Was als Grund- und Menschenrechte gelten soll, muss von den Berechtigten immer wieder ausge handelt werden. Wie das ges...
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Was als Grund- und Menschenrechte gelten soll, muss von den Berechtigten immer wieder ausge handelt werden. Wie das geschieht und wie spannungsreich dieser Prozess ist, zeigt dieser Band. International sind vor allem die Gerichte von Bedeutung, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Auf der nationalen Ebene geht es um die Zuteilung von Kompetenzen an verfassungsgebende Versammlungen, Parlamente und Gerichte. Deutlich wird, dass trotz aller Vereinheitlichungen in Europa eine große nationale Vielfalt besteht.
Mit Beiträgen von Inge Lorange Backer, Richard Bellamy, Jochen von Bernstorff, Samantha Besson, Armin von Bogdandy, Hauke Brunkhorst, Richard Clayton, Sergio Dellavalle, Klaus Günther, Gret Haller, Jan Helgesen, Regina Kreide, Christoph Möllers, Jarna Petman, Péter Paczolay, Catherine Schneider und Kaarlo Tuori.
ISBN 978-3-593-39283-7
Haller, Günther, Neumann Menschenrechte und Volkssouveränität in Europa
Was als Grund- und Menschenrechte gelten soll, muss von den Berechtigten immer wieder ausgehandelt werden. Wie das geschieht und wie spannungsreich dieser Prozess Menschenrechte und ist, zeigt dieser Band. Volkssouveränität in Europa International sind vor allem die Gerichte von Bedeutung, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Auf der nationalen Gret Haller, Klaus Günther, Ulfried Neumann (Hg.)
Gerichte als Vormund der Demokratie?
Menschenrechte und Volkssouveränität in Europa
Normative Orders Schriften des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen« der Goethe-Universität, Frankfurt am Main Herausgegeben von Rainer Forst und Klaus Günther
Band 2
Gret Haller, Klaus Günther, Ulfrid Neumann (Hg.)
Menschenrechte und Volkssouveränität in Europa Gerichte als Vormund der Demokratie?
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-39283-7 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2011 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Marion Jordan, Frankfurt am Main Druck und Bindung: Beltz Druckpartner, Hemsbach Gedruckt auf Papier aus zertifizierten Rohstoffen (FSC/PEFC). Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Inhalt
Vorwort Ulfrid Neumann ....................................................................
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Einführung Gret Haller .........................................................................
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Grundlagen Von der gubernativen zur deliberativen Menschenrechtspolitik – Die Definition und Fortentwicklung der Menschenrechte als Akt kollektiver Selbstbestimmung Klaus Günther......................................................................
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Das Menschenrecht auf Demokratie – Eine moralische Verteidigung mit einer rechtlichen Nuance Samantha Besson ...................................................................
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Die demokratische Verfassung Richard Bellamy ..................................................................... 103 »Von oben« oder »Von unten«? Der Schutz der Menschenrechte – zwei Interpretationsansätze Sergio Dellavalle ..................................................................... 123 Düstere Aussichten – Die Zukunft der Demokratie in der Weltgesellschaft: Sieben Thesen Hauke Brunkhorst .................................................................. 159
Europarat Menschenrechte zwischen souveränem Willen und internationalen Standards Jarna Petman ........................................................................ 179
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INHALT
Definition und Entwicklung der Menschenrechte im internationalen Kontext und Volkssouveränität Inge Lorange Backer................................................................. 187 Menschenrechte und Volkssouveränität in der Praxis der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (»Venedig-Kommission«) Jan Helgesen ......................................................................... 197
Europäische Union Menschenrechte und Übertragung der Souveränität auf die Europäische Union: Folgen für die Definition und Entwicklung der Menschenrechte Catherine Schneider.................................................................. 203 Kommentar Christoph Möllers ................................................................... 239 Die Europäische Agentur für Grundrechte in der europäischen Menschenrechtsarchitektur und ihre Fortentwicklung durch den Vertrag von Lissabon Armin von Bogdandy/Jochen von Bernstorff ........................................ 242
Die nationale Ebene (Beispiele) Kombination aus theoretischer ex ante- und konkreter ex post-Prüfung: Das finnische Modell Kaarlo Tuori......................................................................... 279 Definitions- und Entwicklungsprozesse der Menschenrechte außerhalb der Volkssouveränität. Ein Kommentar Richard Clayton ..................................................................... 290 Definitions- und Entwicklungsprozesse der Menschenrechte außerhalb der Volkssouveränität: Gerichtliche Prüfung als Ersatz für politische Willensbildung Péter Paczolay ....................................................................... 293 Kommentar Regina Kreide ........................................................................ 302 Autorinnen und Autoren........................................................ 308
Vorwort
Der vorliegende Band enthält die Beiträge zu einer Tagung über »Menschenrechte und Volkssouveränität in Europa«, die am 15. und 16. Mai 2009 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main stattfand. Organisiert wurde diese Tagung vom Fachbereich Rechtswissenschaft und dem an der Goethe-Universität institutionalisierten Exzellenzcluster »Herausbildung normativer Ordnungen« in Kooperation mit dem Center of Excellence »Foundation of European Law and Policy« der Universität Helsinki und der »European Commission for Democracy through Law« des Europarats, der so genannten »Venedig-Kommission«. Im Mittelpunkt der Tagung stand die Frage der primären institutionellen Zuständigkeit für die Definition von Grundrechten und Menschenrechten: Soll die Aufgabe der Ausgestaltung und Ausformulierung von Grund- und Menschenrechten vorrangig den Volksvertretungen (Parlamenten), oder aber den Gerichten zugewiesen werden? Für die Erörterung dieser zentralen Frage erwies sich die Einbeziehung von Wissenschaftlern, die zugleich in justiziellen oder anderen staatlichen Institutionen an maßgeblicher Stelle Verantwortung tragen bzw. getragen haben, als besonders fruchtbar. Denn die Frage kann, wie sich in den Vorträgen und Diskussionen bestätigte, nicht allein anhand rechts- und staatstheoretischer Analysen, sie muss auch auf der Basis einer genauen Kenntnis und realistischen Einschätzung der Institutionen beantwortet werden, um deren vorrangige Zuständigkeit für die Definition von Grund- und Menschenrechte es geht. Aus der Perspektive der Rechts- und Staatstheorie ist diese Frage eng mit dem Problem der Begründung der Menschenrechte verbunden. Strikt und fast unvertretbar vereinfacht: Versteht man Menschenrechte, im Sinne naturrechtlicher Deutungsmuster, als vorgegeben, dann besteht die Aufgabe nicht in der Formulierung, sondern in der Reformulierung dieser Rechte. Es geht um einen kognitiven Akt, für den es keiner »politischen« Legitimation bedarf. Ausreichend ist eine kognitive Kompetenz, die eher
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ULFRID NEUMANN
den für die »Erkenntnis« des Rechts zuständigen Gerichten zuzuerkennen wäre. Werden Menschenrechte dagegen als Ergebnisse einer normativen Verständigung interpretiert, dann sind für ihre Definition primär die Institutionen zuständig, die den politischen Gestaltungswillen und die Gestaltungskompetenz des Volkes repräsentieren, also die Parlamente als die »Vertretungen« dieses Volkes. In dieser Gegenüberstellung sprechen die besseren Argumente prima facie für das zweite Modell. Versteht man die Annahme vorgegebener Menschenrechte in einem ontologischen Sinn, dann ist sie heute erkenntnistheoretisch diskreditiert. Die Berufung auf transzendente Instanzen ist dem »nachmetaphysischen« Denken verwehrt, die in Hinblick auf irdische Machthaber (Fürsten) politisch überholte Vorstellung einer »Gewährung« von Menschenrechten »von oben« also auch in ihrer religiösen Transposition obsolet. Eine Argumentation aus der menschlichen Natur würde – zumindest – dem Verdikt eines fehlerhaften Schlusses von einem Sein auf ein Sollen, eines »naturalistischen Fehlschlusses«, zum Opfer fallen. Und der Versuch, Menschenrechte aus der menschlichen Vernunft abzuleiten, müsste mit dem Einwand rechnen, dass die Vernunft ohne metaphysische Zusatzprämissen nur als operatives Vermögen, nicht aber als Ursprung normativer Konstrukte in Betracht komme. Es sind aber nicht nur erkenntnistheoretische Argumente, die eine Ablehnung des naturrechtlichen Deutungsmusters und die alternative Interpretation der Menschenrechte als Ergebnis einer normativen Verständigung nahelegen. Die Idee vorgegebener Rechte stößt sich tendenziell mit dem Grundsatz, dass die Konstitution der Prinzipien staatlichen Zusammenlebens, und damit auch der fundamentalen Rechte des Einzelnen, der Entscheidung des souveränen Volkes obliegt. Die hier resultierende Spannung soll über die Idee der »Gleichursprünglichkeit von Menschenrechten und Volkssouveränität« (Habermas) abgefedert werden. Mit der Betonung der Volkssouveränität verbindet sich folgerichtig eine Option für die Volksvertretungen und gegen die Gerichte, insbesondere, soweit es um Fragen der Handhabung der Verfassung (und damit auch der Definition der verfassungsrechtlich gewährleisteten Grund- und Menschenrechte) geht. Die Verfassungsgerichtsbarkeit erscheint aus dieser Perspektive als Ausdruck eines Misstrauens gegenüber der Demokratie und als Eingriff in die Kompetenzen des Parlaments als des Repräsentanten des souveränen Volkes.
VORWORT
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Es bleibt allerdings die Frage, ob das Modell einer Konstitution der Menschenrechte durch einen Akt der »politischen« Verständigung (mit den daraus resultierenden institutionellen Konsequenzen) der Denkform universaler Menschenrechte tatsächlich gerecht wird. Denn die »Universalität« von Menschenrechten meint auch und gerade deren Nicht-Verhandelbarkeit. Genauer: Der Modus des Aushandelns ist mit der Idee der universellen Geltung von Menschenrechten nur auf der Basis von Prämissen vereinbar, die sich nicht von selbst verstehen. Vorausgesetzt werden muss, dass jedenfalls in einem zeitlich nicht limitierten Argumentationsprozess sich alle potentiellen Diskussionsteilnehmer, gleich welchem Kulturkreis verhaftet, auf die Anerkennung derselben Menschenrechte verständigen könnten. Das aber erscheint nur dann plausibel, wenn man voraussetzt, dass diese Menschenrechte dem Prozess des Aushandelns vorausliegen. Es geht dann lediglich um die deklaratorische (gemeinsame) Anerkennung, nicht aber um die Konstitution von Menschenrechten. Die Formulierung des deutschen Grundgesetzes, das Volk »bekenne« sich zu »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten« (Art. 1 Abs. 2 GG), bringt diese Vorstellung positiv-rechtlich zum Ausdruck. Nun lässt sich der hier scharf gezeichnete Gegensatz zwischen der Anerkennung als vorgegeben gedachter Menschenrechte einerseits, der Konstitution von Menscherechten im politischen Diskurs andererseits dann entspannen, wenn man auf der Basis eines diskurstheoretischen Modells die Vorstellung des sachlich Richtigen mit der des im Diskurs Konsentierbaren verbindet. Aber dieses Modell kann nicht ohne weiteres auf die Realität von parlamentarischen Entscheidungsabläufen heruntergebrochen werden. Dies vor allem aus zwei Gründen. Zum einen fehlt es derzeit an einer Institution, die das Modell des für Teilnehmer aller Kulturen offenen Diskurses in der politischen Wirklichkeit repräsentieren würde. Von einem Weltparlament sind wir weit entfernt, das Europäische Parlament spielt im Vergleich zu den nationalen Parlamenten (wie auch im Verhältnis zu der europäischen Exekutive) immer noch eine untergeordnete Rolle. Zum andern aber entspräche es kaum einer realistischen Sicht der Dinge, in den – vielfältigen Einflüssen ausgesetzten – Parlamenten eine Verkörperung des Modells einer ergebnisoffen diskutierenden und entscheidenden Beratungsrunde erblicken zu wollen. Das Verhältnis von Argumentation und Entscheidung ist in den Parlamenten typischerweise anders als im Diskurs. Wird die Entscheidung der Parlamentarier tatsächlich von dem Gewicht der in der Debatte vorgetragenen Argumente (und nicht von der Frakti-
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onsdisziplin) bestimmt, spricht man, bezeichnenderweise, von »Sternstunden« des Parlamentarismus. Fasst man anstelle staatstheoretischer Ableitungszusammenhänge die Strukturen und die Funktionsmechanismen der Institutionen ins Auge, die auf der Tagung alternativ für die Aufgabe der Definition der Menschenrechte in Betracht gezogen wurden, so scheint deshalb Einiges dafür zu sprechen, den Gerichten (insbes. den Verfassungsgerichten und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte) hier eine prominente Rolle zuzuerkennen. Dass damit, nach einem alten Diktum, der Rechtsstaat durch den »Richterstaat« abgelöst würde, steht nicht zu befürchten. Die Gerichte bleiben auch bei einer Neudefinition von Grund- und Menschenrechten an die Vorgaben durch Konventionen, Verträge, Verfassungen gebunden. Nimmt man die Praxis des deutschen Bundesverfassungsgerichts als Beispiel, dann ist von den Gerichten im Vergleich zu den Volksvertretungen eine weniger menschenrechtsfreundliche Entscheidungspraxis nicht zu erwarten. Aber dies sind selbstverständlich nur sehr holzschnittartige und höchst vorläufige Bemerkungen zu dem Thema dieses Bandes, das in den folgenden Beiträgen sehr differenziert und von unterschiedlichen Positionen aus entfaltet wird. Die Reihung der Beiträge folgt dabei sachlich-systematischen Kriterien, nicht der Chronologie der Tagung. Eine rasche Orientierung ermöglicht der einführende Beitrag von Gret Haller, der nicht nur eine Zusammenfassung der einzelnen Referate und Kommentare, sondern auch eine systematische Darstellung des Problembereichs enthält und Anstöße für weitere Diskussionen zu dem Thema »Menschenrechte und Volkssouveränität« gibt. Als seinerzeitiger Dekan des gastgebenden Fachbereichs möchte ich allen, die an der Tagung mitgewirkt haben, sehr herzlich danken. Für ihre engagierte Mitarbeit bei der Erstellung diese Bandes danken die Herausgeber Herrn Dr. Milan Kuhli und Herrn Dr. Sascha Ziemann. Frankfurt am Main, im November 2010 Ulfrid Neumann
Einführung Gret Haller
Die im vorliegenden Band publizierten Beiträge zum Verhältnis zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität in Europa erhellen dieses weitgesteckte Thema aus verschiedenen Blickwinkeln. Während die Erörterung der Grundlagen ein anschauliches Bild ergibt, bleibt die Darstellung der konkreten Lösungsansätze notwendigerweise unvollständig. Insbesondere die große europäische Vielfalt in der nationalstaatlichen Institutionalisierung kommt nur ungenügend zum Ausdruck, wenn auch die gewählten Beispiele immerhin eine gewisse Bandbreite aufzeigen. Sie bieten den direktesten Ansatzpunkt für kontroverse Beurteilungen. Die Kontroversen spiegeln sich jedoch mittelbar auch auf der übernationalen Ebene, was sich etwa darin zeigt, dass viele Fragestellungen in verschiedenen Beiträgen angesprochen werden. Nach einer inhaltlichen Übersicht zu den einzelnen Beiträgen werden einige kontroverse Diskussionspunkte zusammengefasst. Dabei werden auch Gedanken eingeflochten, welche in die Diskussion während der Tagung eingebracht worden sind, auf die der vorliegende Band zurückgeht, sowie beitragsübergreifende Fragestellungen. Den Abschluss bildet ein Ausblick zur demokratischen Legitimation der Grund- und Menschenrechte.1
—————— 1 Im Folgenden wird der Begriff »Menschenrechte« für die Garantien aus Deklarationen und Verträgen im Rahmen jener internationalen Organisationen verwendet, deren Grundlage eine vorwiegend völkerrechtliche ist. National garantierte Rechte werden als »Grundrechte« bezeichnet. Dieser Begriff umschreibt – entsprechend der Rechtsprechung des EuGH (Kühling 2003: 586) – auch die durch die Europäische Union garantierten Rechte.
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GRET HALLER
I. Die Beiträge 1. Grundlagen a) Klaus Günther rekonstruiert die Definition und Fortentwicklung der Menschenrechte als Akt kollektiver Selbstbestimmung und zeigt die Entwicklung von einer gubernativen zu einer deliberativen Menschenrechtspolitik auf. Er verlangt, den Sinn dafür aufrechtzuerhalten, dass Menschenrechte nur im Wege einer alle Menschen einschließenden Selbstbestimmung interpretiert und fortentwickelt werden können. An zwei Phänomenen werden diesbezügliche Defizite aufgezeigt: einerseits an der Berufung auf die Menschenrechte zur Legitimation von Interventionen eines Staates oder einer Gruppe von Staaten in einen anderen Staat, andererseits an einem individualisierten Menschenrechtsverständnis, welches darin kulminieren kann, dass die Menschen ihre Rechte gegeneinander so mobilisieren wie Privateigentümer, wenn sie ihre Eigentumsrechte geltend machen. In einem zweiten Abschnitt wird zunächst eine moralische Begründung der Menschenrechte deren Ausgestaltung als eigentliche subjektive Rechte gegenübergestellt. Die erste Variante betont die wechselseitige moralische Verpflichtung zur Achtung des anderen als eines Menschenrechtssubjekts, schafft aber so eine Asymmetrie zwischen dem Verpflichteten und dem Berechtigten. Die zweite Variante vermeidet dies, indem der Berechtigte von seinem Recht auf Selbstbestimmung aktiven Gebrauch macht. Der dritte Abschnitt beschreibt das Verhältnis zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität. Den falschen Gegensätzen zwischen einer liberalistischen Konzeption der Demokratie einerseits und deren Verständnis als homogenes Ethos einer partikularen Gemeinschaft andererseits lasse sich nur entkommen, wenn Menschenrechte als ermöglichende Bedingungen demokratischer Selbstregierung verstanden würden. b) Samantha Besson befasst sich mit der Frage nach einem Menschenrecht auf Demokratie. Befürwortet wird ein moralisches Recht auf Demokratie als internationales Menschenrecht auf demokratische Partizipation. Dabei werden das moralische Recht auf Demokratie vom Rechtsanspruch auf Demokratie unterschieden und die Gründe für die Anerkennung der beiden Rechtsformen beurteilt. Die Frage nach der instrumentellen oder intrinsischen Beziehung zwischen Menschenrechten und Demokratie wird von der Frage nach der Existenz und Rechtfertigung eines Rechts auf Demokratie getrennt, ein überarbeitetes interessenbasiertes Argument für ein
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solches Recht auf demokratische Partizipation entwickelt und alternative Argumente für dieses Recht diskutiert. Sodann wird das Menschenrecht auf demokratische Partizipation anhand verbundener Rechte unterschieden und es wird auf drei Hauptkritikpunkte eingegangen, die gegen dieses Recht angeführt werden. Ein rechtliches Recht auf demokratische Partizipation sollte verabschiedet werden – so die Argumentation des letzten Abschnittes –, dies aber vorzugsweise auf nationaler Ebene. Dies setze voraus, dass die »demoi-kratischen« Begründungen der internationalen Rechtssetzung verstärkt würden und dass der Rechtsanspruch auf Demokratie auf internationaler Ebene als ein gemeinsames Interesse von Staaten und Individuen garantiert werden könnte. Zusammenfassend wird die Existenz eines universellen moralischen Rechtes auf demokratische Partizipation bejaht und ein nationaler Rechtsanspruch auf demokratische Partizipation postuliert. Der internationale Rechtsanspruch auf demokratische Partizipation, der gegenwärtig durch das Völkerrecht garantiert wird, könne nur dann mit demokratischer Legitimität ausgestattet werden, wenn die Rechtsetzung des internationalen Rechts und insbesondere die Rechtsetzung der Menschenrechte sowohl demokratischer als auch kontextsensibler würden. Dies könne nicht allein von einem moralischen Recht auf demokratische Partizipation ausgelöst werden. Denn Demokratie schließe wesentlich mehr ein als nur Menschenrechte. c) Richard Bellamy vergleicht unter dem Titel der »demokratischen Verfassung« den rechtlichen mit dem politischen Konstitutionalismus, wobei er den letzteren befürwortet. Die immer noch bestehende Dominanz des ersteren führt er auf eine Idealisierung der Verfassung der Vereinigten Staaten durch berühmte US-Rechts- und Staatsphilosophen zurück. Der Entwurf und die Begründung der US-Verfassung sei in gewisser Hinsicht vordemokratisch und die Verfassung in einem demokratischen Zeitalter deshalb von zweifelhafter Legitimität. Als wesentlicher Unterschied zwischen dem rechtlichen und dem politischen Konstitutionalismus wird die Haltung zur Frage der Gleichheit und zum Mehrheitsprinzip herausgearbeitet. Der rechtliche Konstitutionalismus gehe davon aus, dass Konsens über die Frage erreicht werden könne, wie die Gesellschaft ausgestaltet werden müsse, damit sie demokratisch sei und alle Bürger mit gleicher Sorgfalt und Achtung behandle; gerichtliche Verfahren seien zur Ermittlung dieses Konsenses besser geeignet als der demokratische Prozess. Der demokratische Konstitutionalismus nehme
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GRET HALLER
demgegenüber einen nicht behebbaren Dissens zur erwähnten Frage an und verlange die Beilegung der diesbezüglichen Meinungsverschiedenheiten im demokratischen Prozess; dieser führe nicht nur zu legitimeren Resultaten, sondern sei auch effektiver als der Prozess vor Gerichten. Die überlegene Legitimität des demokratischen Prozesses wird unter anderem aus dem Grundsatz »eine Person eine Stimme« abgeleitet, welcher im Gerichtsverfahren keine Anwendung finde. Größere Effektivität weise dieser Prozess unter anderem deshalb auf, weil auch den Andersdenkenden Raum gegeben werde, ihre Vorstellung zu artikulieren; die Mehrheit müsse sich mit den Argumenten der Minderheit auseinandersetzen. Im Parlament werde die Minderheit nicht ins Unrecht gesetzt wie die unterlegene Partei vor Gericht, Gewinner wie Verlierer würden in gegenseitigem Respekt ihre Würde bewahren. Anhand eines Vergleichs zwischen Großbritannien und den Vereinigen Staaten zum Entscheid über den Schwangerschaftsabbruch wird erläutert, wie der demokratische Prozess zu einer Aussöhnung der unterlegenen Minderheit mit der schließlich getroffenen Entscheidung beitragen kann. d) Mit zwei Interpretationsansätzen der Menschenrechte »von oben nach unten« und »von unten nach oben« befasst sich Sergio Dellavalle. In einem ersten Abschnitt werden der antike Republikanismus und dessen Mängel skizziert. Erwähnt wird z. B. die Schwierigkeit, die Inhalte der Ansprüche ohne direkte Mitwirkung der eigentlichen Träger dieser Rechte festzulegen, oder die Gefahr, die von nahezu unkontrollierten Instanzen ausgeht, die vorgeben, sich selbst zu »Wächtern« einer vermuteten ethischen Wahrheit zu ernennen, die in die Gesellschaft eingebettet ist. Der zweite Abschnitt zeichnet die Ebnung des Weges für eine Auffassung der Rechte »von unten nach oben« nach, weist aber auf zwei signifikante Probleme in dieser Auffassung der modernen Philosophie hin: erstens auf den ausschließlichen Fokus auf den Schutz der Menschenrechte innerhalb der Grenzen einer einzelnen Nation, was sie auf bloße Bürgerrechte reduziert und damit einer supranationalen Dimension beraubt; zweitens auf die Gefahr, Individualrechte auf die Sphäre einer uneingeschränkten Volkssouveränität zu projizieren, die leicht zu einer Tyrannei werden kann. Die Überwindung dieser Probleme liegt einerseits in einer angemessenen Gewaltenteilung, andererseits in der Forderung nach einer mehrschichtigen Auffassung des öffentlichen Rechts, einschließlich eines kosmopolitischen öffentlichen Rechts, das auf den Prämissen des modernen
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Individualismus basiert. Ausgehend von diesen Vorschlägen Kants, aber über sein paradigmatisches Konzept hinausgehend, schlägt der dritte Abschnitt einen neuen Ansatz im Verständnis der Menschenrechte vor, der auf dem kommunikativen Verständnis der sozialen Interaktion basiert. e) Hauke Brunkhorst formuliert seinen Beitrag zur Demokratie in der Weltgesellschaft in der Form von sieben Thesen. Die erste These lokalisiert das Paradigma demokratischer Rechtsstaatlichkeit bis heute im modernen Nationalstaat, wobei die universalistischen und kosmopolitischen Ansprüche der großen Verfassungsrevolutionen des 18.Jahrhunderts in der Nationalstaatenbildung geopfert worden seien. Das moderne Recht – so die zweite These – verbinde die funktionale Leistungsfähigkeit, die nun dem Staat zugeschrieben werde, mit der normativen Kraft demokratischer Verfassungen. Deshalb werde der Kampf um das Recht nun im Recht geführt, die Revolutionen seien zu legalen Revolutionen geworden. Somit sei die westliche Rechtstradition zugleich repressiv und emanzipatorisch. Dies gelte nur für die europäischen Nationalstaaten, nicht aber für die kolonisierte Welt, welche rechtlos bleibe, wie die dritte These besagt. Diesbezüglich bringe die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die große Wende, indem die Demokratisierung universalisiert und die Menschenrechte in Weltbürgerrechte übergeführt worden seien. Gemäß dieser vierten These seien damit Menschenrechtsverletzungen, Rechtlosigkeit und soziale Ungleichheit auch zu einem Problem der Menschen im Westen geworden, wo immer sie sich auch ereigneten. Die damit beginnende weltweite Konstitutionalisierung stelle aber nicht schon die Lösung des Problems dar, sondern – so die fünfte These – schaffe ein neues Problem undemokratischer Weltherrschaft, wenn sie nur als eine liberale verstanden werde. Nur wenn das Weltrecht einen Rest normativer Kraft bewahre, könne es weltweit auch zur Bekämpfung undemokratischer Herrschaft benützt werden. Diesbezüglich zeichnet die sechste These ein düsteres Bild, da umweltblinde Verselbständigung von Märkten zu ökonomischen und sozialen Systemkrisen, umweltblinde Verselbständigung von Exekutivmacht zu Legitimationskrisen und Verselbständigung religiöser Wertsphären zu Motivationskrisen führe. Eine schwache Hoffnung scheint in der siebten These auf, wonach die Rechtsrevolution des 20. Jahrhunderts zwar erfolgreich gewesen, aber unvollendet geblieben sei. Unabdingbar erscheint ein demokratischer Rechtsformalismus, der alle Gesetzesunterworfenen in die Rechtserzeugung einschließe. Nur demokratisch erzeugtes Recht könne von informeller Herrschaft befreien.
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GRET HALLER
2. Europarat a) Jarna Petman behandelt das Spannungsfeld zwischen souveränem Willen und internationalen Standards. Die Autorin geht davon aus, dass zwischen dem Schutz der Menschenrechte und der Förderung der Volkssouveränität eine inhärente Kompatibilität besteht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) habe aber schon früh feststellen müssen, dass es zwischen der Achtung der Volkssouveränität und der Verteidigung der Rechte eine inhärente Spannung gebe, denn jede Gesellschaft müsse die kollektive Macht zur Achtung der individuellen Unterschiede einschränken. Was am Ende ein Menschenrecht genannt wird, sei das Ergebnis eines kontextuellen Abgleichens unterschiedlicher Prioritäten und alternativer Vorstellungen eines guten Lebens. Rechte sind somit unzweifelhaft ein Produkt einer politischen Gemeinschaft. Die paradoxe Situation bestehe für den EGMR darin, dass er zwar Pluralismus, Toleranz und Offenheit als Kern demokratischer Gesellschaften definiert habe, jedoch bereit sein müsse, diese Werte dem Schutz anderer, wichtigerer »europäischer« Werte unterzuordnen. Dies führe allerdings dazu, die Demokratie lediglich als ein Instrument zu betrachten, um überlegene Werte zu erreichen. Es gebe aber nicht nur eine Auffassung von Demokratie. Bei seiner Entscheidung über unterschiedliche Auffassungen werde der EGMR notwendigerweise zu einem politischen Akteur, der sich auf die Seite einiger Gruppen gegen andere Gruppen und Werte stellen muss. Dabei dürfe der EGMR nicht davon ausgehen, was manche Gruppen – vielleicht sogar die Mehrheit – von einer Gesellschaft und vom guten Leben denken, müsse für alle verbindlich sein. Abschließend wird festgehalten, dass die entscheidende Frage nicht sei, ob im Spannungsfeld zwischen souveränem Willen und internationalen Standards eine Entscheidung getroffen werden müsse, sondern wer befugt sei, diese Entscheidung zu treffen. b) Zur Praxis des EGMR nimmt Inge Lorange Baker Stellung. Durch die Analyse von vier Fällen vor dem EGMR wird dargelegt, warum die Ausweitung der Rechtsprechung eine Bedrohung des europäischen Menschenrechtssystems an sich darstelle, für die Rechtssicherheit in den Mitgliedstaaten sowie gleichermaßen für die nationale Souveränität und die Demokratie. Die aktuelle Praxis des EGMR sei langfristig nicht aufrechtzuerhalten, weder im Hinblick auf die nationale und demokratische Souveränität noch
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im Hinblick auf die Rechtssicherheit, und vor allem nicht im Hinblick auf die eigentliche Funktion des Gerichtshofes als letzte Instanz gegen Verletzungen fundamentaler Menschenrechte. Um die Situation zu verbessern, müsse der Gerichtshof sowohl seinen traditionellen Kanon der Interpretation neu überdenken als auch eine distanziertere Betrachtung auf Beschwerden wegen behaupteter Verstöße anwenden, die nicht den Kern der Konventionsrechte berühren würden. c) Aus der Sicht der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (»Venedig-Kommission«) wird das Spannungsfeld zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität durch Jan Helgesen beleuchtet, der dieses Gremium bis Ende 2009 präsidierte. Verwiesen wird insbesondere auf das Gleichgewicht zwischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung einer lebendigen Demokratie.
3. Europäische Union a) Catherine Schneider befasst sich mit der Kompetenz der Europäischen Union zur Regelung menschenrechtlicher Standards. Ausgehend von der Feststellung, dass es eine Übertragung menschenrechtlicher Souveränität auf die Europäische Union formal nie gegeben habe, wird aufgezeigt, wie die wirtschaftliche und politische Integration dennoch eine Dynamik in der Weiterentwicklung der Grundrechte ausgelöst hat. Dies geschah aber unter dem Titel der »Integration« und nicht unter dem Titel der Übertragung von Souveränität durch die Mitgliedstaaten auf die Union. Im Bereich der Menschenrechte wirft das Völkerrecht die Frage nach der Übereinstimmung oder den Unterschieden zwischen völkerrechtlichen Verträgen und den nationalen Rechtssystemen auf. Die Konstellation der Grundrechtsentwicklung in der Europäischen Union geht über diese Fragestellung hinaus und entwickelt neue Formen der Artikulation, was als »normative Integration« bezeichnet wird. Diese beruht auf der Koexistenz von einem dem Aufbau der Gemeinschaft inhärenten europäischen Menschenrechtsbestand und der Gesamtheit der nationalen Menschenrechtssysteme. Anhand zahlreicher Beispiele wird diese Entwicklung aufgezeigt, wobei auch die Allgegenwart des Kompetenzstreits zwischen den Mitgliedstaaten und der Union thematisiert wird. Eine rein wirtschaftliche Sichtweise der
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Menschenrechte zu Beginn der Europäischen Gemeinschaft ging in eine autonomere Sicht der Menschenrechte über. Durch den Amsterdamer Vertrag wurde die Achtung der Grundrechte zu einem der »Strukturprinzipien des Gemeinschaftssystems« erhoben. Hinsichtlich der GrundrechteCharta nach ihrer Aufnahme ins positive Recht durch das Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags wird betont, dass sie die Rechte in einer zeitgemäßen Form verbriefe, die für eine weiterführende Entwicklung offen sei. Von Interesse sei auch die Fähigkeit der Charta, die Weiterentwicklung der Menschenrechte durch nationale Verfassungspraxis und Gesetzgebung zu beschleunigen. b) In seinem Kommentar zum Beitrag von Catherine Schneider erklärt Christoph Möllers insbesondere, warum die Grundrechte in den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft nicht von Bedeutung sein konnten, und dass sie ihre Entwicklung anfänglich einer Legitimationsstrategie eines expansiven Gerichtes verdanken. Die Grundrechte-Charta hält er vor allem im Zusammenhang mit Grundrechtseingriffen durch europäische Hoheitsakte für bedeutsam. Schließlich weist er auf die institutionalisierte Grundrechtspolitik der Union hin. Dabei stelle sich nicht nur die Frage nach den Kompetenzen, sondern vor allem und mit besonderer Dringlichkeit auch die Frage nach der Legitimation europäischen Handelns überhaupt, wolle man sich nicht dem Vorwurf des Paternalismus aussetzen. c) Schließlich beschreiben Armin von Bogdandy und Jochen von Bernstorff die Europäische Agentur für Grundrechte in der europäischen Menschenrechtsarchitektur und ihre Fortentwicklung durch den Vertrag von Lissabon. Die Autoren zeichnen zunächst die einschlägige Entwicklung in der Union nach. Dann werden die Tätigkeit und Aufgaben der Grundrechteagentur als spezialisierte supranationale Grundrechtsverwaltung dargestellt. Der letzte Teil analysiert die zu erwartende Rolle der Grundrechteagentur im verfassungsrechtlichen Gefüge des unionalen Grundrechtsschutzes. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick.
4. Die nationale Ebene (Beispiele) a) Kaarlo Tuori beschreibt das finnische Modell als eine Kombination aus theoretischer ex ante- und konkreter ex post-Prüfung, welche sich in die nordeuropäische Manifestation eines Neuen Konstitutionalismus einreihe. Finnland kannte vor der Verfassungsrevision des Jahres 2000 ausschließ-
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lich die ex ante-Überprüfung von Gesetzesentwürfen auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch den Parlamentsausschuss für Verfassungsrecht, ein quasirechtliches Organ, dessen Entscheidung durch das Parlament nur in einem besonderen Verfahren durch eine Ausnahmeregelung überstimmt werden kann. Wie in anderen Staaten mit einer starken Tradition der parlamentarischen Gesetzgebungshoheit habe auch in Finnland die Befugnis des EuGH zur Überprüfung von Gesetzen im Lichte des EU-Rechtes dazu beigetragen, eine zusätzliche ex post-Überprüfung einzuführen, dies jedoch nur im konkreten Fall. Dem Ausschuss für Verfassungsrecht komme nach wie vor die zentrale Rolle in der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Gesetzen zu. Die Judikative habe nicht die dominante Rolle angenommen, die am US-amerikanischen und am deutschen Modell kritisiert würden, sondern ihr komme eine rein ergänzende Funktion zu. Nur beim Nachweis eines Konfliktes mit der Verfassung werde die gerichtliche ex post-Überprüfung möglich. Seit der entsprechenden Verfassungsänderung sei in den von der Regierung dem Parlament vorgelegten Gesetzesentwürfen eine Zunahme der Verweise auf verfassungsrechtlich verankerte Grundrechtsbestimmungen zu erkennen. Dies zeige ein erhöhtes Bewusstsein für die Grundrechte in der Rechts- und politischen Kultur. Schließlich wird darauf hingewiesen, dass die finnische und die schwedische Verfassung mit der Einführung des Kriteriums eines nachweislichen Konfliktes die Forderung nach gerichtlicher Zurückhaltung positiviert habe: Zur Vermeidung von Widersprüchen mit der Verfassung hätten klar die interpretatorischen Mittel Vorrang. Dies verbinde das finnische Modell mit den Beispielen des New Commonwealth Model of Constitutionalism, wie z. B. den neuseeländischen Grundrechtskatalog und den britischen Human Rights Act von 1998, die ebenfalls auf dem Vorrang der interpretativen Instrumente gründen würden. b) Richard Clayton geht in seinem Kommentar von der Situation in Großbritannien aus und verteidigt die Weiterentwicklung von Grundrechten durch die Gerichte mit zwei Argumenten. Zum einen könnten gemäß dem Human Rights Act von 1998 die Gerichte im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zwar die Intention des Gesetzgebers entweder durch eine überstrapazierte Auslegung des Gesetzes oder durch eine Inkompatibilitätserklärung aussetzen, das letzte Wort behalte aber immer das Parlament. Zum andern seien politisch Entrechtete durch gerichtliche Entscheidungen über ihre Menschenrechte besser geschützt als
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durch demokratische Entscheidungen zu diesen Rechten, da sie am politischen Prozess ohnehin keinen Anteil hätten. c) Peter Paczolay rechtfertigt die gerichtliche Zuständigkeit zur Definition und Weiterentwicklung von Menschenrechten – wie sie dem ungarischen Verfassungsgericht zusteht – mit Hinweisen auf die US-amerikanische Tradition. Die Legitimität der gerichtlichen Prüfung ergebe sich schon daraus, dass verglichen mit den politischen Meinungsbildungsprozessen und ihren Mehrheitsentscheiden das Gericht eine anti-mehrheitliche Institution darstelle. Deshalb könne ein Gericht in höherem Grade zum Schutz der Menschenrechte beitragen als dieser politische Prozess. Die Menschenrechte müssten »den Wechselfällen der politischen Kontroverse entzogen« werden. Die historische Entwicklung wird in dem Sinne nachgezeichnet, dass die Gewichte kontinuierlich zugunsten der Gerichte verschoben worden seien. Schon bei ihrer Geburt sei die gerichtliche Prüfung in den Vereinigten Staaten als Spannung zwischen höherem Recht und Volkssouveränität verstanden worden: Die Volkssouveränität verkörpere einen Willen, die Grundrechte umgekehrt die Grenzen, die diesem Willen gesetzt würden. Kelsen als Begründer der europäischen Tradition habe die gerichtliche Überprüfung von Gesetzen im Hinblick auf ihre Kompatibilität mit der Verfassung anerkannt, aber nur im Sinne des »negativen Gesetzgebers«. Diese Einschränkung der Rolle von Verfassungsgerichten sei nun jedoch auch in Europa überwunden worden. Der entscheidende Durchbruch zu dieser Entwicklung gehe auf eine Veröffentlichung von Robert A. Dahl im Jahre 1957 zurück, die eine dramatische neue Herangehensweise an die politische Rolle von Richtern eröffnet habe. Es komme zu einer »Quasi-Vormundschaft« des Richters über den demokratischen Prozess, wobei die gerichtliche Prüfung den Volkswillen nicht beschneide, sondern ihn als Vorläufer zukünftiger politischer Entscheidungen ersetze. Die Richter würden anstelle der Politiker entscheiden. Als positive Beispiele werden für die Vereinigten Staaten die Entscheide über die Rassentrennung und den Schwangerschaftsabbruch erwähnt, für Ungarn jene zur Todesstrafe, zum Datenschutz und zu den gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. d) In ihrem Kommentar zum Beitrag von Peter Paczolay geht Regina Kreide auf die Funktion der gerichtlichen Überprüfung aus normativer Sicht ein. Sie stellt die Frage, ob die Ersetzung des Souveräns durch den Richter nicht einem Misstrauen gegenüber der Demokratie gleichkomme. Wenn
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der Richter als Gesetzgeber agiere, könne das zur Korrektur einer in gewissem Maße »defekten« demokratischen Kultur führen. Demgegenüber sei eine Zurückweisung an die Parlamente zu bevorzugen. Wenn der Politik ein menschenrechtlicher »Lernprozess von oben« verordnet werde, könne Demokratie zu einem »bedeutungslosen Hickhack ohne reale Entscheidungskompetenzen« verkommen. Mit Verweis auf Ingeborg Maus und Kant wird schließlich auf den intrinsischen Wert der Volkssouveränität verwiesen.
II. Kontroversen Im Folgenden werden themenspezfisch verschiedene Grundpositionen einander gegenübergestellt. Die verschiedenen Diskussionslinien gruppieren Vertreterinnen und Vertreter solche Positionen nicht unbedingt in identischer Weise. Wenn von der »einen« und der »anderen« Position die Rede ist, kann es sich somit in den verschiedenen Themenkreisen auch um wechselnde Zuordnungen handeln.
1. Positivierung und Anwendung a) Zunächst muss unterschieden werden zwischen der Positivierung der Menschenrechte einerseits, durch welche sie von einem vorrechtlichen Zustand in anwendbares Recht transferiert werden, und andererseits der Anwendung dieses Rechts auf den konkreten Individualfall. Praktisch ist zu differenzieren zwischen zwei Fragen. »Wer legt fest, was die Rechte beinhalten?« ist nicht identisch mit »Wer entscheidet, wann und inwiefern die Rechte verletzt worden sind?« Menschenrechte werden zunächst in Deklarationen oder völkerrechtlichen Verträgen ausformuliert, Grundrechte meistens in Verfassungen. Die nationale Verfassungs- und die Gesetzgebung legen fest, wie weit die Rechte gehen und wo ihre Grenzen liegen. Die Positivierung von Grundrechten obliegt in Demokratien jenen parlamentarischen Körperschaften, die durch das souveräne Volk gewählt worden sind. Vereinzelt sind auch Referenden institutionalisiert worden, in denen die Entscheide der parlamentarischen Körperschaften genehmigt
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werden müssen. Auch Gerichte können befugt sein, in den Positivierungsprozess einzugreifen entweder über die generell-abstrakte oder über die individuell-konkrete Normenkontrolle. Zum einen können Verfassungsgerichte über die Kompetenz zur Aufhebung von Gesetzen verfügen, wenn diese gegen Grund- oder Menschenrechte verstoßen. Noch weitergehend können sie befugt sein, Verfassungsbestimmungen auf ihre Kompatibilität mit besonders hochrangigen Verfassungsbestimmungen zu überprüfen. Zum anderen kann der Richter bei der Anwendung auf den individuellen Fall in der Interpretation der Rechte so weit gehen, dass er – durch Ausweitung oder Einschränkung – selber rechtsgestaltend tätig ist. b) Die Anwendung der in Deklarationen, völkerrechtlichen Verträgen, Verfassungen und Gesetzen verankerten Menschen- und Grundrechte auf den individuellen Einzelfall wird hinsichtlich der institutionellen Zuständigkeit nicht kontrovers beurteilt: Niemand stellt in Frage, dass bei behaupteten Grund- und Menschenrechtsverletzungen der Weg vor eine gerichtlich Instanz offen stehen soll, welche die Rechte für den individuellen Einzelfall interpretiert. Auch völkerrechtlich sind die Staaten verpflichtet, entsprechende Instanzen einzurichten. Kontrovers wird die Diskussion dann, wenn der Richter selber rechtsschöpfend tätig wird. Auf der übernationalen Ebene ist dies weitgehend der Normalfall, da – mit Ausnahme des Europäischen Parlamentes – demokratisch gewählte Institutionen nicht vorhanden sind oder – wie die Parlamentarische Versammlung des Europarates – über keine letztinstanzliche Kompetenz zur Positivierung von Menschenrechten verfügen. Auch auf der nationalen Ebene kann die letztinstanzliche Positivierungskompetenz durch die Ausgestaltung der Gewaltenteilung einer gerichtlichen Instanz zugewiesen worden sein. Gewaltenteilung wird durch die verschiedenen Verfassungstraditionen auch in europäischen Staaten unterschiedlich praktiziert. Je nach historischer Erfahrung kann die Exekutive, die Legislative oder die Judikative als besonders bedrohlich empfunden werden, sodass die Zuweisung von Kompetenzen in einer Weise vorgenommen wird, die solchen Bedrohungsängsten Rechnung trägt.2
—————— 2 Möllers 2008: 20.
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2. Begründung der Rechte a) Ein erster Ausgangspunkt für kontroverse Fragestellungen ergibt sich in der Begründung der Menschenrechte. Die Frage geht dahin, ob der Akt der Positivierung darin bestehe, die bereits vorgegebenen Rechte durch eine gemeinsame Deklaration zu anerkennen, oder ob die Rechte erst durch die Positivierung konstituiert werden. Auch bestehen unterschiedliche Vorstellungen über den Status der Berechtigten. Geht man davon aus, die Rechte seien den Menschen verliehen und von diesen passiv empfangen worden, haben sie lediglich den Status von Adressaten der Rechte. Lokalisiert man die Herkunft der Rechte hingegen in der Selbstbestimmung der Berechtigten, entstehen die Rechte im demokratischen Austarieren. Hier sind die Rechtsträger nicht nur Adressaten, sondern auch Autoren dieser Rechte. Aus der zweitgenannten Sicht leitet sich jene Konzeption der Menschenrechte ab, welche auf der Selbstbestimmung der Berechtigten basiert. Die Rechte sind in dem Sinne strikt horizontal konzipiert, als sie keiner höheren Autorität mehr bedürfen. Die Konzeption wird noch von einer anderen Vorstellung abgegrenzt, welche historisch eine gewisse Bedeutung erlangt hat. Diese geht auch davon aus, dass sich die Menschen ihre Rechte wechselseitig eingeräumt hätten, dies aber nur in einem bestimmten ursprünglichen Zeitpunkt. Anschließend wird die Interpretation einer höheren Autorität überlassen. So treten die Individuen in ein vertikales Verhältnis zu jenen Instanzen, welche ihre Rechte interpretieren. Dadurch geht die strikte Horizontalität verloren. Eine konsequente Konzeption der Menschenrechte, welche ihre Herkunft aus der Selbstbestimmung der Berechtigten ableitet, verlangt deshalb, dass diese »gemeinsam mit allen anderen ihre Freiheiten als Rechte bestimmen und setzen, und zwar dauerhaft und nicht nur einmal« (Günther: 56). Der Selbstbestimmungsprozess wird verstanden als Zusammenspiel der institutionalisierten parlamentarischen Körperschaften mit der politischen Meinungsbildung in den informellen Kreisläufen politischer Kommunikation, welche der institutionellen Entscheidung vorgelagert ist.3 b) Kontrovers wird das Verhältnis zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität beurteilt. Zwei sich gegenseitig ausschließenden Grundpositionen steht eine dritte gegenüber, welche zwischen diesen beiden
—————— 3 Habermas 1992: 334.
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vermittelt. Historisch betrachtet kam die Souveränität ursprünglich dem Herrscher zu, der sie absolut und autokratisch ausüben konnte. In den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts wurde die Souveränität von den Völkern einzelner Nationalstaaten beansprucht und ging auf diese über. Beide Grundpositionen gehen von der Vorstellung aus, dass die Souveränität in ihrer absoluten und autokratischen Form auf das Volk übergegangen sei. Die weniger häufig vertretene Grundposition geht vom Primat der Demokratie über die Menschenrechte aus und nimmt damit in Kauf, dass Menschenrechte durch demokratisch gefällte Entscheidungen eingeschränkt werden. Dies kann insbesondere dazu führen, dass die Menschenrechte von Minderheiten einer populistischen Mehrheitsdemokratie geopfert werden. Dies will die häufiger vertretene Grundposition vermeiden, welche vom Primat der Menschenrechte über die Demokratie ausgeht. Sie weist den Rechten die Aufgabe zu, die Volkssouveränität zu begrenzen, weshalb demokratische Entscheidungen in letzter Konsequenz einer gerichtlichen Prüfung unterworfen werden. Die vermittelnde Position geht weder vom Primat der Demokratie noch von jenem der Menschenrechte aus, sondern sie betrachtet Menschenrechte und Volkssouveränität als gleichursprünglich. Menschenrechte bilden einerseits eine Bedingung dafür, dass der demokratische Prozess der Verfassungsgebung überhaupt stattfinden kann, denn die an diesem Prozess Beteiligten müssen zuvor die freie und gleiche Beteiligung wechselseitig anerkannt haben. Andererseits bildet der demokratische Prozess eine Bedingung für die Genese der Menschenrechte, denn erst in diesem Prozess definieren die Berechtigten gemeinsam, worin die Rechte bestehen und wie weit sie gehen sollen. Von den beiden Grundpositionen unterscheidet sich das Konzept der Gleichursprünglichkeit dadurch, dass es auf eine Souveränität abstellt, die bei ihrem Übergang auf das Volk ihre ursprüngliche absolute Form abgelegt hat. An die Stelle des früheren Absolutheitsanspruches tritt das Erfordernis der demokratischen Deliberation, die allerdings weitgehenden formalen Bedingungen unterliegt.4 Der Schutz von Minderheiten wird durch ein korrektes Verfahren der Verfassungsgebung gesichert, sodass dieser Schutz als der Volkssouveränität inhärent betrachtet werden kann.
—————— 4 Habermas 1992: 349 ff.
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3. Kompetenz zur Positivierung a) Praktisch ergibt sich daraus die Kontroverse zur institutionellen Frage, ob die Positivierung der Menschenrechte letztinstanzlich durch demokratisch gewählte Körperschaften oder durch Gerichte erfolgen soll, wobei zwischen der nationalen und der übernationalen Ebene unterschieden werden muss. National wird in der praktischen Beurteilung vor allem diskutiert, welche Instanz besser in der Lage sei, die Menschenrechte auch von Minderheitsgruppen wirksam zu schützen. Während die eine Seite die demokratische Entscheidung für geeigneter hält, spricht die andere Seite dem politischen Prozess diese Eignung ab, da politisch Entrechtete daran ohnehin keinen Anteil hätten (Clayton: 292) Die unterschiedliche Beurteilung der Zuständigkeiten kann am Beispiel der Entscheidungen über den Schwangerschaftsabbruch verdeutlicht werden. Die Entscheidung Roe v Wade (1973) des US-Supreme Court wird als positives Beispiel dafür genannt, dass als Vorläufer zukünftiger politischer Entscheidungen der Richter anstelle der Politik entschieden und damit die Verteidigung der Menschenrechte ausgeweitet habe (Paczolay: 298). Die selbe Entscheidung wird umgekehrt dem Erlass des Medical Termination of Pregnancy Bill durch das britische House of Commons gegenübergestellt. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die parlamentarische Debatte insbesondere die Gegner dazu veranlasst habe, die respektvolle Anhörung ihrer Meinungen zu anerkennen. Dies habe dazu beigetragen, die unterlegene Minderheit mit der Entscheidung auszusöhnen. Mit der Entscheidung des US-Supreme Court habe eine solche Aussöhnung hingegen nicht erreicht werden können (Bellamy: 119). Eine dritte Position rät davon ab, die Frage des Schwangerschaftsabbruches überhaupt als Beispiel in diese Kontroverse einzubringen, weil sie im Gegensatz zu den meisten Gesetzesmaterien von moralischen und ethischen Erwägungen dominiert sei (Tuori: 282). b) Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem das Beispiel Finnland, weil es eine vermittelnde Position einnimmt, in der verschiedene der oben genannten Elemente kombiniert werden. In der Frage, ob ein Gesetz grund- und menschenrechtskonform sei, differenziert es in zweifacher Hinsicht, zum einen zwischen einer ex ante- und einer ex post-Überprüfung, zum anderen zwischen der generellen Überprüfung und einer solchen im individuellen Einzelfall. Was die generelle Überprüfung von Gesetzen anbelangt, wird die Gesetzgebungshoheit des Parlamentes gewahrt, indem die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dem Parlamentsaus-
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schuss für Verfassungsrecht übertragen wurde, einem quasi-rechtlichen Organ, das seine Beurteilung ex ante abgibt. Ein so ausgestaltetes Überprüfungsverfahren trägt zur Bereicherung des demokratischen Aushandlungsprozesses bei und belässt die Letztverantwortung bei der demokratisch gewählten Körperschaft. Im konkreten Anwendungsfall ist es Finnlands Gerichten hingegen ex post erlaubt, Gesetze nicht zur Anwendung zu bringen, falls diese Anwendung im Konflikt mit der Verfassung stehen würde. Die Anwendung darf allerdings nur versagt werden, wenn es sich um einen nachweislichen Konflikt mit der Verfassung handelt. Dieses Konzept bietet einen aussichtsreichen Ansatzpunkt für viele der hier genannten Kontroversen, jedenfalls was die nationale Ebene anbelangt. Bemerkenswert ist die Lösung deshalb, weil sie die Letztverantwortung für den Erlass generell-abstrakter Normen beim Parlament belässt. Dennoch erlaubt es eine solche Regelung, Grundoder Menschenrechtsverletzung im individuell-konkreten Fall zu vermeiden. c) Unabhängig von der institutionellen Vielfalt, welche die nationale Ebene prägt, hat sich auf der internationalen Ebene durch die Positivierung der Menschenrechte und die Schaffung von Beschwerdemöglichkeiten eine Tradition der Rechtsfortentwicklung durch gerichtliche Instanzen ergeben, denen keine demokratisch gewählten Körperschaften gegenüberstehen, jedenfalls nicht in der national üblichen Form. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates besteht aus Delegationen der nationalen Parlamente und verfügt damit über demokratische Legitimation. In der Ausgestaltung der Menschenrechte kann sie jedoch dem Ministerkomitee nur Vorschläge unterbreiten. Zwar haben die parlamentarischen Europaratsdelegationen die Möglichkeit, in den nationalen Parlamenten auf die Meinungsäußerung ihrer eigenen Regierung im Ministerkomitee Einfluss zu nehmen. Dennoch verbleibt die letztinstanzliche Positivierungskompetenz auf der Ebene der Regierungen. Im Rahmen des Europarates ist es die Aufgabe des EGMR, durch die Auslegung der EMRK im einzelnen Anwendungsfall zu entscheiden, wie weit der souveräne Wille des nationalen Gesetzgebers gehen kann (Petman: 183). Hier setzt eine Kontroverse um die internationale Gerichtsbarkeit an, vor allem hinsichtlich des EGMR. Insbesondere stellt sich die Frage, ob dessen Entscheidungen in der Ausgestaltung der Menschenrechte nicht weiter gehen als jene Standards, welchen die nationalen Parlamente zustimmen würden. Wird die Frage positiv beantwortet, ergibt sich daraus die
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Forderung nach einer zurückhaltenden Rechtsprechung des EGMR (Baker: 196). Internationale Gerichte und Ausschüsse müssten sich als Unterstützer der nationalen Demokratien sehen, als deren Diener, nicht als deren Herren (Helgesen: 199). Auf der Ebene der Europäischen Union bestehen Parallelen zur institutionellen Ausgestaltung des Europarates zunächst in der Tätigkeit des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), welcher in Anlehnung an den EGMR und künftig im Rahmen des Vertrages von Lissabon auch institutionell zur Entwicklung der Grundrechte beiträgt. Aber auch das Europäische Parlament äußert sich zur Ausgestaltung von Grundrechten, insoweit es in grundrechtsrelevanten Bereichen gesetzgebend tätig ist, und an der Erarbeitung der Grundrechte-Charta hat es maßgeblich mitgewirkt. Den Rahmen bildet allerdings ein ausgeprägtes Spannungsverhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, welche die Grundrechte als Teil ihrer Verfassungen betrachten und eine diesbezügliche Einmischung ablehnen (Schneider: 217). Indessen kann das Fehlen einer generellen Zuständigkeit der Union, auf dem Gebiet der Grundrechte tätig zu werden, nicht mit dem Ausschluss jeglicher Zuständigkeit gleichgesetzt werden (Schneider: 210). Schließlich unterscheidet sich die Union auch insofern von einer internationalen Organisation wie dem Europarat, als sie selbst öffentliche Gewalt ausübt und daher einer begleitenden Menschenrechtspolitik bedarf (v. Bogdandy/v. Bernstorff: 267).
4. Ebenenübergreifende Aspekte a) Weitere Fragestellungen ergeben sich bei einer gemeinsamen Betrachtung der Institutionen auf nationaler und übernationaler Ebene. Die Vorstellung vom Primat der Demokratie gegenüber den Menschenrechten auf nationaler Ebene steht einer internationalen gerichtlichen Überprüfung nationaler Erlasse kritisch gegenüber. Geht man umgekehrt vom Primat der Menschenrechte gegenüber der Demokratie aus und befürwortet dementsprechend die gerichtliche Überprüfung menschenrechtsrelevanter Entscheidungen parlamentarischer Körperschaften auf der nationalen Ebene, erscheint die Einbettung in eine internationale gerichtliche Überprüfung als konsistent. Das Fehlen demokratischer Institutionen auf der internationalen Ebene wird nicht als Mangel empfunden, jedenfalls was den Bereich der Menschenrechte anbelangt. Die durch europäische Gerichte weit ent-
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wickelte Überprüfung dieser Rechte im einzelnen Beschwerdefall, welche auch die Funktion der generellen Fortentwicklung und damit der Positivierung übernehmen kann, strahlt bei dieser Betrachtungsweise auch auf die nationale Ebene zurück, weil angesichts der Vorrangstellung der gerichtsförmigen Verfahren im internationalen Bereich auch eine nationale gerichtliche Überprüfung von Entscheiden demokratisch gewählter Körperschaften als begründet erscheint. Die offensichtlich diametral unterschiedliche Wertung durch die beiden Grundpositionen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine internationale Positivierung der Menschenrechte ohne demokratischen Verfassungs- oder Gesetzgeber auch der vermittelnden Position der Gleichursprünglichkeit als problematisch erscheinen muss. Gleichursprünglichkeit von Menschenrechten und Volkssouveränität ist im Rahmen jener internationalen Organisationen offensichtlich nicht umsetzbar, deren Grundlagen rein völkerrechtlicher Natur sind. Sie sind auf die Positivierung der Rechte im Prozess diplomatischer Verhandlung angewiesen. Die Ratifikation der ausgehandelten Verträge durch den »heimischen« demos5 begründet zwar deren formale Geltung, kann aber den fehlenden demokratischen Deliberationsprozess über Inhalt und Ausgestaltung der Rechte nicht ersetzen. Die Diskussion über die Möglichkeiten der Demokratisierung transnationaler Verrechtlichung greift diese Problematik auf und thematisiert sie über den Begriff der weltweiten Konstitutionalisierung. Im Zusammenhang mit den Menschenrechten besteht jedoch auch eine weltweite Perspektive undemokratischer Konstitutionalisierung, die als problematisch erscheint. Eine mögliche, wenn auch bescheidene Alternative wird in der langsamen Weiterentwicklung der zwar erfolgreichen, aber unvollendet gebliebenen Rechtsrevolution des 20. Jahrhunderts gesehen, dem »Kampf ums Recht im Recht«. Verfassungsmäßig garantierte Rechte, welche zuvor nur privilegierten Gruppen zugestanden worden sind, können in diesem Kampf durch bisher Exkludierte beansprucht werden, Sklaven, Frauen, die indigene Bevölkerung oder die Völker vormals kolonisierter Länder (Brunkhorst: 163). Bedingung für Erfolge in diesem Kampf ist allerdings, dass das Recht über normative Kraft verfügt (ebd.: 168).
—————— 5 Niesen 2009: 248 f. mit Bezug auf Habermas 1992: 235 f.
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b) Indessen beschränkt sich die ebenenübergreifende Betrachtung nicht auf institutionelle Aspekte, sondern führt wiederum auf die Begründung der Rechte zurück. Kontrovers wird beurteilt, wie die Universalität dieser Rechte gewährleistet werden kann. Leitet sich die universale Geltung aus dem Umstand ab, dass die Rechte vorgegeben und somit letztlich unverhandelbar sind, ergibt sich eine Stärkung des Primates der Menschenrechte über die Demokratie mit den bereits erwähnten Konsequenzen für die institutionelle Kompetenzzuweisung auch auf nationaler Ebene. Ein anderer Ansatz postuliert eine Stärkung des bis heute noch wenig ausgeprägten Bewusstseins des Individuums hinsichtlich der doppelten Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft auf nationaler Ebene sowie zu einer globalen Gemeinschaft aller Menschen auf Grund ihrer zentralen Bedeutung in einer stetig stärker zusammenwachsenden Welt (Dellavalle: 150). Folgt man dieser Position, so werden beim Aushandeln von Grundrechten auf der nationalen Ebene implizit – oder allenfalls sogar explizit – immer auch die Menschenrechte mitdiskutiert. Damit erhalten die deliberativen Prozesse auf nationaler Ebene eine weitere Funktion, indem sie indirekt auch zur Stärkung der demokratischen Legitimation universal gültiger Menschenrechte beitragen. Aus der ebenenübergreifenden Betrachtung leiten somit beide begründungsbedingten Positionen Argumente ab, die für ihre Sicht der institutionellen Kompetenzzuweisung auf nationaler Ebene sprechen: Die erste Position befürwortet national ein Primat der Justiz zulasten demokratisch gewählter Körperschaften, womit sich die nationale Konstellation tendenziell an die internationalen Gegebenheiten angleicht. Die zweite Position leitet aus der ebenenübergreifenden Betrachtung die Notwendigkeit ab, den deliberativen Prozess auf nationaler Ebene zu stärken, weil er nur hier in eine Letztentscheidung demokratischer Körperschaften einmünden kann. In diesen Zusammenhang muss auch die Auseinandersetzung mit der Frage nach der rechtlichen Institutionalisierung eines Menschenrechtes auf Demokratie gestellt werden, welches zurzeit nur für die nationale Ebene als sonnvoll erscheint (Besson: 92 f).
5. Politische Öffentlichkeit und Individualisierung a) An dieser Stelle gelangt die Frage nach der Bedeutung politischer Öffentlichkeit auf nationaler Ebene ins Blickfeld, welche nochmals in einem
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anderen Kontext auf die eingangs erwähnte Kontroverse zur Begründung der Rechte zurückführt. Für jene Konzeption der Menschenrechte, welche deren Universalität letztlich dadurch abgesichert sieht, dass sie immerhin teilweise vorgegeben und insoweit unverhandelbar sind, spielt die politische Öffentlichkeit eine geringere Rolle als für die Konzeption, welche die Genese der Rechte aus der Selbstbestimmung der Berechtigten herleitet. Die Bedeutung politischer Öffentlichkeit hat zudem eine normative Komponente. Ausgestaltung staatlicher Institutionen und Kompetenzzuweisung im Rahmen der Gewaltenteilung erfolgen nicht nur als praktische Regelungen zur Lösung konkreter gesellschaftlicher Anforderungen, sondern es kommt in ihnen auch eine normative Vorstellung zum Ausdruck. Befürworter des demokratischen Aushandlungsprozesses weisen deshalb auf den öffentlichen Lernprozess hin, der dadurch ausgelöst wird. Fehlt dieser, nimmt auch die Verantwortung der Politik und der einzelnen Bürgerinnen und Bürger für den Gehalt der Menschenrechte ab. Gerichtsentscheide könnten aber nach dieser Auffassung den Lernprozess nicht ersetzen (Kreide: 306). Die diesbezügliche Kontroverse ist eine grundsätzliche, und sie bildet letztlich die Basis für einige der bereits genannten Kontroversen. Diese Basis ist mehr emotionaler und weniger rechtlicher Natur. Es geht um eine unterschiedliche Wertung der Gefahren, welchen die Grund- und Menschenrechte oder noch umfassender betrachtet die Kultur der Menschenrechte ausgesetzt sind. Die eine Konzeption sieht die schwerste Gefährdung der Rechte in der möglichen Verletzung im individuellen und konkreten Fall. Die andere Konzeption befürchtet am meisten eine Schwächung der Rechte durch das Wegbrechen des gesellschaftlichen Konsenses über Sinn und Ausgestaltung von Grund- und Menschenrechten. Die erstgenannte Konzeption tendiert dazu, der Sicherung der Ausübung von Menschenrechten im individuellen und konkreten Fall – geschützt durch eine letztinstanzliche Positivierungshoheit der Gerichte – einen so großen Vorrang einzuräumen, dass der Weg als nebensächlich erscheint, auf welchem die Positivierung erfolgt. Die andere Konzeption erachtet hingegen die Sicherung der Rechtsausübung im individuellen und konkreten Fall als gefährdet, wenn nicht zuvor der Weg des demokratischen Aushandlungsprozesses abgeschritten worden ist, der in die letztinstanzliche Positivierung durch demokratische Köperschaften mündet. Die zweitgenannte Konzeption lokalisiert die grundlegende Voraussetzung dieser Sicherung im gesellschaftlichen Konsens über die Ausgestaltung der Menschenrechte.
