt. Ich kann dir jetzt nichts anderes für deine Freundlichkeit bieten.“ Der Knappe freute sich sehr, suchte sich ein Roß aus und meinte dann, daß er gern die übrigen Pferde in die Burg führen werde. „Der Dame wird es doch zuviel, laßt mich nur helfen!“ Aber Erec sagte: „Das geht nicht an. Sie muß diesen Dienst verrichten.“ Mitleidig blickte der Knappe auf die schöne Frau, die ihm freundlich zulächelte, dann dankte er noch einmal, schwang sich auf sein Pferd und ritt in die Burg, um seinem Herrn zu melden, daß ein fremder Ritter mit seiner Dame des Wegs daher käme. „Herr, eine so schöne Frau habt Ihr noch nie in unserer Burg gesehen. Wollt Ihr die beiden nicht zu Gaste laden?“ Der Herr ging vors Tor und den beiden entgegen. Er grüßte sie höflich und lud sie ein, sich auf seiner Burg von dem langen Ritt auszuruhen. Aber Erec sprach:
„Wir sind müde und staubig und sicher keine gute Gesellschaft für Euch. Habt Dank für die Einladung, aber wir möchten sie heute nicht annehmen, sondern uns nur ein wenig erholen und dann gleich weiterziehen.“ Der Burgherr nahm Abschied, und Erec und Enite suchten ein Wirtshaus auf, wo sie sich mit einem Bad erfrischten und speisen konnten; aber Enite durfte nicht mit ihrem Mann an einem Tisch essen und mußte es dulden, daß ihr die Wirtsleute mitleidige und verwunderte Blicke zuwarfen. Dem Burgherrn aber ging die schöne Frau nicht aus dem Sinn, ja, er war so von dem Gedanken an sie besessen, daß er allen Anstand vergaß und nur darüber nachdachte, wie er sie für sich gewinnen könne. Schließlich brach er mit drei Rittern auf und ging den beiden in ihre Herberge nach. „Herr“, sprach er zu Erec, „wollt Ihr mir nicht sagen, warum Eure Frau für sich allein speisen muß? Und warum sie die Pferde führt? Mir scheint, daß das eine schlimme Kränkung ist!“ „Ich will es so“, antwortete Erec kurz. „Erlaubt Ihr mir dann, daß ich ihr Gesellschaft leiste?“ „Das mögt Ihr tun, ich habe nichts dagegen…“ Der Burgherr und seine Ritter baten die Dame höflich, sich zu ihr setzen zu dürfen, und da sie sah, daß es Erecs Wille war, erlaubte sie es. Der Mann rückte seinen Stuhl immer näher zu Enite und flüsterte dringend auf sie ein: „Herrin, es ist eine Schande, daß Ihr so unwürdig behandelt werdet! Ihr könntet eine Königin sein, so schön und edel scheint Ihr mir. Wirklich, Euer Ritter ist ein schändlicher Mann! Warum wollt Ihr ihm folgen? Kommt zu mir auf meine Burg! Ich habe keine Frau, noch nie hat mir eine so gefallen, daß ich sie gern geheiratet hätte. Aber Euch möchte ich zur Herrin dieses Landes machen. Ich besitze große Ländereien,
und auf meiner Burg sollt Ihr so geehrt werden, wie Ihr es verdient!“ Sie antwortete: „Was ich hier erdulde, ist eine Strafe, die mein Gemahl mir auferlegt hat. Ich will sie ertragen und bei ihm bleiben. Wenn wir auch arm sind, so wünsche ich mir doch nichts anderes, als meinem Mann zu folgen und seinen Willen zu erfüllen.“ Der Burgherr ließ nicht nach: „Wenn Ihr nicht freiwillig mit mir kommen wollt, werde ich Euch zwingen! Ich nehme Euch mit Gewalt zu mir. Mit Eurem Mann werde ich leicht fertig, und es ist mir gleich, ob er dabei sein Leben verliert oder allein weiterzieht. Ich will Euch!“ Seine Augen blitzten, seine Hand ballte sich. Frau Enite erschrak: Sollte Erec nun um ihretwillen in die schlimmste Gefahr geraten? Wie konnte sie ihm nur helfen? Sie sah wohl, daß der Mann zum Schwert greifen würde, um sie zu erringen. Aber sie war nicht nur eine gehorsame Frau, sie war auch klug und listig. Deshalb erfand sie rasch eine Geschichte: „Herr, wenn Ihr mich aus den Händen des Ritters erlösen wollt, wie lieb wäre mir das! Er hat mich geraubt, als ich noch fast ein Kind war. Mit Gewalt riß er mich aufs Pferd und zog mit mir davon. Nun können wir uns nirgends blicken lassen, weil mein Vater uns verfolgt. Ich muß mit dem Mann einsam und elend durch die Lande ziehen, immer auf der Flucht vor den Leuten meines Vaters. Und es ist mir nicht gelungen, ihm zu entkommen, so scharf bewacht er mich bei Tag und Nacht. Wenn Ihr es ehrlich mit mir meint, befreit mich doch aus der Gewalt meines Entführers!“ Da lachte der Burgherr: „Das habe ich mir doch gedacht, daß ein so gewöhnlicher Mann nicht auf ehrenhafte Weise zu einer so edlen Frau gelangt! Ich schwöre Euch, daß ich Euch befreien werde!“ Und seine Hand griff zum Schwert. „Nicht jetzt, Herr“, warf Frau Enite hastig ein. „Wollt Ihr denn hier im Wirtshaus Streit beginnen? Mein Entführer hat
sein Schwert bei sich und ist ein starker Kämpfer. Ich möchte aber nicht, daß Ihr verwundet werdet! Hört meinen Rat: Heute nacht verstecke ich das Schwert des Mannes, und morgen vor Tagesgrauen, wenn er noch im tiefen Schlaf liegt, kommt Ihr, mich zu holen.“ „Ihr seid eine kluge Frau“, sprach der Mann. „Ich will alles so machen, wie Ihr es Euch ausgedacht habt. Morgen vor Tagesgrauen komme ich, um Euch auf meine Burg zu holen. Ich verspreche Euch ein herrliches Leben.“ Er verabschiedete sich, verneigte sich in trügerischer Höflichkeit vor Erec und verschwand mit seiner Begleitung. In dieser Nacht lagen sie beide wach, Enite und Erec, sie in schwerer Sorge, er, weil er über das brütete, was er gehört, aber nicht verstanden hatte: Wollte ihn Frau Enite verlassen? Endlich hielt sie es nicht mehr aus, warf sich vor sein Bett in die Knie und bat: „Verzeih mir, daß ich wieder dein Gebot übertrete! Es soll das letztemal sein, aber es ist nötig.“ Dann berichtete sie ihm, welche List sie angewandt hatte und flehte: „Laß uns hier fortziehen!“ „Steh auf“, sagte Erec nur, holte den Wirt, dem er als Entgelt für die Unterkunft die Räuberpferde schenkte und befahl ihm, Enites und sein Roß zu satteln. Mitten in der Nacht ritten die beiden davon. Der Burgherr hatte sich zufrieden schlafen gelegt: „Hei, morgen gewinne ich die schönste Frau!“ Als er erwachte, graute bereits der Tag. Fluchend über seinen langen Schlaf warf er sich in die Rüstung, schrie nach Knappen und Gefolge und jagte auf das Wirtshaus zu. Zwanzig schwer bewaffnete Männer waren es, die Enite holen wollten. Als er ans Wirtshaus kam, sah er Lichter brennen und wunderte sich, daß nicht alles noch im Schlafe lag. Er ahnte Böses und trat mit einem Fluch in die Tür ein. Erschrocken lief der Wirt herbei.
„Was ist hier los? Warum brennen die Lichter? Wo sind deine Gäste?“ „Sie sind fort, Herr“, antwortete der Wirt zitternd vor Angst. „Sie sind fort? Ich Dummkopf, warum hab’ ich so lange gewartet! Wo sind sie hin?“ „Ich weiß es nicht, Herr.“ „Wann sind sie aufgebrochen?“ „Vor einer Stunde, Herr.“ Er setzte dem Wirt die Schwertspitze auf die Brust: „Gestehe, wohin sie geritten sind!“
Der Wirt sank jammernd in die Knie: „Ich weiß es nicht, sie sind im Dunkeln verschwunden!“ Fluchend wandte sich der Mann ab und schrie seine Gefährten zusammen: „Sobald es heller wird, sucht nach Spuren. Ich muß diesen Leuten nach, ich will die Frau haben! Daß ich die Zeit verschlafen habe, ist die größte Dummheit meines Lebens! Mein Glück hab ich damit verspielt! Und die arme Frau bleibt weiter in der Gewalt des rohen Entführers!“ Als es hell wurde, entdeckten sie rasch die Spur und setzten den beiden Entkommenen nach. Wieder ritt Frau Enite weit vor ihrem Mann. Da hörte sie von fern Hufgetrappel und ahnte gleich, daß es der Burgherr mit seinen Leuten sei, der sie holen wollte. Sie blickte sich nach Erec um, der finster und stolz hinter ihr her ritt. Er konnte bei dem Klirren seiner Rüstung und seiner Waffen die Verfolger nicht hören, und Frau Enite wußte keinen anderen Ausweg, als wieder sein Gebot zu übertreten und ihm zuzurufen: „Sieh doch hinter dich! Wir werden verfolgt!“ Erec wandte sein Pferd, zückte das Schwert und erwartete die Verfolger. Schon von weitem schrie ihm der Burgherr entgegen: „Elender Kerl, jetzt hab ich dich! Jetzt wird die edle Frau aus deiner Gewalt befreit! Jeder sieht doch sofort, daß du nicht zu ihr paßt, du Landstreicher!“ „Wie nennt Ihr mich? Was fällt Euch ein!“ Und schon schlugen sie mit den Schwertern aufeinander; ehe noch die anderen Verfolger heran waren, hatte der Burgherr schon einen Hieb in die Seite erhalten, daß er ächzend vom Pferd sank. Erec kämpfte verbissen gegen die anderen, sechs von ihnen verwundete er, die anderen ließen ihre Gefährten feige im Stich und machten, daß sie davonkamen. Erec befürchtete, daß die Bewohner des Landes ihren Herrn rächen würden, gebot Frau Enite, das Pferd zu spornen und ritt eilig mit ihr weiter. Aber niemand verfolgte sie. Da hielt er
schließlich sein Pferd an und schalt Enite: „Der Tag ist erst wenige Stunden alt, und schon hast du zweimal mein Gebot übertreten! Kannst du denn nicht schweigen? Wann wirst du endlich Gehorsam lernen?“ Sie versprach, künftig den Mund zu halten – aber sie hielt ihr Versprechen dann doch nicht.
Neue Gefahr
Der Weg, den die beiden aufs Geratewohl einschlugen, führte sie in das Land eines mächtigen Königs, dessen Tapferkeit hoch gerühmt war – man sah ihm aber nicht an, daß er kampfbegierig und kühn war, denn er war fast wie ein Zwerg gewachsen, mit kurzen Beinen und plumpem Oberkörper. Auf diesen Mann stießen Erec und Enite. In voller Rüstung verlegte er ihnen den Weg, grüßte aber höflich und hieß die Fremden willkommen: „Ich sehe, daß Ihr von hoher Geburt seid, Herr. Denn wer würde eine so edle Dame einem Mann von niedrigem Rang anvertrauen? Zeigt, daß Ihr ein Ritter seid, und stellt Euch mir zum Zweikampf!“ Erec war allmählich der vielen Kämpfe müde und sagte nur verächtlich: „Mit Euch zu streiten brächte mir wohl wenig Ehre ein. Gebt mir den Weg frei!“ „Dann habe ich mich in Euch geirrt. Ich hielt Euch für einen Mann, der keinem Kampf aus dem Wege geht.“ „Warum habt Ihr mich willkommen geheißen, wenn Ihr jetzt mit mir kämpfen wollt?“ fragte Erec müde. Der andere hielt ihn für einen Feigling. „Ich habe Euch willkommen geheißen, weil ich glaubte, daß ein tapferer Ritter gern einen Kampf ausficht zu seiner eigenen Ehre.“
Erec erkannte, daß er streiten müsse, wandte sein Pferd und ritt mit eingelegtem Speer auf den Gegner los. Schon beim ersten Stoß zerbrachen die Speere der beiden, sie saßen ab und kämpften zu Fuß mit ihren Schwertern. Das war ein langer Kampf! Immer heißer brannte die Sonne, und noch schien keiner der beiden ermattet zu sein, denn Erec verlieh die Sorge, hier sein Leben zu verlieren und Enite einem Fremden ausliefern zu müssen, neue Kräfte. Aber er schlug nicht blindlings darauf los. Er deckte sich eine Weile hinter seinem Schild – weshalb sein Gegner ihn wieder für einen Feigling hielt – ohne selbst dreinzuschlagen, empfing dabei zwar eine Wunde, die Frau Enite aufschreien ließ, aber als sein Gegner nun sorglos wurde und sich selbst nicht mehr genügend schützte, gelang es Erec, ihm mit einem scharfen Streich durch den Helm zu hauen, so daß der kleine Ritter verwundet zusammenbrach. Erec war so wütend, daß er ihn fast erschlagen hätte, aber der Kleine rief: „Nein, Herr! Warum wollt Ihr mich töten? Ihr habt wacker gekämpft, mein Tod würde Euch keine Ehre, nur Schande einbringen. Ihr seid der erste, der mich besiegt hat – laßt mich Euer Vasall sein! Mir ist es gleich, aus welchem Hause Ihr seid, Eure Art zu kämpfen beweist mir, daß ich mich Euch ruhig unterwerfen kann.“ Erec reichte dem Gegner die Hand und half ihm auf die Füße. „Ich verlange nur eines von Euch: Nennt mir Euren Namen.“ „Ich heiße Giwreiz der Kleine, bin König über dieses Reich und bereit, mein Land jetzt von Euch zu Lehen anzunehmen.“ Erec verzichtete darauf. Die beiden verbanden einander ihre Wunden mit Stoffstreifen, die sie von Enites Mantel abrissen, setzten sich alle drei ins Gras und unterhielten sich freundschaftlich. Der Kleine fragte: „Herr, jetzt nennt mir auch Euren Namen. Ich möchte wissen, wer der Mann ist, der mich besiegt hat, und seid gewiß, ich werde überall Euren Ruhm verbreiten.“
Als er erfuhr, daß Erec der Sohn Königs Lacs war, sprang Giwreiz auf die Füße: „So bin ich erst recht froh! Euren Vater kenne ich gut als einen tapferen Herrn, und ich freue mich, daß sein Sohn ihm nicht nachsteht! Jetzt tut mir die Liebe und reitet mit mir auf mein Schloß, damit ich Euch dort bewirten und für Eure edle Frau sorgen kann.“ Erec nahm die Gastfreundschaft gern an, erklärte aber sogleich, daß er am anderen Morgen weiterreiten müsse. „Wir sind nicht zum Vergnügen unterwegs. Versucht bitte nicht, uns aufzuhalten, wir müssen weiter.“ So geschah es denn auch. Giwreiz sorgte für die Bequemlichkeit seiner Gäste und ließ sie am anderen Morgen betrübt davonziehen.
Herr Keie sucht ein Abenteuer
Erec und Enite kamen auf ihrem Ritt durch einen Wald, der in der Nähe von Artus’ Burg Tintajol lag, aber sie ahnten nicht, wie nahe sie den Freunden waren. An diesem Morgen ritt Herr Keie, König Artus’ Oberhofmeister, allein durch die morgendlichen Felder. Er hatte sich dazu Gawans Lieblingspferd, eines der besten, die man je am Artushof sah, geliehen und war guter Dinge. Da sah er eine Dame reiten und hinter ihr einen Ritter, dem anzumerken war, daß er schwere Kämpfe bestanden hatte, denn Schild und Helm waren zerhauen, ein Verband bedeckte Arm und Seite. Herr Keie dachte sich: „Den Ritter nehme ich mit zu König Artus. Ich werde erzählen, daß ich ihm die Wunden geschlagen habe, dann wird man mich endlich einmal
bewundern.“ Das war ein törichter Plan, wie er Keie kaum anstand! Er ritt auf den Fremden zu, ergriff dessen Pferd am Zügel und sagte sehr freundlich: „Herr, Ihr habt sicher einen langen Weg hinter Euch. Kommt mit mir zu meinem König, er wird Euch wohl aufnehmen, denn er freut sich über jeden tapferen Mann, der sein Gast sein will.“ Erec erkannte Keie nicht, der zwar keine Rüstung, aber doch seinen Helm trug, und er hatte wenig Lust, der Einladung des Fremden zu folgen. Er antwortete also: „Ich danke Euch, aber ich kann Euch nicht folgen. Laßt mich ungeschoren weiterreiten.“ „Nein, Herr, ich hab es mir nun in den Kopf gesetzt, daß Ihr Gast meines Königs sein sollt. Folgt mir bitte.“ „Wenn Ihr das wollt, dann müßt Ihr mich schon zwingen“, meinte Erec spöttisch. „Und das werde ich auch! Ich werde Euch mitnehmen, aber habt keine Sorge, es wird Euch von mir nichts Böses geschehen.“ Allmählich wurde der Wortstreit Erec zu dumm, er zog sein Schwert und hob es drohend. „Ach“, dachte Herr Keie, „so war es doch nicht gemeint“, wandte sein Pferd und wollte rasch von dannen. Erec setzte ihm nach, doch da Keie keine Rüstung trug, steckte er das Schwert wieder in die Scheide, nahm aber den Speer zur Hand und versetzte Keie einen heftigen Stoß, so daß dieser vom Pferd fiel. Erec nahm das Pferd am Zügel und wollte es mit sich führen. Da rannte ihm Keie laut schreiend nach: „Herr, laßt mir doch das Pferd! Es gehört ja nicht mir! Ich muß es doch zurückgeben!“ Erec lachte: „Wer seid Ihr denn eigentlich? Nennt mir doch endlich Euren Namen. Warum führt Ihr Euch so sonderbar auf?“ „Ach, bitte, verzichtet auf meinen Namen. Ich habe mich wirklich dumm benommen, und es reut mich schon sehr. Wenn
Ihr meinen Namen wißt, könnt Ihr meine Schande in aller Welt erzählen. Seid großmütig, Herr, verzichtet darauf.“ „Ich habe es nicht nötig, mich mit dieser Begegnung zu brüsten. Nennt mir nur Euren Namen.“ Seufzend sprach Keie: „Ich bin der Truchseß des mächtigen Königs Artus, Keie nennt man mich. Der edle Gawan hat mir sein Roß geliehen, ihm möchte ich es zurückgeben. Ach, wenn ich es nur nicht bekommen hätte! Dann wäre mir dieses dumme Abenteuer auch nicht zugestoßen.“ Erec reichte ihm die Zügel von Gawans Pferd. „Bring es Herrn Gawan in meinem Auftrag zurück.“ „Und wer seid Ihr? Wollt Ihr mir jetzt nicht auch Euren Namen verraten?“ „Nein, Ihr werdet ihn vielleicht später erfahren. Jetzt geht mit Gott und grüßt Gawan von dem unbekannten Ritter.“
König Artus greift ein
Keie kam ziemlich kleinlaut an den Hof zurück, richtete aber getreulich aus, was ihm der Fremde aufgetragen hatte, und erzählte von der Begegnung gerade soviel, daß es wie ein guter Scherz klang, über den alle lachten. König Artus wollte nun wissen, wer der Fremde wohl sein könne. „Ich habe ihn nicht erkannt, aber seine Stimme war mir vertraut. Vielleicht war es Erec?“ Da freute sich Artus: „Das wäre eine gute Nachricht, Keie! Aber Erec wollen wir doch nicht so davonziehen lassen! Gawan, reite ihm nach mit Keie, versucht, wenn er es ist, ihn dazu zu bewegen, uns aufzusuchen.“
Gawan ritt also los – etwas vorsichtiger folgte ihm Herr Keie. Als sie Erec eingeholt hatten, redete Gawan ihn freundlich an, die beiden erkannten sich und umarmten sich, glücklich, einander nach so langer Zeit wiederzusehen. Aber auch Gawan schlug Erec die Bitte ab, mit Enite an den Hof zu kommen: „Wir sind keine gute Gesellschaft für einen fröhlichen Hof! Laßt uns jetzt unserer Wege ziehen, später mögen freundlichere Tage kommen, und dann will ich bei niemandem lieber zu Gast sein als bei König Artus. Grüßt ihn und Frau Ginevra!“ Gawan gab Keie leise den Auftrag, zurückzureiten und Artus zu bitten, mit großem Gefolge an das andere Ende des Waldes zu ziehen und dort die Reisenden abzufangen. Er hielt Erec lange mit Erzählungen und vielen Fragen auf, um sein Weiterreiten zu verzögern. Dann nahm er Abschied und lachte in sich hinein: „Du entgehst uns nicht, mein Freund! Wenn wir einen Gast an unsere Tafel ziehen wollen, wissen wir auch, wie wir es anfangen müssen!“ So kam es, daß Erec, als er aus dem Wald ritt, auf eine große ritterliche Gesellschaft stieß, die ihn mit lauter Fröhlichkeit empfing. Da freute er sich doch, sein finsterer Unmut schwand dahin, und für einen Tag und eine Nacht blieben Erec und Enite als verwöhnte und geehrte Gäste im Kreise der Artusrunde. Frau Enite ließ sich von Ginevra trösten: „Was Erec jetzt über Euch verhängt hat, ist schändlich, und Ihr habt es nicht verdient. Aber seid nur geduldig und fügt Euch: Er wird einsehen, daß er Euch Unrecht tut!“ Ginevra, die sich auf die Heilkunde verstand, versorgte Erec mit einem wundertätigen Pflaster, das seine Wunden schnell heilte. So war Erec doch froh, bei Artus eingekehrt zu sein. Erec und Enite ritten davon, als der Morgen anbrach.
Der Kampf mit den Riesen
Wohin wollte Erec? Er wußte es selbst nicht. Der Vorwurf, kein rechter Ritter mehr zu sein, nagte unablässig an seinem Herzen und trieb ihn in die Welt, Abenteuer zu suchen. Es war ihm nur recht, daß Enite die Gefahren sah, in die er immer wieder geriet, denn hatte sie ihm nicht den Tadel seines Gefolges überbracht? So zogen sie dahin, sprachen kein Wort miteinander und waren gewiß nicht froh. Hätte Enite nicht von Ginevra ein neues Kleid und einen prächtigen Mantel erhalten, dann wäre sie wohl allmählich so zerlumpt gewesen wie damals, als Erec sie auf der Burg ihres Vaters gefunden hatte. Aber ihre Schönheit litt nicht unter den Entbehrungen und dem Kummer, und keiner, der sie sah, vergaß je die schöne Frau Enite. Vor einem großen Wald stießen sie auf eine Frau, die wie von Sinnen schrie, sich die Haare raufte und ihr Gesicht zerkratzte. Erec stieg vom Pferd, nahm ihre Hände in die seinen und fragte freundlich nach ihrem Kummer. „Ach, zwei Riesen haben meinen Freund verschleppt, und sie martern ihn zu Tode!“ Erec fragte, wohin die Riesen ihr Opfer gebracht hätten. Sie deutete nur schluchzend auf den finsteren Wald. Da befahl Erec seiner Frau, abzusteigen und sich am Waldrand verborgen zu halten, er wollte den Riesen nach. Sie weinte bitterlich und hätte ihn gern zurückgehalten, sprach aber kein Wort. Erec fand schnell die Spuren des Riesen und hatte die Kerle bald vor sich. Grobe, ungeschlachte Gestalten waren es, mit eisernen Nägeln hatten sie ihre Keulen beschlagen.
Sie führten ihren Gefangenen zwischen sich, hatten ihn ausgezogen, ihm die Hände zusammengebunden und seine Füße unter dem Pferd verschnürt. So ritt der Arme dahin, mußte von Zeit zu Zeit heftige Peitschenhiebe erdulden, und das Blut lief in Bächen über ihn und sein Roß. Erec rief den ersten Riesen an: „Was tut Ihr hier? Was hat Euch der Mann getan, daß Ihr ihn so straft?“ „Was geht dich das an, du Wicht! Mach, daß du wegkommst, sonst geht es dir genauso. Rennst uns wie ein Hund hinterher – sollen wir dich wie einen Hund behandeln?“ Und roh klang sein Lachen durch den Wald. Erec fürchtete sich zwar, überwand aber die Angst und rief: „Wenn Ihr den Mann nicht sofort herausgebt, macht Ihr Bekanntschaft mit dem Schwert eines kampferprobten Ritters!“ Grölend vor Lachen drehte sich der Riese um und hob die Keule. Aber Erec schleuderte seinen Speer so geschickt, daß er dem Riesen ins Auge drang, – und tot stürzte der Kerl zu Boden. Nun kam aber der andere herangerannt und hob mit beiden Händen die Keule. Erec sprang vom Pferd und zog das Schwert. Als der Riese zuschlug, duckte Erec sich beiseite, und der Riese stürzte, von seinem eigenen Schwung mitgerissen, nieder. Da hieb Erec ihm ein Bein ab. Der Kerl kämpfte auf den Knien weiter. Erec wurde verwundet, aber schließlich gelang es ihm, dem Riesen das Haupt abzuschlagen. Doch wo war der Gefangene geblieben? Sein Pferd war weitergetrottet, und ohnmächtig hing der Arme in seinen Fesseln. Erec fand leicht die Blutspur, erreichte den Mann, band ihn vom Pferd, weckte ihn mit einem Spritzer Wasser und führte ihn sorgsam zurück aus dem Wald zu seiner Freundin. Die lachte und weinte gleichzeitig, als sie ihren Liebsten wieder bei sich hatte.
„Herr“, sprach der arme Mann mit schwacher Stimme, „Ihr habt unser Leben gerettet, und es hätte leicht das Eure kosten können. Deshalb nehmt uns als Vasallen an. Wir gehören Euch.“ Aber Erec bat ihn nur, seinen Namen zu nennen, und erfuhr dann, daß der fremde Ritter und seine Freundin auf dem Wege an den Artushof gewesen und unterwegs von den Riesen überfallen worden waren. „Dann reitet weiter und sucht König Artus auf“, riet ihnen Erec. „Meldet Euch der Königin, sagt, daß es Erec ist, der Euch sendet, und bietet ihr Eure Dienste an.“ Damit waren die beiden einverstanden, und so geschah es denn auch. Königin Ginevra nahm die beiden freundlich auf und dachte mit Liebe und Dankbarkeit an Erec.