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Sie hält dafür, dass ein auch schon teilweises Wegbrechen dieses Konsenses durch Gerichtsurteile – also durch den Schutz der Rechte im individuellen und konkreten Fall – nicht kompensiert werden könne. b) Eine weitere Fragestellung ergibt sich unter dem Stichwort der Individualisierung. Darunter wird eine Entwicklung verstanden, in welcher Grund- und Menschenrechte nur noch in dem Maße als legitim erscheinen, insoweit die Menschen damit ihre individuelle Lage verbessern können. Dies kann dazu führen, dass Grundrechtsträger ihre Menschenrechte gegeneinander so mobilisieren wie Privateigentümer ihre Eigentumsrechte (Günther: 50). Diese Situation ist typisch für mehrpolige Grundrechtskonflikte, in denen sich nicht nur der Staat und ein Individuum gegenüberstehen, sondern die Rechte mehrerer Grundrechtsträger. Wenn Grund- und Menschenrechte durch die Berechtigten in demokratischen Prozessen ausgehandelt werden, geht es zunächst um den Inhalt der Rechte. Anforderungsreicher sind anschließend deren Ausgestaltung und insbesondere die Festlegung ihrer Grenzen. Erst dadurch werden die Rechte des einen kompatibel mit den Rechten des andern oder aller anderen.6 In einer Konzeption vorgegebener oder immerhin teilweise vorgegebener Rechte, welche im Prozess der Aushandlung weitgehend lediglich noch anerkannt werden, kann diese Individualisierung als konsistent erscheinen. Den Befürwortern jener Konzeption der Menschenrechte, die deren Genese im Aushandlungsprozess durch die Berechtigten lokalisiert, muss die Individualisierung hingegen als problematisch erscheinen. Stehen sich nämlich in einem gerichtlichen Verfahren gegenseitig konkurrierende Ansprüche verschiedener Personen gegenüber, welche einerseits aus Grundund Menschenrechten abgeleitet werden, sich andererseits aber wechselseitig ausschließen, wird die Aushandlung der Grenzen von Rechten dem demokratischen Prozess entzogen.7 c) Auch hier geht es um die öffentliche Wahrnehmung, deren Entwicklungen dazu führen kann, dass die Individualisierung zu einem sich selbst verstärkenden Programm wird, indem sich zwei komplementäre Phänomene gegenseitig fördern. Einerseits ist es eine Abwertung der Verfahren zur demokratischen Aushandlung von Grund- und Menschenrechten, verbunden mit einer gleichzeitig zunehmenden Unpopularität der dafür zuständigen politischen Institutionen. Andererseits ist es eine Aufwertung und zunehmende Popularität gerichtlicher Verfahren zur individuellen Ein-
—————— 6 Haller 2010: 129. 7 Möllers 2008: 143 ff.
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forderung und Durchsetzung der Rechte im Einzelfall. Im selben Ausmaß, wie den politischen Institutionen die Wertschätzung entzogen wird, nimmt die Verehrung höchstrichterlicher Instanzen zu.8 In der Kombination dieser beiden Elemente kann in der öffentlichen Wahrnehmung der Eindruck entstehen, Menschenrechte würden den Berechtigten »vom Richter verliehen«. Damit werden in einem zentralen Punkt Herleitung und Begründung der Rechte in Frage gestellt. Die Tragweite der Fragestellung um Öffentlichkeit und Individualisierung zeigt sich wiederum besonders deutlich in der Betrachtung über die Ebenen hinweg. Da in jenen internationalen Organisationen, deren Grundlagen weitgehend völkerrechtlicher Natur sind, ein deliberativer Aushandlungs- und Entscheidungsprozess in demokratisch gewählten Körperschaften nicht möglich ist, konzentrieren sich auch die diesbezüglichen Erwartungen einerseits auf nationale Aushandlungsprozesse und andererseits auf eine weltweite zivilgesellschaftliche Deliberation (Dellavalle: 149 f). Für die letztere wird allerdings angemerkt, dass sie nicht ohne weiteres als Schritt zur Demokratisierung der Weltöffentlichkeit verstanden werden kann.9
III. Die demokratische Legitimation der Grund- und Menschenrechte – ein Ausblick »In die Zwillingsexistenz von Menschenrechten und Nationalstaat sind Paradoxien eingelassen, die von Evolutionsparabeln zur Menschenrechtsidee wie auch von den Souveränitätslehren verschwiegen werden.«10 Dieser Satz wurde vor dem Ende des Kalten Krieges geschrieben. Seither hat sich nichts daran geändert, dass die Paradoxien verschwiegen werden.11 Dabei geht es letztlich um die demokratische Legitimation von Grund- und Menschenrechten. Es dürfte sich lohnen, diesen Begriff genauer zu analysieren, weil er auch historisch eingeordnet werden kann. 1. Die erstmalige Ausstattung der Menschenrechte mit demokratischer Legitimation geschah im ausgehenden 18. Jahrhundert, als die universal
—————— 8 9 10 11
Maus 1999: 280. Niesen 2008: 241. Frankenberg 1988: 82. Möllers 2008: 209.
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verstandenen Rechte im Rahmen der Nationalstaatenbildung positiviert wurden. Die Positivierung der Rechte war damals nur auf der Ebene der Nationalstaaten möglich, was aber die Preisgabe ihrer Universalität erforderte. Eine Ausnahme bildet die französische Erklärung der Menschenund Bürgerrechte von 1789, welche immerhin versuchte, die Universalität trotz der Positivierung auf nationaler Ebene beizubehalten. In der Praxis wurden aber auch in Frankreich die universalen Menschenrechte zu national konnotierten Bürgerrechten. Demokratische Legitimation war letztlich nur auf Kosten der Universalität zu erreichen. Durch die Positivierung der Rechte im Rahmen der UNO und des Europarates wurde dieser Preis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts teilweise wieder zurückerstattet. Den Bürgerrechten wurden nicht nur universal gültige, sondern auch universal positivierte Menschenrechte zur Seite gestellt, dies nun aber wiederum unter immerhin teilweiser Preisgabe der demokratischen Legitimation. Letztere konnte auf der Ebene des Völkerrechtes mangels entscheidungsbefugter demokratisch gewählter Institutionen nicht angestrebt werden.12 Universalität war letztlich nur auf Kosten der demokratischen Legitimation zu erreichen. Das Spannungsverhältnis zwischen Universalität und demokratischer Legitimation hat die Grund- und Menschenrechte seit ihrer ersten Positivierung geprägt und steckt auch heute einen Rahmen ab, in welchem sich die einzelnen Nationalstaaten positionieren. Dabei spielt für jeden Staat der historische Kontext eine große Rolle. Insbesondere Einbrüche in die Grundrechte und die daraus gezogenen Lehren sind für die jeweilige Ausgestaltung auf nationaler Ebene entscheidend.13 Darüber hinaus folgen die Staaten auch verschiedenen rechts- und staatsphilosophischen Konzeptionen. Die historisch bedingten Prägungen haben zur Folge, dass die Staaten der demokratischen Legitimation nicht nur von Grund-, sondern auch von Menschenrechten unterschiedliche Bedeutung beimessen. 2. Die historisch gewachsene Paradoxie zwischen der Universalität von Menschenrechten einerseits und der Volkssouveränität andererseits sollte nicht länger verschwiegen werden, insbesondere nicht in Europa, wo nationaler, internationaler und supranationaler Menschenrechtsschutz so eng ineinandergreifen, dass sogar von einem »Verfassungsgerichtsverbund«
—————— 12 Ley 2009a: 339. 13 Möllers 2008: 20.
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gesprochen wird.14 Auf diesem Kontinent hat sich der übernationale gerichtsförmige Schutz von Menschenrechten am weitesten entwickelt. Das Anheben dieses Schutzes auf die übernationale Ebene war aber nur um den Preis der demokratischen Legitimation der Rechte zu erreichen. Die »Vergerichtlichung« konnte nicht verbunden werden mit der gleichzeitigen Schaffung von demokratischer Legitimation der Rechte auf dieser Ebene. Dadurch wurde die Individualisierung gefördert, die sich auf der nationalen Ebene in einem Spannungsfeld befindet zur demokratischen Legitimation, denn es besteht die Gefahr, dass das individuelle »Einklagen« in der öffentlichen Wahrnehmung das demokratische »Aushandeln« weitgehend verdrängt. Zieht man zusätzlich die Zeitachse in Betracht, so könnte man auch sagen, in Europa sei die »Vergerichtlichung« der demokratischen Legitimation vorausgeeilt. Auf der Ebene der Nationalstaaten war die Verfassungsgebung der Einrichtung von gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten immer vorausgegangen. Durch die Verfassungsgebung waren die Grundrechte bereits demokratisch legitimiert, wenn die Möglichkeit zu ihrer Einklagbarkeit eröffnet wurde, wobei dies vor allem in jüngeren Demokratien durchaus gleichzeitig geschehen konnte. International wurden Beschwerdemöglichkeiten ohne Verfassungsgebung geschaffen. Geht man von dem Bild aus, wonach die »Vergerichtlichung« der demokratischen Legitimation vorausgeeilt sei, ergibt sich daraus, dass die europäische Menschenrechtskultur normativ das Nachziehen der demokratischen Legitimation erwartet. Es gilt deshalb sorgfältig abzuwägen, welche Organisation einen diesbezüglichen Beitrag leisten kann. 3. Dem Europarat als einziger paneuropäischer Organisation kommt das große Verdienst zu, den gerichtsförmigen internationalen Schutz der Menschenrechte erfunden zu haben, ihn immer weiter auszubauen und für die Bewohnern seiner 47 Mitgliedstaaten zur Verfügung zu halten. Der Schutzmechanismus der EMRK ist aus der europäischen Rechtskultur nicht mehr wegzudenken. Er war eine revolutionäre Schöpfung15 und hat eine weltweite Ausstrahlung, indem er anderen Regionen als Vorbild dient. Weil dieser Mechanismus so erfolgreich ist, trägt er aber auch das seine zum Phänomen der Individualisierung bei. Dabei handelt es sich um die »unbeabsichtigte Nebenfolge der Einrichtung von internationalen Be-
—————— 14 Voßkuhle 2010: 1. 15 Voßkuhle 2010: 2.
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schwerdemöglichkeiten in gerichtsförmigen Verfahren« (Günther: 49), in denen Menschenrechte zu Anwendung kommen, deren Positivierung lediglich im Prozess diplomatischer Aushandlung erfolgen konnte. Europa – und damit ist das paneuropäische Europa der Mitgliedstaaten des Europarates gemeint – braucht den Schutzmechanismus der EMRK und es ist auf ein Anwachsen seiner Wirksamkeit zu hoffen. Mit dieser Hoffnung untrennbar verbunden ist die gleichsam »schonungslose« Erkenntnis, dass dieses Anwachsen die Individualisierung fördert und damit zur Verschärfung des erwähnten Widerspruchs beiträgt. Dennoch ist der Schutzmechanismus zu stärken und auszubauen. Die EMRK und deren Schutzmechanismus sind für Europa von so zentraler Bedeutung, dass die durch diesen geförderte Individualisierung in Kauf genommen werden muss. Um so wichtiger ist es aber unter diesen Umständen, sich auch mit der Frage zu beschäftigen, wie gleichsam als Gegengewicht dazu die demokratische Legitimation der Rechte auch auf europäischer Ebene gefördert werden kann. 4. Eine Stärkung der demokratischen Legitimation der Menschenrechte ist im Rahmen des Europarates nicht zu erreichen. Das hat sich bereits 1951 entschieden, als der erste Präsident der Parlamentarischen Versammlung – damals »Beratende Versammlung« –, der frühere belgische Außenminister Paul-Henri Spaak sein Amt enttäuscht niederlegte, weil die Regierungen einen Ausbau der Kompetenzen dieser Versammlung verweigerten.16 In der Folge wandte sich Spaak dem Aufbau der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu. Rückblickend wird deutlich, dass sich damals das erste Samenkorn für die Perspektive einer regionalen Überwindung des Widerspruchs zwischen übernationaler Geltung der Menschenrechte einerseits und deren demokratischer Legitimation andererseits vom Europarat in die Vorgängerorganisation der Europäischen Union verschoben hat. Es sollte aber noch Jahrzehnte dauern, bis sich diese Perspektive in den Strukturen der Union konkret abzeichnete. Auch hier wurde darauf hingewiesen, dass ein Fortschritt in der Grundrechtskultur nicht möglich sei, wenn nicht gleichzeitig die demokratischen Entscheidungsmechanismen institutionell ausgebaut würden.17 Heute stehen dem EuGH eigentliche gesetzgebende Organe gegenüber, und insbesondere das Europäische Parlament verfügt durch die Direktwahl über eine klare demokratische
—————— 16 Brunn 2009: 64 f. 17 Denninger 2000: 151.
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Legitimation. Damit sind immerhin institutionell die Voraussetzungen zur Diskussion der Frage gegeben, ob die letztinstanzliche Positivierung der Grundrechte durch gerichtliche oder demokratisch gewählte Instanzen erfolgen soll. Das Phänomen der Mehrebenenzugehörigkeit der Berechtigten hinsichtlich Bürger- und Menschenrechten ist bereits im Zusammenhang mit der universalen Rechtsentwicklung erwähnt worden. Eine solche auf mehrere Ebenen ausgerichtete Identität greift in den Mitgliedstaaten der Union ungleich stärker und konkreter mit Bezug auf die Union als mit Bezug auf die weltweiten Institutionen.18 Selbst wenn dies den einzelnen EU-Bürgerinnen und Bürgern als abstraktes Phänomen nicht bewusst ist, erleben sie in konkreten Situationen immer wieder, dass sie auch durch die Union gewährleistete Rechte ausüben. 5. Die zentrale Argumentation für die hier diskutierte Perspektive liegt jedoch im normativen Aspekt. Im Gegensatz zu internationalen Organisationen, die ausschließlich oder vorwiegend auf Völkerrecht basieren, ist der Union eine normative Tendenz zur Demokratisierung inhärent.19 Der Grund dafür liegt vor allem im bereits erwähnten Umstand, dass die Union öffentliche Gewalt ausübt, somit hoheitlich tätig ist, und dies in einem Ausmaß, welches für andere Organisationen im übernationalen Bereich heute nicht denkbar wäre. In Demokratien bedürfen hoheitliche Akte einer demokratischen Legitimation. Wenn dieser Grundsatz einmal anerkannt ist, können Kompetenzen zu hoheitlichem Handeln nicht aus dem Nationalstaat ausgelagert werden, ohne dass sich die normative Forderung nach demokratischer Legitimation an deren Fersen heftet und nicht mehr abgeschüttelt werden kann. Deshalb ist es undenkbar, den erreichten Stand an demokratischer Legitimation in der Union wieder einzuschränken. Je umfangreicher die Bereiche werden, in denen die Union auch hoheitlich tätig wird, desto stärker wird die Forderung, entsprechende Aktivitäten zunächst in demokratischer Diskussion zu begleiten, zu evaluieren und schließlich auch mitzubestimmen.20 Die Zuständigkeit des Europäischen Parlamentes wurde in verschiedenen Etappen beharrlich ausgeweitet. Dieser Trend wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Demselben Mechanismus folgend bahnen sich aber auch die zunächst national ausformu-
—————— 18 Ley 2009b: 110. 19 Ley 2009a: 342 ff. 20 Rittberger 2009: 155.
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lierten Grundrechte ihren Weg in die Union, selbst wenn die Mitgliedstaaten darauf beharren, dass dieser Bereich in ihre alleinigen Zuständigkeit gehört. Hoheitliche Tätigkeit verlangt nach grundrechtlichem Schutz des Individuums gegen daraus resultierende Übergriffe.21 Ist dieser Grundsatz auf der nationalen Ebene einmal anerkannt, kann hoheitliche Tätigkeit nicht aus dem Nationalstaat ausgelagert werden, ohne dass sich die normative Forderung nach Grundrechtsgarantien an deren Fersen heftet und nicht mehr abgeschüttelt werden kann. Wenn sich dem auf die Union verschobenen hoheitlichen Handeln sowohl die normative Forderung nach demokratischer Legitimation als auch jene nach der Ausformulierung von Grundrechtsgarantien an die Fersen heften, dann ist es – aus normativer Sicht – nur eine Frage der Zeit, bis das Europäische Parlament vermehrte Kompetenzen zur Positivierung von Grundrechten erhalten wird. Jede Wahrnehmung hoheitlicher Kompetenzen durch die Union fördert diese Entwicklung. Hinzu kommt, dass die Grundrechte-Charta, die durch den Vertrag von Lissabon zu positivem Recht geworden ist, für weiterführende Entwicklungen durchaus offensteht (Schneider: 234). 6. Die demokratische Legitimation von Grund- und Menschenrechten kann aber auch selbst zum Diskussionsgegenstand gemacht werden. Im Zusammenhang mit der Genese der Rechte ist nämlich zu differenzieren zwischen den konkreten Positivierungsprozessen einerseits und der Diskussion über die Frage nach dem Stellenwert der demokratischen Legitimation in diesen Prozessen andererseits. Die formelle Frage, welche Instanzen in welcher Phase des Prozesses zur Festlegung der Inhalte beteiligt sind, muss getrennt werden von der Frage nach den Inhalten, welche der Prozess hervorbringt. Alle Beiträge in diesem Band beschränken sich auf die erstgenannte Frage. Sie klammern die Inhalte – also die zu positivierenden Grund- und Menschenrechte selber – aus und ziehen diese nur im Sinne von Beispielen in Betracht. Mit anderen Worten abstrahiert die Diskussion über die demokratische Legitimation von Grund- und Menschenrechten von den konkreten Resultaten der verschiedenen Positivierungsprozesse. Für die Beantwortung der Frage, ob die Union über eine Kompetenz zur Thematisierung der demokratischen Legitimation von Grund- und
—————— 21 Hufeld 2009: 16.
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Menschenrechten verfüge, spielt deshalb der erwähnte Konflikt zwischen der Union und den Mitgliedstaaten betreffend die inhaltliche Kompetenz zur Grundrechtspositivierung keine Rolle. Die Union kann sich mit generellen Verfassungsfragen befassen, welche auch die demokratische Legitimation von Grund- und Menschenrechten beinhalten. Auch die Grundrechteagentur kann mit diesbezüglichen Studien beauftragt werden. Solche Studien müssen sich nicht auf die supra- oder internationale Ebene beschränken, sondern sie können auch die Situation in den Mitgliedstaaten berücksichtigen. Entsprechende Erkenntnisse kann die Agentur in ihre Netzwerke einbringen und damit auch in den Mitgliedstaaten eine Diskussion über die demokratische Legitimation von Grundrechten fördern oder allenfalls initiieren, dies im Rahmen einer Kommunikationsstrategie, um die Öffentlichkeit für Grundrechtsfragen zu sensibilisieren (v. Bogdandy/v. Bernstorff: 258). Von Bedeutung ist eine solche Sensibilisierung auch insofern, als in der Frage nach der demokratischen Legitimation von Grund- und Menschenrechten die verschiedenen Ebenen stark ineinander verflochten sind, wie der bereits mehrfach erwähnte Mehrebenenbezug deutlich macht. 7. Damit ist nochmals die institutionelle Zuständigkeitsfrage in den Mitgliedstaaten der Union angesprochen. Auf nationaler Ebene besteht ein offener Gestaltungsfreiraum für die Zuweisung der Kompetenz zur Positivierung von Grundrechten. In einigen Mitgliedstaaten haben die Befugnisse des EuGH zur Überprüfung von Gesetzen im Licht des EU-Rechts die verfassungsgerichtliche Überprüfung befördert (Tuori: 280). Wie das Beispiel Finnland zeigt, muss dies aber die Positivierungskompetenz der demokratisch gewählten Körperschaften hinsichtlich der Grundrechte nicht schmälern. Das Beispiel Finnland macht darüber hinaus deutlich, wie auf nationaler Ebene ein aktiver Beitrag zum Abbau der Spannung zwischen individuellem Menschenrechtsschutz und demokratischer Legitimation der Rechte geleistet werden kann. Durch die Kompetenz der Gerichte zur Überprüfung im individuellen Einzelfall ist der Menschenrechtsschutz gewährleistet. Dennoch verbleibt in der Grundrechtspositiverung die Letztverantwortung für den Erlass generell-abstrakter Normen beim Parlament, wodurch ganz allgemein die Verantwortung der Politik für den gesellschaftlichen Konsens über die Ausgestaltung der Menschenrechte gestärkt wird. Die einzelnen Bürgerinnen und Bürger nehmen teil an einem Lernprozess und über
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die Bestellung der Parlamente tragen sie dazu bei, dass ihre Rechte auch »von unten nach oben« ausgestaltet werden. Ein stark gerichtlich orientierter Grundrechtsschutz auf nationaler Ebene befördert hingegen ein Grundrechtsverständnis »von oben nach unten«, indem er eine Machtverlagerung von der Legislative auf die Justiz bewirkt.22 Dazu können unter Umständen die demokratisch gewählten Körperschaften auch selber beitragen, indem sie sich aus eigener Initiative zurücknehmen. Wenn in einem Parlament der Aushandlungsprozess über Grundrechte mit dem Hinweis endet, die unterlegene Minderheit werde ohnehin den Gerichtsweg beschreiten, handelt es sich letztlich um einen vorzeitigen Abbruch dieses Prozesses. Damit wird jene Konzeption der Rechte grundsätzlich in Frage gestellt, welche deren Genese in der Selbstbestimmung der Berechtigten sieht. 8. Normativ darf der Anspruch nicht aufgegeben werden, das Spannungsverhältnis zwischen der Universalität der Menschenrechte und deren demokratischer Legitimation zu überwinden.23 Demokratische Legitimation verlangt eine Ausgestaltung der Menschenrechte in einem deliberativen Prozess. Deliberatives Aushandeln allein reicht jedoch nicht aus, um die demokratische Legitimation zu erreichen, sondern der Prozess muss in Entscheidungen demokratisch legitimierter Körperschaften ausmünden.24 Deshalb wird dieser Anspruch in seiner institutionellen Umsetzung weltweit ein sehr langfristiges Ziel bleiben. In der Praxis wird das Ziel, auch übernationale Rechte mit einer demokratischen Legitimation zu versehen, auf regionaler Ebene früher zu erreichen sein. Voraussetzung dafür ist die Festlegung politischer Teilhaberechte jener Personen, welche an diesem Prozess beteiligt sind und welche die entsprechenden Körperschaften bestellen. Diese Teilhaberechte knüpfen an den Status der Mitwirkenden als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft an, weshalb die Festelegung der Berechtigung nur möglich ist, wenn regionale Außengrenzen gegeben sind.25 In der Europäischen Union ist dies der Fall. Die europarechtliche Konstitutionalisierung unterscheidet sich diesbezüglich von der völkerrechtlichen und bietet erstmals eine konkrete Perspektive zur Umsetzung des normativen Anspruchs auf eine we-
—————— 22 23 24 25
Kühling 2003: 593. Haller 2010: 134. Niesen 2008: 256. Ley 2009b: 110.
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nigstens regionale Überwindung des Widerspruchs zwischen universaler Geltung der Menschenrechte und deren demokratischer Legitimation.26 Weil Europa auch im völkerrechtlichen Schutz der Menschenrechte weltweit eine Führungsposition innehat, sollten auf diesem Kontinent die völkerrechtliche und die europarechtliche Grund- und Menschenrechtspolitik sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Immer wieder gilt es klar zu unterscheiden zwischen der Ausgestaltung der Grund- und Menschenrechte, ihrer generellen Konzeptionierung in einem abstrakten Umfeld einerseits und ihrer Umsetzung und Anwendung auf den konkreten Individualfall andererseits. Es ist diese Differenzierung, welche eine klarere Umschreibung der Beiträge ermöglicht, die der Europarat, die Europäische Union und die Mitgliedstaaten beider Organisationen an diese Politik leisten können – wobei mit letzterem Begriff hier nur die Politik im europäischen Innenverhältnis und nicht jene gegenüber Drittstaaten gemeint ist. 9. Indessen ist eine klare Trennung zwischen den beiden Funktionen nicht immer möglich. Insbesondere in der gerichtlichen Entscheidung über den individuellen Einzelfall ist der Übergang zwischen der reinen Anwendungsfunktion und der Funktion der Rechtsfortentwicklung ein fließender. Für den EuGH wird auf eine »richterlichen Zurückhaltung« hingewiesen, die den Gestaltungsspielraum des Gemeinschaftsgesetzgebers offenhalten soll.27 Analog ist für den EGMR von »richterlicher Zurücknahme« die Rede, wobei sich dieser Hinweis auf das Verhältnis zu höchstrichterlichen nationalen Institutionen bezieht (Baker: 196). Indirekt wirkt sich eine solche Zurücknahme aber auch auf das Verhältnis zum nationalen Gesetzund Verfassungsgeber aus. Solche Formulierungen deuten darauf hin, dass es auch um eine Frage der Mentalität geht. In der Ausformulierung ihrer Urteile können Richter zum Ausdruck bringen, dass sie sich in der Positivierung von Grundrechten für kompetenter halten als das dafür zuständige Parlament. Damit tragen sie zur erwähnten Entwicklung der Umlagerung von Wertschätzung in der öffentlichen Wahrnehmung bei, die den Eindruck entstehen lässt, Grundrechte würden »vom Richter verliehen«. Gewollt oder ungewollt wird damit die Politik aus der Verantwortung für die Menschenrechte gedrängt oder immerhin aus ihr entlassen.
—————— 26 Ebd.: 121. 27 Voßkuhle 2009: 3.
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Soll der Prozess der Auseinandersetzung der Berechtigten mit dem Stellenwert der Grund- und Menschenrechte und ihrer Ausgestaltung nicht zum Erliegen kommen, muss diese Verantwortung bei den demokratisch gewählten Institutionen bleiben. Nationale und internationale Richter können das ihre dazu beitragen, vorausgesetzt, sie messen der demokratischen Legitimation der Rechte eine Bedeutung bei.
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Grundlagen
Von der gubernativen zur deliberativen Menschenrechtspolitik – Die Definition und Fortentwicklung der Menschenrechte als Akt kollektiver Selbstbestimmung Klaus Günther I. Die vielfältigen Prozesse der Globalisierung haben auch die Öffentlichkeit globalisiert. Zwar artikuliert diese sich gegenwärtig nur selektiv zu einzelnen Menschenrechtsverletzungen auf der Welt und sie hat nicht in allen Regionen gleiches Gewicht, aber die Menschheit verfügt inzwischen über die technischen Möglichkeiten einer weltumspannenden und alle Menschen einschließenden Kommunikation. Gewiss, diese Öffentlichkeit ist nicht für alle gleichermaßen zugänglich, und es gibt Teilöffentlichkeiten, die sich auf einzelne Themen mit eigenen Medien spezialisiert haben. Eines der Themen jedoch, über deren Diskussion sich eine globale Öffentlichkeit formiert, sind die Menschenrechte, vor allem die Fälle ihrer Verletzung. Gewiss, es finden auf der Welt nach wie vor massive Menschenrechtsverletzungen statt, die nicht gesehen und gehört werden, und ob und in welchem Ausmaß eine Verletzung in der globalen Öffentlichkeit thematisiert wird, hängt von kontingenten Umständen ab. Kants für sein eigenes Zeitalter der Aufklärung vielleicht noch überschwängliches Diktum, es sei unter den Völkern der Erde so weit gekommen, »dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird«1, scheint jetzt doch zumindest in elektronischer Form Wirklichkeit geworden zu sein. Zugleich fungieren die Menschenrechte als eine Sprache, in der Erfahrungen des Unrechts, des Leidens, der Gewalt so artikuliert werden, dass sie allgemeine Aufmerksamkeit finden, weil diese Sprache von allen verstanden wird. Nicht jede und jeder versteht sie in gleicher Weise, es gibt Streit um Begründungen und Deutungen, um angemessene und unangemessene Anwendungen in Einzelfällen. Aber dieser Streit findet bereits innerhalb und nicht mehr außerhalb eines allgemein akzeptierten Menschenrechtsdiskurses statt. Auch eingefleischte Gegner der Menschenrechte haben sich
—————— 1 Kant 1795/96: 216 (A 46).
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soweit in diesen Diskurs verstricken lassen, dass sie sich zumindest strategisch darum bemühen, ihre Gründe im Gewand der Menschenrechte vorzutragen, wenn sie nicht ohnehin gleich zu den Waffen greifen. Je häufiger und intensiver sie das tun, desto mehr verfangen sie sich im Netz der Menschenrechte und ihrer Logik; sie machen die Erfahrung, dass sie nicht dauerhaft nur so tun können, als würden sie die Menschenrechte achten, ohne sich in ihrem Handeln auch daran messen zu lassen. Dem globalen Diskurs der Menschenrechte vermag sich kaum noch jemand zu entziehen. John Tasioulas hat diese Erfahrung so formuliert: »Discourse of human rights has acquired in recent times […] the status of a lingua franca.«2 Trotz aller Hindernisse, die sich den Menschenrechten nach wie vor entgegenstellen, und trotz der immer wieder vorkommenden massiven Verletzungen scheint das Vertrauen auf ihre fortschreitende Verwirklichung gut begründet zu sein. Die Hindernisse liegen, so könnte man meinen, außerhalb des normativen Gehalts der Menschenrechte, in den Bedingungen und Verfahren ihrer Verwirklichung, in den Zielkonflikten, die sich aus dem Bemühen um gleichzeitige Verwirklichung von Menschenrechten, Demokratie und Frieden ergeben, aber nicht in ihnen selbst.3 Mit ihnen selbst scheint alles in Ordnung zu sein. Joseph Raz beginnt seine Abhandlung über »Human Rights without Foundations« daher auch mit dem freilich ironisch gemeinten statement: »It is a good time for human rights in that claims about such rights are used more widely in the conduct of world affairs than before.«4 Wenn dieser Eindruck richtig ist, so täuscht er jedoch darüber hinweg, dass in der Ubiquität der Menschenrechte auch eine große Gefahr liegt. Gerade weil sie in aller Munde sind, gerade weil jeder und jede sich ständig auf die Menschenrechte beruft, ist zu befürchten, dass sie ein wesentliches Element ihres normativen Gehalts nach und nach einbüßen. Wir nehmen die Menschenrechte zwar überall und jederzeit in Anspruch, aber wir verhalten uns zu ihnen wie zu Fertigprodukten, die wir bloß passiv konsumieren, ohne an ihrer Herstellung beteiligt zu sein und ohne ihren inneren Mechanismus zu kennen. Dadurch werden wir abhängig von denen, die diese Produkte herstellen und die uns diese Produkte verkaufen, ohne uns in ihre geheimen Konstruktionspläne einzuweihen. Zugespitzt ausgedrückt lassen wir uns von den Menschenrechten regieren, ohne diejenigen, die das Regime vollziehen, nach ihrer Legitima-
—————— 2 Tasioulas 2007: 75. 3 Zu diesen Zielkonflikten s. Geis/Müller/Wagner 2007. 4 Raz 2010: 321.
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tion zu fragen. Wir scheinen uns damit zufriedenzugeben, dass sie die Menschenrechte im Munde führen. Was dabei verloren geht, ist der Sinn dafür, dass Menschenrechte nur im Wege einer alle Menschen einschließenden Selbstbestimmung interpretiert und fortentwickelt werden können. Dieses Defizit lässt sich an zwei Phänomenen deutlich machen: (1) Menschenrechte fungieren gegenwärtig häufig als Legitimationstitel für Interventionen eines Staates oder einer Gruppe von Staaten in einen anderen Staat. Diese Interventionen können von verschiedener Art sein, wenn sie nur tauglich sind, Menschenrechte der Bürgerinnen und Bürger dieses Staates vor Menschenrechtsverletzungen ihrer eigenen Regierungen zu schützen. Die militärische Intervention ist dabei nur eine Maßnahme unter anderen. Joseph Raz hat daher in einem deskriptiven Sinne Recht, wenn er im Anschluss an John Rawls die Funktion und Bedeutung von Menschenrechten als rechtfertigende Gründe für externe Eingriffe in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates beschreibt. Menschenrechte sind »rights which set limits to the sovereignty of states, in that their actual or anticipated violation is a (defeasible) reason for taking action against the violator in the international arena.«5 Auf diese Weise werden die Menschenrechte vom politischen System der internationalen Beziehungen instrumentalisiert. Die Politik der Menschenrechte »is drifting towards becoming just the politics of international relations.«6 Damit wandert aber die Aufgabe, Menschenrechte zu interpretieren, im Einzelfall ihre Anwendungsvoraussetzungen festzulegen und mit Blick auf gleiche oder ungleiche Fälle fortzuentwickeln, in die Hand der Regierungen. Diese beobachten einander wechselseitig, ob sie gegenüber ihrer jeweils eigenen Bevölkerung die Menschenrechte einhalten oder nicht und greifen im Verletzungsfalle in die Angelegenheiten des fremden Staates ein, der durch die Menschenrechtsverletzung seinen aus der Souveränität folgenden Abwehranspruch gegen Eingriffe fremder Regierungen verwirkt hat. Es handelt sich insofern um eine gubernative Menschenrechtspolitik. Ingeborg Maus hat das Schicksal der Menschenrechte unter der Herrschaft der gubernativen Menschenrechtspolitik mit Blick auf ähnliche Entwicklungen bei den innerstaatlichen Grundrechten als ein Paradox formuliert:
—————— 5 Ebd.: 328. 6 Ebd.: 334.
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»Gerade mit der Dominanz der Grundrechte in allen gegenwärtigen Rechtsdiskursen verbindet sich der Niedergang ihrer Freiheitsperspektive. Die aus ihrem Zusammenhang mit einer wie immer versuchten Realisierung des Prinzips der Volkssouveränität herausgelösten Grundrechte verlieren ihre Intention der Abwehr bzw. Begrenzung staatlicher Politik und fungieren als Ermächtigungsnormen für Politik.«7
Es soll keineswegs bestritten werden, dass bei der Anwendung und vor allem der Durchsetzung der Menschenrechte auf internationaler Ebene komplexe technische Probleme der Koordination zu lösen sind. Es soll auch nicht in Abrede gestellt werden, dass tatsächlich Fälle von massiven Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit und in der Zukunft hinreichende Gründe dafür sind, in einen Staat zu intervenieren. Aber das Verfahren, in dem solche Maßnahmen getroffen werden, räumt den Regierungen einen Vorrang bei der Interpretation der Menschenrechte ein. Dies gilt auch für das Konzept einer Schutzverantwortung (Responsibility to Protect – Rtp) der Staaten für die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte gegenüber ihren jeweils eigenen Bürgerinnen und Bürgern.8 Mit diesem Konzept wird ein Rechtfertigungsgrund für fremde Interventionen in die Souveränität eines Staates geschaffen für den Fall, dass dieser seiner Pflicht zum Schutze der Menschenrechte seiner Bevölkerung nicht nachkommt. Sie buchstabiert im Einzelnen aus, was Joseph Raz mit seiner Diagnose meinte, dass die primäre Bedeutung und Funktion der Menschenrechte sich gegenwärtig darin erschöpfe, Rechtfertigungsgrund für fremde Interventionen in die Souveränität eines Staates zu sein. Auch wenn die militärische Intervention nur ultima ratio gegenüber einer Präventiv-Verantwortung zur Verhinderung drohender Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld ist und von einer responsibility to rebuild für die Zeit nach der Intervention ergänzt wird, bleiben die Regierungen die primären Adressaten. Sie interpretieren den normativen Gehalt der Schutzpflicht, sie stellen eine eventuelle Verletzung dieser Pflicht durch eine Regierung fest, sie ergreifen Maßnahmen zur Verhinderung aktueller und drohender Menschenrechtsverletzungen und sie bilden Institutionen der Durchsetzung von Menschenrechten innerhalb eines Staates nach einer militärischen Intervention. Wiederum geht es hier nicht darum, den Fortschritt zu leugnen, der in einer Verrechtlichung der Humanitären Intervention durch das Konzept einer Rtp liegt. Es soll nur die Gefahr benannt werden, die der
—————— 7 Maus 1999: 282 f. 8 Klein, 2000; Evans 2008; Verlage 2009. Kritisch dazu: Foley 2008: 145–170.
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globalen Menschenrechtspolitik droht, wenn Regierungen zu den maßgeblichen globalen Menschenrechtsakteuren werden, die einen aktiven Menschenrechtsschutz besorgen und dabei die Interpretation und Fortentwicklung der Menschenrechte in ihre eigene Hand nehmen. (2) Komplementär zur gubernativen Menschenrechtspolitik zeigt sich auf der Seite der Individuen als Inhaber der Menschenrechte ein zunehmend individualisiertes Menschenrechtsverständnis. Auch diese Gefahr entwickelt sich gleichsam als unbeabsichtigte Nebenfolge einer guten Absicht, nämlich der Etablierung individueller Beschwerdemöglichkeiten gegen Menschenrechtsverletzungen vor einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Instanz. Diese Möglichkeit gibt es noch nicht überall, und sie ist unbestritten einer der wichtigsten Beiträge zur gleichmäßigen Durchsetzung der Menschenrechte als subjektiver Rechte. Auch darf der indirekte Effekt nicht übersehen werden, der darin besteht, dass erst mit der Institution der Individualbeschwerde ein allgemeines Bewusstsein bei jedem Einzelnen entsteht, Inhaber von Menschenrechten zu sein. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das Recht der Bürgerinnen und Bürger aller Mitgliedsstaaten des Europarates, wegen Menschenrechtsverletzungen durch ihre jeweiligen Regierungen Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu erheben. In dem Maße jedoch, wie sie für die Durchsetzung individueller Ansprüche mobilisiert werden, droht das Bewusstsein kollektiver Verantwortung für die Menschenrechte abzunehmen. Den Rechtssubjekten erscheinen die Menschenrechte nur noch in dem Maße als legitim, wie sie damit ihre individuelle Lage verbessern können, wie sie einen unmittelbaren Nutzen für die Verfolgung eigener Interessen und Ziele versprechen. »Weltweit und in der öffentlichen Wahrnehmung wird eine Entwicklung gefördert, in welcher die individuelle Legitimation der Menschenrechte die kollektive verdrängt.«9 Die Perspektive der Rechtssubjekte verengt sich auf den jeweils eigenen, individuellen Fall; dieser bildet den Erfahrungsraum und den Erwartungshorizont der Betroffenen hinsichtlich der Menschenrechte. Sie werden mobilisiert, wenn es für den eigenen Vorteil im einzelnen Fall günstig ist. »Es kann ein Defizit im Akt der kollektiven Selbstbestimmung entstehen, so dass sich das Interesse immer ausschließlicher auf den individuellen Akt des Einklagens von Rechten im konkreten Fall richtet.«10 Die Gefahr eines solchen individualistischen Verständnisses der Menschenrechte wird auch an der zunehmen-
—————— 9 Haller 2010: 135. 10 Haller 2010: 135.
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den Zahl von Fällen deutlich, in denen Menschenrechtsverletzungen nicht nur gegenüber einem Staat und seiner Regierung geltend gemacht werden, sondern auch gegenüber nicht-staatlichen Akteuren. Die Drittwirkung oder horizontale Bedeutung der Menschenrechte ist vor allem dort relevant, wo sie sich gegen mächtige kollektive Akteure richtet, die die Rechte der Schwächeren systematisch verletzen. Wenn solche Konflikte als Menschenrechtsverletzungen thematisiert werden können, trägt eine wie auch immer im Detail ausgestaltete Dritt- oder Horizontalwirkung ihrerseits zur weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte bei.11 Alle Rechtsverhältnisse zwischen Privaten werden auf diese Weise gleichsam menschenrechtlich rationalisiert. Diese Horizontalwirkung wird aber dort problematisch, wo die Menschen ihre Rechte gegeneinander so mobilisieren wie Privateigentümer ihre Eigentumsrechte. Damit wird nicht nur im Verständnis der Beteiligten das Menschenrecht auf ein eigentumsanaloges privates Recht verkürzt. Vielmehr wird dadurch auch das Gericht zu dem Ort, an dem im Einzelfall kollidierende Menschenrechte so gegeneinander abgewogen werden, dass eine generalisierende Wirkung auf vergleichbare Fälle entsteht. Darüber wird schnell vergessen, dass die Grenzen der Menschenrechte untereinander primär von denjenigen gezogen werden müssen, die selbst die Träger allgemeiner und gleicher Menschenrechte sind – also von den Menschenrechtssubjekten selbst und nicht von einem Gericht. Die Konkordanz zwischen potentiell miteinander kollidierenden Menschenrechten bedarf daher auch der Form einer abstrakten und generellen Regelung, in der die Interessen aller Menschenrechtssubjekte unabhängig vom konkreten Einzelfall zur Geltung kommen. Diese Problematik verschärft sich noch, wenn die Menschenrechte der einen gegen die der anderen mit Hilfe einer gubernativen Menschenrechtspolitik mobilisiert werden. In dem Maße, wie die Sprache der Menschenrechte für die Legitimation der eigenen Interessen und Ziele verwendet wird, können mächtige Akteure und Organisationen Regierungen für ihre eigenen menschenrechtspolitischen Ziele in der internationalen Arena einspannen. Dann droht das, was in der Public Choice-Theorie als »regulatory capture« bezeichnet wird:12 Staatliche Agenturen, die allgemeine und gleiche Rechte schützen und durchsetzen sollen, werden für partikulare Interessen, in diesem Fall für
—————— 11 S. dazu für Europa: Clapham 2006; zur globalen Entwicklung s. Teubner 2006: 161–187; Günther 2009: 259–280. 12 Laffont/Tirole 1991: 1089–1127.
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eine bestimmte, für sie günstige Interpretation der Menschenechte gegen andere (für sie ungünstige) Interpretationen in Anspruch genommen. Das politische Defizit, das sich sowohl bei der gubernativen Menschenrechtspolitik als auch in einem individualistischen Menschenrechtsverständnis zeigt, verweist auf einen komplexen Zusammenhang zwischen der individuellen Natur der Menschenrechte als subjektiver Rechte und der Volkssouveränität als derjenigen Instanz, die in einer säkularisierten, postmetaphysischen Welt als Instanz der Rechtssetzung allein legitim sein kann. Beide Defizite sind Symptome dafür, dass das Bewusstsein dieses Zusammenhangs schwindet. Die Gründe dafür liegen wie häufig nicht in bösen Absichten der Beteiligten. Es handelt sich vielmehr um unbeabsichtigte, vielleicht sogar unerwünschte Nebeneffekte der an sich begrüßenswerten generellen Orientierung der internationalen Politik an den Menschenrechten und einem wachsenden Bewusstsein der Menschen davon, dass sie zugleich auch Rechtspersonen sind, die Menschenrechte haben und deshalb Menschenrechtsverletzungen im eigenen Namen gegenüber allen anderen geltend machen können. Die Schwierigkeiten, die sich dem Versuch entgegenstellen, jenen Zusammenhang präsent zu halten, liegen auf der Hand. Eine der größten ist die Tatsache, dass es auf internationaler Ebene kein Äquivalent für eine bisher nur in der Pluralität von Nationen auftretenden Volkssouveränität gibt, man sich also zur Zeit noch nicht vorstellen kann, wie eine aus kollektiver Selbstbestimmung hervorgehende globale Menschenrechtspolitik aussehen könnte. Die zweite Schwierigkeit resultiert daraus, dass Menschenrechte hier und jetzt verletzt werden, also in den menschenrechtspolitisch entscheidenden Fällen zumeist akuter Handlungsbedarf besteht. Es ist nicht zu leugnen, dass alle Institutionen, namentlich einzelne Regierungen, die sich effektiv für den Schutz der Menschenrechte einsetzen, ihrerseits als menschrechtspolitische Interpreten und Akteure unter den einschränkenden Bedingungen knapper Zeit und unzureichender Information handeln müssen. Wenn es um den Einsatz militärischer Ressourcen geht, ist die Exekutive der Staaten gefragt; und diese entscheiden dann in der Regel auch – einzeln oder als Teilnehmer an einem internationalen Gremium wie dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen –, ob der Fall einer gravierenden Verletzung oder Bedrohung der Menschenrechte gegeben ist und welche Maßnahmen geeignet und erforderlich sind. Auch hier fehlt es auf internationaler Ebene an einem Äquivalent für das, was auf nationaler Ebene eines Rechts- und Verfassungsstaates selbstverständlich ist: Dass eilbedürftiges Handeln der
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Exekutive ex post öffentlich überprüft werden kann, sei es durch Gerichte, sei es durch die demokratische Öffentlichkeit insgesamt. Wenn im folgenden noch einmal kurz die wesentlichen Argumente für eine Re-Aktualisierung des Zusammenhangs zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität skizziert werden, dann nur in der Absicht, die institutionelle Phantasie für die Konzeption funktionaler Äquivalente für die Volkssouveränität anzuregen. II. Menschenrechte haben als universale Rechte eine selbstbezügliche Struktur. Wenn sie für alle Menschen gelten, d. h. für jeden einzelnen, dann kann es nicht einen (oder eine exklusive Gruppe von) Menschen geben, der diese Rechte allen anderen gewährt und über ihren Inhalt entscheidet – ein solches Verfahren würde dem Sinn der Menschenrechte widersprechen. Nur die Menschen selbst können sowohl über die Geltung sowie über den Inhalt und den Umfang ihrer Menschenrechte entscheiden. Im Sinn der Menschenrechte liegt daher immer auch die Selbstermächtigung der Menschen zur ihrer Selbstbestimmung. Historisch bestand darin ihre eigentliche revolutionäre Bedeutung, die von den überkommenen, an den hergebrachten Traditionen festhaltenden Institutionen, namentlich den christlichen Kirchen, als Provokation erfahren wurde. Diese Provokation hält bis in die Gegenwart an. Die Selbstermächtigung des Menschen wurde auf dieser Seite stets so verstanden, als ob damit die konstitutive Abhängigkeit des Menschen von Gott verneint, eine gottähnliche Position angemaßt und der Sündenfall wiederholt und vertieft würde.13 Für eine politische Theologie liegt in dieser Selbstermächtigung der Grund, eine politische Philosophie der Menschenrechte zurückzuweisen.14 Indes hängt alles davon ab, diese Selbstermächtigung nicht in einem absoluten Sinne völliger Unabhängigkeit, in einem hobbesianisch-fichteanischen Sinne als Selbst-Setzung misszuverstehen. Gemeint ist lediglich das Moment, das hinzukommt, wenn der normative Gehalt der Menschenrechte nicht nur als wechselseitige moralische Verpflichtung zur Achtung eines jeden gedeutet wird, sondern im spezifischen Sinne als ein (subjektives) Recht. Wenn in der Neuzeit, vor allem unter dem Eindruck der europäischen Aufklärung, die Beteiligten als moralischen Verpflichtungsgrund der wechselseitigen Achtung moralischer Rechte »keine dritte ›höhere Autorität‹ (wie Gott, die Natur oder die Vernunft) anerkennen, dann bleibt übrig,
—————— 13 Meier 2009: 133. 14 Ebd.: 135.
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dass sie selbst sich als diese Autorität anerkennen.«15 Diese Voraussetzung findet sich vor allem, aber nicht nur, in denjenigen Konzeptionen der Menschenrechte, die sie moralisch begründen. Als moralische Rechte können sie in einer säkularisierten Gesellschaft nur wechselseitig durch die Betroffenen selbst begründet werden. Nach Tugendhat folgt aus einer Moral der wechselseitigen Achtung »dass wir alle Menschen als Rechtsträger anerkennen, […] dass wir selbst es sind, insofern wir uns unter die Moral der universellen Achtung stellen, die allen Menschen die sich aus dieser ergebenden Rechte verleihen. Auch die moralischen Rechte sind also verliehene Rechte, und die Instanz, die sie verleiht, ist, kantisch gesprochen, die moralische Gesetzgebung selbst bzw. es sind wir selbst, insofern wir uns unter diese Gesetzgebung stellen.«16 Für Rainer Forst, der den Kern der Menschenrechte in einem moralischen Recht auf Rechtfertigung lokalisiert, folgen die Menschenrechte aus reziprok und allgemein nicht zurückweisbaren Ansprüchen eines jeden einzelnen gegenüber allen anderen.17 Aber auch nach Jürgen Habermas, der auf eine moralische Begründung subjektiver (Menschen-)Rechte zugunsten einer funktionalen Erklärung ihrer Genese aus einem Komplementärverhältnis zu einer universalistischen postkonventionellen Moral verzichtet, beginnt der Zusammenschluss von Rechtspersonen unter dem Projekt der Verfassungsgebung mit der wechselseitigen Einräumung von (Menschen-)Rechten.18 Solange, wie der Akzent jedoch auf der wechselseitigen moralischen Verpflichtung zur Achtung des anderen als eines Menschenrechtssubjekts gesetzt wird, kommt der spezifische Charakter der Menschenrechte als subjektiver Rechte noch nicht deutlich genug zum Ausdruck. Wie Georg Lohmann hervorgehoben hat, »folgt aus der puren Wechselseitigkeit moralischer Verpflichtungen noch nicht automatisch, dass die beteiligten Personen sich als Träger von Rechten ansehen.«19 Die wechselseitige Verpflichtung zur gegenseitigen Achtung könnte nämlich auch so verstanden werden, als ob der eine aktiv dem anderen eine Achtung gewähren würde, die von diesem nur passiv empfangen würde – mit der reziproken Verpflichtung, dem anderen die gleiche Achtung zu gewähren, die auch diesen nur zum Objekt einer Verpflichtung machen würde. Dann wäre das Verhältnis
—————— 15 16 17 18 19
Lohmann 1998: 62–95 (86). Tugendhat 1993: 345 f. (Herv. K.G.). Forst 2007: 291 ff. Habermas 1993: Kap. 3. Lohmann 1998: 86.
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zwischen demjenigen, der dem anderen Achtung schuldet, und demjenigen, der in Erfüllung der wechselseitigen moralischen Pflicht geachtet wird, von vornherein asymmetrisch strukturiert.20 Symmetrie besteht zwischen den Beteiligten nur insofern, als jeder und jede nicht nur Empfänger, sondern wegen der Wechselseitigkeit der moralischen Verpflichtung immer auch Schuldner der Achtung jedes anderen ist. Hypothetisch ließe sich so eine moralische Welt konstruieren, in der jeder jedem die gleiche Achtung schulden und jeder von jedem passiv die gleiche Achtung empfangen würde, ohne dass diesen wechselseitigen Verpflichtungen auch ein komplementäres Recht entsprechen würde. »Was ändert sich, wenn, bei sonst gleichem moralischen Verhalten, die Bürger dieser Konstrukte sich Rechte zuschreiben?«21 In einer noch sehr vagen Form lässt sich das, was sich mit der wechselseitigen Zuschreibung von Rechten ändert, so charakterisieren, dass sich der Akzent damit auf denjenigen verlagert, der bisher nur passiver Empfänger einer geschuldeten Achtung gewesen ist. Ein Recht schützt nicht nur vor Verletzungen des Achtungsanspruchs durch Dritte, sondern es hat auch den aktivischen Sinn, seinen Inhaber mit der Möglichkeit und Befugnis der Selbstbestimmung auszustatten und in deren aktiven Äußerungen anerkannt und geachtet zu werden. Dieser aktivische Sinne kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass der Inhaber eines Rechts von einem anderen ein Tun oder Unterlassen fordern kann, dass er einen Anspruch (actio) auf etwas gegen einen anderen hat. In dem Maße, wie der Inhaber des Rechts auf Selbstbestimmung davon einen aktiven Gebrauch macht – und sei es nur, indem er von einem anderen die Unterlassung eines Eingriffs fordert – wächst ihm ein Bewusstsein von seiner Macht und Befugnis zu, ein Bewusstsein seines Dürfens – »dass der individuelle Wille nach gewissen Richtungen seine Freiheit gebrauche« und seines Könnens – indem der Handlungsfähigkeit des Individuums etwas hinzugefügt wird, »was es von Natur aus nicht besitzt.«22 Auf dieses Bewusstsein gründet der Inhaber des Rechts seine Selbstachtung und seinen Achtungsanspruch, den er aktiv gegen andere geltend machen kann. Es ist das Bewusstsein der eigenen Freiheit in dem Sinne,
—————— 20 Diese Asymmetrie scheint mir in der Begründungskonzeption vorzuliegen, die Menke/ Pollmann für die Menschenrechte vorschlagen: Menke/Pollmann 2007: 66 ff. 21 Lohmann 1998: 88. 22 Als »Dürfen« bestimmt Georg Jellinek das subjektive Privatrecht, als Können (qua Rechtsfähigkeit) das subjektiv-öffentliche Recht: Jellinek 1919: 45 – 48.
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dass er sich selbst bestimmt und keiner fremden Bestimmungsmacht unterworfen ist. Dieses Moment tritt zur wechselseitigen moralischen Verpflichtung mit der Zuschreibung von Rechten hinzu: dass »in einer Gesellschaft von wechselseitig eingeräumten gleichen Rechten die moralischen Subjekte mit ihren berechtigten Ansprüchen gegen andere auch ihre Selbstachtung ausdrücken und entwickeln können.«23 Jürgen Habermas hat diesen Übergang auf den Punkt gebracht: »An die Stelle der moralisch gebotenen Schonung des verletzbaren Anderen tritt die selbstbewusste Forderung nach rechtlicher Anerkennung als eines selbstbestimmten Subjektes.«24 Es ist das Moment des je Eigenen, auf das sich dieser Anspruch des Rechtsträgers gründet. III. Nun wäre es denkbar – und so hatte Thomas Hobbes den Leviathan konzipiert –, dass sich die strikte Horizontalität der Menschenrechte auf ihren Ursprung beschränkt. Die Menschen räumen sich ein einziges Mal wechselseitig Menschenrechte ein und überlassen deren weitere Ausschöpfung und Konkretisierung dann einer gesetzgebenden oder rechtsprechenden Instanz, wie wir sie gegenwärtig im Fall der gubernativen Menschenrechtspolitik oder der Justizialisierung durch Gerichte oder gerichtsähnliche Institutionen beobachten können. Nach der ursprünglichen wechselseitigen Anerkennung der Menschenrechte würde die Rechtsperson also wieder in ein vertikales Verhältnis zu jenen Instanzen treten, welche die ursprünglich abstrakten Menschenrechte interpretieren, positivieren und im Angesicht neuer Anwendungsfälle fortbilden. Dann wäre aber auch die ursprüngliche Autonomie wieder verloren. Die mit der Selbstermächtigung zur Selbstbestimmung etablierte Autonomie ist nur eine halbe, solange das Rechtssubjekt nur passiver Empfänger seiner Rechte ist und diese Rechte nur noch im eigenen Interesse wie andere subjektive Rechte mobilisiert. Man könnte sich vorstellen, dass zwei Personen sich darauf einigen, sich gegenseitig die gleichen Rechte einzuräumen, dann aber eine Person sich in den Stand eines Sklaven begibt und es seinem Herren überlässt, ihm die ursprünglich wechselseitig vereinbarten Rechte auch faktisch zu gewähren, sie für ihn zu interpretieren und in neuen Situationen unter veränderten Umständen fortzubilden. Der Herr würde seinem Sklaven die Menschenrechte wie Privilegien einräumen, die es ihm gestatten, in einigen Lebensbereichen nach eigenem Urteil zu leben und zu handeln. Allerdings würde
—————— 23 Lohmann 1998: 88. 24 Habermas 2010: 350.
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der Herr jedes Mal intervenieren, wenn er zu dem Urteil käme, dass sein Sklave im Gebrauch seiner Privilegien die Grenze der ursprünglichen Rechte überschreiten würde. Wäre dann der Sklave nicht ebenso frei wie zuvor, auch wenn er ein bloß passiver Empfänger jener Privilegien wäre und nicht selbst über die Interpretation und Anwendung der ursprünglich gleichen Rechte mitbestimmen könnte? Es ist eine alte republikanische Intuition, dass der Sklave nicht schon dann frei ist, wenn er wohlwollend von seinem Herren gewisse Freiheiten passiv empfängt, sondern erst dann, wenn er selbst zu denen gehört, die gemeinsam mit allen anderen ihre Freiheiten als Rechte bestimmen und setzen, und zwar dauerhaft und nicht nur einmal.25 Die begründende Horizontalität der Menschenrechte muss also in den weiteren Prozess der Konkretisierung der Menschenrechte verlängert werden. Dann sind es – in letzter Instanz – die Menschen selbst, die über die Konkretisierung entscheiden: »Der unaufhebbare Zusammenhang von Menschenrechten und Volkssouveränität besteht also darin, dass nur die Träger der Rechte selbst darüber befinden können, was der Inhalt ihrer Rechte ist.«26 Der Begriff der Volkssouveränität ist nun freilich nur eine historische Chiffre für jene republikanische Intuition, dass das Menschenrecht auf Freiheit Unabhängigkeit von fremder, auch wohlwollender Herrschaft voraussetzt und sich nur auf die Selbstregierung seiner Träger gründen kann. Zu gefährlich sind die Assoziationen mit der historischen Gestalt einer absoluten Macht, die mit der Souveränität eines absoluten Königs um die bessere Legitimität konkurrieren musste und in diesem Wettbewerb einige ihrer autokratischen und usurpatorischen Züge übernahm. Nur deshalb konnte es zu einem Gegensatz und Konflikt zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten kommen, der zu falschen Verabsolutierungen führte. Dieser Gegensatz offenbart sich an dem Streit über die Menschenrechte als Schranken demokratischer Selbstgesetzgebung. Es gab historisch und es gibt auch heute gewiss Formen der Demokratie, welche einen Zusammenhang mit den Menschenrechten verneinen und deswegen entweder die Demokratie durch Menschenrechte einschränken oder umgekehrt die Menschenrechte von Minderheiten einer populistischen Mehrheitsdemokratie opfern. Der erste Fall ergibt sich aus einer liberalistischen Konzeption der Demokratie, wonach diese nichts anderes als eine Aggregation individueller Präferenzen ist, die in wechselnde Mehr-
—————— 25 Historisch: Skinner; zuletzt: 2008: 12 ff. u. 49 ff.; systematisch: Pettit 2001: 65 ff. 26 Maus 1999: 276–292 (287).
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heitsentscheidungen mündet, vor denen die Menschenrechte der jeweiligen Minderheit geschützt werden müssen. Im zweiten Fall repräsentiert die Demokratie nichts anderes als das homogene Ethos einer partikularen Gemeinschaft, die mit ihren Mehrheitsentscheidungen Minderheiten diskriminiert oder exkludiert. In beiden Fällen wird jedoch das Telos der Demokratie verfehlt. Sie ist weder ein Verfahren zur bloßen Addition individueller Präferenzen noch ein Organ zur Expression und zum Vollzug eines kollektiven Ethos. Diesen falschen Gegensätzen lässt sich nur entkommen, wenn man die Menschenrechte als ermöglichende Bedingungen demokratischer Selbstregierung versteht. Dies nicht nur in dem Sinne, dass mit den politischen Menschenrechten Demokratie in einer Weise institutionalisiert werden kann, die zugleich die Inklusivität und Offenheit des demokratischen Verfahrens ermöglicht. Menschenrechte erst ermöglichen zugleich auch die Institutionalisierung eines Prozesses kollektiver Selbstbestimmung, in dem die Selbstermächtigung zur Selbstbestimmung jedes einzelnen, also seine Würde und seine Achtung vor sich selbst, so zum Ausdruck kommt, dass sie mit der gleichen Würde aller anderen vereinbar ist. Nur unter der Bedingung der Menschenrechte hat jeder einzelne das gleiche Recht, mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ Stellung zu nehmen, hat die Stimme jeder einzelnen Person gleich viel Gewicht, genießt jeder einzelne die gleiche Autorität. Umgekehrt hat jeder einzelne das gleiche Recht zu verlangen, dass jede politische Entscheidung vor ihm oder ihr gerechtfertigt wird.27 Nur die Menschenrechte garantieren die Freiwilligkeit der politischen Teilnahme, die Anerkennung der gleichen Würde aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer und die Inklusivität des Verfahrens. Erst eine demokratische Selbstgesetzgebung, in der die Menschenrechte im eben erläuterten Sinne als ermöglichende Bedingungen enthalten sind, generiert zugleich einen Prozess der öffentlichen Kritik und Rechtfertigung, mithin öffentliche Lernprozesse. Habermas bringt dies in dem Grundsatz zum Ausdruck, wonach nur solche Normen gültig sind, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen können.28 Der diskursive Charakter der Demokratie unterwirft die individuellen Präferenzen der einzelnen Staatsbürger einem wechselseitigen Revisionsprozess, weil kein Interesse eines ein-
—————— 27 Zum Recht auf freie Stellungnahme s. Günther 1992: 58–73; zum Recht auf Rechtfertigung s. Forst 2007. 28 Habermas 1993: 138.
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zelnen für alle anderen verbindlich werden kann, ohne dass es im Lichte von Gründen und Gegengründen durch alle anderen geprüft würde. In diesem Sinne brauchen die Menschenrechte von einer demokratisch verfassten Volkssouveränität nichts zu fürchten. Im Gegenteil, sie sind auf sie angewiesen, wenn sie nicht in einer gubernativen Menschenrechtspolitik oder in einem individualistischen Menschenrechtsverständnis jeden Kontakt zur kollektiven Selbstbestimmung verlieren wollen. Albrecht Wellmer hat den Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Demokratie so auf den Punkt gebracht: »Während sie einerseits den demokratischen Diskurs binden, müssen sie andererseits auch immer wieder erst in ihm hervorgebracht, nämlich neu interpretiert und neu implementiert werden; es kann keine Instanz oberhalb oder außerhalb dieses Diskurses geben, die letztlich entscheiden könnte, welches die richtige Interpretation und Konkretisierung dieser Grundrechte wäre.«29
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—————— 29 Wellmer 1999: 125–156 (146); ders. 1993: 54–80 (60 ff.).
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Das Menschenrecht auf Demokratie – Eine moralische Verteidigung mit einer rechtlichen Nuance Samantha Besson∗ Der Ursprung jeder Souveränität liegt ihrem Wesen nach beim Volke. Keine Körperschaft und kein Einzelner kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihm ausgeht. (Artikel III Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) 1. Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken. 2. Jeder hat das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern in seinem Lande. 3. Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muss durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen. (Artikel 21 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Artikel 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen a) an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen; b) bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden; c) unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben. (Artikel 25 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte)
—————— ∗
Dies ist eine überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich auf Englisch beim UniDemSeminar über die Beziehung zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten gehalten habe, das von der Venedig-Kommission an der Universität Frankfurt am 15. und 16. Mai 2009 durchgeführt wurde. Mein Dank geht an alle Teilnehmer für ihre wertvolle Kritik und Vorschläge, insbesondere an Armin von Bogdandy, Hauke Brunkhorst und Günter Frankenberg. Des Weiteren möchte ich Allen Buchanan und George Letsas für die nützlichen Diskussionen über die Legitimität internationaler Menschenrechte im Frühjahr und Sommer 2009 danken. Für die Koordinierung und Organisation des Seminars und der Veröffentlichung möchte ich Gret Haller und Klaus Günther ganz herzlich danken.
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Einführung Es ist überflüssig zu erwähnen, dass die Beziehung zwischen Menschenrechten und demokratischer Souveränität1, oder Demokratie, wie ich sie in diesem Kapitel nennen werde, zu den klassischen Fragen der Staats- und Rechtstheorie zählt. Wer hat nicht schon einmal zumindest über den Vorrang der Menschenrechte vor der Demokratie oder umgekehrt nachgedacht,2 über die demokratische Legitimität der verfassungsrechtlichen Verwurzelung der Menschenrechte oder über die menschenrechtsbasierte gerichtliche Prüfung der demokratischen Gesetzgebung?3 Die auf den ersten Blick paradox und regelmäßig wiederkehrende Idee eines Menschenrechts auf Demokratie ist genauso berühmt. Sollte und könnte die Demokratie qua Menschenrecht geschützt werden, und wenn ja, wäre es nicht paradox, dies ohne oder gegen den Willen des Volkes zu tun? Abgesehen von diesem Paradox würde ein solches Menschenrecht nicht Gefahr laufen, sich als Recht selbst zu widersprechen, da es von der Realisierung der Interessen abhängig ist, die es schützen will: Wie sollte man anders von einem Recht auf Demokratie profitieren als durch demokratische Kanäle? Zu den zahlreichen Gründen, diesen Berg erneut zu erklimmen, außer natürlich dem Vergnügen, sich mit den anderen Kletterern über diese klassische Frage auseinanderzusetzen und ihnen zu widersprechen,4 sollte man die Vielseitigkeit dieser Frage zählen, abhängig davon, wie man ihre zwei wesentlichen Elemente, das heißt »Demokratie« und »Menschenrecht«, definiert. Dies vor allem dann, wenn man die Frage dahingehend versteht, sich auf ein internationales oder universelles Menschenrecht auf demokratische Partizipation zu beziehen, wie dies in diesem Kapitel der Fall ist,5 und nicht, wie dies traditionell der Fall war, auf ein nationales oder
—————— 1 Zur Frage der Beziehung zwischen demokratischer Souveränität und Demokratie siehe J.L. Cohen 2008: 578 – 606; Forst 2010. 2 Dies wird häufig mit Verweis auf Artikel 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte veranschaulicht, laut dem die Menschenrechte von der politischen Souveränität ausgehen. Siehe auch Forst 2010. 3 Siehe z.B. Waldron 1999; Habermas 1998; 1996: 301. 4 Siehe z.B. Menke/Pollmann 2007: Kap. 4; Dworkin 2006; 2000; Habermas 1996; 1998; Alexy 1998: 244 – 64; Böckenforde 1998: 222 – 43; Michelman 1996: 200 – 8; Brunkhorst 1996: 190–99; J.L. Cohen 1996: 164 – 89. 5 Dementsprechend lasse ich die Frage der internationalen Demokratie außen vor. Siehe zu diesem Thema z.B. Besson 2009a: 58–91; 2009b: 204 –37; 2009c: 343–80; Christiano 2010: 119–37; Pettit 2010: 139–60; Buchanan/Keohane 2006: 405; Gould 2004.
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örtliches Recht auf demokratische Partizipation.6 Auf den ersten Blick scheint die Frage, ob ein solches Recht von außerhalb einer bestehenden politischen Gemeinschaft garantiert wird und in Folge von dieser Gemeinschaft losgelöst existiert, tatsächlich plausibler, da die Garantie eines Menschenrechts unabhängig von der Staatsangehörigkeit ist und damit keinen Zirkelschluss darstellt, aber auch kontroverser zu sein, da das Paradox des Schutzes der Demokratie durch undemokratische Mittel noch weniger nachvollziehbar erscheint. Der neue Boom in der Völkerrechtstheorie und insbesondere in der Menschenrechtstheorie macht es besonders dringlich, beide Konzepte in ihrer Beziehung zueinander,7 aber auch in weiter gefassten Konzepten, wie zum Beispiel globales Recht und Legitimität, neu zu definieren. Wenn Menschenrechte und/oder Demokratie häufig vorgetragene Kriterien für die Legitimität des Völkerrechts sind,8 muss man ihre Beziehung zueinander im internationalen Kontext neu beurteilen. Fragen, wie die nach der demokratischen Legitimität der internationalen Menschenrechte oder deren internationalen gerichtlichen Überprüfung, erscheinen heute deutlicher im Zuge der Diskussionen über die Legitimität des Völkerrechts im Allgemeinen. Außerdem machen neueste Entwicklungen in der Menschenrechtstheorie und insbesondere aktuelle Diskussionen über die so genannte politische Auffassung (der Funktion oder der Begründung) der Menschenrechte, welche die Menschenrechte als externe Beschränkungen der Staatssouveränität erklären,9 die Idee eines Menschenrechts auf Demokratie noch kontroverser und das Verhältnis zwischen Menschenrechten und
—————— 6 Es ist für das Argument jedoch nicht von Bedeutung, dieses Recht als Recht auf nationale oder internationale Demokratie zu betrachten, da das geschützte Interesse überwiegend gleich ist, und Demokratie nicht mehr nur national, regional oder international sein kann, sondern alle Ebenen der Entscheidungsfindung einschließen muss, die sich gleichzeitig auf die grundlegenden Interessen der Menschen auswirken können, sei es national oder international. Ich werde in Abschnitt 4 auf diese Frage zurückkommen. Für eine gemeinsame Abhandlung beider Themen siehe Forst 2010; J.L. Cohen 2008; Crawford 2000: 91–122. 7 Siehe z.B. Forst 2010; J.L. Cohen 2008; Griffin 2008: Kap. 14; Beitz 2007: 100–104; Menke 2005; J. Cohen 2006: 226–248; Talbott 2005; Buchanan 2004: 142–7; Gould 2004; Beitz 2001: 269–282; Sen 1999; Beetham 1999; Rawls 1999; Shue 1996: 67–78. 8 Siehe z.B. Buchanan 2008: 39–70; Buchanan 2010b: 79–96; Tasioulas 2010b: 97–116; Besson 2009c: 369. 9 Siehe z.B. Rawls 1999; Raz 2010: 321–37. Mit leichtem Unterschied siehe auch Beitz 2001 und 2007; J. Cohen 2006. Für eine Kritik siehe Tasioulas 2009: 938–50; Forst 2010 und J.L. Cohen 2008.
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Demokratie zum zentralen Merkmal zukünftiger Menschenrechtstheorien. Schließlich, und praktischer gesehen, rechtfertigen das Mündigwerden der internationalen Menschenrechte und die Festigung der nationalen Demokratien dank jener Rechte in Europa und anderen Regionen der Welt, sich die Zeit zu nehmen, über ihren Einfluss auf die Situation der nationalen Verfassungsdemokratie zu reflektieren. Dies impliziert insbesondere die Ausarbeitung einer konstruktiven Kritik der demokratischen Legitimität des rechtlichen Besitzstandes im Kontext der Menschenrechte. Die Frage ist jetzt, da das Menschenrecht auf Demokratie ein integraler Bestandteil des positiven Völkerrechts ist, noch interessanter geworden. Seit den 1990er Jahren und dem Ende des Kalten Krieges wurden das Menschenrecht auf demokratische Teilhabe und die zahlreichen daraus abgeleiteten oder mit diesen verbundenen Rechte, u.a. das Recht auf freie Wahlen, Redefreiheit oder Vereinigungsfreiheit, eindeutig als Rechte identifiziert, die durch internationale Menschenrechte geschützt werden.10 Natürlich wurden die Menschenrechte allgemein nach dem Zweiten Weltkrieg garantiert und gefördert, um indirekt nationale Demokratien zu stärken, zu einer Zeit, in der internationale Standards für nationale Demokratie aufgrund eines heftigen souveränitätsbasierten Widerstands nicht entwickelt wurden und in der Menschenrechtsstandards weit weniger präsent waren.11 Durch die schrittweise Entwicklung und Stärkung der wichtigsten Menschenrechtsgarantien konnten sich die einzelnen Elemente eines demokratischen Regimes festigen und die wachsende Interdependenz in der Praxis des Schutzes internationaler Menschenrechte und der Demokratisierung unter Beweis stellen.12 Aber erst nach 1990 begannen das Völkerrecht und das internationale Menschenrecht offen damit, demokratische Standards festzulegen und deren Achtung in der nationalen Politik durchzusetzen. Dies gilt für Europa, aber auch darüber hinaus. Frühere Garantien, wie zum Beispiel Artikel 25 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) oder Artikel 3 des Protokolls 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die jahrelang nur auf dem Papier standen, werden endlich in der Praxis mit Leben gefüllt, angewendet
—————— 10 Siehe Steiner 2008: 445–76; und die Essays in Fox/Roth 2000 und insbesondere Fox 2000: 48–90; Franck 2000: 25–47; Crawford 2000. Vergleiche mit früheren Diskussionen in Steiner 1988: 77; oder Franck 1992: 46–91. 11 Siehe Steiner 2008: 447–9; Letsas 2007: 18–21; Moravcsik 2000: 217–252. 12 Siehe Steiner 2008: 460 ff.
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und ausgelegt.13 Neue Garantien sind seitdem verabschiedet worden, insbesondere Artikel 23 des Amerikanischen Menschenrechtsabkommens (ACHR) und Artikel 1 der Interamerikanischen Demokratie-Charta (IADC).14 Heute tendieren beide Formen der Völkerrechtsanforderungen dazu, sich gegenseitig in einem Maße zu verstärken, was sie größtenteils aus einer völkerrechtlichen Perspektive untrennbar macht.15 Angesichts dieser Entwicklungen in den positiven Rechtsgarantien des Menschenrechts auf Demokratie haben einige einen konzeptionellen Fehler beklagt und behauptet, die Menschenrechte würden in diesem Kontext als ein Stellvertreter für Legitimität oder, noch schlimmer, als eine Rechtfertigung für ein internationales Eingreifen eingesetzt, und nicht als moralische Vorschläge und damit als Grundlage für entsprechende moralische Verpflichtungen.16 Andere haben im Gegenteil dazu argumentiert, internationale Garantien des Menschenrechts auf demokratische Partizipation seien immer noch zu schwach und unzureichend explizit.17 Schließlich wird der Begriff »Demokratie« in keinem der wichtigsten internationalen Rechtsgarantien für ein Menschenrecht auf demokratische Partizipation benutzt (zum Beispiel Artikel 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UDHR), 25 ICCPR und 3 Protokoll 1 EMRK), obwohl er an anderen Stellen in diesen Rechtstexten genannt wird (zum Beispiel Artikel 29 UDHR und 14, 21 und 22 ICCPR). Selbst der Allgemeine Kommentar Nr. 25 von 1996 gibt keine detaillierten Informationen, wie eine demokratische Regierung aussehen sollte.18 Welche Antwort wir diesen Kritikern auch geben, es ist den meisten Kommentatoren klar geworden, dass die Frage nicht mehr länger lautet, ob es im Völkerrecht ein Menschenrecht auf Demokratie gibt, sondern ob es eines geben sollte und ob es anders ga-
—————— 13 Siehe Fox 2000; Steiner 2008. 14 Artikel 1 der Interamerikanischen Demokratie-Charta erklärt tatsächlich, dass die ›Völker des amerikanischen Kontinents das Recht auf Demokratie haben, und ihre Regierungen die Verpflichtung haben, dieses Recht zu fördern und zu verteidigen.‹ 15 Siehe Steiner 2008: 450 und 476. 16 Für diese Unterscheidung siehe Letsas 2007: 21–9; und J.L. Cohen 2008. Siehe auch Marks 2000: 40. 17 Siehe die Debatten in Fox/Roth 2000; Steiner 2008: 455–60. 18 Menschenrechtskommission, Allgemeiner Kommentar Das Recht zur Teilhabe an öffentlichen Angelegenheiten, Wahlrechte und das Recht auf gleichen Zugang zum öffentlichen Dienst (Art. 25), (Siebenundfünfzigste Sitzung, 1996), U.N. Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add.7 (1996), abgedruckt in englischer Sprache in Compilation of General Comments and General Recommendations Adopted by Human Rights Treaty Bodies, U.N. Doc. HRI/GEN/ 1/Rev.6 S. 168 (2003).
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rantiert und geschützt werden sollte. Mit anderen Worten, die Frage ist nicht mehr eine positive, sondern eine normative. Es gibt zwei Möglichkeiten, diese normative Frage zu verstehen: eine rechtliche und eine moralische. Die Frage, ob es einen Rechtsanspruch geben sollte, ist nicht dasselbe wie die Frage, ob es ein moralisches Recht auf Demokratie gibt. Natürlich hängen beide Fragen zusammen: Die Existenz eines moralischen Rechts auf X kann der Grund sein für die Anerkennung eines rechtlichen Rechts auf X. Allerdings sind die beiden Fragen nicht identisch und es ist wichtig, sich auf die Existenz eines moralischen Rechts auf Demokratie zu konzentrieren, wie ich es in diesem Kapitel mache. Zwei Erklärungen bieten sich diesbezüglich an. Erstens könnte es andere Gründe für die Anerkennung eines Rechtsanspruchs auf X geben als die Existenz eines moralischen Rechts auf X.19 Natürlich ist dies in Bezug auf Menschenrechte weniger wahrscheinlich, aber man darf diese Möglichkeit nicht ausschließen. Buchanan erwähnt mindestens zwei Gründe, einen internationalen Rechtsanspruch auf Demokratie anzuerkennen, die nicht von der Existenz eines moralischen Rechts auf Demokratie abhängen: einerseits den instrumentellen Wert der Demokratie für die Umsetzung anderer Menschenrechte und andererseits die Legitimation der Rolle der staatlichen Zustimmung im Völkerrecht als Zustimmung eines demokratischen Staates.20 In diesem Kapitel werde ich auf diese beiden Gründe nicht eingehen, außer dahingehend, dass sie zum Argument der Existenz eines moralischen Rechts auf Demokratie und zur Legalisierung eines solchen Rechts unabhängig vom moralischen Recht auf Demokratie beitragen. Zweitens liefern nicht alle moralischen Rechte auf X Gründe für die Anerkennung eines Rechtsanspruchs auf X. Dies gilt auch für Menschenrechte; man muss lediglich an das moralische Recht auf Gesundheit oder nicht arm zu sein und den Mangel an rechtlichen Entsprechungen denken (zumindest für eine sehr lange Zeit). Zahlreiche Gründe werden für die Legalisierung moralischer Rechte angeführt, so zum Beispiel Klarheit, Sicherheit oder Wirksamkeit.21 Zu beachten ist, dass diese Gründe sich dahingehend unterscheiden können, ob man an die nationale oder interna-
—————— 19 Siehe z.B. Raz 1984a: 1–21; Raz 1984b: 194–214. Siehe auch Besson 2005: 421–4. Natürlich sind die meisten rechtlichen Rechte auch moralische Rechte, aber Letztere müssen nicht vor Ersteren existieren und können durch rechtliche Mittel geschaffen werden. Siehe Abschnitt 4. 20 Buchanan 2004: 142 ff. 21 Siehe z.B. Alexy 1998; Besson 2005; 2006: 323–360; Tasioulas 2007: 75–101 und die Essays in Meckled-Garcia/Cali 2006.
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tionale Legalisierung von Menschenrechten denkt.22 Ich werde später noch auf den Übergang von einem moralischen Menschenrecht auf Demokratie zu einem internatio nalen Rechtsanspruch auf Demokratie eingehen. Die Mehrzahl der Autoren, die die Existenz eines Menschenrechts auf Demokratie diskutieren, liefern eine positive Antwort auf die Frage, ob es ein moralisches Recht auf Demokratie oder zumindest auf demokratische Partizipation gibt.23 Die meisten von ihnen assoziieren jedoch Menschenrechte und Demokratie und gehen dann schnell, manchmal zu schnell, von der Existenz einer Beziehung der beiden auf eine schwerwiegendere Behauptung über: die einer Existenz eines Menschenrechts auf Demokratie. Diese Schlussfolgerung muss jedoch sorgfältig untersucht werden. Meine Argumentation ist vierstufig, um die Existenz eines moralischen Menschenrechts auf Demokratie zu beurteilen. In einem ersten Schritt werde ich die zwei Begriffe der Gleichung definieren: Menschenrechte und Demokratie. Ich werde mich dann den zahlreichen Verbindungen zuwenden, die man zwischen den Menschenrechten und Demokratie identifizieren kann. In einem dritten Schritt werde ich die Gültigkeit der verschiedenen Argumente für die Existenz eines moralischen Rechts auf demokratische Partizipation besprechen, dieses Recht von anderen Rechten unterscheiden und auf die drei wichtigsten Kritikpunkte eingehen. Abschließend werde ich beurteilen, ob es auf nationaler oder internationaler Ebene einen Rechtsanspruch auf demokratische Partizipation geben sollte.
1. Menschenrechte und Demokratie 1.1 Moral, Menschenrechte und Demokratie Wie bereits erwähnt, wird sich die Antwort auf die in diesem Kapitel aufgeworfene Frage erheblich unterscheiden, abhängig davon, wie man ›Men-
—————— 22 Siehe Gardbaum 2008: 749–68; Buchanan/Powell 2008: 326–49. 23 Siehe z.B. Forst 2010; Griffin 2008 (wenn auch nur unter modernen Bedingungen); Menke 2005; Talbott 2005; Nickel 2005: 207 (wenn auch nur auf nationaler Ebene); Buchanan 2004; Gould 2004: 183; Beitz 2001; Sen 1999; Beetham 1999; Rawls 1999; Shue 1996. Die Ausnahme ist J.L. Cohen 2008: 579 und J. Cohen 2006, obwohl er für ein minimales Recht auf politische Mitgliedschaft zu argumentieren scheint. Dasselbe gilt für Beitz 2007.
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schenrechte‹ und ›Demokratie‹ definiert.24 Es ist daher unerlässlich, mit einer Definition dessen zu beginnen, was diese Konzepte im Kontext der Idee eines Menschenrechts auf Demokratie bedeuten. Es ist nicht die Absicht, eine umfassende Darstellung dieser zwei vor allem normativen und daher im Wesentlichen bestreitbaren Konzepte zu geben, sondern ausreichende Elemente darzulegen, um im Nachhinein ihre Beziehung aufzuzeigen. Bevor wir uns den zwei Begriffen und ihrer Beziehung zuwenden, ist es wichtig, beide Konzepte von zwei verbundenen, aber weit gefassten Konzepten der Moral zu unterscheiden: Gerechtigkeit und Legitimität. Während sowohl Demokratie als auch Menschenrechte Teile dessen sind, was den Wert von Gerechtigkeit ausmacht, sollte man sie nicht mit ihr gleichsetzen. Nicht weil Gerechtigkeit Demokratie erfordert oder weil Menschenrechte eine Forderung der Gerechtigkeit sind, gibt es ein Menschenrecht auf Demokratie.25 Auch impliziert die Tatsache, dass man Demokratie und Menschenrechte (einzeln oder zusammen) als wichtige Elemente der Legitimität einer institutionellen Struktur oder der internationalen Rechtsordnung betrachtet, nicht, dass es ein Menschenrecht auf Demokratie gibt. Und dies auch wenn die Anerkennung eines völkerrechtlichen Rechts auf Demokratie zur Stärkung der Legitimität des Völkerrechts beitragen kann.26 Im Folgenden werden die zwei Konzepte daher isoliert und getrennt voneinander und von anderen Konzepten der Moral definiert.
1.2 Menschenrechte Menschenrechte können als moralische Propositionen verstanden werden, und noch spezifischer als Propositionen, die moralische Pflichten begründen. Sie sind Teil der Moral, ebenso wie Gründe, Werte, Pflichten, Grundsätze oder Interessen. Sie sollten jedoch nicht mit den aufgelisteten Elementen gleichgesetzt oder als eine komplette Darstellung von Moral verstanden werden. Insbesondere sind Menschenrechte von Wert und können auf der Grundlage von Werten gerechtfertigt werden, sind aber selbst keine Werte.
—————— 24 Dies trifft auch für dieselbe Autorin zu (vergleiche J.L. Cohen 2008, die sich für eine politische Auffassung der Menschenrechte entscheidet, mit J.L. Cohen 1996, die bereit ist, ein moralisches Recht auf politische Mitgliedschaft zu verteidigen). 25 Siehe J. Cohen 2006. 26 Siehe Buchanan 2004: 142.
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Noch konkreter gesagt sind Menschenrechte moralische Rechte (i) einer besonderen Art, da sie grundlegende und universelle Interessen schützen (ii). Diese zwei Elemente werden nacheinander behandelt.27 Grundsätzlich existiert ein moralisches Recht, wenn ein Interesse als ausreichende Grundlage oder Grund betrachtet wird, einen anderen (den Verpflichteten) der Pflicht zu unterstellen, dieses Interesse gegenüber dem Inhaber dieses Rechts zu achten.28 Damit ein Recht anerkannt werden kann, muss ein ausreichendes Interesse etabliert und gegen andere Interessen abgewogen werden, mit denen es in einem gegebenen sozialen Kontext gegebenenfalls in Konflikt treten kann.29 Rechte sind laut dieser Auffassung Vermittler zwischen Interessen und Pflichten.30 Daraus folgt zunächst, dass ein Recht anerkannt und geschützt werden kann, bevor festgelegt wird, welche Pflichten mit diesem verbunden sind.31 Sobald eine Pflicht konkretisiert wird, steht sie in Wechselwirkung mit dem Recht, aber das Recht kann auch bestehen, ohne dass alle damit verbundenen Pflichten definiert werden. Das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten ist aus diesem Grund rechtfertigend, und nicht logisch.32 Ein Recht ist zweitens ein ausreichender Grund dafür, andere Menschen den Pflichten zu unterwerfen, die notwendig sind, um das Interesse zu schützen, und nicht in Bezug auf die Einzelheiten dieser Pflichten.33 Daraus folgt, dass ein Recht viele Pflichten und nicht nur eine Pflicht nach sich ziehen kann. Außerdem sind Rechte dynamischer Natur und damit können daraus folgende konkrete Pflichten auf einem Recht abhängig von den Umständen gründen.34 Im Ergebnis sind die Festlegung der auf ein Recht Verpflichteten und seine Inanspruchnahme keine Bedingungen für die Existenz eines moralischen Rechts.35 Wenden wir uns dem zweiten Element der Definition zu. Menschenrechte sind dahingehend moralische Rechte mit besonderer Intensität, dass die geschützten Interessen als grundlegende und universelle Interessen be-
—————— 27 Für eine detaillierte Darstellung der modifizierten interessenbasierten Theorie der Menschenrechte siehe Besson 2005; 2006. 28 Raz 1984b: 195. 29 Siehe Raz 1984b: 200, 209. 30 Siehe Raz 1984b: 208. 31 Siehe MacCormick 1977: 201. 32 Siehe MacCormick 1977: 199–202; Raz 1984b: 196, 200. 33 Siehe Waldron 1984: 10–11. 34 Siehe Raz 1984b: 197–199. 35 Siehe Tasioulas 2007.
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trachtet werden. Zu ihnen gehören Einzelinteressen, wenn diese Teil des Wohlbefindens einer Person in einem objektiven Sinne sind. Diese Person muss nicht davon überzeugt sein, dass ihre Interessen einen Schutz als Menschenrecht erfordern. Sie betreffen auch die Interessen der Anderen in der Gemeinschaft und in einigen Fällen sogar das Gemeinwohl.36 Diese externen Interessen können dazu beitragen, die Bedeutung eines Einzelinteresses zu stärken und die Anerkennung dieses Interesses als Menschenrecht rechtfertigen.37 Die grundlegende Natur der geschützten Interessen muss durch Verweis auf den Kontext und die Zeit und nicht ein für alle Mal bestimmt werden.38 Dies trifft insbesondere nicht nur aus Sicht des Wertepluralismus zu, sondern auch im Hinblick auf den gesellschaftlichen Pluralismus, da Menschenrechte eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen schützen können, deren konkrete Forderungen sich abhängig vom Kontext erheblich unterscheiden können.39 Was dazu führt, dass ein Einzelinteresse als ausreichend erachtet wird, eine universelle Pflicht zu schaffen, und dass, mit anderen Worten, die Schwelle zwischen bloßem Interesse und einem Menschenrecht überschritten wird, kann berechtigterweise im normativen Status dieses Individuums als gleichberechtigtes Mitglied der moralisch-politischen Gemeinschaft gefunden werden. Die Interessen dieser Personen verlangen dieselbe Achtung aufgrund ihres Status. Allerdings sind Menschenrechte nicht allein Folge des gleichberechtigten Status von Einzelpersonen, sondern auch eine Möglichkeit, diesen gleichberechtigten Status zu erlangen und diesen zu festigen. Ohne Menschenrechte würde die politische Gleichheit eine abstrakte Garantie bleiben; durch Menschenrechte werden Einzelpersonen Akteure ihrer eigenen Gleichheit. Menschenrechte sind Machtvermittler:40 Sie ermöglichen zum einen politische Gleichheit und bewahren zum anderen diese Gleichheit. Kurz gesagt, die vorgeschlagene Betrachtung und Rechtfertigung der Menschenrechte folgt einer modifizierten interessenbasierten Theorie, modifiziert durch den Verweis auf Erwägungen des moralisch-politischen Status in einer gegebenen Gemeinschaft.41 Bei einem rein statusbasierten
—————— 36 37 38 39 40 41
Siehe Raz 1992: 127, 135. Siehe Nickel 2005. Siehe Tasioulas 2002: 79–100; Tasioulas 2010b. Contra: Griffin 2001: 306. Siehe Tasioulas 2010b. Für die Originalidee der Vermittlungspflichten siehe Shue 1988: 687–704, 703. Siehe Besson 2005; 2006. Siehe für ähnliche Versuche Buchanan 2010a; und Tasioulas 2009 und 2010a.
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oder interessenbasierten Modell würde der manichäische Gegensatz zwischen Individuum und Gruppe und zwischen privater und öffentlicher Autonomie zu nicht zu rechtfertigenden Schlussfolgerungen führen.42 Konkreter ausgedrückt ist die vorgeschlagene Betrachtung im Hinblick auf die unabhängige Rechtfertigung, die sie für Menschenrechte anführt, moralisch, und im Hinblick auf die Funktion, mit denen sie diese als Schutzschild gegen den Staat und als Garantien der politischen Integration ausgestattet sieht, politisch. Im Hinblick auf die Rechtfertigung unterscheidet sich die moralisch-politische Dimension sowohl von den Darstellungen, die auf einer rein ethischen Begründung der Menschenrechte basieren,43 als auch von Darstellungen, die sich um eine politische Form einer minimalistischen Rechtfertigung der Menschenrechte bemühen.44 Und im Hinblick auf diese Funktion der Menschenrechte kann sie ihre politische Rolle retten, ohne ihre moralische Rechtfertigung zu verwässern.45 Basierend auf dieser Darstellung der moralischen Menschenrechte kann man nützliche Erkenntnisse über rechtliche Menschenrechte erlangen. Rechtliche (Menschen-) Rechte sind rechtliche Propositionen und Quellen rechtlicher Pflichten. Konkreter ausgedrückt, Rechtsansprüche sind rechtlich geschützte moralische Interessen.46 Daraus folgt, dass rechtliche Rechte auch als moralische Rechte betrachtet werden können. Natürlich sind nicht alle moralischen Rechte rechtlich anerkannt und sie sollen es auch nicht. Es kann daher moralische Rechte geben, die nicht zu Rechtsansprüchen führen. Rechte sollten daher nicht, wie bei Feinbergs Argument, notwendigerweise als ›mit Rechtsansprüchen verbundene moralische Rechte‹ verstanden werden.47 Das Recht sichert nicht immer einen besseren Schutz der durch Rechte geschützten Interessen als andere Mittel.48 Andererseits bedeutet dies auch nicht, dass rechtliche Rechte notwendigerweise immer im Vorfeld als unabhängige moralische Rechte existieren.
—————— 42 43 44 45
Siehe Tasioulas, die in Fußnote 41 enthaltene Kritik an Griffin 2008 (z.B. 249). Siehe Tasioulas 2002; Griffin 2008. Siehe Raz 2010; Rawls 1999. Siehe auch Beitz 2007; J.L. Cohen 2008; J. Cohen 2006. Dies kommt Forst 2010 sehr nahe; und Forst 2007 in dieser Hinsicht, unterscheidet sich aber doch, weil Forsts Darstellung auf einem rückwirkenden Recht auf politische Rechtfertigung basiert und damit auf politischer Gleichheit, wohingegen die vorliegende Darstellung auf politischer Gleichheit und deren Vermittlung durch Menschenrechte basiert. 46 Raz 1984a: 12. 47 Siehe z.B. Feinberg 2003. Siehe im Fall der Menschenrechte Alexy 1998; Habermas 1998. 48 Siehe z.B. Tasioulas 2007; Waldron 1999.
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Einige sind rechtlich anerkannte moralische Rechte, aber andere sind rechtlich geschaffene moralische Rechte.49 In einigen Fällen kann die Politik die Interessen eines Menschen ändern und damit in gewissem Sinne das moralische Interesse und seine moralisch-politische Bedeutung schaffen, die Grundlage des Rechts sind.
1.3 Demokratie Demokratie kann als abstrakter Wert einer politischen Moral verstanden werden. Demokratie stützt sich auf das Prinzip der grundlegenden moralischen Gleichheit und der gleichen moralischen Berücksichtigung oder Achtung. Gemäß dem korrespondierenden Prinzip der politischen Gleichheit haben alle Menschen aufgrund ihres gleichen Status Anspruch auf gleiche Partizipation an den wichtigsten politischen Entscheidungen, die sie betreffen.50 Durch Verweis auf die politische Gleichheit ist Demokratie das politische Regime, die Regierungsform oder das Verfahren der kollektiven Entscheidungsfindung, in dessen/deren Rahmen alle, deren grundlegenden Interessen betroffen sind, am Entscheidungsprozess beteiligt werden und gleichen Anspruch auf Mitwirkung an Entscheidungen haben (direkt oder indirekt), die sie betreffen.51 Nach Buchanan gibt es drei konstituierende Elemente der demokratischen Regierungsform: (i) es gibt repräsentative Mehrheitsinstitutionen für die Schaffung der allgemeinen und wichtigsten Gesetze, auf eine Weise, die keine geeignete Person von der Partizipation ausschließt; (ii) die höchsten Regierungsbeamten sind dem Volk rechenschaftspflichtig, indem sie durch das Handeln dieser Repräsentanten aus dem Amt entfernt werden können; und (iii) es gibt ein Mindestmaß einer institutionell gesicherten Meinungsfreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsrecht, die für eine angemessene freie Erörterung politischer Entscheidungen und für die Gestaltung und das Funktionieren politischer Parteien notwendig sind.52 Letzteres wird in der Regel durch Menschenrechte geschützt, die der demokratischen Macht interne Beschränkungen auferlegen, aber auch ihre interne Zugkraft sind.
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Siehe Raz 1984b: 16–17. Siehe Buchanan 2004: 143, 145–7; Christiano 2006: 81–107. Siehe Besson 2005 mit weiteren Verweisen. Siehe Buchanan 2004: 146.
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Diese Beschränkungen und die Zugkraft gründen auf demselben Prinzip wie die Demokratie: der grundlegenden politischen Gleichheit.53
2. Zum Verhältnis von Menschenrechten und Demokratie 2.1 Moralische Interdependenzen Als moralische Einheiten unterschiedlicher Art können Menschenrechte und Demokratie in vielfältiger Beziehung zueinander stehen. Und dies kann auch unabhängig von der Existenz eines Menschenrechts auf Demokratie zutreffen. Viele Autoren leiten die Existenz eines Menschenrechts auf Demokratie aus einer dieser Beziehungen ab.54 Meist geschieht dies jedoch ohne klare Unterscheidung zwischen dem Menschenrecht auf Demokratie und der Demokratie als intrinsisch oder instrumentell wertvolles Instrument für die Umsetzung der Menschenrechte.55 Aus diesem Grund ist es wichtig, zu verdeutlichen, welche Beziehungen existieren, bevor man in einem dritten Abschnitt untersuchen kann, ob diese Beziehungen ein Menschenrecht auf Demokratie begründen können oder ob, unabhängig von einer dieser Beziehungen, ein solches Recht anerkannt werden kann. Beziehungen zwischen Menschenrechten und Demokratie können entweder als instrumentell oder intrinsisch beschrieben werden, abhängig davon, ob Demokratie instrumentell mit dem Schutz der Menschenrechte verbunden ist oder ob sie enger voneinander abhängen. Beide Beziehungen sind kompatibel und Demokratie kann sowohl instrumentell als auch intrinsisch mit den Menschenrechten verbunden sein. Natürlich wäre, sobald man die Existenz eines moralischen Menschenrechts auf Demokratie anerkennt, eine andere Frage, ob dieses Recht an sich instrumentell oder intrinsisch mit anderen Menschenrechten verbunden ist, und insbesondere ob es
—————— 53 Christiano 2006: 90. 54 Siehe z.B. Griffin 2008; Talbott 2005; Beitz 2001 und 2007; Sen 1999. 55 Shue 1996 bildet eine Ausnahme, da in seiner Darstellung des Menschenrechts auf Demokratie die Grundrechte als Rechte definiert sind, deren Anerkennung notwendig ist (wenn auch nicht notwendigerweise ausreichend), um andere Menschenrechte zu achten. Natürlich betrifft sein Argument die grundlegende Natur des Menschenrechts auf Demokratie und nicht so sehr die eigentliche Natur dieses Rechts. Zu Shues ›Grundrechten‹ siehe die neusten Essays in Beitz/Goodin 2009.
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in dieser Hinsicht ein grundlegenderes Recht ist.56 Allerdings werden wir sehen, dass seine Verbindung zu anderen Rechten keine Grundlage für das Recht an sich liefern kann; es kann seine Rechtfertigung stärken, indem es weitere Gründe für das Recht oder dessen Umsetzung liefert, kann aber das Recht selbst nicht begründen.57 Meist deckt die Beziehung, sei sie intrinsisch oder instrumentell, zwischen den Menschenrechten und Demokratie die Priorität auf, die die einen über die andere haben. Außerdem muss man betonen, dass die instrumentelle oder intrinsische Beziehung zwischen den Menschenrechten und der Demokratie nicht verhindert, dass sie in bestimmten Fällen in Konflikt geraten und dass daher im Voraus Prioritäten gesetzt oder im Nachhinein eine Gewichtung oder ein Ausgleich vorgenommen werden müssen. Selbst bei Fehlen einer instrumentellen oder intrinsischen Beziehung zwischen Menschenrechten und Demokratie können diese beiden Formen der moralischen Erwägungen in Konflikt geraten und müssen gewichtet werden.58 Anders als bei einem Konflikt zwischen zwei Werten oder einem Konflikt zwischen zwei Rechten oder Pflichten, muss dieser Konflikt zwischen Gründen und Werten durch Verweis auf andere Standards der Verhältnismäßigkeit gelöst werden, wenn dies überhaupt möglich ist. Man kann sich natürlich vorstellen, Menschenrechte und Demokratie durch Verweis auf die Werte zu gewichten, die manche Menschenrechte begründen, seien es jene, die auch die Demokratie begründen, wie im Fall der politischen Gleichheit, oder seien sie vollkommen unterschiedlich und vielschichtig – wie dies fast meistens der Fall ist.
—————— 56 Der Umfang der Arbeit schließt eine Behandlung dieser Frage aus, insbesondere ob das Menschenrecht auf Demokratie im Konfliktfall als höher eingestuft werden sollte als andere Menschenrechte. Zu den zahlreichen interdependenten Beziehungen und der Unteilbarkeit der Menschenrechte siehe Nickel 2008: 984 – 1001. Ich neige dazu, der Korrelation von Nickel zuzustimmen, die er zwischen der größeren Implementierung der Menschenrechte und ihrer Unteilbarkeit sieht. Dies bedeutet, dass es falsch wäre, ein Entwicklungsland mit der Unteilbarkeit und der vollen Umsetzung des Menschenrechts auf Demokratie zu belasten, bevor das Menschenrecht auf Grundversorgung verwirklicht wurde. 57 Siehe auch Nickel 2008: 999. 58 Es besteht kein Bedarf, den berühmten Gegensatz der liberalen Kritik an der Demokratie, basierend auf den Menschenrechten, und der demokratischen Kritik der Menschenrechte, basierend auf der Gemeinschaft, zu wiederholen. Siehe zu diesem Gegensatz Menke/Pollman 2007.
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2.2 Die instrumentelle Beziehung Es gibt zahlreiche Ausdrucksmöglichkeiten für die instrumentelle Beziehung zwischen Demokratie und Menschenrechten. Was diesen unterschiedlichen Ansätzen jedoch gemein ist, ist die Tatsache, dass sie die jeweils eine als instrumentellen Wert für die andere erachten. In diesem Sinne wird gesagt, dass die Demokratie einen instrumentellen Wert für den Schutz bestimmter oder der meisten Menschenrechte hat, da man ihr nachsagt, ihre Verwirklichung zu fördern und ihre Wirksamkeit in der Praxis zu stärken.59 Belege dafür wurden von Sen gesammelt, der nachweist, dass Verstöße gegen das Recht auf Ressourcen für die Grundversorgung, aber auch andere Menschenrechte verhindert werden, wenn Regierungen demokratisch sind.60 Als ein weiteres Beispiel aus der Politikwissenschaft könnte man das Argument des ›demokratischen Friedens‹ anführen, nach dem Demokratien dazu neigen, keinen Krieg gegeneinander zu führen und dadurch weniger Verstöße gegen die Menschenrechte auftreten, die mit Kriegen verbunden sind. Man darf nicht unerwähnt lassen, dass die Demokratie nicht effektiv sein und ihre Auswirkung auf die Menschenrechte nicht bestätigt sein muss, um den instrumentellen Wert der Demokratie anzuerkennen.61 Auch das umgekehrte Argument wird angeführt, da man behaupten kann, die Menschenrechte trügen zur Verwirklichung der demokratischen Bedingungen der Regierungsform bei. Dies trifft eindeutig im Fall der politischen Rechte zu, wie zum Beispiel Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsrecht oder das Wahlrecht.62 Obwohl beide wahr sein könnten, ist es auch möglich, den instrumentellen Wert der Demokratie für die Menschenrechte zu erwägen, ohne dem Gegenteil zuzustimmen. Die meisten Autoren erkennen jedoch generell den Beitrag der Menschenrechte zur Demokratie an.63 Wenn dies der Fall ist, kann man die instrumentelle Beziehung als wechselseitig oder in beide Richtungen laufend betrachten.
—————— 59 Siehe z.B. Griffin 2008; Talbott 2005; Buchanan 2004; Beitz 2001; 2007; Sen 1999. 60 Siehe Sen 1999; Sen 2001: 3. Siehe auch Talbott 2005 und eine Diskussion der Belege bei Beitz 2007. 61 Siehe Shue 1996: 74 – 8. Contra: Beitz 2007: 101–2, der argumentiert, es gebe einen Mangel an Belegen. 62 Siehe z.B. Christiano 2006: 90. 63 Siehe Griffin 2008; Steiner 2008: 460–3.
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2.3 Die intrinsische Beziehung Alternativ oder zusätzlich kann man von Menschenrechten und Demokratie sagen, sie ständen in einem Verhältnis der Bedingtheit, Notwendigkeit oder Forderung.64 Demokratie kann als eine Forderung nach Menschenrechten und damit als eine Bedingung oder ein Grund für letztere betrachtet werden. Bei diesem Ansatz ist die Tatsache, bestimmen zu können, was uns beeinflusst, das heißt was Demokratie garantiert, ein wesentlicher Teil dessen, was Menschenrechte bedeuten.65 Demokratie wird in der Regel als eine notwendige Bedingung, wenn auch keine ausreichende betrachtet.66 Tatsächlich werden andere Bedingungen häufig als notwendig erachtet, damit die Demokratie wirksam sein und so ihr Einfluss auf die Menschenrechte vollständig verwirklicht werden kann. Das Gegenteil, das heißt die Forderung der Menschenrechte nach Demokratie, kann ebenfalls vertreten werden, wenn auch nicht zwangsläufig. Diese wird jedoch in der Regel weniger bestritten.67 Man kann sich kaum eine funktionierende Demokratie ohne die Garantien der Meinungsfreiheit, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit oder das Wahlrecht vorstellen. Obwohl es möglich ist, dass Menschenrechte intrinsisch mit Demokratie verbunden sind, ohne dass das Gegenteil wahr sein muss, oder umgekehrt, wenn beide miteinander auf diese Weise verbunden sind, werden sie als untrennbar betrachtet.68 Es kann jedoch Fälle geben, bei denen die Beziehung zwischen beiden bidirektional und damit gegenseitig ist, aber wo sie nicht auf beiden Seiten intrinsisch ist, sondern intrinsisch und instrumentell; kann man zum Beispiel argumentieren, dass die Menschenrechte für die Demokratie unverzichtbar sind und dass, obwohl die Verwirklichung der Menschenrechte durch die Demokratie gefördert wird, diese nicht völlig abhängig von ihr sind. In einem solchen Fall kann man eher von einer abgeschwächten Form der Interdependenz sprechen als von Unteilbarkeit.
—————— 64 Die Terminologie variiert: siehe Griffin 2008 (›Forderung‹); Gould 2004 (›Verknüpfung‹); Böckenförde 1998 (›Forderung‹); Shue 1996 (›Notwendigkeit‹); Beetham 1999 (›intrinsische Beziehung‹). 65 Siehe Waldron 1999. 66 Siehe z.B. Shue 1996; Gould 2004. 67 Siehe Griffin 2008; Crawford 2000. 68 Siehe Nickel 2008: 988–91 mutatis mutandis im Kontext der Beziehung ›ein Menschenrecht auf Menschenrecht‹.
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Die intrinsische Beziehung zwischen Menschenrechten und Demokratie, sofern sie gegenseitig ist, wird auch manchmal als gemeinsame Ursprünglichkeit bezeichnet.69 Gemeinsame Ursprünglichkeit impliziert etwas Stärkeres als Untrennbarkeit: Menschenrechte und Demokratie bedingen sich nicht nur gegenseitig in ihrer jeweiligen Verwirklichung, sondern sie stützen sich auch gegenseitig. Dies kann per se der Fall sein. Meist entstammt jedoch die gemeinsame Ursprünglichkeit der Tatsache, dass sie in Bezug auf einen dritten Wert gründen oder gerechtfertigt werden, zum Beispiel auf moralischer Gleichheit,70 Autonomie oder dem fundamentalsten moralischen Recht: das Recht auf Rechtfertigung.71 Ihre gemeinsame Ursprünglichkeit kann sogar der Tatsache entspringen, dass sie in zwei weiteren Werten begründet sind, die selbst gemeinsam ursprünglich sind, zum Beispiel private und öffentliche Autonomie.72
3. Das Menschenrecht auf Demokratie 3.1 Rechtfertigung des Menschenrechts auf Demokratie Viele Autoren leiten die Existenz eines Menschenrechts auf Demokratie aus der instrumentellen und/oder intrinsischen Beziehung zwischen Menschenrechten und Demokratie ab.73 Häufig tun sie dies jedoch, ohne klar zwischen einem Menschenecht auf X und einem X zu unterscheiden, das intrinsisch oder instrumentell wertvoll ist für die Verwirklichung anderer Menschenrechte.74 Es ist eindeutig mehr erforderlich, um ein Menschenrecht anzuerkennen. Und auch das Gegenteil trifft zu: Ein Menschenrecht auf Demokratie kann anerkannt werden, ohne dass es generell eine instrumentelle oder intrinsische Beziehung zwischen Menschenrechten und Demokratie gibt. Aus diesem Grund gibt es ein Menschenrecht auf Privat-
—————— 69 70 71 72 73 74
Siehe Habermas 1998: Kap. 3; Wellmer 1998: 265–91; Beetham 1999. Siehe z.B. Christiano 2006; Buchanan 2004; Gosepath 2004. Siehe z.B. Forst 2010. Siehe z.B. Habermas 1998: Kap. 3. Siehe z.B. Griffin 2008; 242, 247; Talbott 2005; Beitz 2001; 2007; Sen 1999. Shue 1996 bildet eine Ausnahme, da in seiner Darstellung des Menschenrechts auf Demokratie die Grundrechte als Rechte definiert sind, deren Anerkennung notwendig ist (wenn auch nicht notwendigerweise ausreichend), um andere Menschenrechte zu achten.
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sphäre, ohne dass die Privatsphäre eine instrumentelle oder intrinsische Beziehung zu Menschenrechten hätte. Im Folgenden werde ich die drei Arten der moralischen Argumente für das Menschenrecht auf Demokratie behandeln. Ich möchte untersuchen, wie man zunächst von dem Gedanken, die Demokratie sei intrinsisch von Wert, unabhängig davon, ob sie intrinsisch mit anderen Menschenrechten verbunden ist, zu einem Recht auf Demokratie gelangt, und zweitens, ob das Recht auf Demokratie für andere Menschenrechte instrumentell von Wert ist. Ein drittes Argument, das ich gerne behandeln möchte, ist, dass das Menschenrecht auf Demokratie das primäre moralische Recht ist, das sowohl den Menschenrechten als auch der Demokratie zugrunde liegt. Bei der Beurteilung dieser Argumente werde ich auch beurteilen, inwieweit sie zur bereits vorgestellten überarbeiteten interessenbasierten Darstellung der Menschenrechte passen und wie sie in Folge dazu beitragen können, ein Menschenrecht auf demokratische Partizipation in diesem Kontext zu rechtfertigen. 3.1.1 Menschenrechte und Werte: Die intrinsische Rechtfertigung Die erste Frage, die man stellen kann, bezieht sich auf die Beziehung zwischen Werten und Menschenrechten. Wie kann ein wertvolles Interesse oder sogar ein Wert an sich rechtfertigen, einen Anderen in die Pflicht zu nehmen und ein Recht anzuerkennen? Wie kann die Tatsache, dass Demokratie ein Wert und demokratische Partizipation ein wertvolles Interesse ist, dazu beitragen, die Existenz eines Menschenrechts auf Demokratie zu rechtfertigen? Angesichts der bereits erwähnten Definition von Menschenrechten wird deutlich, dass es stricto sensu kein Menschenrecht auf Demokratie geben kann: Es kann kein Recht auf einen Wert geben und Demokratie ist ein solcher Wert. Ein Wert kann ein Recht rechtfertigen oder zumindest erklären, warum ein Recht in Bezug auf bestimmte Interessen existiert, die als ausreichend wichtig erachtet werden, um eine Pflicht zu begründen. Allerdings würde die Forderung, es gäbe ein Recht auf einen Wert, einfach die normative Ordnung auf den Kopf stellen. Die Aussage »ein Menschenrecht auf Demokratie« kann damit nur als Kurzformel für ein Menschenrecht auf ein bestimmtes demokratisches Interesse sein. So könnte es zum Beispiel ein Recht auf demokratische Institutionen oder auf demokratische Partizipation oder Regierungsform
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geben. Ebenso qualifizieren auch Autoren, die über das Menschenrecht auf Demokratie schreiben, dieses Recht.75 Und hier vereinen sie sich auch mit dem Großteil der politischen Theoretiker, die Demokratie als potenziellen Inhalt der Menschenrechte erwägen,76 im Gegensatz zu einem Instrument oder einer Grundlage der Menschenrechte.77 Diese Neubewertung des Menschenrechts auf Demokratie verdeutlicht auch, dass die Demokratie ein eigener und autonomer Wert und Grundsatz bleibt, der zur Kritik benutzt werden kann oder um eine vielfältigere normative Richtlinie für die Interpretation des Rechts auf demokratische Partizipation zu liefern.78 Selbst wenn man es neu bewertet, wie vorgeschlagen, kann das Menschenrecht auf Demokratie nur dann als Menschenrecht existieren, wenn man sagen kann, es schützt ein grundlegendes Interesse, das ausreichend ist, um die Schaffung einer Pflicht für eine andere Person zu rechtfertigen. Nicht alle objektiven Interessen rechtfertigen die Schaffung von Pflichten. Natürlich muss ihre Fähigkeit, dies zu tun, nicht notwendigerweise davon abhängen, dass sie durch Verweis auf einen moralischen Wert, wie grundlegend auch immer, gerechtfertigt werden. Geschieht dies aber, kann dies eine wichtige Rechtfertigung sein. Dies ist der Fall, so argumentieren einige Autoren, bei der Rechtfertigung des Interesses auf demokratische Partizipation, die auf politischer Gleichheit gründet,79 oder alternativ in der Autonomie80 oder Fairness81. Angesichts der bereits vorgestellten modifizierten interessenbasierten Darstellung und der Rolle der politischen Gleichheit als Grenzkriterien für diese Darstellung, aber auch angesichts des Interesses an Demokratie Dritter und der sozialen Leistungen der Demokratie allgemein,82 wird deutlich, dass das Interesse an demokratischer Partizipation eines der grundlegendsten Interessen ist, die man als Menschenrecht auf eine Demokratie anerkennen sollte. Das Menschenrecht auf demokratische Partizipation
—————— 75 Siehe z.B. Buchanan 2004; J. Cohen 2006; Griffin 2008: 242. 76 Siehe z.B. Dworkin 2000: 185. 77 Ich bitte zu beachten, dass Menke/Pollman 2007 diese drei Ansätze für die Beziehung zwischen Menschenrechten und Demokratie nennen und diese als Konkurrenten betrachten, während ich den ersten als Folge der zwei letzteren sehe. 78 Dies beschwichtigt die Kritik am ›Recht‹ auf Demokratie als im Gegensatz stehend zum ›Grundsatz‹ der Demokratie, die von Marks erhoben wird (2000: 109). 79 Siehe z.B. Buchanan 2004: 143. 80 Siehe z.B. Gould 2004 (›Freiheit‹). Contra: Griffin 2008. 81 Contra Beitz 2007. 82 Siehe Nickel 2005.
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macht Individuen zu Akteuren und Beschützern der eigenen Gleichheit, die der ultimative Wert für die politische Selbstbestimmung ist. 3.1.2 Menschenrechte und Grundrechte: Die instrumentelle Rechtfertigung Da die demokratische Partizipation als instrumentell wertvoll für die Nutzung der Menschenrechte ist, haben einige Autoren argumentiert, dies mache sie zu einem Menschenrecht, wenn auch einer besonderen Art: der instrumentellen Art. Damit verweisen sie auf eine Qualität, die man als konstituierend für eine besondere Art der Menschenrechte hält: die Grundrechte. Shues Argument zu den Grundrechten ist die bekannteste Version dieses Arguments. Er betrachtet Grundrechte, wie zum Beispiel das Recht auf politische Partizipation, als Rechte, deren Ausübung wesentlich für die Ausübung aller anderen Menschenrechte ist, ungeachtet des intrinsischen Werts ihrer eigenen Ausübung.83 Diese Art der instrumentellen Rechtfertigung der Menschenrechte passt nicht zu der bereits erwähnten Darstellung der Menschenrechte, zumindest nicht auf den ersten Blick. Die Rechtfertigung des fundamentalen Interesses, das durch ein Menschenrecht geschützt wird, ist nicht instrumentell, sondern intrinsisch. Es gibt jedoch, neben dem direkten Verweis auf das fundamentale Interesse, das geschützt wird, und auf seine intrinsische Rechtfertigung durch Verweis auf die politische Gleichheit, eine ergänzende Methode, um das Menschenrecht auf demokratische Partizipation zu rechtfertigen. Der normative Status eines Individuums in einer bestimmten Gemeinschaft, und insbesondere seine grundlegende Gleichheit, wurde bereits als Schwelle der Rechtfertigung in der modifizierten interessenbasierten Darstellung der Menschenrechte beschworen. Im Hinblick auf das Menschenrecht auf demokratische Partizipation dient die grundlegende politische Gleichheit als eine Schwelle der Rechtfertigung84 und stellt den Beitrag zum Status in der Rechtfertigung des Menschenrechts auf Demokratie dar. Wenn es ein Recht gibt, das zur politischen Gleichheit und zum gleichen Status und damit indirekt zu allen Menschenrechten beiträgt, dann ist dies das Recht auf demokratische Partizipation. Eine instrumentelle Rechtfertigung dieses Rechts kann damit zusätzlich zu seiner intrinsischen Rechtfertigung gegeben werden, und man möchte argumentieren, aber dies muss an anderer Stelle erörtert werden, dass es
—————— 83 Shue 1996: 67. 84 Siehe auch Buchanan 2010a für einen ähnlichen Ansatz.
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dies ist, was es zu einem grundlegenden Menschenrecht macht. Aber diese instrumentelle oder unterstützende Beziehung und die weiteren Gründe, die sie für das Recht liefert, reichen in keinem Fall aus, um das Recht auf demokratische Partizipation ursprünglich zu rechtfertigen. 3.1.3 Menschenrechte und das Recht, Rechte zu haben: die rechtsbasierte Rechtfertigung Ein dritter Ansatz, den man identifizieren kann, ist einer, der Arendts Recht, Rechte zu haben, als einziges zu verteidigendes Menschenrecht wiedergibt.85 Für Arendt ergeben Rechte nur in einer konkreten politischen Gemeinschaft und im Hinblick auf die Bürger dieser Gemeinschaft einen Sinn. Das einzige Menschenrecht, das außerhalb einer solchen politischen Gemeinschaft garantiert wird, ist das Recht, ein Bürger eines Gemeinwesens zu sein und somit das Recht auf politische Zugehörigkeit. Autoren, wie zum Beispiel Forst und Cohen, haben kürzlich diese Idee des Grundrechts auf politische Zugehörigkeit überprüft.86 Forst begründet eindeutig sowohl Demokratie als auch Menschenrechte auf einem einzigen grundlegenden moralischen Recht: dem Recht auf Rechtfertigung. Wenn das Recht auf Rechtfertigung als Quelle von Demokratie und Menschenrechten betrachtet wird, bedarf es keines weiteren Arguments, um von diesem Recht zum Recht auf Demokratie zu kommen, das eine Konkretisierung desselben ist. Während Forst tatsächlich explizit auf dieses Grundrecht auf Rechtfertigung als ein Recht auf Demokratie verweist, ist Cohen vorsichtiger im Hinblick auf den Gebrauch des Konzepts der moralischen Rechte in diesem Kontext.87 Auch wenn man Arendts Intuition teilt, zumindest aus Sicht des effektiven Schutzes der Menschenrechte im nationalen Kontext, kann das Recht auf politische Zugehörigkeit wie jedes andere Menschenrecht nach dem Vorbild des bereits diskutierten Sachverhalts gerechtfertigt werden, insbesondere auf der Grundlage der politischen Gleichheit, ohne dass man die-
—————— 85 Siehe Menke 2005; Arendt 1951. 86 Siehe Forst 2010; J.L. Cohen 2008. 87 Dies trifft auf J.L. Cohen 2008 zu, die ausdrücklich eine politische Darstellung der Menschenrechte vertritt und gegen das Recht auf Demokratie argumentiert. Im Gegensatz dazu argumentiert J. Cohen 2006 offen für ein solches universelles moralisches Recht. Dasselbe kann man über J. Cohen 2006 sagen, der sich jedoch nicht zwischen einer moralisch fundierten Darstellung der Menschenrechte und einer rein politischen entscheidet (siehe die Kritik von Forst 2010).
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ses Recht als ein grundlegendes Menschenrecht, das vor den anderen Rechten steht, und als gemeinsamen moralischen Boden für Menschenrechte und Demokratie betrachten muss. Die tatsächliche Frage ist, ob dieses Recht auf politische Zugehörigkeit so etwas wie ein Recht auf demokratische Zugehörigkeit und Partizipation implizieren kann,88 und dieser Frage wende ich mich jetzt zu.
3.2 Abgrenzung des Menschenrechts auf Demokratie Vorausgesetzt, eine Rechtfertigung des Menschenrechts auf demokratische Partizipation wird gegeben, sei es durch politische Gleichheit oder Autonomie oder durch ein gerechtfertigtes Interesse oder einen normativen Status, ist es unerlässlich, dieses Recht von verbundenen, aber dennoch separaten moralischen Erwägungen und Ansprüchen zu unterscheiden. Da diese konkreten moralischen Ansprüche oftmals gegen das Menschenrecht auf Demokratie benutzt werden, ist es wichtig, sie klar voneinander zu trennen. Es gibt mindestens zwei, die ich in diesem Kapitel unterscheiden möchte: zum einen das Menschenrecht auf Selbstbestimmung und zum zweiten das Recht auf die Institutionalisierung der eigenen Menschenrechte. Beide Rechte sind mit dem Menschenrecht auf Demokratie verbunden, sollten aber nicht mit ihm gleichgesetzt werden. Das Recht auf kollektive Selbstbestimmung ist vor allem das Recht auf politische Autonomie. Es schließt nicht grundsätzlich das Recht für ein bestimmtes Volk ein, einen unabhängigen Staat zu gründen, sondern lediglich, sich selbst autonom als politische Gemeinschaft innerhalb eines bestimmten Staates zu organisieren.89 Es unterscheidet sich daher vom Recht auf demokratische Partizipation auf zweierlei Weise: Es ist ein kollektives Recht,90 wohingegen das Recht auf demokratische Partizipation individuell ausgeübt werden kann, auch wenn es darüber hinaus auch kollektive Interessen schützt; und es nimmt nicht die demokratische Natur des politi-
—————— 88 J. Cohen 2006 sieht dieses Recht auf politische Zugehörigkeit als das Höchste, was wir universell rechtfertigen können. Ich werde argumentieren, dass die gegenseitige Rechtfertigung des moralischen Rechts auf Demokratie nicht als eine Forderung für seine Legitimität betrachtet werden sollte und somit das Fehlen derselben als eine Infragestellung seiner Rechtfertigung. 89 Siehe Christiano 2006. 90 Über die Existenz und die Rechtfertigung dieser Rechte siehe Buchanan 2004: 408–15.
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schen Regimes an, das verabschiedet wird, sobald sich das Volk autonom organisieren kann. Es stimmt, dass das Recht auf Selbstbestimmung als Teil des Rechts auf Demokratie betrachtet werden kann: Demokratie schließt politische Autonomie ein.91 Aber das Umgekehrte trifft nicht zu oder zumindest nicht zwingend. Natürlich hat die Existenz des Rechts der Selbstbestimmung, da die volle politische Autonomie politische Gleichheit, Integration und gleiches Mitspracherecht beinhaltet, das Potenzial, zur Entwicklung eines Rechts auf demokratische Partizipation zu führen, und man kann sogar argumentieren, dass es dieses Recht als Anspruch in sich trägt.92 Eine zweite Abgrenzung ist vonnöten, nicht so sehr auf konkreter Ebene des Objekts des Rechts, sondern in Bezug auf die Pflichten, die es nach sich ziehen kann. Es ist wichtig, zwischen den positiven Pflichten der Institutionalisierung und Verfahrensgebung zu unterscheiden, die Teil eines jeden Menschenrechts sind, seien sie demokratisch in einer Demokratie, erwachsend aus einem tatsächlichen Menschenrecht auf demokratische Institutionen und der entsprechenden Pflicht, diese Institutionen bereitzustellen. Das erste trifft auf alle Menschenrechte zu. Darüber hinaus, selbst wenn es auch positive Pflichten dieser Art gibt, die dem Menschenrecht auf Demokratie entwachsen,93 sind diese Pflichten abgeleitet und sind nicht mit den Interessen gleichzusetzen, die den Kern der Rechtfertigung für dieses Recht bilden.94 Schließlich ist das Menschenrecht auf demokratische Institutionen ein Recht auf Zugang zu demokratischen Institutionen und auf die Teilnahme an diesen, und nicht ein Recht, dass diese Institutionen einfach existieren. Ein solches Menschenrecht kann es nicht geben.
3.3 Verteidigung des Menschenrechts auf Demokratie Drei wichtige Kritikpunkte werden in der Regel gegen die Existenz eines Menschenrechts auf Demokratie vorgebracht: erstens seine ungerechtfertigten Folgen im Hinblick auf die Durchsetzung; zweitens seine Inkompatibilität mit dem Grundsatz der gleichen Souveränität; und schließlich seine
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Siehe Beitz 2007: 103. Siehe Forst 2010. Siehe Buchanan 2004: 142 ff. Beide Elemente werden bei Alexy 1998 miteinander verschmolzen.
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Undurchlässigkeit im Hinblick auf kulturelle Vielfalt. Alle drei Kritikpunkte hängen zusammen, aber ich werde sie als mutmaßlich separate Herausforderungen des Menschenrechts auf Demokratie behandeln, um Klarheit bei der Diskussion zu schaffen. 3.3.1 Durchsetzung und das Menschenrecht auf Demokratie Das Recht auf demokratische Partizipation wird in der Regel mit dem Hinweis abgelehnt, dass es eine internationale (zwangsweise oder anderweitige) Intervention in die nationale Souveränität rechtfertigen könnte. Obwohl die Autoren, die diese Kritik äußern, eine solche Intervention im Fall eines Verstoßes gegen das Recht auf politische Autonomie als gerechtfertigt betrachten, erachten sie diese im Fall des bloßen Fehlens der Demokratie in einem bestimmten Staat als illegitim.95 Die Destabilisierung eines funktionstüchtigen, wenn auch autoritären Regimes wäre nicht nur kontraproduktiv, sondern würde auch gegen das Recht auf politische Autonomie verstoßen. In jedem Fall sollte eine Regierung durch und für das Volk nur durch und für dieses Volk organisiert werden, und eine internationale Intervention in diesen Prozess wäre nicht gerechtfertigt. Da man das Menschenrecht auf Demokratie nicht durchsetzen kann, kann es, so die Kritiker, nicht gerechtfertigt werden. Es gibt viele Probleme mit dieser Position. Probleme, die die Glaubwürdigkeit der Kritik am Menschenrecht auf Demokratie unterminieren. Das erste Problem hat mit der Auffassung von Menschenrecht zu tun. Diese Auffassung wurde zuerst von Rawls vertreten und in Folge von Raz als politische Auffassung von Menschenrechten weiterentwickelt.96 Sie definiert die Menschenrechte als externe Beschränkungen der Staatssouveränität und als Rechtfertigung für eine internationale Intervention. Dieser Ansatz versäumt nicht nur, mehr als ein empirisches Kriterium für das zu liefern, was Menschenrechte sind,97 sondern er schließt eine ganze Bandbreite von Menschenrechten aus, die keine staatliche Intervention rechtfertigen, entweder weil sie nur innerstaatlich Anwendung finden oder weil sie andere Verpflichtete haben.98 Schließlich berücksichtigt die Auffassung nicht die Tatsache, dass die Durchsetzung der Menschenrechte grundsätz-
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Siehe J. Cohen 2006; Beitz 2007: 102–4. Siehe Rawls 1999; Raz 2010. Siehe J.L. Cohen 2008. Siehe Tasioulas 2009.
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lich eine innerstaatliche Verantwortung ist und nur ergänzend eine internationale. Selbst im letztgenannten Fall schließen die Mittel zur Durchsetzung regelmäßige Berichte, zwischenstaatliche und individuelle Beschwerdemechanismen, gerichtliche Überprüfung und, aber extrem selten, Zwangsmaßnahmen ein, und selbst diese Maßnahmen sind selten militärisch und reichen von individuellen und kollektiven Wirtschaftssanktionen bis zur internationalen Strafjustiz. Eine weitere Schwierigkeit mit dieser Kritik ist, dass sie sich auf einem verdrehten Ansatz der Durchsetzung der Menschenrechte und auf dessen Beziehung zur Existenz eines Menschenrechts stützt. Mit Rücksicht auf den modifizierten interessenbasierten Ansatz, der bereits vorgestellt wurde, ist die Beziehung zwischen Menschenrechten und den entsprechenden Pflichten gerechtfertigt und dynamisch. Konkrete Pflichten werden entsprechend den Umständen geschaffen und es gibt nichts, was man aus der Unbestimmtheit des Verpflichteten oder aus der Unausführbarkeit bestimmter Pflichten im Hinblick auf die Existenz oder Nichtexistenz des Rechts an sich ableiten kann.99 Dementsprechend wirkt sich das Fehlen oder die Schwierigkeit der Durchsetzbarkeit des Menschenrechts auf Demokratie, sei es auf internationaler oder nationaler Ebene, nicht auf die moralische Existenz dieses Rechts aus. Dies bedeutet, dass das Fehlen internationaler Gemeinschafts- und zentralisierter Institutionen, welche demokratisch organisiert werden, und deshalb das Fehlen von Addressaten des Rechts auf Demokratie100 ebenfalls nicht gegen die Existenz eines solchen Rechts ins Feld geführt werden kann. Es erschwert die Identifizierung der Verpflichteten und die Zuweisung von Pflichten, aber sie unterminiert nicht die Existenz oder die Rechtfertigung des Rechts. 3.3.2 Souveränität und das Menschenrecht auf Demokratie Unabhängig von der internationalen Intervention als Durchsetzungsmodus des Menschenrechts auf Demokratie bezieht sich eine ähnliche Kritik auf die ungerechtfertigte Beschränkung des Grundsatzes der gleichen Souveränität von Staaten, die Folge der Durchsetzung des Rechts auf Demokra-
—————— 99 Siehe Tasioulas 2007; Besson 2006; contra: Nickel 2005. 100 Siehe Nickel 2005 für eine solche Kritik an Goulds (2004) Argumentation für ein Recht auf internationale Demokratie. Letztere kann auf keinen Fall von der nationalen Demokratie unterschieden werden, wie wir in Abschnitt 4 sehen werden.