Graf Oringels
Erec spürte plötzlich eine überwältigende Müdigkeit. Der Kampf mit dem zweiten Riesen hatte ihm schwerere Wunden beigebracht, als er bisher gemerkt hatte; von einem Keulenschlag war ihm der Helm tief in die Stirn gedrückt worden, Blut lief jetzt darunter hervor und über sein Gesicht. Er wankte auf dem Pferd, und als er endlich bei Frau Enite anlangte, stürzte er herunter und blieb wie tot liegen. Vergebens rief sie ihn mit allen zärtlichen Worten, die er früher so gern gehört hatte, vergebens fielen ihre heißen Tränen auf sein Gesicht, Erec rührte sich nicht, und Frau Enite mußte ihn schließlich für tot halten. Wie sie nun klagte! Keinen Tag mochte sie länger leben, sie rief die wilden Tiere des Waldes, die sie zerfleischen sollten, aber keines kam; sie klagte den Tod an, daß er ihr den Mann genommen und sie
nicht auch haben wolle, und schließlich wußte sie sich keinen Rat mehr: Sie ergriff Erecs Schwert, stellte es aufrecht hin und wollte sich hineinstürzen. In demselben Augenblick kam, herbeigerufen durch ihre Klagen, ein Zug von Rittern herangebraust. Allen voran schwang sich Graf Oringels vom Pferd, faßte Enite an den Händen und hielt sie fest, damit sie sich kein Leid antun konnte. Verwundert sah er sie an: So wunderbar schön war ihm noch nie eine Frau erschienen! Und trotz ihrer verweinten Augen, trotz der staubigen und von Erecs Blut befleckten Kleidung erkannte er, daß er eine edle Frau vor sich hatte. „Herrin, was klagt Ihr?“ Stumm wies sie auf Erec. „Ist der Ritter zu Euren Füßen tot?“ fragte Oringels. „Und wollt Ihr Euch darum den Tod geben? Herrin, wer war der Mann? Euer Freund oder Euer Gemahl?“ „Ach, er war beides, und mit ihm ist auch mein Herz gestorben. Was soll ich noch weiterleben?“ Er ließ sich von Frau Enite berichten, was vorgefallen war, und duldete dann, daß sie sich wieder neben Erec setzte und seinen Kopf in ihren Schoß legte. Oringels aber besprach sich mit seinen Leuten: „Ihr seht, daß die Dame von Sinnen ist vor Kummer. Aber achtet auch darauf, wie schön und edel sie ist. Das wäre eine Frau für mich! Endlich finde ich eine, der ich die Hand reichen möchte. Helft mir, sie zu gewinnen!“ Seine Gefährten nickten nur. Oringels wandte sich an Enite: „Schöne Frau, Euer Kummer ist wahrhaftig zu verstehen. Aber tröstet Euch: Ihr seid jung und schön und werdet wieder einen Beschützer finden. Ich selbst will es sein. Mäßigt doch Euren Schmerz! Ihr habt einen armen Mann verloren, der allein mit Euch durch die Welt zog – ich bin ein reicher Graf, der Euch mehr zu bieten hat. Kommt mit mir auf meine Burg, ein neues, viel besseres Leben beginnt für Euch!“
Enite antwortete zornig: „Was erlaubt Ihr Euch? Hier liegt mein Liebster erschlagen, und Ihr redet von neuem Glück? Nie wieder werde ich einem Manne angehören.“ Der Graf meinte zu seinen Gefährten: „So reden alle Frauen. Aber sie wird sich bald trösten. Ich bin zu guter Stunde hierhergekommen, jetzt endlich habe ich die rechte Frau gefunden!“ Er befahl seinen Leuten, eine Bahre aus Ästen und Mänteln herzurichten, man legte den Erschlagenen darauf und führte ihn fort in die Burg des Ritters, wo man ihn in der Kapelle aufbahrte, Kerzen zu Haupten und eine Totenwache daneben. Enite ließ alles geschehen, sie spürte kaum, was um sie herum vor sich ging. Aber der Graf war auch wie von Sinnen: Er wollte die Frau, die er gefunden hatte, sofort zu eigen nehmen. Und obgleich sein ganzes Gefolge sich über diese Rohheit entsetzte, ließ er überallhin Boten senden und lud zum Hochzeitsfest ein, das noch am gleichen Abend stattfinden sollte. Ein Priester gab die beiden zusammen, Enite wußte kaum, was ihr geschah, vor Weinen waren ihre Augen wie blind. Sie blieb neben Erecs Bahre sitzen, bis der Burgherr sie zum Mahl holen ließ. Da saß nun eine seltsame Runde, geschmückte Herren und Frauen, aber alle waren bedrückt, denn keiner fand es recht, was Oringels getan hatte. Er nahm ihr gegenüber Platz, damit er ihre Schönheit recht betrachten könne, und bat sie freundlich zu essen. „Herrin, ich achte Euren Schmerz, aber er wird vergehen. Denkt an die guten Tage, die Euch hier bevorstehen! Nichts mehr von einsamen Ritten durch die Lande, nichts mehr von Gefahren! In Seide und Samt sollt Ihr alle Tage gehen, denn ich weiß, was einer schönen Frau wohl ansteht! Welch erbärmliches Leben habt Ihr doch geführt! Jetzt seid Ihr meine Frau, und alles wird gut werden.“
Aber sie nahm keinen Bissen zu sich, sie weinte und rang die Hände, bis Oringels ungeduldig wurde. „Nun hört auf mit Eurem Jammern, verderbt den Gästen nicht die Laune! Ihr habt einen guten Tausch gemacht und für einen armen Mann einen reichen eingehandelt.“ „Ihr würdet Eure Ritterehre besser wahren, wenn Ihr schweigen würdet“, entgegnete Enite fest. „Ich schwöre Euch: Hier bei Euch werde ich keinen Bissen zu mir nehmen, keinen Schluck aus Eurem Glas!“ Da ergrimmte Oringels so, daß er sie heftig ins Gesicht schlug. Nun endlich fanden die Herren seines Gefolges, daß sie ihm das nicht hingehen lassen dürften: „Herr, Ihr vergeßt Euch! Das war sehr übel getan!“ „Aber gewiß nicht!“ schrie Oringels. „Sie ist meine mir angetraute Frau, und ich kann sie schlagen, wie ich will!“ Enite hatte den Schlag ruhig hingenommen. „Ich muß ihn weiter reizen, damit er mich totschlägt – dann bin ich von aller Qual erlöst!“ Und sie weigerte sich standhaft zu essen und hielt ihm vor, wie roh und unritterlich er sich benahm. Nun geriet Oringels gänzlich aus der Fassung, er schlug sie, zerrte sie an den Haaren, und es gelang keinem der Männer, die Frau aus seinen groben Händen zu befreien. Laut schrie sie: „Ja, schlagt mich nur! Mein Beschützer ist tot, ich bin Euch wehrlos ausgeliefert!“ Und dieses Geschrei weckte Erec. Er fuhr aus seiner tiefen Ohnmacht auf, er vernahm den Lärm, hörte die Stimme seiner Frau, und die alten Kräfte kehrten ihm zurück. Sein Schwert hatte man neben ihm auf die Bahre gelegt – nun stürmte er wie ein Gespenst in die Halle, auf den Grafen los, hieb einmal zu, und tot stürzte Oringels zu Boden. Erec schlug und stach um sich, jeder Hieb traf, tot lagen die Männer, die neben dem Grafen gesessen hatten – und die anderen flohen: „Ein Toter ist auferstanden! Ein Gespenst will uns alle umbringen!“ Schreiend drängten sie sich aus der Halle, Hals über Kopf suchten sie die Pferde und flohen davon.
Enite saß wortlos vor Entzücken, und sie konnte auch nicht sprechen, sondern nur heftig weinen, als Erec sie ans Herz drückte. Aber es war keine Zeit für Worte, Erec suchte sich eine Rüstung zusammen, faßte Enite bei der Hand und rief: „Schnell, wir müssen fort! Wer weiß, was uns hier noch alles bedrängen kann!“ Zu seiner großen Erleichterung fand er draußen vor dem Burgtor sein Pferd, das ein Knappe gerade gemächlich heranritt. Erec riß ihn herunter, schwang sich hinauf, hob Enite vor sich und spornte das Roß, daß es wie der Wind lief, zurück in den Wald, in dem Erec die Räuber besiegt hatte. Er wollte in das Reich von Giwreiz reiten und dort Hilfe suchen. Unterwegs aber, als keine Verfolger sie bedrohten, stieg er vom Pferd, half Enite herunter und kniete zu ihren Füßen: „Verzeih, daß ich dich so gequält habe! Jetzt endlich weiß ich, wie treu du bist! Als du mir die harten Worte sagtest, zweifelte ich an deiner Liebe und Treue, vergib mir! Deinetwegen hatte man mich einen Weiberheld gescholten, ich mußte prüfen, ob du es wert warst, daß ich deinetwegen mein Rittertum vergaß! Nun will ich dir bis an mein Ende treu dienen und zu jeder Stunde versuchen, dein Leben glücklich zu machen!“ Wie gern verzieh ihm Frau Enite!
Nächtlicher Kampf
Während Erec und Enite wieder in Giwreiz’ Land zu gelangen suchten, war einer von Oringels Dienern ebenfalls zu Giwreiz unterwegs. Außer Atem kam er dort an, ließ sich beim König melden und berichtete mit schreckensweiten Augen: „Herr, unser Graf ist erschlagen! Ein Toter, ein Gespenst hat ihn
umgebracht!“ Giwreiz fragte ihn aus, erfuhr, was vorgegangen war, und erkannte entsetzt, daß es sich um Erec und Enite handeln müsse. Rasch rief er seine Ritter zusammen, befahl, daß sie sich rüsteten und wappneten und sprengte mit ihnen davon, um Erec Hilfe zu bringen. Der Zufall führte ihn auf die Straße, an der von weitem Erec ihm entgegenritt, aber weil die Nacht dunkel war und nur ab und zu vom Mond erhellt wurde, erkannten sie einander nicht. Giwreiz hielt ihn, der ja dazu noch eine andere Rüstung trug, für einen Mann, der Erec verfolgen wollte, und der wiederum glaubte in den Gewappneten, die ihm entgegenkamen, Verfolger zu erkennen, die ihm den Weg abgeschnitten hätten. Er bat Enite, beiseite zu reiten und sich zu verstecken, und machte sich selbst zum Kampfe bereit. Der Mond trat durch die Wolkendecke, da ritten Erec und Giwreiz aufeinander mit eingelegten Speeren los – und schon beim ersten Anprall stach Giwreiz ihn vom Pferd, so müde und elend war Erec. Als er nun auf der Erde lag, lief Enite heran und rief laut: „Herr, haltet ein! Laßt den Mann in Ruhe, den Ihr vom Pferd gestochen habt! Er will Euch nichts tun, er will zu König Giwreiz reiten!“ Giwreiz erkannte die Stimme und fragte: „Wer seid Ihr?“ Da gab sie sich zu erkennen, und Giwreiz beugte sich zu Erec, nahm ihm den Helmschutz ab und sah, daß er den besiegt hatte, zu dessen Schutz er ausgeritten war. Das beklagte er sehr, aber Erec antwortete: „Laßt es gut sein. Ich habe selbst schuld an allem, was mir zugestoßen ist. Wer allein und ohne Gefolge in die Welt reitet und ritterliche Abenteuer sucht, muß darauf gefaßt sein, daß er auch einmal einen Freund als Feind ansieht.“ Nun war Erec aber doch zu schwach, um noch zu Giwreiz’ Burg zu reiten, und deshalb schlug man auf einer grünen Waldwiese ein Lager auf, brannte helle Feuer an und setzte sich zu freundlichem Gespräch herum. In dieser Nacht
schliefen Erec und Enite unter freiem Himmel, aber da sie nun versöhnt miteinander waren, kam ihnen das harte Lager weicher vor als das schönste Bett aus samtbezogenen Kissen. Am anderen Morgen ritten alle zusammen zu König Giwreiz’ Burg, wo Erec und Enite vierzehn Tage lang ein herrliches Leben führten und wo die zwei Schwestern des Königs Erecs Wunden mit kundiger Hand heilten. Länger aber hielt es Erec nicht mehr bei Giwreiz: Es war, als ob er jetzt alles nachholen wollte, was er daheim mit Frau Enite versäumt hatte – er mußte kämpfen und seine Ritterkunst beweisen! Frau Enite, die ihr Pferd bei Oringels verloren hatte, erhielt ein anderes von Giwreiz’ Schwestern geschenkt, und das war kräftiger und edler gebaut als ihr altes. Mit Edelsteinen wurde der Zügel besetzt, auf die Satteldecke hatten die Damen eine ganze Geschichte in vielen bunten Bildern gestickt, die Steigbügel waren aus purem Gold.
Der Zaubergarten
Als Erec und Enite aufbrachen, gab ihnen König Giwreiz das Geleit, mit ihnen wollte er an den Artushof ziehen. Aber als sie eine Weile ritten, merkte Giwreiz, daß sie den Weg verfehlt hatten, und als plötzlich in der Ferne eine Burg auf hohem Berg auftauchte, wurde er sehr unruhig und schlug vor, umzukehren. Aber Erec wollte den Weg fortsetzen und die Burg aus der Nähe betrachten, die wahrhaftig auch seltsam genug aussah. Sie lag auf einem steilen, ganz runden Felsen und war in einem weiten Viereck angelegt. Dreißig Türme, alle mit einem gleißenden Goldknopf versehen, krönten die Mauern.
Giwreiz griff Erec in die Zügel: „Nicht weiter! Hier gibt es nur schlimme Dinge zu erleben!“ „Aber was für Gefahren bedrohen uns denn hier?“ „Fragt nicht“, antwortete Giwreiz. „Laß uns umkehren.“ „Gewiß nicht. Warum sollten wir uns fürchten? Und warum erzählt Ihr mir nicht, was uns hier erwartet?“ Sie waren unterdessen nahe an die Burg herangeritten. Vom Felsen oben stürzte ein Wasserfall brausend in die Tiefe, an der anderen Seite schmiegte sich eine Stadt mit vielen Häusern an die Bergflanke, und unten sah man die Wipfel eines großen Gartens liegen. Auf Erecs Drängen willigte der König Giwreiz endlich ein, ihm zu erzählen, was es mit der Burg auf sich habe. „Aber ich berichte Euch davon in der Hoffnung, daß Ihr dann dies Abenteuer fahren laßt!“ Das aber wollte Erec nicht versprechen. „Ihr seht die Wipfel des Gartens: Das ist der Zaubergarten von Brandigan. In ihm haust ein Ritter, und keiner, der den Garten betritt, ist je wiedergekommen. Oben in der Burg leben die Frauen, deren Männer im Garten umgekommen sind. Der Garten ist durch einen Zauber geschützt – keine Mauer, kein Bach, kein Zaun und keine Hecke umgeben ihn, nur ein breiter Weg. Und doch kann man ihn nur an einer bestimmten Stelle betreten. Wer das aber tut, hat sein Leben verloren. Und nun hört auf mich, Erec, um Enites willen laßt ab von dem Ritt. Kehrt um!“ Erec hörte nicht darauf, und Giwreiz sah zu seinem großen Kummer, daß sein junger Freund die Gefahr suchte. Traurig folgte er ihm nach Brandigan. Sie kamen in die Stadt, sahen dort fröhliche Menschen, erlebten aber, daß sich alle schweigend und entsetzt von ihnen abwandten. Sie ritten in den Burghof ein, wurden freundlich willkommen geheißen und vom Burgherrn, einem mächtigen König, zu Gaste geladen. Da gab es Pracht zu bestaunen, wie
Erec sie noch nie gesehen hatte: Der runde Saal war ganz aus Marmor, in allen Farben schimmerte der Raum. Drinnen saßen zwölf Frauen, in kostbare, aber dunkle Gewänder gehüllt und so schön, daß Erec nicht wußte, welcher der Preis gehören sollte. Als Erec aber berichtete, daß er bereit sei, mit dem Ritter im Zaubergarten zu kämpfen, begannen alle Damen zu weinen und beklagten die schöne Enite, die nun ganz gewiß wie sie alle ihren lieben Mann verlieren würde. Der Hausherr versuchte, Erec von seinem Vorhaben abzubringen: „Seit zwölf Jahren lebt der Ritter dort im Garten. Noch nie ist in diesen Jahren ein Mann wiedergekommen, der es wagte, hineinzugehen. Warum wollt Ihr denn Euer Leben aufs Spiel setzen!“ Erec gab zur Antwort: „Ich habe immer schon geahnt, daß es ein Abenteuer geben müsse, das größer als alle anderen ist und den höchsten Ruhm einbringt, den ein Ritter erringen kann. Danach strebe ich. Morgen will ich in den Zaubergarten reiten.“ Alle schwiegen bedrückt. Man hob die Tafel auf, und Erec begab sich mit Enite zur Ruhe. Er war nicht froh, denn er liebte sein Leben und wußte, was Gefahr ist; aber er bezwang seine Furcht: Tapferkeit wächst aus der Angst, die überwunden wird, und Erec war tapfer.
Am anderen Tage ritt der König mit Giwreiz, Erec und Enite aus der Burg, durch die Stadt und zum Zaubergarten. Allenthalben strömten die Leute herbei, mitleidig raunten sie: „Eine so schöne Frau! Wie bald wird sie allein sein und um ihren Liebsten trauern!“ Enite und Erec hörten es wohl, sie erblaßte immer mehr, aber er setzte seinen Weg fort. Der König führte sie an die Stelle, wo der Garten zu betreten war – links und rechts davon verwehrte eine unsichtbare Schranke das Eindringen, Erec prüfte es selbst. Sie ritten alle
vier in den Garten und standen vor einem großen Viereck aus hohen Pfählen. Bei diesem Anblick sank Frau Enite in Ohnmacht: Denn auf jedem der zwölf Pfähle steckte ein Männerkopf, und nur der dreizehnte war frei. An ihm hing ein großes Horn. „Das sind die Köpfe der Männer, die der Besitzer des Gartens erschlagen hat“, flüsterte der König. „Sollte jemals einer ihn überwinden, dann muß er zum Zeichen seines Sieges in das Horn stoßen. Aber das wird niemandem gelingen.“ Erec versuchte, Enite, die wieder zu sich gekommen war, zu trösten: „Sei nicht so verzagt, meine Liebste! Ich stehe ja noch lebendig und heil vor dir – was willst du denn jetzt schon die Hoffnung aufgeben? Alles ist bisher gut ausgegangen!“ Er verabschiedete sich von den dreien, die betrübt zurückritten, und drang selbst weiter in den Garten vor. Der war schöner, als man es beschreiben kann: Dicht an dicht standen leuchtende Blumen in allen Farben nebeneinander und verströmten süßen Duft; wie Edelsteine blitzten die Vögel durch die Luft, und ihr Gesang war so wunderbar aufeinander abgestimmt, daß er bald wie Wechselgesang, bald wie ein Chorlied erklang. „Freilich, wer einen solchen Garten besitzt, wird ihn auch verteidigen“, dachte Erec und ritt gemächlich weiter. Er gelangte an eine sonnenerfüllte Lichtung, auf der ein großes Zelt aufgeschlagen war, ein Zelt aus schwarzem und weißem Samt, auf den in Goldfäden Menschen und Tiere so kunstvoll aufgestickt waren, daß sie wie lebendig wirkten. Rote, gelbe und blaue Seidenschnüre spannten das Zelt. Davor saß auf einem kostbaren Ruhebett eine Frau, die Enite an Schönheit nur wenig nachstand. Erec stieg vom Pferd und grüßte sie höflich: „Herrin, was tut Ihr hier in der Einsamkeit?“ Sie blickte unruhig um sich: „Geht schnell fort! Mein Mann ist
in der Nähe, er wird es nicht erlauben, daß Ihr mit mir sprecht!“ „Ich fürchte Euren Mann nicht“, lachte Erec. „Es ist doch nicht verboten, einer schönen Frau die Zeit zu vertreiben!“ Da klang wie ein Hornstoß die Stimme eines Mannes: „Was tut Ihr hier bei meiner Frau! Es gehört sich nicht, daß ein Fremder sich einer einsamen Dame nähert! Das müßt Ihr büßen!“ Erec sah einen gewaltig großen Ritter, der in voller Rüstung zu Pferde saß. Die Decke seines Rosses war flammend rot, ebenso des Ritters Rüstung und sein Schild, es war, als ob Feuer aus dem Mann schlüge. „Wer hat Euch hierher geführt?“ wollte der Ritter wissen. „Mein eigener Wille.“ „Der ist ein schlechter Ratgeber. Denn jetzt müßt Ihr kämpfen.“ „Darauf bin ich gefaßt.“ „Ihr werdet Euer Leben verlieren.“ „Eure Prahlerei schreckt mich nicht. Der Tag ist gekommen, wo Ihr für alles büßen müßt, was Ihr verbrochen habt.“ Erec schwang sich auf sein Pferd, band den Helm fester und machte sich zum Kampf bereit. Sie berannten einander mit den Speeren, bis die Pferde niederbrachen und sie zu Fuß weiterkämpfen mußten. Der Rote bedrängte Erec heftig und trieb ihn viele Male zurück, aber Erec raffte sich immer wieder zusammen und hieb auf den anderen ein, so daß keiner die Übermacht erhielt. Die Sonne stieg immer höher und glühte auf ihren Harnischen, aber sie achteten nicht darauf: Die Feuerfunken ihrer Schwertstöße blitzten heller als der Sonnenschein. Wenn der Rote seine Dame ansah, wuchsen ihm neue Kräfte, und Erec gewann Stärke aus dem Gedanken an Enite. Schließlich erhielt Erec einen Schlag auf den Helm, daß ihm fast die Sinne schwanden, aber das Schwert seines Gegners
ging dabei in Stücke, und das rettete ihn. Der Rote wollte ihn jetzt um den Leib packen, aber Erec, der tüchtige Ringer, faßte ihn beim Gürtel und hielt ihn so von sich weg. Er stieß und schob den großen Mann so hin und her, daß der nicht dazu kam, Erec zu packen, und warf ihn schließlich auf die Erde, kniete sich über ihn und schlug ihn links und rechts mit solcher Gewalt an den Helm, daß dem anderen Hören und Sehen verging. Da bat der Unterlegene: „Herr, gleich könnt Ihr mit mir ein Ende machen. Aber sagt mir nur noch Euren Namen, ich möchte wissen, wer mein Bezwinger ist.“ „Ich denke nicht daran“, erwiderte Erec. „Ich, der Sieger, sollte Euch meinen Namen nennen? Schwört mir sofort Frieden, dann könnt Ihr Euer Leben retten.“ „Ich will mein Leben nicht behalten, wenn ich nicht weiß, wer mich besiegt hat. Wenn Ihr ein Ritter von hohem Adel seid, schwöre ich Euch Sicherheit, sonst aber nicht. Von einem Unwürdigen besiegt zu sein, würde mir alle Freude am Leben nehmen.“ Erec lachte: „Nun gut, Herr Eigensinn: Mein Vater ist der König Lac, ich bin Erec.“ „Dann hat mich ein edler Mann besiegt. Ich heiße Mabonagrin. Schenkt mir das Leben, ich schwöre Euch Frieden.“ Erec erhob sich, der Rote stand ächzend auf, sie nahmen die Helme ab und setzten sich nebeneinander ins Gras.
Mabonagrins Geschichte
Erec fragte, warum denn Mabonagrin hier in der Einsamkeit nur mit der schönen Frau so viele Jahre gelebt habe. „Ist es Euch nicht langweilig geworden? Lebt Ihr nicht lieber in froher Gesellschaft? Und Eure schöne Gattin wird es doch bestimmt sehr entbehrt haben, daß sie nie mit einer anderen Frau reden konnte! Mir scheint, Ihr müßt in diesem herrlichen Garten ein recht eintöniges Leben geführt haben!“ Der Rote seufzte. „Ach ja, zwölf Jahre lang lebe ich hier von aller Welt getrennt. Zwar ist meine schöne Frau mir die beste Gesellschaft, die ich mir denken kann, aber es war hart, immer nur hier zu hausen und jeden Ritter, mit dem ich lieber Freundschaft geschlossen hätte, zu bekämpfen und zu töten.“ „Wie viele waren es denn?“ „Achtzig Männer habe ich hier besiegt. Die Köpfe der zwölf vornehmsten seht Ihr dort auf den Pfählen.“ „Und wie seid Ihr zu diesem Leben gekommen?“ „Es geschah meiner Frau zuliebe. Ich habe sie von der Burg ihres Vaters entführt, als sie fast noch ein Kind war, und sie an den Hof von Brandigan gebracht. Dort wurde ich zum Ritter geschlagen und brannte darauf, in die Welt zu ziehen und Abenteuer zu suchen. Aber meine junge Frau weinte so heftig und mahnte mich daran, daß ich sie entführt und ihr ein sicheres Leben versprochen hatte, daß ich ihr schwor, alles zu tun, was sie von mir verlangen werde. Da schaffte sie aus diesem Garten ein Zauberland, ein kleines Paradies, in dem sie ganz allein mit mir leben wollte. Ich schwor ihr, nur dann wieder in die Welt zurückzukehren, wenn mich ein Ritter besiegt hätte – uns es kamen ja so viele, die den Kampf mit mir wagen wollten! Aber keiner besiegte mich, sie alle ließen hier
ihr Leben, und zwölf Jahre lang mußte ich in der Einsamkeit bleiben – zwar selig mit meiner lieben Gemahlin, aber traurig, weil ich gern wieder zu den Menschen zurückgekehrt wäre. Ihr seht, Erec, daß Ihr mich erlöst habt! Nun bin ich meines Schwurs ledig und kann in die Welt zurückkehren! Nehmt jetzt das Horn und blast hinein, damit alle Bürger von Brandigan erfahren, daß Ihr der Sieger seid!“ Erec stieß ins Horn, laut hallte der Ton durch den Garten. In Brandigan vernahm es Enite, vernahmen es der König und Giwreiz, und sie wagten ihren Ohren nicht zu trauen. Aber wieder und zum drittenmal tönte der Hornstoß übers Land, und nun hatte die Freude kein Ende! Ritter und Bürger machten sich auf in den Zaubergarten, allen voran führte der König Frau Enite Erec entgegen. Das war eine Freude! Nur ein Mensch weinte bitterlich: Mabonagrins Frau, die nun das Ende ihrer schönen Zeit gekommen sah und wußte, daß sie ihren Mann dem gefährlichen Ritterleben zurückgeben mußte. Ihre Tränen rührten Frau Enite. Sie setzte sich zu der Weinenden und tröstete sie freundlich: „So wie Euch geht es ja jeder Frau. Wir alle müssen es dulden, daß die Männer kühne Taten suchen und uns allein lassen. Tröstet Euch! Wir werden Euch freundlich aufnehmen.“ Sie sprachen lange miteinander, und schließlich fanden sie heraus, daß sie sogar miteinander verwandt waren: Ihre Väter waren Brüder gewesen! Da trocknete die Frau des Roten endlich ihre Tränen.
Rückkehr an den Artushof
Natürlich veranstaltete der König von Brandigan ein großes Fest, an dem auch Mabonagrin und seine Frau teilnahmen. Nur die achtzig Frauen, deren Männer erschlagen worden waren, klagten heftiger als je zuvor, als der Rote vor ihnen erschien. Das Schicksal der Armen bedrückte Enite und Erec, sie hätten gern geholfen. Und Erec meinte: „Wollen wir sie nicht zu König Artus bringen? Er freut sich über edle Gäste, und an seinem Hof herrscht so lustiges Leben und Treiben, daß sie ihren Kummer allmählich vergessen werden. Artus’ Ritter werden sich freuen, wenn so viele schöne Frauen den Hof schmücken!“ Sein Vorschlag wurde dankbar aufgenommen, denn Brandigan war den Frauen verleidet. Sie erhielten für die Fahrt neue Gewänder, alle im gleichen tiefen Trauerschwarz, und schwarz waren auch die Pferde und ihre Satteldecken. Mit diesem seltsamen Zug von achtzig ganz gleich gekleideten Frauen ritten Erec, Enite und Giwreiz nach Tintajol. Sie hatten Boten vorausgeschickt, und König Artus kam dem Zug mit einem großen Aufgebot von Rittern entgegen und lud die Frauen höflich ein, an seinem Hof zu bleiben. Ein Fest begrüßte sie, und die Damen willigten ein, ihre düstere Kleidung mit einer bunteren zu vertauschen. So kehrten auch sie allmählich zu einem Leben der Freude zurück. Erec und Enite aber brachen nach Karnant auf. Der alte König Lac war gestorben, und Erec mußte sich um sein Reich kümmern. Seine Lehnsleute empfingen ihn mit Freude und Dankbarkeit, und von nun an herrschte er klug und sicher über sein großes Reich, veranstaltete Turniere und kämpfte auch
selbst, bewies sich aber vor allem als ein kluger Fürst, der weiß, was er seinem Lande schuldig ist. Jeden Morgen sah er in die fröhlichen Augen seiner Enite, jeden Abend segnete er den Tag, den er an ihrer Seite verbringen durfte.