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tie wäre.101 Sobald dieses Recht international durchgesetzt wäre, würde es sein eigenes Ziel unterminieren und sich gegen den Grundsatz der Selbstbestimmung wenden. Auch hierbei beruht die Kritik auf der bereits vorgestellten politischen Auffassung der Menschenrechte. Es gibt zwei Möglichkeiten, auf diese Kritik zu reagieren: Erstens kann man auf die Neudefinition des Konzepts der Souveränität in der nachwestfälischen Ära und ihr Verhältnis zu den Menschenrechten und der staatlichen Verantwortung für die Achtung dieser Rechte hinweisen, und zweitens kann man aufzeigen, wie das Menschenrecht auf Demokratie intrinsisch mit der so neu definierten politischen Souveränität zusammenhängt. Zunächst, und obwohl der Umfang an dieser Stelle eine eingehende Erläuterung ausschließt, wurde die Staatssouveränität durch das Völkerrecht und insbesondere durch das Menschenrecht in den letzten fünfzig Jahren einem tiefreichenden Prozess der Neudefinition unterzogen. War sie vormals nur Souveränität als Unabhängigkeit, so hat sie heute eine neue Dimension gewonnen und sich auch zur Souveränität als Verantwortung entwickelt. Souveränität ist ein normatives Konzept, erfüllt vom Wert der politischen Autonomie, ist aber auch ein Ergebnis, das durch sie gebunden ist. Ein Staat ist nur insoweit souverän, als seine Bürger und deren politische Autonomie eine interne Beschränkung dieser Staatssouveränität sind.102 Dies trifft auch auf alle Menschenrechte zu. Unter diesen Bedingungen ist das Recht auf Demokratie, das dem Grundsatz und dem Wert der politischen Gleichheit entstammt, eine der internen Grenzen der demokratischen Autorität und Staatssouveränität. Zweitens bleibt das Menschenrecht auf Demokratie, selbst wenn man die Souveränität wie vorgeschlagen neu definiert, aus Sicht des Grundsatzes der gleichen Souveränität problematisch, die ein Eckpfeiler der internationalen Rechtsordnung ist.103 Anders als andere Menschenrechte, welche die Staatssouveränität bei internen Angelegenheiten beschränken, ist das Menschenrecht auf Demokratie eine einschneidendere Beschränkung der Organisation des Staates und dehnt sich auch auf die externe Souveränität aus. Auch hier ermöglicht uns die in diesem Kapitel verwendete Darstellung der Menschenrechte, dieser Kritik auszuweichen, die auf politische Darstellungen der Menschenrechte abzielt, die diese Rechte
—————— 101 Siehe z.B. J.L. Cohen 2008. 102 Siehe z.B. J.L. Cohen 2006: 485–505; 2008. Siehe auch Waldron 2006: 15; Besson 2009c. 103 Siehe z.B. J.L. Cohen 2008 und 2006.
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nicht von moralischen Erwägungen ableiten und die für ein konkretes Recht ausreichend empirische Belege beibringen oder eine zumindest ausreichend weitgefasste öffentliche Rechtfertigung anführen müssen.104 Wenn ich mit meiner Behauptung recht habe, dass Menschenrechte und Demokratie aufgrund ihrer gemeinsamen Grundlage der politischen Gleichheit intrinsisch verbunden sind und eine gemeinsame Ursprünglichkeit aufweisen, stellen Menschenrechte nicht nur eine interne Beschränkung der politischen Macht dar, sondern sie erfordern auch politische Macht. Dies gilt vor allem für das Recht auf Demokratie. Dementsprechend ist die Gegenüberstellung des Rechts auf Demokratie und der Staatssouveränität irreführend. Nur wenn es keine staatliche Macht als solche mehr gibt und die Machtverhältnisse das Recht auf Demokratie zerstören, kann dieses Recht gegen den Grundsatz der gleichen Souveränität ins Feld geführt werden.105 3.3.3 Provinzialismus und das Menschenrecht auf Demokratie Ein dritter Kritikpunkt, der gegen ein Menschenrecht auf Demokratie angeführt wird, ist Provinzialismus oder genauer der Anspruch, dass ein solches Recht ein provinzielles Recht ist. Demokratie ist vorgeblich ein politisches Regime, das nur in einigen wenigen Staaten in bestimmten reichen und mächtigen Teilen der Welt existiert, und die Anerkennung eines Menschenrechts auf Demokratie würde dazu beitragen, schwächeren und ärmeren Staaten und Völkern ein politisches Modell aufzuzwingen. Unter den Menschenrechten sind die politischen Rechte diejenigen Rechte, die am ehesten Opfer des Einwands des kulturellen Relativismus werden.106 Provinzialismus ist ein wohlbekanntes Problem für die Menschenrechte und fußt auf einem moralischen Relativismus. Aus dieser Sicht sind die Menschenrechte von einem »provinziellen« Satz von Werten abgeleitet, die ungerechtfertigterweise Völkern und Gesellschaften aufgedrängt werden, die diese Werte nicht teilen. Dies hat ebenso viel mit den Werten an sich zu tun, als auch mit ihrem konkreten relativen Gewicht. Sie muss jedoch nicht auf moralischer Skepsis beruhen, und es reicht, sich mit dem provinziellen Anspruch auseinander zu setzen, dass Werte auch ohne eine
—————— 104 J.L. Cohens (2008) Argument richtet sich vor allem gegen Raz 2010 und J. Cohen 2006. 105 Zu dieser minimalen und gerechtfertigten Einschränkung des Grundsatzes der gleichen Souveränität siehe J.L. Cohen 2008: 595–6. 106 Siehe z.B. Griffin 2008; Beitz 2007. Für eine Reaktion siehe z.B. Forst 2010; Shue 1996.
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vollständige und zusammenhängende Abstufung vielfältig sein und viele Forderungen aufweisen können, und dass somit im Fall von sozialer und kultureller Vielfalt diese Forderungen und Wertesysteme variieren können.107 Auch sollte man diese Provinzialismuskritik, bei der es sich um eine ernste Kritik handelt, nicht mit wenig überzeugenden Versionen des kulturellen Relativismus verwechseln, die auf Uneinigkeit, auf einem mangelnden Konsens oder auf gegenseitiger Rechtfertigung basieren.108 Nicht nur, dass Menschen sich irren können und selbst provinziell sind, wenn sie anderer Meinung sind oder nicht zustimmen, sondern Uneinigkeit und mangelnder Konsens sind weitverbreitete Phänomene in den westlichen Gesellschaften – den Gesellschaften, denen man vorwirft provinziell zu sein.109 Die Kritik sieht sich mit zwei Hauptschwierigkeiten konfrontiert: erstens ihre moralische Gültigkeit und zweitens, in ihrem verbleibenden Geltungsbereich, ihre Anfechtbarkeit. Zunächst kann man die moralische Gültigkeit der Provinzialismuskritik durch Verweis auf eine objektive, wenn auch pluralistische Auffassung von Moral und eine Menschenrechtsdarstellung unterminieren, die diesen moralischen Pluralismus widerspiegelt. Die Annahme einer objektiven Sicht von Moral ist nicht gleichzusetzen mit der Befolgung einer monistischen Auffassung von Moral: Der Hintergrund der folgenden Analyse ist eine objektive, wenn auch pluralistische Darstellung von Moral, die in Konflikt stehende Werte und unterschiedliche Anordnungen derselben einschließen kann.110 Die bereits erwähnte interessenbasierte Darstellung der Menschenrechte passt zu dieser pluralistischen Darstellung von Moral und kann in Folge pluralistische Werte und Anordnungen derselben und damit die Rechtfertigungen desselben Menschenrechts und seiner entsprechenden Pflichten einschließen.111 Außerdem ermöglicht die Trennung zwischen Anerkennung von Rechten durch die Identifizierung grundlegender Interessen und die Konkretisierung der Pflichten eine Kontextualisierung
—————— 107 Siehe Buchanan 2008. Siehe auch Tasioulas 2010b für eine Diskussion der pluralismusbasierten und skeptizismusbasierten Darstellungen der Provinzialismuskritik. Ich stimme ihm jedoch zu, wenn er erklärt, dass die überzeugendste Version der Kritik eine pluralistische ist. 108 Für eine Kritik derselben siehe Buchanan 2008; Besson 2005. 109 Siehe Buchanan 2008 über das Entlarven alternativer Darstellungen der kulturellen Relativismuskritik. 110 Siehe Tasioulas 2010b. 111 Siehe Tasioulas 2002; 2010a.
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der Interessen und damit eine unterschiedliche Anordnung derselben, aber auch zwischen diesen und anderen Erwägungen, bevor die Pflichten konkretisiert werden.112 Zweitens kann man, selbst mit ihrem verbleibenden Geltungsbereich und insbesondere im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die durch einen sozialen und kontextuellen Pluralismus hervorgerufen werden, die Provinzialismuskritik widerlegen. Man muss zunächst betonen, dass das Festhalten an einer moralischen Objektivität weder meint, die Bedeutung der Kontextualisierung moralischer Werte des Völkerrechts, die auf innerstaatlicher Ebene anerkannt werden, noch die Möglichkeit der historischen nationalen Lokalisierung der objektiven Werte, die vom Völkerrecht und historischen Veränderungen im Verlauf dieser Lokalisierung anerkannt werden, zu leugnen.113 Darüber hinaus kann man legitimerweise behaupten, dass der interkulturelle Dialog und die gegenseitige Anpassung, die von der demokratischen Koordinierung in der internationalen Rechtsgebung, sowie die internationale Entscheidungsfindung allgemein, dem Anliegen der kulturellen Vielfalt und dem Bedarf für eine erkenntnistheoretische Integration unterschiedlicher kultureller Perspektiven bei der Verabschiedung oder Anwendung des Völkerrechts ausreichend Aufmerksamkeit widmet.114 Es ist aber zu beachten, dass dieses pluralistische Gegenargument nur für eine Auffassung der Menschenrechte zur Verfügung steht, die diese nicht als nicht abgeleitete moralische Normen betrachtet, sondern als in einer Vielzahl anderer, nicht rechtebasierter Erwägungen begründet sieht, zum Beispiel als universelle menschliche Interessen. So genannte traditionelle Darstellungen der Begründung der Menschenrechte sehen sich hierbei mit einer Schwierigkeit konfrontiert und können die Frage des Provinzialismus nicht so leicht widerlegen. Jene, die das Recht auf Demokratie anerkennen, begründen das Recht mit einer einzigen moralischen Norm, zum Beispiel Autonomie oder Freiheit, und scheitern an der kulturellen Vielfalt.115 Am anderen Ende des Spektrums sehen sich politische Darstellungen, die bereits an anderer Stelle besprochen wurden, mit einem kon-
—————— 112 Siehe Besson 2005; 2006. 113 Dies erklärt, warum die Tatsache, dass auch vor dem Erscheinen der modernen Demokratie ein anständiges Leben möglich war, sich nicht auf die Universalität des Menschenrechts auf Demokratie auswirkt. 114 Siehe Buchanan 2008. 115 Siehe Griffin 2008: 247–55 und die Kritik von Tasioulas 2010a.
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kreten, aber schwierigen Problem konfrontiert: Sie können sich nicht universeller moralischer Gründe bedienen und müssen sich mit empirischen oder zumindest rechtfertigenden Gründen mit dem sozialen und kulturellen Relativismus auseinandersetzen.116 In Folge ist der Rückzug auf das Recht auf politische Zugehörigkeit, als das höchste, was man von aktuellen Gesellschaften in einem liberalen Rahmen gegenseitiger Rechtfertigung erwarten kann,117 zuviel, um sich auf dieses Argument zu verlassen, und zu wenig, um Gegner von einem modifizierten interessenbasierten Argument für das Menschenrecht auf Demokratie zu überzeugen. Das Recht auf politische Zugehörigkeit, das von liberalen Autoren wie Joshua Cohen vertreten wird, unterscheidet sich nur graduell vom Recht auf Demokratie. Die kollektive Selbstbestimmung ist laut Rainer Forst ein rekursives Prinzip mit einer eingebauten Dynamik, das jene begünstigt, die Ausgrenzungen und Asymmetrien kritisieren118 und impliziert bei maximaler Auslegung Demokratie.
4. Die Legalisierung des internationalen Menschenrechts auf Demokratie Wie bereits in der Einleitung angedeutet, impliziert oder rechtfertigt die Existenz eines moralischen Rechts auf Demokratie nicht notwendigerweise einen Rechtsanspruch auf Demokratie. Es gibt kein moralisches Recht auf einen Rechtsanspruch auf Demokratie, das man aus der bloßen Existenz eines moralischen Rechts auf Demokratie ableiten könnte. Auch die Anerkennung eines solchen Rechtsanspruchs impliziert nicht die vorherige Existenz eines moralischen Rechts auf Demokratie. Natürlich schafft ein Rechtsanspruch, sobald er verabschiedet wurde, auch ein moralisches Recht, außer wenn die weiteren Bedingungen für die Anerkennung eines moralischen Rechts und insbesondere die Existenz grundlegender Interessen, die ausreichend für die Schaffung von Pflichten sind, nicht bereitge-
—————— 116 Daher die Schwierigkeiten von Rawls 1999: 61 ff.; Beitz 2007: 103 und J. Cohen 2006, wie von J.L. Cohen 2008 und Forst 2010 betont. 117 Siehe Beitz 2007 und J. Cohen 2006, der versucht, einige Mängel von Rawls (1999) zu beheben. 118 Forst 2010.
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stellt werden.119 Was wir dann bekommen, ist eine rechtliche Norm, die kein moralisches Recht ist und dementsprechend stricto sensu kein Recht, außer dem Namen nach. In diesem Abschnitt möchte ich nicht so sehr die zusätzlichen Rechtfertigungen beurteilen, die für eine Anerkennung eines Rechtsanspruchs auf Demokratie sprechen, so zum Beispiel die Legitimitätsargumente, die in der Einleitung erwähnt werden, und insbesondere den instrumentellen Wert der Demokratie für die Menschenrechte oder das Einwilligungsargument des demokratischen Staates,120 sondern die Bedingungen, in denen die Existenz eines moralischen Rechts auf Demokratie die rechtliche Anerkennung dieses Rechts rechtfertigen kann. Natürlich können einige dieser Bedingungen auch auf andere Gründe zur Anerkennung eines Rechtsanspruchs angewendet werden, ohne dass vorab ein moralisches Recht existiert. Ich werde in zwei Schritten vorgehen: Erstens werde ich beurteilen, warum es einen Rechtsanspruch auf Demokratie geben sollte, und zweitens, warum der Rechtsanspruch ein internationaler Rechtsanspruch auf Demokratie sein sollte.
4.1 Das rechtliche Menschenrecht auf Demokratie Die erste Frage lautet: Welche wesentlichen Elemente sind Gründe für die Legalisierung eines Menschenrechts? In der Regel werden die folgenden allgemeinen Gründe für die rechtliche Anerkennung eines moralischen Rechts angeführt: Sicherheit und Klarheit, vermittelnde Einigung über ein umstrittenes Recht oder gewissen Interessen, Effektivität, Sanktionen oder Publizität.121 In einigen Fällen werden Gegengründe angeführt, insbesondere die nicht-antagonistische Qualität der sozialen Umsetzungsmechanismen oder die destruktive Individualisierung der menschenrechtsbezogenen Rechtsmittel.122 Im Fall des Menschenrechts auf Demokratie würde die Legalisierung des Rechts seine Verwirklichung stärken, indem es sowohl demokratische
—————— 119 Siehe Raz 1984a; 1984b; Besson 2006. Siehe auch über die Beziehung zwischen moralischen und rechtlichen Rechten und die Natur der Menschenrechte, Besson 2010. Es ist zu beachten, dass Buchanan 2004 versäumt, dies in seine Argumentation für ein rechtliches Menschenrecht auf Demokratie einzubeziehen. 120 Siehe Buchanan 2004: 142 ff. 121 Siehe Besson 2005; 2006. 122 Siehe Tasioulas 2007.
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Prozesse durch rechtliche Vorgaben als auch den Schutz vor sich selbst und ihrer eigenen Unterminierung ermöglicht.123 Natürlich löst die Legalisierung jedes Menschenrechts Legitimierungsfragen aus, besonders wenn es als Einschränkung der Folgen demokratischer Entscheidungsprozesse fungiert.124 Und dies gilt noch stärker, wenn das Recht, das legalisiert wird und das legitimiert werden muss, das Recht auf Partizipation an eben diesem Prozess ist. Dies ist das berühmte Paradoxon der demokratischen Gewährleistung der Demokratie und der selbstbestimmten Selbstbestimmung, auf welches ich in der Einleitung hingewiesen habe. Das Beste, was wir in Bezug auf dieses Paradoxon tun können, ist, diesen Prozess als sich wiederholenden Prozess, der mit historischen und aktuellen Praktiken beginnt,125 und die Beziehungen zwischen demokratischen Verfahren der Legalisierung und dem Rechtsanspruch auf Demokratie als gegenseitige Stärkung und Auslösung für die wechselseitige Rechtfertigung zu verstehen.126
4.2 Das internationale Menschenrecht auf Demokratie Die nächste Frage lautet, ob die rechtliche Anerkennung des moralischen Rechts auf Demokratie durch nationales oder internationales Recht erfolgen sollte. Angesichts des universellen Geltungsbereichs des Rechts scheint eine internationale Garantie (als Konventions- oder Gewohnheitsrecht) auf den ersten Blick die offensichtliche Wahl zu sein. Aber Erwägungen des territorialen Anwendungsbereichs sollte keine Priorität sein. Die meisten internationalen Menschenrechtsgarantien gelten als minimal und ergänzend und führen zur Pflicht, diese im innerstaatlichen Recht zu integrieren und durchzusetzen. Beide Schutzebenen werden daher in der Regel als komplementär betrachtet und nicht dahingehend, dass sie widerstreitende Garantien gewähren. Außerdem sind viele Staatsverfassungen fortgeschrittener in
—————— 123 Siehe Nino 1996: 184; Benhabib 1996: 67, 80 über demokratische Rechte als Spielregeln, die dieses Spiel erst ermöglichen. 124 Siehe z.B. Waldron 1999; Besson 2005. Es ist zu beachten, dass ich die Frage nach der Konstitutionalisierung von Menschenrechten außer acht lasse. 125 Siehe Buchanan 2004: 189 für ein ähnliches Argument im völkerrechtlichen Kontext. 126 Weder Menschenrechte noch Demokratie an sich können ausreichend selbstreflexiv sein, allerdings ist es ihre gemeinsame Begründung in der politischen Gleichheit, die sie beständig eine Rechtfertigung im jeweils Anderen suchen lässt.
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Bezug auf ihre Garantien bestimmter Menschenrechte als internationale Instrumente, zum Beispiel soziale und wirtschaftliche Rechte, aber auch in Bezug auf bestimmte bürgerliche und politische Rechte wie zum Beispiel das Recht auf zivilen Ungehorsam oder sogar die meisten politischen Rechte. Wie die Erfahrung mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und insbesondere mit den sozialen und wirtschaftlichen Rechten der Charta zeigt, können nationale Garantien später internationale (oder in diesem Fall regionale) Garantien für Menschenrechte fördern. Die primären Gründe für die internationale Legalisierung eines moralischen Rechts beziehen sich auf vielfältige Elemente dieses Rechts:127 (i) Sein persönlicher Umfang, da internationale Menschenrechte nicht nur Individuen als Rechtsinhaber haben, aber auch andere Staaten, internationale Organisationen der internationalen Gemeinschaft (durch erga omnesVerpflichtungen des Staates oder durch vertragliche Pflichten gemäß einem Menschenrechtsabkommen) und alle Individuen, die in einem konkreten Staat leben, und nicht nur Staatsbürger als Rechtsinhaber haben, (ii) ihr wesentlicher Umfang als internationales Menschenrecht kann Lücken des nationalen Schutzes schließen oder zumindest ein minimales Sicherheitsnetz für den Fall bieten, dass die Menschenrechte in einem konkreten Staat missachtet werden, und (iii) ihr territorialer Anwendungsbereich als internationales Menschenrecht schützt nicht nur Individuen innerhalb der Staatsgrenzen, sondern auch alle Individuen, die einer exterritorialen Rechtsprechung unterliegen. (iv) Zusätzliche Gründe kann man auch in den internationalen Mechanismen finden, die für die Durchsetzung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen zur Verfügung stehen, seien sie politisch oder gerichtlich und seien sie erzwungen oder nicht-erzwungen und militärisch oder nichtmilitärisch. Wie Buchanan und Russell interessanterweise festgestellt haben, können noch weitere Gründe identifiziert und als selbstbezogene und auf andere bezogene oder kosmopolitische Gründe eingestuft werden.128 Trotz all dieser Gründe möchte ich weiterhin davon ausgehen, dass nationales Recht nach wie vor der legitimste Ort für die Legalisierung der Menschenrechte ist.129 Dies hat ebenso viel zu tun mit den Menschenrechten und den ihnen zugrunde liegenden Werten wie mit der Demokratie an
—————— 127 Für diese und weitere Gründe siehe Gardbaum 2008: 764–8. 128 Siehe Buchanan/Russel 2008: 330 ff. 129 Zum Unterschied von legislativer und verfassungsrechtlicher Legalisierung siehe Waldron 1999; Besson 2005.
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sich. Zunächst lässt sich aus meiner Abhandlung zum Provinzialismus und zum sozialen Relativismus folgern, dass grundlegende Interessen in einer bestehenden epistemischen Gemeinschaft konkretisiert und kontextualisiert werden müssen, um als Menschenrechte anerkannt zu werden. Während ein Großteil dieser Konkretisierung auf internationaler Ebene erfolgen kann, kann die wichtigste Kontextualisierung nur auf nationaler Ebene durchgeführt werden.130 Außerdem sollten die Menschenrechte durch Verweis auf die intrinsische Beziehung und die gemeinsame Ursprünglichkeit von Menschenrechten und Demokratie, wie bereits besprochen, und so lange die internationale Demokratie nicht nur unterentwickelt, sondern immer noch nicht vollständig nationale Demokratien als Standort der Entscheidungsfindung ersetzt hat,131 im Rahmen nationaler Rechtsordnungen behandelt und geschützt werden. Hier kann das Menschenrecht seine demokratische Legitimität erhalten.132 Dies erklärt, warum die meisten internationalen Menschenrechtsgarantien als minimal und ergänzend betrachtet werden und zu Verpflichtungen führen, die in das innerstaatliche Recht aufgenommen und dort durchgesetzt werden müssen. Alle bisher dargelegten Gründe für die internationale Legalisierung der Menschenrechte würden auf den ersten Blick Anwendung auf das moralische Recht auf demokratische Partizipation finden, zumindest als minimales und allgemeines internationales Menschenrecht, gemäß dem von mir hier vorgebrachten Einspruch. Angesichts der durch dieses Recht geschützten Interessen und ihrer Beziehung zum Grundsatz der politischen Gleichheit wird jedoch deutlich, dass seine primäre Legitimationsquelle und damit der Ort ihrer Legalisierung innerstaatlich ist. Dies hat ebenso viel mit der Kontextualisierung demokratischer Interessen zu tun, wie bereits behandelt, wie mit der Legitimität eines internationalen Rechtsanspruchs auf Demokratie. Natürlich hält die demokratische Legitimation des Völkerrechts an Kriterien fest und bezieht sich auf Themen, die sich erheblich von denen des innerstaatlichen Rechts unterscheiden.133 Es wäre somit falsch, nach einer internationalen staatenähnlichen politischen Gemeinschaft Ausschau
—————— 130 Siehe Buchanan 2004 und 2008 über die Notwendigkeit eines interkulturellen Dialogs und einer demokratischen Konkretisierung der internationalen Menschenrechte. 131 Über demoi-kratie und ihr Verhältnis zur (nationalen und internationalen) Rechtssetzung siehe Besson 2009a; 2009b. 132 Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe (Besson 2009c), unterscheidet sich die legitime Autorität der internationalen Menschenrechte von der der anderen Völkerrechtsnormen. 133 Siehe Besson 2009c.
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zu halten, die iterativ ein Recht auf demokratische Partizipation durch demokratische Praktiken, wie bisher besprochen, legitimiert. Außerdem muss schließlich der Rückzug gezügelt und die aktuellen und historischen demokratischen Praktiken als Ausgangsreferenzpunkt von unten nach oben benutzt und dann schrittweise einerseits über eine sich selbstverstärkende Beziehung zwischen demokratischen Praktiken auf nationaler und internationaler Ebene und andererseits über das Recht auf demokratische Partizipation legitimiert werden.134 Es ist jedoch offensichtlich, dass bei den aktuellen Bedingungen für die internationale Rechtsetzung die gleichwertige Eingliederung aller Betroffenen und die Mittel, um ein gleiches Mitspracherecht selbst in einem iterativen demokratischen Prozess zu gewährleisten einfach nicht gegeben sind, sei es aus innerstaatlicher indirekter Perspektive oder aus einer internationalen direkten Perspektive. Es wäre sogar als Ergebnis noch paradoxer als auf innerstaatlicher Ebene, das Recht auf Demokratie zu schützen, ohne die Begünstigten dieser Rechte in die Lage zu versetzen, dieses Recht auszuüben, wenn sie über eben dieses Recht und über ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Rechtsinhaber entscheiden. Die ganze Idee der Selbstbestimmung durch das Menschenrecht auf demokratische Partizipation wäre ad absurdum geführt. Ganz zu schweigen vom Fehlen demokratischer Mechanismen und Institutionen, um dieses Recht auf internationaler Ebene auszulegen und anzuwenden, sobald es verabschiedet wurde.135 Man muss an dieser Stelle unterstreichen, dass diese Schlussfolgerung nicht die rechtliche Gültigkeit der bestehenden Garantien auf das Recht auf Demokratie gemäß internationalem Recht beeinträchtigen sollte.136 Auch berührt es nicht die moralischen Gründe, die es ggf. für die Staaten gibt, überhaupt internationale Rechtsgarantien eines gegebenen Menschenrechts zu verabschieden oder anzuerkennen, seien diese Gründe selbstbezüglich oder kosmopolitisch.137 Sie zielt lediglich auf deren Legitimität ab und damit nur auf einen der Hauptgründe für ihre Legitimität, das heißt
—————— 134 Siehe Buchanan 2004: 188–9. 135 Natürlich kann man die Legitimität der Entscheidungen internationaler Menschenrechte nicht zwangsläufig mit der Legitimität der angewandten internationalen Menschenrechtsnormen gleichsetzen, so wie dies im innerstaatlichen Kontext der Fall wäre. 136 Wie ich jedoch an anderer Stelle dargelegt habe (Besson 2009c), muss der Anspruch auf eine legitime Autorität, die mit der rechtlichen Gültigkeit verknüpft ist, schließlich anerkannt werden, und in Folge sollte man sich einer Legitimierung internationaler Rechtsnormen zuwenden. 137 Siehe Buchanan/Russel 2008: 330 ff.
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Demokratie. Obwohl die Demokratie besonders relevant ist und man sogar argumentieren könnte, sie sei unausweichlich im Kontext der Legitimierung eines Rechtsanspruchs auf Demokratie, stehen auch andere Rechtfertigungen für ihre Autorität zur Verfügung.138 Außerdem kann es andere Gründe als den der Legitimität für Staaten geben, tatsächlich diesen Rechtsanspruch zu erfüllen, wovon einige instrumentell (zum Beispiel demokratischer Friede oder Einwilligung demokratischer Staaten) und andere gerechtigkeits- oder fairness-bezogen sind.139 Während diese Gründe keine Rechtfertigung für den Legitimitätsanspruch des Menschenrechts auf Demokratie sind, sind sie doch Gründe für die Compliance, die im internationalen Recht koexistieren und wichtig sind.140 Gleichzeitig macht das Fehlen von (demokratischer) Legitimität des internationalen Rechtsanspruchs auf demokratische Partizipation die potenzielle Rechtfertigung einer Intervention in die nationale Souveränität, und allgemeiner gesprochen bezüglich jeder staatlichen Haftung und aller staatlichen Sanktionen, die bei Missachtung dieses Rechts erfolgen, zunichte. Natürlich wird der internationale Rechtsanspruch auf Demokratie desto legitimer, je demokratischer oder vielmehr demoi-kratischer die Rechtsetzung internationaler Menschenrechte und die Durchsetzung der Menschenrechte werden. In einer globalen Gemeinschaft aus Staaten und Individuen141 implizieren die wachsenden Interdependenzen wechselseitig betroffene Interessen und generieren damit das Interesse und den Anspruch von Staaten und Individuen, gemeinsam und nicht mehr allein oder separat oder nur auf sehr indirekte Weise gemeinsam, über diese Themen zu entscheiden.142 Unter diesen Umständen werden die Integration und die Partizipation auf allen Ebenen, einschließlich der nationalen, legitime Einzelforderungen, und gleichzeitig erwächst die Partizipation am Entscheidungsprozess als gemeinsames Interesse. Wenn diese Bedingungen gelten, dann ist das Recht auf demokratische Partizipation nicht mehr länger ein
—————— 138 Siehe Besson 2009c. 139 Über diese Gründe für eine Anerkennung eines internationalen Rechtsanspruchs auf Demokratie unabhängig von der demokratischen Legitimität dieses Rechts siehe Buchanan 2004: 142 ff. und 188–9. 140 Siehe Besson 2009c über die de facto-Autorität des Völkerrechts und andere Gründe, dem Völkerrecht als einer gerechtfertigten Autorität zu gehorchen. 141 Siehe Besson 2009a für eine Diskussion der globalen demoi-kratie als Mittelweg zwischen internationaler Demokratie und der indirekten Demokratisierung des internationalen Rechts durch nationale Demokratien. 142 Siehe Besson 2009b über die demoi-kratische internationale Gemeinschaft.
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Interesse, über das nur nationale demokratische Gemeinwesen entscheiden können, sondern ein Interesse der Gemeinschaft aus Gemeinschaften. Dies bedeutet, dass es ein Recht ist, über das sowohl Staaten als auch Individuen zu entscheiden haben und das sie gemeinsam schützen müssen. Und es bedeutet auch, dass dieses gemeinsame Interesse und diese neue Form der politischen Gleichheit143 Gegenstand eines internationalen Rechtsanspruchs auf Demokratie werden könnte, vorausgesetzt dies erfolgt demoi-kratisch. Es stimmt natürlich, dass auf den ersten Blick dieses Argument etwas zirkulär ist, aber wenn man das Verhältnis zwischen internationaler demoi-kratie und dem internationalen Rechtsanspruch auf Demokratie als wechselseitige Verstärkung und nicht als logische Sequenz betrachtet, kann man den Kreis auch als rechtschaffen betrachten.144
Schlussfolgerung Gibt es also ein Menschenrecht auf Demokratie? In diesem Kapitel habe ich für ein moralisches Recht auf Demokratie als internationales Menschenrecht auf demokratische Partizipation argumentiert. Ich habe das moralische Recht auf Demokratie vom Rechtsanspruch auf Demokratie unterschieden und die zahlreichen Gründe für die Anerkennung der beiden Rechtsformen beurteilt. Nach der Untersuchung habe ich die Frage nach der instrumentellen oder intrinsischen Beziehung zwischen Menschenrechten und Demokratie von der Frage nach der Existenz und Rechtfertigung eines Rechts auf Demokratie getrennt, ein überarbeitetes interessenbasiertes Argument für ein solches Recht auf demokratische Partizipation entwickelt und alterna-
—————— 143 Über politische Gleichheit in internationalen Gegebenheiten siehe Roth 1999; Christiano 2006; 2010; Pettit 2010; Besson 2009b. 144 Dies ist auch Nickels (2005) Schlussfolgerung, wenn auch aus anderen Gründen. Seine Gründe beruhen auf dem Fehlen eines moralischen Anspruchs auf internationale Demokratie, bevor demokratische internationale Prozesse und Institutionen ihre Arbeit aufgenommen haben und man die Existenz objektiver individueller Interessen beurteilen kann, an diesen Prozessen und Institutionen teilzunehmen. Aufgrund der wechselseitigen Verstärkung der Beziehung zwischen dem Menschenrecht auf demokratische Partizipation und demokratischen Prozessen betrachte ich diese Gründe nicht als Unterminierung der Rechtfertigung des moralischen Anspruchs auf demokratische Partizipation, sondern als Unterminierung der legitimen Autorität des Rechtsanspruchs auf demokratische Partizipation.
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tive Argumente für dieses Recht diskutiert. Anschließend habe ich das Menschenrecht auf demokratische Partizipation anhand verbundener Rechte unterschieden und bin auf die drei Hauptkritikpunkte eingegangen, die gegen dieses Recht angeführt werden. In einem letzten Abschnitt habe ich argumentiert, dass ein rechtliches Recht auf demokratische Partizipation verabschiedet werden sollte, dies aber vorzugsweise auf nationaler Ebene erfolgen sollte. Des Weiteren habe ich argumentiert, dass, vorausgesetzt die demoi-kratischen Begründungen der internationalen Rechtssetzung werden verstärkt, der Rechtsanspruch auf Demokratie legitimerweise auf internationaler Ebene als ein gemeinsames Interesse von Staaten und Individuen garantiert werden könnte. Kurz ausgedrückt, die Behauptung lautet, dass es ein universelles moralisches Recht auf demokratische Partizipation gibt und es einen nationalen Rechtsanspruch auf demokratische Partizipation geben sollte. Ich habe aber auch argumentiert, dass der internationale Rechtsanspruch auf demokratische Partizipation, der gegenwärtig durch Völkerrecht garantiert wird, nur dann mit demokratischer Legitimität ausgestattet werden kann, wenn die Rechtsetzung des internationalen Rechts und insbesondere die Rechtsetzung der Menschenrechte sowohl demokratischer als auch kontextsensibler werden. Natürlich kann dies nicht allein von einem moralischen Recht auf demokratische Partizipation ausgelöst werden. Denn Demokratie schließt wesentlich mehr ein als nur Menschenrechte.
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Die demokratische Verfassung Richard Bellamy
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Dass eine Ehefrau eines demokratisch gewählten politischen Führers eine solch herablassende Meinung über demokratische Politik vertritt, mag ein
—————— 1 Z.B. Raz 1998: 153–4. 2 Dworkin 1996: 24, 32–35. 3 Booth 2005.
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wenig überraschen, aber sie reflektiert präzise die vorherrschende Meinung derjenigen, die ich Konstitutionalisten nenne. Roberto Unger hat angemerkt, dass »ein Unbehagen mit der Demokratie« eines der »niederträchtigen kleinen Geheimnisse der zeitgenössischen Rechtsprechung« ist. Das Unbehagen manifestiere sich in »der unablässigen Identifizierung von Einschränkungen des Mehrheitsprinzips […] als die vorrangige Pflicht der […] Juristen; […] in dem Bemühen, von den Richtern […] die Fortschritte zu erlangen, die die Politik nicht liefert; unter Verzicht der institutionellen Rekonstruktion für seltene und magische Augenblicke der nationalen Neugründung; nach dem Ideal einer beratenden Demokratie, die dann am akzeptabelsten ist, wenn sie möglichst einer höflichen Konversation zwischen Gentlemen in einem Wohnzimmer des 18. Jh. gleicht […] [und] mit der […] Behandlung der Parteienregierung als ein Ableger, eine letzte Quelle der rechtlichen Evolution, die toleriert werden muss, wenn keine ausgefeilteren Modi der rechtlichen Lösung Anwendung finden.«4
Ich glaube, dass sowohl die Sorge um die Demokratie als auch die vorgeschlagene Abhilfe im Großen und Ganzen missverstanden werden. Die eine übersieht die verfassungsrechtliche Rolle und Leistungen der demokratischen Politik, während die andere den Gerichten eine unmögliche Aufgabe zuweist. Entgegen der vorherrschenden Meinung möchte ich eine alternative Darstellung der Beziehung zwischen Demokratie und Konstitutionalismus darlegen, die das demokratische System selbst als die Verfassung sieht.
Rechtlicher und politischer Konstitutionalismus Viele unserer aktuellen Annahmen und, so meine Überzeugung, Missverständnisse in Bezug auf Verfassungen stammen von der Idealisierung der Verfassung in den USA durch berühmte amerikanische Rechts- und Staatsphilosophen, besonders durch jene, die ihre geistige Reife in der Warren-Ära des Supreme Courts in den 1960ern erlangten. Die US-amerikanische Verfassung kann mit Recht behaupten, die erste moderne Verfassung zu sein, und ihre Langlebigkeit hat sie zu einem Modell dafür gemacht, was wir über die Rolle und die eigentliche Form von Verfassungen denken. Insbesondere ist sie die Quelle der Meinung, dass Verfassungen
—————— 4 Unger 1996: 72. Siehe auch Waldron 1998: 510–30; 1999: 8–10.
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sowohl die Grundlage für Demokratie als auch für deren notwendige Beschränkungen sind. Aber in gewisser ausschlaggebender Hinsicht ist ihr Entwurf und ihre Begründung vordemokratisch und von zweifelhafter Legitimität in einem demokratischen Zeitalter. Es gibt zwei Elemente in den meisten schriftlichen Verfassungen, einschließlich der US-amerikanischen. Ein Element besteht aus einer Aufzählung der Grundrechte, die als grundlegendes Recht des Gemeinwesens erachtet werden, und mit denen keine gewöhnlichen Gesetze oder Regierungsmaßnahmen in Konflikt geraten dürfen. Das zweite Element, häufig der längere Teil, widmet sich einer detaillierten Beschreibung des politischen und rechtlichen Systems, legt die Wahlregeln fest, zählt die Befugnisse und Funktionen der verschiedenen Ebenen und Behörden der Regierung auf, usw. Wie viele von Ihnen bereits wissen, bestand die amerikanische Verfassung ursprünglich nur aus diesem zweiten Element; die Bill of Rights wurde später als eine Reihe von Zusatzartikeln hinzugefügt. Meines Wissens ist Australien heute das einzige Land, dessen Verfassung ausschließlich aus diesem zweiten Element besteht. Allerdings wird, wie am Zitat von Cherie Booth abzulesen, Konstitutionalismus immer mehr mit dem ersten Element gleichgesetzt – der Bill of Rights – und als Festlegung der politischen Moral einer demokratischen Gesellschaft gelesen, welche die notwendigen Anforderungen hochhält, alle Bürger mit gleicher Sorgfalt und Achtung zu behandeln. Viele Rechtstheoretiker betrachten das zweite Element der Verfassung als »symbolisch«, mit geringem Gewicht, es sei denn, man liest es in Verbindung mit dem ersten. Schließlich könnte jede Diktatur eine Verfassung im Sinne einer Beschreibung der Regierungsorgane haben. Es existiert jedoch auch eine Denkrichtung, die argumentiert, dass wir das erste Rechtselement lediglich als richtungsweisend für das Verstehen des zweiten, des politischen Systems, verstehen sollten. Mit anderen Worten, wir sollten Rechte dahingehend verstehen, wie ein politischer Prozess, der alle Bürger mit gleicher Sorgfalt und Achtung behandelt, gestaltet sein sollte, und nicht dahingehend, was ein demokratisches legislatives Ergebnis beinhalten sollte. Allerdings birgt dieses Argument die Gefahr, dass es eine Tendenz geben wird, die wahrgenommene Fairness des Ergebnisses zum Maßstab für die Fairness des Prozesses zu machen, der diese eigentlich hervorgebracht hat, sodass die zwei Ansätze ununterscheidbar werden. Außerdem macht das zweite Argument, ebenso wie das erste, eher die Judikative als die Bürger zu Hütern der verfahrensrechtlichen Verfassung.
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Trotz einer gewissen Sympathie für diese zweite Position möchte ich daher beide rechtlichen konstitutionalistischen Ansätze verwerfen. Stattdessen werde ich argumentieren, dass wir das politische System selbst, nicht seine rechtliche Beschreibung in einer schriftlichen Verfassung, sondern sein tatsächliches Funktionieren, als wahre und effektive Verfassung sehen sollten. Dieser dritte Ansatz beruft sich auf eine ältere Tradition dessen, was ich politischen Konstitutionalismus nennen werde. Die Verfasser der US-amerikanischen Verfassung, auch wenn sie in bestimmter Hinsicht davon abwichen, ließen sich ebenfalls von diesem dritten Ansatz inspirieren, als sie ihr Regierungssystem entwarfen. Die Tradition des politischen Konstitutionalismus nahm die Metapher des Staatskörpers ernst. Ebenso wie ein gesunder menschlicher Körper von einer guten Verfassung und einem ausgewogenen Lebensstil abhänge, vertrat man die Ansicht, ein gesundes Gemeinwesen erfordere eine Ausgewogenheit seiner konstituierenden Teile. Das Problem war, dass diese Auffassung von Verfassung noch vor dem demokratischen Zeitalter lag. Und auch wenn die amerikanische Verfassung, lässt man die Sklaverei einmal außen vor, auf der Prämisse des demokratischen Grundsatzes der Gleichheit gründete, waren sich die Verfasser dem Wirken moderner Massendemokratien nicht bewusst und etwas ängstlich über ihr Entstehen. Aus diesem Grund befürworteten sie ein System, das größtenteils auf dem basierte, was sie für die wichtigsten Nachteile der Demokratie hielten, insbesondere »Tyrannei der Mehrheit« und interne Streitigkeiten. Sie übersahen jedoch einerseits die konstituierende Bedeutung des Mehrheitsprinzips als Verkörperung der politischen Gleichheit und andererseits die Verfassungsrolle der Ausgewogenheit zwischen widerstreitenden Parteien. Es sind diese zwei Qualitäten der circa 22 etablierten funktionierenden Demokratien, die ihnen ihre verfassungsrechtliche Qualität verleihen und die Grundlage für einen zeitgenössischen politischen Konstitutionalismus bilden.
Politische Gleichheit und Mehrheitsprinzip Die »konstituierende« Bedeutung des Mehrheitsprinzips kann am besten vor dem Hintergrund bestimmter inhärenter Schwierigkeiten des rechtlichen Konstitutionalismus verstanden werden. Wie wir gesehen haben, liegen dem rechtlichen Konstitutionalismus zwei miteinander verbundene
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Behauptungen zugrunde. Die erste besagt, dass wir zu einem rationalen Konsens über die wesentlichen Ergebnisse kommen können, die eine Gesellschaft erzielen sollte, die sich den demokratischen Idealen von gleicher Sorgfalt und Achtung verschrieben hat. Diese Ergebnisse werden am besten im Sinne von Menschenrechten ausgedrückt und sollten das grundlegende Recht einer demokratischen Gesellschaft bilden. Die zweite Behauptung besagt, dass der gerichtliche Prozess bei der Identifizierung dieser Ergebnisse zuverlässiger ist als der demokratische Prozess. Beide Behauptungen sind anfechtbar. Der Wunsch, eine schlüssige und normativ attraktive Vision einer gerechten und wohlgeordneten Gesellschaft zu artikulieren, ist zweifelsohne ein nobles Unterfangen. Es hat in allen Zeiten Philosophen und Bürger inspiriert. Aber obwohl alle, die sich dieser Aufgabe widmen, bemüht sind, andere von der Wahrheit ihrer eigenen Position zu überzeugen, ist dies bisher noch keinem gelungen. Widerstreitende Meinungen von ähnlich kompetenten Theoretikern wuchern nach wie vor: ihre Meinungsverschiedenheiten reflektieren und bereichern, manchmal zu jedem erdenklichen Thema, von der Steuerpolitik bis zur Gesundheitsversorgung, die politischen Debatten gewöhnlicher Bürger. Die Tatsache von Meinungsverschiedenheiten beweist nicht, dass keine Theorie von Gerechtigkeit wahr ist. Es bedeutet auch nicht, dass eine demokratische Gesellschaft nicht eine Verpflichtung auf Rechte und Gleichheit einschließt. Sie zeigt jedoch, dass es Grenzen unserer Fähigkeit gibt, die wahre Theorie von Rechten und Gleichheit zu identifizieren und so Andere von der Wahrheit zu überzeugen, das heißt uns fehlt eine Epistemologie, die in der Lage wäre, unsere unterschiedlichen ontologischen Positionen zu begründen. John Rawls hat diese Grenzen mit der »Bürde des Urteils« assoziiert. Selbst der am besten argumentierte Fall kann auf einen vernünftigen Widerspruch stoßen, beispielsweise aufgrund der komplexen Natur vieler Sachinformationen, der Unsicherheit bezüglich der Bedeutung für einen Fall, der Uneinigkeit über die Gewichtung von Werten, der Vagheit von Konzepten, der vielfältigen Hintergründe und Erfahrungen verschiedener Personen, der Vielfalt normativer Erwägungen, die bei einem Thema mitwirken, oder aufgrund der Schwierigkeit, eine abschließende Beurteilung ihres relativen Gewichts durchzuführen. Diese Schwierigkeiten neigen dazu, sich zu vervielfachen, wenn es um den Entwurf von Politik geht, die unser favorisiertes Ideal der demokratischen Gerechtigkeit fördert. Teilweise ergibt sich das Problem aus der Komplexität von Ursache und Wirkung im sozialen und wirt-
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schaftlichen Leben, sodass es schwierig ist, zu beurteilen, welche Folgen eine konkrete Maßnahme haben wird. Aber ebenso wie die Schwierigkeit, festzulegen, welche Politik konkrete Werte verwirklichen wird, bedeuten auch Meinungsverschiedenheiten über die Natur dieser Werte, dass es schwierig sein wird, jene politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen zu identifizieren, die diese Werte am besten umsetzen werden. So zeigen sich beide Arten dieser Schwierigkeiten, wenn Philosophen oder Bürger den Grad diskutieren, inwieweit Marktabsprachen gerecht sind oder die Änderungen, die notwendig sind, um sie gerecht zu machen. Wie sehr sie die Bemühungen, Ansprüche oder Verdienste der Menschen reflektieren können oder sollten, wird aus Gründen, die sowohl normativ als auch empirisch sind, heftig debattiert. Diese Probleme mit der ersten Behauptung des rechtlichen Konstitutionalismus werfen Zweifel auf im Hinblick auf seine zweite Behauptung über die Pflichten der Richter. Wenn es vernünftige Meinungsverschiedenheiten über Gerechtigkeit und ihre Auswirkungen gibt, dann wird es unglaubhaft, Richter dahingehend zu betrachten, dass sie ihre Entscheidungen auf der »korrekten« Ansicht dessen fällen, was die demokratische Gerechtigkeit in bestimmten Umständen fordert. Es gibt keine guten Gründe zu glauben, dass sie erfolgreich sein können, wo politische Philosophen von Platon bis Rawls gescheitert sind. Bestenfalls muss die überlegene Position, die Vertreter des rechtlichen Konstitutionalismus ihnen zusprechen, auf Gerichten ruhen, die eine gewissenhaftere und besser informierte Schlichtung der Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, die in Bezug auf Rechte und Gleichheit entstehen, liefern können als die demokratische Politik. Allerdings verschiebt dieser Wechsel in der Rechtfertigung die Aufmerksamkeit von den Ergebnissen auf den Prozess und suggeriert eine etwas andere Auffassung der Verfassung in einer demokratischen Gesellschaft. Anstatt die Verfassung als Verkörperung der Essenz der demokratischen Werte zu betrachten, weist sie auf ein Verständnis, sie als ein Verfahren für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten über die Natur und die Implikationen von demokratischen Werten auf eine Art und Weise zu betrachten, die gewissenhaft und unparteiisch die strittigen Meinungen und Interessen abwägt, und dies auf eine Weise, die ihnen gleiche Sorgfalt und Achtung entgegenbringt. Die Verfassung, anstatt eine Ressource für die grundlegenden Antworten auf die Frage zu sein, wie man eine demokratische Gesellschaft organisiert, repräsentiert eine grundlegende Struktur für das Erreichen kollektiver Entscheidungen über die sozialen Arrangements
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auf demokratische Weise. Das bedeutet, auf eine Weise, die die Bürger so behandelt, dass ihre Belange gleichermaßen respektiert werden, wenn es darum geht, über den besten Weg zu entscheiden, ihre kollektiven Interessen zu verfolgen. Der politische Konstitutionalismus macht hier zwei entsprechende Behauptungen zu denen des rechtlichen Konstitutionalismus. Die erste lautet, dass wir den wesentlichen Ergebnissen widersprechen, die eine Gesellschaft, die sich den demokratischen Idealen von Gleichheit bei Sorgfalt und Achtung verschrieben hat, erreichen solle. Die zweite Behauptung besagt, dass der demokratische Prozess legitimer und effektiver ist als der gerichtliche Prozess bei der Beilegung dieser Meinungsverschiedenheiten. Ich habe bereits die Quellen für unsere berechtigten Meinungsverschiedenheiten über Rechte beschrieben. Was ist mit den widerstreitenden Verdiensten von Gerichten und demokratisch gewählten Legislativen als Mechanismen zur Lösung von Meinungsverschiedenheiten? Gerichte können offensichtlich für sich in Anspruch nehmen, einen fairen und unparteiischen Prozess für die Beilegung von Streitigkeiten zu liefern, bei dem alle als Gleiche behandelt werden. Wenn es aber um Entscheidungen über unser kollektives Leben geht, die Verfassungsgerichte ja implizit treffen, wenn sie Gesetze oder Maßnahmen der Exekutive außer Kraft setzen oder Präzedenzfälle schaffen, ist es meine Überzeugung, dass ihnen die innere Fairness und Unparteilichkeit demokratischer Prozesse fehlt, nämlich die Ansicht jeder Person gleich zu behandeln. Sie begrenzen den Zugang und engen in ungebührender Weise die Spanne der Argumente und Hilfsmittel ein, die man berücksichtigen könnte, und sind den Bürgern gegenüber weder rechenschaftspflichtig noch in einer Weise zugänglich, die sicherstellt, dass ihre Meinungen und Interessen dieselbe Sorgfalt und Achtung erhalten. Gerichtsverfahren sind eine zeitaufwändige Angelegenheit, wobei Verfassungsgerichte zwangsläufig sehr selektiv sein müssen, welche Fälle sie verhandeln. Wenn sie einen Fall verhandeln, wird der Fall als ein Rechtsstreit zwischen zwei Prozessparteien geführt und die einzigen Personen und Argumente, die klageberechtigt sind, werden sich auf die Rechtsfragen beziehen, die von den Betroffenen aufgeworfen werden. Dieser Legalismus ist unerlässlich für ein »normales« Gerichtsverfahren und ist eng verknüpft mit dem Rechtsstaatsprinzip im formalen Sinn bekannter und einheitlich interpretierter Gesetze. Es ist aber ungeeignet, um die Bedeutung grundlegender politischer Grundsätze für das kollektive Leben einer Gemeinschaft zu bestimmen. Bei dieser Art Entscheidung
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bergen die Einschränkungen, die ein Rechtsprozess mit sich bringt, Gefahr, wichtige Erwägungen auf eine Weise außer Acht zu lassen, die in Bezug auf allgemeine Fragen, die im Fall aufgeworfen werden, willkürlich sein können. Ein eingeschränkter Zugang zu und eine eingeschränkte Klageberechtigung vor Gericht bedeuten, dass nicht alle potenziell relevanten Erwägungen eine gleichberechtigte Chance erhalten, präsentiert zu werden. Schließlich, und dies ist am wichtigsten, sind es die Richter, die entscheiden. Darüber hinaus können sie auch unterschiedlicher Meinung sein. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Relevanz und Interpretation der Gesetze, die Gewichtung unterschiedlicher moralischer Werte, der empirischen Belege – tatsächlich hinsichtlich aller Faktoren, die mit Grundsätzen verbundene Meinungsverschiedenheiten unter den Bürgern hervorrufen. In der Zwischenzeit lösen sie ihre Meinungsverschiedenheiten durch eben das demokratische Verfahren, von dem sie behaupten, es zu ersetzen – den Mehrheitsbeschluss. Wir hören nie etwas über die potenziellen Gefahren einer tyrannischen richterlichen Mehrheit, sie ist aber weitaus wahrscheinlicher als bei Legislaturen oder der Wählerschaft. Unter Richtern ist der Mehrheitsbeschluss einfach eine Entscheidungshilfe bei einer willkürlichen Ansammlung von Meinungen. Er weist keine der inhärenten Tugenden auf, die mit ihm in einer Demokratie verbunden sind, als faire Methode, den Ideen und Interessen jedes Mitglieds der Bevölkerung gleiche Sorgfalt und Achtung entgegenzubringen. Tatsächlich kann die einzelne Entscheidung eines Richters ein Urteil dramatisch verändern, etwas, was noch nie in einer Wahl geschehen ist und auch in der Legislative Seltenheitswert hat. Hiermit erreichen wir den Kern dessen, was bei der verfassungsrechtlichen gerichtlichen Prüfung falsch läuft – ihre Willkürlichkeit. Es gibt keine angemessene Grundlage, um die Überlegenheit einer konkreten rechtlichen Verfassung und ihrer Interpreten über den Rest der Bürgerschaft zu beweisen. Nicht nur kann der Prozess an sich ungeeignet sein, um eine vollständige und gleiche Abwägung der betroffenen Rechte und Interessen zu erhalten, sondern er – und dies wiegt am schwersten – bezieht keine Bürger als Gleiche ein. Die Bürger müssen über ihre Pflichten »belehrt« werden, um Frau Booths entlarvenden Terminus aufzugreifen, anstatt sie auf gleicher Basis zu definieren und auf sie einzugehen. Der größte Vorteil der demokratischen Abstimmung liegt darin, dass sie dieses willkürliche Arrangement außer Kraft setzt. Bei der Mehrheitsentscheidung hat jede Person eine Stimme und keiner mehr als eine Stimme. Alle Bürger werden diesbezüglich gleich behandelt, einschließlich der Richter und Mitglieder
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der aktuell im Amt befindlichen Regierung. Der Grund, warum die Legislative bestimmte Ansichten von Personen anderen vorziehen, ist der, dass mehr Menschen für die Vertreter einer bestimmten Partei gestimmt haben als für die einer anderen Partei. Diese »Zählergebnisse« der demokratischen Abstimmung werden manchmal als mechanisch oder »statistisch« kritisiert. Was immer man den vermeintlichen Mängeln der demokratischen Entscheidungsfindung vorwerfen kann, im Kontext der Meinungsverschiedenheiten hat dieser sehr mechanische Aspekt der Demokratie einen eindeutigen Vorteil. Er erlaubt jenen auf der Verliererseite, ihre Integrität zu bewahren. Sie haben das Gefühl, dass ihre Ansichten ebenso viel Respekt erhalten haben, wie jene der Gewinner, dass ihre Stimmen gleichgewichtig sind und dass die Gewinner dadurch nicht »Recht haben«, während sie »unrecht« haben, sondern lediglich die aktuelle Mehrheit vertreten. Es wurde argumentiert, dass diese Position paradox ist.«5 Aber jedes aus der realen Welt stammende und damit fehlbare Entscheidungsverfahren schließt ein, eine gewisse Unterscheidung zwischen der Legitimität des Prozesses und der eigenen Meinung zum Ergebnis zu akzeptieren. Schließlich können Gerichte (und sie tun dies auch) Ergebnisse produzieren, mit denen die Prozessparteien oder Beobachter nicht übereinstimmen, sie verlangen aber nichtsdestotrotz, dass man diese akzeptiert, weil sie die Normen eines ordnungsgemäßen Prozesses erfüllen. Die Besonderheit des demokratischen Prozesses liegt darin, dass er eben die politische Moral des gegenseitigen Respekts fördert, von der Konstitutionalisten behaupten, sie wollten sie fördern. Denn der demokratische Prozess schließt ein, die eigene Meinung lediglich als eine unter vielen zu verstehen, auch wenn man leidenschaftlich für sie empfindet, weil Andere ihre Meinungen ebenso leidenschaftlich vertreten. Demokratische Bürger müssen Abstand von ihren eigenen bevorzugten Meinungen nehmen und anerkennen, dass ihnen Gleichgestellte als Träger alternativer Meinungen die gleiche Sorgfalt und Achtung zusteht. Nur mittels einer solchen Distanz ist es uns möglich, in Zeiten politischer Meinungsverschiedenheiten gleichgestellt zu leben, indem wir geeignete Methoden finden, uns zu einigen, selbst wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.
—————— 5 Wollheim 1962: 84.
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Gleichgewicht der Kräfte und Parteienkonkurrenz Nun mag die Mehrheitsentscheidung ein legitimer konstituierender Prozess sein, das heißt eine faire Methode für kollektive Entscheidungen, aber sie ist nicht zwangsläufig ein geeigneter verfassungsrechtlicher Prozess, der die Tyrannei der Mehrheit durch die Aufrechterhaltung der Rechte vermeidet und alle in bedeutsamer Weise als gleichgestellt vor dem Gesetz behandelt. Tatsächlich geht, wie ich bereits dargelegt habe, das verfassungsrechtliche Design politischer Institutionen davon aus, dass dem nicht so ist, und es wurden aus diesem Grund Absicherungen eingebaut, um ein Gegengewicht zur Mehrheit zu ermöglichen. Auch hierbei wirft, wie ich ebenfalls ausgeführt habe, die US-amerikanische Verfassung lange Schatten. Die klassische Doktrin der »gemischten Verfassung« lieferte die vordemokratische Form der politischen Verfassung. Die Idee geht von einer Teilung der Gesellschaft in verschiedene Klassen mit klar zu unterscheidenden Interessen aus: namentlich das Volk, die Aristokratie und die Monarchie. Die Crux war, ein Gleichgewicht dieser drei Gruppen zu erreichen. Die Mehrheit in diesem Kontext bezog sich auf die größte Gruppe, nämlich die gewöhnlichen Bürger. Später versuchten Theoretiker, am bekanntesten unter ihnen die Verfasser der Federalist Papers, dieses Denken auf eine formal klassenlose Gesellschaft anzuwenden. Allerdings fürchteten auch sie weiterhin, die Besitzlosen hätten konkrete Interessen, die sich von denen der restlichen Bevölkerung unterschieden, und dass sie in einer Demokratie ihre Stimmen dazu benutzen könnten, die Ressourcen von den Reichen auf die Armen zu verteilen. Eine ähnliche Sorge betraf die zahlreichen eigennützigen Fraktionen, die eine populistische Politik missbrauchen könnten, die Macht zu erlangen und ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Sie erachteten mehrheitsbeschränkende Maßnahmen, die lediglich die alten Methoden der Machtverteilung neu verarbeiteten, als notwendig an, um sich gegen diese Risiken zu schützen. Die Aufteilung der Macht auf verschiedene Zweige der Regierung war eine Adaption der »Mischverfassung« und der Versuch, die Interessen unterschiedlicher sozialer Gruppen in ein Gleichgewicht zu bringen. Diese Aufteilung sollte verhindern, dass die Mehrheitsgruppe in der Legislative oder eine populistische Exekutive eine Position erlangte, um Gesetze für ihre eigenen Zwecke zu erlassen. Ein Zweikammersystem bot eine weitere Absicherung, wobei davon ausgegangen wurde, dass die zweite Kammer sowohl langfristigere Interessen als auch, in einem föderalen System, Inte-
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ressen unterschiedlicher Regionen vertreten würde. Allerdings ist es eine herausragende Wirkung dieses Mechanismus gewesen, die Vetomöglichkeiten zu vervielfachen und Ungleichgewichte zu schaffen, die Kapitalinteressen und privilegierte Positionen favorisierte. Denn sie kommen dem Status quo zugute. Als solches haben sie unausweichlich eine regressive Wirkung. So ermöglichten sie zum Beispiel in den USA den Gerichten der Bundesstaaten und den Bundesgerichten, im Zeitraum von 1885 bis 1935 nahezu 150 Arbeitsgesetze niederzuschlagen, ähnlich denen, die in ungefähr demselben Zeitraum in den westlichen Demokratien ohne diese Einschränkungen verabschiedet wurden. Eine Änderung kam erst, als eine chronische Wirtschaftsrezession und ein Krieg einem immens populären Präsidenten mittels einer großen legislativen Mehrheit erlaubten, gerichtliche und andere Hürden gegen eine soziale Reform zu überwinden. Natürlich warten die Gegner dieser Sozialgesetzgebung selten mit eigennützigen Argumenten auf. Vielmehr behaupten sie, sie würden die Eigentumsrechte bewahren, die für ein dynamisches Wirtschaftssystem erforderlich seien und die es im öffentlichen Interesse aufrecht zu erhalten gelte. Daher die Notwendigkeit, diesen Rechten einen verfassungsrechtlichen Schutz vor kurzsichtigen Mehrheitsrufen nach einer Umverteilung zu geben. Allerdings vertreten die Befürworter einer sozialen Gerechtigkeit eine ähnlich prinzipiengestützte Ansicht, wobei sie ebenfalls auf Argumente für eine wirtschaftliche Effizienz hinweisen und dementsprechend eine Konstitutionalisierung sozialer Rechte anstreben. Diese Debatten sind die Hauptursache für »angemessene Meinungsverschiedenheiten« in der zeitgenössischen Politik. Tatsächlich ist es so, dass die ideologische Kluft zwischen Links und Rechts die grundsätzliche politische Trennlinie in den meisten Demokratien darstellt. Der dauerhafte Charakter dieser Kluft ergibt sich zu einem großen Teil aus echten Schwierigkeiten, zu bestimmen, was genau eine Verpflichtung auf Freiheit und Gleichheit einschließt, entweder im Hinblick auf soziale Vereinbarungen oder auf konkrete Politikempfehlungen. Beide Ansichten neigen dazu, ein bestimmtes Maß an Vorstellungskraft und eine kontinuierliche Aktualisierung angesichts der Erfahrungen und sich verändernden Umstände einzuschließen. Die Konstitutionalisierung einer der beiden Positionen würde lediglich die Debatte zugunsten des vorherrschenden Zeitgeistes beeinflussen, in der Regel zugunsten der dann einflussreichsten Gruppen, indem sie die Kritikmöglichkeiten und die gleiche Erwägung von Interessen beschneidet.