IWEIN, DER LÖWENRITTER
Was Kalogreant erzählte
Zu den berühmtesten Rittern der Tafelrunde gehörte Iwein, der Sohn des Königs Frien. Er war noch jung, hatte aber schon manches Turnier in Ehren bestanden und brannte darauf, seine Tapferkeit in gefährlichen Abenteuern zu beweisen. Wenn die Freunde oder ein weitgereister Gast von ihren Erlebnissen erzählten, hörte ihnen keiner so atemlos gespannt zu wie Iwein, und seine Brust dehnte sich bei dem Gedanken an all die Taten, die er vollbringen wollte. Eines Tages saßen einige Ritter beieinander am Kamin. Es war um die Mittagsstunde, und König Artus und seine Gattin Ginevra hatten sich auf ihren Ruhebetten ausgestreckt, so daß die Herren, um sie nicht zu stören, nur sehr leise sprachen. Ritter Kalogreant, der am Tag zuvor von einer langen Fahrt zurückgekehrt war, erzählte, was ihm widerfahren war, und die anderen konnten nicht genug davon hören. Herr Keie bemerkte das mit Mißvergnügen – schon wieder machte sich ein Mann wichtig, der durch die Welt gestrolcht war! Er, Keie, hatte keine Zeit dazu. Wer sollte für Ordnung am Artushofe sorgen, wer die Mädchen und Diener in Zucht halten, den Köchen befehlen, was für Speisen auf den Tisch kommen, den Mägden, wann sie Wäsche waschen sollten, wenn nicht Herr Keie! Und nun kam wieder ein Ritter daher und prahlte mit seinen Taten! Königin Ginevra war von der leisen Unterhaltung erwacht und trat zu den Rittern, von denen nur Kalogreant sie bemerkte. Höflich erhob er sich, während die anderen
sitzenblieben. Als Keie das sah, ärgerte er sich noch mehr: „Nun bilde dir nur nicht ein, Kalogreant, daß du höflicher wärst als wir! Hätten wir nicht auf deine Geschichten gehört, dann wären wir auch aufmerksamer gewesen und nicht sitzengeblieben, als die Königin kam!“ Kalogreant lächelte, die Königin lächelte, alle hatten ihren Spaß an Keies Ärger. Aber Ginevra meinte dann doch sehr ernst: „Keie, warum seid Ihr so mißgünstig? Ihr scheltet zuviel. Wenn Euch einmal ein Fehler unterlaufen ist, braucht Ihr nicht einen anderen zu beschuldigen!“ Keie antwortete höflich: „Verzeiht, Herrin, Ihr habt recht, und ich bitte Kalogreant um Verzeihung. Wenn es Euch gefällt, laßt ihn ruhig weitererzählen.“ Auch die Königin hörte gern von Abenteuern und bat Kalogreant, das Gefährlichste zu berichten, was ihm auf seiner Fahrt begegnet war. Kalogreant begann: „Das Schlimmste und Unrühmlichste habe ich vor einigen Jahren erlebt, und wenn ich es Euch allen berichte, werdet ihr mich wahrscheinlich auslachen. Aber sei’s drum! Die Geschichte ist so seltsam, daß ihr sicher noch nichts davon vernommen habt. Ich kam auf meinem langen Ritt zu einer Burg, wo ich sehr gut aufgenommen wurde und eines der hübschesten Mädchen traf, die mir je begegnet sind. Ach, leider blieb ich nicht dort, sondern ritt am anderen Tage schon weiter. Hätte ich das nur nicht getan! Ich gelangte durch einen Wald auf eine riesige Ebene, die von Lärm erfüllt war. Ich sah keine Menschen, nur Tiere – aber solche, wie ich sie nie zuvor erblickt hatte! Und sie alle waren in schrecklichem Kampf miteinander verbissen. Da kämpften Auerochsen mit Büffeln, Wildschweine mit Bären – sie knurrten und fauchten – es war furchtbar anzuhören, und ich wollte schon wieder umkehren, um nicht von ihnen angefallen zu werden, als ich eine sonderbare
Gestalt mitten unter ihnen ganz ruhig sitzen sah. Es war wohl ein Mensch, aber ein scheußlicher Kerl! Sein Kopf war so groß wie der eines Auerochsen, kohlschwarzes Haar wucherte wild über sein Gesicht, die Ohren waren wie Teller so groß, die Nase platt wie bei einem Ochsen, die Augen glühten, als ob Feuer dahinter brenne, Eberzähne ragten aus dem Maul. Felle hingen ihm als Kleidung über die Schultern, und als er nun aufstand, sich auf seine große Keule stützte und mir entgegenkam, sah ich, daß sein Rücken bucklig, seine Beine kurz und krumm waren, – trotzdem überragte er mich weit. Er stellte sich dicht vor mich und sagte kein Wort, und auch ich schwieg, entsetzt von dem Anblick. Schließlich faßte ich mir ein Herz und fragte: ,Bist du ein Feind oder ein Freund?’ Er antwortete: ,Wenn du mir nichts tust – warum sollte ich dir etwas tun?’ ,Bist du ein Mensch?’ Da lachte er: ,Das siehst du doch wohl, und hörst es ja. Könnte ich sonst mit dir sprechen?’ – ,Was tust du unter den wilden Tieren?’ – ,Ich hüte und zähme sie. Wenn ich Ruhe gebiete, lassen sie ab vom Kampf!’ – ,Dann befiehl ihnen, daß sie mich nicht angreifen!’ – ,Sie werden dir nichts tun, wenn du hier bei mir stehst. Aber was suchst du hier?’ Ich antwortete, daß ich auf Abenteuer ausgeritten sei. Da fragte der Kerl: ,Was ist das, Abenteuer?’ ,Ich suche andere Ritter, die gewappnet sind wie ich. Mit ihnen will ich kämpfen, damit ich Ruhm und Ehre erwerbe. Weißt du, wo ich hier eine Tat vollbringen kann, die meinen ganzen Mut erfordert?’ Da sagte der Mensch: ,Ach so, Abenteuer heißt also, daß du dir Ärger und Mühe verschaffst! Das finde ich sehr sonderbar. Aber es geht mich nichts an. Wenn es dir Spaß macht, dein Leben aufs Spiel zu setzen, weiß ich eine Gelegenheit für dich: Reite weiter, du kommst nach einigen Stunden an einen Brunnen, und dort kannst du das finden, was du Abenteuer nennst. Der Brunnen birgt eine klare, kalte Quelle. Daneben
hängt ein Stein an glänzenden Ketten, und wenn du Wasser aus dem Brunnen schöpfst und es auf diesen Stein gießt, wirst du wahrscheinlich mehr Gelegenheit zu Abenteuern finden, als dir lieb ist. Ein goldenes Becken zum Wasserschöpfen liegt neben dem Brunnen, daran fehlt es also nicht.’ Gut – der Mensch hat mich neugierig gemacht. Ich verabschiedete mich von ihm und ritt weiter. Hinter mir hörte ich immer noch die Tiere brüllen und fauchen. Den Brunnen fand ich bald; er stand unter einer riesigen Linde, die ihn wie ein Dach beschattete. In allen Zweigen des Baumes saßen Vögel und sangen so herrlich, wie ich es nie wieder gehört habe, die Sonne fiel durchs Laub, es war angenehm kühl, der ganze Platz gefiel mir sehr. Ich fand auch die steinerne Tafel – eine Platte aus Smaragd; Rubine hielten die goldenen Ketten fest, an denen sie aufgehängt war. Das goldene Becken war schön verziert und klang hell, als ich es berührte. Ach, wäre ich nun doch umgekehrt! Aber ich ergriff das Becken, beugte mich über den Brunnen, schöpfte und goß das Wasser gegen die steinerne Tafel. O weh! Da schwand in demselben Augenblick die Sonne, es wurde finster, aber Blitze zuckten wild durch die Dunkelheit, ein Orkan erhob sich und schüttelte die Bäume, es krachte von berstendem Holz, die Donnerschläge folgten so dicht, daß ich entsetzt zu Boden sank. Hagel und Regen peitschten mich. Schließlich hörte das Unwetter auf, aber wie sah der Wald aus! Äste lagen quer über den Büschen, ganze Stämme waren vom Sturm entwurzelt, und tot waren überall die kleinen lustigen Vögel. Ich wagte mich nicht zu rühren und war sehr erschrocken über das, was ich angerichtet hatte. Allmählich aber kam die Sonne wieder zum Vorschein, und neue Vögel begannen zaghaft ihre Lieder. Da atmete ich auf und wollte schnell diesen verzauberten Platz verlassen. Doch Hufschlag
ertönte, und im Galopp brauste ein gewaltiger großer Ritter heran, schwang drohend sein Schwert und schrie mir entgegen: ,Was habt Ihr getan? Wer hat Euch geheißen, meinen Wald zu zerstören? Ringsum liegt alles Wild tot am Boden. Ach, mein schöner Wald! Das sollt Ihr mir büßen! Jetzt geht es Euch ans Leben!’ Ich bat den Mann viele Male um Verzeihung und hätte gern auf den Kampf verzichtet, denn mein Gegner war viel stärker als ich, aber er rief mir nur zu, daß ich kämpfen müsse, wenn ich das Leben behalten wolle, und so machte ich mich fertig zum Streit. Schon beim ersten Anprall stach er mich vom Pferd, nahm mein Roß am Zügel und führte es mit sich davon. Ich war besiegt, hatte mein Pferd verloren und nicht einmal einen einzigen Stoß oder Schwertstreich getan! Was blieb mir übrig – zu Fuß wanderte ich den Weg zurück, machte einen großen Bogen um die Wildnis mit den Tieren und gelangte endlich wieder zu der Burg, auf der ich vorher zu Gaste gewesen war. Man nahm mich dort freundlich auf und fragte nicht, wo ich mein Pferd verloren hätte – und es ist heute das erstemal, daß ich von diesem unrühmlichen Abenteuer berichte. Jetzt dürft ihr mich auslachen, wenn ihr wollt!“ Iwein aber sagte: „Mein Vetter Kalogreant, wie froh bin ich, daß du mir dieses Abenteuer gelassen hast! Denn nun werde ich hinreiten und dich rächen!“ Grämlich sprach Keie: „Ach, Iwein, du hast zuviel Wein getrunken heute mittag! Schlaf erst mal aus, dann wirst du schon zur Vernunft kommen. Du bist ja viel zu jung, um eine Gefahr richtig einschätzen zu können.“ Ginevra verwies ihm die Worte: „Keie, müßt Ihr denn immer spotten und schelten? Was hat Euch Iwein getan, daß Ihr ihn nun wie einen dummen Jungen behandelt?“ Aber Iwein lachte: „Laßt Herrn Keie nur, Herrin. Er hat ja recht, mich zu warnen. Ich habe gar keine Lust, mit ihm zu
streiten. Soll er doch sagen, was er will – ich werde immer darüber lachen. Nun, Keie, willst du noch weiter spotten?“ Keie lachte jetzt selbst, und sie saßen noch lange beieinander und unterhielten sich über Kalogreants Abenteuer. Darüber erwachte auch König Artus, trat zu den Rittern – die diesmal besser achtgaben und sich alle höflich erhoben – und ließ sich Kalogreants Geschichte wiederholen. Dann leuchteten seine Augen: „Das wäre ein Wagnis für mich! In vierzehn Tagen wollen wir aufbrechen und zu dem Brunnen ziehen. Wer es wagt, erhält die Erlaubnis, mit dem Fremden zu kämpfen.“ Das gefiel Iwein schlecht: Wenn sie alle zusammen dorthin zögen, wäre es sicher wieder einmal Gawan, der prächtigste Ritter, der die Erlaubnis zum Kampf erhalten würde. Sollte er sich dieses Abenteuer vor der Nase wegnehmen lassen? Iwein beschloß, heimlich aufzubrechen. Er stand am anderen Morgen sehr früh auf, rief seinen Knappen und befahl ihm, seine Rüstung und seine Waffen unbemerkt aus der Burg herauszutragen und sie ihm draußen vor dem Tor anzulegen. „Aber wenn du irgend einem Menschen etwas davon verrätst, bin ich dein Freund nicht mehr!“ Auf diese Weise gelang es Iwein, sich davonzumachen und lange vor den übrigen Artusrittern den Brunnen zu erreichen.
Iwein am Brunnen
Der erste Tag führte ihn zu der Burg, wo er so freundlich wie einst sein Vetter Kalogreant aufgenommen wurde, am zweiten ritt er durch den Wald, fand die Wildnis, auf der die Tiere
wieder mit großem Lärm kämpften, grüßte artig im Vorüberreiten den merkwürdigen Menschen und fragte ihn nach dem Weg zum Brunnen. „Da ist also wieder einer, der sich Ärger und Mühe machen will. Na, mir ist es gleich. Reite linker Hand, du wirst den Brunnen nicht verfehlen.“ Iwein hörte den Kerl hinter sich her lachen, und das klang ihm nicht gerade freundlich in die Ohren. Auch ihn berückte der schöne Wald, tief zog er den Duft der Blumen ein, freute sich am Gesang der Vögel und entdeckte den Brunnen und die in der Sonne leuchtende grüne Smaragdtafel. Er bückte sich nach dem goldenen Becken, tauchte es ins Wasser und goß das Naß mit großem Schwung gegen den Smaragd. Sofort erhob sich das Unwetter, und wenn er auch darauf gefaßt gewesen war, so erschrak er doch vor dem fürchterlichen Donnern und Krachen ringsum. Als sich das Sturmgewitter verzogen hatte, erblickte auch er mit Bedauern die Verwüstung ringsum, machte sich aber bereit, den fremden Ritter zu empfangen. Der ließ nicht auf sich warten, kam scheltend und polternd herangeritten und nahm sofort den Angriff auf. Sie kämpften lange, keinem gelang es, den anderen vom Pferd zu stechen, und so zogen sie schließlich die Schwerter und schlugen zu Pferde aufeinander los. Iwein traf den Fremden mit einem Hieb durch den Helm und fügte ihm eine tiefe Kopfwunde zu. Da wandte der andere sein Pferd zur Flucht und stob davon. Iwein hinterdrein – das war unbedacht, denn wer verfolgt einen Mann, der im Zweikampf flieht? Aber Iwein wollte beweisen können, daß er wirklich den Fremden gefunden und mit ihm gekämpft hatte, er brauchte ein Zeichen für seinen Sieg und ritt deshalb eilig hinter dem Fliehenden her. Sie erreichten eine Burg, der Fremde ritt über den engen Burgweg und kam vor das Fallgitter, das von einem Torbogen herabdrohte. Er brauste hindurch, Iwein aber, der die Burg nicht kannte, lenkte sein Pferd versehentlich zur Seite, während er mit dem Schwert
nach dem Flüchtenden ausholte. Er traf ihn – aber er hatte einen Sperriegel ausgelöst, der jetzt das schwere, eisenbeschlagene Fallgitter herabsausen ließ. Es schlug ihm das Pferd mitten durch und noch die Sporen von den Schuhen. Iwein erhob sich von der Erde, wollte zu Fuß weiterstürmen – da fiel vor ihm ein weiteres Fallgitter mit lautem Krach herunter. Er war gefangen zwischen den Toren. Vor sich hörte er im Burghof großes Wehgeschrei und begriff, daß der Burgherr tot zusammengebrochen war. Was sollte er nun machen? Jetzt würde man ihn suchen und töten! Er sah keinen Ausweg und glaubte sein letztes Stündlein gekommen: Sobald die Burgbewohner eines der beiden Tore öffneten und das Fallgitter hochzogen, mußten sie ihn ja entdecken! Plötzlich öffnete sich eine verborgene Seitentür, ein Mädchen trat ein und betrachtete erschrocken den Fremden. „Ich kenne Euch an Eurer Rüstung! Ihr seid Ritter Iwein aus König Artus’ Tafelrunde! Herr, habt Ihr unseren Burgherrn erschlagen? Tot liegt er im Hause, keiner weiß, wie es zugegangen ist. Habt Ihr ihn getötet?“ Iwein nickte. „Das wird Euch teuer zu stehen kommen. Er war uns ein guter Herr, sein Gesinde und sein Gefolge trauert um ihn und brennt darauf, ihn zu rächen. Man wird Euch wie eine Ratte erschlagen, wenn man Euch hier findet. – Aber ich will versuchen, Euch zu helfen. Ich heiße Lunete, und vor vielen Jahren wurde ich als Botin an den Artushof geschickt. Weil ich mich aber unhöfisch und grob aufführte, wollte niemand mit mir sprechen, nur Ihr habt mich freundlich gegrüßt. Dafür danke ich Euch heute, indem ich Euch aus Eurer Not helfe.“ Sie reichte ihm einen Ring: „Steckt ihn an den Finger, er hat die Kraft, Euch für zwei Stunden unsichtbar zu machen. Niemand wird Euch sehen. Verhaltet Euch still, was auch immer kommen mag.“ Dann verschwand Lunete wieder durch die geheime Tür. Nun entdeckten die Leute vor dem äußeren
Tor das halbe Pferd und schlossen daraus, daß der Mann, der ihren Herrn getötet hatte, in der Burg sein müsse. Sie hoben das Fallgitter, fanden die andere Hälfte des Pferdes – aber keinen Menschen. Daraufhin wurde auch das Fallgitter im zweiten Tor hochgezogen, und eine wilde Menge stürmte mit Spießen und Schwertern herein, den Mörder zu fangen. Sie stachen in alle Ecken, sie schrien und tobten, aber Iwein hatte sich hinter einen schweren Balken gekauert, wo ihn kein Spieß traf. Ihn grauste bei ihrem Geschrei: „Sucht doch! Der Mann muß hier sein! Schlagt ihn tot!“ Schließlich aber gaben sie die ergebnislose Suche auf und zerstreuten sich im Inneren der Burg. Jetzt hätte Iwein entkommen können – aber da nahm ihn etwas anderes gefangen: die Schönheit einer Frau! Denn nun bewegte sich ein Trauerzug mit der Bahre des Toten über den Burghof zur Kapelle, und neben der Bahre ging schluchzend, sich die Haare raufend und das Kleid zerreißend, die herrlichste Frau, die Iwein je gesehen. Der Anblick ergriff ihn so, daß er wie angewurzelt stillstand und nicht mehr an Flucht dachte. Als aber die Bahre dicht an ihm vorbeigetragen wurde, begannen die Wunden des Toten heftig zu bluten, und die Frau schrie: „Der Mörder ist hier! Die Wunden bluten! Sucht ihn! Sucht ihn!“ Wieder begann das wilde Rennen, das Stechen und Toben. Herr Iwein bemerkte es kaum, er sah nur auf die Wunderschöne und dachte: „Daß ich einer solchen Frau Leid angetan habe, reut mich sehr. Wenn ihr nun vor Schmerz das Herz bricht! Das würde ich nie verwinden.“ Als man Iwein nicht fand, setzte man den Zug zur Kapelle fort, es wurde totenstill im Burghof. Iwein regte sich nicht. Da erschien wieder Lunete und rief leise seinen Namen – sehen konnte sie ihn ja nicht. Erstaunt merkte sie, daß Iwein sich kaum um die Gefahr, in der er schwebte, zu kümmern schien, aber der
Grund wurde ihr bald offenbar, als er sie bat: „Laßt mich doch in die Kapelle blicken! Ich möchte sehen, wie Euer Herr betrauert wird.“ Da dachte sich Lunete, daß er gewiß nur die Burgfrau sehen wolle, und führte ihn an ein kleines Fenster an der Kapelle. Er nahm nichts wahr außer der Frau, die sein Herz so schnell gefangengenommen hatte. Er wünschte sich nichts, als immer hier zu sitzen und auf sie zu starren. Schließlich zog ihn Lunete fort. „Die Kraft des Ringes schwindet. Ihr müßt Euch verbergen. Kommt mit mir, ich verstecke Euch so lange, bis Ihr ohne Gefahr entfliehen könnt.“ Iwein folgte ihr gern. Lunete führte ihn in eine versteckte Kammer und versprach, ihm Essen zu bringen. Er nickte nur und hörte kaum auf sie. Dann sagte er mit einem schweren Seufzer: „Hier muß ich bleiben, und wenn es mein Leben kostet. Von dieser Frau kann ich nicht scheiden, und wenn sie mich noch so sehr haßt.“ Die kluge Lunete meinte: „Wenn Ihr meine Herrin wahrhaftig liebt und sie in jeder Gefahr schützen wollt, dann will ich ein gutes Wort für Euch bei ihr wagen!“ Dafür dankte Herr Iwein ihr von Herzen.
Laudine
Lunete ging zu ihrer weinenden Herrin Laudine, die das Mädchen von allen Dienerinnen am liebsten hatte und sich oft von ihr raten ließ. „Herrin“, begann Lunete, „Euer Kummer ist schrecklich. Faßt Euch aber, Ihr seid die Herrin des Landes und müßt für die Euren sorgen.“
„Wie kann ich das – eine Frau, deren Mann erschlagen worden ist? Jetzt wird man von allen Seiten das Land bedrängen, und mein Brunnen wird immer mehr fremde Abenteurer anlocken. Wie soll ich ihn verteidigen?“ „Ihr müßt einen starken Ritter finden, der Euch beschützt.“ „Ach, es gibt keinen Mann, der so kühn und tapfer ist, wie der meine war.“ „Gewiß gibt es den, Frau Laudine.“ „Du verhöhnst mich, Mädchen.“ „Nein, Herrin, wie könnte ich das? Aber wir müssen einen neuen Herrn finden, denn Boten haben gemeldet, daß König Artus mit seinem Gefolge in vierzehn Tagen Euren Brunnen erobern will. Wenn Ihr ihn nicht ohne einen Schwertstreich preisgeben wollt, müßt Ihr einen Ritter finden, der ihn verteidigt.“ So verstand es die kluge Lunete, Frau Laudine davon zu überzeugen, daß sie nicht alleinbleiben, sondern einen neuen Beschützer wählen müsse, und immer, wenn Frau Laudine klagte und jammerte, sprach Lunete von einem starken Ritter, der sie behüten werde. Schließlich fragte die Herrin: „Wer könnte so stark sein wie mein Mann?“ „Der Ritter, der ihn besiegt hat.“ Da fuhr Frau Laudine heftig auf und wies das Mädchen aus der Tür. Lunete ging zu Iwein in sein Versteck und berichtete ihm, daß Laudines Herz unbeugsam sei. Da sprach er: „Dann liegt mir nichts am Leben. Ich werde mich den Burgleuten stellen, mögen sie mich erschlagen.“ Aber Lunete bat ihn um Geduld: „Ich will weiter in meine Herrin dringen, verhaltet Euch nur ruhig hier.“ Frau Laudine ging der Gedanke nicht aus dem Sinn, daß sie rasch einen Beschützer suchen müsse, und allmählich überzeugte sie sich selbst davon, daß der Besieger ihres Gatten vielleicht der rechte Mann sei, ihr Land zu verteidigen. „Ob er
mag oder nicht: Er muß mir Hilfe bieten für das, was er mir angetan hat!“ Sie ließ Lunete rufen und sagte: „Mädchen, vielleicht hast du recht. Wenn der Ritter, der meinen Mann besiegt hat, aus vornehmem Hause ist und von ritterlicher Gesinnung, würde ich ihm das Land anvertrauen – meine Hand aber nicht. Kennst du ihn denn?“ „Es ist Iwein, der Sohn von König Frien.“ „Du hast mit ihm gesprochen? Weißt du denn, ob er bereit ist, als Buße mein Land zu beschirmen?“ „Er will es, Herrin, er wünscht sich nichts Besseres.“ „Dann schicke einen Boten zu ihm und laß ihn kommen.“ Lunete verriet nicht, daß Iwein auf der Burg war, sondern versprach, ihn rasch herzubringen, ging zu Iwein und erklärte ihm alles. „Morgen sollt Ihr vor die Herrin treten. Möge das Glück mit Euch sein – sonst kann ich Euch nicht mehr helfen.“ In dieser Nacht fand Iwein keinen Schlaf, ihm war, als stände er unter einer Schwertspitze, die auf ihn heruntersausen könnte, denn von Frau Laudines Worten hing nun sein Leben ab. Am anderen Tag führte Lunete ihn unbemerkt in Laudines Kemenate. Tief verneigte sich der Ritter, stumm sah die Frau ihn an. – Er warf sich ihr zu Füßen: „Herrin, ich habe Euch schlimmes Leid zugefügt, wollte Gott, es wäre nicht dazu gekommen! Ich unterwerfe mich Eurem Gericht.“ Sie sprach: „Wollt Ihr tun, was ich verlange? Und wenn ich den Tod über Euch verhänge?“ „Dann sterbe ich durch Eure Hand.“ Sie sah ihn lange an. „Ich müßte Euch hassen, aber ich kann es nicht. Wollt Ihr es sein, der mein Land und mich gegen alle Gefahren verteidigt? Wollt Ihr Euer Leben für mich wagen zu jeder Stunde?“
„Alles will ich für Euch tun, Herrin, und mit tausend Freuden.“ Sie seufzte: „Wie kommt es nur, daß ich Euch lieben muß – und daß Ihr mich liebt? Wer hat Euch das geraten?“ „Mein Herz, Herrin.“ „Und wer gebot es dem Herzen?“ „Meine Augen, Herrin.“ „Wer befahl es Euren Augen.“ „Eure Schönheit.“ Sie seufzte wieder. „Wir sind aneinander verloren. Ich will Euch mein Land und meine Hand geben, aber man wird mich schelten, daß ich so rasch einen neuen Gemahl wähle, dazu noch den Ritter, der meinen Mann erschlagen hat. Ich will meine Lehnsleute holen lassen und sie fragen, ob sie einverstanden sind, Euch als Herrn anzuerkennen.“ Dann ließ sie sich von Iwein erzählen, wie der Zweikampf vor sich gegangen war, und erkannte, daß Iwein am Brunnen um sein Leben kämpfen mußte. „Herrin, wenn das Glück einen Ritter verläßt, hilft Tapferkeit und Stärke nichts. Euer Gemahl war kühn und geschickt, aber das Glück stritt auf meiner Seite.“ Als die Lehnsleute kamen und vernahmen, daß Iwein, der Sieger über ihren Herrn, bereit war, jetzt mit der Herrschaft über das verwaiste Land auch den Schutz ihrer Güter zu übernehmen, waren sie einverstanden, denn keiner von ihnen hatte Lust, ein so gefährliches Erbe wie den Wunderbrunnen zu verteidigen. So kam es, daß Herr Iwein und Frau Laudine Hochzeit halten konnten. Der Tote war vergessen, der Lebende wurde gepriesen.
Die Artusritter am Brunnen
Als die vierzehn Tage vergangen waren, meldeten die Kundschafter, daß Artus mit seinem Heer heranrücke. Iwein rüstete sich, nahm Abschied von Frau Laudine und ritt zu seinem Brunnen, wo er sich verbarg. Bald erschien König Artus im Wald, und die Ritter betrachteten verwundert den Brunnen, doch noch dachte keiner daran, Wasser zu schöpfen und auf die smaragdene Tafel zu gießen. Herr Keie sagte zu Gawan: „Wo steckt denn nur der Iwein? Er ist doch heimlich davongeritten, vermutlich, um den Brunnen hier zu erobern – aber wo ist er? Sicher hat er Angst bekommen und das Abenteuer fahrenlassen. Hätte er nur nicht geprahlt! Er müßte so schweigsam sein wie ich“ – da lachten alle laut – „und nicht so viel törichte große Worte reden, dann könnte niemand spotten, daß er große Taten im Kopf hat und dann feige ausreißt.“ „Nun, Keie, was redest du da wieder!“ antwortete ihm Gawan. „Iwein hat niemals schlecht von dir gesprochen. Du weißt ja noch nicht, was er inzwischen erlebt hat.“ „Nun gut“, sagte Keie. „Wenn man nicht davon reden darf, kann ich ja meinen Mund halten. Aber ich möchte hier kämpfen.“ Das gestattete ihm der König gern. Jetzt ergriff Artus das Becken, schöpfte es voll und goß das Wasser gegen den Edelstein. Da zog das Unwetter herauf, es donnerte und blitzte, die Bäume krachten auf die Erde, der Todesschrei vieler Tiere erfüllte die Luft. Herr Keie hielt sich zum Kampf bereit – und nun sprengte auch schon ein gewappneter Ritter heran, in dem niemand Iwein erkannte. Iwein lächelte, als er Keie sah. Sie berannten einander mit den Speeren – und schon bei Iweins erstem Stoß purzelte Herr
Keie wie ein Sack vom Pferd. Iwein lachte: „Was ist denn das für ein Scherz, Keie? Du wolltest gewiß einmal ausprobieren, wie Fallen schmeckt? So ein großer Held wie du läßt sich doch nicht vom Pferd stechen?“ Da rief Keie ganz kläglich: „Iwein, lieber Freund, bist du es? Hilf mir doch auf, meine Rüstung ist so schwer, ich komme ja nicht auf die Beine!“ Nun mußte Keie das Spottgelächter aller ertragen zum Lohn für seine vielen mißgünstigen Bemerkungen. Und alle Artusritter freuten sich, daß Iwein Herr des Brunnens und des ganzen Landes geworden war, ein jeder gönnte es ihm. Er nahm sie mit auf seine Burg, wo Frau Laudine die hohen Gäste ehrenvoll bewirtete. Artus und seine Gefolge blieb lange bei Laudine, aber am Tage, als sie aufbrechen wollten, nahm Gawan seinen Freund Iwein beiseite: „Hör, Iwein, mach es nicht wie Erec! Vergiß nicht über dem Glück mit deiner Frau, daß du ein Ritter bist! Halt dich nicht fern von Turnieren, geh keinem Zweikampf aus dem Wege! Willst du nicht jetzt mit uns kommen? Wir zwei wollen noch manches kühne Abenteuer miteinander bestehen!“ Iwein trennte sich sehr ungern von Laudine – und was würde sie sagen, wenn er jetzt schon von ihr ritte? Er setzte sich zu ihr und bat: „Ich habe eine Bitte an dich, Laudine. Wirst du sie mir erfüllen?“ „Wie kannst du nur fragen!“ antwortete sie. „Erfülle ich dir nicht jeden Wunsch, noch ehe du ihn ausgesprochen hast?“ Er sah sie zweifelnd an: „Dann laß mich mit Artus ziehen.“ Sie erblaßte. „Diese Bitte hätte ich nicht von dir erwartet, Iwein. Du tust Unrecht, wenn du mich schon verläßt.“
„Ich komme wieder. Das Land ist jetzt nicht gefährdet, und wo auch immer ich höre, daß du mich brauchst, komme ich zu dir. Gib mir ein Jahr Urlaub, damit ich beweisen kann, daß ich ein kühner Ritter bin.“
„Nun gut“, sprach sie endlich. „Ein Jahr bleibe fort. Heute ist der achte Tag nach der Sonnenwende – ich erwarte dich nach zwölf Monaten zurück. Bist du dann nicht wieder bei mir, will ich dich nie wiedersehen. Nimm diesen Ring – er verleiht seinem Träger Glück. Und jetzt geh.“ Sie wandte sich ab, um zu verbergen, wie sehr er sie gekränkt hatte. So mußte Iwein ohne freundlichen Abschied von seiner Frau davonziehen, und das Herz war ihm schwer.
Iwein bricht sein Versprechen
Am Artushof genoß Iwein frohe Tage, ritt zu Turnieren, kämpfte Seite an Seite mit Gawan manchen Kampf, freute sich an der Gesellschaft der Freunde und vergaß darüber die Zeit. Er war schon zwei Monate über die Frist ausgeblieben und dachte nicht mehr an sein Gelübde. Eines fröhlichen Tages saßen sie alle beisammen, aßen und tranken und lachten über die Lieder des Spielmanns – da kam Lunete geritten. Zornig war ihr Gesicht, zornig rief sie über die Gesellschaft hinweg: „König Artus, Ihr habt einen Treulosen an Eurer Tafel! Iwein hat sein Versprechen vergessen, er hat die schönste Frau gekränkt! Meine Herrin Laudine hat sich ihm zu eigen gegeben, obwohl er ihren Mann erschlagen hatte, sie liebte ihn wahrhaft, aber er hat sie vergessen. Und ich Unglückselige habe die Ehe gestiftet! Herr Iwein ist es nicht wert, daß ich ihm sein Leben rettete!“ Iwein starrte sie entsetzt an: „Wo ist die Zeit geblieben? Ich elender Mann!“ „Hört, Herr Iwein“, fuhr Lunete fort. „Meine Herrin will Euch nicht wiedersehen, sie verzichtet auf den treulosen Mann. Gebt mir den Ring zurück, den sie Euch schenkte!“ Und Lunete zog ihm, der sich nicht wehrte, den Ring vom Finger. Sie grüßte noch einmal in die Runde und ritt davon. Iwein stand langsam auf, langsam ging er aus dem Kreis, er verschwand im Wald. Daß er die geliebte Frau durch seine eigene Schuld verloren und sich als treulos erwiesen hatte, vermochte er nicht zu ertragen: Wahnsinn ergriff ihn. Er riß sich die Kleider vom Leib, achtete nicht auf die Dornen, die ihm die Haut zerfetzten, nicht auf die Sonne, die ihn mit glühenden Pfeilen stach – er wußte nichts mehr von sich, nicht,
daß er der Ritter Iwein gewesen. Lange blieb er im Wald, bei einem Einsiedler erbettelte er sich Brot, einem Knappen entriß er Pfeil und Bogen und schoß das Wild, das er roh verzehrte, er jammerte vor sich hin und redete sinnloses Zeug mit Vögeln und Bäumen – aber er wußte nicht mehr, was ihn zum Jammern zwang.