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Im Gegensatz dazu haben wir gesehen, dass ein wichtiger Grund für die Demokratie darin liegt, dass sie die politische Gleichheit durch faire Verfahren verankert, durch die solche Meinungsverschiedenheiten beigelegt werden können. Dass dies ebenfalls ein Verfassungsprozess ist, ergibt sich aus der Art und Weise, wie sie dem alten Gedanken der Ausgewogenheit eine neue und dynamische Form verleiht, sodass betroffene Individuen dazu veranlasst werden, sich an die klassische Forderung zu halten, die »andere Seite anzuhören«, was das Herzstück der verfahrensrechtlichen Auffassung von Gerechtigkeit bildet. Diese fordert die Gewichtung der Argumente für und gegen eine Politik und den Versuch, diese in einer Entscheidung in ausgewogener Weise zu berücksichtigen. Außerdem schließt sie Möglichkeiten ein, eine Politik anzufechten und zu verbessern, sollte sie nicht korrekt umgesetzt werden, unvorhersehbare Folgen haben (einschließlich Scheitern) oder den gegebenen Umständen nicht mehr angemessen sein. Schließlich macht sie die Regierenden den Regierten gegenüber rechenschaftspflichtig und zugänglich und hindert sie daran, sich selbst als separate Klasse mit eigenen konkreten Interessen zu verstehen. Diese Qualitätsmerkmale bieten einen Verfahrensansatz, um Individuen gleiche Sorgfalt und Achtung zu zeigen. Alle drei Vorstellungen der Ausgewogenheit finden sich in der Mehrheitsentscheidung bei Wahlen zwischen den konkurrierenden Parteien. Dieser Mechanismus fördert die gleiche Gewichtung der Argumente, um gleichen Respekt zu zeigen, liefert ausgewogene Entscheidungen, welche die gleiche Sorgfalt belegen, und schließt Gegengewichte ein, die Möglichkeiten für Opposition und Überprüfung und auf diesem Wege Anreize für eine zugängliche und verbesserte Entscheidungsfindung seitens der Politiker schaffen. Lassen Sie uns darauf im Einzelnen eingehen. Ich habe bereits angemerkt, dass »eine Person, eine Stimme« die Menschen als Gleiche behandelt. Laut Kenneth May ist diese Aussage anonym, neutral und eindeutig zugänglich sowie ausschlaggebend. Allerdings ergeben sich mit diesen drei oder mehr Optionen potenziell allgemein bekannte Probleme. Wie Kenneth Arrow, ein anderer Wirtschaftswissenschaftler, und seine Anhänger gezeigt haben, ist unter diesen Umständen jede soziale Forderung nach individuellen Präferenzen, nicht zuletzt der Mehrheitsentscheidung, wahrscheinlich arbiträr. Allerdings sind, obwohl sie logisch möglich sind, Zyklen und die sich daraus ergebenden Probleme der Instabilität, Zusammenhanglosigkeit oder Manipulation selten. Die Spannbreite an Optionen, die
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sowohl von der Wählerschaft als auch den Gesetzgebern berücksichtigt werden muss, ist erheblich kleiner als die facettenreichen Abstufungen, die Menschen für die gesamte Spanne politischer Themen bieten. Statt dessen wählen sie zwischen einer kleinen Zahl von Parteiprogrammen. Parteien und die ideologischen Traditionen, die sie repräsentieren, sozialisieren die Wähler, damit ihre Präferenzen sich ausreichend ähneln, sodass Zyklen durch relativ simple Entscheidungsregeln unüblich und aufhebbar sind und den Wählern helfen, das Politikpaket zu wählen, das am besten ihre bevorzugten Optionen widerspiegelt. Und auch wenn Wahlsysteme unterschiedliche Ergebnisse erzielen können, muss man die Entscheidung zwischen ihnen nicht als arbiträr betrachten – alle realistischen Anwärter können legitimerweise Anspruch auf Fairness erheben und besitzen wohlbekannte Vorteile und Nachteile, die sie für unterschiedliche soziale Umstände geeignet macht. Man könnte einwenden, dass diese Wirkungen von Eliten ausgehen, die Parteiagenden dominieren und sie zu Machtinstrumenten machen. Allerdings hat sich gezeigt, dass Parteiprogramme sich im Laufe der Zeit häufig ändern und die Interessen der sozialen und wirtschaftlichen Zielgruppen vielfältig widerspiegeln. Wahlkampagnen bestimmen in bemerkenswerter Weise die Politik, wobei die Parteidisziplin die Politiker weitaus eher zu Delegierten der Wählerschaft als zu Verwaltern macht. Der Wettstreit der Parteien spielt eine wichtige Rolle beim Fällen ausgewogener Entscheidungen. Um Wahlen zu gewinnen, müssen die Parteien in einem allgemeinen Regierungsprogramm eine breite Koalition an Meinungen und Interessen zusammenbringen. Selbst in PR-Systemen, in denen die Parteien Anreize haben, sich an eine relativ kleine Wählerschaft zu wenden, müssen sie ihre Programme kompatibel für potenzielle Koalitionspartner machen, um eine Chance auf die Regierung zu erhalten. In jedem dieser Fälle werden Mehrheiten durch die Suche nach wechselseitig akzeptablen Kompromissen aufgebaut, die versuchen, eine Reihe unterschiedlicher Ansichten in einer einzigen komplexen Position zusammenzufassen. Diese Kompromisse werden manchmal als prinzipienlos und unzusammenhängend kritisiert, die eine »Gießkannenpolitik« fördere, bei der die Wähler gemäß ihrer Fähigkeit gekauft werden, das Ergebnis und nicht so sehr die Leistungen ihrer Sache zu beeinflussen. Trotz eines Systems freier und gleicher Wahlen können manche Stimmen mehr zählen als andere, wenn sie Wahlkampfspenden bringen, »ausschlaggebende« Stimmen sind oder die Umsetzung einer bestimmten Politik erleichtern. Allerdings werden die unterschiedlichen For-
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men der politischen Mittel auf verschiedene Bereiche der Gemeinschaft verteilt, während ihre relative Bedeutung und wer sie in Händen hält, gemäß den Richtlinien variiert. Demokratische Gesellschaften zeichnen sich ausnahmslos durch zumindest gewisse gruppenübergreifende Teilungen aus, zum Beispiel Religion, die unterschiedliche Gruppen bei verschiedenen Themen vereint. Viele dieser Bindungen beziehen sich nicht auf Interessen im engen wirtschaftlichen Sinne, sondern auf gemeinsame Werte. Schließlich würde ein absolut selbstbezogener Wähler sich gar nicht erst die Mühe machen, zur Wahl zu gehen. Diese Merkmale der demokratischen Politik kreiert Anreize, Wechselseitigkeit zu praktizieren und unterstützt so Solidarität und Vertrauen bei den Bürgern. Treffend als Mittelweg zwischen eigennützigem Handel und ethischem Universalismus beschrieben, schließt die Wechselseitigkeit den Versuch ein, Anderen in einem gemeinsam benutzbaren Politikpaket Raum zu geben. Dieser Versuch der gegenseitigen Gefälligkeiten schafft keine Synthese oder einen Konsens, da er viele Elemente enthält, die diejenigen, isoliert betrachtet, ablehnen würden. Vielmehr reagiert er auf die unterschiedlichen Gewichtungen, die Wähler bestimmten Politikansätzen oder Dimensionen eines Problems zusprechen, die entweder Kompromisse zulassen oder die Betroffenen verpflichten, ein gegenseitiges Zweitbestes zu wählen, wenn zu viele Aspekte in Konflikt geraten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Beste nicht zum Feind des Guten gemacht wird. So können jene, die gegen die Staatsausgaben und die Außenpolitik sind, aber deren Bedeutung unterschiedlich einstufen, ein Paket akzeptieren, das jedem das gibt, was ihm wichtig ist. In ähnlicher Weise können eheähnliche Gemeinschaften eine akzeptable zweitbeste Lösung für Gegner und Befürworter der Homosexuellenehe sein. In Fällen angemessener Meinungsverschiedenheiten erkennen diese Kompromisse das Recht Anderer an, dass ihre Meinungen mit gleicher Sorgfalt und Achtung behandelt werden. Sie spiegeln legitimerweise die Ausgewogenheit der Meinungen in der Gesellschaft wider. Natürlich können sich manche Gruppen immer noch ausgegrenzt oder unzufrieden fühlen, während die Ausgewogenheit zwischen den Anderen sich ändern kann, da die Interessen und Ideale sich mit dem sozialen Wandel anpassen. Das Gegengewicht der Parteienkonkurrenz kommt hier zum Tragen. Die Präsenz einer dauerhaften Opposition und regelmäßige Wahlen bedeuten, dass die Regierungen auf die politischen Fehlschläge und Veränderungen der öffentlichen Stimmung eingehen müssen, die durch neue Entwicklun-
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gen hervorgerufen werden. Die Bereitschaft der Parteien, ihre Politik zu ändern, wird häufig als Beleg ihrer Prinzipienlosigkeit und die grundsätzlich eigennützigen Motive von Politkern und Bürgern gleichermaßen betrachtet. Diese Vorstellung von Parteien, die zynisch ihre Positionen ändern, um kurzfristig Popularität zu genießen, wird jedoch von der Wirklichkeit widerlegt. Plötzliche Kehrtwenden sind bemerkenswert selten, vor allem auch weil die Parteien und ihre Kernwählerschaft bestimmte wichtige ideologische Verpflichtungen beibehalten, die an die Veränderungen in der Politik angepasst werden müssen. Trotzdem führt die Tatsache, dass Parteien sich selbst als Verkörperungen unterschiedlicher, aber nicht diametral gegensätzlicher Meinungen sehen, zu einem effektiven Wettbewerb, der Annäherung an den Durchschnittswähler schafft, der in der Regel der bevorzugte Wähler ist und technisch als Condorcet-Gewinner bezeichnet wird. Im Gegensatz dazu entfernt (im Fall der Gerichte) oder schwächt (im Fall der gewählten Vertretungen) die Gewaltenteilung diese Anreize, denn die zahlreichen Zweige der Regierung können kaum als konkurrierend bezeichnet werden. Insbesondere die Fähigkeit der Gerichte, sich vom öffentlichen Meinungsdruck zu lösen, wird häufig als Vorteil gesehen. Es kann aber auch zur Schuldabwälzung führen, da die Verantwortung aufgeteilt wird, wobei jeder Zweig versucht, die politischen und finanziellen Kosten ihrer Entscheidungen einem oder mehreren zuzuweisen. Föderale Vereinbarungen können häufig ähnliche Nachteile aufweisen.
Tyrannei der Mehrheit? Natürlich wird es für diese Mechanismen immer schwieriger zu funktionieren, je polarisierter die sozialen Spaltungen sind. Die Gefahr der Vorherrschaft der Mehrheit steigt in Gesellschaften, die tiefe ethnische, religiöse oder sprachliche Gräben aufweisen. Unter diesen Umständen erfordern die demokratischen Vereinbarungen in der Regel Maßnahmen, um den Einfluss der Minderheit zu sichern. Streng genommen braucht man viele dieser Maßnahmen nicht als Anti-Mehrheit zu betrachten. Die Stärkung der Proportionalität stellt einfach eine fairere Methode zur Berechnung der Mehrheit dar als unser Mehrheitswahlrecht, während eine größere regionale Autonomie für territorial begrenzte Minderheiten lediglich die Entscheidungsfindung bei einer bestimmten Politik auf eine andere Mehrheit
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überträgt. Wo es notwendig ist, über die Proportionalität hinaus Minderheiten ein Vetorecht oder eine gleichberechtigte oder stark ausgebaute Rolle in der Exekutive oder bei der nationalen Rechtsetzung zu geben, entsteht die Gefahr, dass die aus der Parteienkonkurrenz ergebende Gewaltenteilung erodiert wird. Die Eliten der unterschiedlichen sozialen Bereiche gewinnen ein Interesse daran, in Debatten über die Organisation der Regierung die konkreten Unterteilungen, die sie widerspiegeln, gegenüber anderen Unterschieden oder gemeinsamen Erwägungen zu betonen und die Rechenschaftspflicht für ihr Verhalten zu unterminieren. Allerdings kann eine Rechtsverfassung kaum diesen Tendenzen entgegenwirken. Sie wird sie entweder reproduzieren, wobei ihre Legitimität vom Grad abhängt, in dem das Gericht und die Verfassung die wichtigsten politischen Gruppierungen widerspiegelt, oder sie wird richtiger- oder fälschlicherweise mit der dominierenden Elite gleichgesetzt, die das größte Interesse an der Bewahrung der Einheit hat. Was ist mit »unauffälligen und inselartigen Minderheiten«? Laut dem amerikanischen Juristen Mark Tushnet »müssen wir zwischen reinen Verlierern und Minderheiten unterscheiden, die verlieren, weil sie sich in der Politik nicht schützen können.«6 In den meisten Demokratien ist die Zahl der Minderheiten, die nicht in der Lage sind, sich mit anderen zu verbinden, um einen gewissen Grad an politischem Einfluss zu sichern, sehr gering. Allerdings gibt es unbestreitbar bestimmte Gruppen, wie zum Beispiel Asylsuchende oder Roma, die kaum oder gar keine Möglichkeit haben, sich in die Politik einzubringen. In diesen Fällen könnte die Notwendigkeit für einen verfassungsrechtlichen Schutz unbestritten erscheinen. Aber selbst hier ist ein solcher Schutz nur dann erforderlich, wenn angenommen wird, dass solche Minderheiten Gefahr laufen, durch eine Mehrheit der Bevölkerung und deren gewählte Vertreter benachteiligt zu werden und das Gerichtswesen frei von diesen Vorurteilen ist. Allerdings halten es die meisten Verteidiger des rechtlichen Konstitutionalismus für unwahrscheinlich, es sei denn die Rechte, die er verkörpert, ist Ausdruck einer gemeinsamen Ideologie der Bevölkerung in Bezug auf die Art und Weise, wie ihre Gesellschaft regiert werden soll, und sind »Volksrecht« und nicht nur »Anwaltsrecht«. Wie das Beispiel Nazi-Deutschland zeigt, werden die weitverbreiteten Vorurteile gegen eine Minderheit sehr wahrscheinlich von einem bedeutenden Teil der herrschenden Elite geteilt, einschließlich des
—————— 6 Tushnet 1999: 159.
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Juristenstandes, der, wenn er nicht Judikative ist, wahrscheinlich nicht in der Lage ist, sich dem nachhaltigen populären und staatlichem Druck zu erwehren. Damit gewährt die gerichtliche Prüfung nur dann einen Schutz, wenn es eine temporäre Abweichung von generell anerkannten Standards gibt. Diese Fälle, die gegen jene Fälle abgewogen werden müssen, bei denen die Judikative in ähnlicher Weise versagen kann, bieten keine Grundlage für eine generelle Verteidigung einer starken gerichtlichen Prüfung. Es kann jedoch schwierig sein, zwischen dem Ausnahmefall, bei dem es für die Judikative legitim und nutzbringend sein kann, einzugreifen, und den Standardfällen zu unterscheiden, wo dies nicht der Fall ist. Gerichtliche Entscheidungen können auch die politische Mobilisierung beeinträchtigen oder verzerren, sie ist aber bei deren Fehlen selten erfolgreich. Die wichtigsten »liberalen« Entscheidungen des US Supreme Court in den 1960er Jahren, auf die sich die meisten zeitgenössischen Befürworter des rechtlichen Konstitutionalismus beziehen, zum Beispiel Roe v. Wade und Brown v. Board of Education, spiegeln alle entstehende nationale Mehrheiten wider. Die liberale Gesetzgebung hat in den meisten Staaten bedeutet, dass bereits lange vor Roe nahezu 600.000 rechtmäßige Abtreibungen jährlich durchgeführt wurden. Die engen Grenzen, in denen Roe entschieden wurde, hatte vielmehr den negativen Effekt der »Privatisierung« von Abtreibungen, mit der Folge, sie als soziale Frage zu behandeln, die öffentliche Gelder benötigte. Außerdem hat die Entscheidung die politische Arbeit darauf konzentriert, das Gericht festzulegen, anstatt sich mit den Argumenten der Anderen auseinander zu setzen. Im Vergleich dazu kommen die umfangreichen moralischen Diskussionen in den Commons über das »Medical Termination of Pregnancy Bill«, das im Hansard über 100 Seiten einnimmt, im Gegensatz zu den wenigen Absätzen eines Wertearguments, und nicht eines Rechtsarguments in Roe gut weg. Es führte insbesondere die Gegner dazu, die respektvolle Anhörung ihrer Meinungen anzuerkennen, was mit dazu beitrug, sie mit der Entscheidung auszusöhnen. Tatsächlich schließt die sich daraus ergebende Politik zahlreiche Formen eines prinzipiellen »Kompromisses« ein, um eine Bandbreite moralischer Bedenken zu berücksichtigen, u.a. den entstehenden Status des Fötus. In ähnlicher Weise hatte die Bürgerrechtsbewegung weitaus mehr Einfluss als Brown. Zehn Jahre nach dieser bahnbrechenden Entscheidung besuchten nicht mehr als 1,2 Prozent der afroamerikanischen Kinder desegregierte Schulen in den Südstaaten. Die Aufhebung der Rassentrennung gewann
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erst nach der Verabschiedung des Civil Rights Act und des Voting Rights Act durch den Kongress in den Jahren 1964 und 1965 wirklich an Fahrt. Brauchen wir also Gerichte, um individuelle Rechte vor außergewöhnlicher Ausübung des exekutiven Ermessens zu schützen – vor allem, um die nationale Sicherheit im Ernstfall zu schützen? Wieder einmal erweist sich die Überzeugung, Gerichte böten einen ruhigeren Ort, der aufmerksamer den Rechten Gehör schenkt als die Legislativen, als falsch. Einerseits haben sowohl US-amerikanische als auch britische Gerichte in überwältigender Weise diese Maßnahmen aufrecht erhalten. Tatsächlich haben sich die US-Gerichte sehr viel geneigter gezeigt, Rechte und Bürgerrechte in Krisen zu beschneiden als im Frieden. Ungeachtet der fragwürdigen Rechtfertigung dieser Maßnahmen, wie zum Beispiel die Internierung japanisch-stämmiger Amerikaner im Zweiten Weltkrieg oder das Verbot der Kommunistischen Partei im Kalten Krieg, hat die Judikative sich der Exekutivmacht gebeugt. Es wäre jedoch schwer für sie, anders zu handeln, da sie weder Zugang zu den Informationen noch die Verantwortung für die Beurteilung dieser Risiken hat. Im Großen und Ganzen hat sie sich auf die verfahrenstechnische Angemessenheit dieser Maßnahmen konzentriert. Andererseits haben die gewählten Legislativen nicht immer so einen blinden Gehorsam gezeigt, wie oft behauptet wird. Parteiloyalität zerbricht häufig in diesen Fällen, eben weil die Vertreter begreifen, dass Fragen mit verfassungsrechtlicher Bedeutung auf dem Spiel stehen können. So haben zum Beispiel das vom britischen Parlament in Bezug auf Antiterrorismusmaßnahmen in Nordirland in letzter Minute verabschiedete »Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001« und nach den Bombenattentaten vom 7. Juli 2005 die noch harscheren Maßnahmen, die vom Terrorism Bill eingeführt wurden, zur ersten Niederlage von Tony Blair in den Commons seit seinem Regierungsantritt 1997 geführt. Weit davon entfernt, die Zustimmung der Bevölkerung zu erlangen, spricht alles dafür, dass diese Politik wahlentscheidend wurde.
Schlussfolgerung Dieser Artikel verteidigt die »tatsächliche existierende Demokratie« als effektiven konstituierenden und konstitutionellen Mechanismus. Aber selbst ein sympathisierender Zuhörer kann sich fragen, ob diese Verteidigung der
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modernen demokratischen Politik gegen den Konstitutionalismus des 18. Jahrhunderts nicht ein wenig spät kommt, wenn die »Eule der Minerva« schon lange vorbeigeflogen ist. Während sie im 19. und 20. Jahrhundert sehr lebendig war, befindet sich die Parteienpolitik heute in einem traurigen Zustand. Das Vertrauen in Politiker und Parteien ist in den meisten modernen Demokratien auf einem historischen Tiefststand, wobei die Parteimitgliedszahlen und die Wahlbeteiligung stetig abnehmen, wenn auch stockend und mit Unterschieden in den einzelnen Ländern. Abgesehen von den Mängeln der involvierten Akteure drängt sich der Verdacht auf, dass auch diese Mechanismen schlecht geeignet sind, um eine effektive und gleichberechtigte Regierung in der heutigen komplexen und globalisierten Gesellschaft zu sichern. Die Wählerschaft ist zu riesig und vielfältig, die Probleme zu technisch, der Umfang der Regierung zu groß, als dass der Bürger in der Lage wäre, sich effektiv miteinander, den Aufgaben der Politik und der Institutionen und den Personen zu beschäftigen, die mit diesen Aufgaben betraut sind. Ich habe zwei Beobachtungen in Bezug auf dieses pessimistische Szenario: Erstens hat auch die konstitutionalisierte »Vormundschaft« das Potenzial, dominiert zu werden. Professionalität und Fachwissen sind der Regierung in der modernen Welt inhärent, und Politiker, die selbst Experten sind, müssen sich dieses Spezialwissen entweder aneignen oder lernen, sich auf die zu verlassen, die über dieses Fachwissen verfügen. Allerdings haben die Passagiere (Bürger), auch wenn das Staatsschiff einen erfahrenen Kapitän und eine qualifizierte Crew braucht, das Recht, seinen Kurs zu bestimmen und können die Ergebnisse beurteilen, wenn diese keine gute Arbeit leisten. Ein System, das Bürgern keine gleichen politischen Mittel zur Verfügung stellt, um die Richtung und die Beschaffenheit der Politik zu beeinflussen, oder den Regierenden keine Anreize bietet, die Interessen und Sorgen der Regierten in einer weitestgehend ausgewogenen und effizienten Manier zu verfolgen, wird arbiträr sein. Es gibt keine eindeutigen, allgemein anerkannten erkennbaren Richtlinien, wie man eine gute Gesellschaft oder unfehlbare großartige und gute Menschen kreiert, um uns dorthin zu geleiten. Zweitens liegt die Konstitutionalität der konkurrierenden Parteiendemokratie eben darin, realistische Mechanismen bereitzustellen, um eben diese Arbitrarität zu überwinden: Durch Förderung eines gleichen Inputs einerseits und eine Kontrolle der Politiker und ihrer Arbeit andererseits, die eine ausgewogene Regierung unterstützt, welche den Bürgern gleiche Sorgfalt und Achtung entgegenbringt. Wenn wir ihre normati-
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ven Qualitäten mehr loben würden, wäre sie vielleicht populärer. Wenn ihre Tage jedoch wirklich gezählt sind, haben die Schwächen der Alternative, die von ihren Gegnern angeboten wird, immer noch Bestand. Der Auftrag für eine Überarbeitung der demokratischen Verfassung auf eine Art und Weise, die ihre notwendigen Tugenden erhält, ist nach wie vor dringlich.
Literatur Booth, C. (2005) ›The Role of the Judge in a Human Rights World‹, Vortrag bei der Malaysian Bar Association, 26. Juli 2005. Dworkin, R. (1996) ›Introduction: The Moral Reading and the Majoritarian Premise‹, in: Freedom’s Law: The Moral Reading of the American Constitution, Oxford University Press: Oxford, S. 1–38. Raz, J. (1998) ›On the Authority and Interpretation of Constitutions‹, in: L. Alexander (Hrsg.), Constitutionalism: Philosophical Foundations, Cambridge University Press: Cambridge, S. 153-4. Tushnet, M. (1999) Taking the Constitution Away from the Courts. Princeton University Press: Princeton. Unger, R. (1996) What Should Legal Analysis Become?, Verso: London. Waldron, J. (1999) Law and Disagreement, Oxford University Press: Oxford. Waldron, J. (1998) ›Dirty Little Secret‹, Columbia Law Review 98, S. 510-30. Wollheim, R. (1962) ›A Paradox in the Theory of Democracy‹, in: P. Laslett/W.G. Runciman (Hrsg.), Philosophy, Politics and Society, 2. Serie, Blackwell: Oxford, S. 71–87.
»Von oben« oder »Von unten«? Der Schutz der Menschenrechte – zwei Interpretationsansätze Sergio Dellavalle Die Geschichte der Menschenrechte verläuft nicht parallel zur Entwicklung der Volkssouveränität. Der Gedanke, dass es Rechte gibt, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zustehen,1 trat nämlich erst dann auf, als die antiken Formen der Partizipation des Volkes an der Regierung der Polis in eine tödliche Krise gerieten. Darüber hinaus wirkte die Auffassung, dass Rechte hauptsächlich den Status der Bürger als Angehörige einer politischen Gemeinschaft charakterisieren und eine Voraussetzung ihrer Mitwirkung am politischen Leben sind, immer als mögliche Bedrohung der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte. Die Ablehnung der abstrakten Auffassung, dass Rechte sich lediglich in einer ätherischen Sphäre über der demokratischen Partizipation befinden – eine Ablehnung, die implizite Folge ihrer Begründung in der Volkssouveränität ist –, liefert andererseits genau jene Verwurzelung der Rechte in politischen Prozessen »von unten nach oben«, die wir in vielen Formen des Universalismus vermissen.2 Betrachtet man die Frage aus der ideengeschichtlichen Perspektive, bewegt sich daher die Grundlage der Menschenrechte zwischen zwei Polen. Die erste Interpretation vertritt die Auffassung, dass Rechte »von oben«
—————— 1 Menschenrechte werden hier als diejenigen Rechte definiert, die jedem Menschen aufgrund der Tatsache zustehen, dass er zur universalen Menschengemeinschaft gehört. Im Gegensatz dazu sind Bürgerrechte jene Rechte, die nur den Bürgern eines konkreten politischen Gemeinwesens zukommen. Wenn philosophische Grundsätze oder allgemeine, insbesondere völkerrechtliche Normen in Verfassungsrechtssätzen verankert werden, welche die Institutionen eines bestimmten Gemeinwesens binden, nehmen Menschenrechte die Form von Grundrechten an. Auf dieser Ebene treffen sie auf die Rechte von Bürgern, die ihnen von diesen konkreten Gemeinwesen garantiert werden, was manchmal zu begrifflichen Unklarheiten führt. Um Missverständnissen vorzubeugen, müssen aus diesem Grund immer zwei Elemente beim Konzept der Grundrechte unterschieden werden: einerseits die Inhalte der allgemeinen Menschenrechte, andererseits die exklusiven Ansprüche der Bürger. 2 Maus 1999; 1992; 1995–1996.
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stammen, was garantiert, dass sie nicht von ausschließenden Verfahren der Volkspartizipation abhängen, gleichzeitig aber auch die Gefahr birgt, sie undurchsichtigen Instanzen zu überlassen, die behaupten, im Besitz absoluter ethischer Wahrheit zu sein. Die zweite Interpretation verlegt die Rechte in soziale und politische Prozesse und setzt damit die Partizipation der Bürger am Prozess der Festlegung von Form und Inhalt der Ansprüche voraus,3 wobei allerdings die Folge einer womöglich nur begrenzten Inklusion in Kauf genommen wird. Eine solide Auffassung der Menschenrechte benötigt jedoch sowohl universale Einbeziehung als auch demokratische Verwurzelung. Dabei gilt es allerdings, die darin verborgenen Gefahren zu vermeiden: eine abstrakte und manchmal quasi-autoritäre Definition wesentlicher Rechte einerseits und die Tendenz zum Partikularismus andererseits. Aus diesem Grund sollte eine Menschenrechtsauffassung, die anstrebt, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich zu begegnen, die unproduktive, aus den beiden Traditionen überkommene wechselseitige Ablehnung überwinden, um einige Elemente aus beiden Linien bei gleichzeitiger Vermeidung ihrer Mängel zu integrieren. Die wichtigste Aufgabe besteht darin, eine theoretische Grundlage für ein System von Rechten herauszuarbeiten, das Universalität und soziale Verwurzelung in demokratischen Prozessen vereint und beide in ein mehrschichtiges Modell der sozialen Interaktion einbettet. Die Untersuchung erfolgt in drei Schritten. Ausgehend vom Niedergang des antiken Republikanismus, konzentriert sich der erste Abschnitt auf den historischen Ursprung und, mehr noch, auf die begriffliche Grundlage der Idee eines Menschenrechtsschutzes »von oben«. Während der bahnbrechende Charakter des Ansatzes hervorgehoben wird, werden auch dessen Mängel skizziert, so zum Beispiel die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn es darauf ankommt, den Inhalt der Menschenrechte ohne direkte Mitwirkung durch deren eigentliche Träger zu definieren, oder die Gefahr, die von nahezu unkontrollierten Instanzen ausgeht, welche sich selbst als »Wächter« einer vermeintlichen, angeblich in die Gesellschaft selbst eingelassenen ethischen Wahrheit verstehen (I.). Teil II beginnt mit einem Paradigmenwechsel: Indem die Individuen in die Mitte der Gesellschaft gestellt wurden, ebnete Hobbes’ politische Philosophie den Weg für eine Konzeption der Menschenrechte »von unten«, welche die Rechte in die Hände ihrer Träger legt. Schließlich verzichten
—————— 3 Haller 2008.
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dennoch die Individuen laut Hobbes auf nahezu alle ursprünglichen Rechte, indem sie diese einem mit absoluter Souveränität ausgestatteten Monarchen übertragen. Dennoch war die neue Saat dadurch auf fruchtbaren Boden gefallen: Bei den darauf folgenden Entwicklungen der Vertragstheorie – insbesondere in den Arbeiten von Locke und Rousseau – wird die Zentralität der Individuen im politischen Gemeinwesen mit einer ausgeprägten Sensibilität für die Unveräußerlichkeit ihrer Rechte verknüpft. Aber auch die aufsteigende Auffassung der Menschenrechte – nämlich ihr Verständnis »von unten nach oben« –, welche die moderne politische Philosophie entscheidend prägt, weist zwei signifikante Probleme auf: Erstens ist sie hauptsächlich oder sogar ausschließlich auf den Schutz der Menschenrechte innerhalb der Grenzen einer einzelnen Nation fokussiert, wodurch sie die Rechte auf bloße Bürgerrechte reduziert und ihrer supranationalen Dimension damit beraubt. Zweitens läuft die individualistische Philosophie der Moderne Gefahr, Individualrechte in die Sphäre einer uneingeschränkten Volkssouveränität zu verlagern, namentlich in eine volonté générale, die leicht in Tyrannei ausarten kann (II.). Kant zeichnete den Weg vor, wie sich beide Probleme überwinden lassen: einerseits durch die Beschränkung der Risiken, die aus dem Prinzip der Volkssouveränität entstehen können, mittels einer ausgeklügelten Gewaltenteilung, andererseits durch die Einführung einer mehrschichtigen Auffassung des öffentlichen Rechts, einschließlich – und dies zum ersten Mal in der Geschichte der Rechts- und politischen Philosophie – eines auf den Prämissen des modernen Individualismus basierenden, kosmopolitischen öffentlichen Rechts. Dennoch blieb Kants Vorschlag aufgrund der Unzulänglichkeiten seines individualistischen Paradigmas teilweise unklar und deswegen auch unergiebig. Ausgehend von seinen Vorschlägen, aber über seinen paradigmatischen Horizont hinausgehend, schlägt Teil III einen neuen Ansatz vor, der auf einem kommunikativen Verständnis der sozialen Interaktion basiert (III.).
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I. Die »absteigende« Interpretation der Menschenrechte: Die Gründung »von oben« 1. Von den Nomoi der einzelnen Gemeinwesen zum universalen Nomos Nach dem Verständnis der klassischen Antike bestand die Universalität der Menschen lediglich in ihrer körperlichen Beschaffenheit und ethischen Prädisposition. Als soziale und politische Wesen galten sie hingegen als Mitglieder von Gemeinschaften mit begrenzter Reichweite. Weder Platons Konzept der »Gerechtigkeit« (δικαιοσύνη),4 noch Aristoteles Theorie der natürlichen Sozialität der Menschen5 reichten über die Grenzen der einzelnen Poleis hinaus. Gleichzeitig wurde der Gedanke der »Isonomie« (ἰσονομία), das heißt der »Gleichheit innerhalb des Geltungsbereichs des Rechts«, auf der die Praxis der politischen Freiheit im antiken Griechenland basierte,6 lediglich auf die freien Bürger der Polis angewandt, woran deutlich zu erkennen ist, dass der Gedanke des nomos – zumindest zunächst – keine universale Bedeutung hatte. Damit blieb die Betonung der Gleichheit aller Menschen unter einem allumfassenden nomos, im Vergleich zur Besonderheit ihrer Zugehörigkeit zu einem konkreten Gemeinwesen, eine absolute Ausnahme, sowohl im antiken Griechenland als auch in der römischen Republik, und hatte auf das philosophische Selbstverständnis ebenso wenig Einfluss wie auf die politische Praxis.7 Um den Gedanken einer uneingeschränkten Zugehörigkeit aller Menschen zu einer globalen Gemeinschaft herauszubilden, bedurfte es zunächst der Idee eines allgemeinen nomos. Nur durch die Unterwerfung der nomoi als der gesetzlichen Ordnungen einzelner Gemeinwesen unter ein höheres Recht konnte die Zuschreibung von Rechten nicht nur auf die Bürger, sondern auf alle Menschen erfolgen. Diese paradigmatische Revolution wurde durch die stoische Philosophie nach Ende der klassischen Isonomie und dem Übergang zu größeren, kosmopolitisch gefärbten politischen Gebilden eingeführt, die sich durch eine starke zentralisierte Macht und eine strukturelle Ungleichheit vor dem Gesetz auszeichneten, wie zum Beispiel Mazedonien unter Alexander dem Großen oder das Römische
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Platon 1990: Buch II, 367e ff., Buch IV, 432b ff., Buch V, 469b ff. Aristoteles 1995: I, 2, 1252a ff. Arendt 1963: 23. Höffe 1999/2002: 234. Tatsächlich findet sich die einzige signifikante Ausnahme in einem Satz von Heraklit: Diels/Kranz 1957: 22 B 14. Siehe auch Böckenförde 2002: 40.
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Reich. Nach stoischer Auffassung ist nicht nur die physische, sondern auch die soziale Welt einem einzigen grundlegenden Funktionsprinzip unterworfen, dem logos.8 Von diesem Prinzip wird ein allgemeines Gesetz abgeleitet, der nomos, das in seiner Universalität als Messlatte für die Gültigkeit jedes positiven Rechts konkreter Gesellschaften galt. Auf der Basis der stoischen Auffassung von Metaphysik und Ethik entwickelte sich der Gedanke einer natürlichen Vernunft, die allen rationalen Wesen – und insbesondere allen Menschen – eigen ist, und schließlich die Theorie des Naturrechts, wie es von Cicero dargestellt wurde: »Es gibt ein wahres Recht, eine richtige Vernunft, im Einklang mit der Natur, universal, unveränderlich, ewig, dessen Befehle uns zur Pflicht drängen und dessen Verbote uns vom Bösen abhalten. Gleich, ob es etwas auferlegt oder verbietet, die Guten respektieren seine Anforderungen und die Bösen behandeln es mit Gleichgültigkeit. Diesem Recht kann nicht von einem anderen Recht widersprochen werden und es erlaubt keine Abweichung oder Aufhebung. Weder der Senat noch das Volk kann uns von der Pflicht befreien, diesem universalen Recht der Gerechtigkeit zu gehorchen.«9
2. Universale Normativität, Menschenwürde und subjektiv verstandenes Jus als konzeptuelle Vorbedingungen der Idee eines kosmopolitischen Schutzes der Menschenrechte Dem Konzept des Naturrechts zufolge besteht das Gültigkeitskriterium eines positiven Rechts nicht, wie in den antiken Republiken, in der korrekten Anwendung der Regeln politischer Partizipation, sondern bewegt sich vielmehr auf einer suprapositiven Ebene. Mit anderen Worten, die Legitimität der Rechtsnormen »erwächst« nicht aus der Volkssouveränität, nämlich von unten, sondern wird von rein rationalen, theoretischen Grundsätzen von oben »abgeleitet«. Damit wurde eine erste Bedingung für die Schaffung einer Menschenrechtstheorie erfüllt, nämlich die Überwindung der einschränkenden Identifizierung des nomos mit dem geltenden Recht der einzelnen, begrenzten Gemeinwesen. Die Grenzen der sozialen und gesetzlichen Normen wurden erweitert, sodass sie nun dem Universalitätsprinzip genügen und somit alle Menschen einschließen konnten. Um behaupten zu können, dass die »von oben« abgeleiteten Grundsätze
—————— 8 von Arnim 1905. 9 Cicero 1841: 123 (hier in dt. Übersetzung).
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des Naturrechts tatsächlich eine überzeugende Grundlage für Menschenrechte bilden, waren jedoch zwei weitere Elemente erforderlich: Erstens musste das Naturrecht das Prinzip der Menschenwürde zum zentralen Element seiner Lehre erheben, und zweitens musste man das Jus nicht nur als Beschreibung eines »objektiven« Gesetzes oder Gesetzessystems begreifen, sondern auch – oder vielmehr – als Definition eines Anrechts oder einer Reihe von juristisch explizierten Ansprüchen, die den konkreten Subjekten zustehen. Keines der beiden Elemente war zentraler Bestandteil der stoischen Auffassung: Bei der Stoa handelte es sich nämlich um eine philosophische Weltanschauung, die vom Interesse geleitet war, das Wesen der Weltordnung zu entdecken, und nicht so sehr, die Existenzbedingungen des Menschen zu formulieren. Allerdings wurden einige der wichtigsten Komponenten der stoischen Philosophie, unter anderem die Vorstellung des Naturrechts, in das Christentum übertragen. Im christlichen Denken trat, wesentlich stärker als zuvor, der Gedanke der Menschenwürde in den Vordergrund. Dies geschah vor allem durch die Beschreibung des Menschen als imago Die:10 Als »Abbild Gottes« konnten Menschen als Träger jener Rechte betrachtet werden, die sich unmittelbar aus den Inhalten des Naturrechts ergeben. Ein zweiter Schritt in der Entwicklung einer universalistischen Menschenrechtstheorie war damit vollzogen. In einer der faszinierenden Darstellungen der christlich-katholischen Auffassung des Rechtssystems, nämlich in Suarez’ De legibus,11 wird das Recht auf vier Ebenen strukturiert, vom höchsten – die lex divina oder lex aeterna – zum niedrigsten – die lex civilis –, wobei es zunächst die lex naturalis und dann das jus gentium durchläuft. Obwohl die Spezifizität jeder Ebene beibehalten wird, wird jede Stufe von der zweiten abwärts aus der jeweils oberen abgeleitet, in dem Sinne, dass ihr Inhalt, wenn er als »Recht« akzeptiert wird, nicht mit der Substanz des höheren Rechtes in Widerspruch stehen kann. Vielmehr muss jede Ebene als teilweise Anwendung der Inhalte der übergeordneten Stufe auf einen spezifischen ontologischen Kontext gesehen werden. Damit ist die lex naturalis die Dimension der lex aeterna, die jedem vernunftbegabten Wesen zugänglich ist;12 das jus gentium ist jener Teil der lex naturalis, der, von Menschen in Form von Gebräuchen oder Verträgen festgelegt, dem Verhältnis zwischen den einzelnen politischen Gemeinwe-
—————— 10 Thomas von Aquin 1980: I, XXXV. 11 Suarez 1612/1944. 12 Suarez 1612/1944: II, V ff., S. 178 ff.
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sen jenseits ihrer partikulären Rechtssysteme Ordnung verleiht;13 und das Bürgerrecht (lex civilis) ist schließlich das Recht, das gemäß den allgemeinen Grundsätzen des jus gentium das soziale und politische Leben innerhalb eines konkreten Kontextes oder eines bestimmten Gemeinwesens organisiert.14 Als Folge der Ableitungsstruktur des gesamten Rechtssystems15 kann kein Bürgerrecht, das Anspruch auf Einhaltung erhebt, dem ewigen Recht widersprechen. Außerdem muss man, da Letzteres durch die herausragende Bedeutung der Menschenwürde gekennzeichnet ist, das Bürgerrecht nur dann als legitim betrachten, wenn es seinerseits die grundlegenden Bedingungen der Menschenwürde, also die Menschenrechte respektiert. Während die Bedingung der zentralen Bedeutung der Menschenwürde im Naturrecht, wenn auch durch die wenig überzeugende metaphysische Annahme der direkten Vorrangigkeit des göttlichen Rechts, in dieser frühen Entwicklungsphase der Auffassung der Menschenrechte »von oben« als bereits erreicht betrachtet werden kann, ist hier die Erfüllung der weiteren, oben erwähnten Bedingung im wesentlichen unzureichend. Tatsächlich bleibt die Idee eines Rechts, das nicht nur als »objektives« Recht, sondern vielmehr als allen Menschen zustehender Anspruch verstanden wird, selbst bei der günstigsten Interpretation in der christlichen Tradition eine Randerscheinung, obwohl man in den Arbeiten der Schule von Salamanca Ansätze in dieser Richtung erkennen kann.16 Ein solches Ergebnis kann bei einem konzeptionellen Erbe, bei dem nicht das Individuum, sondern die als holon begriffene Gemeinschaft als Zentrum der philosophischen Auffassung von Gesellschaft, Politik und Recht betrachtet wird, kaum überraschen. In den folgenden Jahrhunderten hat die Menschenrechtstheorie »von oben« in Folge der Verflechtung mit dem modernen Individualismus diesen Mangel behoben, indem sie dem individuellen Charakter der Ansprüche größere Bedeutung beigemessen hat.17 Im Gegenteil dazu fin-
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Suarez 1612/1944: II, XVII ff., S. 325 ff. Suarez 1612/1944: III, S. 361 ff. Suarez 1612/1944: II, IV, S. 171. Vitoria 1527 ff./1932 ff.: II–II, qu. 62, Art. 1, Nr. 5; Suarez 1612/1944: I, II, 5, S. 30; Böckenförde 2002: 326 ff. 17 Nichtsdestotrotz fehlt bisher in den offiziellen Stellungsnahmen der Katholischen Kirche über Menschenrechte größtenteils die ontologische Priorität der individuellen Rechte. Die am weitesten gehende Position zu diesem Thema wurde von Johannes XXIII. in der Enzyklika Pacem in terris von 1963 vertreten. Spätere Dokumente nehmen allerdings von deren progressivsten Inhalten zumindest implizit Abstand; siehe: Redemp-
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den sich in den späteren Ausführungen immer noch weitere Mängel der Auffassung »von oben«, die bereits zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Formulierung aufgetreten waren, was die Annahme wohlbegründet erscheinen lässt, dass sie von Anfang an dem Fundament der Menschenrechte »von oben« inhärent waren.
3. Die Defizite der »absteigenden« Konzeption der Menschenrechte a. Vorurteil und Diskriminierung Der erste Mangel, der bis zum Kern der Fundierung der Menschenrechte »von oben« zurückverfolgt werden kann, hängt mit der Postulierung des göttlichen Rechts als Ursprung des Naturrechts und damit der Menschenrechte zusammen. Diese Postulierung hat von Beginn an bis zum heutigen Tag die christlich-katholische Doktrin der Menschenrechte gekennzeichnet. Wenn jedoch, laut christlicher Überzeugung, die Erlösungsbotschaft die Grundlage für den Inhalt der Menschenrechte sowie ihrer Bedeutung bildet, ergibt sich daraus das Problem, was mit jenen geschieht, die dieser Botschaft nicht folgen. Grundsätzlich wendet sich die christliche Heilsbotschaft an alle Menschen; tendenziell sind jedoch Menschen, die nicht der christlichen Tradition angehören und in Folge der Postulierung der Rechte »von oben« oder gar »durch Gottes Gnade« auch nicht an einer deliberativen Formulierung ihres Inhalts beteiligt sind, erheblich benachteiligt. Damit birgt die metaphysische Behauptung, die lex divina sei die Quelle der Menschenrechte, das hohe Risiko einer Diskriminierung, die sowohl in der philosophischen Theorie als auch in der juristischen Lehre eingebettet ist. Selbst die vorsichtigsten und originellsten Denker, die den frühen christlich-katholischen Diskurs über Völkerrecht und Menschenrechte prägten, konnten sich der Falle der doppelten Messlatte kaum entziehen.18 Wenn Diskriminierung im Rahmen der »Auffassung von oben« zunächst im postulierten Ursprung der Menschenrechte aus der Doktrin und den Dogmen einer bestimmten Religion wurzelt, dann ist der erste Schritt zur Lösung des Problems, die ontologische Grundlage der Rechte von
—————— toris Missio, von Paul II. aus dem Jahr 1990, und Dominus Jesus, verfasst von Joseph Ratzinger und Tarcisio Bertone im Jahr 2000. 18 Siehe vor allem: Vitoria 1538–1539/1952
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religiösen Überzeugungen zu entkoppeln. Dieser Schritt wurde sehr früh in der Geschichte des Menschenrechtsdiskurses unternommen, nämlich als Rechtsphilosophen, die von der Reformation beeinflusst wurden, zwischen dem Ende des 16. Jahrhunderts und dem Beginn des 17. Jahrhunderts vorschlugen, die lex naturalis von der lex aeterna zu lösen. Laut protestantischer Theologie ist nämlich das Gesetz Gottes nur – teilweise – dem Glauben zugänglich und der natürlichen Vernunft vollkommen unergründlich.19 Damit musste das Naturrecht, da es sich nicht auf das göttliche Recht stützen konnte, nach einer neuen, rein säkularen Grundlage suchen. Mit einem erneuten Rückgriff auf ein Element der stoischen Philosophie legten frühe, durch den protestantischen Ansatz inspirierte Völkerrechtler die ontologische Grundlage dessen, was sie als die wesentlichen Prinzipien der allgemeinen Interaktion zwischen Menschen betrachteten, in einer ontologischen Postulierung über die menschlichen Natur fest, insbesondere in einer angeblich natürlichen und universalen Disposition der Menschen zur Geselligkeit.20 Als Folge dieses angenommenen Verhaltensmerkmals konnte man nun Menschenrechte als universale Regeln zur Gestaltung der Interaktionen in der globalen Menschengemeinschaft verstehen. Die ontologische Annahme einer allgemeinen Soziabilität der Menschen war jedoch im Kern nicht weniger diskriminierend als die Ableitung der universalen Regeln der Interaktion vom Gesetz des christlichen Gottes. Der Inhalt der Ansprüche, die sich aus dem Prinzip der Soziabilität ergeben, wurde nämlich nicht als das Ergebnis inklusiver Deliberationsprozesse verstanden, sondern als Folge des westlichen Rechts- und Philosophieerbes, das zur Postulierung über die Ontologie der menschlichen Gesellschaft führte. Ungeachtet ihrer vermeintlich rein rationalen Natur, war daher diese selbst »von oben« herabkommende Postulierung insofern strukturell diskriminierend, als die Substanz der grundlegenden ontologi-
—————— 19 Böckenförde 2002: 385 ff. Martin Luthers Verdammnis der Vernunft als »Satans größte Hure« ist allseits bekannt (Luther 1914: Bd. 51:126, Zeile 7 ff.). Aber auch in der calvinistischen Tradition, die in der Regel dem Rationalismus weniger abgeneigt oder gar wohl gesonnen war, ist Gott ausschließlich durch Gnade und den Glauben zugänglich. Siehe Calvin 1559. Da sie vom religiösen Bereich nun weitgehend ausgeschlossen war, konnte sich die Vernunft allerdings von der Kontrolle durch die Kirche befreien und mit weniger Einschränkungen auf die säkularen Angelegenheiten konzentrieren. 20 Gentili 1612/1933: I, I, S. 10, und I, XV, S. 107; Grotius 1646/1995: »Prolegomina«, Nr. 6, 16 und 17.
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schen Annahme weitgehend mit der Tradition der westlichen Kultur identisch war.21 b. Das epistemologische Defizit Die Annahme einer universalen Menschengemeinschaft, bei der die Menschenrechte als grundlegende Regeln die Basis allgemeiner Interaktion bilden, läuft nicht nur Gefahr als westliches Vorurteil charakterisiert zu werden. Sie ist auch – und damit kommen wir zum zweiten Mangel der Auffassung »von oben« – mit einem schwerwiegenden epistemologischen Mangel behaftet. Tatsächlich kann die Existenz einer universalen Gemeinschaft der Menschen, von der die Inhalte der Menschenrechte abgeleitet werden könnten,22 kaum nachgewiesen werden. Vielmehr kann man eine solche Gemeinschaft als eine Perspektive betrachten, die durch Dialog aufgebaut wird. Genau dies ist es jedoch, was die Vertreter der Menschenrechtsauffassung »von oben« nicht meinen: Die ontologische Grundlage der Menschenrechte wird nämlich von ihnen als ein factum brutum betrachtet, und nicht als transzendentales Prinzip für einen dialogischen Ansatz. Auf Grund der dennoch unbestimmten Natur eines solchen »gegebenen Faktums« hatten die Befürworter der Menschenrechtsbegründung »von oben« auch immer Schwierigkeiten festzulegen, welche Ansprüche allgemein garantiert werden sollten, bzw. stichhaltige Gründe anzugeben, warum einige Rechte in den universalen Katalog aufgenommen, andere aber aus eben diesem und daher auch aus dem daraus abgeleiteten Schutz herausgenommen werden sollten. Da das epistemologische Fundament recht schwach ist, waren sie somit gezwungen, manchmal auf eine Art hypostasierter opinio gentium,23 manchmal auf Metaphysik24 und manchmal gar
—————— 21 Über diese Voreingenommenheit, die strukturell von Anbeginn im Völkerrecht verwurzelt sein soll, siehe Anghie 2005. Das westliche Vorurteil wurde insbesondere im so genannten Dritte-Welt-Ansatz zum Völkerrecht betont; siehe: Anand 2004; Chimni 2006. 22 Die Annahme einer universalen Menschengemeinschaft hat den völkerrechtlichen Ansatz, der als »Theorie der internationalen Gemeinschaft« bekannt ist, stark beeinflusst. Für eine historische und konzeptuelle Darstellung dieses Ansatzes siehe Paulus 2001. Der Inhalt der »Theorie der internationalen Gemeinschaft« in ihrer aktuellen Version wird vorgestellt in: Tomuschat 1999. 23 So gab Hugo Grotius in seinem bahnbrechenden Werk De jure belli ac pacis die deduktive Methode auf dem Weg zur Festlegung der Grundelemente des Völkerrechts aufgrund der unüberwindbaren Schwierigkeiten, die sich aus diesem Versuch mittels des von ihm verwendeten Instrumentariums ergaben, schließlich auf und wandte sich einer aus-
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auf die göttliche Autorität zurückzugreifen.25 Auf diese Weise kehrt die Menschenrechtskonzeption »von oben« regelmäßig, in einem zyklischen Prozess, zu ihrem ursprünglichen Hauptmangel innerhalb der scholastischen Tradition zurück. Während dieser Mangel damals jedoch in den allgemeinen Kontext einer mutigen Innovation eingewoben war, erscheint derselbe Ansatz heute lediglich als rückwärtsgewandte Haltung. c. Wer soll uns vor den Beschützern schützen? Die dritte und letzte strukturelle Schwäche der Auffassung der Menschenrechte »von oben« kann kurz mit einer Frage beschrieben werden: Wer kann tatsächlich die Ansprüche der konkreten Individuen sichern, wenn diese vom Formulierungsprozess ausgeschlossen sind, mit anderen Worten, wenn sie lediglich die Adressaten der Rechte, aber nicht auch deren Verfasser sind? Die Gefahr eines Missbrauchs durch die jeweils Herrschenden ist offensichtlich. Wenn wir dem Grundsatz volenti non fit iniuria folgen, kann keine Lösung aus dem Rahmen der absteigenden Menschenrechtstheorie wirklich befriedigend sein. In der Geschichte dieser Theorie findet man viele Versuche, dieses Problem zu lösen, von denen jedoch keiner frei vom Risiko der Manipulation ist. In der christlichen Tradition des Mittelalters und später in ihrer katholischen Fortsetzung ist der Wächter des höchsten Rechts Gottes die Kirche, insbesondere der Papst als Vertreter Christi auf Erden.26 So behauptete
—————— schließlich deskriptiven Darstellung der in Recht und Philosophie allgemein geteilten Prinzipien zu. Siehe: Grotius 1646/1995: I, I, XII und I, I, XIV. 24 Siehe z.B. die argumentative Strategie von Alfred Verdross, der auf der Suche nach einem nicht nur formalen, sondern wesentlichen und damit – in seinen Augen – solideren Inhalt für Kelsens Konzept der »Grundnorm« nach Abhilfe bei der Metaphysik von Platon und Hegel sucht: Verdross 1926: I, I, § 1, I, S. 2 ff.; I, II, § 7 ff., S. 22 ff.; I, II, § 9, S. 32. 25 Wir finden einen solchen Rückgriff bereits im Werk von Grotius (siehe Grotius 1646/ 1995, »Prolegomena«, Nr. 20) sowie in der Grisez-Schule, einem der prominentesten neusten Versuche, die Naturrechtslehre wiederzubeleben; siehe: Finnis 1980: 376, 386 ff.; Grisez/Boyle/Finnis 1987/1991: Bd. I, 237–289, S. 279. 26 Die radikalste Version dieser Theorie, die davon ausgeht, dass der Papst Träger aller spirituellen wie auch säkularen Souveränität sei, wurde von Heinrich Hostiensis formuliert (1250–1261/1556). Diese Theorie verfolgte jedoch in der Zeit ihrer Formulierung sicherlich nicht das Ziel der Stärkung universaler Rechte, sondern sollte vielmehr die politische Macht des Christentums dadurch ausweiten, dass die Legitimität nichtchristlicher Herrscher in Frage gestellt oder sogar das Existenzrecht nichtchristlicher Gemeinschaften bestritten wurde. Eine moderatere Auslegung, die dem Papst eine rein spiritu-
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Vitoria, dass ein Bürgerrecht vom Papst aufgehoben werden kann, wenn es gegen göttliches Recht verstößt.27 In ähnlicher Weise erklärte Suarez, dass der Papst die »Rechtsprechung zur Korrektur von Königen« habe und damit auch die Macht, diese abzusetzen. Das Eingreifen des Papstes ist gerechtfertigt, wenn die Vergehen der Monarchen spirituelle Angelegenheiten betreffen und wenn ihre schwerwiegenden Fehler oder tyrannischen Handlungen, ungeachtet der Frage, ob sie säkulare Angelegenheiten betreffen, »Sünden darstellen« und aus diesem Grund einem Verstoß gegen das höchste Naturrecht entsprechen.28 In der Interpretation von Suarez finden wir jedoch auch die Elemente für eine zweite mögliche Lösung des Problems, wer die Grundrechte absichern sollte. Seiner Auffassung nach wird die politische Macht von Gott nicht direkt dem Monarchen übertragen, sondern der Gemeinschaft.29 Demzufolge hat die Gemeinschaft als ursprüngliche Trägerin der politischen Macht auch das Recht – angesichts eines schweren Missbrauchs – den tyrannischen König abzusetzen, allerdings nur »als Ganzes und in Übereinstimmung mit den öffentlichen und allgemeinen Ausführungen ihrer Gemeinschaften und prominentesten Persönlichkeiten».30 Dies sind die Grundlagen der Idee von der Macht des Volkes. In Suarez’ Vision wird diese jedoch durch Verweis auf die überlegene Autorität des Vertreters Christi auf Erden hintertrieben. Diese Einschränkung war, bereits vor der Veröffentlichung der Arbeiten von Suarez, von der calvinistischen politischen Theologie überwunden worden. Laut des Ansatzes der Monarchomachen wird der Gemeinschaft die oberste Macht ohne Mediation durch die geistliche Autorität verliehen, da »nicht die Völker für die Magistraten, sondern umgekehrt die Magistraten für die Völker geschaffen wurden».31
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elle, aber dennoch universale Macht zuschrieb, wurde von Hostiensis Antagonisten Sinibaldo Fieschi vertreten (1477/1535). Fieschis relativ gemäßigte Sicht der kirchlichen Macht tauchte Jahrhunderte später, allerdings weiter beschränkt auf eine spirituelle Autorität ausschließlich über die Christen, in der Schule von Salamanca wieder auf. Über die Begrenzung der Macht des Papstes lediglich auf die spirituelle Autorität über die Christen siehe Vitoria 1538–1539/1952: II, 3. In der Schule von Salamanca wurde schließlich die Theorie tatsächlich mit dem Versuch des Schutzes allgemeiner Menschenrechte in Verbindung gebracht, obwohl diese – wie bereits erwähnt (siehe Fußnote 18) – aus einer inakzeptablen unilateralen Perspektive definiert waren. Vitoria 1532/1991: 45. Suarez 1613/1944: VI, IV, 16. Suarez 1612/1944: III, I, 4; III, III, 2; III, III, 6; III, IV, 2. Suarez 1613/1944: VI, IV, 15. de Bèze 1575/1977: 13.
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Althusius, der größtenteils die gleiche Auffassung vertritt, erklärte einige Jahre später, dass »das Volk, oder die Angehörigen eines Reiches, die Amtsgewalt (potestas) haben, das Recht des Reiches zu etablieren und sich diesem zu verpflichten».32 Dieses Recht »verfolgt als Ziel eine gute Ordnung, eine ordentliche Disziplin und die Festlegung von Bestimmungen innerhalb des allgemeinen Verbunds».33 Die Kontrolle über die Achtung der Menschenrechte scheint damit wieder in die Hände ihrer Adressaten gelegt zu sein. Dies trifft jedoch nicht vollständig zu, zumindest nicht im Hinblick auf die politische Theologie am Übergang des 16. Jahrhunderts zum 17. Jahrhundert. Nach Auffassung der Monarchomachen gibt es eine gesellschaftliche Ordnung, die objektiv gerecht ist, von der nämlich angenommen wird, dass sie ihre Überlegenheit aus ihrer inhärenten Qualität bezieht und deshalb unabhängig vom Willen jener ist, die ihr unterworfen sind.34 In ähnlicher Weise basiert Althusius‘ Verteidigung der Volkssouveränität auf einer holistischen Sozialphilosophie, bei der die Hierarchie als eines der wesentlichsten Naturgesetze betrachtet wird.35 Bei dieser Auffassung basiert die Einwilligung des Volkes immer auf der Idee einer substantiellen und ontologischen Wahrheit. Infolgedessen ist die Autonomie der Bürger erheblich eingeschränkt, und ihre Mitwirkung an der Regierung des Gemeinwesens, obwohl erforderlich, wird nicht als ausreichende Bedingung für Legitimität betrachtet. Rechtfertigung und Inhalte der Grundrechte kommen immer noch »von oben«, das heißt sind »eine Gnade des Himmels«, und ihre Wächter, insofern sie Prinzipien anwenden müssen, die für inhärent wahr gehalten werden, können nicht durch deliberative Verfahren zwingend gebunden werden. Eine dritte Lösung der Frage über die Identität der Hüter der Rechte wurde in Übereinstimmung mit der Ausarbeitung der modernen Theorie der Souveränität entwickelt. In seinen Six livres de la République behauptet Jean Bodin, dass »die Souveränität die absolute und dauerhafte Macht ist, die in einem Staat übertragen wird».36 Aus diesem Grund sei ein souveräner Monarch nicht an die Gesetze gebunden (legibus solutus), und die von ihm verkündeten zivilen Normen, »selbst wenn diese auf Wahrheit und
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Althusius 1614/1932: IX. Althusius 1614/1932: IX. de Bèze 1575/1977: 3 ff. Althusius 1614/1932: I. Bodin 1576/1579: I, VIII, S. 85.
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Vernunft beruhen, entspringen dennoch seinem freien Willen».37 Bodin räumt ein, dass die Macht des souveränen Monarchen durch die Generalstände sowie durch die Normen des göttlichen Rechts und des Naturrechts beschränkt wird.38 Dennoch sind beide Einschränkungen wenig wirksam: einerseits wegen der marginalen Kompetenzen und der strikten hierarchischen Unterwerfung der Generalstände;39 andererseits – und dies ist für die hier behandelte Frage weitaus wichtiger – weil der souveräne Monarch, als säkulares Abbild des allmächtigen Gottes, das Recht auf freie Interpretation der suprapositiven Normen besitzt und dadurch keiner effektiven säkularen oder geistlichen Kontrolle unterworfen ist. Darüber hinaus wird kein wirkungsvolles Instrument gegen Verstöße geschaffen. Der Schutz der Menschenrechte wird in die Hände einer souveränen Macht gelegt und ist damit einem letztlich willkürlichen Willen ausgeliefert. Die vierte und letzte Lösung hat sich schließlich aus den Prozessen ergeben, die zu einer »Domestizierung« der Souveränität geführt haben. Dies geschah einerseits, in der innerstaatlichen institutionellen Architektur, durch die Gewaltenteilung, und andererseits, auf internationaler Ebene, durch die partielle Übertragung souveräner Kompetenzen, die sich durch ihre mögliche Auswirkung auf den Schutz universaler Rechte auszeichnen, auf internationale Organisationen. Im Hinblick auf die innerstaatliche Dimension wurde die Sicherung der Grundrechte zuerst direkt der parlamentarischen Versammlung übertragen,40 was den Weg für die institutionelle Ausformung jenes Menschenrechtsschutzes »von unten« ermöglichte, der im folgenden Paragraphen behandelt wird. Um zu verhindern, dass die Grundrechte dennoch durch die »Tyrannei der Mehrheit« gefährdet werden, wurde ein zweiter Vorschlag erarbeitet, die in der Festlegung der grundsätzlichen Elemente der gesellschaftlichen Ordnung in einem Verfassungsdokument und in der Errichtung einer spezifischen Verfassungsgerichtsbarkeit bestand. Diese Lösung wurde, in gewissem Umfang, in der Verfassung der USA und, mit wesentlich größeren Einschränkungen, in der Schweiz vorweggenommen.41 Sie kam dann nach Ende des Zweiten
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Bodin 1576/1579: 92. Bodin 1576/1579: 91 ff. Bodin 1576/1579: 98 ff. Diese Lösung charakterisiert die englische Tradition von der Bill of Rights von 1689 bis zum heutigen Tag. 41 Das Schweizerische Bundesgericht hat nämlich keine Zuständigkeit hinsichtlich der Überprüfung von Bundesgesetzen, d.h. von Gesetzen, die durch das Bundesparlament erlassen werden.
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Weltkriegs mit der Errichtung von Verfassungsgerichten in Deutschland, Italien, Österreich,42 Frankreich,43 Spanien und Portugal sowie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in mehreren anderen Staaten, viele von ihnen in Europa, aber auch außerhalb Europas, zur vollen Anwendung.44 Grundsätzlich wirft der Gedanke, dass die wesentlichen Elemente der gesellschaftlichen Ordnung einen größeren und qualifizierten Schutz benötigen, keine tief reichenden konzeptionellen Probleme auf.45 Schwierigkeiten ergeben sich jedoch, wenn es um die Festlegung geht, worin diese Elemente bestehen und was sie bedeuten sollen, sowie welche Zuständigkeiten die Verfassungsgerichte erhalten und wie diese begründet werden.46 Wenig überzeugend ist insbesondere die Auslegung, dass mit dem Konzept der »wesentlichen Elemente der gesellschaftlichen Ordnung« mehr als nur die Garantie der Bedingungen der sozialen und politischen Partizipation gemeint sein sollte47 und somit eine Art wesentliches Fundament der Gesellschaft postuliert wird, das in der Geschichte48 oder in einer unanfechtbaren ethischen Wahrheit verwurzelt ist.49 Einer solchen Auslegung folgend, beschränkt sich die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht auf den Schutz des normativen und politischen Rahmens für den Deliberationsprozess; vielmehr hat sie die Aufgabe und Verantwortung, »den republikanischen Staat zu schützen»50 bzw. den authentischen Willen des Volkes als pouvoir constituant zu interpretieren, das in der historischen Vergangenheit die ethischen Fundamente der Gemeinschaft festgelegt hat, wobei dieser Schutz und diese Interpretation selbst gegen die Bestimmungen der
—————— 42 In Österreich wurde der Verfassungsgerichtshof 1946 neu eingerichtet; er nahm die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofs von 1920 wieder auf und erweiterte sie. 43 Der französische Conseil Constitutionnel wurde 1958 geschaffen. Seine Organisation und Funktionen sind jedoch nur teilweise mit denen von Verfassungsgerichten stricto sensu vergleichbar. 44 Böckenförde 1999: 9. 45 Man kann jedoch die Garantie der wesentlichen Elemente der gesellschaftlichen Ordnung auch ohne einen besonderen gerichtlichen Schutz erzielen, d.h. ohne ein spezielles Verfassungsgericht, so z.B. im Vereinigten Königreich sowie in Dänemark, Schweden und den Niederlanden. 46 Für eine radikale Kritik am Prinzip der verfassungsrechtlichen Prüfung siehe: Bellamy 2007. Für eine Verteidigung: Walen 2009: 329–354. 47 Habermas 1992: 320. 48 Siehe als Beispiel Michelman 1988. 49 Über die Unabhängigkeit der Menschenrechte von deliberativen Prozessen siehe Böckenförde 1998. Über die metapolitischen Ursprünge des Konzepts »Menschenwürde« siehe Böckenförde 2008. Des Weiteren: Böckenförde 1991. 50 Michelman 1988: 1532.