Iweins Rettung
Eine edle Gräfin, die eines Tages mit ihren Mädchen durch den Wald ritt, sah den nackten Mann im Gras schlafen. Sie schickte eine der Dienerinnen hin: „Sieh zu, ob der Mann noch lebt, ob er krank ist und Hilfe braucht!“ Das Mädchen beugte sich über den Schlafenden und fuhr erschrocken zurück: „Herrin, es ist der Ritter Iwein! Ich erkenne ihn an der Narbe auf seiner Stirn. Ach, Herrin, als ich am Artushof diente, war er einer der tapfersten und fröhlichsten Ritter! Was mag ihm nur zugestoßen sein?“ Die Gräfin dachte an eine wundertätige Heilsalbe, die wohlverwahrt in ihrer Burg lag. „Der Ritter ist krank, Mädchen. Wir wollen versuchen, ihn gesund zu machen. Vielleicht gewinne ich an ihm Beistand gegen den Grafen Allier, der uns bedrängt.“ Sie kehrte mit den Mädchen in die Burg zurück, holte die Salbe und befahl der Dienerin, mit der Salbe und anständigen Kleidern zu Iwein zurückzukehren. Das Mädchen fand den Mann immer noch schlafend vor, bestrich ihn mit der Medizin und legte die Kleider neben ihn. Dann versteckte sie sich hinter einem Baum, damit der erwachende Ritter sich nicht seiner Nacktheit schämen sollte.
Die Salbe drang Iwein durch alle Glieder. Er schlug die Augen auf: „Wie wirr habe ich geträumt! Mir schien, ich wäre ein großer Ritter gewesen, hätte viele Kämpfe ausgefochten und eine schöne Frau errungen, die ich dann wieder verlor. Dabei bin ich doch nur ein armer Bauer! Wie kommt es nur, daß ich von einem Leben in Glanz und Reichtum träumen konnte?“ Dann sah er erst, daß er nackt war, und entdeckte die Kleider, die neben ihm lagen. „Das sind Gewänder, wie sie zu meinem Traum passen“, dachte er und legte sie an. Nun trat das Mädchen hinter dem Baum hervor und tat, als ob sie hier zufällig durch den Wald spazierte. Wie sie sich gedacht hatte, rief Iwein sie an: „Jungfrau, helft mir! Ich bin fremd und weiß weder Weg noch Steg. Führt mich doch bitte aus diesem Wald heraus, damit ich zu Menschen komme!“ Sie antwortete ihm freundlich und nahm ihn mit sich auf die Burg der Gräfin. Dort wurde er wohl aufgenommen und sorgsam gepflegt, bis er wieder ganz gesundete und wußte, daß er der Ritter Iwein war. Da kehrte freilich der ganze Schmerz um Laudine und sein verspieltes Glück zurück, und die Gräfin mochte tun, was sie wollte, um ihn zu erheitern, er blieb düster und fremd. Aber er half ihr gern gegen den Grafen Allier, als dieser mit einer großen Streitmacht gegen die Burg zog. Unter Iweins Führung kämpften die Leute der Gräfin tapfer, und Allier selbst wurde von Iwein gefangengenommen und mußte schwören, die Gräfin nie mehr zu bedrängen. Gern hätte die Dame Iwein bei sich behalten, auf viele Weise zeigte sie ihm, wie gern sie ihn hatte, aber er dachte nur an Laudine und hatte kein Auge für die Gräfin. So mußte sie ihn endlich ziehen lassen, schenkte ihm aber ein Pferd und eine neue Rüstung. Dankbar nahm er Abschied und zog weiter ins Ungewisse.
Iwein und der Löwe
Eines Tages, als er über ein Gebirge ritt, hörte er schon von weitem ein schreckliches Fauchen und Knurren, und als er den Kamm des Berges erklommen hatte, sah er einen gewaltigen Drachen mit einem Löwen kämpfen. Halb betäubt von dem Feuerstrom, der dem Drachen aus dem Maul drang, wehrte sich der Löwe verzweifelt. Iwein erkannte bald, daß der Lindwurm der Stärkere war, und als der Drache seinen langen Schwanz um den Löwen zu ringeln begann, um ihn zu ersticken, sprang der Ritter vom Pferd, zog sein Schwert und hieb dem Untier den Kopf ab. Dann lief er rasch zurück, bestieg sein Pferd und wollte davonreiten, denn er hielt es für wahrscheinlich, daß der Löwe nun ihn anfallen würde, und er wollte den nicht im Kampf töten müssen, den er gerade gerettet hatte. Der Löwe aber nahte sich freundlich, wedelte wie ein Hund mit dem Schweif und leckte seinem Retter dankbar die Hand mit der rauhen Zunge. Und als Iwein weiterritt, folgte ihm das Tier auf Schritt und Tritt, jagte Hasen und Rehe, die er seinem Herrn brachte, und bewachte ihn des Nachts. So fand der einsame Iwein einen treuen Gefährten, der ihn nie mehr verließ. Bald war er überall als der Löwenritter bekannt.
Iwein begegnet Lunete
Ohne auf Weg und Steg zu achten, ritt Iwein trübe durchs Land. Da gelangte er in eine Gegend, die ihm wohlvertraut war, und plötzlich stand er vor dem Brunnen, an dem sein Abenteuer begonnen hatte! Er wußte, daß er nun wieder ins Land seiner Frau gekommen war, und der Schmerz darüber, daß er sie nicht wiedersehen durfte, packte ihn so heftig, daß er wie tot vom Pferde sank. Da klagte und schrie der Löwe vor Kummer so fürchterlich auf, daß Iwein wieder erwachte. „Mein treues Tier!“ sprach er. „Du fühlst mein Leid. An dir könnte ich lernen, was Treue und Dankbarkeit heißt, die ich beide so schändlich verraten habe. Ach, ich will gern büßen, wenn ich nur wüßte, daß ich dann endlich meine Herrin wieder in die Arme schließen darf!“ Seine Klage hörte eine Frau, die in einer kleinen Waldkapelle eingeschlossen saß. „Was jammert Ihr so?“ rief sie durchs Fenster. „Ihr seid frei und könnt gehen, wohin Ihr wollt. Ich aber habe viel mehr Grund zum Trauern, denn ich bin hier gefangen und habe den Tod vor Augen.“ Iwein näherte sich der Kapelle, konnte aber niemanden erkennen. „Wer seid Ihr?“ rief er. „Ich bin eine arme Magd, gefangen in dieser Kapelle, und niemand kann mich vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen bewahren.“ Erschrocken fragte Iwein: „Was ist es denn, das Euch den Tod bringt?“ „Ich habe meine Herrin überredet, einem Ritter ihre Hand und ihre Herrschaft zu geben. Aber er war treulos, hat meine Herrin verlassen und in Schande gebracht. Alle Welt spottet über sie, die von ihrem Manne verlassen wurde. Sie hat ihr Herz gegen mich verhärtet und mag mich nicht mehr sehen.
Das haben drei Ritter ausgenutzt, die mir die Gunst der Herrin nie gönnten. Sie beschuldigten mich, daß ich die Herrin verraten hätte, als ich ihr riet, mit dem Ritter Hochzeit zu halten. Mir geben sie die Schuld an allem, sie behaupten, daß ich die Dame wissentlich ins Unglück gestürzt habe.“ „Und wer verteidigt Euch?“ wollte Iwein wissen. „Ach, ich finde niemanden. Ich habe die Ritter gebeten, mir vierzig Tage Zeit zu geben, damit ich einen Mann fände, der für meine Unschuld streiten würde. Aber die vierzig Tage sind morgen um, und niemand kämpft für mich. Ritter Gawan hätte es gewiß getan, aber ich weiß nicht, wo ich ihn finden soll, er ist fern bei einem großen Turnier. Nun wird man morgen den Scheiterhaufen errichten und mich verbrennen, denn wenn niemand für mich kämpft, gilt meine Schuld als erwiesen.“ „Sagt mir, Jungfrau, heißt Ihr Lunete?“ Bei diesen Worten nahm Iwein den Helm ab – und nun erkannte das Mädchen den Urheber ihrer Not. „Ich werde Euch helfen“, versprach er. „Um meinetwillen seid Ihr unschuldig ins Unglück gekommen, ich werde Euch befreien. Glaubt mir, daß ich treulos war und die Frist vergaß, die Laudine mir gesetzt hatte, reut mich bitter. Ich wollte, ich wüßte einen Weg, es wieder gutzumachen. Aber wenigstens kann ich Euch befreien. Seid getrost – ich komme morgen hierher und streite für Eure Unschuld!“ Weinend dankte sie ihm. „Aber ich warne Euch: Die drei Männer, mit denen Ihr kämpfen müßt, sind sehr stark. Solltet Ihr bei dem Streit Euer Leben verlieren, hätte ich keinen frohen Tag mehr, denn daß ein Ritter um einer Magd willen sein Leben läßt, wäre ein schlimmes Ende auch für mich.“ Aber er bat sie noch einmal, Hoffnung zu fassen, und ritt weiter.
Der Kampf mit dem Riesen
Iwein gelangte nach kurzem Ritt auf ein Schloß, wo man ihn freundlich willkommen hieß und ihm alles bot, was ein Reisender zu seiner Bequemlichkeit braucht. Knappen und Mädchen fürchteten sich zwar sehr vor dem großen Löwen, aber Iwein beruhigte sie: „Er tut niemandem etwas zuleide, der mir nichts Übles will.“ Die Burgfrau war eine Schwester von Gawan. Sie und die Ihren gaben sich Mühe, ihren Gast zu unterhalten, aber er spürte, daß sie unruhig und bedrückt waren, und fragte nach der Ursache. Da erfuhr er, daß ein schrecklicher Riese die zehn Söhne des Burgherrn gefangengenommen und vier von ihnen schon aufgehängt hatte. Er wollte die anderen nur dann freigeben, wenn er die schöne Tochter zur Frau bekäme. Das Mädchen saß weinend im Saal und sagte nur immer wieder: „Vater, gib mich dem Riesen zur Frau, damit meine Brüder gerettet werden!“ Aber der Vater schüttelte nur stumm den Kopf. „Wann kommt der Riese?“ fragte Iwein. „Morgen früh.“ „O weh, morgen früh muß ich einem Mädchen helfen, das zum Tode verurteilt werden soll. Aber ich möchte auch Euch aus der Gefahr befreien. Was soll ich nur tun?“ „Herr“, antwortete der Burgherr würdig, „tut, was Ihr übernommen habt. Unser Leid darf Euch nicht beschweren. Der Riese ist auch so stark, daß Ihr den Kampf gegen ihn nimmermehr bestehen könntet.“ Aber Iwein jammerte das Leid, das er hier mit ansehen mußte, und er vertraute auf sein Glück: Vielleicht konnte er den Riesen abwarten und dann noch rechtzeitig zu Lunetes Befreiung reiten.
Am anderen Morgen stand Iwein gerüstet und gewappnet am Burgtor und erwartete ungeduldig den Riesen, der sich aber nicht blicken ließ. „Was fang’ ich nur an?“ grübelte er. „Soll ich jetzt davonreiten und Lunete helfen? Wenn doch der Riese bald käme!“ Und da sah er auch schon den Kerl heranziehen, mit ihm die sechs gefangenen Söhne des Burgherrn, die halb verhungert, von Schlägen blau und grün, mit roten Striemen über und über bedeckt, auf ihre Pferde gebunden waren. Bei
dem Anblick scholl lautes Jammern durch die Burg. Der Riese gröhlte: „Nun heraus mit dem Mädchen! Sonst hänge ich ihre Brüder hier an den nächsten Baum! Na, wo bleibt sie denn?“ Iwein ritt auf ihn zu. Der Riese lachte und hob die gewaltige Keule, seine einzige Waffe. Iwein versetzte ihm einen Stoß mit dem Speer, der im ungepanzerten Leib des Riesen stecken blieb. Der aber schlug so kräftig zu, daß Iwein wie tot auf dem Rücken des Pferdes liegen blieb. Das sah der Löwe – er sprang den Riesen von hinten an und riß ihm mit einem einzigen Prankenhieb die Schulter auf, daß der Kerl vor Schmerz auf brüllte und mit der Keule gegen ihn ausholte. Gewandt sprang der Löwe beiseite, Iwein holte mit dem Schwert aus und traf den Gegner mitten durchs Herz. Der fiel tot um wie ein Baum. Nun liefen alle Burgbewohner heraus, halfen Iwein vom Pferd, banden die Gefangenen los und weinten vor Freude. Der Burgherr sprach: „Herr Ritter, Euch gehört alles, was mein ist. Laßt mich mein Land von Euch zu Lehen nehmen, laßt mich Euer Vasall sein.“ Aber Iwein mußte fort. Im Wegreiten rief er nach: „Grüßt Herrn Gawan, den Bruder Eurer Frau! Ich freue mich, daß ich ihm diesen Dienst erweisen konnte. Grüßt ihn von dem Löwenritter!“ Er zog davon, und sie wußten nicht einmal, wie er hieß.
Lunetes Befreiung
So müde und zerhauen er auch war, er hatte nur den einen Gedanken, rechtzeitig am Brunnen zu sein, und er spornte sein Roß und trieb es immer ungeduldiger an. Beim Brunnen hatte man schon den Scheiterhaufen errichtet, viel Volks stand daneben, und Iwein sah auf erhöhtem Sitz
Frau Laudine als Richterin sitzen, was ihn fast von Sinnen brachte. Gebunden lag Lunete auf der Erde. Iwein ritt zu ihr und sprach so laut, daß alle es vernahmen: „Jungfrau, sagt mir, wer Eure Ankläger sind. Ich will mit ihnen kämpfen, um Eure Unschuld zu beweisen.“ Sie wies auf drei stolze Ritter. Einer von ihnen trat vor Iwein: „Herr, hütet Euch, für diese Frau zu streiten. Sie ist verschlagen und schlecht. Sie hat unsere Herrin mit Absicht ins Unglück gebracht. Wir kämpfen für eine gerechte Sache, wenn Ihr uns zum Kampf herausfordern wollt. Ihr könnt nicht siegen, nur Euer Leben verlieren.“ Aber Iwein bestand auf dem Kampf: „Ich bin nicht allein, mit mir streitet die Wahrheit, und mit der Wahrheit ist Gott. Ihr werdet Eure schlechte Sache nicht zum Siege führen.“ Nun verlangten die drei, daß der Löwe fortgebracht werde. „Wir wollen mit einem Mann und nicht mit einem Raubtier kämpfen, und wenn Ihr Euch weigert, wird die Jungfrau sofort brennen müssen!“ Iwein führte den Löwen ein wenig beiseite, aber das Tier wandte den Kopf nicht von seinem Herrn ab und beobachtete scharf, was vor sich ging. Der Kampf begann – drei Mann stürmten zugleich auf Iwein los. Nun mußte er zeigen, ob er ein tüchtiger Streiter war! Den einen konnte er vom Pferd stechen, die anderen bekämpfte er mit dem Schwert, aber drei Gegner waren zuviel für ihn: Der erste stand wieder auf und mischte sich erneut in den Kampf. Nun hielt es den Löwen nicht länger: Fauchend sprang er auf die Männer los, riß einen zu Boden und fiel auch die anderen an. Sie hatten sich nun gegen Iwein und das Raubtier zu wehren, dem sie tiefe Wunden schlugen. Als Iwein das sah, wurde er so zornig, daß er die Kraft seiner Hiebe verdoppelte, und schließlich lagen alle drei vor ihm am Boden. Er freilich hatte auch viele Wunden empfangen. Damit war das Gottesurteil beendet, Frau Lunetes Unschuld bewiesen.
Freudig umringten sie alle Mädchen, die Lunete liebhatten, freundlich trat auch die Herrin auf sie zu: „Lunete, es tut mir leid, daß ich Böses von dir dachte. Der Ritter hat deine Unschuld bewiesen. Jetzt komm wieder zu mir zurück, wir wollen wie früher gut miteinander leben.“ Die Ritter, die Lunete angeklagt hatten, mußten nun selber brennen, wie es die harte Sitte bei einem Gottesurteil forderte. Laudine erkannte ihren Mann nicht. Sie trat auf ihn zu und dankte ihm, daß er ihr Mädchen gerettet habe. „Kommt nun mit mir, ich will Euch und Eurem Löwen die Wunden verbinden. Ihr braucht Ruhe, die sollt Ihr bei mir finden.“ „Herrin, ich danke Euch. Aber ich kann Euch nicht folgen, ich finde mein Glück nicht eher wieder, als bis ich meine Frau versöhnt habe, die mir zürnt.“ „Welche Frau könnte einem so tapferen Ritter zürnen?“ „Sie hat Ursache, mich zu hassen.“ „Wollt Ihr mir nicht Euren Namen nennen“, sprach Frau Laudine, „damit ich versuchen kann, Euch mit Eurer Gemahlin zu versöhnen?“ „Ach Herrin, das würde nicht helfen. Sie kann mir nicht verzeihen. Erst muß ich noch viele Taten verrichten, damit sie sieht, daß ich treu und tapfer zugleich bin. Man nennt mich den Löwenritter – das mag Euch genügen.“ „So soll ich Euch ziehen lassen? Was wird man sagen, daß ich einen schwerverletzten Mann nicht gepflegt habe?“ „Herrin, niemand darf Euch etwas vorwerfen, Eure Güte hat mir viel geboten. Aber ich muß fort.“ „Dann möge Euch Gottes Segen begleiten und den Schlüssel zum Glück wiederfinden lassen.“ „Wenn sie wüßte, daß sie selbst der Schlüssel ist!“ seufzte Iwein, als er zu Tode betrübt Abschied nahm.
Lunete folgte ihm verstohlen. Sie dankte ihm von ganzem Herzen und versprach, alles daran zu setzen, damit Iwein Laudines Vertrauen und Liebe zurückgewönne. Als Iwein weiterritt, merkte er, daß der Löwe ihm kaum folgen konnte, immer wieder brach er ermattet zusammen, so sehr hatten ihn die Wunden geschwächt, die ihm die Ritter beigebracht hatten. Da stieg Iwein vom Pferd, polsterte seinen Schild mit Gras, legte den Löwen darauf und hob den Schild aufs Pferd, das willig die doppelte Last trug. Aber der Ritter war froh, als er nach Stunden mühsamer Fahrt zu einer Burg kam. Er bat um Einlaß, der ihm gern gewährt wurde, und blieb vierzehn Tage bei seinen Gastgebern. Seine und des Löwen Wunden heilten, er fühlte die alte Kraft wiederkehren.
Der Streit der Schwestern
Fern von dieser Burg lebten zwei Schwestern, denen der Vater starb. Die älteste, die habgierig und hart war, beanspruchte nun das ganze Erbe und wollte ihrer Schwester nichts gönnen. Viele Male bat die jüngere: „Gib mir meine Hälfte, es bleibt ja immer noch genug für dich! Wie würde sich unser Vater gegrämt haben, wenn er gewußt hätte, daß du mich ins Elend stoßen willst.“ Aber die Älteste dachte nicht daran, mit ihr zu teilen. Da sagte die Jüngere: „Ich muß mir einen Ritter suchen, der meine Sache vertritt. Am Hof von König Artus finde ich sicher einen Beschützer, ich will hinziehen und bitten, daß mir jemand beisteht.“ Hätte sie das nur nicht gesagt! Denn nun machte sich die ältere sofort auf den Weg, kam vor der anderen an den Artushof und wußte so kläglich zu bitten und zu reden, daß sie
Herrn Gawans Herz rührte und er versprach, für sie zu kämpfen, wenn es notwendig werden sollte. Nach ein paar Tagen erschien auch die jüngere Schwester am Artushof und bat um Beistand. Kein Ritter fand sich, der ihr helfen wollte. Sie war in großer Not. „Nie hätte ich gedacht, daß ich hier keinen Schutz finden würde. Immer glaubte ich, die Ritter der Tafelrunde hätten sich verpflichtet, allen Bedrängten beizustehen. Aber wenn Ihr mir vielleicht nicht glaubt, daß mein Anspruch gerecht ist, will ich mir einen anderen Helfer suchen. Ich weiß von einem Mann, den man den Löwenritter nennt – er ist bereit, jedem Beistand zu verleihen, der seiner bedarf.“ Dann wandte sie sich an ihre Schwester: „Oder gedenkst du doch, mir im Guten mein Teil herauszugeben?“ „Nein, nicht ein Pferd, keinen Löffel, kein Messer, kein Acker, kein Stück Vieh, keine Magd und keinen Diener“, antwortete die andere. „Ich habe einen Ritter gewonnen, der meine Sache verteidigt. Du kannst ebenso gut gleich aufgeben.“ Nun aber mischte sich König Artus in den Streit. Er wandte sich an die Älteste: „Ihr seid an den Hof gekommen, um Hilfe zu suchen, und so hat es auch Eure Schwester getan. Jetzt erfordert es die Sitte, daß Eure Schwester vierzig Tage Frist erhält, um sich einen Helfer zu suchen. Nach sechs Wochen soll hier bei mir der Streit ausgetragen werden.“ Das arme Mädchen machte sich ganz allein auf, um den Löwenritter zu finden, aber nirgends konnte man ihr sagen, wo er sich aufhielt. Durch Regen und Sturm ritt sie mutterseelenallein, aß die Beeren, die sie im Walde fand, und trank das Wasser der Bäche. Endlich kam sie an eine Burg, wo man sie mitleidig aufnahm und ihr Essen und ein Bett für die Nacht bot. „Was führt Euch allein auf die Reise, Herrin?“ fragte der Burgherr. „Ich suche den Löwenritter. Wie er heißt, weiß ich nicht, aber er ist der einzige Mann, der mir aus meiner Not helfen kann.“
„Der Löwenritter war hier. Er hat uns von einem Riesen erlöst, meine Söhne befreit und meine Tochter gerettet. Wirklich, er ist ein Mann, der den Bedrängten hilft!“ „Aber wo ist er jetzt?“ „Ach, Jungfrau, das wissen wir nicht. Aber reitet weiter ins Nachbarland, fragt nach Lunete, die weiß es vielleicht.“ Das Mädchen nahm mit vielen Dankesworten Abschied und fragte sich durch, bis sie Lunete fand. Die war bereit, mit ihr an die Stelle zu reiten, wo sie den Löwenritter nach seinem Kampf mit ihren Anklägern verlassen hatte. Dann zog das Mädchen weiter, und niemand konnte ihr noch eine Spur von dem Löwenritter weisen. Aber das Glück war mit ihr: Sie gelangte auf eine Burg, wo man sie willkommen hieß und nach ihren Wünschen fragte. Sie sagte: „Ich suche einen Ritter, der mit einem Löwen durchs Land zieht.“ „Dann seid Ihr auf dem rechten Wege: Heute ist er von hier aus fortgeritten. Vierzehn Tage lang lagen er und sein Löwe an ihren Wunden krank bei uns. Jetzt sind beide wieder gesund. Eilt Euch, dann könnt Ihr den Löwenritter vielleicht noch einholen.“ Da spornte das Mädchen ihr Pferd und ritt, so schnell sie nur konnte, bis sie vor sich den Mann traben sah, dem ein Löwe zur Seite lief. Das Mädchen schämte sich sehr, daß sie einen unbekannten Ritter um Hilfe bitten sollte, aber sie faßte sich ein Herz: „Gott gebe mir die rechten Worte ein, damit ich sein Herz rühre!“ Sie ritt an ihn heran und grüßte ihn höflich. Er sah ihr an, daß sie viel Not durchlitten hatte, und fragte freundlich: „Herrin, was fehlt Euch? Kann ich Euch helfen?“ „Ach, nur Ihr könnt es! Ich weiß keinen Menschen auf der weiten Welt, der mir helfen würde, wenn Ihr es nicht tut!“
Dann berichtete sie Iwein von dem Streit um das Erbe ihres Vaters. „Es sind nur noch wenige Tage, dann soll ein Zweikampf vor König Artus darüber entscheiden, ob meine Schwester alles nehmen darf, was uns der Vater vererbt hat. Gewinnt sie, dann muß ich am Bettelstab in die Welt ziehen.“ „Tröstet Euch, Herrin“, sprach Iwein. „Ich will für Euch kämpfen. Zeigt mir jetzt den Weg zurück.“
Die gefangenen Jungfrauen
Iwein und das Mädchen ritten miteinander weiter und hatten sich vieles zu erzählen. Schließlich kamen sie in eine von einer Burg gekrönte Stadt und beschlossen, hier Rast zu machen und die Nacht zu verbringen. Die Stadtbewohner betrachteten die beiden Fremden mit bösen Blicken, ja sie murrten: „Was wollt Ihr hier? Ihr seid nicht willkommen – macht, daß Ihr zum anderen Tor wieder hinauskommt.“ Der unfreundliche Empfang verwunderte Iwein, aber wenn er die Leute fragen wollte, warum sie ihn so ungastlich begrüßten, wandten sie sich nur finster ab. Schließlich winkte ihn eine Frau verstohlen beiseite und flüsterte hastig: „Herr, kehrt um! Die Leute wollen Euch nur vertreiben, weil Euch Unglück in dieser Stadt begegnet. Kein Bürger darf einem Fremden Obdach bieten. Ihr müßt Euch schon zur Burg selbst wenden, aber dort erwartet die Fremden nur Unheil. Kehrt um!“ „Ich danke Euch“, antwortete Iwein, „aber es ist schon spät, und die Jungfrau, die ich geleite, ist müde vom langen Weg.
Wir werden es wagen.“ Kopfschüttelnd sah die Frau hinter ihnen her. Auch auf der Burg hieß man sie nicht willkommen. Der Torhüter ließ sie zwar herein, verriegelte aber hinter ihnen die Tür und brummte: „Drinnen seid Ihr. In der Mausefalle. Wie Ihr wieder hinauskommen wollt, müßt Ihr selbst zusehen.“ Im Burghof erhob sich ein düsteres Gebäude, aus dessen Fenstern mattes Kerzenlicht schimmerte. Iwein blickte hinein und sah viele Frauen – es waren dreihundert – an der Arbeit. Sie alle waren damit beschäftigt, kostbare Stoffe herzustellen; einige von ihnen webten, andere stickten mit Goldfäden, wieder andere spannen, und einige mußten die harte Arbeit des Flachsbrechens und -hechelns verrichten, wobei sie sich die Finger wund stachen und rieben. Iwein erkannte, daß es allesamt feine und edle Mädchen und gewiß nicht zu grober Arbeit geschaffen waren. Als sie den fremden Ritter sahen, erröteten sie und schienen sich sehr zu schämen. Man sah ihnen an, daß sie nie ins Freie kamen, mager und elend war eine wie die andere, und alle waren in das gleiche staubfarbene Kleid gehüllt. Iweins Begleiterin standen die Tränen in den Augen, als sie das Elend sah. Iwein aber ging zum Torhüter zurück, um ihn nach den Frauen zu fragen. „Von mir bekommt Ihr nichts zu wissen“, brummte der Mann. „Und seht nur her: Das Tor ist fest geschlossen. Was nun kommt, müßt Ihr durchstehen, Ihr könnt nicht ausreißen.“ Ärgerlich wandte sich Iwein ab, ging zum Arbeitshaus zurück, suchte und fand eine niedrige Tür und trat in den düsteren Raum ein. Hier erfuhr er, daß die dreihundert Frauen als Geiseln von dem Herrn ihres Landes hierher gesandt worden waren. Zwei Riesen beherrschten die Burg – der eigentliche Burgherr konnte sich nicht gegen sie wehren. Diese Riesen hatten den jungen König des Reiches besiegt, aus dem
die Frauen stammten, und seit zehn Jahren mußte er alljährlich dreißig edle Jungfrauen auf der Burg abliefern. Sie hatten keine Hoffnung auf Befreiung, denn noch keinem Menschen war es geglückt, die Gewalt der Riesen zu brechen. „Und auch Ihr werdet hier Euer Leben verlieren, und Eure zarte Begleiterin wird man zu uns einsperren. Ein schlimmes Geschick hat Euch zu Eurem Verderben hierher geführt.“ Aber Iwein ließ sich nicht entmutigen: „Muß ich kämpfen, dann will ich es mit frischem Mut wagen. Bisher stand mir das Glück zur Seite. Und ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß ich euch befreien kann.“ Auf der Suche nach Menschen ging er mit seiner Begleiterin durch die ganze Burg, fand aber niemanden. Endlich gelangten sie über eine kleine Treppe in einen stillen Garten. Hier lag ein würdiger alter Mann auf einem Ruhebett, neben ihm saß eine Frau. Die beiden hörten einem jungen Mädchen zu, das ihnen vorlas. Also lebten der Burgherr – er war es – und die Seinen glücklich und friedlich, während draußen dreihundert Mädchen in harter Gefangenschaft hausen mußten! Die freundlichen Leute im Garten sahen allerdings nicht so aus, als ob sie an dem Schicksal der Jungfrauen schuldig sein könnten. Als Iwein den Garten betrat, erhob sich der Burgherr sofort und hieß ihn freundlich willkommen. Das Mädchen nahm ihm den Harnisch ab und sorgte für Iweins Begleiterin. Ein gutes Mahl war bald zubereitet, und lange saßen sie beisammen, die beiden Reisenden und die Gastgeber. Der Löwe schlief zu Iweins Füßen, und das schöne Burgfräulein strahlte. Sie gefiel Herrn Iwein sehr – und hätte nicht Laudine sein Herz besessen, dann wäre es wohl diesem Mädchen gelungen, ihn für sich zu gewinnen. Auch die Nacht verlief ruhig, und Iwein fragte sich bei Morgengrauen, was ihm wohl in dieser friedlichen Burg an Schlimmem begegnen sollte. Aber schon nach der Messe
erfuhr er, was ihm bevorstand. „Herr“, begann der alte Mann, „ich habe Euch mit tausend Freuden aufgenommen, aber ich kann es nicht hindern, daß Ihr jetzt um Euer Leben kämpfen müßt. Meine Burg und alles, was ich habe, ist in die Gewalt von zwei schrecklichen Riesen geraten. Sie bestimmen hier, und sie sind es, die die Jungfrauen für sich arbeiten lassen und damit täglich reicher werden. Keiner meiner Gäste kann die Burg ungehindert verlassen – ach, und keiner hat sie überhaupt je verlassen, denn noch jeder ist von den Riesen besiegt und erschlagen worden. Sollte es einem Ritter gelingen, sie zu besiegen, dann gehört ihm die Hand meiner Tochter und später all mein Land und Erbe. Hier findet Ihr also Reichtum oder Tod.“ Iwein antwortete: „Herr, Eure hochgeborene Tochter ist nichts für einen fahrenden Ritter wie mich. Warum sollte ich um sie kämpfen, wenn sie doch nicht in mir einen ebenbürtigen Gatten findet?“ So sprach er, weil er nicht von Laudine erzählen mochte. Aber der Burgherr erwiderte: „Habt Ihr keinen Mut? Oder verschmäht Ihr meine Tochter? Ihr könnt Euch ebenso gut wehren – denn sonst schlagen Euch die Riesen doch tot.“ „Es ist traurig, daß man bei Euch das Obdach mit dem Leben bezahlen soll. Aber wenn es denn sein muß – gut, ich kämpfe.“ Er ließ sich sein Pferd bringen und rüstete sich. Seine Begleiterin und das schöne Burgfräulein sahen unter Tränen zu, wie er zum Kampf bereit auf den Burghof ritt. Schon kamen die beiden fürchterlichen Riesen herbei, schwer gepanzert, nur Kopf, Arme und Beine waren ungeschützt. Sie führten weder Speer noch Schwert, sondern erhoben nur drohend ihre Keulen. Als sie aber den Löwen erblickten, schrien sie: „Hier wird Mann gegen Mann gekämpft! Mit Raubtieren wollen wir nichts zu tun haben. Sperrt die Bestie ein, oder wir erschlagen Euch gleich!“ So blieb Iwein nichts
übrig, als den treuen Löwen in einen Verschlag zu sperren. Durch einen Spalt in der Wand beobachtete das Tier aber scharf die Vorgänge auf dem Burghof. Der ungleiche Kampf begann. Keulenhiebe sausten hageldicht auf den armen Iwein, Helm und Schild zersplitterten sofort, es gelang ihm kaum, selbst einen Schwertstreich anzubringen. Das sah der Löwe. Er warf sich gegen die Wand, die nicht weichen wollte – er grub mit seinen Tatzen ein Loch, und schließlich kroch er heraus und warf sich mit einem einzigen Sprung auf den einen Riesen, riß ihn vom Pferd und zerfetzte ihm Kopf und Arme, bis er um Hilfe schrie. Da ließ der andere Kerl von Iwein ab, um seinem Bruder zu helfen, und nun hieb Iwein auf die beiden Riesen los, und der Löwe zerfleischte sie mit Pranken und Zähnen, bis sie beide wehrlos am Boden lagen. Sie wurden aber nicht umgebracht, sondern nur verjagt, und von der Zeit an ließen sie sich nie mehr blicken; keiner weiß, was aus ihnen geworden ist. Freudestrahlend trat der Burgherr auf Iwein zu, die schöne Tochter an der Hand. „Ihr habt sie errungen! Ihr seid der tapferste und beste Ritter, der uns je vor Augen gekommen ist!“ Aber Iwein sprach: „Herr, mein Herz und meine Sehnsucht gehören einer anderen Frau. Ich kann Eure Tochter nicht heiraten.“ Da ergrimmte der Burgherr, vergaß ganz, wieviel Dank er dem Ritter schuldete, und schalt ihn, daß er seine Tochter verschmähe. Aber Iwein blieb fest. Er verlangte, daß die gefangenen Jungfrauen freigelassen würden, was sofort geschah. Damit sie sich erholen konnten und nicht in ihrem kläglichen Zustand zu den Ihren zurückkehren mußten, blieb Iwein noch ein paar Tage auf der Burg.
Dann kleideten sich die Mädchen in die kostbaren Stoffe, die sie bisher für andere Frauen gewebt und gestickt hatten, und ließen sich von ihm fortbringen. Der Tochter des Burgherrn sagte Iwein zum Abschied: „Vergebt mir, Herrin, daß ich Euch nicht mit mir nehmen kann! Hätte ich nicht einer anderen Frau die Hand gereicht, dann würde ich Euch mit tausend Freuden zu meiner Gattin gemacht haben!“ Aber das war geringer Trost für sie, die ihn ziehen lassen mußte.
Der Kampf der Freunde
Iwein mußte sich beeilen, um mit seiner Begleiterin an den Artushof zu kommen, wo der Kampf um das Recht der beiden Schwestern ausgefochten werden sollte. Iwein wußte nicht, wer sein Gegner war, denn Gawan hatte überall verschwiegen, daß er für die ältere Schwester kämpfen wolle, und kam in einer fremden Rüstung auf den Kampfplatz. Als die beiden Streiter einander im Ring gegenüberstanden, versuchte König Artus noch einmal, das ältere Mädchen zur Einsicht zu bringen: „Sollen denn wirklich zwei so herrliche Ritter auf den Tod miteinander kämpfen?“ Aber sie beharrte auf ihrer Weigerung, das Erbe mit der Schwester zu teilen, weil sie glaubte, daß niemand den Ritter Gawan besiegen könne. Der Speerkampf begann, Lanze auf Lanze zerbrach bei den wilden Stößen, aber beide saßen fest im Sattel: „Speer her, Speer her!“ riefen sie nach neuen Waffen, bis alle Speere verstochen waren. Da begannen sie den Schwerterkampf, und sie schonten einander nicht, sondern kämpften wie die grimmigsten Feinde. Schon sickerte Blut durch die Ringe der Panzer, schartig waren die Waffen, die Schilde zerhauen – und noch immer war kein Ende abzusehen. Schließlich unterbrachen sie den Kampf, um neue Kräfte zu sammeln, ließen sich aber nicht viel Zeit dazu, sondern droschen bald wieder heftig aufeinander los. Die Zuschauer wurden von Angst gepackt – sollte der Kampf denn wirklich soweit gehen, daß einer dieser beiden kühnen Männer das Leben verlieren mußte? Das jüngere Mädchen erhob sich und trat zu ihrer Schwester. Laut sprach sie: „Ich will nicht, daß einer dieser
Ritter meinetwillen das Leben verliert. So überlasse ich dir alles, was unser Vater uns vererbt hat. Nimm es, ich verzichte für alle Zeiten darauf.“ Mit diesem Verzicht war aber König Artus nicht einverstanden – er konnte es nicht dulden, daß die edlere Schwester nun bettelarm sein sollte. „Der Kampf wird nur dann abgebrochen, wenn die Schwestern beide einen gleichen Anteil am Erbe ihres Vaters erhalten“ Während hier verhandelt wurde, kämpften die Ritter verbissen weiter. Dann kam die Nacht und trennte die Streiter, so daß der Kampf auf den nächsten Morgen vertagt werden mußte. Iwein trat zu seinem Gegner: „Herr, noch nie habe ich einen solchen Kampf ausgefochten, noch nie einen so starken Gegner getroffen. Ihr kämpft ritterlich. Noch eine Viertelstunde, dann hättet Ihr mich besiegt. Ich freue mich, morgen den Streit fortzusetzen, aber ich fürchte, daß es mir dann schlimm ergehen wird. Wollt Ihr mir nicht Euren Namen nennen, damit ich weiß, wer mir in diesem härtesten Kampf meines Lebens gegenübersteht?“ Der andere antwortete: „Herr, das will ich gewiß tun. Auch ich habe nie einen besseren Streiter kennengelernt, noch keiner hat mich so bekämpft wie Ihr. Es wird immer eine Ehre für mich bleiben, mit Euch die Waffen gekreuzt zu haben. Noch eine Viertelstunde – dann wäre ich es gewesen, der besiegt am Boden gelegen hätte. Gern sage ich Euch meinen Namen: Ich heiße Gawan.“ „Gawan – wenn ich das gewußt hätte, wären meine Hiebe nicht so scharf gefallen – gegen dich, Gawan, hätte ich nie eine solche Kampfwut aufgebracht. Ich bin Iwein.“ Da fielen sich die beiden um den Hals, und die Zuschauer traten verwundert heran. Laut sprach Iwein: „Gawan, daß ich so hart gegen dich gekämpft habe, wird mich mein Leben lang reuen. Ich bin dein Gefangener, du
warst stärker als ich. Bestimme, was ich tun soll – du bist mein Herr von nun an.“ Das aber ließ Gawan nicht gelten: „Nein, Iwein, stärker bist du. Ich will dein Gefangener sein und gutmachen, was ich dir heute an Wunden zugefügt habe.“ Lange ging der Wettstreit weiter, wer sich hier geschlagen geben sollte, und schließlich wandte sich Gawan an den König und erklärte feierlich, daß er von Iwein besiegt worden sei. Artus befahl: „Laßt die Waffen ruhen und auch Euren freundschaftlichen Streit. Ich will jetzt entscheiden.“ Er wandte sich an die Schwestern und fragte mit weit hallender Stimme: „Wo ist das Mädchen, das habgierig und zu Unrecht seiner Schwester das Erbe verweigert?“ „Hier bin ich, Herr“, erwiderte die ältere. „Nun habt Ihr vor aller Welt zugegeben, daß Ihr habgierig seid und eine ungerechte Sache vertretet. Jetzt müßt Ihr Euch meinem Urteilsspruch fügen.“ Ängstlich wandte das Mädchen ein: „Ach, Herr, wir Frauen sagen manchmal etwas ganz unüberlegt – danach solltet Ihr mich doch nicht von Haus und Hof jagen.“ „Das will ich auch nicht. Das Erbe wird geteilt, beide Schwestern erhalten gleiches Recht und gleiches Gut. Ich verbürge mich dafür, daß die Teilung gerecht vor sich geht.“ Damit mußte sie sich zufriedengeben. Iwein und Gawan ließen sich aus der Rüstung helfen und folgten dem König. Plötzlich kam der Löwe gelaufen, den Iwein vor dem Kampf eingesperrt, der sich aber wieder befreit hatte, weil er um seinen Herrn fürchtete. Schreiend vor Schreck lief alles auseinander, aber Iwein rief: „Er tut euch nichts, es ist mein treuer Gefährte.“ Und nun erkannten alle, daß der berühmte Löwenritter Herr Iwein war.
Es dauerte manchen Tag, bis die Ärzte die beiden Streiter wieder geheilt hatten, und während dieser Zeit wurden sie von allen Seiten mit Lob und Geschenken überhäuft.
Iwein und Laudine
Mehr als alle Wunden schmerzte Iwein in diesen ruhigen Tagen die Sehnsucht nach Laudine, der Kummer über das verlorene Glück. „Ich muß versuchen, sie zu versöhnen“, dachte er. „Jetzt habe ich doch vieles getan, um ihr zu beweisen, daß ich ihrer wert bin. Ich will es mit List versuchen: Wenn Laudine ihr Land in Gefahr sieht, wird sie einsehen, daß ich ihr zur Seite stehen muß.“ Heimlich ritt er davon, der Löwe lief wie immer mit ihm. Er fand den Brunnen wieder, goß Wasser auf die Smaragdtafel und beschwor das Unwetter herauf – kein Ritter kam, um sich an ihm zu rächen. An Laudines Hof war man sehr verzagt: Wo war der starke Mann, der den Brunnen und das Land schützte? Nur Lunete ahnte, daß Iwein die Hand im Spiel hatte. Sie ging zu ihrer Herrin und sagte listig: „Wollt Ihr denn nicht einen Ritter suchen, der Euer Eigentum verteidigt?“ „Ach, Mädchen, du weißt, daß keiner mir helfen will.“ „Ich wüßte einen – den Ritter, der mich vor dem Scheiterhaufen errettet hat. Er ist hilfreich und kühn, er würde Euch zur Seite stehen.“ „Weißt du denn, wo wir ihn finden können?“ „Ich weiß es. Aber er wird eine Bedingung daran knüpfen: Er wird Euch nur helfen, wenn Ihr alles tut, um ihn mit seiner Herrin zu versöhnen.“
„Das will ich gern tun, und all meinen Verstand will ich dafür brauchen. Ich verspreche es dir in die Hand.“ „Dann wird es Euch auch gelingen, die harte Frau zu erweichen. Aber die Aufgabe könnte schwierig sein und Euch leid werden. Deshalb müßt ihr mir den Schwur nachsprechen.“ Laudine hob die Hand und sprach den Schwur: „Wenn der Löwenritter kommt und mir beisteht, will ich alles tun und mein Leben daran setzen, ihn mit seiner Dame zu versöhnen.“ Fröhlich ritt Lunete in den Wald und traf am Brunnen, wie sie erwartet hatte, Herrn Iwein. Sie erzählte ihm, was sie ausgerichtet hatte, und dankbar zog er sie in die Arme und küßte sie. „Wenn Euch das gelingt, macht Ihr mich zum glücklichsten Menschen der Welt, und ich will Euch mein Leben lang dienen, wie ich es nur kann.“ „Ihr habt mir das Leben gerettet“, sprach sie. „Aber nun kommt, meine Herrin weiß nicht, wer der Löwenritter ist. Wir wollen zu ihr.“ Zusammen ritten sie zurück, Lunete führte Iwein vor Laudine, der Löwe folgte friedlich. „Herrin“, sprach Lunete, „hier ist der Ritter, der Euch beistehen will. Ihr müßt nun Euren Eid halten und ihn mit seiner Herrin versöhnen. Es ist Iwein.“ Er nahm den Helm ab. Da fuhr Laudine auf: „Lunete, du hast mich betrogen! Niemals hätte ich den Eid geleistet, wenn ich gewußt hätte, daß ich den untreuen Mann wieder bei mir aufnehmen soll! Nun muß ich den Schwur halten und weiß nicht, wieviel Kummer mir künftig daraus erwächst.“ Iwein kniete zu ihren Füßen: „Herrin, Ihr sollt nie wieder einen kummervollen Tag erleben, soweit es von mir abhängt. Ach, Laudine, leg’ deinen Haß ab und schenke mir wieder deine Liebe! Ich bitte dich um Verzeihung – was ich verschuldete, habe ich schwer gebüßt.“ Sie reichte ihm die Hand und ließ ihn aufstehen. „Ich habe geschworen und halte den Eid.“
Dann aber sah sie ihn lange an, und schließlich schmolz ihr Zorn. Weinend umfing sie ihn: „Iwein, liebster Herr! Ich muß wohl künftig versuchen, dir lieber zu werden, als ich war, damit du mich nie mehr verläßt!“ „Ich war gedankenlos und untreu, aber mehr, als ich dich all die Zeit geliebt und mich nach dir gesehnt habe, kann kein Mensch nach einem anderen verlangen.“ So versöhnte Ritter Iwein mit Hilfe eines treuen Mädchens seine gekränkte Frau und begann mit ihr ein neues Leben in Liebe und Glück.
LANZELOT VOM SEE
Der fremde Jüngling
König Artus hielt Hof in Tintajol. Es war am Tag vor Sankt Johannis, als er morgens nach der Messe aufbrach, um mit einigen Rittern seines Gefolges auf die Falkenjagd zu reiten. Der Morgen war klar, die Heckenrosen dufteten, laut klapperten die Pferdehufe über lehmigen Boden und leise über das dichte grüne Gras. Neben dem König ritt Gawan, voran Herr Keie. Auch Gawans jüngere Brüder waren dabei, Gaheriet, Gerret und Agrawein. In einigem Abstand ritt Mordred, der dunkelhäutige, schlanke, schwarzhaarige Ritter. Er war ein Bruder Gawans und als Sohn König Lots von Norwegen und der Königin Sangive an den Artushof gekommen. Doch wer die fünf Brüder beieinander sah, staunte darüber, wie fremd Mordred aussah: Schön war er auch, seine braunen Augen blitzten, er sang mit dunkler Stimme Lieder, denen die Damen des Hofs verzaubert lauschten – aber fremd schien er zu sein, anders als die anderen. Er hielt sich gern abseits und sprach wenig. Erst wenn die Sonne sank, lachte Mordred und ließ die Lieder ertönen, die vor ihm noch keiner gesungen und niemand je gehört hatte. Sonst blickte er fast finster drein, und keiner hatte jemals gesehen, daß er einem schönen Mädchen den Hof gemacht hätte. Als die Jäger aus einem Wald herausritten, kam ihnen auf der Straße ein Zug von Reitern entgegen. Zwischen zwei kostbar gekleideten Jünglingen trabte ein junger Mann in derbem
Jägertuch, ihm folgten vier Knappen, die Reitpferde und schwer beladene Tragtiere führten. Und am Ende ritt eine fremde Frau auf zierlichem weißem Pferd; ihr grüner Schleier wallte und wogte um ihr weißes Gewand wie fließendes Wasser, ihre Augen leuchteten blau wie ein tiefer See. König Artus hielt sein Pferd an und begrüßte die fremde Dame. Sie dankte für den Gruß und fragte: „Seid Ihr der berühmteste aller Könige, seid Ihr Artus?“ „Ich bin Artus.“ „Dann habe ich gefunden, was ich suchte, und brauche meinen Weg nicht fortzusetzen.“ Sie winkte den jungen Mann im Jägerkleid an ihre Seite. „Herr, morgen ist der Tag, an dem Ihr Eure Knappen zum Ritter schlagt. Ich bitte Euch herzlich, erhebt auch diesen Jüngling hier zum Ritter!“ Artus betrachtete den schönen Knaben mit Wohlgefallen. „Wenn er in ritterlichen Künsten geübt ist, will ich ihn gern unter mein Gefolge nehmen. Aber wer ist er?“ „Seinen Namen“, sprach die Frau, „weiß er nicht. Fragt nicht danach. Er wird ihn dann erfahren, wenn er sich seiner edlen Eltern wert erwiesen hat. Ohne Vater und Mutter ist er aufgewachsen, hier die beiden Jünglinge – Bohort und Lionel – sind seine Gefährten. Alle drei habe ich erzogen. Auch Bohort und Lionel schicke ich später an Euren Hof, wenn Ihr es erlaubt, Herr.“ „Auf Eure Bitte, Herrin, will ich den Unbekannten zum Ritter schlagen, ich hoffe, daß er es wert ist. Morgen soll er von mir Waffen und Rüstung erhalten.“ „König, ich bitte Euch, laßt ihn seine eigene Rüstung tragen! Die Knappen, die ihn begleiten, führen sie mit sich.“ König Artus war es nicht recht, daß ein Jüngling, den er zu seinem Ritter machte, nicht auch seine Waffen tragen sollte, aber er willigte schließlich ein, weil ihm der junge Mann so gut gefiel
und weil er sah, wie gern sein Gefolge ihn bei sich haben wollte. „Erlaubt, Herr, daß ich von meinem Schützling Abschied nehme“, sprach die fremde Frau, umarmte ihn mit Tränen in den Augen und hieß ihn, sich von seinen Gefährten zu verabschieden. Dann grüßte sie Artus und wandte ihr Pferd. „Herrin, sagt mir doch Euren Namen, wenn Ihr schon nicht mit uns kommen wollt!“ rief Artus. Sie wandte im Reiten den Kopf und sprach mit klingender Stimme: „Niniane bin ich, Niniane vom See.“ Dann spornte sie ihr Pferd und ritt mit ihren Begleitern schnell davon. „Niniane?“ sprach Artus vor sich hin. „Niniane! Den Namen habe ich vor Jahren gehört… Niniane ist die Fee, die meinen Freund Merlin gebannt hat. Sie muß wissen, wo Merlin ist!“ Er wandte sich und ritt ihr nach, aber so rasch sein gutes Pferd auch lief, er fand keine Spur von Niniane. Der alte Schmerz um den verlorenen Freund erwachte, und in trübe Gedanken versunken ritt er seinem Gefolge nach. Ihm fiel Merlins letzte Warnung ein: Sollte die Ankunft dieses Jünglings, der so rein und edel schien, mit der düsteren Voraussage zusammenhängen? Merlins letzte Botschaft summte ihm im Ohr: „Der Ring wird zerbrechen, die Runde zerstieben. Untreue nagt an der Wurzel des Reichs. Es werden sich hassen, die vordem sich liebten, der Sohn hebt die Waffe gegen den Vater.“ Wie lange hatte er die Worte vergessen! Und er vergaß sie auch jetzt wieder, als er den fremden Knaben fröhlich plaudernd unter seinen Rittern und Knappen sah. Alle umdrängten den Jungen, der auf jede Frage, woher er komme, nur antwortete: „Ich komme vom See.“ Herr Keie murrte: „Wieder neue Kostgänger, und keiner weiß, woher sie stammen! Vier Knappen und ein junger Herr – da muß ich tüchtig braten und brutzeln lassen, denn junge Leute haben Hunger! Wer weiß, was der König sich da ins Haus geholt hat – so rasch wird sonst kein Fremder zum Ritter
geschlagen!“ Aber auch er mußte sich eingestehen, daß der Jüngling fast so schön und edel war wie einst Parzival, der genau so unvermutet am Hofe auftauchte. König Artus befahl Ritter Iwein, sich des Fremden anzunehmen, ihn in sein Haus zu bringen und ihn in alles einzuführen, was ein junger Mann vom Hof dienst in Tintajol wissen mußte. Der Junge hörte aufmerksam zu, seine Augen glänzten bei Iweins Schilderung vom herrlichen Ritterleben in Artus’ Gefolge. „Die höfischsten Ritter dürfen Ginevra dienen – unserer Königin. Sie ist eine der schönsten und gütigsten Frauen, die ich je gesehen habe. Nie scheint sie zu altern, ihre Haut schimmert klar wie die eines jungen Mädchens, ihr Haar hat nichts von seinem goldenen Glanz eingebüßt, ihre Gestalt ist hoch und aufrecht, ihr Gang voller Anmut.“
Am anderen Morgen, am Sankt Johannistag, ritt ein langer Zug von prächtig geschmückten Rittern zur Messe in den Dom und kehrte zurück in den Burghof. Der Fremde war unter ihnen und saß in strahlend weißer Rüstung so stolz zu Pferde, als hätte er nie etwas anderes getragen. Im Burghof sprangen sie von den Pferden, die eilig von den Knappen beiseitegeführt wurden. Miteinander schritten sie die Treppe hinauf zum Burgsaal, wo die Frauen in ihrem schönsten Schmuck schon warteten. Der König trat an seine künftigen Ritter heran, schnallte ihnen die Sporen an die Schuhe, gürtete ihnen das Schwert um und reichte ihnen den Schild. Zu jedem sprach Artus: „Die Sporen hast du erhalten. Das Schwert hängt an deiner Seite. Gebrauche es zu Ehren der Ritterschaft, laß es nie einen unrechten Schlag tun! Wehre dich tapfer. Sei du selbst ein Schild des christlichen Glaubens, ein Schutz für die Armen und Bedrängten. Sei bescheiden und halt dich in Zucht, ehre die Frauen, und sei den Freunden treu.“
Strahlend vor Stolz standen die jungen Ritter vor ihrem Herrn und gelobten ihm Treue. Dann drängten sich die Frauen heran und beschenkten sie mit kostbaren Gürteln, mit Spangen und Ringen. Die Königin saß still und sah bewegt auf den schönen Fremden. „Iwein!“ rief sie leise. „Wer ist der junge Ritter?“ „Ich weiß es nicht, Herrin. Er selbst scheint es nicht zu wissen.“ „Und woher kommt er?“ „Er sagt, vom See.“ „Seltsam ist das“, sprach die Königin. „Wir wollen ihn den Ritter vom See nennen.“ Sie winkte ihn freundlich heran, und der Fremde, schon verwirrt von dem ungewohnten Glanz, den vielen Menschen und ihrer prächtigen Kleidung, trat zögernd zu ihr. Sie blickte prüfend in seine Augen, die rein und hell leuchteten. Ihn aber ergriff ihre Hoheit und Schönheit mit solcher Macht, daß ihn fortan keine andere Frau mehr zu fesseln vermochte. Sprachlos starrte er sie an, und als sie ihn freundlich fragte, wie es ihm am Königshof gefiele, sank er in die Knie und stammelte: „Königin, laßt mich Euer Ritter sein! Laßt mich auf Abenteuer ziehen und sie Euch zu Ehren bestehen!“ Sie nickte und lächelte. Verwirrt erhob er sich, verneigte sich noch einmal und schritt davon.
Die Schreckensburg
Zu Ehren der jungen Ritter gab König Artus ein großes Fest, bei dem die Jungen zeigen konnten, daß sie auch im Reigen zu schreiten verstanden und sich mit wohlgesetzten Worten unterhalten konnten. Der Ritter vom See blieb so stumm, daß
ihn die anderen neckten: „Die Fische im See sind stumm – da hast du wohl nicht das Sprechen gelernt?“ Er antwortete kaum, verstohlen ging sein Blick immer wieder zur Königin, die seine Verwirrung wohl bemerkte und ihren jungen Ritter mit Vergnügen betrachtete. Plötzlich fing der Fremde ein Wort auf, das ihn aufhorchen ließ: „Die Schreckensburg wartet noch auf ihren Befreier! So mancher Ritter hat sich daran versucht, aber keinem ist es gelungen, aus der Schreckensburg wieder eine Freudenburg zu machen, wie sie früher hieß!“ Nun konnte der junge Ritter plötzlich sprechen und fragen. Er ließ sich berichten, was es mit diesem Schloß auf sich habe, und erfuhr, daß es eine Burg auf hohem, ringsum von Flüssen umzogenem Felsen sei. Doppelte Mauern umgaben sie, und keinem war es gelungen, einen Fuß in die Burg zu setzen. An jeder Mauer versperrte ein festes Tor den Eingang, und wer ihn sich erzwingen wollte, mußte nacheinander gegen je zehn Ritter kämpfen. Über dem zweiten Tor erhob sich das riesige erzene Standbild eines Gewappneten, der eine Streitaxt in hocherhobener Faust trug. Sollte es je einem Ritter gelingen, durch das erste Tor zu kommen und die Verteidiger des zweiten zu bezwingen, dann würde das schreckliche Standbild zur Erde stürzen, und die Schreckensburg wäre befreit. Die Leute, die dort oben wie Gefangene und abgeschnitten von aller Welt leben mußten, könnten wieder aufatmen. Als der Fremde das hörte, sprang er auf, warf sich Artus zu Füßen und bat: „Herr, gebt mir Urlaub, damit ich die Schreckensburg befreie! Ich möchte eine Tat vollbringen, ich möchte ein Abenteuer bestehen!“ Der König blickte ihn verwundert an, und Ginevra legte ihrem Gatten die Hand auf den Arm: „Herr, er ist noch so jung! Willst du ihn wirklich in dies furchtbare Abenteuer schicken? Er ist noch ungeübt, er setzt sein Leben aufs Spiel!“
Aber Artus meinte: „Wer kann einen tatendurstigen jungen Ritter zurückhalten? Ich will es ihm erlauben.“ Am nächsten Morgen ritt der Fremde in der weißen Rüstung allein davon, nachdem Iwein ihm den Weg zur Schreckensburg beschrieben hatte. Erst gegen Abend sah er die Burg düster gegen den Himmel ragen. Er ritt den Burgweg hinauf, pochte an das verschlossene Tor im äußeren Wall und hörte eine unwirsche Stimme fragen: „Was wollt Ihr?“ „Ich begehre Einlaß in die Burg.“ Hohngelächter erhob sich hinter der Mauer. Dann öffnete sich das Tor, und ein schwer gepanzerter Ritter sprengte heraus. Stumm wies er mit dem Speer auf einen Kampfplatz. Schon beim ersten Anprall zersplitterten die Speere, und der Schwerterkampf begann. Der Ritter vom See traf seinen Gegner so gut, daß dieser tot vom Pferd sank, aber schon sah er, wie sich das Tor oben wieder öffnete und der zweite Feind heraussprengte. Ihn erschlug der Ritter vom See mit seinem Schwert, aber sofort stellte sich ihm der dritte. Der Ritter vom See hieb ihn mit einem gewaltigen Schlag vom Roß, und der Gegner bat um sein Leben, gelobte Frieden und schlich sich davon. Der vierte, der fünfte, der sechste erschienen – und der Ritter vom See schrie: „Kommt nur alle! Ich nehme es mit jedem auf!“ Er kämpfte verbissen und so ungestüm, daß er auch diese Gegner bezwang. Inzwischen war es so dunkel geworden, daß der Kampf ruhen mußte. Das Tor öffnete sich nicht mehr, kein neuer Gegner sprengte heraus – aber der Ritter vom See vermochte auch nicht in die Burg zu gelangen. Müde ritt er den Burgwall hinunter in ein Dorf zu Füßen des Berges, wo er Herberge zu finden hoffte. Als er sich unter den Häusern umsah, in denen ihn kein Licht, kein Hundegebell und kein freundlicher Mensch begrüßte, trat eine zart wie Mondlicht schimmernde Gestalt neben ihn, faßte schweigend
nach seiner Hand und führte ihn, der sein müdes Roß hinter sich her zog, zu einem halbverfallenen einsamen Haus. Hier fand der Ritter vom See ein bequemes Ruhebett, und auf einem Tisch standen Speise und Trank, eine Kerze leuchtete. An der Wand aber hingen drei silberne Schilde, die im Kerzenlicht geheimnisvoll glänzten. Über den einen lief als Waffenzeichen ein blutroter Balken, über den zweiten zwei, und der dritte Schild wies drei der schrägen Balken auf. Die Gestalt, die ihn hergeführt hatte, war an der Tür stehengeblieben. Der Ritter wandte sich nach ihr um und sah im ungewissen Licht Ninianes blaue Augen leuchten. Sie sprach: „Du hast dich früh an ein Abenteuer gewagt – bestehst du es, hast du mehr gewonnen, als du jetzt ahnst. Nimm diese drei Schilde und brauche sie nacheinander. Jeder verleiht dir neue Kraft: Der erste erfüllt dich mit der Stärke deines Gegners, der zweite mit der von zwei Rittern, und der dritte gibt dir drei Mannesstärken. Aber Mut mußt du selbst haben.“ Der Ritter vom See streckte die Arme nach Niniane aus – aber sie zerging wie ein Schatten, er war allein, und müde vom Kampf legte er sich auf das Ruhebett. Er dankte Gott für die Hilfe, dankbar dachte er auch an Niniane. Aber es war das Bild Ginevras, das er in seinen Traum mit hinübernahm. Am anderen Morgen begab sich der Ritter vom See wieder hinauf zur Burg; die drei Schilde hatte er vor sich auf den Sattel gelegt. Nun mußte er zuerst die letzten vier Ritter vom äußeren Burgtor bekämpfen, die alle der Gewalt seiner Schwerthiebe unterlagen. Dann aber sprang mit lautem Donner das zweite Burgtor auf, und zehn gewappnete Männer standen in Reih und Glied vor dem Eindringling. Schon der erste zersplitterte mit einen Schwerthieb den eigenen Schild des Ritters vom See, bevor auch er sich für besiegt erklären mußte. Dann kam Ninianes Schild mit dem einen roten Balken an die Reihe, und der Ritter fühlte neue Kräfte in sich aufsteigen. Er
überwand den zweiten und den dritten Gegner, griff dann nach dem Schild mit den zwei roten Balken und besiegte die nächsten Widersacher. Nun taumelte er vor Müdigkeit, Schleier legten sich vor seine Augen, kaum konnte er noch die wartenden Gegner erkennen. Da ergriff er den dritten Schild, spürte, wie Kraft seine Arme durchströmte, und kämpfte tapfer weiter, bis auch der zehnte Feind besiegt war. Jetzt stand das Tor weit offen, kein Gegner war mehr zu sehen, und der Ritter vom See setzte sich aufrecht auf sein Roß und wollte das Tor durchreiten. Da stürzte mit mächtigem Donnergepolter das kupferne Standbild des Gewappneten in die Tiefe – die Schreckensburg war befreit.