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jeweils aktuell gewählten parlamentarischen Volksvertreter gehen dürfen.51 Paternalistische Folgen dieser Haltung können eher in der staatszentrierten und vom Naturrecht beeinflussten europäisch-kontinentalen Tradition als im vorwiegend dialogisch und bürgerorientierten amerikanischen Republikanimus auftreten.52 Dennoch können sich die Verfassungsgerichte in beiden Fällen als Wächter einer fundamentalen Wahrheit verstehen – einer behaupteten Wahrheit allerdings, die uns mehr an Metaphysik als an Demokratie erinnert. Ähnliche, aber teilweise noch tiefer reichende Probleme ergeben sich aus der »Domestizierung« der Souveränität auf internationaler Ebene. Um Verstöße gegen die Menschenrechte durch einzelne Staaten zu verhindern, wurden diese immer stärker durch das Völkerrecht gebunden. Damit wurde eine der wesentlichen verfassungsrechtlichen Aufgaben auf das Völkerrecht übertragen, so dass die fundamentalen Elemente von dessen corpus juris auch als eine »Verfassung für die Menschheit« interpretiert wird.53 Allerdings läuft jede von einer überstaatlichen Institution getroffene Entscheidung, um Frieden und die Achtung der Menschenrechte durchzusetzen oder aufrechtzuerhalten, angesichts der moderaten Legitimitätsstandards internationaler Organisationen Gefahr, in den Dienst der stärksten Akteure in der internationalen Arena genommen zu werden – oder dies in der Realität bereits zu sein. Noch kann die Judikative, obwohl die Rolle der internationalen Gerichte hinsichtlich der Garantie akzeptabler Bedingungen für die Sicherung der Menschenrechte kaum überschätzt werden kann, eine demokratische Legitimationskette bei der Festlegung des Inhalts jener Rechte adäquat ersetzen, die allen Menschen zukommen sollen.
—————— 51 Böckenförde 1999: 11 ff. 52 Über die Tendenz zur Verrechtlichung der politischen Prozesse in den USA und in Deutschland – und über die Gefahren, die sich aus dieser ergeben können – siehe Miller 2004. 53 Kadelbach/Kleinlein 2008. Über die verfassungsähnliche Dimension der Charta der Vereinten Nationen siehe: Crawford 1997; Fassbender 1998.
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II. Die »aufsteigende« Interpretation der Menschenrechte: Die Begründung »von unten« 1. Von der objektiven Gerechtigkeit zu den subjektiven Rechten Gemäß der absteigenden Auffassung der Menschenrechte wurde die Anerkennung individueller Rechte immer als eine Konzession verstanden, die im Rahmen einer gesellschaftlichen Ordnung gewährt wurde, deren ontologische und ethische Qualität als etwas verstanden wurde, das weit über dem Willen, den Interessen und der Vernunft der Individuen anzusiedeln wäre. Nach dieser Sichtweise wurde das Gemeinwesen als etwas betrachtet, das gegründet worden war, nicht um die Rechte des Einzelnen zu schützen, sondern vielmehr um das Ideal einer objektiven, das heißt über das Individuum hinausgehenden Gerechtigkeit zu verwirklichen. Bei der absteigenden Interpretation der Menschenrechte war dementsprechend der Schutz bestimmter individueller Ansprüche ein wichtiges und sogar unausweichliches Element der Umsetzung der objektiv gerechten gesellschaftlichen Ordnung, aber er war nie der Gravitationspunkt des konzeptionellen Aufbaus des Gemeinwesens. Aufgrund des holistischen Horizonts, in dem sie sich noch bewegten, verstanden die ersten Rechtsdokumente, die individuelle Rechte festlegten – namentlich die Magna Charta Libertatum (1215), die vom Commonwealth von England, Schottland und Irland verabschiedeten Agreement of the People (1647)54 und Instrument of Government (1653)55, sowie die Verfassungsdokumente der Neuengland-Kolonien56 –, die subjektiven Rechte immer noch im Licht übergeordneter Interessen eines mit einer höheren ethischen Wahrheit versehenen Gemeinwesens. Analog dazu stellten auch die frühesten philosophischen Grundlagen der subjektiven Rechte im ausgehenden Mittelalter57 und zu Beginn der Moderne58 nie die organizistische Interpretation des sozialen Lebens in Frage.
—————— 54 Agreement of the People, in: Gardiner 1906/1979: 359. 55 Instrument of Government, in: Gardiner 1906/1979: 405. 56 Massachusetts Body of Liberties (1641), in: Whitmore 1890; Fundamental Orders of Connecticut (1637), in: Rock 1947. 57 Ockham 1332–1348: 3.2, Buch 2, Kap. 25 ff., http://www.britac.ac.uk/pubs/dialogus/ ockdial.html. 58 Siehe Fn. 16. Über die organizistische Auffassung innerhalb der Schule von Salamanca, die soziale und politische Hierarchie als quasi-natürlich und von Gott verliehen betrachtete, siehe: Vitoria 1528/1992: 8, S. 58 ff.; Suarez 1613/1944: VI, IV, 17, S. 719.
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Die Wende kam in Folge des Übergangs vom holistischen zum individualistischen Paradigma der sozialen Ordnung und wurde von Thomas Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts eingeleitet.59 Hobbes stellte zum ersten Mal in der Geschichte die traditionelle Hierarchie zwischen Individuum und Gemeinwesen auf den Kopf, indem er die Individuen als Träger der Grundrechte und als Ausgangspunkt jeglicher Legitimation von Autorität und öffentlicher Macht ins Zentrum des politischen Lebens stellte. Ausgangspunkt seiner politischen Philosophie war nämlich nicht die Gesellschaft als factum brutum, die auf der natürlichen Soziabilität des Menschen basiert und in Form einer organischen hierarchischen Struktur organisiert ist,60 sondern die mit ihren Rechten, Interessen und Vernunft ausgestatteten Individuen.61 In diesem ursprünglichen Naturzustand – eine fiktive Annahme, die von Hobbes präsentiert wird, um den Fokus nicht auf die historischen Anfänge der Gesellschaft, sondern auf die ontologische Grundlage sowie auf die konzeptionellen Voraussetzungen einer gerechten Ordnung zu legen – sind die Einzelnen frei und gleich.62 Allerdings laufen sie in ihrer anhaltenden Suche nach immer mehr Ressourcen zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen auch ständig Gefahr, durch andere Individuen, die das gleiche Ziel verfolgen, angegriffen, verletzt oder gar getötet zu werden.63 Aus diesem Grund verfügt die natürliche Vernunft, den Naturzustand zu verlassen und eine Gesellschaft (societas civilis) aufzubauen, in der zunächst das Leben, aber auch – mit gewissen Einschränkungen – die negative Freiheit und das Eigentum geschützt werden.64 Laut Hobbes ist das Gemeinwesen damit nicht mehr die ursprüngliche und axiologisch höchste Einheit in der ethischen Welt, sondern vielmehr ein Instrument, das Menschen etablieren, um die nötige und für alle vorteilhafte soziale Stabilität zu erreichen. Hobbes Auffassung einer sozialen Ordnung, die auf dem freien Willen von Individuen basiert, die mit wesentlichen Ansprüchen ausgestattet sind,
—————— 59 Eine teilweise Vorwegnahme der individualistischen Wende, wenn auch in einem begrifflichen Rahmen, der immer noch tief reichend vom philosophischen und politischen Ansatz der Scholastik bestimmt ist, kann man in den Arbeiten von Bartolomé de Las Casas finden, insbesondere in De imperatoria seu regia potestate (1571); siehe: de Las Casas 1571/1984: 17 ff. 60 Hobbes 1642/1651: I, I, II. 61 Hobbes 1642/1651: I, I, I. 62 Hobbes 1642/1651: I, I, III. 63 Hobbes 1642/1651: I, I, X ff.; 1651: XIII. 64 Hobbes 1651: XIV; 1642/1651: I, II, II.
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legt die konzeptionellen Grundlagen für eine aufsteigende Interpretation der Menschenrechte fest. Diese werden nicht mehr als Ausdruck einer organischen Gemeinschaft gesehen, die sich auf die Gesetze Gottes oder der Natur stützt. Die Sorge für ihre Einhaltung wird nun vielmehr den konkreten Einzelnen als ihren Trägern und Bewahrern anvertraut. Aus dieser Perspektive werden die sozialen und politischen Institutionen durch die Rechtsträger selbst geschaffen, um auf der Basis einer »von unten« kommenden Legitimität einen angemessenen Schutz subjektiver Ansprüche zu garantieren. Institutionen sind nur dann legitim, wenn sie die Grundrechte schützen und gemäß der freien und expliziten Zustimmung des Volkes – nach Hobbes’ Auffassung insbesondere in Form eines Vertrages (pactum unionis) – gegründet wurden.
2. Die Mängel der aufsteigenden Konzeption der Menschenrechte a. Die Rechtsübertragung Es bleiben aber, auch nachdem die zentrale Bedeutung der individualistischen Wende in der politischen Philosophie für die Formulierung einer auf die konkreten Rechtsträger ausgerichteten Menschenrechtstheorie skizziert wurde, noch zwei Probleme offen: Das erste betrifft die Formen und den Umfang der Übertragung der Rechte auf die Institutionen, die durch den pactum unionis geschaffen wurden; das zweite Problem bezieht sich auf die Frage, ob der Schutz der Rechte nur die Bürger des Gemeinwesens betrifft oder hingegen alle Menschen. Mit anderen Worten stellt sich die Frage nach Partikularismus oder Universalismus beim Schutz von Rechten. Beginnend mit dem ersten Problem scheint dieser Mangel der Grundrechtstheorie, die sich auf das von Hobbes begründete individualistische Paradigma stützt, aus seiner Behauptung zu entstehen, dass die Bürger durch die Schaffung einer staatlichen Macht, die mit ausreichender Autorität versehen ist, nahezu alle ihre ursprünglichen Rechte aufgeben müssten. Die einzigen Ansprüche, die sie in Hobbes’ societas civilis oder Commonwealth behalten, sind das Recht auf den Schutz des Lebens und – teilweise – das Recht auf persönliche Freiheit, die allerdings im Wesentlichen als »negativ« angesehen wird, da sie auf die Ausführung wirtschaftlicher Aktivitäten zum Zweck des »Glücks« beschränkt wird und nur insofern gestattet ist, als
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solche Aktivitäten den sozialen Frieden und die Ordnung nicht gefährden.65 Hobbes’ radikale Lösung hinsichtlich der Aufgabe der meisten ursprünglichen Rechte des Einzelnen, der einem Gemeinwesen beitritt, ist jedoch eher die Ausnahme als die Regel unter den Theoretikern des Vertragsrechts. In den meisten Vorschlägen, die von anderen politischen Philosophen unterbreitet werden, behalten die nun zu Bürgern gewordenen Individuen, nachdem sie ihre Zustimmung zum pactum unionis gegeben haben, weitaus mehr Rechte als in Hobbes’ Leviathan-artigem Gemeinwesen.66 Der in der Substanz bürgerfreundlichere Ansatz des größten Teils jener Vertragsrechtstheorie, die sich aus der bahnbrechenden Intuition von Hobbes ergeben hat, löst dennoch nicht endgültig das Problem des Rechtsverlustes durch Vergesellschaftung. Dies ist deutlich an der Theorie des »Gesellschaftsvertrags« von Jean-Jacques Rousseau zu erkennen. Das Ergebnis des Vertrags ist hier in vielerlei Hinsicht genau das Gegenteil von Hobbes’ Idee eines quasi-absolutistischen Leviathans: Innerhalb des état civil besteht das Ziel der Gründung eines politischen Gemeinwesens in der Umsetzung der positiven Freiheit der Bürger als Autonomie.67 Aber auch die politische Freiheit, die Rousseau im Gesellschaftsvertrag beschreibt, wird durch eine Abtretung von Rechten erzielt, die – zumindest auf den ersten Blick – kompromissloser zu sein scheint als selbst bei Hobbes. Rousseaus Gesellschaftsvertrag sieht namentlich eine Aufgabe aller von der Natur gegebenen Rechte vor, ohne jegliche Ausnahme.68 Der Unterschied, der die bürgerfreundlichere Haltung des Genfer Philosophen verdeutlicht, besteht darin, dass – anders als in Hobbes’ Theorie, nach der die Rechte dem Monarchen abgetreten werden, so dass die Bürger schließlich erneut in den Status von Untertanen versetzt werden – bei Rousseau die Bürger ihre Rechte ausschließlich sich selbst, nun als souveränes politisches Gemeinwesen, als volonté générale konstituiert, übertragen.69 Dennoch stellt das durch diese Art von Gesellschaftsvertrag geschaffene Gemeinwesen eine kollektive Einheit dar und ist damit laut Rousseau selbst eine Individualität70, die durch eine hohe innerstaatliche Einheit und eine unzureichende
—————— 65 66 67 68 69 70
Hobbes 1651: XVII; 1642/1651: II, XIII, II ff. Für einen Vergleich der unterschiedlichen Vorschläge siehe: Bobbio 1979: 68. Rousseau 1762/1966: I, 8, S. 55. Rousseau 1762/1966: I, 6, S. 51. Rousseau 1762/1966: I, 6, S. 51. Rousseau 1762/1966: I, 7, S. 53.
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interne institutionelle Ausgestaltung charakterisiert wird.71 Außerdem ist die souveräne Macht nicht verpflichtet, ihren »Untertanen», die sogar »zur Freiheit gezwungen werden« können,72 ausreichende Schutzgarantien zu geben. Deswegen fußt der Schutz der Grundrechte durch die volonté générale auch in seiner Auffassung auf einem Fundament, das kaum als fester und überzeugender als im Fall von Hobbes’ Leviathan anzusehen ist. b. Bürger- oder Menschenrechte? Die zweite Frage, die – wie bereits oben erwähnt – bei der aufsteigenden Auffassung der Menschenrechte auf der Basis des individualistischen Paradigmas weiterhin ungelöst bleibt, betrifft die Beschränkung des Rechtsschutzes auf die einzelnen Gemeinwesen. Die politische Philosophie des Kontraktualismus wurde als theoretischer Weg entwickelt, um die Legitimität innerhalb einzelner politischer Gemeinwesen neu zu begründen. Aus diesem Grund hat die Vertragstheorie für eineinhalb Jahrhunderte nach ihrer ersten Formulierung nur geringes Interesse an der Frage einer grenzüberschreitenden Ordnung gezeigt, und die wichtigsten Vertreter des Kontraktualismus waren, insofern sie sich dieses Problem überhaupt gestellt haben, eher skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit, eine friedliche Interaktion auf globaler Ebene mittels einer kosmopolitischen Rechtsordnung zu garantieren.73 Kein universaler Schutz der Menschenrechte ist jedoch ohne kosmopolitische Rechtsordnung möglich. Damit schien für eine lange Zeit der individualistische Ansatz in der Sozial- und politischen Philosophie lediglich in der Lage zu sein, eine aufsteigende Theorie der Bürgerrechte auf der Basis der Legitimation der öffentlichen Macht durch das Volk zu begründen, nicht aber eine universale Theorie der Menschenrechte auf globaler Ebene zu belegen. Es gab aber schon von Anfang an keinen konzeptionellen Grund, welcher der Möglichkeit widersprochen hätte, den Kontraktualismus auch auf ein System des globalen Schutzes der Rechte anzuwenden. Tatsächlich haben die Befürworter des individualistischen Paradigmas in der politischen Philosophie und der aufsteigenden Interpretation der Menschenrechte immer behauptet, dass der Fluchtpunkt jeder gesellschaftlichen
—————— 71 Rousseau 1762/1966: I, 6, S. 52. 72 Rousseau 1762/1966: I, 7, S. 54. 73 Hobbes 1651: XXX; de Spinoza 1677/1924: Bd. 3, III; 1670: Bd. 3, XVI; Locke 1690/1698: II, 2, § 14; II, 12, § 145; II, 16, § 183.
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Ordnung bei den einzelnen Individuen zu verorten ist, die alle, das heißt überall und ohne Ausnahme, mit wesentlichen Rechten und Fähigkeiten – insbesondere mit der Gabe, vernünftig zu handeln – ausgestattet sind. Da die Auffassung der Individualität deshalb nicht auf einen spezifischen Kontext zugeschnitten ist, kann es, zumindest was die theoretischen Konzeptionen betrifft, keine unüberwindbare Hürde geben, die dem Aufbau einer kosmopolitischen Rechtsordnung entgegenstünde, welche garantieren soll, dass die Individuen auch jenseits der Grenzen der einzelnen Gemeinwesen auf friedliche Weise interagieren. Um ein solches Ziel zu erreichen, waren jedoch tief reichende konzeptionelle Anpassungen erforderlich.
III. Perspektiven für eine theoretische Grundlage des Schutzes der Menschenrechte »von unten« innerhalb eines Mehrebenen-Rechtssystems Das individualistische Paradigma in der politischen Philosophie hat die Menschenrechte zum ersten Mal in der Geschichte in die Hände ihrer Adressaten gelegt. Gleichzeitig hat es die Bedingungen für einen direkten Rechtsschutz durch die Rechtsbegünstigten selbst und daher ohne Rückgriff auf überindividuelle, vorgeblich mit einer höheren ethischen Wahrheit ausgestattete Instanzen geschaffen. Dennoch wies die Lösung, die von den Begründern der individualistischen Auffassung der Rechte vertreten wurde, immer noch relevante Mängel auf, die insbesondere ihre Anwendung auf eine universale Menschenrechtstheorie erschwerten. Um die Mängel zu überwinden, mussten zwei Korrekturen angebracht werden: a) Die Individuen sollten die Rechtsträger bleiben, in dem Sinne, dass ihr Beitritt in die societas civilis nicht die Aufgabe der Rechte und einen sich daraus ergebenden Verlust der Kontrolle hinsichtlich ihrer Anwendung impliziert. Insofern die Individuen die Rechte an eine Staatsmacht abtreten, ist diese mit der primären Aufgabe betraut, die Rechte selbst zu schützen und ihre Implementierung zu verbessern. Die Einschränkung eines Rechts ist nur dann akzeptabel, wenn nachgewiesen werden kann, dass dies unverzichtbar für den wesentlichen Schutz eines anderen Rechts ist, und nur in dem Umfang, der für diesen Zweck erforderlich ist. Um zu gewährleisten, dass die staatlichen Behörden ihre Macht nicht für die Umsetzung selbstsüchtiger Ziele missbrauchen, müssen sie auf ausreichende Weise durch
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parlamentarische Versammlungen, adäquate institutionelle Absicherungen für soziale, politische, religiöse und ethnische Minderheiten, eine unabhängige Judikative und insgesamt ein ausgeklügeltes System der gegenseitigen Kontrolle gegenbalanciert werden. b) Grundrechte dürfen nicht nur als Bürgerrechte, sondern müssen auch – insofern sie der Garantie einer friedlichen und gerechten universalen Interaktion gleichkommen – in ihrer Dimension als Menschenrechte im weltweiten Sinn verstanden werden.
1. Kants Vorschlag und seine (relative) Unzulänglichkeit Der Weg für diese beiden Korrekturen wurde bereits im Werk von Immanuel Kant bereitet.74 Im Hinblick auf die erste Anpassung hält Kant Rousseaus Idee der Autonomie als Zweck von Moral75 und politischem Leben aufrecht.76 Er beugt jedoch die Gefahren für die Freiheit vor, die Rousseaus ontologische Hypostase der volonté générale impliziert, indem er für die Etablierung einer Verfassung als Garantin der Rechtsstaatlichkeit für alle Bürger,77 für die Einführung einer rigorosen Gewaltenteilung78 sowie für die Zuweisung zentraler Zuständigkeiten auf die repräsentative Versammlung als die unangefochtene Trägerin der legislativen Macht plädiert.79 Die von Kant vorgeschlagenen Lösungen können bis heute als Grundpfeiler einer innerstaatlichen institutionellen Architektur betrachtet werden, die in gebührender Weise die Rechte der Einzelnen achtet. Dennoch ergeben sich aus Kants Vorschlägen signifikante Probleme im Hinblick auf den zweiten Mangel der ursprünglichen individualistischen Theorie der Rechte, das heißt auf die ausschließliche – oder vorwiegende – Beschränkung der Ansprüche auf den innerstaatlichen Bereich.80 Zwei-
—————— 74 Im Hinblick auf die erste »Korrektur« findet man sogar noch frühere Belege, namentlich in der politischen Philosophie John Lockes, insbesondere in seiner starken Beschränkung der Rechtsabtretung sowie in den Zuständigkeiten, die der parlamentarischen Versammlung übertragen werden. Siehe Locke 1690/1698: II, 7, § 90; II, 11, § 134; II, 12, § 143; II, 13, § 150. 75 Kant 1785/1977: Bd. VII, S. 65. 76 Kant 1795/1977: Bd. XI, S. 204; 1798/1977: Bd. XI, S. 364. 77 Kant 1797/1977: § 43, S. 429; 1795/1977: 204. 78 Kant 1797/1977: § 45, S. 431; 1795/1977: 206. 79 Kant 1797/1977: § 46, S. 432; 1793/1977: Bd. XI, II, S. 150. 80 Für eine Darstellung des kosmopolitischen Ansatzes in der Philosophie der Aufklärung siehe: Cheneval 2002.
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felsohne muss man Kant Tribut zollen für die erste Einführung einer dreigeteilten Artikulation des öffentlichen Rechts – innerstaatlich, international und kosmopolitisch –,81 die explizit als dritte Ebene ein corpus juris beinhaltet, das sich auf die Rechte konzentriert, die über das Bürgersein hinausgehen und allen Menschen ungeachtet ihrer Zugehörigkeit als Bürger zukommen. Mit anderen Worten, während das innerstaatliche öffentliche Recht die Regeln für die Interaktion im Rahmen des einzelnen Gemeinwesens festlegt, und das Völkerrecht, das laut Kant positiv und kein bloßes Naturrecht sein muss, den Beziehungen zwischen den Staaten eine Ordnung verleiht, legt das kosmopolitische Recht die Ansprüche jedes Menschen gegenüber den Staaten fest, deren Bürger er nicht ist, oder im Hinblick auf alle anderen Menschen, die keine Bürger desselben Gemeinwesens sind. Das Problem ergibt sich, wenn man die Frage stellt, welche Inhalte das kosmopolitische Recht haben und welche institutionelle Form die konkrete Umsetzung des kosmopolitischen Rechts annehmen soll. Tatsächlich ist es auf den ersten Blick überraschend und etwas verstörend festzustellen, wie mager die Rechte sind, die durch das kosmopolitische Recht garantiert werden sollen. Sie umfassen in Kants Vorschlag lediglich die »Bedingungen der allgemeinen Hospitalität«, das heißt »das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden».82 Kants kosmopolitisches Recht beschränkt sich daher darauf, lediglich die Idee eines universalen Menschenrechtssystems vorwegzunehmen, das die globalen Interaktionen zwischen Menschen regeln soll; wenn es aber auf die dort enthaltenen konkreten Bestimmungen ankommt, dann bleibt sein Vorschlag noch weit von einem universalen Menschenrechtskatalog im zeitgenössischen Sinne entfernt. Ein weiterer Mangel betrifft die Darlegung des institutionellen Rahmens, der mit der Umsetzung der kosmopolitischen Dimension der Ordnung betraut wird, insbesondere mit dem Schutz des Friedens. Tatsächlich finden sich in Kants Werk zwei unterschiedliche Lösungen für die Institution, die eine Weltordnung herbeiführen soll: In einigen Passagen schlägt er eine »Weltrepublik« als eine Art globalen Superstaats vor;83 in anderen taucht hingegen die viel weniger anspruchsvolle Vorstellung eines »Völker-
—————— 81 Kant 1795/1977: 203. 82 Kant 1795/1977: 213; 1797/1977: § 62, S. 475. 83 Kant 1795/1977: 212.
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bundes« auf.84 Die »Weltrepublik« wird von Kant als die im Prinzip beste Lösung erachtet, da sie alleine in der Lage wäre, gleiche Rechte und bindende Regeln für alle in der internationalen Arena involvierten Akteure zu garantieren.85 Allerdings räumt Kant ein, dass die prinzipiell favorisierte Lösung nicht durchführbar ist, wobei er nichtsdestotrotz betont, dass die praktikablere Hypothese des »Völkerbundes« nicht wirklich die Aufgabe leisten könne, ein weltweit bindendes System für Frieden, Sicherheit und Schutz der Menschenrechte zu schaffen. Versucht man, die konzeptuellen Gründe für die Mängel in Kants Vorschlag über ihre bloße Einordnung in das kulturelle Klima seiner Zeit zu ermitteln, stellt sich die Frage, ob beide Mängel – die »dünnen« Inhalte des kosmopolitischen Rechts sowie die schwankende Unbestimmtheit des institutionellen Rahmens – nicht vielleicht auf den »Kern« von Kants politischer Philosophie, das heißt auf das Paradigma, auf das er seine Analyse und seine Vorschläge stützt, zurückgeführt werden können. Wie bereits erwähnt, basiert Kants Idee der gesellschaftlichen und politischen Ordnung – und damit seine Vorstellung eines kosmopolitischen Rechts – auf dem individualistischen Paradigma der Moderne. Nach dessen Verständnis werden Wissen und Gesellschaft dahingehend verstanden, dass sie auf einer einheitlichen Idee der Subjektivität begründet sind: Nur die Annahme der Uniformität und internen Kohärenz der mentalen Prozesse, die von jedem Einzelnen geleistet werden, kann gemäß des modernen westlichen Denkens garantieren, dass der Einsatz theoretischer Vernunft zur Wahrheit, die Umsetzung der praktischen Vernunft zur Gerechtigkeit und die Gestaltung der sozialen und politischen Welt zu Ordnung, Freiheit und Frieden führen. Die westliche Moderne hat für diese wichtigen Ergebnisse jedoch einen hohen Preis gezahlt. Das erste Problem bestand in der solipsistischen Auffassung der Individuen in Folge der Behauptung, dass die theoretischen und praktischen Prozesse von jedem Individuum für sich selbst und daher unabhängig von jeder sozialen Kontextualisierung geleistet werden könnten. Das zweite Problem ist die Rigidität des Systems: So wie man Individuen nur dann als wohlgeformte Persönlichkeiten betrachten kann, wenn ihre theoretischen Aussagen und ihr praktisches Verhalten kohärent, nämlich nicht widersprüchlich sind, so kann man nur dann das Wissen als wahrheitsgemäß, die ethischen Vorstellungen als der Gerechtigkeit ent-
—————— 84 Kant 1795/1977: 213; 1797/1977: § 54, S. 467, § 61, S. 475. 85 Kant 1795/1977: 212.
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sprechend, die Gesellschaft als gut organisiert und das Rechtssystem als normativ solide betrachten, wenn jeder dieser Bereiche in sich selbst in einheitlicher und pyramidaler Weise strukturiert ist. Eine der negativsten Folgen des modernen westlichen Verständnisses von Wissen und Handlung sowie von Gesellschaft und Recht ist somit die fehlende Flexibilität. Insofern Theorie und Praxis auf der monologischen Integrität einer Subjektivität basieren, die als zusammenhängende und hierarchisch konstruierte Monade verstanden wird, gibt es keine horizontale Pluralität. So wie die einzelne Subjektivität als in sich einheitlich begriffen wird, so müssen auch die politischen Institutionen, die durch den von den einzelnen Individuen geschlossenen Vertrag etabliert werden, als einheitlich konzipiert werden. In Folge kann die Souveränität nicht geteilt werden,86 wobei sie, den verschiedenen von Kant ausgedrückten Präferenzen folgend, entweder in den einzelnen Staaten als undurchdringlichen »Billardkugeln«, oder in einem für die effektive globale Ordnung zuständigen »Weltstaat«, dem die höchste Souveränität übertragen werden muss, Form findet. Die politische und rechtliche Struktur, die geschaffen wird, um die gesellschaftliche Ordnung sowie die Achtung der fundamentalen Rechte zu gewährleisten, kann daher laut Kants individualistischem Ansatz nichts anderes als eine souveräne, ausschließende und vertikal organisierte Einheit sein: entweder der Einzelstaat, der wohl in der Lage ist, auf innerstaatlicher Ebene die Grundrechte zu garantieren, jedoch mit der Konsequenz, dass ein Völkerbund souveräner Staaten kaum in der Lage wäre, effektiv den universalen Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten, oder die kaum realisierbare und in einer gewissen Hinsicht sogar bedrohliche Weltrepublik. Im Gegensatz dazu kann nur ein mehrschichtiges Rechts- und politisches System, das die traditionelle Idee einer ungeteilten Souveränität überwindet, die Bedingungen für einen legitimen und realisierbaren Schutz der fundamentalen Rechte sowohl auf innerstaatlicher Ebene – als Bürgerund Grundrechte – als auch in der Weltarena – als Menschenrechte – schaffen. Die innerstaatliche Ebene garantiert die Verfahren für die Volkspartizipation, um auf diesem Weg die Inhalte der Grundrechte deliberativ festzulegen, was auf globaler Ebene schwer zu verwirklichen sein dürfte. Andererseits definiert die kosmopolitische Ebene die universalen Menschenrechte und gründet angemessene Institutionen, die mit ihrem Schutz betraut werden.
—————— 86 Habermas, 2005: 224.
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2. Das Mehrebenensystem der Rechte auf der Grundlage des kommunikativen Paradigmas Um diese Vorstellung konzeptionell zu füllen, benötigt man ein neues Paradigma der sozialen Ordnung: Indem es die Mängel des modernen Individualismus zu beheben sucht, muss es die Vorstellung von Subjekten begrifflich artikulieren, die mehrere soziale Zugehörigkeiten aufweisen, gleichzeitig Teil eines einzelnen Gemeinwesens und der globalen Gemeinschaft sind und daher Träger von Rechten, die sich aus beiden gesellschaftlichen Situationen ergeben. Diese Aufgabe kann durch das kommunikative Paradigma erfüllt werden, wie es von Karl-Otto Apel87 und Jürgen Habermas88 entwickelt wurde. Die Architekten des kommunikativen Paradigmas89 lösen die Probleme der modernen Subjektivität (im Singular) nicht durch deren Destrukturierung bzw. deren Auflösung in ihre Bestandteile – wie dies postmoderne Denker tun –, sondern indem sie die einzelne Subjektivität in eine Vielzahl von Subjektivitäten (im Plural) multiplizieren. Die Beibehaltung einer allumfassenden Idee der theoretischen und praktischen Vernunft wird durch das Entwerfen mehrerer Logiken der Interaktion artikuliert, wobei sich jede durch einen konkreten Kontext der Implementierung unterscheidet. Die Dialektik wird durch den gemeinsamen Grund der kommunikativen Vernunft garantiert, der jeder Interaktion eigen ist. Aus der Idee einer einzelnen, aber allgemein gültigen Subjektivität entwickelt sich das Erbe der westlichen Moderne damit zu einer Pluralität von Individuen, die miteinander interagieren und auf diese Weise ein neues und flexibleres Fundament für die theoretische und praktische Vernunft schaffen. Durch die Vervielfältigung der Subjektivität zu einer Pluralität konkreter und miteinander kommunizierenden Individuen können sowohl die Erkenntnistheorie90 als auch die Ethik den früheren Formalismus überwinden und dennoch ihren Anspruch auf Wahrheit und Universalität sowie persönliche
—————— 87 Apel 1973; 1990; 1993; 2007. 88 Habermas 1981; 1983; 1985; 1992; 1996; 1998; 2004; 2005. 89 Im Hinblick auf die unterschiedlichen Ansätze innerhalb des kommunikativen Paradigmas, insbesondere auf die Unterscheidung zwischen der eher transzendentalphilosophischen Auffassung von Apel und der stärker in sozialen und politischen Prozessen wurzelnden Interpretation von Habermas, stütze ich mich im Folgenden vorwiegend auf letztere. 90 Über die epistemologischen Implikationen des kommunikativen Paradigmas siehe: Habermas 1984; 1999.
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und soziale Verantwortung aufrechterhalten. Darüber hinaus kann somit die politische Theorie des kommunikativen Paradigmas an den Individuen als denjenigen Instanzen festhalten, welche die Standards für Legitimität definieren. Dem kommunikativen Paradigma zufolge sind Individuen Bürger eines einzelnen Gemeinwesens; gleichzeitig sind sie aber auch an Interaktionen beteiligt, die sie in ihrer nicht minder essentiellen Dimension als Menschen schlechthin betreffen, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft und häufig in einem Rahmen, der über diesen Raum hinausreicht.91 Am Rande sei diesbezüglich angemerkt, dass die Stärkung des bis heute wenig ausgeprägten Bewusstseins hinsichtlich der doppelten Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft sowie zu einer globalen Gemeinschaft aller Menschen auf Grund ihrer zentralen Bedeutung in einer stetig stärker zusammenwachsenden Welt dringend zum Ziel geeigneter Maßnahmen durch Regierungen und internationale Organisationen erklärt werden sollte. Von einer eher institutionellen Perspektive steht aber schon jetzt fest, dass beide Arten der Interaktion – innerhalb eines einzelnen Gemeinwesens sowie im Kontext potenziell weltweiter Interaktionen von Menschen – Regeln benötigen, um richtig zu funktionieren: Juristisch ausgedrückt, korrespondieren diese Regeln im ersten Fall mit den sogenannten »Bürgerrechten«, im zweiten Fall mit den allgemeinen und universal geltenden Menschenrechten. Da sich Rechte im kommunikativen Verständnis immer auf konkrete Individuen beziehen, auf Grund ihres Willens entstehen und von ihnen geschützt werden sollten, werden alle Arten von Rechten, das heißt nicht nur Bürgerrechte, sondern auch Menschenrechte, im Rahmen dieses konzeptuellen Zugangs als Ergebnis inklusiver Diskussionsprozesse, das heißt als »von unten« kommend betrachtet. Im Hinblick auf die normative Dichte unterscheiden sich jedoch die rechtlichen Formen, in denen die Grundsätze, welche die Interaktionsregeln bestimmen, auf verschiedenen Ebenen festgelegt werden: Einerseits sind es die Verfassungen – oder entsprechende Dokumente mit verfassungsrechtlicher Relevanz –, welche die grundlegenden Normen der Interaktion zwischen den Bürgern eines
—————— 91 »Bürger haben nach wie vor eine tiefe Verbundenheit zu ihrer eigenen Regierung, und sie haben auch Beziehungen, die über Staatsgrenzen hinausreichen. Bürger haben verstärkt Anspruch darauf, mehr von ihren Regierungen zu erwarten als die reine Aufrechterhaltung der innerstaatlichen Ordnung und die Abwehr von Gefahren jenseits der Grenzen« (Stacy 2009: 31).
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einzelnen Gemeinwesens festhalten;92 andererseits fungieren jene Teile des Völkerrechts, die allgemeine Relevanz und universale Gültigkeit beanspruchen, als Kern dessen, was als »gemeinsames Recht der Menschheit« bezeichnet werden kann.93 Unterschiedlich in Struktur und Zuständigkeiten sind auch die gerichtlichen Institutionen, die auf den entsprechenden Ebenen der Einzelstaaten bzw. der allgemeinen Menschengemeinschaft mit der Aufgabe betraut werden, die wesentlichen Interaktionsregeln als unverzichtbare Bedingungen für die Partizipation an gesellschaftlichen und politischen Prozessen zu schützen: Verfassungsgerichte im innerstaatlichen Bereich, Menschenrechtsgerichte auf internationaler Ebene. Aus diesem Gedankengebäude ergeben sich zwei wichtige Fragen, insbesondere im Hinblick auf das kosmopolitische Menschenrecht: Die erste betrifft die Form, welche die mit dem Schutz der Menschenrechte auf kosmopolitischer Ebene betrauten Institutionen annehmen sollen; die zweite bezieht sich auf die Möglichkeiten der Volkspartizipation an den Verfahren, welche die globalen Regeln festlegen, und zwar in einem Kontext, der zumindest auf den ersten Blick zu weit entrückt von den Individuen zu sein scheint, um Einfluss und Kontrolle zu ermöglichen. Im Hinblick auf die institutionellen Formen des Menschenrechtschutzes lehnen die Befürworter des kommunikativen Paradigmas generell die These ab, dass nur ein föderaler »Weltstaat«, das heißt eine Wiederbelebung von Kants »Weltrepublik», erfolgreich diese Aufgabe als Teil einer umfassenderen Verpflichtung zur Weltregierung übernehmen könnte.94 Der Verzicht auf »harte« politische Lösungen impliziert allerdings nicht den Rückzug der kommunikativen Theorie in den Elfenbeinturm einer im Hinblick auf praktische Konsequenzen sterilen Gleichsetzung von Menschenrechtsnormen und einem rein moralischen »Sollen«. Ein Ausweg aus der Sackgasse könnte durch eine »weiche« institutionelle Architektur gefunden werden,
—————— 92 Dabei ist allerdings hervorzuheben, dass die konstitutionelle Garantie der Grundrechte innerhalb des einzelnen Gemeinwesens – wie bereits erwähnt (siehe Fn. 1) – nicht nur die exklusiven Interaktionsregeln unter den eigenen Bürgern, sondern auch, sofern die Grundrechte auch als die einzelstaatlich kodifizierte Ausdrucksform der Menschenrechte zu verstehen sind, jene inklusiven Interaktionsregeln schützt, die die Bürger zusammen mit allen anderen Menschen auf Grund ihres Menschseins teilen. 93 Bluntschli 1878: 56, Nr. 7; Tomuschat 1995; 1999. 94 Zugunsten der Idee einer »Weltrepublik« siehe: Höffe 1999/2002. Für eine Diskussion von Höffes Vorschlag siehe: Gosepath/Merle 2002.
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die politische und gerichtliche Elemente miteinander verbindet.95 In dieser Balance zwischen politischen Institutionen und internationalen Gerichten bleibt die politische Dimension, insofern sie sich durch eine höhere demokratische Legitimation und inklusive Deliberationsverfahren auszeichnet, die wichtigste aus Sicht des kommunikativen Paradigmas. Die politische Dimension der »überstaatlichen« Architektur würde die Form einer Weltorganisation annehmen, die mit Zuständigkeiten betraut ist, die sich aus der partiellen Übertragung der Souveränität seitens der Nationalstaaten für die begrenzte, aber effektive Erfüllung von zwei Funktionen ergeben: den Schutz des Friedens und der globalen Sicherheit, sowie die Gewährleistung der grundlegenden Menschenrechte.96 Grundsätzlich würde sie der UN mit einem wesentlich reformierten Sicherheitsrat gleichkommen.97 Die Vorstellung der normativen Unabdingbarkeit sowie der konkreten Möglichkeit der Partizipation von Individuen – selbst auf kosmopolitischer Ebene – an den deliberativen Prozessen zur Festlegung der Inhalte ihrer wesentlichen Rechte basiert auf dem Konzept einer universalen Kommunikationsgemeinschaft.98 Da die politische Partizipation nichtsdestotrotz vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, innerhalb der einzelnen staatlichen Gemeinwesen stattfindet, muss sich die demokratische Legitimation auch hinsichtlich der Festlegung der universalen Menschenrechte hauptsächlich aus den deliberativen Prozessen innerhalb der Staaten als den entscheidenden Akteuren in der internationalen Arena speisen.99 Allerdings ist diese Legitimitätsquelle, wenn auch wichtig, nicht ausreichend. Vorausgesetzt, dass Menschenrechte aus kommunikativer Perspektive aufsteigend,
—————— 95 Über die Balance zwischen Schutz der Menschenrechte durch politische Institutionen und die Rolle der internationalen Gerichtshöfe siehe: Stacy 2009. 96 Eine solche kosmopolitische Weltorganisation müsste so inklusiv wie nur möglich sein, was in einer Welt, in der Demokratien neben autokratischen oder gar tyrannischen Staaten existieren, signifikante Probleme aufwirft. Zu dieser Frage siehe das kontroverse The Law of Peoples von John Rawls (1999). Für eine Kritik: Apel 2007. 97 Habermas 2004: 133; 2005: 228. Für eine Diskussion von Habermas’ Vorschlag siehe: Niesen/Herborth 2007. 98 Apel 1976: Bd. II, S. 358; Apel 1990; 2007: 50. Eine Weise, die Theorie der universalen Kommunikationsgemeinschaft in die Sprache der Theorie der internationalen Beziehungen zu übersetzen, findet sich in der Idee einer globalen »politischen Gemeinschaft»; siehe: Linklater 1998. Siehe auch: Held 2004. Elemente einer »dialogischen« Auffassung des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen finden sich aber auch im Werk von Autoren, die die theoretischen Prämissen der Diskurstheorie nicht teilen; siehe z.B.: Carty 2007; Hurrell 2007. 99 Habermas 1988: 161; 2004: 137; 2005: 229.
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also »von unten« definiert und geschützt werden müssen, muss ihre Formulierung und ihr Schutz, insofern sie Gültigkeit beanspruchen und über die Staatsgrenzen hinweg Anwendung finden sollen, auch eine Dimension aufweisen, die sich grenzüberschreitend zusammensetzt. Mit anderen Worten, wenn die überstaatliche Ebene des öffentlichen Rechts, das heißt Normen und Institutionen des Völkerrechts, die sich auf den Schutz des Friedens und der Menschenrechte konzentrieren, mit einer autonomen normativen Macht ausgestattet werden muss,100 dann muss diese Ebene auch, zumindest teilweise, ihre eigene Legitimitätsquelle haben. In einer Welt Kantischer Republiken würde diese normative Forderung kein Problem darstellen: Eine ununterbrochene Kette würde namentlich die Legitimation von den demokratischen Prozessen innerhalb der einzelnen Staaten auf die überstaatliche Ebene übertragen.101 In einer solchen Welt wäre selbst die Aussicht einer globalen parlamentarischen Versammlung von Mitgliedern nationaler Parlamente keine bloße Fantasie.102 Aber leider leben wir nicht (noch nicht, möchte ich anfügen) in einer Welt Kantischer Republiken. Daher bleibt für diejenigen, die am Projekt eines kosmopolitischen Rechts festhalten wollen, zunächst nur die Möglichkeit, für die Errichtung einer qualifizierten ständigen Vertretung von Nichtregierungsorganisation bei der UN als Ersatz für eine globale parlamentarische Versammlung nachdrücklich zu plädieren, damit die internationale Zivilgesellschaft, das heißt die Gesellschaft der Weltbürger, wenigstens die Stimme eines Platzhalters bekommt.103
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—————— 100 Die Ausstattung der Institutionen des überstaatlichen öffentlichen Rechts mit autonomer Macht bzw. mit höherer normativer Zuständigkeit impliziert nicht, dass sie, wie im Fall der Institutionen eines Weltstaates, auch eine Art föderaler souveräner Autorität besitzen würden. 101 Sellers 2006. 102 Habermas 2008: 360. Über globale Demokratie siehe auch: Held 1995; Archibugi 2008. 103 Habermas 1988: 165; 2004: 141; 2005: 228.
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Düstere Aussichten – Die Zukunft der Demokratie in der Weltgesellschaft Sieben Thesen Hauke Brunkhorst Von meinen sieben Thesen singt die erste das zögerliche Lob der alt gewordenen Gestalt des Nationalstaats, die zweite bestimmt das moderne Recht der »westlichen Rechtstradition« als gleichzeitig repressiv und emanzipatorisch, die dritte stellt den Nationalstaat in seinen imperialen Schatten, die vierte behauptet einen grundstürzenden normativen Fortschritt für das 20. Jahrhundert, die fünfte sieht in der (nur liberalen) Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft nicht schon die Lösung, sondern einen Teil des Problems undemokratischer Weltherrschaft, die sechste zeichnet ein düsteres Bild der Globalisierung von Markt, Macht und Religion, und die siebte verspricht auch kein gutes Ende, setzt aber eine schwache Hoffnung in den demokratischen Rechtsformalismus, was zumindest die Juristen meist erfreut. 1. Der subjektive Geist der großen Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts hat seine erste objektive Gestalt im modernen Nationalstaat gefunden. Sie ist bis heute das Paradigma demokratischer Rechtsstaatlichkeit geblieben. Dieser Staat, ob demokratisch oder nicht, war von Anfang an ein administratives Ungeheuer, ein bürokratischer Überwachungs- und Kontrollstaat, ein Staat entfesselter Exekutivmacht.1 Aber im Zuge seiner Demokratisierung, die ihm und den jeweils in ihm herrschenden Klassen in fortgesetzten sozialen Kämpfen, Revolutionen und Kriegen schließlich abgetrotzt worden ist, hat dieser Staat nicht nur die unkontrollierten Kettenreaktionen unter Kontrolle gebracht, die durch die Abspaltung der großen Schicksalsmächte des modernen Lebens, der desozialisierten Religion (Weber) vom klerikalen Universalstaat, der freien Arbeits-, Geld und Immobilienmärkte (Polanyi) vom Schichtungssystem und der politischen Exekutivmacht (Marx) von herrschaftlicher Gewalt ausgelöst worden sind.2 Der Nationalstaat – so meine erste These – hat nicht nur die administrative Macht
—————— 1 Reinhard 1999. 2 Zur Metapher der Kernspaltung: Brown 1975: 133–151.
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zur Kontrolle der entfesselten Produktivkraft Kommunikation hervorgebracht, sondern diese Macht auch erfolgreich eingesetzt, um zumindest innerhalb seiner Grenzen Ungleichheit auszuschließen, die Garantie gleicher individueller Rechte politisch umzusetzen, egalitäre Partizipationschancen zu ermöglichen und gleichen Zugang zu Markt- und Bildungschancen, zu Wohlfahrts- und Versorgungsminima zu gewährleisten.3 Dem demokratisierten und verrechtlichten Nationalstaat ist es im Verlauf des nicht nur totalitären 20. Jahrhunderts schließlich gelungen, (1) die von den protestantischen Motivationskrisen und Revolutionen des 16. und 17. Jahrhunderts entfesselte Freiheit der Religion zusammen mit der Freiheit von der Religion in politischen Teilhaberechten4 zu verankern und damit Aufklärung und Religion als Quellen nationaler Solidarität zu erschließen, (2) durch demokratisches Staatsorganisationsrecht, das mehr noch als die Menschenrechte die eigentliche Innovation der Legitimationskrisen und Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts war, die Freiheit des öffentlichen Lebens mit dem Wachstum der öffentlichen Gewalt, also die Freiheit zur politischen Partizipation mit der Freiheit von der Politik zu kompatibilisieren; und schließlich (3) durch soziale Revolutionen und Reformen, politische Planung und regulierten Kapitalismus – Folgen der und Reaktionen auf die ökonomischen und sozialen Krisen des entfesselten kapitalistischen Systems – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Freiheit der Märkte zusammen mit der Freiheit von ihren negativen Externalitäten durchzusetzen und zu gewährleisten. Damit konnte nicht nur das technisch-instrumentelle Rationalitätspotential, das die moderne Gesellschaft in Gestalt rasant wachsender Produktivkräfte entfesselt hat (Marx), sondern auch die durch politische Machtakkumulation enorm gesteigerte und perfektionierte Rationalität strategisch-kommunikativen Handelns (Hobbes) und vor allem das seit der protestantischen Revolution freigesetzte kommunikativ-kooperative Rationalitätspotential der Weltreligionen (Weber) im institutionellen Rahmen des demokratischen Rechtsstaats
—————— 3 Marshall 1992: 33 ff.; Stichweh 2000: 52. 4 Zum politischen Charakter dieser Rechte in der amerikanischen und französischen revolutionären Verfassungstradition (und dem Unterschied zum deutschen, kirchenzentrierten und staatsfixierten Sonderweg in Sachen Religionsfreiheit s. a. Lepsius 2006: 321– 349.
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gebündelt und aktualisiert und in diesem Sinne zu einer – mittlerweile alt gewordenen – Gestalt der Vernunft in der Geschichte (Hegel) werden.5 Bis heute verdanken sich alle objektiv fassbaren Fortschritte in der »Einbeziehung des Anderen« (Habermas), auch alle Fortschritte des Völkerrechts und seiner Konstitutionalisierung der ebenso gewaltigen wie bedrohlichen Machtfülle des modernen Nationalstaats, die durch Verrechtlichung und Gewaltenteilung nicht weniger bedrohlich, sondern überhaupt erst zu einem exponentialen Wachstum angetrieben worden ist.6 Der am Ende vielleicht doch zu hohe Preis dieses gleichzeitig funktionalen und normativen Fortschritts im Nationalstaat besteht aber nicht nur in der kaum aufhebbaren Ambivalenz reflexiver Macht, sondern im weitgehenden, aber praktisch aufhebbaren Opfer der ursprünglich universalistischen und kosmopolitischen Ansprüche der großen Verfassungsrevolutionen, die ihn hervor- und auf den Weg gebracht haben. Anfangs, am schönen Tag ihrer Erklärung im August 1789, waren die Rechte des Menschen und Bürgers zwar ohne jede rechtlich bindende Kraft, aber noch so streng universell, dass der im Text erkennbare Unterschied zwischen Menschen und Bürgern und zwischen Menschen- und Bürgerrechten sich darauf reduzierte, dass es sich bei den Menschen um eine Population im Naturzustand und bei den Bürgern um dieselbe Population im Gesellschaftszustand handelte, in dem lediglich aus natürlichen positive Rechte wurden und ihre Zahl sich vermehrte, weil es jetzt galt, ihre autonome Ausgestaltung in einer assoziation politique zu organisieren. Der Text schloss niemanden von keinem fundamentalen Recht aus, auch wenn die zusätzliche und überflüssige Heiligsprechung des Eigentums im letzten Artikel bereits Böses ahnen ließ.7 Aber im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts wuchs die programmatische Bindungskraft der subjektiven Rechte, und am Ende wurden sie gar zu einklagbaren Grundrechten. Im Zuge ihrer Positivierung, Ausgestaltung und Konkretisierung durch Gesetzgeber, Verwaltungen und Gerichte wurde aus soft law hard law, aber der Universalismus blieb auf dem Status von soft law zurück, und mit der Konkretisierung der Rechte der einen wurde die Rechtlosigkeit der anderen konkretisiert, der Fremden und Ausländer, der Frauen und Kinder, der Schwarzen und Farbigen, der Gefängnisinsassen und Verbannten, und dieses Ergebnis war danach erst mal so stabil, dass es ohne große Reformen, heftige soziale
—————— 5 Zur Rationalitätstypologie freilich nicht Hegel, sondern Habermas 1981. 6 »Absolute Macht ist schwach.« (Luhmann, Macht). 7 Dazu: Hofmann 1988.
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Kämpfe oder gar Revolutionen kaum mehr zu ändern war. Je mehr es dem Nationalstaat gelang, sein normatives Versprechen zu erfüllen und Ungleichheit auszuschließen, desto deutlicher trat nicht nur in seinen immer weiter ausgedehnten Kolonien, sondern auch in der heimischen »Zivilisation« die dem bürgerlichen Rechtsstaat inhärente Rechtlosigkeit hervor. 2. Der Erfolg des Nationalstaats erklärt sich aus der funktionalen Leistungsfähigkeit und der normativen Kraft demokratischer Verfassungen, deren revolutionäre Idee anfangs noch nicht auf diesen mächtigen Staat zugeschrieben war. In der französischen Erklärung findet sich das Wort Staat kein einziges Mal, statt dessen assoziation politique, societe civile oder nation. Auch bei Kant wird »Staat« zumeist auf Maschine und Absolutismus gereimt, während die Republik noch oder schon wieder vorhegelsch »bürgerliche Gesellschaft« ist. Und in Amerika gab es nicht nur demokratische Staatsverfassungen, sondern auch eine demokratische Unionsverfassung. Die demokratische Verfassung, so lehrt sogar die jüngste bundesrepublikanische Verfassungsdogmatik (Möllers), setzt keinen konkreten Staat voraus. (Insofern war gerade der Dualismus von Staat und Gesellschaft die nicht nur folgenreichste, sondern auch fatalste Innovation der hegelschen Rechtsphilosophie.) Entscheidendes Merkmal des modernen und insbesondere des demokratisch verfassten Rechts ist, so meine zweite These, dass es nicht nur, wie das alte römische, der Koordination der herrschenden und der Repression der beherrschten Interessen dient. Es erschöpft sich auch nicht in Erwartungsstabilisierung, ist nicht nur, wie bei Luhmann, Immunsystem der Gesellschaft, sondern gleichzeitig Medium praktischer Weltveränderung. Es ist nicht nur auf Repression, sondern (mit Kant und Hegel) auch auf Emanzipation (Dasein der Freiheit) programmiert. Deshalb spricht Habermas (in der idealistischen Tradition) von der dem positiven Recht inhärenten, gleichzeitigen Faktizität und Geltung des Rechts. Schon dem klassischen Begriff der pouvoir constituant ist eine Dynamik entgrenzender Selbststranszendenz eingeschrieben, die John Dewey auf Begriffe wie »demokratischer Experimentalismus« und »demokratischer Expansionismus« gebracht hat.8 Auch hier vermischen sich, wie in der berühmten Monroedoktrin, Gesten imperialer Unterwerfung (US-Hegemonie in beiden Amerikas) mit solchen anti-
—————— 8 Brunkhorst 1998: s. a. Möllers 2008: 160–182.
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imperialer Befreiung (von allen Herrschaftsansprüchen europäischer Monarchen). Die Declaration of Independence selbst ist ein hoch signifikantes Beispiel für die dynamische Doppelung des modernen Rechts in Repression und Emanzipation, imperialen und demokratischen Expansionismus. Als Medium der Emanzipation erklärt sie, »that all men are created equal« und gegen den Willen des Königs von England beharrt sie darauf, dass jeder, der nach Amerika einwandern möchte, willkommen sei. Rawls hat ganz recht, wenn er daran erinnert, dass die Revolutionen des 18. Jahrhunderts einen Lernprozess der Einbeziehung vormals ausgeschlossener Stimmen, Klassen, Rassen, Geschlechter, Länder, Regionen usw. in Gang gesetzt haben: »The same equality of the Declaration of Independence which Lincoln invoked to condemn slavery can be invoked to condemn the inequality and oppression of women.«9 Aber dieselbe Erklärung enthält nicht nur den schönen Satz über die Gleichheit, sondern ist gleichzeitig ein Dokument blutiger Unterdrückung, das den Vernichtungskrieg gegen die indianische Bevölkerung Amerikas legalisiert, indem es den britischen König der heimlichen Bundesgenossenschaft mit dem Feind aller civilized nations bezichtigt: den merciless Indian Savages. Aber selbst der zu Recht viel gescholtene Begriff der zivilisierten Nation bleibt ambivalent, berufen sich doch jetzt die Verteidiger der Menschenrechte am US-Supreme-Court auf die »standarts of civilized nations« der Declaration of Independence, um die Torturen in Guantamano und anderen US-amerikanischen Gefangenenlagern zu brandmarken und das internationale Recht in den Horizont der US-Verfassung einzubeziehen, während fundamentalistische Nationalisten wie Scalia (ähnlich dem Bundesverfassungsgericht in Sachen Lissabon) auf dem Dualismus von nationalem und internationalem Recht bestehen, um (vorerst noch anders als das Bundesverfassungsgericht) massive Abweichungen von jenen »standards« zu rechtfertigen.10 Erst die paradoxe Kombination repressiver Stabilisierungsleistungen mit emanzipatorischer Macht ermöglicht es der demokratischen Verfassung, die antagonistischen Interessen und Klassenkonflikte, die kollidierenden Überzeugungen und Wertsysteme der Gesellschaft, die in blutigen Revolutionen unversöhnlich aufeinanderprallen, so zu institutionalisieren, dass sie nach der Revolution in ihrem Gegensatz bestehen bleiben, sodass die
—————— 9 Rawls 1993: XXIX. 10 Nickel 2009: 281–306.
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kommunikative Produktivität ihres Widerspruchs erhalten bleibt und der Kampf ums Recht fortan im Recht dann auch von Sklaven, Frauen oder merciless Indian Savages fortgeführt werden kann. Mit Chantal Mouffe könnte man den Weg von der illegalen Revolution zur Verfassung einer »permanenten legalen Revolution« (Fröbel) als Weg from antagonism to agonism beschreiben11, wenn man dabei – anders als Mouffe – im Auge behält, dass diese Transformation tödlicher Wert- und Interessengegensätze sich allein der (bei linken und rechten Schmittianern so verhassten) Juridifizierung der Politik verdankt.12 Erst wenn die Institutionen entweder so weit erstarrt sind, dass die Politik im Recht verschwindet oder wenn umgekehrt das Recht im höheren Klasseninteresse der Oberen (heute sagt man: Leistungsträger) soweit flexibilisiert worden ist, dass es vom Vollzug politischer Entscheidungen kaum noch unterscheidbar ist, wird auch der Kampf ums Recht im Recht aussichtslos, und Insurrektionen und Bürgerkriege werden, wenn es die Machtverhältnisse erlauben oder die Verzweiflung diktiert, unausweichlich. Die kommunikative Macht ist dann auf ihre materielle Deckungsreserve, den »symbiotischen Mechanismus« (Luhmann) »rächender Gewalt« (Hegel) zurückverwiesen, der, wie jede Form des direkten Zwangs (auch des legalen) die Grenzen demokratischer Legitimation sprengt.13 3. Vom frühen 19. bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts war der moderne Staat auf die Regionalgesellschaften Europas, Amerikas und Japans be-
—————— 11 Mouffe 2005: 20: »We could say that the task of democracy is to transform antagonism into agonism.« Eine Quelle dieses Gedankens ist Machiavelli 1990: 138 (Discorsi I, 4): »Alle Gesetze« und »Einrichtungen« »zugunsten der Freiheit« »entstammen der Zwietracht«. Vgl. a. Bankowski 1991: 29 f. 12 Fried 1970. 13 Der von Habermas geprägte Begriff der kommunikativen Macht geht auf Arendt zurück. Aber Arendt setzt ihn in einen falschen Gegensatz zur Gewalt, da Macht immer nur dann Macht ist, wenn sie im Zweifelsfall auf Gewalt, »das bewegen von Körpern« (Luhmann) zurückgreifen kann. In diesem Punkt unterscheiden sich kommunikative und bürokratische oder administrative Macht nicht. Das Verhältnis von Macht und Gewalt markiert die Grenze demokratischer Legimierbarkeit. Nur die Norm und alle Stufen ihrer Konkretisierung sind demokratischer Legitimation fähig und erfordern sie in einer demokratischen Rechtsgenossenschaft. Die Anwendung physischen Zwangs aber kann (ohne metaphysische Zusatzannahmen à la Hegel) grundsätzlich nicht als Vollzug von Selbstimmung und Selbstgesetzgebung verstanden werden. Das Gesetz, das die Todesstrafe androht, ist demokratisch legitimierbar (wenn auch mittlerweile menschenrechtlich grenzwertig), ihr legaler Vollzug ist es nicht. Dasselbe gilt aber auch für die Gefängnisstrafe und jeden Polizeieinsatz.
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schränkt, die ihrerseits weite Teile der übrigen Welt in zunächst terrtorial-, dann (seit der Englischen Revolution, von deren Calvinistischen Führern die moderne Nation und der moderne Nationalismus erfunden wurden14) nationalstaatlich dominierte, imperiale Großreiche verwandelt hatten. Es gab eine erst europäische, dann nord-westliche Weltherrschaft, aber noch keine normativ integrierte Weltgesellschaft. Der Imperialismus war dem souveränen Staat Europas keineswegs fremd, gehörte vielmehr zu dessen innerstem Wesen. Die lange Geschichte des imperialen, von vornherein auf Weltherrschaft zielenden Staats und seines internationalen Rechts reicht vom 7. Juni 1494, als in Tordesillas der spanisch-portugiesische Teilungsvertrag unterschrieben wurde, bis zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 2. Mai 1945. Bereits der Vertrag von Tordesillas teilte die Welt in zwei Hälften. Auf der einen Seite, zumindest im Zentrum und an der Spitze strahlend, die »zivilisierten« christlichen Fürstenhäuser Europas, aus denen später das System der europäischen Nationalstaaten hervorging und in denen das Jus Publicum Europaeum, das europäische öffentliche Recht galt. Auf der andern Seite der Welt »triumphales Unheil« (Horkheimer/ Adorno). Die riesigen, »unzivilisierten« und paganen Regionen außerhalb Europas lagen im »Herzen der Finsternis« (Josef Conrad). Im Kongo endeten Europas öffentliche Angelegenheiten und das düstere Reich seiner privaten Obsessionen begann. Noch die belgischen Völkermorde im späten 19. Jahrhundert wurden von einigen humanistischen europäischen Juristen, die sich 1873 im Namen von Freiheit, Gleichheit, Humanität, Weltfrieden, Parlamentarismus und Fortschritt im Institut de droit international in Genf vereinigt hatten, mit dem Argument gerechtfertigt, nur europäische Aktionen des belgischen Königs Leopold fielen unter das öffentliche Völkerrecht Europas, seine Aktionen im Kongo aber unter das Privatrecht des Besitzes, mit dem der Eigentümer Leopold machen könne, was er wolle. Leidige Tröster. Eine globale Untat, wie der Völkermord an den Schwarzen, galt damals noch nicht als Gefährdung des Weltfriedens. Die fundamentale Unterscheidung, die – so meine dritte These – das Jus Publicum Europaeum konstituierte, war die Unterscheidung zwischen gleichen Rechten für die europäischen Staaten und ungleichen Rechten für »das andere Kap« (Derrida). Die Berliner Konferenz über die Zukunft Afrikas von 1884/85 bot (im Artikel 35 des abschließenden Protokolls) den kolonialisierten und zur Kolonialisierung freigegebenen Völkern Autorität statt Jurisdiktion, Maßnahme- statt
—————— 14 Berman 2006: 264.
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Gesetzesrecht, der erste globale Doppelstaat, mit den letzten Worten aus Conrads berühmter Novelle: the horror, the horror. 4. Der Horror blieb, aber zumindest das Recht sollte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Grund auf ändern. Das 20. Jahrhundert ist als »Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm) bezeichnet worden, und jeder Versuch, den Abgrund, der die Extreme trennt, zu glätten, wäre »falsche Versöhnung« (Adorno). Spätestens dieses Jahrhundert war die Katastrophe, die das Leben unheilbar »beschädigt« hat (Adorno). Aber – so meine vierte These – es war auch das Jahrhundert einer großen Rechtsrevolution und eines grundstürzenden normativen Fortschritts, durch den – – – –
die Demokratie universalisiert, das Staatsrecht in Weltrecht, die nationalen Menschenrechte in Weltbürgerrechte und die konstitutionelle in demokratische und soziale Rechtsstaatlichkeit verwandelt wurden.