Aus allen Häusern liefen die Leute zusammen, umringten den Sieger und führten ihn mit lauten Dankesrufen in die Stadt. Sie brachten ihn auf einen Friedhof, auf dem zwischen anderen Gräbern eine lange und breite Grabplatte lag, rundum besetzt mit Edelsteinen, die in der Sonne flimmerten. Auf ihr stand: „Nur der Sieger über die Schreckensburg vermag die Platte zu heben.“ Der Ritter bückte sich und griff an den Rand der Platte – da hob sie sich wie von selbst und lag leicht wie ein Blatt Pergament in seiner Hand. Auf der Unterseite stand geschrieben: „Hier wird einst Lanzelot ruhen, der Sohn des Königs Ban von Benoic und seiner Frau Elaine.“ Langsam legte der Ritter vom See die Platte an ihren Platz zurück: Lanzelot hieß er, Ban war sein Vater. Er atmete tief auf: Endlich hatte er seinen Namen gefunden! Er war seines Vaters würdig! Dann wandte er sich zu den Leuten um, die ihn mit glänzenden Augen anstarrten: „Jetzt soll eine andere Zeit für die Burg beginnen! Freudenburg soll sie wieder heißen! Ich verspreche euch, ein gerechter Herr zu sein!“
In der befreiten Stadt läuteten die Glocken, die Bürger legten ihre schönsten Kleider an und kamen zu dem großen Fest, das der neue Herr ihnen in der Burg ausrichtete. Trotz mancher Wunden, die Lanzelot im Kampf davongetragen hatte, war er fröhlich und tanzte unermüdlich mit den Bürgertöchtern. Er schickte Boten an den Artushof, die von seinem Sieg berichteten – aber seinen Namen nannte er nicht: „Richtet der Königin aus, daß ihr Ritter die Schreckensburg bezwungen hat!“ Nach einigen Tagen kamen die Boten zurück und brachten ihm als Geschenk Ginevras ein kostbares Schwert. Er zog es aus der Scheide und spiegelte sich in der blanken Schneide. „Ob die Königin ihr Antlitz in der Schneide erglänzen ließ?“
Neue Abenteuer
Nicht lange hielt es Lanzelot auf der Freudenburg – er ritt wieder in die Welt hinaus, neuen Abenteuern entgegen, wie vordem Parzival, Gawan, Erec, Iwein und die anderen Ritter der Tafelrunde. Zuweilen gelangte Kunde von seinen Taten an den Artushof, und staunend vernahmen die Ritter, daß Lanzelot den Turm der Schmerzen erobert hatte, der auf einer einsamen Insel im Meer lag und in dem hundert gefangene Jünglinge auf ihren Befreier warteten, der sie von täglichen Martern, von Hunger und Durst erlöste. Gegen wilde Tiere hatte Lanzelot sein Schwert geschwungen, und Ginevra war von Herzen froh, daß sie ihm die gute Waffe geschickt hatte. Immer war nur von dem Ritter in der weißen Rüstung die Rede, denn Lanzelot hatte das Geheimnis seines Namens für sich behalten. Jederzeit war Lanzelot bereit, in einem
Zweikampf seine ritterlichen Künste zu beweisen, denn seit dem Abenteuer auf der Schreckensburg fürchtete er keinen noch so starken Gegner. Wo immer er an einem Fürstenhof weilte, bat er um die Erlaubnis, an den Turnieren teilzunehmen, und Männer und Frauen bewunderten den Ritter in der weißen Rüstung, dem kein anderer gewachsen war. Manch einer hätte ihn gern bei sich behalten, und manch ein junges Mädchen träumte von dem edlen jungen Mann. Aber Lanzelot sah die Blicke nicht, die ihn zu fesseln versuchten, und hörte nicht auf die leisen Worte, die um seine Liebe warben.
Die Schwertbrücke
Weit, weit nach Süden, zu braunen Menschen, deren Sprache Lanzelot erst lernen mußte, die wildere Tänze zum Klang des Tamburins tanzten und Lieder sangen, deren sehnsüchtiger Klang ihn ergriff, führte ihn seine Fahrt. Er ritt über Gebirge und über kahle Ebenen, auf deren steinhartem Boden kein Grashalm wachsen wollte. Die Sonne glühte durch den Waffenmantel auf die Rüstung, das Pferd setzte müde Fuß für Fuß, weit und breit fand sich kein Baum, unter dessen Schatten Lanzelot und sein Knappe sich erholen konnten. Am Abend eines solchen Tages kamen sie endlich an einen kleinen Fluß, dem sie folgten und der sich immer mehr verbreiterte und schließlich zu einem großen Strom anschwoll. In tiefer Dunkelheit gelangten sie an die Mündung, an der sich eine prächtige Stadt mit vielen Türmen erhob. Sie fanden eine Herberge, in der man sie freundlich aufnahm. Neugierig fragte
der Wirt: „Seid Ihr gekommen, um die Schwertbrücke zu erproben?“ „Noch nie habe ich von der Schwertbrücke vernommen. Was hat es damit auf sich?“ „Ach Herr“, seufzte der Wirt, „sie ist das Verhängnis unserer Stadt! Ohne die Schwertbrücke würden wir hier alle fröhlich leben, aber nun müssen wir hier immer wieder soviel Elend mit ansehen! Wartet nur, bis die Sonne aufgeht, dann werdet Ihr sehen, was es damit auf sich hat!“ Begierig auf ein neues Abenteuer, erhob sich Lanzelot früh am anderen Morgen und ritt vor die Stadt. Da sah er hoch oben auf einem Felsen eine riesige Burg; sie schien wie aus Sonnenstrahlen zusammengesetzt, ihre Umrisse flimmerten vor seinen Augen, denn mit Gold waren die Mauern der Burg belegt. Kein Wall umgab sie, frei erhob sie sich auf dem steilen Felsen. Aber um den ganzen Berg zog sich ein tiefer, breiter Abgrund, den keine Brücke überquerte. Lanzelot ritt um den ganzen Berg herum – nirgends fand sich eine Möglichkeit, den Abgrund zu überschreiten. Endlich kam er an eine Stelle, wo sich ein langes Schwert über die Schlucht spannte, ein scharfes, in der Sonne gleißendes Schwert, das mit der Schneide nach oben von einem Rand des Abgrunds zum anderen führte. Lanzelot betrachtete es mit Erstaunen: „Die Leute auf der Burg scheinen keine Gäste zu lieben, wenn das der einzige Zugang ist!“ Während er dastand, näherte sich ihm ein großer Haufen Volk, mit Lärm und Rufen drangen sie an ihn heran. Er wandte sich um und erblickte unter den Leuten seinen Herbergswirt, der ihm flehend zurief: „Herr! Laßt ab! Kehrt um! Wollt Ihr in Euer Verderben rennen?“ „Was ist mit dem Schwert?“
„Das Schwert ist die Brücke zum Schloß, das Ihr da oben seht. Kein Mensch lebt dort, das Schloß ist seit langem verwaist und hat keinen Herrn. Es ist das prächtigste Haus, das es auf der Welt gibt, voller Reichtümer, die nur auf einen Besitzer warten. Klinschor, der Zauberer, hat es erbaut. Wer das Schloß betritt, ist sein Herr, ist der Besitzer von dem unermeßlichen Reichtum. Aber keiner kann es betreten, denn nur über die Schwertbrücke führt der Weg!“ „Hat denn schon einer versucht, die Brücke zu beschreiten?“ Da erhob sich ein großes Wehklagen, alles rief durcheinander: „Hundertsiebzig Männer haben hier ihr Leben verloren! Jeden lockte der Reichtum! Ach, Herr, laßt ab! Wir sind es müde, immer neue Menschen in den Abgrund stürzen zu sehen!“ „Ist denn ein Zauber mit der Brücke verbunden – gibt es keine Möglichkeit, sie zu überqueren?“ „Nur ein reiner Mensch, der nie eine Sünde begangen hat, ein Ritter ohne Furcht und Tadel darf es wagen. Aber noch niemand hat das Wagnis bestanden. Beim ersten Schritt schon stützten sie, an Händen und Füßen gräßlich zerschnitten, in den Abgrund!“ Lanzelot schauderte es, und doch lockte es ihn, das Wagnis ohnegleichen zu bestehen. „Was keiner vor mir vermochte, muß ich vollbringen. Und wenn es mir gelingt, kann ich als Ritter ohne Furcht und ohne Tadel zur Königin zurückkehren.“ Die Menge, die ihn umstand, war still geworden – jedermann sah es dem Ritter an, daß auch er das Abenteuer wagen wollte. Die Frauen führten ihre Kinder fort, damit sie den schrecklichen Anblick nicht sehen sollten, die Männer starrten düster auf den jungen Mann, dem sein Leben sowenig wert war.
Lanzelot aber war nicht töricht und leichtsinnig: Er überlegte, wie er sich schützen könne, und verschob das Wagnis auf den kommenden Tag. Er kehrte in die Herberge zurück und ließ einen Waffenschmied kommen, dem er auftrug, seine Lederhandschuhe, die an den Ärmeln seines Kettenhemds befestigt waren und aus denen die Hand nur durch einen seitlichen Schlitz hinausschlüpfen konnte, mit schmiegsamen Eisenplatten zu besetzen. Auch die langen, die ganzen Beine eng umhüllenden, mit einem Geflecht aus eisernen Ringen bedeckten Hosen ließ er sich mit solchen Platten versehen. Kopfschüttelnd übernahm der Waffenschmied seine Aufgabe: Wenn sich der fremde Ritter auch auf diese Weise gegen die Schwertschneide zu schützen versuchte – wie sollte er denn die schmale Brücke überqueren können, ohne zu straucheln?
Am nächsten Morgen strömte alles Volk aus der Stadt, um zu beobachten, wie der Ritter, von dem man wußte, daß er sich so geschickt zu schützen versuchte, die Schwertbrücke bestehen wollte. Lanzelot hielt vor dem Abgrund, in dessen finstere Tiefe sein Blick nicht einzudringen vermochte. Droben lag flimmernd das Schloß, und das Schwert spannte sich gleißend und gefährlich über die Schlucht. Lanzelot stieg vom Pferd und gab es seinem Knappen, der ihn flehend ansah: „Herr, wenn es Euch nicht gelingt, was wird dann aus mir? Ach, lieber Herr, Ihr werdet den Tod finden! Laßt doch ab davon! Wären wir nur nicht hierhergekommen!“ Lanzelot strich ihm tröstend übers Haar: „Vertrau auf mein Glück. Ich muß es wagen.“ Er ging an die Schwertbrücke heran und setzte einen Fuß darauf – da schwang sie heftig hin und her, und ein feiner, durchdringender Ton erfüllte die Luft. Lanzelot spürte, daß er
unmöglich aufrecht über das Schwert schreiten konnte – und schon ließ er sich auf die Knie nieder, umgriff mit beiden Händen die scharfe Schneide und begann langsam über die Brücke zu kriechen, Stück für Stück. Das Schwert zitterte wie eine Saite, und schneidend klang ein Sausen durch die Stille. Je weiter Lanzelot kroch, um so stärker schwang das Schwert, um so heller und durchdringender erklang der Ton. Die Menschen am Rand des Abgrunds wagten kaum zu atmen. Als Lanzelot das Schwert bis zur Mitte überquert hatte, schwang es so gewaltig nach links und rechts, daß er sich mit beiden Händen festklammern und abwarten mußte, bis es wieder ruhiger lag. Dann setzte er seinen Weg fort, langsam schoben sich Hände und Füße über die Schneide. Er blickte nicht in den Abgrund, er schloß die Augen und fühlte nichts als das schmale Band des Schwerts – und so kam er endlich dem anderen Rand näher und näher. Jetzt erhob sich ein Brausen und Stürmen, die Erde bebte, Lanzelot mußte wieder innehalten und klammerte sich mit letzter Kraft an die Brücke. Schließlich griffen seine Hände auf festen Boden – er schlug die Augen auf, er rutschte vorwärts, und nun waren auch seine Füße auf sicherer Erde! Vorsichtig erhob er sich – da stand Lanzelot, schimmernd in seiner weißen Rüstung, an der anderen Seite des Abgrunds! Er wandte sich um und winkte der Menge drüben zu – und plötzlich sah er, daß das Schwert verschwunden war, eine feste Holzbrücke spannte sich über den Abgrund, und jubelnd strömte das Volk herüber! Sie hoben ihn auf ihre Schultern, sie umtanzten und umsprangen ihn, den Helden, der die Schwertbrücke bezwungen hatte! Von ihnen geführt und vorwärtsgerissen, gelangte Lanzelot auf den Gipfel des Berges, wo die herrliche Burg lag. Er wanderte staunend durch alle Gemächer, die mit Teppichen und Kissen, mit goldenem und silbernem Gerät ausgestattet waren. Die Menschen drängten sich mit ihm durch Gänge und Säle, betasteten die kostbaren
Stoffe, schauten durch die aus Edelsteinen geschnittenen Fenster auf die Ebene und jubelten laut, als sie im größten Saal auf ein reichgedecktes Mahl stießen! Dabei war niemand zu sehen, der die Speisen gerichtet hatte, kein Knappe, keine Dienerin ließ sich blicken. Lanzelot rief: „Feiert alle mit mir! Wir wollen fröhlich sein, eßt und trinkt, was uns hier geboten wird!“
Lanzelot und Ginevra
Nach dem Fest wählte Lanzelot einen würdigen Mann aus, trug ihm auf, das Schloß zu bewachen und zu bestellen. „Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme. Bewahrt mir mein Eigentum gut, und nehmt Fremde, die um Obdach bitten, freundlich auf!“ Dann verabschiedete er sich von den Bürgern, die ihn ungern ziehen ließen, und ritt mit seinem getreuen Knappen davon, nach Norden, um endlich wieder an den Artushof zu kommen. Lange dauerte die Fahrt, noch manches Abenteuer hatte Lanzelot zu bestehen, bis er endlich übers Meer fuhr und nach Britannien kam. Er fand den Artushof nicht in Tintajol und ritt weiter nach Camalot, wo der König Hof hielt und wo Lanzelot noch nie gewesen war. Er sah die Burg von Camalot aufragen, ein breiter Fluß umspielte ihre Mauern. Lanzelot seufzte: „Wie wird mich die wunderschöne Königin aufnehmen? Ob sie sich noch meiner erinnert? Ihretwegen habe ich die Abenteuer gesucht, ihretwegen wollte ich Ruhm und Ehre erwerben. Wird sie sich freuen, mich wiederzusehen?“ Er blickte auf die Burg – da sah er Ginevra an einem Fenster stehen! Grüßend hob er die Hand – sie grüßte ihn wieder,
erkannte den Fremden aber nicht, der unten am Flußufer in voller Rüstung auf dem Pferd hielt. Nun spornte Lanzelot sein Pferd, um den Fluß zu durchschwimmen – er war viel zu ungeduldig, um nach der Brücke zu suchen. Das Pferd stieg ins Wasser, aber es war so tief, daß es schwimmen mußte, und die schwere Rüstung des Ritters drückte das arme Tier immer tiefer ins Wasser. Laut rief oben die Königin: „Helft! Ein Ritter ertrinkt im Fluß!“ Herr Iwein hörte den Schrei, stürzte zum Wasser, hakte seinen Speer in den Zügel und zog Pferd und Mann an Land. „Wolltet Ihr die Fische begrüßen?“ fragte er Lanzelot spöttisch. „Ich wollte den Fluß durchqueren, aber er ist zu tief.“ „Da hättet Ihr besser nach einer Furt gesucht oder die Brücke benutzt, die drüben über das Wasser führt. Ihr scheint es wirklich eilig zu haben! Und wohin führt Euch nun der Weg?“ „Ich möchte hier in Camalot eine Weile von langem Ritt ausruhen, Herr, und ich danke Euch herzlich, daß Ihr mich aus dem Fluß gezogen habt.“ „Kommt mit mir zu König Artus“, schlug ihm Iwein vor. „Er freut sich, einen tapferen Ritter als Gast aufzunehmen und sich von seinen Erlebnissen berichten zu lassen.“ Aber Lanzelot zögerte, jetzt schon Ginevra zu begegnen. Er fürchtete sich plötzlich vor dem Augenblick, in dem er ihr vor dem ganzen Gefolge gegenüberstehen sollte – ob er dann die rechten Worte finden würde, die Königin zu begrüßen? So verabschiedete er sich von Iwein und hielt sich mit seinem Knappen für einige Zeit unerkannt in der Stadt auf. Ihn verlangte nach Ginevras Nähe, und er fürchtete sich doch, ihr zu begegnen. Am Artushof hatte sich die Nachricht verbreitet, daß ein unbekannter Ritter in der Stadt weile. Die Königin fragte Iwein, wer der Mann sei, den er aus dem Fluß gezogen hatte,
aber Iwein konnte keine Auskunft geben: „Herrin, er hat mir nicht seinen Namen genannt.“ Ginevra ahnte, daß der Fremde wohl jener Ritter in der weißen Rüstung sein könne, der die Schreckensburg bezwungen hatte und ihr zu Ehren auf Abenteuer ausgezogen war. Sie hatte sein Gesicht nicht vergessen – noch nie hatte ihr aus einem Männerantlitz der Widerschein ihrer Schönheit so klar entgegengeleuchtet wie aus dem seinen. Immer öfter dachte sie an ihn, und ohne es sich einzugestehen, suchte sie ihn überall; um ihn zu treffen, wanderte sie jetzt oft allein durch den großen Garten, der die Burg von Camalot umgab. Und hier begegnete sie ihm im Dämmerlicht eines Abends. Er stand wie gebannt und vermochte kein Wort zu sagen. Sie sprach: „Seid Ihr der Ritter in der weißen Rüstung, dem ich das Schwert geschickt habe?“ „Herrin, ich bin es, bin zurückgekehrt. Aber wenn ich auch Jahre fern von Euch war, so hat mich Euer Bild doch nie verlassen, und der Klang Eurer Stimme tönte mir im Herzen und ermutigte mich in tausend Gefahren.“ „So sagt mir auch Euren Namen.“ „Lanzelot bin ich, Lanzelot vom See.“ Sie faßte ihn an der Hand und zog ihn mit sich in das Dämmergrün einer breiten Linde. „Liebt Ihr mich, Lanzelot?“ „Mehr als mein Leben, Herrin.“ „Lanzelot“, flüsterte sie, „ich habe Euch nicht vergessen. Eure Liebe hat die meine geweckt. Lanzelot, ach Lanzelot, daß Ihr wieder bei mir seid!“ Da umfing Lanzelot seine Königin, und sie vergaß alles, sie küßte ihn, und er küßte sie. So verriet Ginevra den besten aller Könige, so verriet Lanzelot sein Rittertum.
Am Tage danach ritt Lanzelot in prächtiger Rüstung an den Artushof. Der König freute sich herzlich, den jungen Mann wiederzusehen, den er zum Ritter erhoben hatte. „Nun ruht Euch aus bei uns, erzählt von allem, was Ihr inzwischen erlebt habt!“ Sie saßen im Burgsaal von Camalot, die Ritter der Tafelrunde und die schön geschmückten Frauen. Wein aus goldenen Bechern löste ihnen die Zunge, sie lachten und neckten den Heimgekehrten, der ihnen immer noch nicht seinen Namen gesagt hatte. Da erhob sich Lanzelot: „Herr, als ich zu Euch kam, war ich namenlos, aber als ich die Schreckensburg bezwang und wieder zur Freudenburg machte, habe ich meinen Namen erfahren. Ich heiße Lanzelot, mein Vater war Ban von Benoic, meine Mutter Elaine.“ „Bans Sohn bist du!“ rief der König. „Gesegnet sei der Tag, der dich zu uns führte!“ Er suchte im Gesicht seines Ritters die Züge seines verlorenen Freundes, er schwieg und schien tief in Sinnen. Immer trauriger wurde Artus’ Miene, als er den vergangenen Zeiten nachsann, da noch Ban sein Kampfgenosse gewesen war. Die anderen spürten des Königs Trauer und saßen stumm an der Tafel. Das gefiel Herrn Keie nicht: „Sollen wir heute abend in Trübsinn verfallen?“ Er griff nach dem großen Jagdhorn, das an der Wand hing und blies heftig hinein. Da dröhnte es durch die Halle, daß der König erschrocken auffuhr. „Was soll das heißen?“ „Herr“, sagte Keie, „ich wollte die Ritter wecken, denn sie scheinen, müde vom Wein, eingeschlafen zu sein! Ein andermal werde ich sparsamer mit dem guten Wein umgehen! So trübselig haben wir noch nie einen Ritter empfangen! Laßt uns doch hören, was er zu erzählen hat – oder gibt’s nichts zu
berichten von Herrn Lanzelots Abenteuern? Hat er sich keinen Ruhm erworben?“ „Du hast recht, Keie“, sprach der König, „aber ich denke an die ferne Zeit, als König Ban mein treuester Gefolgsmann war. Nie ließ er mich im Stich, wenn auch alles an Flucht dachte, und doch konnte ich ihm in seiner letzten Not nicht beistehen. Das ist es, was mich schmerzt. Als Lanzelot in der Wiege lag, überfiel der König Claudas, den wir einmal gemeinsam vertrieben, das Land Benoic aufs neue und belagerte die Burg Trebes. Schrecklicher Mangel herrschte in der belagerten Festung, und Claudas wartete in Ruhe die Stunde ab, wo sich Ban ergeben mußte. Deshalb war er gleich einverstanden, als ihn Ban bitten ließ, ihm vierzig Tage Frist zu gewähren, damit er mich holen könne. Ban ritt allein fort – aber Elaine beschwor ihn, sie mitzunehmen. Sie folgte ihm in der dunklen Nacht, als er aufbrach, sie trug ihr Kind im Arm. Plötzlich erhellte ein unruhiger Feuerschein die Finsternis, und Ban erschrak. Er bat Elaine, auf ihn zu warten, und ritt zurück: Da sah er oben auf dem Berg seine Burg Trebes in hellen Flammen lodern! Verrat hatte Claudas das Tor geöffnet, Verrat hatte die Burg angezündet! Der Anblick überfiel den Burgherrn mit furchtbarer Gewalt – tot sank er zu Boden. Elaine hatte auf ihn gewartet, nun ritt sie zurück und fand ihren Mann entseelt auf der Erde liegen. Da schrie sie laut auf und warf sich jammernd über den Toten. Ein Bauer hörte sie und kam herbei, aber er konnte nicht mehr helfen. Elaine flüsterte nur noch mit letzter Kraft: ,Mein Kind! Es ist im See verschwunden!’ Dann gab auch sie den Geist auf. So hat man es mir erzählt. Ich bin mit meiner ganzen Macht nach Benoic gezogen und habe Rache für Bans und Elaines Ende genommen. Claudas fand den Tod, und heute wird Benoic von einem Lehnsmann von Ban treu verwaltet. Aber das Kind konnte ich nicht finden, niemand wußte, wo es
geblieben war, und Elaines letzte Worte, das Kind sei im See, konnte kein Mensch deuten, denn weit und breit gab es keinen See. Jetzt weiß ich auch den Schluß der Geschichte: Niniane, die Lanzelot zu uns brachte, hat das Kind zu sich genommen. Sie hat von Merlin gelernt, wie man einen See erscheinen und verschwinden läßt, und Elaine hat gesehen, wie sie das Kind zu sich in den See zog. Nun sag mir, Lanzelot, bist du immer in dem See gewesen?“ Erschüttert von der Geschichte seiner Eltern, sprach Lanzelot: „Ich war im See – aber dort war kein Wasser, es schien nur so für jeden, der vorüberkam. Ich lebte auf einer grünen Wiese, Wald war ringsum, ein schönes kleines Haus beherbergte mich und die Fee. Wir hatten alles, was wir brauchten, wir ritten zur Jagd, und ein Zuchtmeister lehrte mich reiten und fechten. Später brachte Niniane Bohort und Lionel. Wir wuchsen als gute Freunde auf.“ „Dann freue dich, Lanzelot. Bohort und Lionel sind hier bei mir. Morgen werden sie zu Rittern geschlagen. Ihr drei seid fern von der Welt erzogen, nichts Böses habt ihr gesehen. So seid ihr berufen, als reine, sündenlose Männer das Rittertum in Ehren zu halten.“ Bei diesem Wort errötete Lanzelot, und sein Blick glitt scheu zu der Königin, die tief erblaßt war. Ein Turnier folgte am nächsten Tag auf den Ritterschlag, und Lanzelot tummelte sein Pferd und konnte vor den Augen seiner Königin zeigen, daß er zu kämpfen verstand und mit Recht als einer der tapfersten Ritter gerühmt wurde.
Der Sachsenkrieg
Dann aber war es aus mit Spiel und Vergnügen – Boten auf erschöpften Pferden hetzten in die Burg von Camalot und riefen mit letzter Kraft: „König, die Sachsen sind eingefallen! Mit großer Heeresmacht rücken sie von Norden heran! Sie plündern und morden, und Eure Gefolgsleute sind machtlos gegen ihre Überzahl!“ Da schallten die Hörner durchs Land und riefen die Ritter zu den Waffen, da wurden die Pferde beschlagen und die Schwerter geschärft, da rüstete man in aller Eile Troßwagen mit Weizen, Gerste und Hafer, schlachtete Vieh und packte das Fleisch auf die Tragtiere und tat alles, um einen langen Kriegszug vorzubereiten. Ginevra blickte entsetzt in das Gewimmel und wußte nicht, ob sie sich mehr um Artus’ Leben oder um Lanzelot ängstigen sollte. Sie ritten nach Norden, und weil Artus die Feinde überraschend angreifen wollte, ritten sie nachts und hielten sich bei Tage verborgen. Sie kamen durch unwegsames Land, wo kein Dorf, keine Stadt ihnen Herberge bot, sie ritten durch Moore und über die Berge, immer den Feinden entgegen. Lanzelot zog meistens schweigend neben den Freunden her – Ginevra lag ihm im Sinn, und seine Liebe zu der Gemahlin seines Königs quälte ihn mit tausend Gewissensbissen; aber er fühlte, daß er nie von Ginevra lassen konnte.
Eines Abends streifte er allein durch den Wald und verirrte sich. Da kam er an eine weltentlegene Burg, von der er nie gehört hatte. Er wurde freundlich willkommen geheißen und prächtig bewirtet: Auf der Burg Corbenic spürte man nichts vom Krieg, nichts von Gefahr. Des Burgherrn schöne Tochter
bot dem Gast den Wein, aber er hatte kein Auge für sie und bemerkte nicht ihren prüfenden Blick. Sie aber dachte an eine alte Prophezeiung: Es hieß, daß sie nie einem Manne als Gattin folgen sollte, aber doch würde sie einmal, für eine Nacht, einem herrlichen jungen Ritter in weißer Rüstung angehören. Sie sollte von ihm einen Sohn haben, der einst zu höchsten Ehren berufen sein werde. Dieser Fremde war der erste Mann, der in die Abgeschiedenheit von Corbenic eindrang, und seine Rüstung war weiß… Als Lanzelot in der Nacht auf seinem bequemen Ruhelager keinen Schlaf fand, weil er nur an Ginevra dachte und sich vor Sehnsucht nach ihr verzehrte, öffnete sich plötzlich die Tür, und eine häßliche, zahnlose alte Frau trat an sein Bett und flüsterte: „Herr, ich weiß, nach wem Ihr Euch sehnt! Eure Königin trägt ebenso großes Verlangen nach Euch! Wollt Ihr sie heimlich besuchen heut nacht?“ „Wie kann das sein? Die Königin ist fern in Camalot.“ „Nein, sie ist dem Heer gefolgt – in der Nähe, nur einige Meilen von hier, weilt sie heute nacht. Wollt ihr, dann bringe ich Euch hin!“ Lanzelot sprang auf und folgte der alten Hexe. Heimlich führte sie ihn aus der Burg, da warteten schon zwei gesattelte Pferde, und fort ging’s so schnell, wie Lanzelot noch nie geritten war. In stockfinsterer Nacht gelangten sie an eine hohe Mauer. Die Alte schlüpfte durch eine schmale Tür, zog Lanzelot mit sich, rasch, rasch durch Gänge und über Treppen bis zu einem Gemach. „Hier erwartet Euch Ginevra!“ Sie öffnete die Tür und führte Lanzelot hinein. Er sah nichts, alles war finster, aber die Arme einer Frau erwarteten ihn, und er sank in die Knie: „Königin, so darf ich bei Euch sein?“
Die Frau sprach kein Wort und umarmte ihn nur zärtlich. Am anderen Morgen erwachte Lanzelot und sah beim schwachen Dämmerschein des Morgens, daß nicht Ginevra, sondern das Burgfräulein aus Corbenic bei ihm lag. Da schrie er auf vor Wut und Schmerz. „Betrogen bin ich! Betrogen! Ich habe meiner Liebsten die Treue gebrochen!“ Er griff zum Schwert, um das Mädchen zu durchbohren, aber sie sah ihn so still und gelassen an, daß er die Hand sinken ließ: „Es mußte sein, Herr“, sprach sie. „Wir mußten einer alten Prophezeiung gehorchen. Verzeiht mir, wenn Ihr könnt – und geht.“ Lanzelot taumelte hinaus, fand sein Pferd schon gesattelt und ritt fort. Er gelangte wieder zum Artusheer, als gerade die mörderische Schlacht mit den Sachsen begann, und er schlug so wild um sich wie kein anderer. Von seinen Streichen sanken die Feinde wie hingemäht ins Gras; er achtete nicht auf die vielen Wunden, die er empfing, ja, ihm wäre der Tod
willkommen gewesen, denn der Betrug auf Corbenic nahm ihm allen Mut zum Leben. Ginevra war mit ihrem ganzen Gefolge aufgebrochen, um dem Heer in einiger Entfernung zu folgen. In einer Burg, die ein paar Reisetage vom Schlachtfeld entfernt lag, hielt sie sich auf und wartete ängstlich auf Boten, die ihr vom Kriegsgeschehen berichten sollten. Da sprengte eines Abends Lanzelot durchs Tor mit zerhauenem Schwert, und sein Schild war tief zerklüftet; Blut rann aus vielen Wunden über die Rüstung. Die Frauen schrien entsetzt auf, als sie ihn erblickten. Sie liefen herzu, um ihm die Rüstung abzunehmen, aber Lanzelot raffte wie wahnsinnig Steine von der Erde und warf sie nach den Frauen, die ihm helfen wollten. Erst Ginevra gelang es, den Tobenden zu beruhigen. Still wie ein Kind ließ er sich in ein Gemach führen, duldete es, daß man ihm den Harnisch abnahm und seine Wunden verband. Er lag tagelang in schwerem, wirrem Schlaf, schrie immer wieder auf und murmelte Dinge, die keiner verstand. Ginevra vergaß über der Sorge um den Kranken fast das Schicksal ihres Königs, und als Lanzelot zum erstenmal die Augen aufschlug und sie mit klarem Blick ansah, weinte sie vor Glück. Und wieder vergaßen die beiden Liebenden alles, was sie Artus und ihrer Treue schuldeten – sie lagen einander in den Armen und freuten sich eines am anderen. Ein Bote kam geritten. „Herrin, ich bringe schlimme Nachricht! Der König und viele seiner Ritter sind von den Sachsen gefangen genommen und verschmachten in der Burg Sachsenfels. Wenn nicht bald Hilfe kommt, ist Britannien verloren!“ Lanzelot fuhr auf und griff nach Schwert und Schild – staunend bemerkte Ginevra, daß der Riß in seinem Schild von selbst wieder verschwunden war; mit Lanzelots Gesundung
durch ihre Liebe war auch der Schild geheilt! Sie beschwor ihn aber, noch nicht wieder in den Kampf aufzubrechen: „Lanzelot, du mußt noch hierbleiben! Du bist nicht stark genug, du mußt erst deine alten Kräfte wiedergewinnen! Und wer schützt mich, wenn du uns verläßt?“ Er blieb noch, aber mit unruhigem Herzen. In der Burg war es still, bedrückt gingen die Frauen ihrer Arbeit nach. Aber eines Tages erhob sich ein wüstes Geschrei auf der Straße, die an dem Haus vorbeiführte, und als die Frauen zum Turm stürzten, sahen sie etwas Schreckliches: Ein wilder Haufe von Sachsen trieb Gefangene mit Stöcken vor sich her – die Frauen erkannten Artus, sie erkannten Lionel und Bohort, Gawan und Keie, die blutend, stolpernd auf dem Weg vorwärtstaumelten! Und Botschaft kam von Herrn Iwein: „Wo bleibt Lanzelot? Wenn er mir nicht zur Hilfe eilt, kann ich den Sachsen nicht mehr widerstehen, alles ist verloren!“ Nun mußte Ginevra Lanzelot ziehen lassen. Sie reichte ihm Artus’ eigene Rüstung, seinen mit Edelsteinen besetzten Schild, seinen goldenen Helm, der ihr Feldzeichen trug. Ungeduldig wappnete er sich, nahm hastig Abschied von der Königin und ritt mit eilig aufgebotenen Männern nordwärts, bis er schon von weitem das Getöse der wilden Schlacht vernahm. Hell stieß er sein Feldgeschrei aus, und als die erschöpften Krieger Iweins ihn hörten, faßten sie neuen Mut. Mit Lanzelots Hilfe bedrängten sie die Feinde, achteten nicht auf die Gefahr für Leib und Leben und jagten schließlich die Sachsen ins Meer. Iwein ritt zu Lanzelot, nahm sich den Helm ab und wischte sich den Schweiß vom rostbedeckten Gesicht. „Ach, Freund, du kamst zur rechten Zeit! Ohne dich wäre die Schlacht und wäre der Krieg verloren! Jetzt auf, wir müssen den König befreien!“ Erschöpft und müde erreichten sie die Burg, in der die Gefangenen im Verlies lagen, überwältigten die Bewacher und befreiten den König und die Seinen.
„Dankt es Lanzelot, Herr“, sprach Iwein. „Ohne ihn wären wir verloren gewesen, nie hätte ich allein euch befreien können!“ Und Artus umarmte den Mann, den er für den Getreuesten hielt. Der Krieg war beendet, das Heer kehrte zurück nach Tintajol, und am Abend, als sie beisammen in der Halle saßen und traurig von den Gefährten sprachen, die auf dem Schlachtfeld ihr Leben gelassen hatten, hob der König seinen Becher: „Lanzelot, dir trinke ich zu! Du bist tapfer und treu. Ohne dich wäre ich nie zu meiner Königin heimgekommen! Du wirst immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben!“ Lanzelot verneigte sich tief, aber die Königin sah vor sich nieder. Wenn Artus wüßte, was geschehen war! Sie bereute ihre Untreue, aber sie fühlte, daß sie nie von Lanzelot zu lassen vermochte. Lanzelot blickte auf seine Hand. Ein Ring schmückte sie, den Ginevra ihm gegeben: In einen leuchtenden Saphir waren zwei Hände eingeschnitten, die ein Herz umfaßten. Er führte verstohlen den Ring zum Mund, aber er wagte nicht, Ginevra anzusehen. Der König lud zu einem großen Siegesfest ein, bei dem alle, die ihm treu gedient hatten, mit kostbaren Geschenken belohnt wurden, und er sorgte dafür, daß auch das einfache Volk, das schwer unter dem Krieg gelitten hatte, mit allem versorgt wurde, was nötig war. Eine ruhige Zeit kehrte in Tintajol ein, und Lanzelot suchte und fand immer wieder neue Möglichkeiten, um Ginevra allein zu sehen und zu sprechen. Sie spielten ein gewagtes Spiel, nie sicher vor Entdeckung. Aber niemand schöpfte Verdacht.
Eines Abends saß Lanzelot mit Agrawain beim Schachspiel. Agrawain lachte: „Mit dir zu spielen, macht nicht viel Freude. Mit diesem Spiel kann nur derjenige gewinnen, der ohne
Sünde ist – und das bist du. Warum du soviel besser bist als wir anderen, weiß ich nicht, aber dem Spiel müssen wir glauben!“ Sie begannen, geschickt zog jeder seine Figuren, spähte nach den Blößen des Gegners und gab acht, seine Dame zu schützen. Aber Lanzelot verlor! Verwundert starrte Agrawain ihn an: „Was ist mit dir geschehen? Hast du eine Sünde begangen? Was hast du verbrochen?“ Ach, Lanzelot wußte es nur zu gut, aber er sagte: „In Corbenic ist etwas geschehen, was nicht hätte sein dürfen.“ Damit gab sich Agrawain zufrieden, aber er konnte es künftig nicht lassen, Lanzelot zu beobachten, und ihm entging nicht, daß der Freund erblaßte, wenn die Königin eintrat, und er fing manchen verstohlenen Blick auf. „Das kann doch nicht sein!“ dachte Agrawain erschrocken. „Wir alle verehren die Königin. Lanzelot ist noch jung, sicher hat ihn die Schönheit der Königin mehr als uns andere betört. Aber er wird nie etwas Unrechtes tun.“ Und doch gewöhnte er sich an, argwöhnisch den Blicken zu folgen, die Lanzelot der Königin zuwarf, und manchmal lag ihm die Frage auf den Lippen: „Lanzelot, was tust du? Was hast du getan?“ Aber er schwieg und beobachtete den Freund weiter. Die beiden unseligen Liebenden waren auf der Hut, damit niemand ihr heimliches Beisammensein entdecken sollte. Aber wie groß die Gefahr war, wurde ihnen eines abends offenbar, als sich die Königin neben ihren Gemahl setzte. Artus nahm einen Grashalm aus ihrem Haar: „Wo bist du gewesen, Ginevra? Hast du im Gras geschlafen?“ Er lachte, sie aber zuckte zusammen.
Lanzelot und Morgane
Eines Tages auf der Jagd verließ Lanzelot die Freunde, um nach einer Quelle zu suchen; es war heiß, und ihn quälte der Durst. Iwein rief ihm nach: „Gib acht, Lanzelot, hier im Walde von Tintajol gibt es eine verzauberte Quelle! Trink nicht, warte, bis wir wieder daheim sind!“ Aber Lanzelot achtete nicht darauf. Er fand einen Brunnen, dessen Wasser so klar glitzerte, daß er es unmöglich für vergiftet halten konnte, und er beugte sich nieder und trank in großen Zügen. Da verwirrten sich seine Sinne, er sank betäubt zu Boden, Fieber schüttelte ihn, er fühlte sich dem Tode nahe. Von fern hörte er die Stimmen der Freunde nach ihm rufen, aber er vermochte kein Wort herauszubringen, und immer ferner klang das Rufen. Da streckte er sich aus und schloß die Augen: „Ach, Ginevra, jetzt scheidet uns der Tod! Nichts anderes in der Welt könnte uns beide voneinander reißen! Ach, Ginevra, daß du jetzt bei mir wärst!“ So fand ihn Morgane, die zaubermächtige Fee. Sie kniete neben dem Kranken nieder und fühlte nach seinem Herzschlag. „Noch lebt er“, flüsterte sie. „Und ich rette ihn. Mein ist Lanzelot – mir soll er gehören, denn nur ich kann ihm das Leben erhalten!“ Drei Tage und Nächte wachte sie neben dem Bewußtlosen, benetzte seine Stirn mit Wasser, deckte ihren Mantel über ihn, wenn die Nachtkühle ihn erschauern ließ, und flößte ihm einen Heiltrank ein, den sie in einem Fläschchen bei sich trug.
Am vierten Tage endlich schlug Lanzelot die Augen auf, Morgane half ihm auf sein Pferd und hielt ihn fest, langsam zogen sie des Wegs, bis sie Morganes Schloß erreichten. Hier wollte der Ritter kurze Rast halten, aber Morgane ließ ihn nicht wieder von sich. Sie offenbarte ihm, daß sie ihn schon lange liebe, sie versprach ihm, seine Gemahlin zu werden, sie vertrieb ihm die Zeit mit Erzählen und Singen, mit all den kleinen Zauberkünsten, die sie von Merlin gelernt hatte. Aber Lanzelot blieb abweisend und stumm – er dachte nur an Ginevra, und vor Morganes seegrünen Augen fürchtete er sich. Als Morgane erkannte, daß sie seine Liebe nicht gewinnen konnte, warf sie ihn in einen Kerker und ließ ihn dort lange Zeit im Finstern, bei kärglicher Kost, allein.
Niemand wußte, wo der Ritter geblieben war, alle trauerten um ihn, und Ginevra weinte heimlich viele Tränen. Ihr Herz sagte ihr, daß Lanzelot noch am Leben sei – aber würde er jemals wieder zurückfinden? Morgane ahnte, daß Lanzelot Ginevra liebte, und sie wußte auch, warum er immer so bekümmert den Ring an seinem Finger betrachtete. Sie ließ ihn aus dem Verlies holen und sprach: „Ihr wollt frei sein. Ihr wollt zu König Artus’ Gemahlin zurückkehren, ich weiß es. Nun gut, ich lasse Euch ziehen, aber ich verlange ein Lösegeld. Ihr seid mir wohl auch Dank schuldig, weil ich Euch das Leben gerettet habe. Gebt mir den Smaragdring!“ „Tut mit mir was Ihr wollt, Herrin“, antwortete Lanzelot, „aber den Ring kann ich Euch nie und nimmer geben.“ Da versenkte Morgane ihren Gefangenen in einen schweren Schlaf und zog ihm heimlich den Ring vom Finger. Und nun nahm sie Rache für die Kränkung, die er ihr angetan hatte. Sie schickte eine Botin an den Hof von Tintajol und gab ihr den Ring mit. Das Mädchen tat, wie ihr befohlen. Sie stand im Saal vor allen versammelten Rittern und sprach mit lauter Stimme: „Herr, ich bringe Botschaft von Lanzelot!“ „Von Lanzelot! Wo ist er?“ „Er lebt glücklich auf dem Schloß meiner Herrin Morgane. Euch, Herr König, läßt er sagen, daß er seine Liebe zu Eurer Gemahlin tief bereut. Er wird nie zurückkehren in die Tafelrunde, die er mit seiner verbotenen Liebe entehrt hat!“ Starr saßen die Versammelten – Artus war aufgesprungen. Das Mädchen trat auf die Königin zu: „Herrin, ich überreiche Euch den Ring, den Ihr Lanzelot als Zeichen Eurer Liebe geschenkt habt.“ Aller Augen richteten sich auf Ginevra. Sie erhob sich und rief: „Du lügst! Gewiß habe ich Lanzelot diesen Ring geschenkt, denn er hat für mich gekämpft, er hat meinen
Gemahl befreit, er war immer ein treuer und tapferer Ritter! Jeder von Euch hier in der Runde trägt eine Kostbarkeit, die er von meiner Hand erhalten hat. Niemals hätte Lanzelot eine solche Botschaft ausrichten lassen, nie hätte er mich so verleumdet.“ Sie brach in heftiges Weinen aus, daß Artus sie tröstend in den Arm nahm: „Sei still, Ginevra. Ich glaube dem Mädchen nicht. Daß Morgane dich haßt, seit du sie einmal in den Armen eines fremden Ritters überrascht hast, wissen wir alle. Und Lanzelot ist untadelig. Niemals werde ich glauben, daß er seine und meine Ehre vergißt! Geh, Mädchen, richte deiner Herrin aus, daß ihre Bosheit hier am Artushof keinen Glauben findet!“ Er sah sich im Kreise der Ritter um und begegnete zustimmenden Blicken. Nur Agrawain wandte sich düster ab. Morgane wartete auf die Rückkehr ihrer Botin und ließ Lanzelot jetzt in einem schönen, aber vergitterten Gemach wohnen. Durch das Fenster sah er die Schneeflocken auf die Erde sinken, die Eiszapfen wachsen; dann schmolz der Schnee, zaghaft wagten sich die ersten Blumen heraus, die Drossel sang vor seinem Fenster, und ein Rosenstock wuchs täglich höher und höher. Der Frühling ging ins Land, der Rosenstrauch brachte eine Knospe hervor, die Knospe erblühte zu einer herrlichen Rose, die ihren Duft in Lanzelots Gefängnis schickte und nie verblühte. Er stand und starrte auf die Blume, und er glaubte Ginevras Antlitz vor sich zu sehen. Ach, Ginevra! Die Sehnsucht verzehrte ihn. Er dachte an den Tag, an dem er sie zum erstenmal erblickt hatte; an die Stunde seines Ritterschlags und den Augenblick, als er sie bat, als ihr Ritter in die Welt ziehen zu dürfen; an jenen Augenblick, als er sie über dem Fluß am Fenster der Burg sah; er dachte an Ginevra, die ihn gepflegt hatte. Lanzelot bat seinen Wärter, ihm Farben zu bringen, und in den einsamen Wochen seiner Gefangenschaft bei Morgane
begann er, alles an die Wände seines Zimmers zu malen, was er mit Ginevra erlebt hatte. Jede Szene stand ihm vor Augen, und auch das, was sein Mund niemals einem Menschen anvertrauen durfte, malte seine Hand an die Wand: die Stunden, in denen die Königin in seinem Arm gelegen hatte. Die Wände waren bemalt, Lanzelot schaute sie an, und ihm war, als sei er Ginevra nähergekommen, als teile sie nun seine Einsamkeit. Denn immer war er allein, Morgane suchte ihn nicht mehr auf, weil sie hoffte, die lange Zeit der Abgeschlossenheit werde ihn vielleicht zermürben und ihn endlich doch in ihre Arme treiben. Aber allmählich wurde Lanzelot die Zeit allzulang. Täglich stand er viele Stunden am Fenster und blickte durch die Gitterstäbe hinaus auf die vollerblühte Rose. Wenn er sie nur einmal berühren, einmal ihren Duft ganz einatmen könnte! Er rüttelte am Gitter, er zwang mit starker Hand die Stäbe auseinander und achtete nicht darauf, daß sich seine Hände blutig rissen. Wie ein Besessener arbeitete Lanzelot, und schließlich bog er die Stäbe soweit auseinander, daß er sich hindurch zwängen konnte! Er sprang auf die Erde, lief zum Rosenstrauch und küßte die schöne Blüte. Dann rannte er weiter – kein Mensch ließ sich blicken – lief zur Burg hinaus, fand auf einem Feld ein ungesatteltes Pferd, schwang sich hinauf und ritt davon. Er schlug die Richtung nach der Burg Tintajol ein und machte nicht eher halt, bis er im Abenddämmern die Mauern der Burg vor sich aufragen sah. Wo war Ginevra? Sein Blick suchte die Fenster ihrer Schlafkammer, er sah sie nicht. Lanzelot wartete, bis es Nacht wurde, dann kletterte er an der Mauer hinauf und stieg durch das geöffnete Fenster ins Schlafgemach der Königin. Sie schrak auf und wollte um Hilfe rufen, aber er war schon bei ihr, umfing sie mit starkem Arm und verschloß ihr den Mund mit Küssen. Wie selig waren die beiden, daß sie einander wiederhatten! Sie blieben die Nacht beisammen, und
als der Morgen graute, kletterte Lanzelot wieder aus dem Fenster, versteckte sich im Wald und wollte sich am Morgen vor König Artus melden. Aber eines hatte weder er noch die Königin bemerkt: Seine Hände, die er sich bei seinem Entweichen aus Morganes Burg aufgerissen, hatten ihr Gemach mit Blut besudelt!
Am Morgen erschien der Ritter Meleagan, um die Königin nach ihren Befehlen für den kommenden Tag zu fragen – da sah er entsetzt, daß Ginevras Zimmer voller Blut war! „Königin, wer ist hier gewesen? Ist ein Mann zu Euch eingedrungen?“ Und ohne auf ihre Antwort zu warten, lief er hinaus, wo im Vorraum Herr Keie schlief, der nachts über die Sicherheit der Königin zu wachen hatte. Erstarrt blieb Meleagan stehen: „Keie, du blutest?“ „Ich habe mich in die Hand geschnitten, aber das kann ja wohl jedem einmal zustoßen. Deshalb brauchst du mich nicht so anzustarren“, erwiderte Keie grämlich. „Du blutest! Dann ist es dein Blut, das die Lagerstatt der Königin befleckt! Du bist bei ihr gewesen, du hast sie entehrt! Und die Königin ist eine Ehebrecherin!“ Keie griff zum Schwert, aber Gawan und Agrawain, die auf das Geschrei hin herbeigeeilt waren, wanden es ihm aus der Hand. „Ruhig Blut, Keie! Ihr könnt doch nicht hier vor dem Gemach der Königin kämpfen!“ „Ich will zum König!“ rief Keie und stürzte hinaus, die anderen ihm nach. Artus hörte sich an, was Keie und Meleagan zu berichten hatten – er glaubte keinen Augenblick daran, daß sein treuer Hofmarschall die Königin heimlich besucht habe. Aber Meleagan forderte einen Kampf: „Ich verlange ein Gottesurteil! Keie soll mit mir kämpfen! Siegt er, dann wissen wir, daß er der Königin nicht zu nahe trat.“
„Ja!“ schrie Keie. „Kämpfen wir!“ Da aber stürzte Lanzelot hervor, der sich unter die Burgbewohner gemischt hatte. „Keie, laß mich für dich kämpfen!“ „Nein!“ rief Keie, „ich selbst muß beweisen, daß ich unschuldig bin!“ Aber Lanzelot ließ nicht nach, und auch Ginevra bat: „Laßt Lanzelot kämpfen, Herr Keie! Er ist jünger und wird Eure und meine Ehre besser verteidigen!“ Schließlich entschied König Artus, daß Lanzelot für Keie kämpfen dürfe, was der grollend hinnahm. Meleagan war es schon recht – er haßte Lanzelot, weil er auf dessen Ruhm schon lange eifersüchtig war, und hoffte, ihm bei dieser Gelegenheit beweisen zu können, daß er ihm ebenbürtig sei.
Aber Meleagan fiel in diesem Zweikampf. Keie war gerächt, seine Unschuld bewiesen. Lanzelot hatte schwere Wunden empfangen, aber die Frauen der Königin pflegten ihn gesund, und als er völlig genesen war, gab der König, der Lanzelot unverändert hochhielt, ihm zu Ehren ein großes Fest. Dann zogen Artus und seine Ritter übers Meer, um Lanzelots Krönung zum König seines Reiches Benoic zu feiern.
Lanzelot, der Büßer
Jahre gingen ins Land. Bald lebte Lanzelot am Hof des Königs oder nahm an dessen Zügen durchs Land teil, bald ritt er allein auf Abenteuer aus – immer aber zog es ihn wieder zurück zu Ginevra. Die Königin war unverändert schön, und Artus liebte
sie mit immer gleicher Glut; nie kam es ihm in den Sinn, daß Ginevras Herz ihm nicht mehr gehörte. Es war die Zeit, von der schon erzählt worden ist – als Parzival nach dem Gral suchte. Da kam eines Tages ein fremder Sänger an den Artushof und trug ein langes Lied von der Herrlichkeit des Grals vor. Seine Erzählung begeisterte die Ritter so sehr, daß viele von ihnen beschlossen, auch auf die Gralssuche zu gehen. Lanzelot schwieg. Da sprach der König: „Und du, liebster Lanzelot? Wenn einem Ritter außer Parzival der Gral beschieden ist, dann bist du es! Denn du bist gut und treu, kein Falsch ist an dir, du bist berufen, die höchsten Ehren zu erringen!“ Und er wandte sich an Ginevra: „Herrin, gebt Eurem Ritter Urlaub, damit er den Gral suchen kann!“ Sie erschrak und blieb stumm. Aber Lanzelot erhob sich: „Ja, Herr, auch ich will mich auf die Gralssuche machen!“ Aber er tat es mit schwerem Herzen, und in der Nacht nahm er schmerzlichen Abschied von seiner Geliebten. „Lanzelot“, flüsterte sie, „du kannst den Gral nicht finden – ich bin schuld, daß du Treue und Reinheit verloren hast!“ „Nicht du bist schuld“, antwortete er, „es ist die Macht der Liebe, die uns beide so selig und so unselig macht!“ Lanzelot ritt ins Ungewisse, allein, ohne Knappen. Wohin sollte er sich wenden? Als er auf einer Wiese an einer Waldkapelle einschlief, ermüdet vom langen Ritt, erlebte er im Traum etwas Seltsames: Er träumte, daß ein von vielen Wunden kranker Mann in die Kapelle trat, er sah, wie der Fremde vor dem Altar kniete und ein heißes Gebet um Heilung sprach. Und plötzlich war die kleine Kapelle von strahlendem Schein erfüllt. Der Gral schwebte durch den Raum, neigte sich über den Kranken und verschwand! Da erhob sich der Mann, gesund und frisch an allen Gliedern, dankte Gott für die Rettung und verließ die Kapelle. Er ging zu Lanzelots Pferd und bestieg es. In diesem Augenblick erwachte Lanzelot und
sah gerade noch, daß der Fremde auf seinem Pferd davonritt! So war es also kein Traum gewesen – was er im Schlaf gesehen, war wirklich geschehen – aber er war nicht würdig, den Gral leibhaftig zu erblicken, nur im Traum durfte er ihn schauen. Lanzelot erhob sich, zu Fuß ging er weiter, ohne auf Weg und Steg zu achten. So kam er zu einem Einsiedler, dem er seine schwere Sünde beichtete. Der fromme Mann wich vor ihm zurück: „Noch nie hat mir ein Mensch eine solche Schuld gebeichtet! Seid Ihr denn von Sinnen gewesen, daß Ihr den besten König betrogen habt? Eure Sünde verlangt schwere Buße, wenn Ihr auf Vergebung hoffen wollt!“ Lanzelot blieb lange bei dem Einsiedler, täglich drückte ihn seine Schuld schwerer. Da beschloß er, Ginevra zu entsagen und sein künftiges Leben in Reue und Buße hinzubringen. Um sich immer an diesen Entschluß zu erinnern, legte er unter seinem Waffenkleid ein hartes, kratzendes Hemd aus grober Wolle an – ein Büßerhemd. So kehrt er nach Tintajol zurück, gab sich aber niemand zu erkennen, sondern rüstete sich nur heimlich mit neuen Waffen und einem anderen Pferd. Dann brach er aufs neue auf – wieder zur Suche nach dem Gral. Eines Tages stieß er auf einen Mann, der von vier Räubern gefangengehalten und schrecklich gequält wurde. Man hatte ihm die Rüstung genommen, er war von oben bis unten mit Schlamm bedeckt und wehrte sich stumm und verbissen gegen die Fäuste, die ihn umklammert hielten. Lanzelot sprengte auf die Räuber los und trieb sie mit raschen Stößen in die Flucht. Dann wandte er sich zu dem Gefangenen, führte ihn an einen Bach und half ihm, sich den Schmutz abzuwaschen. „Mordred!“ rief er überrascht. „Du bist es! Wie gut, daß ich dich befreien konnte!“
Gawans dunkler Bruder sprach finster: „Besser, du hättest mich nie in dieser Schmach gesehen!“ Sie suchten und fanden Mordreds Pferd und ritten miteinander weiter, aber es war keine fröhliche Gesellschaft, die sie aneinander hatten: Lanzelot war in trübe Gedanken versunken, Mordred schwieg wie immer. So kamen sie zusammen zu dem Klausner, bei dem Lanzelot seine Sünden gebeichtet hatte. Er empfing die beiden Männer mit entsetzten Blicken: „So soll ich Euch beide zusammen sehen? Um Eurer Sünden willen wird das Reich des Königs Artus zugrunde gehen!“ Mordred schrie auf vor Wut: „Was fällt dir ein? Meine Sünden? Nichts Unrechtes habe ich je getan!“ Und er hob sein Schwert und stieß es dem Einsiedler durch den Leib. Da sprach Lanzelot: „Jetzt trennen sich unsere Wege. Mit einem Mörder will ich nichts zu tun haben. Sieh du selbst zu, wie du mit dieser Freveltat fertig wirst!“
Lanzelot und Galahad
Lanzelot kehrte nach Tintajol zurück, aber er hielt sich abseits von den anderen, und niemals mehr suchte er Ginevras Nähe. Sie litt unter seinem Verhalten, sie wußte nicht, was ihn bedrückte, aber Iwein verriet ihr: „Herrn, habt Ihr gesehen, daß Lanzelot ein Büßerhemd unter seinem Waffenrock trägt? Was mag ihm zugestoßen sein?“ Nun wußte Ginevra, daß Lanzelot entsagt hatte und nicht mehr zu ihr gehörte. Sie wurde krank und blaß, und kaum wagte sie ihm, der ihrer beider Sünden büßen wollte, in die Augen zu sehen. „Was ist aus dem frohgemuten Ritter geworden? Ach, daß wir uns je begegnet
sind! Lanzelot war zu Großem berufen, nun hat er alles vertan um unserer Liebe willen! Und ich darf ihm nicht helfen, darf kein Wort verraten!“ Eines Tages ritt ein junger Mann in den Artushof ein, fragte nach dem König und wurde freundlich von ihm aufgenommen. Jedermann staunte: Es schien, als ob Lanzelot in verjüngter Gestalt vor ihnen stünde! Der König fragte nach seinem Namen: „Galahad bin ich, ich komme aus Corbenic. Wer mein Vater ist – ich weiß es nicht.“ Aber Lanzelot wußte es – er dachte an die Nacht, als er geglaubt hatte, Ginevra in den Armen zu halten, und er dachte an die Prophezeiung, die ihm das Mädchen gesagt. Er erkannte in dem reinen, engelhaft klaren Gesicht das eigene, und tiefer Schmerz erfaßte ihn: So rein, so unschuldig war auch er einst an den Hof von Artus gekommen – und wie sehr hatte er in diesen langen Jahren seine Unschuld verraten! Lanzelot nahm Galahad beiseite und offenbarte ihm, wer er sei. Er bat den König, seinen Sohn zum Ritter zu schlagen, und Lanzelot selbst legte Galahad die Sporen an und gab ihm Schild und Schwert in die Hand. Dann nahm Lanzelot Urlaub vom Hofe und ritt mit seinem Sohn davon; vielleicht würde es ihm jetzt gelingen, den Gral zu finden – vielleicht jetzt, wenn er in seinem Sohn sein eigenes unbeflecktes Spiegelbild bei sich hatte? Aber es kam anders: Galahad suchte nicht Kampf und Abenteuer, nur gelegentlich war er bereit, bei einem Turnier zu zeigen, daß er auf Ritterart zu streiten verstand. Keines Mädchens Schönheit bewegte ihn, er sah nur die Bedrängten, denen er half, die Kranken, die seine Hand auf wunderbare Weise zu heilen verstand. Vater und Sohn fuhren übers Meer, sie fanden an der Küste ein Schiff, das auf sie zu warten schien und das lange, lange Monate mit ihnen umherfuhr, bald hier,
bald dort an einer Küste landete, wo Galahad Kranke und Elende fand, denen er helfen konnte. Dann aber ertönte eines Nachts eine Stimme, die beide vernahmen: „Galahad, von jetzt an reite allein weiter. Du bist berufen, den Gral zu finden, du wirst neben dem Gralskönig der Hüter des Heiligtums sein.“ Mit Tränen nahmen Vater und Sohn voneinander Abschied – Lanzelot sah seinem Sohn nach, als ob sein eigenes besseres Ich davonzöge.