Bestand bis Mitte des 20. Jahrhunderts die dunkle Kehrseite der regional und auf die rechtliche Gleichheit der eigenen Staatsangehörigen beschränkten, nationalstaatlichen Exklusion von Ungleichheit in der, auch rechtlich zementierten Ungleichheit für diejenigen Individuen, Organisationen und politischen Regimes, die nicht der nordwestlich zentrierten Staatenwelt angehörten; gab es bis Mitte des 20. Jahrhunderts keinen juristisch zwingenden Anspruch auf den globalen Ausschluss von Ungleichheiten; so hat sich das zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg, der nicht nur gegen Hitler, nicht nur im nationalen Selbsterhaltungsinteresse sondern auch für Demokratie und Menschenrechte und eine neue Welt, den Sozialismus auf der einen, Roosevelts One World, in der die »equality in the pursuit of happiness« nicht nur für die eigene Nation (Roosevelts Secons Bill of Rights 1944), sondern für alle Völker gesichert wäre (s. schon die Atlantic Charter 1941), auf der andern Seite geführt wurde, dramatisch geändert. Zwar sind massive Menschenrechtsverletzungen, ist die soziale Exklusion ganzer Weltregionen und empörende Ungleichbehandlungen nicht verschwunden. Aber jetzt erst werden Menschenrechtsverletzungen, Rechtlosigkeit und politische und soziale Ungleichheit als unser eigenes Problem verstanden, als ein Problem, das jeden Akteur der Weltgesellschaft betrifft, und jetzt erst gibt es ernsthafte und rechtlich bindende Ansprüche (ius cogens) auf die globale Exklusion von Ungleichheit. Talcott Parsons, gewiss kein schwärmerischer Utopist
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oder ein rechtsgläubiger deutscher Jurist, hat aus diesen und ähnlichen Gründen schon 1961 von der beginnenden Konstitutionalisierung des globalen Systems gesprochen.15 5. Wenn auch die Protagonisten der civitas maxima, des Völkerbunds, des Weltrechts und der Demokratie in der 1920er Jahren, wie Hans Kelsen oder Georges Scelle, am Ende gegen Carl Schmitt und Hans Morgenthau Recht behalten haben, so ist die civitas maxima, in und mit der wir heute leben müssen, doch weit davon entfernt, in guter Verfassung zu sein. Verrechtlichung, Konstitutionalisierung und Herrschaft des Rechts führen nicht per se zur Demokratie, sondern sie stärken immer die jeweils bestehende Herrschaft. Das Motto und der Name der weltweit (als eine Art internationaler pouvoir constituant16) agierenden (gerade in Sachen Osterwieterung höchst einflussreichen) Venice-Commission des Council of Europe, democracy through law, ist bestenfalls ein leerer Euphemismus, schlimmstenfalls die Ideologie der jüngsten Hegemonialmacht.17 Besser wäre es umgekehrt: Law through democracy. Keine stabile und leistungsfähige Diktatur ohne Herrschaft durch Recht (und damit zumindest ein Minimum der Herrschaft des Rechts). Die Macht demokratischer ebenso wie undemokratischer Herrschaft wird, wie schon die alten römischen Senatoren und Imperatoren nur zu gut wussten, durch Recht überhaupt erst stabil, effektiv und vor allem: steigerbar.18 Die Konstitutionalisierung des Weltrechts, der Weltpolitik und der Weltwirtschaft ist deshalb – so meine fünfte These – nicht schon die Lösung des Problems der Überwindung undemokratischer Herrschaft (in, zwischen und über den Staaten), sondern selbst Teil des Problems. Die gegenwärtige Verfassung der Weltgesellschaft ist ein Netzwerk aus Rechten und Organisationsnormen, das den Widerspruch von demokratischer Solidarität und hegemonialer Weltstaatlichkeit, der diese Gesellschaft durchzieht, in sich abbildet. Er bestimmt nicht nur das internationale und das Europäische Recht, sondern mehr und mehr auch die nationalen
—————— 15 16 17 18
Parsons 1961, 126. Dann 2009: 491–506; s. a. Dann/Ali-Ali 2006: 1–41. Nickel 2009: 281–306. »Römisches Recht«, schreibt Wesel (1997: 156) »war das Recht der vornehmen Leute. Klassisch heißt zwar vorbildlich. Und so wird das römische Recht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts genannt. Aber klassisches Recht war auch Klassenrecht, das Recht der Besitzenden untereinander, also Zivilrecht. Mit den anderen machte man kurzen Prozess, außerhalb des Rechts«.
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Rechtsordnungen. Der Widerspruch egalitärer Rechtsansprüche gegen die unegalitären Normen, die ihre Umsetzung regeln, ist nicht der Widerspruch eines leeren normativen Ideals gegen eine schlechte Rechtswirklichkeit, sondern der schlechten Wirklichkeit selbst internal. Er kann deshalb auch von beiden Seiten als Hebel politischer Praxis verwendet werden, von der herrschenden ebenso wie von der beherrschten, von den Eingeschlossenen des glitzernden Zentrums ebenso wie von den Ausgeschlossenen der elenden Peripherie. Wie schwer es den letzteren auch immer fallen mag und wie sehr sie auch immer daran gehindert werden, ihn zu bewegen, sie können den Hebel des Rechts zumindest solange bewegen (und damit möglicherweise einen Prozess der Demokratisierung in Gang setzen) wie das jeweils geltende Recht noch einen Rest normativer Kraft hat. Man konnte es zuletzt in Teheran beobachten, wo es, zumindest bis vor kurzem noch eine (der vom deutschen Staatsrecht bis heute umschwärmten19 konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhundert durchaus ähnliche) konstitutionelle Theokratie mit zwar repressiv eingeschränkten, aber doch echten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gab. Dort ist der erste Versuch, nach einer massiven Wahlfälschung die kommunikative Macht der Straße zu mobilisieren, zwar gescheitert, aber das Regime scheint bei der Unterdrückung der Revolte seine letzten Legitimationsressourcen aufgebraucht zu haben. Das leistet selbst minimale Verrechtlichung und Konstitutionalisierung (wie wir sie ja auch in der postnationalen Weltgesellschaft haben) für die Demokratie und in ihrem Interesse: Wenn es echte Wahlen gibt, können die herrschenden Klassen sie nicht massiv manipulieren und in ihr vermutliches Gegenteil verkehren ohne entsprechend massive Legitimationsverluste hinnehmen zu müssen. Undemokratischer Konstitutionalismus aber hat auch die ihm eingeschriebene Kehrseite, die hegemoniale Macht, die er konstitutionell bändigt, durch Verrechtlichung zu stabilisieren, zu mehren und die Bildung neuer und demokratisch nur unzureichend oder gar nicht legitimierter Herrschaftsformen zu ermöglichen. Der Herausbildung neuer Herrschaftsformationen, wie wir sie heute in der Weltgesellschaft beobachten können, kommt vor allem die Gleichzeitigkeit von Verrechtlichung und Entformalisierung, von Vereinheitlichung und Fragmentierung des Weltrechts entgegen. Dadurch entsteht eine flexible und (mit einer Lieblingsvokabel Carl Schmitts aus den 1930er Jahren) elastische, aber (anders als bei Schmitt)
—————— 19 Mit Blick auf das Lissabon-Urteil des BVerfG spricht Stefan Oeter treffend von der Wiederkehr der »Untoten« des 19. Jahrhunderts, s. a. von Bogdandy 2009.
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deterritorialisierte Rechtsordnung, die den jeweiligen Hegemonialperspektiven auf den Leib geschrieben ist.20 In der Folge wird die mit der Konstitutionalisierung steigende Fähigkeit der multikulturellen, hoch individualisierten und immer weiter spezialisierten Gesellschaft, wachsende Verschiedenheit noch zusammenzuhalten,21 von immer unerträglicher werdenden Unterschieden des Kapitals und der Arbeit, der Eingeschlossenen und der Ausgeschlossenen, der Mächtigen und der Ohnmächtigen, der Gläubigen und der Ungläubigen, der Wissenden und der Unwissenden, der Berechtigten und der Rechtlosen begleitet. Die Teilung der Welt in Leute mit guten und Leute mit schlechten Pässen spiegelt sich in der Verfassungsstruktur der Weltgesellschaft, die egalitäre ius cogens Rechte und demokratische Lippenbekenntnisse regelmäßig am harten Recht undemokratischer Organisationsnormen zersplittern und verstummen lässt.22 Der Grundwiderspruch von demokratischen Rechten und undemokratischen Organisationsnormen, der ein zentrales Merkmal aller konstitutionalistischen Regimes ist, ermöglicht die Bildung neuer Formen der Klassenherrschaft. Eines ihrer Herrschaftsinstrumente ist gubernative Menschenrechtspolitik (Klaus Günther). Die Menschenrechte, so richtig ihre Durchsetzung im jeweiligen Einzelfall trotzdem sein mag, degenerieren dann zu Ermächtigungsnormen (Maus) hegemonialer Politik. Mit der Etablierung weltstaatlicher und weltrechtlicher Strukturen schwindet die Fähigkeit des Nationalstaats, Ungleichheit wirksam auszuschließen, ohne dass postnationale Kompensation absehbar oder der (jüngst vom BVerfG symbolpolitisch inszenierte) Rückzug in den Nationalstaat noch offen wäre. Wer ihn ernsthaft antritt, landet regelmäßig nicht in der Demokratie, sondern im Faschismus. Das hätte das Bundesverfassungsgericht bei seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag eigentlich wissen müssen, als es sich anmaßte, das Europäische Parlament in einem Rechtsakt »hinwegzujudizieren« (Möllers) und damit die Europäische Demokratie zugunsten des vorherrschenden Konstituionalismus (zumindest symbolisch) zu schwächen. Eine Anmerkung zum Urteil: Die demokratietheoretische Schwäche des Urteils wird in der völlig unbegründeten Ablehnung der kosmopolitischen Implikationen bereits der demokratischen Staatsverfassungen evident. Alle
—————— 20 Die einzige interessante Beobachtung in: Hardt/Negri 2001. Sie lässt sich aber mit den Mitteln einer um Gramsci erweiterten Systemtheorie weit besser analysieren, so jüngst: Buckel/Fischer-Lescano 2007: 85–104 und Fischer-Lescano 2009: 49–68. 21 Luhmann 1992: 25. 22 Brunkhorst 2002; Brunkhorst 2005.
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demokratischen Verfassungen kombinieren nämlich universelle Normen der Exklusion ungleicher Freiheit, die weit über alle bestehenden Grenzen (nicht nur des Staates) hinausweisen, mit proceduralem Selbstorganisationsrecht (oder Rechtserzeugungsrecht), das in Deutschland bezeichnender Weise ›Staatsorganisationsrecht‹ heisst. Das impliziert, dass die demokratische Selbstbestimmung des Volkes, der Bevölkerung oder der Nation um der Demokratie willen nicht an eine bestimmte historische Staats- und Rechtsform (weder an den territorialen Nationalstaat noch an die Allgemeinheit des Gesetzes) gebunden werden darf. Die kategoriale Verwechslung der Nation als eines selbstbestimmten Legitimationssubjekts mit dem Staat wiederholt nur die alten Fehler des Staatswillenspositivismus des 19. Jahrhunderts. Die »etatistische Reduktion der revolutionären Tradition« demokratischer Verfassungen enthüllt, so Möllers Jahre vor dem Urteil, ein tiefes Missverständnis »des radikal demokratischen Inhalts der Lehre vom pouvoir constituant.«23 Dieser darf nämlich nicht, wie bei Schmitt, als substanzieller, sondern muss, wie in der revolutionären Verfassungstradition und bei Kelsen, Maus oder Habermas, als normativer und proceduraler (mit Kelsen: erzeugungsmethodischer) Begriff verstanden werden, der über seine jeweilige Form hinaus auf eine demokratischen Kosmopolitismus verweist, der keineswegs zufällig (siehe oben These 1 und 2) von den großen Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts seine bis dahin »stärksten Impulse« (Pauline Kleingeld) empfangen hat. 6. Besonders auffällig die schwindende Fähigkeit des Nationalstaats, Ungleichheit wirksam auszuschließen, an den drei großen Strukturproblemen, mit denen die moderne Gesellschaft schon zu kämpfen hatte, als sie noch auf Europa beschränkt war: Die – so meine sechste These – umweltblinde Verselbständigung von Märkten führt zu ökonomischen und sozialen Systemproblemen und -krisen, die umweltblinde Verselbständigung von Exekutivmacht zu Legitimationsproblemen und -krisen, und die nicht minder umweltblinde Verselbständigung religiöser Wertsphären zu Motivationsproblemen und -krisen.24 Die Globalisierung der verselbständigten Märkte, Mächte und Glaubenssysteme macht
—————— 23 Möllers 2007: 183–226; zum radikaldemokratischen Inhalt der Lehre vom pouvoir constituant s. a. Maus 1992. 24 Zur Krisentypologie: Habermas 1973.
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(1) aus den state embedded markets des nationalen Spätkapitalismus die market embedded states des globalen Turbokapitalismus.25 Der neue Kapitalismus, der seit den 1970er und 80er Jahren in kürzester Zeit entstanden ist, hat das enge und starre Gerüst demokratischen Verfassungsrechts durch das leichte Gewand eines flexiblen und elastischen Weltrechts eintauscht und stürzt den halb demokratischen, halb bürokratischen Sozialstaat des Westens, noch während er gerade über den diktatorischen des Ostens heiter triumphiert, in eine tiefe Krise. Die Freiheit der Märkte entfesselt sich erneut auf Kosten der Freiheit von ihren negativen Externalitäten, die Blase platzt und der Konkurrenzkampf um Märkte und fossile Energien wird immer destruktiver: There Will be Blood.26 (2) Was dem Kapitalismus recht ist, ist der Religion billig. Die fundamentalistischen Sekten- und Netzwerkreligionen und die katholische Kirche, die seit fast tausend Jahren mit weltstaatsartigen Organisationsformen experimentiert hat, sind die großen Globalisierungsgewinner, die protestantischen Staatskirchen ihre Verlierer.27 Die zweite große Transformation hat state embedded religions in religion embedded states verwandelt. Die dadurch neu gewonnene, anarchische Freiheit der Religion entwickelt sich bereits bedrohlich auf Kosten der Freiheit von der Religion und macht die Motivations- und Identitätskrisen, die in den 1960er Jahren noch durch Bildungsreformen kompensiert und (in autoritären Regimes) durch polizeistaatliche Maßnahmen national eingegrenzt werden konnten, ubiquitär. Endlos verlängerte Jugend und die lebenslange Permanenz von Lern-, Sinn-, Adoleszens- und Konversionskrisen lassen sich durch nationale Programme nicht mehr eingrenzen, sodass der religiöse Fundamentalismus jederzeit überall und in jeder beliebigen gesellschaftlichen Gruppe oder Schicht ausbrechen und die Religion immer wieder neu erfinden kann. Jedenfalls scheinen die Instrumente der staatlichen und überstaatlichen Organgewalten auch gemeinsam nicht mehr auszureichen, um das entfesselte Destruktionspotential der Weltreligionen zu rezivilisieren: There Will be Blood. (3) Aber nicht nur Kapitalismus und Religion, auch die öffentlichen Exekutivmächte haben sich inter-, trans- und supranational vernetzt und aus ihren
—————— 25 Streek 2005. 26 There Will Be Blood, USA 2007, Regie: Paul Thomas Anderson. 27 Brunkhorst 2005.
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staatsorganisationsrechtlichen Verankerungen losgerissen.28 Die dritte große Transformation verwandelt state embedded public powers in power embedded states. Die Globalisierungsgewinner sind überall die schnellen und beweglichen Exekutivgewalten, die sich über neuartige private-public partnerships zu einer transnational herrschenden Klasse erweitern. Sie haben regional und weltweit operierende, lose vernetzte soft-law regimes errichtet, die de facto bindende Wirkungen haben und sich dadurch von der Kontrolle durch demokratische Parlamente und Gerichte emanzipierten. In der Folge wächst auch hier die Freiheit der öffentlichen Gewalt auf Kosten der Freiheit von der öffentlichen Gewalt. Neue globale Legitimationsprobleme treten zu den alten, national eingebetteten hinzu und könnten das schwach etablierte, von manchen Politikwissenschaftlern als Lösung aller Welträtsel gefeierte, Mehrebenensystem der global governance without (democratic) government in eine tiefe Krise stürzen, die derjenigen des globalen Finanzkapitalismus an Schrecken nicht nächstehen dürfte. Dann heißt es erst recht: Für uns im Nordwesten des Globus, wenigstens für die, die nicht in der immer breiter werdenden Peripherie der Ausgeschlossenen versinken, sanfter Bonapartismus, für die andern im Südosten, die mit den schlechten Pässen, die ganze Härte des Maßnahmestaats: There Will be Blood. 7. Die Rechtsrevolution des 20. Jahrhunderts war erfolgreich, aber sie ist unvollendet. Konstitutionalismus statt Demokratie blockiert die Umsetzung der Menschenrechte und feierlichen demokratischen Deklarationen. Aber – so meine siebte These – auch von organisationsrechtlich nur verzerrt umsetzbaren Menschenrechten und demokratischer Verfassungsrhetorik gilt mit Kant, dass sie Recht und nicht Philanthropie sind29, und dass sie deshalb auch nicht ungestraft in Norm- und Verfassungstexten erscheinen können. Sie können zurückschlagen.30 Auch noch die hegemonial verrechtlichte und konstitutionalisierte Weltgesellschaft teilt mit dem Verfassungs-
—————— 28 Siehe nur den ebenso unauffälligen wie signifikanten Boom der völlig neuen Subdisziplin des transnationalen Verwaltungsrechts, dem weder transnationale Regierungen noch transnationale Parlamente (am ehesten noch die inter-, trans- und supranationalen Gerichte) gefolgt sind: Tietje 2003: 1081–1164; Möllers 2005: 351–389; Krisch/ Kingsbury 2006; Kingsbury/Krisch/Steward; Möllers/Voßkuhle/Walter 2007; von Bernstorff 2008: 22; Möllers 2005; Fischer-Lescano 2008: 373–383. Über die Globalisierung der Exekutivgewalt: Dieter Wolf 2000; Dobner 2006; Lübbe-Wolf 2009. 29 Kant 1977b, 213 f. 30 Müller 1997, 56.
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recht des 18. Jahrhunderts und der westlichen Rechtstradition die Doppelstruktur, gleichzeitig Immunsystem der Gesellschaft und Medium ihrer Veränderung zu sein, gleichzeitig den Herrschaftsinteressen entgegenzukommen und doch der Bildung emanzipatorischer Interessen Raum zu geben (These 2). Solange die Verfassung der Weltgesellschaft (und alle, auch die Staatsverfassungen sind Teilverfassungen der Weltgesellschaft) nicht demokratisch organisiert ist, führt die ihr eigentümliche Struktur aus Verrechtlichung und Entformalisierung, aus gleichen Rechten und unegalitären Organisationsnormen zwar zur beschleunigten Bildung und Stabilisierung informeller Herrschaft. Aber dasselbe Recht, das die neue, transnationale Klassenherrschaft stabilisiert und ihre Macht steigert, ermöglicht auch eine gegenhegemoniale Politik des globalen Protests31 und der Reform nach Prinzipien32, die auf Formalisierung des undemokratischen Organisationsrechts drängt, um das Weltrecht schließlich doch noch in ein Recht umzuwandeln, das in rechtlich geschützten Räumen demokratische Politik ermöglicht.33 Ein schwache und überdies für Juristen vielleicht doch etwas zu schmeichelhafte Hoffnung, glauben sie doch immer schon zu wissen, dass nur zwingendes Recht von informeller Herrschaft befreit. Wahr daran ist, dass es ohne die Herrschaft formalen Rechts keine egalitäre Demokratie gibt, die nicht einfach (unegalitäre) Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit wäre, sondern Selbstbestimmung oder »Herrschaft Beherrschter« ist.34 Aber diese Möglichkeit wird dann und nur dann wirklich, wenn das Recht selbst demokratisch erzeugtes Recht ist. Das Problem ist nicht, wie man aus diesem (vom Luhmann, Kelsen, Habermas und Maus verschieden beschriebenen) Zirkel von Recht und Politik, in dem es keine politische Aktion gibt, die nicht entweder legal oder illegal wäre, und keine Rechtsnorm, die politischer Änderung entzogen wäre, herauskommt, sondern wie man (mit Heidegger) richtig in ihn hineinkommt, und vor allem, wenn man einmal rausgefallen ist, wieder in ihn hineinkommt, und das heisst bei gleicher Inklusion aller Gesetzesunterworfenen. Der Wahlkampf Obamas, in dem die Schwarzen, von denen sonst nur 25 Prozent zur Wahl gehen, eine Wahlbeteiligung von über 90 Prozent
—————— 31 Brunkhorst 2002a, 184 ff.; Buckel/Fischer-Lescano 2007. 32 Vgl. im Anschluss an Kant: Langer 1986; Zur Verbindung von Protest und Reform jetzt auch: Prien 2008. Vorträge von Bogdandy und Koskenniemi (Zürich, Mai 2009). 33 Maus 1994. 34 Maus 1992; Möllers 1997: 97; Brunkhorst 2002.
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zustande gebracht haben, zeigt, dass es möglich ist. Aber die Schwierigkeit, eine Mehrheit der eigenen Demokratischen Partei für eine Gesundheitsreform zu finden, die zum ersten Mal einen großen Teil der legal im Land lebenden Unterklassen einbezieht (und damit als demokratisches Subjekt anerkennt), zeigt, wie schwer es ist in einem Land, das zwar noch demokratisch verfasst ist, in dem aber (vorsichtig geschätzt) 80 bis 100 Millionen, davon 40 Millionen Illegale nicht dazugehören und in dem auch der Präsident immer wieder betont, dass die Illegalen, aber legal arbeitenden Bevölkerungsteile keinen Cent kriegen. Das ist die Lage, nicht nur in den Vereinigten Staaten. Sie wird dadurch nicht einfacher, dass jeder Schritt zurück in den Nationalstaat einer Katastrophe gleichkäme. Die kommende Demokratie – oder schwächer mit Derrida, die »Demokratie im kommen« – wird kosmopolitisch oder nicht sein.
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Europarat
Menschenrechte zwischen souveränem Willen und internationalen Standards Jarna Petman
Lassen Sie mich in Form eines sehr allgemeinen Kommentars über das Wesen der Spannungen reflektieren, die meines Erachtens zwischen internationalen Standards und der Achtung des souveränen Willens der EMRKVertragsstaaten bestehen. Die Europäische Menschenrechtskonvention geht von einer inhärenten Kompatibilität zwischen dem Schutz der Menschenrechte und der Förderung der Volkssouveränität aus, da sie schließlich als Bollwerk der Demokratie geschaffen wurde.1 Als aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte begann, die Konvention in der Praxis anzuwenden, stellte er bald fest, dass »[e]in gewisser Kompromiss zwischen den Anforderungen zur Verteidigung der demokratischen Gesellschaft und der Individualrechte dem System der Konvention inhärent ist«2. In der Folge kristallisierte sich im Gerichtshof die Einsicht heraus, dass zwischen der Achtung der Volkssouveränität und dem Schutz der Individualrechte tatsächlich ein inneres Spannungsverhältnis besteht. Dies ist nicht verwunderlich, ist es doch gerade diese Spannung, welche die liberale Demokratie an sich charakterisiert. Die liberale Demokratie ist eine sehr spezifische Form, die menschliche Koexistenz zu organisieren. Sie resultiert aus der Zusammenlegung zweier unterschiedlicher Traditionen: Einerseits der Tradition des politischen Liberalismus mit den Prinzipien Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Individualrechte; andererseits der demokratischen Tradition der Volkssouveränität und des Mehrheits-
—————— 1 Für viele Gründerstaaten bestand der eigentliche Zweck der Konvention darin »sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten des Europarats demokratisch sind und bleiben«, Europarat, 2. Sammelband der ›Travaux Préparatoires‹. für die Europäische Menschenrechtskonvention (1975), S. 60; siehe auch z.B. S. 4, 50 und 157. 2 Klass und Andere gegen Bundesrepublik Deutschland, EMRK Serie A (1978) Nr. 28, Abs. 59 (Übers. der Zitate durch Verf.).
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prinzips.3 Wesentlich für diese politische Gesellschaftsform ist die Anerkennung des Pluralismus. Mit der Pluralität gleichberechtigter Stimmen lösen sich tradierte Ordnungsmuster und die substanzielle Idee eines guten Lebens auf.4 Stattdessen herrschen unterschiedliche Auffassungen eines guten Lebens vor. Dies hat bedeutende Konsequenzen für die Art und Weise, wie Beziehungen innerhalb der liberalen demokratischen Gesellschaften geschaffen und geregelt werden. Innerhalb dieser Gesellschaften gibt es die stete Notwendigkeit, das Ausmaß der Kollektivmacht einzuschränken, um die individuellen Unterschiede zu achten. Zu diesem Zweck ist der liberale Staat gefordert, eine Position apolitischer Neutralität im Hinblick auf die zahlreichen Auffassungen eines guten Lebens einzunehmen, um so seinen Bürgern das gleiche Maß an Achtung und Rücksicht zu gewährleisten. Gleichzeitig wird vom Staat aber auch erwartet, das kulturelle und moralische Umfeld des Gemeinwesens zu schützen und zu kontrollieren. Er ist sowohl mit dem Schutz des Individuums wie auch des Gemeinwesens als Ganzes betraut – d. h. mit der doppelten Funktion der Differenzverwaltung und Homogenisierung. Hierin zeigt sich das Dilemma liberaler Demokratien: Im Umgang mit der Trennlinie zwischen individuellen Rechten und kollektiv-gemeinschaftlichen Ansprüchen gibt es für den Staat keinen mechanischen Weg, zwischen beiden zu wählen.5 Ohne ein Patentrezept zur Entscheidung von Rechtskonflikten kann der Staat sich irren, manchmal schrecklich irren. Eben aufgrund dieser Tatsache, das heißt, dass der Staat in seiner Rolle als Hüter der Rechte scheitern kann und dies vor und während des Zweiten Weltkriegs auch tat, und so zu einem Unterdrückungsinstrument werden konnte, wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geschaffen. »Nie wieder« lautete das Motto der politischen Integration in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Kampagne für eine politische Union nahmen die Menschenrechte sehr bald höchste Priorität ein. Als die zahlreichen Organisationen, welche sich für eine Integration einsetzten, im Mai 1948 in Den Haag auf der Konferenz der Europäischen Bewegung zusammenkamen, erklärten die Delegierten ihren »Wunsch« nach einer »Charta der Menschenrechte« und einem »Gerichtshof mit angemessenen Sanktionen für die Umsetzung dieser Charta«.6 Da sich der souveräne Wille des
—————— 3 4 5 6
Mouffe 1995: 1533, 1534. Siehe Lefort 1986: 303–305. Siehe Petman 2008: 113–133. Travaux Préparatoires S. xxii.
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Volkes nicht nur als Beschützer, sondern als Totengräber der Rechte herausgestellt hatte, sah man es als Notwendigkeit an, unabhängigen, internationalen Organen eine Überwachungsfunktion im Hinblick auf das staatliche Verhalten zu übertragen: »[W]ir können nun die ›Staatsräson‹ einstimmig mit der einzigen Souveränität konfrontieren, für die es sich lohnt, zu sterben und die es wert ist, unter allen Umständen verteidigt, geachtet und geschützt zu werden – die Souveränität von Gerechtigkeit und Gesetz«.7
Es schien die Hoffnung vorzuherrschen, dass die internationalen Menschenrechte einfach und quasi-automatisch die Spannungen zwischen Homogenisierung und Gruppenunterschieden auflösen würde. Dies ist eine Hoffnung, die ich kenne, denn wir wurden als Anwälte für internationales Recht für diese Hoffnung ausgebildet.8 Menschenrechte sind jedoch nicht etwas Gegebenes – sondern, als gesetzliche Konstrukte – etwas Aufgegebenes, etwas zu Erringendes. In ihrer Schaffung, Anwendung und rechtsförmigen Zuerkennung handelt die Geschichte dieses Erringens von Kämpfen und Kompromissen, rechtsförmiger Macht und Ideologie.9 Tatsächlich gibt es keinen maßgeblichen Katalog der Rechte, der nicht in gewisser Weise politisch besetzt wäre.10 Denken Sie nur an die Europäische Menschenrechtskonvention; auch sie entstand als ein zutiefst politisches Dokument. In einem klassischen internationalen Verhandlungsprozess wurden Entwürfe verfasst, diskutiert, überarbeitet, angenommen oder abgelehnt, einzelne Punkte vertreten und verhandelt, Abmachungen getroffen, Kompromisse eingegangen, Themen fallen gelassen.11 Nur jene Rechte, die erfolgreich bei dem politischen Schachern formuliert wurden, wurden in den Katalog der Konvention aufgenommen – nur bestimmte Aspekte der Realität wurden als »Menschenrecht« anerkannt und erhielten im Rahmen der Konvention einen Schutz. Im Laufe der Zeit und angesichts sich wandelnder Werte in den europäischen Gesellschaften hat sich auch die Auffassung dessen verändert, was genau ein »Recht« sein sollte: Zusätzliche Lebensaspekte wurden als Menschenrechte charakterisiert, wie man an den Zusatzprotokollen zur Konvention sehen kann, durch die der Katalog der Rechte erweitert wurde.
—————— 7 8 9 10 11
1 Travaux Préparatoires S. 48–50. Siehe Kennedy 2004. Siehe Schauer 1991. Siehe z. B. Mutua 2002. Siehe z. B. Simpson 2001; Bates 2010.
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In diesem Prozess wurden ebenfalls nur ausgewählte Probleme in der Sprache von »Rechten« charakterisiert. Wie in der Vergangenheit, so wurde auch hier die Auswahl nicht vom essenziellen Wesen dieser Probleme diktiert. Vielmehr waren sie eine Frage politischer Präferenzen. Was am Ende ein Menschenrecht genannt wird, ist das Ergebnis eines kontextuellen Abgleichens unterschiedlicher Prioritäten und alternativer Vorstellungen eines guten Lebens. Dasselbe gilt für die Auffassung, wer dieser »Mensch« eigentlich ist, dessen Rechte die Konvention schützt. Sollten Asylsuchende eingeschlossen werden? Was ist mit Geschiedenen? Oder Transsexuellen? Sollten Homosexuelle das Recht haben, zu heiraten und eine Familie zu gründen? Zu unterschiedlichen Zeiten haben wir diese Fragen unterschiedlich beantwortet. Unsere Auffassung der Rechte ist nicht für alle Ewigkeit und an allen Orten gültig.12 In gewissem Sinne wissen wir dies bereits, wenn wir Rechte gesetzlich festlegen. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt, dass Menschenrechte, wie alle gesetzlichen Regelungen, Fälle abdecken, die wir gar nicht abdecken wollten, und Fälle nicht abdecken, die wir eigentlich abdecken wollten, hätten wir im Moment der Abfassung der Regelung an sie gedacht.13 Der Grund dafür ist, dass uns lediglich unsere Vergangenheit als Grundlage für neue Gesetze zur Verfügung steht. Aber was auch immer gestern geschehen ist, wird heute nicht ausreichen, damit wir uns vorstellen können, was morgen auf uns zukommen könnte. Da uns die Zukunft verborgen bleibt und die Erfahrung aus der Vergangenheit unzureichend ist, um jene zu verstehen, wissen wir nicht, was wir letztendlich hoffen werden, was genau die Anwendung der Regelung ein- bzw. ausschließen soll. Daher benötigen wir eine Ausnahmeregelung, um diese unsichere Zukunft zu regeln. Dementsprechend werden Rechte immer durch Ausnahmen ergänzt. Obwohl das Konzept von Recht/Ausnahmeregelung unausweichlich ist, ist es gleichzeitig auch unerträglich, da es keine definitive Regel und keinen definitiven Standard gibt, die festlegen, wann das Recht und wann die Ausnahmeregelung anzuwenden ist.14 Rechte sind unzweifelhaft ein Produkt einer politischen Gemeinschaft. Aus diesem Grund konnten die Menschenrechte, an deren Schaffung sich die Europäer 1948 machten, nur durch Verhandlungen und als legislative/politische Kompromisse etabliert werden. Als solche spiegeln sie die
—————— 12 Siehe Petman 2008: 113. 13 Siehe Schauer 1991: 31–34; siehe auch Koskenniemi 2005: 589–592. 14 Siehe Koskenniemi 2001: 33–45; Koskenniemi 1999: 99–116.
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Interessen und Werte liberal-demokratischer Gesellschaften wider, die sie aushandelten, wie dies auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte getan hat. Der Gerichtshof übernahm eine Position der apolitischen Neutralität im Hinblick auf die zahlreichen Auffassungen eines guten Lebens, um auf diese Weise dieselbe Achtung und Rücksichtnahme gegenüber den Vertragsstaaten mit ihren jeweiligen Besonderheiten zu gewährleisten, während er gleichzeitig das kulturelle und moralische Umfeld Europas schützen und kontrollieren sollte. Er begriff es somit als seine Aufgabe, sowohl Gruppenunterschiede als auch Homogenisierung zu garantieren, bzw. über die Achtung sowohl des souveränen Willens der Vertragsstaaten wie auch der in der Konvention verbürgten internationalen Standards zu wachen. Sehr bald schon stellte er fest, dass es »eines gewissen Kompromisses zwischen den Anforderungen zum Schutze der demokratischen Gesellschaft und den Individualrechten« bedurfte.15 Und es gab keinen automatischen Weg, zwischen beiden zu entscheiden. Daher kommt es, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, indem er seine Aufgaben entsprechend seines Selbstverständnisses als ein Bollwerk der Demokratie versieht, sich heute heute in einer paradoxen Situation befindet. Er muss gelegentlich bereit sein, den souveränen Willen, wie er in Referenden zum Ausdruck kommt, oder die Werte Pluralismus, Toleranz und Offenheit (die er als Kern demokratischer Gesellschaften definiert hat16) dem Schutz anderer, wichtigerer, gleichsam »europäischerer« Werte unterzuordnen.17 Er muss in der Lage sein, Demokratie instrumental zu betrachten, als ein Mittel zum Zweck der Erlangung übergeordneter Werte – um welche es sich auch immer handeln mag. Bevor also der Gerichtshof die Frage einer Verletzung der ERMK nach Massgabe des Kriteriums prüft, dass Beschränkungen von Konventionsrechten »für eine demokratische Gesellschaft notwendig« sein müssen, muss er zunächst für sich entscheiden, welchem strittigem Demokratieverständnis er das Wort redet. Hierbei stehen ihm zwei Alternativen zur Ver-
—————— 15 Siehe Fußnote 2 und begleitenden Text. 16 Siehe z. B. Handyside gegen Großbritannien, EMRK Serie A (1976) Nr. 24, Abs. 49 und Lehideux &Isorni gegen Frankreich, EMRK Serie A (1998-VII) Nr. 2864, Abs. 55. 17 Siehe z. B. Open Door and Dublin Well Woman gegen Irland, EMRK Serie A (1992) Nr. 246-A, Abs. 28-35 und 64-80; Otto-Preminger-Institute gegen Österreich, EMRK Serie A (1995) Nr. 295-A, 19 EHRR 34, Abs. 49 und 56; Wingrove gegen Großbritannien, 24 EHRR (1997) 1, Abs. 60; Refah Partisi (Welfare Party) und Andere gegen Türkei (GC) EMRK (2003-11) Abs. 107-136; Leyla faiin gegen Türkei (GC) EMRK (2005) Abs. 100123.
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fügung. Er kann sich entweder die Rechtsprechung und Rechtspraxis der Mitgliedstaaten anschauen und auf empirische oder ästhetische Weise versuchen, die Konturen eines entstehenden Euro-Konsenses zu skizzieren, also einer europäischen Gemeinschaft insgesamt, oder er kann sich auf eine rational begründete Entscheidung stützen und einfach annehmen, dass er weiß, was Europäer über diese Angelegenheit denken oder denken sollten. Nehmen wir zum Beispiel das Konzept des »Ermessensspielraums«. Es handelt sich um eine grundsätzlich ästhetische Metapher,18 die als solche die Art von Rationalität signalisiert, die wir in diesem Bereich erwarten dürfen – eine Rationalität der Gemeinplätze, die sich auf ein gemeinsames Verständnis, auf das im Großen und Ganzen gleiche Denken der Menschen im Hinblick auf bestimmte soziale und politische Angelegenheiten in diesem besonderen Kontext stützt. Erst nachdem der Gerichtshof sich für eine Auffassung von Demokratie entschieden hat, kann er bestimmen, ob diese am besten durch das in der Konvention festgelegte Recht oder durch die vom Staat in Anspruch genommene Ausnahmeregelung, durch den internationalen Standard des souveränen Volkswillens, gefördert wird.19 Unabhängig davon, ob Richter Demokratie durch empirische oder rationale Ansätze skizzieren, verlassen sie sich in jedem Fall auf ihre eigene Erfahrung, auf ihr eigenes europäisches Selbstverständnis. Es gibt nicht nur eine Auffassung von Demokratie. Unterschiedliche Gruppen in der internationalen Gemeinschaft Europas verstehen dieses Konzept unterschiedlich. Wenn der Gerichtshof das Konzept der »Demokratie« benutzt, nimmt er an der gesellschaftlichen Debatte über die Bedeutung dieses Begriffs und über die Wertehierarchien teil, durch die sich dieser Begriff erklärt. Bei seiner Entscheidung über unterschiedliche Auffassungen wird er notwendigerweise zu einem politischen Akteur, der sich auf die Seite einiger Gruppen gegen andere Gruppen und Werte stellt. Wenn er dies tut, tut er dies nicht in böser Absicht: Kein Richter, niemand von uns, verfügt über eine tatsächliche Verbindung zu universellen Wahrheiten – keiner von uns lebt in einem abstrakten, von Geschichte und Kontext losgelösten Raum. Richter sind sich vollständig bewusst, dass sie wesentliche Entscheidungen zwischen strittigen politischen Praktiken treffen müssen, um die in der Konvention verkörperten Rechte zu realisieren: Die Autorität und die Macht des Gerichtshofs hängen von der Legitimität ab, welche die Staaten ihm verleihen. Er muss seine Macht durch politische Manöver sichern.
—————— 18 Siehe Marks 1995: 209, 216. 19 Siehe Petman 2006: 73–90.
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In liberalen Demokratien werden Rechte in einer pluralistischen Kakophonie definiert und angewendet, in der gleichwertige, aber unterschiedliche Ansprüche gegeneinander antreten. Manchmal schließen sich diese Ansprüche gegenseitig aus; meistens sind die Ansprüche jedoch dergestalt, dass, angesichts der uns nur begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel, nur einer dieser Ansprüche erfüllt werden kann. Im Pluralismus gibt es jedoch keine generelle Lösung dieser Konflikte, weil es vorab an einer allgemeingültigen Vision des guten Lebens fehlt, die dann durch das Recht ausgedrückt werden könnte. Wie soll man also die widerstreitenden Ansprüche, die sich z.B. aus der Volkssouveränität und den internationalen Standards ergeben, handhaben? Die Antwort hängt, wie wir gesehen haben, von der Berücksichtigung des Kontextes ab. Dies bedeutet nicht, dass Konflikte auf jede beliebige Art beigelegt werden können. In allen institutionellen Kontexten gibt es eine Kräftekonstellation, die sich auf ein gewisses Maß an Übereinstimmung stützt, welche Werte und Rechte relevant sind und wie diese zu verwirklichen sind.20 So ist denn auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das Resultat einer präferentiellen Ausrichtung der Richterpersönlichkeiten, die in variierenden Mehrheiten sich für und wider eine bestimmte Rechtsauslegung entscheiden. Mit anderen Worten, die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist geprägt von strukturellen Tendenzen. Wenn auch eine solche Tendenz an sich nichts Skandalöses ist, können ihre Funktionsweisen manchmal genau das sein. Zweifelsohne haben sich die Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beim Skizzieren des Demokratiekonzepts manchmal für Lethargie entschieden oder gesellschaftliche Strukturen in störender, konservativer und unreflektierter Weise reproduziert: Ganz so, als müsste man das, was manche Gruppen – vielleicht sogar die Mehrheit – über eine Gesellschaft und das gute Leben denken, als etwas begreifen, was wir alle immer denken sollten. Aber was wäre, wenn diese Mehrheitsmeinung auf Ignoranz oder Aberglauben oder einem Fehlverständnis beruhte? Aus diesem Grund ist es unerlässlich, sich der strukturellen Tendenz und ihrer Konsequenzen bewusst zu sein. Wie wirkt sie? Wie wirkt sie sich auf die Verteilung von Vergünstigungen und Werten aus? Wen bevorzugt diese Tendenz? Die Entscheidung zwischen internationalen Standards und dem souveränen Staatswillen ist genau das: Eine Entscheidung. Folglich muss die Frage, die wir beständig stellen müssen, nicht lauten, ob eine Entscheidung
—————— 20 Siehe Kennedy 1997.
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getroffen werden muss, sondern, wer befugt ist, diese Entscheidung zu treffen: »Wer wird entscheiden?« Man muss auch bedenken, dass jene, die entscheiden müssen, ohne eine Vision des guten Lebens, ohne ein allgemeingültiges Konzept für die Konfliktbewältigung, ganz auf sich selbst zurückgeworfen und dementsprechend vollkommen verantwortlich sind. Dies ist eine wunderbare Sache.
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Definition und Entwicklung der Menschenrechte im internationalen Kontext und Volkssouveränität Inge Lorange Backer∗
I. Einführung Ich denke, wenn man über nationale Souveränität und internationale Menschenrechte spricht, trifft die Redewendung immer noch zu: »Probieren geht über Studieren.« Meine Beobachtungen sind aus diesem Grund mit der Rechtspraxis und nicht so sehr mit der Rechtstheorie verbunden und ergänzen den Vortrag von Professor Brunckhorst, sind aber auch eine Fortsetzung mancher der vorausgegangenen Redner. Ich werde mich auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beschränken, die vielleicht als die größten Errungenschaften des Europarats betrachtet werden können. Sie dienen als Garantie für das Rechtsstaatsprinzip und die Menschenwürde in Europa und stellen ein Bollwerk gegen die mögliche Rückkehr von Regimen und Lebensbedingungen vergangener Zeiten dar. Lassen Sie uns auch nicht vergessen, dass der Europarat eine Organisation unabhängiger Nationalstaaten ist, die vor allem deswegen zusammenarbeiten, um bestimmte Grundwerte zu schützen, die in der Vergangenheit erheblich bedroht worden sind. Er ist keine Union, die die Nationalstaaten und ihre Regierungen ersetzt. Daher ist es ein weiteres herausragendes Ziel des Europarats, die Demokratie in seinen Mitgliedstaaten zu unterstützen und aufrechtzuerhalten, eine Regierung »des Volkes, durch das Volk und für das Volk«. Dies erfordert die umfassende Akzeptanz der wichtigsten Entscheidungen und Kompromisse, die, je nach Fall, eine breite Mehrheit in den jeweiligen Mitgliedstaaten finden können. In dieser Hinsicht ist es ein Paradoxon, dass von internationalen Richtern, die unabhängig agieren und nur eine
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Der Artikel entspricht, mit kleinen Abänderungen, dem mündlichen Vortrag bei der Konferenz, außer den Fußnoten und dem vierten Beispiel in Abschnitt II.
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begrenzte demokratische Legitimität aufweisen, wichtige Werturteile getroffen werden und über solche Themen entschieden wird, die sich auf die demokratische Regierungsform auswirken. Eine Reihe europäischer Justizsysteme sind enorm überlastet und haben inakzeptable Bearbeitungszeiten, was zu Situationen führt, in denen »eine verzögerte Gerechtigkeit zur Verhinderung der Gerechtigkeit« wird.1 Vor diesem Hintergrund muss sehr bedauert werden, dass die Bearbeitungszeit beim EGMR häufig derjenigen bei nationalen Gerichtsbarkeiten gleicht und gegen Konventionsrechte verstößt. Die Überlastung des EGMR gefährdet das ordnungsgemäße Funktionieren des Gerichtshofes. Ein ständiger Anstieg hat zu mehr als 100.000 anhängigen Anträgen geführt, obwohl nur ein Bruchteil davon tatsächlich vom Gerichtshof zugelassen wird.2 Man scheint weitestgehend übereinzustimmen, dass die im Protokoll Nr. 14 vereinbarten Maßnahmen nicht ausreichen, um die Situation zu beheben, und gegenwärtig ist es mehr als zweifelhaft, ob das Protokoll in Kraft treten wird.3 Der Erfolg des Gerichtshofes droht zum tödlichen Schlag gegen den Gerichtshof zu werden. Meine These lautet, dass dieser Zustand nicht notwendigerweise den tatsächlichen Status der Menschenrechte in vielen Mitgliedstaaten des Europarates widerspiegelt. Teilweise ist sie die Folge der Bereitschaft des Gerichtshofes, die Regeln der EMRK und ihrer wesentlichen Protokolle auszuweiten. Immer mehr Rechtsfragen werden im Hinblick auf die Menschenrechte im Rahmen der weitgefassten und vagen Regelungen der Konvention entschieden. Je mehr der Gerichtshof bereit ist, sich zu vergrößern und die Regeln zu erweitern, desto mehr Beschwerden werden wahrscheinlich eingereicht werden. Diese Ausweitung ist eine Bedrohung
—————— 1 Zitiert aus der berühmten Rede von Abraham Lincoln in Gettysburg am 19. November 1863. 2 Bis Ende 2008 waren 97.300 Beschwerden vor einer der Kammern des Gerichtshofes anhängig. Weitere 21.450 Beschwerden befanden sich in der vorjustiziellen Phase unter einer vorab durchgeführten Beurteilung durch die Registratur, da weitere Informationen der Beschwerdeführer erforderlich waren, um die Bearbeitung fortsetzen zu können. Im Verlauf des Jahres 2008 wurden 49.850 Beschwerden einem Ausschuss/einer Kammer zugewiesen, was einem Anstieg von 20 Prozent im Vergleich zum Jahr 2007 entspricht. Siehe den Jahresabschlussbericht 2008 des Gerichtshofes, Kap. 12. 3 Einige Hilfe verspricht man sich durch das Inkrafttreten (zum 1. Oktober 2009) des Protokolls Nr. 14bis (am 27. Mai 2009 zur Unterzeichung aufgelegt), das einige der Bestimmungen aus Protokoll Nr. 14 bindend macht im Hinblick auf Vertragsstaaten zur Konvention, die Nr. 14bis ratifizieren. Nach Fertigstellung dieses Beitrags trat das Protokoll Nr. 14 infolge der Ratifikation durch Russland am 1. Juni 2010 in Kraft.
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des europäischen Menschenrechtssystems an sich, für die Rechtssicherheit in den Mitgliedstaaten und für die nationale Souveränität und die Demokratie gleichermaßen.
II. Rechtspraxis – vier Beispiele vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Ich werde vier Beispiele aus der neueren Praxis des Gerichtshofes geben, um meine These zu veranschaulichen und zu besprechen. 1. Mein erstes Beispiel betrifft die traditionelle Namensgebung und deren Praxis, die in Europa variieren. In Johansson gegen Finnland (6. September 2007) wünschten die Eltern, ihren Sohn »Axl Mick« zu nennen, augenscheinlich nach den Popstars Axl Rose und Mick Jagger – Axl dementsprechend ohne den Buchstaben »e«. Das fehlende »e« unterschied sich von der finnischen Namenstradition, in der Axel mit einem »e« ein traditioneller und häufig verwendeter Vorname ist. Da die Schreibweise ohne »e« von der finnischen Praxis abwich, weigerten sich die Behörden, den Namen anzuerkennen und die Entscheidung wurde von den finnischen Verwaltungsgerichten bestätigt. Der EGMR stellte jedoch einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK fest und fügte hinzu, dass tatsächlich fünf andere Jungen mit dem Vornamen Axl ohne »e« in Finnland registriert waren. Man kann über den Wert der Angelegenheit streiten, das heißt die Schreibweise von Ax(e)l. Aber kann man das Weglassen eines Buchstabens tatsächlich in begründeter Weise als Menschenrecht betrachten? Sicherlich ist es weniger offensichtlich, dass das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betroffen ist, welches in Artikel 8 niedergelegt ist. Ob eine unrechtmäßige Diskriminierung vorlag, ist eine Frage, die man in diesem Fall besser den nationalen Gerichten überlassen hätte. So kann der Verstoß in einer falschen Annahme der fünf Schreibweisen ohne »e« liegen und niemand kann als Menschenrecht beanspruchen, dass nationale Behörden auf falschen Entscheidungen bestehen. Kurz gesagt ist dies ein Fall, bei dem der EGMR weise gehandelt hätte, hätte er die Entscheidung und das damit zusammenhängende Ermessen den nationalen Behörden und Gerichten überlassen.
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2. Ich wechsele nun vom persönlichen Leben zu internationaler Geschäftstätigkeit, die sich im Urteil der Großen Kammer im Fall AnheuserBusch Inc. gegen Portugal (11. Januar 2007, GC) zeigt.4 Der portugiesische Oberste Gerichtshof hatte eine Beschwerde eines US-amerikanischen Unternehmens abgewiesen, ein Bier unter dem Handelsnamen Budweiser zuzulassen. Die Zulassung wurde abgewiesen, weil es einem bilateralen Vertrag zwischen Portugal und der Tschechischen Republik widersprochen hätte, wo Budweiser ein traditioneller Markenname eines tschechischen Bieres ist. Die Mehrheit stellte keinen Verstoß gegen die EMRK im eigentlichen Fall fest, aber der Gerichtshof akzeptierte, dass die angemeldeten Handelsmarken sowie weitere Rechte an geistigem Eigentum den Schutz genießen, der Eigentumsrechten durch Art. 1 des Protokolls 1 gewährt wird, und eine große Mehrheit erweiterte sogar diesen Schutz auf eine Anwendung auf die Handelsmarkeneintragung. Dies eröffnet ein neues großes »Schlachtfeld« für Unternehmen, um ihre Geschäftsinteressen zu verfolgen und fügt die Rechtsbehelfe nach der EMRK den zahllosen Rechtsmitteln hinzu, die bereits von reichen Firmen für ihre kommerziellen Zwecke ausgenutzt werden. Der Gerichtshof stemmte sich mutig gegen die Versuchung, die Auslegung der fraglichen Konventionsregel sicherzustellen. Da die Überlastung erheblich ist und die Ressourcen des EGMR-Systems schließlich begrenzt sind, kann diese Einladung an die Geschäftswelt zu Lasten von Einzelpersonen gehen, die unter einem Verstoß gegen ein Grundrecht leiden und Hilfe benötigen. 3. Mein drittes Beispiel befasst sich mit der demokratischen Infrastruktur, wie im Fall TV Vest & Rogaland Pensjonistparti gegen Norwegen (11. Dezember 2008). Bei diesem Fall war die Frage, ob ein allgemeines Verbot politischer Fernsehwerbung gegen die Redefreiheit verstößt, die durch Art. 10 geschützt ist. Politische Werbung im Fernsehen war in Norwegen noch nie gestattet, obwohl sie von einigen politischen Parteien befürwortet wurde. Allerdings gelang es vor einer Kommunal- und Regionalwahl einer regionalen Vertretung der kleinen Rentnerpartei, Werbezeit von einem lokalen Fernsehsender zu erwerben. Das Bußgeld, das die Medienaufsicht im An-
—————— 4 Es ist jedoch bestehendes Recht, dass Unternehmen und andere juristische Personen zumindest in gewisser Hinsicht durch die EMRK geschützt sind; siehe z. B. Marius Emberland, The Human Rights of Companies (Oxford 2006). Es folgt aus dem Wortlaut von Protokoll Nr. 1 Art. 1, dass Unternehmen laut diesem Artikel Schutz genießen, aber der tatsächliche Umfang des Schutzes bleibt unbestimmt.
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schluss über den Fernsehsender verhängte, wurde von den nationalen Gerichten laut norwegischer Verfassung und auch laut dem Ermessensspielraum von Art. 10 aufrechterhalten.5 Der EGMR stellte jedoch einstimmig einen Verstoß gegen Artikel 10 fest. Es ist zweifellos eine Voraussetzung für demokratische Wahlen, dass die zahlreichen Parteien das Recht haben, ihre Ansichten den Wählern bekannt zu machen, aber es bleibt immer noch die Frage, ob dies auf alle Medien Anwendung finden sollte. Sicherlich spricht einiges dafür, dass sich politische Werbung im Fernsehen auf die Qualität der öffentlichen Debatte auswirken kann und denjenigen politischen Parteien Vorteile verschafft, die über größere Geldmittel verfügen als andere Parteien. Der EGMR schien zu akzeptieren, dass Fernsehwerbung aus demokratischer Perspektive unerwünschte Auswirkungen haben kann. Trotzdem kam er zu dem Schluss, dass ein generelles Verbot im Hinblick auf den Beschwerdeführer unverhältnismäßig sei, versäumte aber, das generelle Verbot im Licht anderer Zugangsmöglichkeiten zur Öffentlichkeit abzuwägen, die einer politischen Partei zur Verfügung stehen. Laut EGMR kann ein Verbot politischer Werbung im Fernsehen nicht auf eine kleine politische Partei angewendet werden, die geringe oder gar keine Aufmerksamkeit in den TV-Medien erhält, abhängig von Form und Inhalt der konkreten Werbung. Es ist schwer nachzuvollziehen, wie eine Ausnahme gestattet werden soll, ohne eine Beurteilung von Fall zu Fall durchzuführen, was zu Rechtsunsicherheit und Willkür sowie zu unnötigem bürokratischen Aufwand führen kann. Das Urteil zeigt meines Erachtens, wie sich der EGMR bemüht, einem Beschwerdeführer zu Lasten allgemeiner und einheitlicher Regeln entgegenzukommen, die einfach anzuwenden sind und keinen Raum für willkürliche Einzelentscheidungen lassen. Es sollte beachtet werden, dass allgemeine einheitliche Regeln als bedeutendes Merkmal der Rechtsstaatlichkeit betrachtet werden. Es sei hinzugefügt, dass die politische Werbung im Fernsehen eine kontroverse Angelegenheit ist, bei der die Regelungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten des Europarats erheblich variieren. Offensichtlich hatte dies keinen Einfluss auf den Gerichtshof. Man darf sich fragen, ob das Urteil durch die Zusammensetzung des Gerichtshofes zu erklären ist. Tatsächlich ist es ein Problem, wenn Richter, die aus Staaten stammen, in denen es keine Tradition einer pluralistischen freien Presse gibt und in
—————— 5 Siehe das Urteil des norwegischen Obersten Gerichtshofes in NRt. [Norsk Retstidende, Norwegisches Urteilsblatt] 2004 S. 1737, in Teilen im Urteil des EGMR zitiert.
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denen neue politische Parteien auf zahlreiche unterdrückende Maßnahmen durch die etablierte Führung stoßen, ihre Erfahrung und ihre Haltung unkritisch auf Staaten anwenden, in denen demokratische Traditionen eine lange Geschichte haben. 4. Das letzte Beispiel betrifft das Recht von Gefangenen auf künstliche Befruchtung, nämlich das Urteil der Großen Kammer im Fall Dickson gegen Großbritannien (4. Dezember 2007, GC). Herr Dickson, geboren 1972, war 1994 wegen Mordes zu lebenslanger Haft mit einer möglichen Freilassung frühestens nach 15 Jahren verurteilt worden, d. h. nicht vor 2009. Während er im Gefängnis saß, lernte er 1999 seine spätere Frau über ein Netzwerk für Briefpartnerschaften für Gefängnisinsassen kennen. Sie war selbst im Gefängnis, wurde aber später entlassen. Sie war Jahrgang 1958 und hatte drei Kinder aus früheren Beziehungen, während Herr Dickson keine Kinder hatte. Sie heirateten 2001 und wünschten sich ein Kind. Ihr Antrag auf künstliche Befruchtung wurde jedoch vom Innenminister abgelehnt, was von den englischen Gerichten bestätigt wurde. Die Große Kammer befand – bei abweichender Meinung (12-5) –, dass diese Ablehnung gegen das Recht auf Familienleben des Paares laut Art. 8 der Konvention verstieß. Das Recht, ein Kind zu zeugen, wurde als wesentlicher Teil des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens erachtet und findet sowohl auf Gefangene als auch auf jeden anderen Menschen Anwendung. Auf jeden Fall konnte einem Gefangenen eine künstliche Befruchtung nicht allein deshalb verwehrt werden, weil sie auf das Unverständnis der Bevölkerung stoßen würde. Die Mehrheit führte aus, dass die künstliche Befruchtung die einzige praktische Lösung für die Beschwerdeführer sei, ein Kind zu zeugen, da Frau Dickson bei der frühestmöglichen Entlassung von Herrn Dickson bereits 51 Jahre alt sein würde und das englische Gefängnissystem keine unbewachten ehelichen Treffen zuließ. Die Tatsache, dass Herr Dickson für viele Jahre nicht in der Lage sein würde, an der Erziehung teilzunehmen, hatte keinen Belang, da Frau Dickson sich um das Kind kümmern konnte. Die Mehrheit kam zu dem Schluss, dass unter diesen Umständen die englische Politik in diesem Bereich keine faire Ausgewogenheit zwischen widersprechenden Interessen gefunden habe und sich außerhalb eines angemessenen Ermessensspielraums bewege. Dieses Urteil legt weite Strecken zurück, um die künstliche Befruchtung zu einem Menschenrecht für Paare zu machen, die ansonsten kein Kind
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zeugen könnten. Die Gefängnisregeln unterscheiden sich in den Mitgliedstaaten des Europarats und in anderen Urteilen hat der EGMR unbewachte eheliche Besuche im Gefängnis nicht als Menschenrecht betrachtet. Dementsprechend ist es kein Wunder, dass eine Minderheit der Großen Kammer zu dem Schluss kam, es fehle eine Einheitlichkeit in der Entscheidung der Mehrheit, wonach ein Gefangener nichtsdestotrotz Anspruch auf Nutzung der künstlichen Befruchtung als Menschenrecht habe. Auffallend ist auch, dass dem Elternwunsch gegenüber dem Interesse des geplanten Kindes, über sein soziales Umfeld aufgelärt zu werden, ein höheres Gewicht beigemessen wird. Das Urteil im Fall Dickson ist ein Beispiel dafür, dass das Konzept der Menschenrechte gedehnt und auf Bereiche ausgeweitet werden kann, die mit Werturteilen und dem Öffentlichen Dienst in den Konventionsstaaten verbunden sind, in denen sich die relevanten nationalen Regeln unterscheiden.
III. Allgemeine Merkmale der Begründung des Gerichtshofes Es gibt bestimmte Merkmale in der Begründung des EGMR, die das inhärente Risiko bergen, Rechtsunsicherheit und Verstöße gegen die nationale Souveränität zu verursachen. Die Auswirkung auf die Souveränität beeinflusst insbesondere nationale Legislativen, aber auch die nationalen Judikativen, besonders die Obersten Gerichtshöfe. Dieses Risiko könnte begrenzter sein, wenn die Wirkung jedes einzelnen Urteils, einschließlich des Werts als Präzedenzfall, sich auf die jeweilige Situation beschränken würde, die Anlass für die Beschwerde ist. Die Urteile basieren aber häufig auf allgemeinen Erklärungen, die auch auf andere Umstände angewendet werden können, und der Gerichtshof tut dies auch häufig, indem er sie in neuen Fällen wiederholt, vielleicht ermutigt durch Rechtsgelehrte. Der Gerichtshof distanziert sich selten von vorherigen Entscheidungen in Richtung einer begrenzteren Anwendung der Konvention. In diesem Sinne kann man von einer Doktrin des Präzedenzfalles sprechen. Sie hindert jedoch nicht zahlreiche Abteilungen des Gerichtshofes daran, Urteile zu fällen, die nur schwer in Einklang zu bringen sind (Orr
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gegen Norwegen, 15. Mai 2008, vs. vorausgegangene Urteile).6 Der Gerichtshof tendiert dazu, seine Entscheidungen in einer Weise darzulegen, die zu weiteren Schritten einlädt. Beispiel: Als der EGMR im Fall Taxquet gegen Belgien (13. Januar 2009) feststellte, dass die Entscheidung der Jury dem Recht auf ein faires Verfahren wegen mangelnder Begründetheit widersprach, gab dies Anlass zu Zweifeln, ob das Jurysystem überhaupt im Hinblick auf die EMRK aufrechterhalten werden kann.7 Die Doktrin des Präzedenzfalles – soweit diese existiert – wird kaum dahingehend angewendet, dass sie den Gerichtshof daran hindert, weitere Schritte zu ergreifen, um die Rechte des Beschwerdegegners und anderer Personen zu erweitern, wenn er dies für richtig hält. Der ausschlaggebende Punkt ist hierbei die Wahrnehmung der EMRK als »lebendiges Instrument«8 und die entsprechende Doktrin einer dynamischen oder evolutionären Interpretation. Die EMRK muss natürlich auf neue Faktenlagen und Konflikte angewendet werden, die sich aus unseren Gesellschaften ergeben und in diesem Kontext sollte der EGMR die neuen Werturteile in den Konventionsstaaten berücksichtigen. Daraus folgt aber nicht, dass es dem Gerichtshof frei steht, immer weitreichendere Rechte auf Grundlage der Konventionsregeln zu schaffen.9 Die Konvention wird nicht »theoretisch und illusorisch« werden und aufhören, ein lebendiges Instrument zu sein, nur weil man die Zahl der Verstöße reduziert. Ganz im Gegenteil wäre es ein Beweis für den Erfolg der Konvention. Selbst wenn Staaten vollständig konform handeln, sodass keine Verstöße festgestellt
—————— 6 Orr gegen Norwegen befasst sich mit der Frage, inwieweit die Unschuldsvermutung laut Art. 6 Abs. 2 EMRK den Gerichtshof daran hindert, einen Beschwerdegegner haftbar zu machen für die Zahlung einer Entschädigung an das Opfer, nachdem er von einer strafrechtlichen Haftung freigesprochen wurde. Die Strafverfolgung wegen Vergewaltigung macht die Frage besonders relevant, wie dies tatsächlich im Fall Orr geschah. Der norwegische Antrag auf Abgabe an die Große Kammer wurde vom Ausschuss bestehend aus fünf Richtern, der gemäß Art. 43 EMRK handelte, abgelehnt. 7 Der norwegische Oberste Gerichtshof kam in einer Plenumentscheidung am 12. Juni 2009 einstimmig zu dem Schluss, dass das norwegische Jurysystem mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß EMRK in Verbindung mit anderen Verfahrensregeln (i.e. Ermessen des Richters, Aussetzung von Juryurteilen und Motiv für die Strafsanktion), die in der Lage sind, weitestgehend ähnliche Funktionen wie ein begründetes Urteil zu erfüllen, vereinbar sei. 8 Siehe ursprünglich Tyrer gegen Großbritannien (25. April 1978), wo festgestellt wurde, dass das Schlagen von Schulkindern mit einer Birkenrute Art 3 EMRK widersprach. 9 Der EGMR erkennt jedoch, dass der Gerichtshof kein neues Recht schaffen kann, ohne eine Untermauerung im Text der Konvention zu finden, siehe Johnston gegen Irland (18. Dezember 1986) hinsichtlich eines behaupteten Rechts auf Scheidung.