Lanzelot wieder am Artushof
„Galahad ist berufen – ich selbst bin verworfen. Was hilft es, daß ich büße? Die Liebe zu Ginevra kann ich doch nicht in mir töten!“ So dachte Lanzelot, und er ritt zurück an den Artushof. Als er ankam, fand gerade ein großes Turnier statt. Lanzelot kleidete sich in eine schwarze Rüstung, in der ihn niemand erkannte, und besiegte jeden Gegner! Am Abend, als man den Sieger feiern wollte, war er nicht zu finden. „Der schwarze Ritter liegt an vielen Wunden krank im Zelt des Ritters Iwein!“ hieß es. Da ging Ginevra hin, von einer Ahnung getrieben – und sie fand ihn, den geliebten und so sehnlich entbehrten Lanzelot! Sie nahm ihn in die Arme, sie flüsterte zärtliche Worte, sie strich ihm übers Haar, und Lanzelot vergaß alles. Ginevra hatte ihn wieder. Nach seiner Genesung kehrte er an den Hof zurück, herzlich willkommen geheißen und hoch geehrt. Heißer als je brannte seine Liebe zur Königin, und auch sie vermochte kaum ihre Blicke zu zügeln. Schöner erblühte Ginevra mit jedem Tag, und alle bemerkten es verwundert. Nur Agrawain ahnte, daß die Liebe zu Lanzelot sie so schön machte. Er konnte es nicht lassen, Lanzelot mit mißtrauischen
Blicken zu beobachten, immer stärker wurde sein Verdacht, daß der Ritter ohne Furcht und Tadel seinen König schmählich hinterging. Das schmerzte den treuen Agrawain tief, und eines Tages beschloß er, Artus zu warnen. „Herr, wenn Ihr jetzt zum Turnier aufbrecht, besteht darauf, daß Lanzelot Euch begleitet. Es mag gefährlich sein, wenn er hier bei der Königin bleibt. Er sieht sie zu oft allein.“ König Artus fuhr zornig auf: „Agrawain, aus dir spricht der Neid, weil mir Lanzelot so lieb ist! Hüte dich, jemals wieder einen solchen Verdacht auszusprechen!“ Aber ab und zu warf er nun auch einen forschenden Blick auf Ginevra, wenn Lanzelot in den Saal trat, doch schien es ihm undenkbar, daß sie ihn hintergehen könne.
Lanzelot und das Mädchen von Escalot
Lanzelot spürte die Gefahr, und als der König zum Turnier ritt, brach er auf und folgte dem Zug. Unterwegs kehrte er auf der Burg Escalot ein, wo ihn die schöne junge Tochter mit glänzenden Augen ansah und ihren Blick nicht von dem stolzen Ritter zu wenden vermochte. Er erbat sich eine Rüstung, um unerkannt an dem Turnier teilzunehmen. Das Mädchen holte ihm die Rüstung ihres Bruders und bat: „Herr, noch nie hat ein Ritter für mich gekämpft. Wollt Ihr es nicht tun? Mir könnte nichts Lieberes geschehen.“ Lanzelot blickte sie freundlich an: „Gern, Herrin, gebt mir ein Feldzeichen, das ich an meinen Schild heften kann.“ So kam es, daß Lanzelot auf dem Turnier mit einem blutroten Ärmel vom Gewand des Fräuleins von Escalot stritt. Sein Gegner war Agrawain, der ihn nicht erkannte, der ihn aber im
Kampf schwer verwundete. Lanzelot verließ den Turnierplatz als Besiegter und hielt sich in Escalot verborgen, wo ihn das Burgfräulein treulich pflegte. Als er wieder aufbrechen sollte, faßt sie sich ein Herz: „Herr, wollt Ihr nicht hierbleiben? Ich gestehe Euch, daß Ihr mir lieber als jeder andere Mensch seid, und ich biete Euch meine Liebe für die Eure.“ „Das kann nicht sein, Herrin“, erwiderte Lanzelot. „Meine Liebe gehört einer hochgeborenen Frau, und nie wird mein Herz von ihr lassen. Ich danke Euch, daß Ihr mir das Eure schenken wollt – aber ich kann nicht bei Euch bleiben.“ Das Fräulein von Escalot erbleichte und griff sich ans Herz, er aber war schon aus dem Zimmer gegangen, suchte sein Pferd und ritt zurück nach Tintajol. Nun geschah es, daß auch der Ritter Bohort die Burg von Escalot besuchte, und ihm gefiel die junge Burgherrin über alle Maßen. Ihm war, als ob er sich niemals von ihr trennen könnte, und er zögerte den Abschied Tag um Tag hinaus, obwohl sie seine schüchterne Werbung nicht zu bemerken schien. Schließlich sagte er zu ihr: „Herrin, Ihr besitzt meine Liebe. Ihr macht mich zum seligsten Menschen, wenn Ihr mir Eure Hand reicht.“ Aber sie sprach: „Es kann nicht sein, mein Herz ist bei einem fremden Ritter, der hier weilte. Für mich hat er am Turnier teilgenommen, mein blutroter Ärmel war an seinen Schild geheftet.“ Bohort drang weiter in sie, und aus manchem, das sie zu berichten wußte, erkannte er, daß es Lanzelot war. Da sagte er traurig zu ihr: „Herrin, dann liebt Ihr einen herrlichen Ritter, vor dem ich zurückstehen muß. Möge Gott Euch glücklich zusammenführen.“ Betrübt ritt er davon, zurück an den Artushof, wo man sich sehr um Lanzelot sorgte. „Herr“, wandte sich Bohort an den König, „ich weiß, daß Lanzelot ein schönes Mädchen liebt. Unter ihrem Zeichen hat er am Turnier teilgenommen, er ist es gewesen, den Agrawain besiegt hat.“
Artus nahm die Nachricht mit großer Freude auf. Er warf Agrawain einen Blick zu, der hieß: „Da siehst du, wie falsch und ungerecht dein Verdacht war!“ Aber Ginevra biß sich auf die Lippen. Sie verließ den Saal und weinte in ihrem Gemacht: „Ach, Lanzelot, du hast mich verraten! Um deinetwillen habe ich den besten König betrogen, und du hast deine Liebe einer anderen geschenkt!“
Gefahr und Entdeckung
Artus’ Verdacht wurde neu geweckt: Morgane bat ihn durch eine heimliche Botschaft, sie aufzusuchen, sie habe großen Kummer. Und als er zu ihr kam, zeigte sie ihm schweigend die Bilder, die Lanzelot an die Wände seines Gemachs gemalt hatte. Entsetzt entdeckte Artus seine Gemahlin, sah die Bilder, die vom Liebesglück der beiden sprachen, und erkannte Ginevras Schuld. Finster ritt er davon und bemerkte nicht das triumphierende Lächeln Morganes. Als Lanzelot wieder den Artushof aufsuchte, begegnete Ginevra ihm kalt und fremd. Sie reichte ihm nicht die Hand, nie suchte ihr Blick den seinen, und niemals gelang es ihm, sie allein zu sprechen. Da war ihm die fröhliche Runde verleidet, er nahm trüben Abschied. Die Königin sprach nur gleichgültig: „Lebt wohl, Herr Lanzelot. Ihr wißt Euer Glück sicher zu finden.“ Er ritt nach der Freudenburg, wo er keine Freude fand, sondern sich unwirsch und trübe vor der Welt verbarg. Der König hatte Ginevras Kälte wohl bemerkt und ließ ab von seinem Verdacht, zumal er sie immer noch aus ganzem Herzen liebte. Eines Tages erhob sich ein großes Geschrei unten am Fluß vor der Burg. Fischer holten einen treibenden Kahn ans Land,
und darin lag, schön geschmückt und wachsbleich, das Fräulein von Escalot! Bohort warf sich jammernd über die Tote. Er nahm ihr einen Pergamentstreifen aus der Hand, auf den das Mädchen geschrieben hatte: „Mein Leben werfe ich fort. Es gilt mir nichts mehr, denn Ritter Lanzelot verschmäht meine Liebe.“ Als der König das vernahm, schwindelte es ihn: „Lanzelot, Lanzelot! Was hast du getan?“ Aber die Königin frohlockte: Lanzelot war ihr treu geblieben! Heimlich schickte sie Bohort nach der Freudenburg und ließ Lanzelot zurückholen. Er kam sogleich, und sie empfing ihn mit solcher unverborgenen Freude, daß der König nicht mehr an ihrer Liebe zu seinem Ritter zweifeln konnte. Die beiden Liebenden vergaßen alles über dem Glück, wieder miteinander versöhnt zu sein, und es gab keinen Mann und keine Frau, denen das Geheimnis jetzt nicht offen vor Augen lag. König Artus rief Gawan und seine Brüder: „Euch, meine Getreuen, bitte ich um Rat: Betrügt mich meine Königin? Ist es möglich, daß Ginevra Lanzelot liebt?“ Gawan wandte sich ab, und auch seine Brüder wollten kein Wort gegen die Königin sprechen. Nur Agrawain sagte: „König, Ihr wißt es selbst. Aber wenn Ihr noch Beweise braucht, dann laßt Ginevra überwachen.“ Da wandten sich seine Brüder ab und schritten davon. Artus aber beschloß, Agrawains Rat zu folgen. Er ritt für lange Zeit fort und beauftragte Agrawain, die Königin zu überwachen. Als er zurückkam, hörte er schlimme Kunde: Man hatte Lanzelot nachts im Gemach der Königin entdeckt! Er war geflohen, mit ihm Bohort und Lionel, die Königin saß gefangen und erwartete ihr Urteil. Da war Artus’ Kraft gebrochen. Müde ließ er es zu, daß sich die Großen seines Landes versammelten und den Richtspruch über die Königin fällten: Ginevra wurde zum Feuertod
verurteilt! „Vollzieht den Spruch schon morgen“, sagte der König. Am anderen Tag errichtete man den Scheiterhaufen. In grauem Leinenkleid, an Händen und Füßen gebunden, wurde Ginevra hinausgeführt. Artus wandte sich ab, als sie an den Pfahl auf dem Holzstoß gekettet wurde. Sie war bleich wie der Tod, aber sie sprach kein Wort. Ringsum sah sie in die versteinerten Gesichter der Ritter, die einstmals alle ihr zu Diensten gestanden hatten. Ihr Blick flog von einem zum andern – aber sie, die sonst jeden Wunsch Ginevras erfüllt, die sich durch ein Lächeln von ihr für die verwegensten Taten belohnt gefühlt hatten – sie hatten keinen Trost, keine Hilfe. Nur Gawan sah sie nicht: Er hatte Urlaub genommen und war weit fortgeritten, um nicht den Tod seiner Herrin mitzuerleben. Schon züngelten die Flammen empor – da brach mit großem Lärm eine Reiterschar aus dem Walde. Lanzelot und seine Freunde stürzten sich wild in die Menge, rissen Ginevra vom Scheiterhaufen und schlugen auf die Männer ein. Mit einem einzigen Schlag fällte Lanzelot Agrawain, wild wie ein tolles Tier wandte er sich gegen den sanften Gaheriet und tötete auch ihn, ja auch Gerret fiel unter seinen Streichen. Nur Mordred entkam. Wie ein Spuk war das Handgemenge vorüber – Lanzelot, Bohort und Lionel waren wie der Wind mit Ginevra davongeritten. Artus rührte sich nicht: Im tiefsten Herzen fühlte er sich erleichtert, daß Ginevra gerettet war, und als er vernahm, daß sie mit Lanzelot in der Freudenburg lebte, beschloß er, sie nicht zu verfolgen. Aber er hatte sich gewandelt – wer ihn sah, gebeugt und mit grauem Haar, erkannte den stolzen König nicht wieder. Auch Lanzelot und Ginevra erlebten keine frohen Tage in der Freudenburg. Bedrückt und voller Furcht vor der Zukunft, lebten sie nebeneinander hin, und wenn sich ihre Blicke trafen, seufzten sie nur.
Gawan der Rächer
Boten hatten Gawan berichtet, daß seine drei Brüder erschlagen worden waren. Er tobte vor Wut und Schmerz. „Lanzelot, wie konntest du das tun! Nie kann ich dir vergeben! Bis ans Ende meiner Tage will ich dich verfolgen! Ich werde meine Brüder rächen, so wahr mir Gott helfe!“ Er begab sich zu Artus und überredete ihn, die Freudenburg zu belagern. „König, Euch ist die schlimmste Schande angetan worden! Sollen die beiden Verräter in Ruhe leben dürfen? Und daß Euch Lanzelot drei Neffen erschlagen hat, als sie sich nicht wehrten, wollt Ihr das ungerächt lassen?“ Artus gab ihm endlich nach. Die Tafelrunde von einst war zerstört, viele Ritter lagen tot, andere waren Lanzelot gefolgt. Zwar berief er neue Männer in die Runde, aber es war der alte Geist nicht mehr, der den Artushof beherrschte. Trübe verliefen die langen Abende, keiner wagte von den alten Tagen zu sprechen, und Artus ging Merlins Wort nicht aus dem Sinn: „Es werden sich hassen, die vordem sich liebten.“ Wollte er nicht Gawan auch verlieren, dann mußte er Lanzelot den Krieg ansagen. Und Artus rüstete seine Streitmacht. Als Späher meldeten, daß das Artusheer heranrückte, befestigte Lanzelot die Freudenburg, so gut es ging, schickte aber gleichzeitig Boten übers Meer in sein Land Benoic und ließ befehlen, daß dort alles für den Krieg vorbereitet werde, falls er selbst in sein Reich fliehen müßte. Ginevra rang die Hände und schluchzte. Welches schlimme Schicksal mochte ihnen beiden noch beschieden sein! Vor der Freudenburg kam es zu einer gewaltigen Schlacht, in der die Freunde von einst als unerbittliche Gegner aufeinander loshieben. Plötzlich bemerkte Lanzelot, daß Artus verwundet und in großer Gefahr war. Da sprengte er heran, zog des
Königs Pferd aus dem Getümmel und rief ihm zu: „Herr, verlaßt das Schlachtfeld! Begebt Euch in Gawans Schutz!“ Als der Abend sank, endete die Schlacht; Lanzelots Burg war nicht erobert. König Artus sprach zu Gawan: „Laßt uns den Krieg beenden. Lanzelot hat mir das Leben gerettet. Ich mag nicht mehr zusehen, wie meine Ritter einander töten!“ Aber Gawan war unerbittlich: „Solange Lanzelot lebt, will ich ihn verfolgen, und sei es bis ans Ende der Welt! Wollt Ihr, Herr, den Kampf einstellen, dann muß ich Euch verlassen und den Krieg auf eigene Faust fortsetzen.“ Aber Artus beschloß dennoch, den Kampf gegen Lanzelot einzustellen, der Bischof hatte ihm sagen lassen, daß der König seine Gemahlin wieder zu sich nehmen und sie nicht mehr in den Händen des Ehebrechers lassen solle. Artus war es zufrieden, damit die Feindseligkeiten ein Ende hätten. Ein Unterhändler ritt auf die Freudenburg und überbrachte des Königs Entschluß. „Herrin“, sprach Lanzelot, „kehre zurück zum König. Wir beide werden des Lebens nicht mehr froh. Ich will büßen, was wir gesündigt haben, und es wird mir leichter sein, wenn ich dich in Sicherheit beim König weiß.“ Er hielt ihr den Smaragdring hin, den sie ihm geschenkt hatte. Ach, Ginevra weinte tausend Tränen! Von Lanzelot zu scheiden, dünkte sie immer noch das schwerste Geschick. Aber er drang so lange in sie, bis sie müde nickte. Nun ließ Lanzelot König Artus ausrichten, daß er ihm Ginevra wieder zuführen werde. Er bat ihn, seine Gemahlin auf freiem Felde vor Tintajol zu empfangen, und er führte sie in prächtigern Aufzug zu ihrem Gatten. In Samt und Seide war Ginevra gekleidet, die Zügel ihres Pferdes waren mit Edelsteinen besetzt, ihr Geleit bildeten Bohort und Lionel und die anderen Ritter, die einst der Tafelrunde angehört hatten. So zogen sie dahin, aber allen war das Herz schwer, und Ginevra schien bleich wie der Tod.
Artus empfing seine Gemahlin mit allen Ehren, Lanzelot verneigte sich: „Herr, ich führe Euch die Königin zurück, die ich vor dem Feuertod gerettet habe.“ Schon wollte Artus ihm die Hand reichen, da sprang Gawan dazwischen: „Nein, Herr! Keine Versöhnung mit dem Mörder, mit dem Verräter, dem Ehebrecher!“ Laut forderte er, daß Lanzelot verbannt werde, und wieder gab Artus nach. Mit einem letzten langen Blick auf Ginevra, auf den König und die Freunde, ritt Lanzelot davon. Er zog übers Meer in sein Land Benoic und sorgte dafür, daß Burgen und Städte befestigt wurden, denn er wußte wohl, daß Gawan ihn auch hier verfolgen werde. So kam es auch. Artus sah sich gezwungen, mit seinem Heer über das Wasser zu fahren, um Lanzelot zu bekriegen. Ehe er aufbrach, holte er Mordred zu sich. „Mordred, in dieser Stunde muß ich dir ein Bekenntnis machen. Du bist nicht der Bruder von Gawan, nicht der Sohn von König Lot. Mein Sohn bist du. In jungen Jahren bin ich deiner Mutter begegnet, sie war schön, ein braunes Kind des Südens, und ich habe sie liebgehabt. Aber sie war nicht für einen Königsthron bestimmt, einfacher Leute Kind war sie, auf der Landstraße aufgewachsen, und sie wußte, daß wir uns trennen mußten. Als du geboren warst, hat sie dich zu mir geschickt, und meine Schwester Sangive hat dich aufgenommen. Als Bruder von Gawan, Agrawain und den anderen Kindern König Lots bist du dann zu mir an den Hof gekommen, und ich habe meine Freude an dir gehabt.“ Mordred sprach finster: „Es wäre besser gewesen, Herr, wenn Ihr mir das früher bekannt hättet. So war ich immer fremd unter den anderen, und keiner hat mich gern gesehen.“ „Ich bitte dich um Verzeihung“, sprach Artus, „und zum Zeichen meiner väterlichen Liebe will ich dich hier lassen. Du sollst Ginevra schützen, du sollst über das Land herrschen, und
dein Wort soll gelten, als ob es das meine sei. Und sieh hier: Das sind die Schlüssel zu meinen Schatztruhen. Ich gebe sie dir.“ Stumm verneigte sich Mordred, vergebens erhoffte der König ein freundliches Wort, einen herzlichen Blick – es war zu spät.
König Artus’ Ende
König Artus brach mit seiner ganzen Heeresmacht auf, fuhr übers Meer und belagerte die Burg Trebes – die er vor vielen Jahren zusammen mit Ban von Benoic befreit hatte. Daß er jetzt gegen den Sohn des Freundes kämpfen mußte, bedrückte ihn, und als er in der ersten Schlacht viele seiner besten Männer verlor, wollte er Frieden mit Lanzelot schließen. Aber unerbittlich forderte Gawan, daß der Krieg fortgesetzt werde. „Ach, Gawan“, klagte der König, „du bist die vielen Jahre mein treuester Ritter gewesen, ich mag es dir nicht abschlagen, denn ich will nicht auch dich noch verlieren. Doch müssen darum auch die letzten Männer meiner Tafelrunde ihr Leben lassen?“ Gawan antwortete: „Dann will ich mit Lanzelot kämpfen. Laßt ihn zum Zweikampf laden.“ Als Lanzelot hörte, daß Gawan mit ihm kämpfen wollte, seufzte er. „Nun kommt es doch so, daß ich meinen liebsten Freund töten oder von ihm getötet werden muß. Gott weiß, daß ich lieber gegen jeden anderen streiten möchte!“ Er legte seine Königsherrschaft nieder und übergab Bohort Land und Krone. Dann ritt er auf das Kampffeld, wo ihn Gawan erwartete. Lanzelot stieg vom Pferd und trat zu Gawan: „Freund“, sprach er, „diesen Kampf möchte ich um mein Leben gern vermeiden. Wie kann ich denn gegen dich
kämpfen? Höre, ich will für zehn Jahre außer Landes gehn, ich will wie ein Verbannter mich in der Welt durchschlagen – und dann zu dir zurückkehren. Als Büßer werde ich vor dich treten und dich bitten, meine Freundschaft wieder anzunehmen.“
„Niemals“ erwiderte Gawan finster. „Ich weiß nichts von Freundschaft mit einem Manne, der meine Brüder erschlagen hat. Der Lanzelot von einst lebt nicht mehr.“ Und als er sah, daß Lanzelot zögerte, reizte er ihn mit wilden Worten: „Ich sehe den alten Lanzelot nicht mehr, ein Feigling, ein Verräter steht vor mir. Soll ich dich wie einen Hund erschlagen?“ Da band sich Lanzelot den Helm fester, schwang sich aufs Roß und ritt mit eingelegtem Speer gegen Gawan. Der Kampf entbrannte heiß und unerbittlich. Beide stritten wie in ihren Jugendtagen, noch einmal sah Artus seine besten Ritter kämpfen, voller Mut, Geschicklichkeit und Kraft. Aber ach, er konnte sich daran nicht mehr freuen! Und plötzlich durchdrang Lanzelots Schwert Gawans Harnisch, fuhr ihm in die Seite und schlug ihm eine klaffende Wunde. Gawan stürzte vom Pferd. Entsetzt wandte Lanzelot sein Roß: „König Artus, helft!“ Und ohne sich umzusehen, ritt er vom Kampfplatz. Behutsam hoben die Knappen Gawan auf und brachten ihn in Artus’ Zelt, wo der König Tag und Nacht bei seinem Ritter wachte. Die besten Ärzte bemühten sich, Gawan zu heilen, aber sein Lebenslicht brannte schwächer von Stunde zu Stunde. Und in dieser Not kamen Boten mit schrecklicher Nachricht aus Britannien: „König, Mordred hat Euch verraten! Kaum wart Ihr fort, hat er Ginevra um ihre Liebe bestürmt! Und mit dem Gold aus Euren Schatztruhen hat er die Leute bestochen, Euch die Krone abzusprechen und ihm die Herrschaft zu überlassen. Das Land ist in Aufruhr. Die Königin hat ihre Burg befestigen lassen, denn Mordred will sie mit Gewalt erobern!“ Und neue Boten erreichten Artus: „König, Mordred hat der Königin einen Brief von Euch gegeben. Darin steht, daß Ihr auf den Tod verwundet seid und Mordred Land und Gemahlin anvertraut!“ Artus fuhr auf: „Und die Königin? Glaubt sie dem Verräter?“
„Nein, Herr, sie schickte uns her, Euch um rasche Hilfe zu bitten.“ In aller Eile ließ König Artus sein Heer einschiffen. Der kranke Gawan stöhnte auf seinem Lager: „Herr, das ist das Ende des Artusreichs! Und ich kann Euch nicht mehr helfen. Ich weiß nur eines: Holt Lanzelot zurück, damit er Euch verteidigt! Er wird kommen.“ Aber Lanzelot war fern, und die Boten, die nach ihm suchten, fanden ihn erst, als es zu spät war. Gawan erlebte die Ankunft in Britannien nicht mehr. Im Anblick der Küste tat er seinen letzten Atemzug. Das erste, was Artus nach der Landung unternahm, war, daß er seinen lieben Gawan begraben ließ – neben den Brüdern Gaheriet, Agrawain und Gerret. Dann kam es zu einer mörderischen Schlacht mit Mordred, und als die Sonne sank, standen sich auf dem blutigen Felde Vater und Sohn gegenüber! Im letzten Schein der fahlen Sonne blitzen die Schwerter, ein schreckliches Unwetter zog herauf, Vater und Sohn kreuzten die Waffen im Schein der Blitze, auf dem weiten, öden Leichenfeld. Und der Vater tötete seinen Sohn, und der Sohn verwundete den Vater auf den Tod. Artus stieg vom Pferd und sah sich um wie aus einem Traum erwachend. Keie trat stumm heran und stützte seinen König. „Ich muß zum Meer“, sagte Artus, dann sprach er kein Wort mehr. Langsam gingen die beiden Männer an den Strand. Das Unwetter war vorbei, der Mond erschien zwischen den Wolken. Sie traten ans Ufer, eine leichte Dünung hob und senkte das Wasser. „Nimm mein Schwert Escalibor“, gebot der König, „versenk es im Meer.“ Er zog es aus der Scheide, das Mondlicht spiegelte sich in der blanken Schneide. Noch einmal hob Artus das Schwert, wie er es so oft getan – dann reichte er es Keie. Zögernd nahm der es entgegen, langsam ging er einige Schritte ins Wasser und tauchte das Schwert hinein. Da griff ein Arm aus der Tiefe, packte das Schwert und versank. Keie
wandte sich nach Artus um. Er sah ein Boot still wie einen Schatten herangleiten. Drei Frauengestalten saßen darin. Sie streckten dem König die Arme entgegen, und Keie sah, wie Artus das Boot bestieg. Es glitt mit ihm davon, ohne Ruder, ohne Segel. „Die Feen haben ihn geholt“, flüsterte Keie. „Sie bringen ihn nach der seligen Insel Avalun. Fahr wohl, mein König!“ So endet die Geschichte von König Artus. Es muß noch erzählt werden, daß Lanzelot zurückkam und den Frieden im Lande wiederherstellte. Dann ging er in ein Kloster, wo er das Ende seiner Tage abwartete. Und auch Ginevra hatte Zuflucht bei frommen Schwestern in einer Abtei gefunden. Sie starben zur selben Stunde. Lanzelots Leichnam wurde nach der Freudenburg gebracht und unter der Grabplatte beigesetzt, auf der er einst, in seinen Jugend tagen gelesen hatte: „Hier wird ruhen Lanzelot, der Sohn von König Ban von Benoic und seiner Frau Elaine.“
ENDE