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werden, gäbe es keinen Grund, die Verpflichtungen durch die Praxis des Gerichtshofes zu erhöhen. Die nationalen Legislaturen haben auf der Grundlage öffentlicher Debatten und allgemeiner Wahlen ein sehr viel stärkeres demokratisches Mandat, dies zu tun, insbesondere da Individualrechte vielfach Auswirkungen auf andere haben – individuell oder gemeinsam. Es sollte Subsidiarität praktiziert werden. Nationale Legislaturen und Gerichte sind oftmals viel besser als der EGMR in der Lage zu beurteilen, wie die in der Konvention festgelegten Werte auf das nationale Rechtssystem angewandt werden können. Meiner Ansicht nach ist es unbegründet anzunehmen, dass ein »Versäumnis des Gerichtshofes, einen dynamischen und evolutionären Ansatz aufrechtzuerhalten, […] bedeutet, ihm eine Reform oder eine Verbesserung zu versagen«10 (Christine Goodwin gegen Großbritannien, 11. Juli 2002, Abs. 74). Eine solche Annahme übersieht die Tatsache, dass eine Rechtsreform – selbst im Bereich der bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechte – sowohl von der nationalen Gesetzgebung als auch internationalen Konventionen und Protokollen ausgehen kann. Weder die Doktrin des »Ermessensspielraums der Staaten« noch die Doktrin einer »vierten Instanz« sind ausreichende Absicherungen in dieser Hinsicht. So hat z. B. der Grundsatz der »vierten Instanz« den Gerichtshof nicht daran gehindert, eine unabhängige Beurteilung bestimmter Termini in der nationalen Sprache vorzunehmen, unterschiedlich von der des nationalen Obersten Gerichtshofes.11 Noch weniger hat der EGMR sich veranlasst gesehen, sich nicht mit den Details eines Falles zu befassen, wie am Fall Johansson gegen Finnland und am Fall Walston (Nr. 1) gegen Norwegen (3. Juni 2003) zu sehen. Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Richter in Straßburg so agieren und Begründungen geben, als ob sie Richter nationaler Oberster Gerichtshöfe seien und nicht Richter eines internationalen Gerichtshofes, dessen Aufgabe es ist zu prüfen, ob die Ziele und Werte der Konventionsrechte ordnungsgemäß beim nationalen Entscheidungsprozess berücksichtigt wurden. Wenn der viel gerühmte Rechtsdialog zwischen EGMR und den nationalen Obersten Gerichtshöfen ernst genom-
—————— 10 Übersetzung durch Verf. 11 Im Fall Orr gegen Norwegen schien die Mehrheit zu akzeptieren, dass das Konzept von »Gewalt« (vold) nicht ausschließlich krimineller Natur war, sondern berücksichtigte auch, dass durch die Anwendung des Konzepts durch das Berufungsgericht bei der Entscheidung über die Klage auf Entschädigung strafrechtliche Merkmale in die Begründung übernommen wurden und damit die Grenzen des Zivilgerichtes überschritten wurden (Abs. 51).
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men werden soll, erfordert dies eine richterliche Zurücknahme in Straßburg, insbesondere dann, wenn der nationale Oberste Gerichtshof gründlich die Anwendung der Konvention berücksichtigt hat.12
IV. Schlussfolgerung Zusammenfassend kann Folgendes gesagt werden: Die aktuelle Praxis des EGMR ist langfristig nicht aufrecht zu erhalten, weder im Hinblick auf die nationale und demokratische Souveränität noch im Hinblick auf die Rechtssicherheit, ganz zu schweigen von der eigentlichen Funktion des Gerichtshofes als letzte Instanz gegen Verstöße fundamentaler Menschenrechte. Um die Situation zu verbessern, muss der Gerichtshof sowohl seinen traditionellen Kanon der Interpretation neu überdenken als auch eine distanziertere Betrachtung auf Beschwerden wegen behaupteter Verstöße anstellen, die nicht den Kern der Konventionsrechte berühren.
—————— 12 Vielleicht zielt der Rechtsdialog aus Sicht des EGMR vorwiegend auf andere internationale Gerichte und nicht so sehr auf die Obersten Gerichtshöfe der Konventionsstaaten ab. Im Fall Zolothukin gegen Russische Föderation (10. Februar 2009, GC) über das Verbot der Doppelbestrafung (EMRK Protokoll Nr. 7 Art. 4) wird auf zahlreiche internationale Konventionen und Urteile von internationalen Gerichtshöfen sowie des US Supreme Court verwiesen, aber nicht auf Urteile von Obersten Gerichtshöfen der Konventionsstaaten. (Der norwegische Oberste Gerichtshof musste diesen Artikel in nahezu 50 Urteilen abwägen, von denen einige Plenumentscheidungen waren.) – Siehe allgemeiner über die Nutzung anderer internationaler Instrumente und Entscheidungen seitens des EGMR Demira und Baykara gegen Türkei (12. November 2008, GC). Der Rechtsdialog, der vom EGMR organisiert wird, schließt seit 2005 jährliche Seminare »Dialog zwischen Richtern« ein; die Seminarberichte können auf der Internetseite des Gerichtshofes abgerufen werden.
Menschenrechte und Volkssouveränität in der Praxis der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (»Venedig-Kommission«) Jan Helgesen Die zwei Hauptbegriffe im Titel dieser UniDem-Tagung – »Menschenrechte«, »Volkssouveränität« – werden mit der Konjunktion »und« verknüpft. Das könnte darauf hinweisen, dass die Veranstalter sie für komplementär halten. Aber wie wäre es, wenn der Titel stattdessen »Menschenrechte oder Volkssouveränität« lautete? Wäre ein solcher Titel ein Hinweis darauf, dass die beiden Begriffe – statt komplementär – gegensätzlich sind? Dieses Spielchen mit zwei Vokabeln – »und/oder« – deutet auf das Dilemma dieser Tagung hin. In der Tat stellen die zwei Vokabeln die Weichen für unsere Diskussionen: Unterstützen die Menschenrechte eine wirksame Durchsetzung von Volkssouveränität? Oder stellen Menschenrechte eine Gefahr für die Volkssouveränität dar? Wir haben diese Grundprobleme erneut diskutiert, diesmal innerhalb des Exzellenzclusters an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Diese Diskussion ist nicht ausschließlich ein Phänomen des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, sondern versetzt uns in die Vergangenheit zurück. Anscheinend muss jede Generation von Juristen, Philosophen, Politikwissenschaftlern ihre eigene Debatte führen. Die Umstände sind natürlich jedes Mal andere, die Grundprobleme bleiben aber die gleichen. Während des Seminars haben wir gegenläufige, sogar diametral entgegengesetzte Meinungen gehört – oder vielleicht klingen sie nur diametral … Nur wenige Leute würden ernsthaft die extremen Standpunkte verteidigen. Nur wenige würden sich ausschließlich zu dem einen Wert bekennen und die Gültigkeit des anderen leugnen. Wir würden alle die Demokratie verteidigen, genauso wie wir die Menschenrechte verteidigen würden. Die Weiterführung unserer Analyse setzt eine weitere sorgfältige Ausarbeitung des Begriffs »Menschenrechte« voraus. Erstens sind »Menschenrechte« in Rechtsnormen verfasst, weshalb der Begriff »Menschenrechte«
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in unserer Analyse durch den Begriff »Recht« ersetzt werden könnte. Zweitens müssen wir zwischen Menschenrechtsnormen als lex superior für den Gesetzgeber und als lex superior für die Gerichtshöfe unterscheiden. Der entscheidende Unterschied besteht darin, welches Organ die Kontrolle über die Durchsetzung von Menschenrechtsnormen ausüben soll. Die erste Situation, in der die Volksvertreter sich selbst kontrollieren, stellt eine geringere Gefahr für die »Volkssouveränität« dar als die Letztere, in der unabhängige – wie es normalerweise heißt: »niemandem Rechenschaft schuldige« – Richter die Volksvertreter kontrollieren. Drittens werden seit dem Zweiten Weltkrieg die Menschenrechte auf zwei Ebenen gewahrt, und zwar zum einen auf der nationalen und zum anderen auf der internationalen Ebene. Die erste Situation, in der die Grenzen auf der nationalen Ebene gezogen werden, ist weniger bedrohlich für die »Volkssouveränität« als die Letztere, in der die Grenzen auf der internationalen Ebene gezogen werden. Das hat zur Folge, dass die beiden Bindewörter »und/oder« uns bei der Analyse des für diese Konferenz bezeichnenden Dilemmas nicht weiterhelfen. Sie entwerfen ein allzu holzschnittartiges Bild. Zwischen »Menschenrechten« und »Volkssouveränität« besteht keine absolute Harmonie, weshalb die Vokabel »und« in die Irre führt. Andererseits gibt es keine vollständige Disharmonie, keine Dichotomie, zwischen »Menschenrechten« und »Volkssouveränität« – deswegen ist das Wort »oder« ebenfalls irreführend. Diese beiden Vokabeln malen uns ein Schwarzweißbild, wohingegen wir nach einem solchen Bild suchen sollten, das aus den vielen Grautönen zwischen Schwarz und Weiß gemalt ist. Mein Vorschlag wäre also »und/oder« durch ein drittes Wort – »durch« – zu ersetzen. Das Bindeglied zwischen den Begriffen Demokratie und Recht ist nicht »und/oder« – das operative Bindeglied ist vielmehr »durch«. Ziel, Zweck und Absicht ist das Ringen um Läuterung und Aufbau einer zukunftsfähigen Demokratie. Unser Werkzeug und Mittel, um dieses hehre Ziel zu erreichen, ist das Recht. Das Recht – in diesem Zusammenhang: Menschenrechte – ist unsere Waffe im Kampf um die perfekte Demokratie. Kurzum, unsere Herausforderung ist es, die Demokratie durch Recht aufzubauen. Oben habe ich dieses – zugegebenermaßen etwas oberflächlich – als ein Wortspiel bezeichnet. In der Tat finde ich diese Analyse des operativen Bindeglieds zwischen zwei Grundwerten unserer Gesellschaft hilfreich. Ein solches Unterfangen wird es uns ermöglichen, die richtigen Fragen zu
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stellen, und dadurch wird wiederum die Wahrscheinlichkeit, die richtigen Antworten zu finden, erhöht. Meiner Meinung nach besteht die »richtige Antwort« in einem Ausgleich zwischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Oberstes Gebot ist es, die Voraussetzungen für die Förderung einer vitalen, zukunftsträchtigen Demokratie zu erzeugen. Dies lässt sich allerdings in einer Art und Weise erreichen, die auch die »Herrschaft des Rechts« aufrechterhält. Um diesen Ausgleich zu finden, muss man die einzelnen oben genannten Fragen diskutieren. Welche Techniken sind erforderlich, um dieses Ziel zu erreichen? Sollen die Menschenrechte in den einzelnen Staaten als lex superior für das Parlament dienen? Sollen diese Normen auch als lex superior für die Gerichte dienen? Soll die Normenkontrollekompetenz bei den Gerichten liegen? Welchen Kriterien soll eine solche Kontrolle unterliegen? Wie intensiv soll diese Kontrolle sein? Sollen die Gerichte eine sehr aktive Rolle dabei spielen? Oder sollen sie eher zurückhaltend vorgehen und nur in die Politik eingreifen, wenn die Parlamentsakte grundsätzlich verfassungswidrig sind? Weil die Antwort auf diese Fragen für unterschiedliche Gesellschaften unterschiedlich ausfallen wird, muss man die Beziehung zwischen Normen auf der nationalen und der internationalen Ebene zum Thema machen. Die mit der Aufsicht und Kontrolle der Durchsetzung von Menschenrechtsabkommen im nationalen Recht beauftragten internationalen Organe – seien es Gerichte oder Ausschüsse – müssen sich als Werkzeuge oder Mittel zur Unterstützung und Verstärkung der »Volkssouveränität« in den Mitgliedsländern verstehen. Die internationalen Organe müssen sich als die Diener – nicht als die Herren – der nationalen Demokratien betrachten. Von verschiedenen Seiten werden Warnungen laut, dass diese internationalen juristischen Organe eine akute Bedrohung für die nationale »Volkssouveränität« darstellen. Diese Stimmen sind lauter als vor einem Jahrzehnt geworden – eine Entwicklung, die sehr ernst genommen werden muss. Meiner Meinung nach besteht unsere Herausforderung darin, das Wort »durch« in geeigneter Weise mit Substanz zu füllen, d. h. angemessene »juristische« Instrumentarien oder Techniken zu entwickeln, welche die »Volkssouveränität« fördern statt hindern werden. Ich möchte daran erinnern, dass die Kommission von Venedig offiziell »The European Commission for Democracy through Law« heißt. Die Venedig-Kommission hat über zwei Jahrzehnte an dem Begriff »durch« gefeilt – und wird dies in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen.
Europäische Union
Menschenrechte und Übertragung der Souveränität auf die Europäische Union: Folgen für die Definition und Entwicklung der Menschenrechte Catherine Schneider
Einleitung 1. Von welchem Menschenrechtssystem ist die Rede? Wenn man von Menschenrechten in der Europäischen Union (EU) spricht, muss man unterscheiden zwischen dem internen Menschenrechtsbereich, d. h. den Grundsätzen und Regeln, die für die Institutionen und Mitgliedsstaaten auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts gelten, und dem externen Menschenrechtsbereich, also dem Tätigwerden der EU gegenüber Drittstaaten auf diesem Gebiet. Diese beiden Menschenrechtsbereiche werfen in ihrer Beziehung zur Souveränität recht unterschiedliche Probleme auf und unterliegen sehr verschiedenen Rechtsvorschriften. In dieser Hinsicht kann man nicht umhin, das Paradox zu betonen, das sich daraus ergibt, dass die Menschenrechte ausdrücklich als außen- und sicherheitspolitisches Ziel der Union sowie der Gemeinschaftspolitik im Bereich der Zusammenarbeit bei der Entwicklung und der technischen und finanziellen Unterstützung erscheinen, während dies nicht der Fall ist, wenn die Gemeinschaft und die Union gegenüber ihren Mitgliedstaaten tätig werden. Das Fehlen jedweder ausdrücklichen Bezugnahme auf die Idee, dass die Menschenrechte Ziel oder Gegenstand engerer Verbindung zwischen den Mitgliedsstaaten darstellen könnten, macht es unmöglich, auf eine allgemeine Kompetenz der EU in Sachen der Menschenrechte zu schließen. Über die Garantie der Menschenrechte im Gemeinschaftsrecht hinaus gilt offensichtlich weiterhin die Garantie der Menschenrechte nach dem jeweiligen Schutzsystem der Mitgliedsstaaten. Letztere Garantie, die »das eigenständige Handeln« der Mitgliedsstaaten betrifft, besteht insoweit fort, als die Garantie des Gemeinschaftsrechts nur dann eingreift, wenn die Staaten Gemeinschaftsrecht umsetzen.
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2. Verzicht auf den Begriff der Übertragung der Souveränität Es erscheint angebracht, eher von Kompetenzübertragung oder besser noch von Integration, als von Souveränitätsübertragung zu sprechen. Die Übertragung von Souveränität würde nicht befriedigen, insofern die Souveränität unteilbar ist (selbst wenn man sich vorstellen kann, dass Souveränität Grenzen hat oder einzelne Souveränitätsrechte übertragbar sind) und weil natürlich »das politische Gebilde«, das die EU darstellt, auch wenn sie nicht als solches identifiziert wird, nicht souverän sein könnte, weder im Innern noch auf internationaler Ebene, jedenfalls nicht in dem üblicherweise von den Juristen verstandenen Sinn, egal ob es sich um Spezialisten für innerstaatliches oder für Völkerrecht handelt. Erstere stützen sich vorzugsweise auf das Argument, dass die Union nicht die Kompetenz dazu habe, während letztere auf ihr Fehlen des Machtmonopols bezüglich ihres Gebietes und ihrer Bevölkerung in der Völkerrechtsbeziehung verweisen. Das im Gemeinschaftsrecht zwar oft verwendete Konzept der Kompetenzübertragung ist gleichfalls nicht befriedigender, wie eine gewisse Lehrmeinung1 nachgewiesen hat. Dieses Konzept könnte für sich allein in der Tat nicht die Zuständigkeitsverteilung im Einzelnen zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten umschreiben, weil es zugleich durch eine genaue Bestimmung der übertragenen Kompetenz als auch durch einen Hoheitsverzicht des Staates gekennzeichnet wird. Wie man weiß, unterliegt die Union einem vielgestaltigen und komplizierten »Zuständigkeitsverteilungssystem«, bei dem die der EU zugewiesenen Kompetenzen nicht notwendigerweise einen Hoheitsverzicht des Mitgliedsstaats bedeuten. Letzterer ist Teil eines besonderen »Hintergrunds«, der auf eine immer enger werdende Verflechtung der Mitgliedsstaaten abzielt, wobei man sich vor allem2 auf die Methode der Integration stützt.
—————— 1 Vgl. Michel 2003; Constantinesco 1974: 249. 2 Es ist hierbei wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Methode keineswegs exklusiv ist und zwar aus mehreren Gründen, einmal, weil sie im Römischen Vertrag über die Wirtschaftsgemeinschaft, von der sie sich ableitet, nicht absolut verankert ist, und zum anderen, weil sie im Vertrag von Maastricht über die Union bewusst ausgeklammert wurde.
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3. Die Idee der Integration an Stelle der Idee der Souveränitätsübertragung Wenn man dem Begriff der Integration im erweiterten Sinn den Vorzug gibt, das heißt losgelöst von ausschließlicher Inanspruchnahme der integrierten Methode und erweitert eher unter dem Gesichtspunkt eines dank eines perfektionierten Systems der Zuständigkeitsverteilung immer enger werdenden Zusammenschlusses, so bedarf es gleichwohl einer genaueren Umschreibung dieses Begriffs. Was ist mit engerem Zusammenschluss gemeint: wirtschaftliche oder politische Union? Die Frage der Definition und Entwicklung der Grundrechte stellt sich in der Tat ganz unterschiedlich je nachdem, ob man von der Wirtschaftsgemeinschaft oder der (politischen) Union ausgeht. An welche Art Gewaltenteilung ist gedacht? An eine vertikale zwischen der Organisation und den Mitgliedsstaaten? Oder an eine horizontale Aufteilung zwischen den Institutionen, bei der mehrere Legitimitäten zusammentreffen: im Rat die der Regierungen der Mitgliedsstaaten, im Parlament die der Völker, dazu noch die viel schwieriger zu umreißende der Kommission? So viele Akteure, die vermutlich sowohl nach innen wie nach außen nicht alle die gleiche Vorstellung von der Definition und Entwicklung der Menschenrechte haben. Das Europäische Parlament, das man bei einer Überlegung über die Souveränität der Völker nicht außerachtlassen darf, tut sich folglich manchmal schwer, bei der Definition und der Entwicklung des Systems der Menschenrechte im Rechtsrahmen der Gemeinschaft seinen Platz zu finden. Im Innenverhältnis ist das Parlament nicht wirklich Akteur bei der Definition primären Rechts, ausgenommen den eher seltenen Fall, dass zur Revision der Gründungsverträge3 auf die Konventionsmethode zurückgegriffen wird. Im Rahmen des abgeleiteten Rechtsbestands dürfte ihre »maximale Effizienz« am ehesten unter der Annahme gemeinsamer Entscheidung gesehen werden. Wie die fachspezifische Lehrmeinung betont, ist allerdings der Zugriff auf die Eigenschaft als Mitgesetzgeber unbequemer
—————— 3 Angemerkt sei, dass die Konventionsmethode, deren man sich 1999 bei der Ausarbeitung der Grundrechtscharta und 2003–2004 bei der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs bedient hatte, mittlerweile gemäß Art. 48.3 des Lissabonner Vertrags fortzudauern scheint. Dort ist sie als eine Art Normalverfahren (das man allerdings fallen lassen kann) vorgesehen. Der Rückgriff auf die Konventionsmethode ermöglicht eine größere Einbeziehung der Volksvertreter bei der Vertragsrevision und folglich bei der Festlegung des Grundrechtsbestands, der bekanntermaßen zu den Primärrechten gehört.
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als die Vorstellung vom Parlament als Mobilisierer der öffentlichen Meinung und gewichtiger Urheber gewiss einfallsreicher, aber allzu oft von der Realpolitik abgehobener Entschließungen. Letztendlich hat das Parlament, was immer man mitunter auch davon halten mag, ohne Zweifel gerade im Rahmen der Außenwirkung der Menschenrechte als Vorkämpfer der Wertegemeinschaft am aktivsten seine »Einflussmöglichkeit« zu entfalten vermocht. Diese Rolle fällt dem Parlament einerseits gegenüber dem Rat zu, den es der Zaghaftigkeit beschuldigt, anderseits gegenüber den Drittstaaten, denen es z. B. das Privileg eines Abkommens zur Zusammenarbeit (und finanzieller Zuwendungen) durch eine negative Stellungnahme verwehren kann. Gleichzeitig lässt sich die Integration nach ihrer Zielsetzung definieren, und die Definition und Entwicklung der Menschenrechte innerhalb der Union verweisen auf die sogenannte normative Integration, die sich bekanntlich in den ganz besonderen Rahmen der Vorrang beanspruchenden Lehre eines einheitlichen Grundprinzips des Seins einfügt. Die Koexistenz zwischen einem, dem Aufbau der Gemeinschaft eigenen europäischen Menschenrechtsbestand und der Gesamtheit der nationalen Menschenrechtssysteme bewegt sich mithin in einer ganz besonderen Artikulierung, die über die übliche Fragestellung des internationalen öffentlichen Rechts hinausgreift, das in Sachen der Menschenrechte nach der Übereinstimmung oder den Unterschieden zwischen völkerrechtlichen Verträgen und den nationalen Rechtssystemen fragt. Andererseits führt die Frage nach der Auswirkung des Aufbaus der Gemeinschaft auf die bloße Definition und Entwicklung der Menschenrechte berechtigterweise dazu, die Frage ihrer Verwirklichung auszuklammern. Insbesondere wird nicht auf die Problematik ihrer Anwendung durch den Gerichtshof der Gemeinschaft eingegangen. Vor allem zwei unterschiedlich zu bewertende Gründe mögen dies erklären. Die erste Begründung besteht darin zu sagen, dass nach einer behutsamen und rechtgläubigen Betrachtungsweise die Richter der Gemeinschaft dafür nicht zuständig sind; sie dürften die Menschenrechte nur indirekt auslegen und lediglich ihre Existenz auf dem Weg allgemeiner Rechtsgrundsätze feststellen, also im Zusammenhang mit dem infrage stehenden Grundsatz oder der infrage stehenden Regel ihren Inhalt ausdrücklich formulieren oder letztlich etwaige Konflikte zwischen diesen Rechten entscheiden.4
—————— 4 Die Rechtsprechung der Gemeinschaft weist zahlreiche Fälle auf, in denen der Richter derartige Konflikte zu entscheiden hatte, etwa zwischen einer Grundfreiheit (freier Wa-
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Die zweite Begründung lautet, dass das Programm dieser Tagung vorsieht, auf diese von der Rechtsprechung geprägte Dimension der Definition und Entwicklung der Menschenrechte erst anlässlich ihrer richterlichen Umsetzung zurückzukommen. Zweifellos bietet das Gemeinschaftsrecht hierzu ein weitgespanntes Feld der Überlegung, die weit über die bescheidene Zielsetzung des vorliegenden Beitrags, dem es nicht um die Umsetzung der Rechte, sondern vielmehr um ihre Definition geht, hinausreicht. Hierzu sei an Fälle jüngster Rechtsprechung erinnert, welche den Lehrstreit über die neue sog. »Konfliktsproblematik« zwischen Menschenrechten und im Römischen Vertrag garantierten wirtschaftlichen Freiheiten angeheizt haben. Sie erneuern in einzigartiger Weise die traditionelle Betrachtungsweise der positiven Interaktion, der zufolge die Menschenrechte an der Verwirklichung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts teilnehmen.5 Es ist dies eine wohlbekannte Hypothese, der zufolge man sich zur Untermauerung des Rechts auf Wahrnehmung wirtschaftlicher Freiheiten auf die Menschenrechte beruft. Ganz anders gelagert sind Fälle negativer Interaktionskonflikte, mit denen die Justiz der Gemeinschaft in jüngster Zeit befasst war.
—————— renaustausch) und einem Grundrecht (Demonstrationsfreiheit) (Fall Schmidberger, 12. Juni 2003, C-112/00) oder zwischen einer Grundfreiheit (Dienstleistungsfreiheit) und einem in einer nationalen Verfassung garantierten Grundrecht (Menschenwürde) (Fall OMEGA, 14.10.2004, C636/02) oder zwischen zwei im Gemeinschaftsrecht garantierten Grundrechten (Recht auf geistiges Eigentum und Recht auf Privatleben und den Schutz persönlicher Daten) (Fall Productores de música de España, 29. Januar 2008, C275/06). Zu vertieften Überlegungen zur Frage des Normenkonflikts in Grundrechtsfällen und der diesbezüglichen Rechtsprechung der Gemeinschaft siehe Grewe 1999; Jacque 2009: besonders 366–361; Kaddous 2008: 563–591. 5 Zur positiven Interaktion zwischen Menschenrechten und freiem Warenverkehr vgl. den Fall Cinéthèque vom 11. Juli 2005, wo hinsichtlich des freien Verkehrs mit Videokassetten auf die Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK verwiesen wurde; zur positiven Interaktion zwischen Menschenrechten und Dienstleistungsfreiheit vgl. den Fall ERT vom 18. Juni 1991, bei dem die Berufung eines Mitgliedsstaats auf sein Recht, Ausnahmen von der Dienstleistungsfreiheit vorzusehen, gegen die nach Art. 10 EMRK garantierte Meinungsfreiheit abgewogen wurde; zur positiven Interaktion zwischen Menschenrechten und freiem Personenverkehr vgl. den Fall Carpenter vom 11. Juli 2002, bei dem sich eine von Ausweisung bedrohte Philippinen zur Unterstützung des Rechts auf freie Dienstleistung ihres britischen Ehemanns auf die Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK berufen hatte (weil dessen Dienstleistungsrecht bei Ausweisung seiner Gattin beeinträchtigt gewesen wäre); zur positiven Interaktion zwischen Menschenrechten und freiem Kapitalverkehr vgl. den Fall Fetersen vom 25. Januar 2007, bei dem man sich zur Unterstützung des freien Kapitalverkehrs auf das Recht zur freien Wohnsitzwahl nach Art. 2 des Zusatzprotokolls Nr. 4 zur EMRK berufen hatte. Zur ausführlichen Analyse dieser Fälle siehe Kaddous 2008: 563–591.
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Eine erste solche Kategorie bilden Fälle, in denen der Mitgliedsstaat sich zur Rechtfertigung von Beschränkungen des freien Verkehrs auf die Menschenrechte beruft (Meinungsfreiheit, Menschenwürde). In anderen Fällen schließlich sind es nicht die Staaten, sondern einfache Bürger, die sich gegenüber anderen Personen auf ihre Menschenrechte berufen, um diese Personen an der Ausübung ihrer im Gemeinschaftsvertrag garantierten wirtschaftlichen Freiheiten zu hindern.6 Angesichts der zahlreichen, ja allzu zahlreichen möglichen Beiträge zur Frage der Auswirkung des Aufbaus der Gemeinschaft auf die Definition und Entwicklung der Menschenrechte wird man uns hoffentlich verzeihen, wenn wir unsere Überlegungen auf die Menschenrechte im System der Gemeinschaft und der Union beschränken und nur sehr indirekt auf die Problematik der nationalen Systeme der Mitgliedsstaaten (mit der sich andere Beiträge befassen) eingehen. Die Konzentration unserer Analyse auf das besondere Gebiet der Definition und Entwicklung der Menschenrechte durch und für das System der Union lässt uns drei große Leitgedanken zur Überlegung vorschlagen. a) Die Definition und Entwicklung der Menschenrechte im System der Gemeinschaft hat zweifellos im Verlauf des Aufbaus der Gemeinschaft unter einer gewissen einschränkenden wirtschaftsbezogenen Betrachtungsweise gelitten, wie das für ein Europa des Handels typisch war. b) Die Definition und Entwicklung der Menschenrechte im System der Gemeinschaft steht oft mit einem Streit um die Zuständigkeitsverteilung im Zusammenhang. c) Die Definition und Entwicklung der Menschenrechte wird mitunter durch die Integration, auch die wirtschaftliche, vorangetrieben. Integration kann beschleunigte Anerkennung der Menschenrechte bewirken.
—————— 6 In den beiden Fällen Viking Line (Eur. Gerichtshof vom 11. Dezember 2007) und Laval (Eur. Gerichtshof vom 18. Dezember 2007) hatte sich das Gericht bei der Abwägung zwischen Menschenrechten (Recht auf kollektives Handeln) und wirtschaftlichen Freiheiten (Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 des Gemeinschaftsvertrags für Viking Line, Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 des Gemeinschaftsvertrags für Laval) zugunsten des freien Verkehrs entschieden, was den Streit um die »Unterwerfung« der Menschenrechte unter die Anforderungen der wirtschaftlichen Integration wieder angeheizt hatte. Zur ausführlichen Analyse dieser Fälle siehe Kaddous 2008: 563–591.
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I. Die Verzögerung der Definition und Entwicklung der Grunderechte durch eine einschränkende Betrachtung der Integragion Häufig hat sich die einschlägige Lehrmeinung darauf versteift, die Konsequenzen für das interne System zum Schutz der Menschenrechte zu betonen, wie sie sich aus der ursprünglichen und einschränkenden Betrachtungsweise des Aufbaus der Gemeinschaft ergab (1.). Die reifere Entfaltung dieses Systems ist erst neueren Datums und verdankt viel dem »Wendepunkt des Vertrags von Amsterdam« (2.).
1. Fehlende Vision des Europas der Wirtschaft Abgesehen von den politischen Hintergedanken, die nicht ohne Nachdruck betonten, dass der Aufbau der Gemeinschaft in erster Linie ein politisches Vorhaben sei, waren die ersten Jahre des Aufbaus durch eine Wirtschaftsunion gekennzeichnet, konzipiert als »Anlagefonds«, der Mühe hatte, sich als Wertegemeinschaft7 zu verstehen. Das Europa der Wirtschaft tut sich mithin mit der Vorstellung schwer, Freiheiten einzuschränken oder gar als Herold der Grundrechte aufzutreten. Das in Grundrechtsfragen vorherrschende Klima ist folglich die Vorstellung einer Art »freien Union«8 und gegenseitigen Vertrauens zwischen der Organisation und den Mitgliedsstaaten, die sich nicht genötigt sehen, förmliche Verpflichtungen auf diesem Gebiet einzugehen. Die Folgen dieser relativen Indifferenz der Organisation und ihrer Mitgliedsstaaten gegenüber den Menschenrechten sind bekannt. Sie berühren die Vollständigkeit der geschützten Grundrechte, die ihnen durch die Verträge eingeräumte Stellung, aber auch die Funktion, die ihnen zugewiesen wird. Dies führt auch zu einer »voreingenommenen Kultur« der Menschenrechte, die nicht ohne Auswirkung auf ihre Definition und Entwicklung bleibt.
—————— 7 Ausdruck entlehnt bei Braibant 2000. 8 Vgl. Flaesch Mougin 1998.
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a) Die Unvollständigkeit der Grundrechte Man darf das Fehlen einer förmlichen Verpflichtung auf den Schutz der Grundrechte in den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften nicht mit völliger juristischer Leere gleichsetzen. Es gibt schon einen gewissen Bestand solcher Rechte, der aber beschränkt ist, weil er sich auf die wirtschaftlichen Freiheiten bezieht, von denen man erwartet, dass sie den gemeinsamen Markt formen werden. Die wichtigsten derart im positiven Recht verankerten Freiheitsgrundsätze betreffen den freien Wettbewerb (Art. 85 des Gemeinschaftsvertrags), den freien Warenverkehr (Art. 30–37 des Gemeinschaftsvertrags), die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 48–51 des Gemeinschaftsvertrags), die Niederlassungsfreiheit der selbständigen Berufe (Art. 52–58 des Gemeinschaftsvertrags), den freien Dienstleistungsverkehr (Art. 59–66 des Gemeinschaftsvertrags) sowie den freien Kapitalverkehr (Art. 67–73 des Gemeinschaftsvertrags). Die enge Verbindung dieser Freiheiten – abgesehen natürlich von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer – mit den Menschenrechten braucht nicht besonders betont zu werden. Freilich interessieren die Verträge sich auch für zahlreiche und recht unterschiedliche Diskriminierungsverbote, die sich allerdings allesamt auf Benachteiligung aufgrund der Staatsangehörigkeit beschränken.9 Schließlich gibt es schon seit der allerersten Vertragsfassung den Grundsatz der Gleichstellung von Mann und Frau, damals allerdings auf die Entlohnung beschränkt.10
—————— 9 Zwar legt der Römische Vertrag ein Diskriminierungsverbot fest, es bleibt jedoch im Umfang beschränkt: Art. 7 (heute Art. 12) untersagt bei Anwendung des Vertrags jede auf die Staatsangehörigkeit gegründete Benachteiligung. Zu dieser Generalklausel kamen noch besondere Bestimmungen geringerer Reichweite, die ebenfalls Benachteiligungen aufgrund der Staatsangehörigkeit untersagten: z.B. Art. 48 Abs. 2 für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer oder Art. 37 Abs.1 für die Regelung nationaler Monopole. Erst mit dem Vertrag von Maastricht wurde das Diskriminierungsverbot auch auf andere Merkmale (Rasse, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Alter, Geschlecht oder sexuelle Ausrichtung (vgl. Art. 13 des Gemeinschaftsvertrags) ausgedehnt. 10 Erst mit der weiteren Ausgestaltung des Römischen Vertrags kam es zur Festlegung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und Chancengleichheit von Mann und Frau, während die Fassung von 1957 nur gleiche Entlohnung gefordert hatte. Dieses Beispiel zeigt deutlich die Beziehung zwischen der Definition der Grundrechte und ihrer späteren Entwicklung, die einerseits neue Rechte festlegte und andererseits den Umfang bereits anerkannter Rechte erweiterte.
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b) Die Verschiedenartigkeit der Rechtsstellung der Grundrechte Abgesehen von der aufgrund der damaligen Sachlage ziemlich unvollständigen Ausgestaltung der Grundrechte in der ersten Fassung des Römischen Vertrags ist es auch die Vielfalt der Stellung, die der Vertrag den von ihm geschützten Freiheitsrechten einräumt, die seinen ersten begrenzten Ansatz kennzeichnet. Gewisse Freiheiten werden folglich nur aufgezählt, ohne als Teil des positiven Rechts angesehen zu werden. Dies gilt beispielsweise für die Vereinsfreiheit, die schon im Montanunionsvertrag genannt wurde, oder für bestimmte soziale Rechte und Freiheiten, deren nähere Ausgestaltung die Verträge der Zusammenarbeit der Staaten unter Anleitung der Kommission überlassen.11 Im Gegensatz zu dieser beschränkten Rechtsstellung, die nur einen Aufruf zur Förderung solcher Rechte beinhaltete, werden Rechte und Freiheiten wie etwa der freie Verkehr und die Wettbewerbsfreiheit, die den Kern des Binnenmarkts ausmachen, als Teil des positiven Rechts verankert. Sie begründen für die Staaten sowie die am Wirtschaftsleben Beteiligten bindende Verpflichtungen. Solche Verpflichtungen wurden im Verlauf des Aufbaus der Gemeinschaft weiter ausgestaltet, teils durch Revision des primären Rechts, teils durch abgeleitetes Recht oder auch durch die Rechtsprechung. c)
Eine voreingenommene Kultur der Menschenrechte
Die Lehre betont ziemlich einmütig, dass zu Beginn des Aufbaus der Gemeinschaft diese »voreingenommene Kultur« der Grundrechte und Grundfreiheiten vorherrschend war und auch heute noch mitunter, besonders in der Außenbeziehung der Grundrechte, durchschimmert.12 Mit dieser neuartigen Wortschöpfung von der »voreingenommenen Kultur der Menschenrechte« will man wohl die oft rein wirtschaftliche Sichtweise der Menschenrechte betonen. Diese besondere Sichtweise ergibt sich im Wesentlichen daraus, dass die Entwicklung der Grundrechte im Innenverhältnis vor allem dem besonderen Ziel der Integration dient. In erster Linie geht es dabei um die wirtschaftliche Integration und die Anforderungen des Aufbaus des einheitlichen Wirtschaftsraums, des gemeinsamen Markts und des Binnen-
—————— 11 Hinsichtlich einer ausführlichen Untersuchung der unterschiedlichen Rechtsstellung der Menschenrechte in der Erstfassung der Verträge finden sich nützliche Hinweise bei Akandji 1999: besonders 35. 12 Flauss 1999: 137–172; Candela Soriano 2008.
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markts. Die Justiz der Gemeinschaft zögert daher wohl nicht, den Schutz der Grundrechte den mit dem Aufbau der Gemeinschaft einhergehenden Anforderungen von allgemeinem Interesse unterzuordnen. In zweiter Linie geht es um das Ziel normativer Integration und die Bekräftigung und Festigung des Vorrangs der Rechtsordnung der Gemeinschaft gegenüber dem nationalen Recht. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass gewisse Verfassungsgerichte beträchtlichen Einfluss ausgeübt haben, um das Gemeinschaftssystem »unter Druck« zu setzen und die Gemeinschaft – zuerst auf dem Weg der Rechtsprechung, dann aber auch durch Revision der Verträge – zu veranlassen, zu einer autonomeren Sicht der Menschenrechte überzugehen, und zwar offensichtlich in der Absicht, etwaige Beeinträchtigungen der Vorherrschaft des Gemeinschaftsrechts abzuwehren. Im einen wie im anderen Fall findet sich hier erneut die wohlbekannte These einer Unterwerfung der Grundrechte unter die besonderen Anforderungen der Integration und des engeren Zusammenschlusses der Mitgliedsstaaten. Das Fehlen echter Autonomie der Menschenrechte zeigt sich auch in den Außenbeziehungen, weil die Rechtstexte zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte nach außen erst aus Anlass wirtschaftlicher und kommerzieller Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft auf den Tisch gelegt werden. Dies ist bei den politischen Bedingungen13 im Rahmen von Abkommen über Zusammenarbeit und der großen technischen und finanziellen Hilfsprogramme wie PHARE, TACIS, MEDA oder CARDS der Fall. Mittels solcher Bedingungen macht die Gemeinschaft die Aufnahme oder Fortsetzung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit von der Achtung der Menschenrechte durch ihre Partner abhängig, die freilich oft eher unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen werden. Hier sei an das uns betonenswert erscheinende Beispiel der Rechte der Frau erinnert, welche die Union zu fördern versucht.14 Häufig (im Einklang mit der ursprünglichen internen Gemeinschaftslogik) unter dem rein wirtschaftlichen Gesichtspunkt der Gleichstellung der Geschlechter betrachtet werden die Rechte der Frau nur mit Mühe unter der an die Menschenwürde geknüpften Grundrechtslogik gesehen. Dies ist bedauerlich, zumal bekannt ist, dass in manchen Partnerländern der Union die Frauen tagtäglich nicht nur diskriminiert werden, sondern auch Opfer schwerer Gewalt werden. Solche Gewaltakte, die nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern auch die
—————— 13 Schneider/Tucny 2002: 11–44; Schneider 2006; Schneider 2008: 750–778. 14 Vgl. Rollinde 2005.
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Würde der Frau verletzen, lassen sich nicht eindämmen, wenn die Gleichheit der Geschlechter zu eng gesehen wird.
2. Allmählich reifere Betrachtungsweise dank des Amsterdamer Vertrags Sicher hat der Vertrag von Maastricht bereits indirekt zur Entwicklung der Grundrechtsbestimmungen vor allem durch die Einführung eines europäischen Bürgerrechts beigetragen. Das europäische Bürgerrecht ermöglicht eine nicht unbeträchtliche Erweiterung der persönlichen Freizügigkeit, indem es diese vom ursprünglichen Bezug auf die wirtschaftliche Integration und die Anforderungen des Binnenmarkts löst. Das europäische Bürgerrecht, das in manchen Punkten der menschenrechtlichen Sichtweise fremd ist, reicht freilich nicht aus, um von den wirtschaftlichen Aspekten wegzukommen. Folglich ist es vor allem der Amsterdamer Vertrag, der zu einer wirklichen Beschleunigung des Fortschritts bei der Definition und Entwicklung der Menschenrechte im Gemeinschaftssystem geführt hat, einer Beschleunigung, die der späteren Annahme der Grundrechtscharta vorausging (siehe Kapitel III weiter unten). Abgesehen von einer Verstärkung des Grundrechtsschutzes hat dieser Vertrag die Achtung der Grundrechte zu »Strukturprinzipien des Gemeinschaftssystems« erhoben. Dadurch bewirkte er eine Umkehr der Funktion der Grundrechte, die bis dahin nur für die Integration der Gemeinschaft kennzeichnend war. a) Die Konsolidierung der Menschenrechtsbestimmungen Hinsichtlich der Verstärkung der diesbezüglichen Bestimmungen sei auf die Aufnahme sozialer Rechte ins Primärrecht als allgemeine Grundrechtskategorie verwiesen. Letztere sind Gegenstand ausdrücklicher Erwähnung in der geänderten Präambel15 des Unionsvertrags dank einer Verweisung
—————— 15 Diese Bezugnahme erscheint auch ausdrücklich im neuen Art. 136 des EWG-Vertrags (vormals Art. 117) über die Sozialpolitik, dem zufolge die Gemeinschaft und die Mitgliedsstaaten sich die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, einen angemessenen Sozialversicherungsschutz sowie den sozialen Dialog und die Entwicklung des Arbeitspotentials zum Ziel setzen. Art. 137 des Gemeinschaftsvertrags sieht vor, dass der Rat durch Richtlinien »Mindestvorschriften« erlassen kann. Gleichwohl wird die Berücksichtigung der nationalen Vielfalt allenthalben bei der Umschreibung der Sozialpolitik der Gemeinschaft hervorgehoben. Die Gemeinschaftspoli-
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auf die Sozialcharta des Europarats von 1961 und die Sozialcharta der Gemeinschaft von 1985. Andererseits bilden gewisse schon bisher geschützte soziale Rechte wie die Gleichstellung von Mann und Frau den Gegenstand deutlicherer Definitionen, was – außer dem bereits erwähnten Beispiel der Ausdehnung der Gleichberechtigung auf andere Bereiche als nur den der Entlohnung – die Einführung positiver Diskriminierung zur Förderung eben dieser Gleichstellung zeigt.16 Den wichtigsten Beitrag hierzu bildet das Diskriminierungsverbot im neuen Art. 13 des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft, mit dem Art. 12 (vormals Art. 6) ergänzt wurde, der die Gemeinschaft zur Rechtssetzung gegen Benachteiligung aufgrund der Staatsangehörigkeit ermächtigt hatte. Art. 13 erweitert die Rechtssetzungsbefugnis des Rates auf das Verbot von Benachteiligung wegen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion, der Weltanschauung, Behinderungen, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Freilich zählt Art. 13 zu jenen speziellen oder besonderen Zuständigkeitsbestimmungen (vgl. Kap. III unten), gemäß denen die Gemeinschaft nicht von Anfang an eine »generelle und unmittelbare Rechtssetzungsbefugnis« zur Regelung dieses Grundrechts besitzt. In der Tat kann die Gemeinschaft nur im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Maßnahmen dieser Art ergreifen.17 Die durch den Amsterdamer Vertrag eingeleitete Entwicklung der einschlägigen Rechtsvorschriften betrifft folglich sowohl die Aufnahme neuer Bezugsrechte als auch die Erweiterung bereits geschützter Rechte. Es ist jedoch die Umkehr der Zweckbestimmung dieser Rechte, welche die Fachwelt am meisten beeindruckt hat. b) Die Umkehr des Zwecks des Schutzes der Menschenrechte Der Amsterdamer Vertrag brachte in der Tat durch den Gedanken der »verfassungsmäßigen Verankerung« des Schutzes der Grundrechte beim Aufbau der Gemeinschaft neuen Schwung.18 Dank des neuen Art. 6 des
—————— tik erscheint vor allem als Ergänzung zur Politik der Mitgliedsstaaten und unvereinbar mit der völligen Übertragung der Zuständigkeit auf die Gemeinschaft (siehe unten). 16 Vgl. Art. 141 Abs. 4 des Gemeinschaftsvertrags, der die Beibehaltung oder sogar die Einführung positiver Diskriminierung durch einen Mitgliedsstaat gestattet, um einem untervertretenen Geschlecht die Ausübung beruflicher Tätigkeit zu erleichtern. 17 Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass die Gemeinschaft durch den Rat die nötigen Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung ergreifen kann, so heißt das zugleich, dass die Institutionen sich nicht auf Nichtstun zurückziehen können. 18 Constantinesco 1999.
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Unionsvertrags (einer überarbeiteten Fassung des bisherigen Artikels F des Vertrags von Maastricht) wird die Achtung der Grundrechte nunmehr nicht nur als Grundlage der Staatsform der Mitgliedsstaaten, sondern auch als »Strukturprinzip« der Europäischen Union gesehen, das die Verpflichtung der Union und ihrer Mitgliedsstaaten zur Einhaltung der Grundrechte einschließt. Hieraus ergeben sich neue Kontrollverfahren, um die Einhaltung dieser Verpflichtung a priori und a posteriori zu überwachen. Der revidierte Art. 49 des Unionsvertrags fügt die Achtung der Grundrechte als politische Voraussetzung für den Beitritt dem positiven Primärrecht hinzu, wie dies beim Europarat der Fall ist, was jedoch im bisherigen Gemeinschaftsrecht nur als sog. »soft law«19 galt. Eine nachträgliche Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte ist als solche in Art. 7 des Unionsvertrags vorgesehen, der eine neue Verfahrensregelung bringt, die vor allem auf Sanktionen gegenüber dem Mitgliedsstaat abstellt, dem eine schwere und andauernde Verletzung der Grundrechte vorgeworfen werden könnte.20 Wenn der Überblick über die großen Etappen der Entwicklung der Grundrechte es uns gestattet hat, die Verzögerungen aufzuzeigen, die im Wesentlichen auf eine einschränkende Sichtweise des Europas der Wirtschaft zurückzuführen waren, so scheint es uns, dass diese Entwicklung vor allem auch unter dem für die Integration der Gemeinschaft typischen Kampf um die Verteilung der Zuständigkeiten gelitten hat.
—————— 19 Vgl. die Kopenhagener Erklärung von 1973. 20 Dieses Sanktionsverfahren bei schwerwiegender und andauernder Menschenrechtsverletzung durch einen Mitgliedsstaat wurde später dank des Vertrags von Nizza noch durch ein Verfahren zur Verhütung und Warnung bei drohender Gefahr einer Menschenrechtsverletzung ergänzt (vgl. Art. 7.2 des Unionsvertrags). Das derzeit in Art. 7 festgeschriebene positive Recht umfasst zwei Fälle: einmal ein auf außergewöhnliche Fälle schwerwiegender und andauernder Menschenrechtsverletzungen beschränktes Sanktionsverfahren und ein Verhütungs- und Mahnverfahren bei nur drohender Gefahr für die Menschenrechte, wobei die Feststellung einer solchen Gefahr – anders als im Fall schwerwiegender und andauernder Menschenrechtsverletzungen – keine Einstimmigkeit erfordert.
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II. Die Definition und Entwicklung der Grundrechte unter dem Einfluss des Streits über die Zuständigkeitsverteilung Man könnte uns gewiss entgegenhalten, dass die im weiten Sinne konzipierte, d. h. vom ausschließlichen Bezug auf die bloße Gemeinschaftsmethode losgelöste Integration der Gemeinschaft keineswegs ein Monopol in der Frage der Zuständigkeitsverteilung besitzt. Im Verfassungsrecht von Bundesstaaten taucht diese Frage ständig auf. Sie kann sich mitunter sogar im Recht klassischer internationaler Organisationen, die nicht auf integrierte Zusammenarbeit bauen, stellen. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass diese Problematik beim Aufbau der Gemeinschaft in ganz besonderem Maße zu Tage tritt. Das Modell sui generis eines nicht klar umrissenen politischen Gebildes führt zu recht unterschiedlichen Formen der Abgabe von Zuständigkeiten durch die Mitgliedsstaaten, ohne indessen das Prinzip ihrer Souveränität in Frage zu stellen. In Wirklichkeit kommt man der Existenz echten Hoheitsverzichts der Staaten am nächsten,21 wenn man nicht davon ausgeht, dass eine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft22 eine äußerst seltene Ausnahme bildet (Bei den Grundrechten kann natürlich nicht von ausschließlicher Zuständigkeit die Rede sein). Auf alle Fälle taucht die Problematik der Zuständigkeitsverteilung ständig auf, und zwar unabhängig von der Art der Zuständigkeit der Gemeinschaft. Die Frage der Definition und Entwicklung der Grundrechte kann sich diesem Kompetenzstreit nicht entziehen, der sich sowohl in der Innen- wie in der Außenwirkung dieser Rechte immer wieder zeigt (1.). Im Rahmen der Innenwirkung wurde diese Frage in der Wissenschaft besonders heftig erörtert. Manche Lehrmeinungen gehen von einer generellen Grundrechtszuständigkeit des Systems aus, was aber im positiven Recht abgelehnt wird (2.).
—————— 21 »Am nächsten kommen« will im übrigen keineswegs besagen, dass jede ausschließliche Zuständigkeit notwendigerweise einen totalen Hoheitsverzicht des Staates zur Folge hat. Dies erklärt sich dadurch, dass die Staaten weiterhin tätig werden können, falls die Gemeinschaft von ihrer ausschließlichen Zuständigkeit keinen Gebrauch macht. Diese Lösung erscheint durchaus verständlich, weil sonst ein rechtliches Vakuum entstehen könnte. 22 Fälle ausschließlicher Zuständigkeit sind im Gemeinschaftsrecht selten. Man findet sie z.B. in der Handels- oder Fischereipolitik.
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1. Allgegenwart des Kompetenzstreits Sicherlich zeigt sich diese Hartnäckigkeit in der Frage der Kompetenzverteilung am schärfsten bei der Innenwirkung der Grundrechte. Man darf jedoch nicht übersehen, dass diese Frage auch das Außenverhältnis, d. h. die »Politik der Verteidigung und Förderung der Menschenrechte« der Union gegenüber Drittstaaten, in mancherlei Hinsicht berührt hat. a) Hartnäckigkeit im Kompetenzstreit um die Innenwirkung der Menschenrechte Angesichts der in der Lehre vielfach vertretenen Ansicht, der zufolge die Gemeinschaft als Wertegemeinschaft in Grundrechtsfragen eine generelle Zuständigkeit besitze, bestreiten die Staaten eine derartige These immer heftiger und ergreifen allerlei Vorsichtsmaßnahmen gegen eine etwaige extensive Auslegung der besonderen Zuständigkeiten der Gemeinschaft. Die Mitgliedsstaaten sind folglich nicht bereit, ihr eigenes System zum Schutz der Grundrechte auf dem Altar der Integration und der Wertegemeinschaft zu opfern. Die Grundrechte sind Teil ihrer Verfassung, weshalb die Staaten keine Neigung zeigen, eine Einmischung des Gemeinschaftssystems und der Union zu dulden. Es ließen sich noch mehr Beispiele für diese zögerliche Haltung der Staaten anführen, die regelmäßig dann gegeben ist, wenn sie ihre eigenen Zuständigkeiten durch eine etwaige Instrumentalisierung des Schutzes der Grundrechte durch die Gemeinschaft bedroht sehen. All diese Beispiele zeigen, wie schwer es ist, die Entwicklung der Grundrechte durch und für die Rechtsordnung der Gemeinschaft mit der Achtung der Souveränität der Mitgliedsstaaten unter einen Hut zu bringen. Ein erstes Beispiel, das man heute als ziemlich überholt ansehen dürfte, stellt die Verordnung vom 29. April 199923 zur Entwicklung und Festigung der Demokratie, des Rechtsstaats und der Achtung der Menschenrechte dar. Dabei hatte der Rat (also die Mitgliedsstaaten) den Vorschlag der Kommission allein auf das Außenverhältnis, d. h. das Tätigwerden der Gemeinschaft gegenüber Drittstaaten, beschränkt und die Innenwirkung der Menschenrechte ausgeklammert. Mithin haben sich die Staaten jeder Möglichkeit der EU widersetzt, innerhalb der EU Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte zu ergreifen. Es bleibt letztlich abzuwarten, ob sich ins-
—————— 23 29. April 1999, Amtsblatt, L 120, 8. Mai 1999, S. 1 und S. 8.
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besondere durch Instrumente wie das Netz unabhängiger Sachverständiger oder auch die Europäische Grundrechtsagentur die von einer bestimmten Lehrmeinung vehement geforderte neue Betrachtungsweise durchsetzt, die von einer negativen Konzeption der Menschenrechte (Überwachung etwaiger Grundrechtsverletzungen) zu einer mehr positiven (als einem zu erreichenden Ziel)24 übergehen möchte. Ein zweites Beispiel für das bremsende Verhalten der Staaten findet sich in den Arbeiten zur Abfassung der Grundrechtscharta der Union. Die Präambel betont, dass »die vorliegende Charta unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Union und des Grundsatzes der Subsidiarität« die Grundrechte bekräftigt. In gleicher Weise wurde die Formulierung in Art. 51 zum Anwendungsbereich der Charta anlässlich der Regierungskonferenz, die der Annahme der Charta vorausgegangen war, abgewandelt. Abs. 1 bestimmt nunmehr, dass die Charta für die Mitgliedsstaaten nur insoweit gilt, als sie im Rahmen des Unionsrechts tätig werden. Folglich respektieren die Staaten die Rechte und halten sich an die entsprechenden Grundsätze je nach den jeweiligen Zuständigkeiten und unter Beachtung der Grenzen der Union. Art. 51 Abs. 2 besagt, dass die Charta »den Anwendungsbereich des Rechts der Union nicht über ihre Zuständigkeiten hinaus erweitert, weder irgendeine neue Zuständigkeit der Union begründet noch die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben abändert«. Die Sorge um Einhaltung der Zuständigkeiten zeigt sich auch in den identischen Formulierungen der Erklärung Nr. 1, welche die Regierungskonferenz anlässlich der Annahme der Charta verabschiedet hat. Manche Wissenschaftler konnten nicht umhin, in diesen ständig wiederholten, wegen der »Hartnäckigkeit gewisser Mitgliedsstaaten« eingefügten Formulierungen, stures Beharren25 zu erblicken, weil die Beziehung zwischen dem Schutz der Grundrechte durch die Gemeinschaft und dem System der Verteilung der Zuständigkeiten vor allem dank der Rechtsprechung bereits durch die bekannten Vorbehalte zugunsten der Beachtung der nationalen Zuständigkeiten zum Ausdruck gebracht sei.26 Es erscheint durchaus angebracht zu betonen, dass dieses sture Beharren Teil jener juristischen Taktik darstellt, welche die Zuständigkeiten als »in Stein gemeißelt« ansieht. Dieser Taktik bedienen sich die Staaten häufig, um bei der Zuweisung von
—————— 24 Alston/Weiler 2001: 1– 68. 25 Vgl. Priollaud/Siritzky 2008: 454 – 455. 26 Vgl. die Fälle Grant vom 17. Februar 1998 (C-249/96) und Warschauff vom 13. Juli 1989 (aff. 5 – 88).
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Zuständigkeiten an die Union auf das Prinzip zu verweisen, dass es sich um einen Spezialfall handele, und um eine allzu weite Auslegung der zugewiesenen Kompetenzen zu verhindern. Ein letztes Beispiel lässt sich in den Debatten finden, welche die Festlegung der Rechtsstellung der durch Ratsverordnung Nr. 168/200727 vom 15. Februar 2007 gegründeten Europäischen Grundrechtsagentur begleitet hatten. Natürlich ist die Agentur keine Instanz zur Definition der Menschenrechte. Gleichwohl ist ihre allgemeine Aufgabe, die Menschenrechte zu schützen und zu fördern, offensichtlich. Dennoch haben sich auch insoweit Fragen ergeben, die zweifellos mit dieser »Hartnäckigkeit in Fragen der Zuständigkeitsverteilung auf die Gemeinschaft« zu tun haben. Es kam dabei rasch zum Streit, ob die zu gründende Agentur eine »einfache Einrichtung der Gemeinschaft« oder aber im Gegenteil eine Agentur der Union werden solle. Der Entscheidung hierüber wurde großes Gewicht beigemessen. Neben der schon äußerst wichtigen Frage, ob die Agentur ihre Tätigkeit auf das besondere Gebiet des sog. »Raums der Freiheit, der Sicherheit und der Gerechtigkeit« – Bereiche, in denen oft auf drohende Beschränkungen der Freiheitsrechte verwiesen wurde – ausdehnen dürfe, tauchte die noch weit grundsätzlichere Frage auf, ob die neue Agentur etwa die Zuständigkeit erhalten solle, beratend an der Kontrolle, ob die Mitgliedsstaaten ihren Verpflichtungen nach Art. 7 des Unionsvertrags nachkämen, mitzuwirken. Im vorliegenden Rechtsrahmen sind es aber eigentlich »alle Handlungen der Mitgliedsstaaten einschließlich ihres Tätigwerdens im eigenen Wirkungskreis, also losgelöst von der schlichten Umsetzung des Unionsrechts, die auf ihre Vereinbarkeit mit den Anforderungen der Menschenrechte überprüft werden können.«28 Es ist nicht verwunderlich, dass bei der Verabschiedung der Verordnung über die Rechtsstellung der Agentur durch den Rat die Vorschläge der Kommission, die in diese Richtung gegangen waren, vom Tisch waren. Das gebetsmühlenartige Beharren auf der Kompetenzverteilung hatte wieder einmal gesiegt.
—————— 27 Amtsblatt L 53 vom 22.2.2007; vgl. auch die Stellungnahmen des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 14. Februar 2006 (Amtsblatt C vom 11.4.2006) und des Ausschusses der Regionen vom 6. Juli 2005. 28 Vgl. Schneider 2009: 485.
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b) Hartnäckigkeit im Kompetenzstreit um die Außenwirkung der Menschenrechte Die Verteidigung und Förderung der Menschenrechte erscheinen ausdrücklich als Ziel der Außenbeziehungen der Gemeinschaft: Die Politik der Entwicklungszusammenarbeit (Art. 177.2 des Gemeinschaftsvertrags) und die Politik der wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Zusammenarbeit (Art. 181.1.2 des Gemeinschaftsvertrags) verwenden die gleiche Formulierung, der zufolge jegliche Politik dieser Art »zum Ziel der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten beiträgt«. Im Gegensatz dazu findet sich keine Spur einer vergleichbaren Formulierung in der Handelspolitik, was für die Abgrenzung der Gemeinschaftskompetenzen zwischen der Handelspolitik und den oben genannten Gebieten der Politik von Bedeutung ist. Da es sich hier um Außenpolitik und gemeinsame Sicherheitspolitik handelt, zählt Art. 11 des Unionsvertrags auch die Achtung der Menschenrechte zu den Zielen dieser Politik. Mithin ist klar, dass eines der wichtigsten Instrumente auf dem Gebiet der Außenpolitik der institutionalisierte Dialog unter den Partnern ist. Diese Institutionalisierung auf allen Ebenen, auf Minister- oder höherer Beamtenebene, nimmt häufig die Form von besonderen Ausschüssen an. Dazu gehört oft ein Ausschuss für Menschenrechte. Gleichwohl ließ es sich nicht verhindern, dass es zwischen der Organisation und ihren Mitgliedsstaaten zu Differenzen über die genaue Reichweite der Zuständigkeiten der Gemeinschaft oder der Union kam. Oftmals hielten die Mitgliedsstaaten die Gemeinschaft nicht für zuständig. So vertraten gewisse Staaten die – vom Luxemburger Gerichtshof nicht geteilte – Auffassung, dass die Vereinbarung eines politischen Dialogs in einem Handelsvertrag das Verbot zur Folge haben müsste, bei Vertragsabschluss auf die Rechtsgrundlagen der Handelspolitik (wo die Gemeinschaft eine ausschließliche Zuständigkeit besitzt, eine Form der Zuständigkeit, bei welcher der Hoheitsverzicht des Mitgliedsstaates natürlich besonders deutlich wird) Bezug zu nehmen.29 Auch die Frage politischer Bedingungen war Gegenstand eines Streites über die Kompetenzverteilung zwischen einem Mitgliedsstaat und der
—————— 29 Eur. Gerichtshof am 17. Oktober 1995 im Fall Werner. In diesem Fall erinnerte der Gerichtshof daran, dass selbst die durchaus politische Zielsetzung einer Maßnahme (in diesem Fall die Vereinbarung eines politischen Dialogs im Rahmen der Außen- und Sicherheitspolitik in einem Wirtschafts- und Handelsvertrag) für sich allein genommen angesichts von Art. 131 nicht die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft in Handelsfragen aushebeln könne.
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Gemeinschaft. Portugal hatte 1996 den Gerichtshof angerufen.30 Dieser hatte am 3. Dezember 1996 entschieden, dass die Aufnahme bestimmter Voraussetzungen in einen Wirtschaftsvertrag (im vorliegenden Fall EU – Indien) als solche den Vertrag noch nicht zu einem auf gemischten Zuständigkeiten beruhenden Vertrag mache. Zu erreichen, dass ein Vertrag als auf gemischten Zuständigkeiten beruhend eingestuft wird, ist wichtig für einen Staat: Dann ist dieser Staat nämlich zusammen mit der Gemeinschaft Vertragspartei und der Vertrag kann erst in Kraft treten, wenn ihn alle Mitgliedsstaaten ratifiziert haben. Der Gerichtshof hat in dem besagten Fall ausgeführt, dass eine Bestimmung über gewisse Voraussetzungen als solche noch nicht bedeutet, dass die Menschenrechte als besonderer Bereich der Zusammenarbeit zwischen der Gemeinschaft und ihrem Vertragspartner eingeführt würden.31 Sicherlich ist in dieser Entscheidung Portugal gegen den Rat die gleiche Sichtweise zu erkennen wie in dem Gutachten II/94 zur Frage des Beitritts der Gemeinschaft zur EMRK: Die Verpflichtung der EU zur Achtung der Menschenrechte, wie sie sich in der Zielsetzung gewisser Aspekte ihrer Außenpolitik widerspiegelt, nämlich auf internationaler Ebene die Achtung der Menschenrechte zu fördern, begründet noch keine generelle Zuständigkeit der Union auf diesen Gebieten.
2. Das Fehlen einer generellen Zuständigkeit der Union im Bereich der Grundrechte Hierbei handelt es sich um eine offensichtliche, schwer zu bestreitende Tatsache. Die Mitgliedsstaaten sind freilich bereit zu akzeptieren, dass die Menschenrechte auch vom Gemeinschaftsrecht garantiert werden, sobald die Gemeinschaft tätig wird. Ebenso sind sie damit einverstanden, dass die im Gemeinschaftsrecht verankerten Grundrechte gelten, sobald sie Rechtsakte der Gemeinschaft umsetzen. Jedoch zu glauben, dass die Mitgliedstaaten bereit wären, den Schutz der Grundrechte als Ziel der Union anzuse-
—————— 30 Eur. Gerichtshof, 3. Dezember 1996, Fall Portugal gegen den Rat. 31 Mithin kann eine solche Bestimmung nicht als Rechtsgrundlage einer Entscheidung der Gemeinschaft dienen, mit der die Kriterien für die Auswahl von Projekten der Zusammenarbeit festgelegt werden. Für den Gerichtshof besteht die Zielsetzung einer solchen Bedingungsklausel lediglich darin, der Gemeinschaft, wenn nötig, eine Rechtsgrundlage für den Abbruch der Zusammenarbeit gemäß dem Recht der europäischen Verträge zu liefern
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hen und daraus abzuleiten, dass die Union auf diesem Gebiet unbegrenzte Rechtssetzungsbefugnis genieße, ist ein Mythos, der auf gewissen irrigen Annahmen beruht. Auf den ersten Irrglauben dieser Art wies das Gutachten II/94 zur Frage des Beitritts der Gemeinschaft zur Menschenrechtskonvention sehr deutlich hin. Er bestand in der Verwechslung der Pflicht zur Achtung der Menschenrechte mit einer Zuständigkeit auf diesem Gebiet. Wie die Wissenschaft jedoch mehrfach betont hat, kommt es nicht auf das Gleiche heraus zu sagen, die Gemeinschaft müsse bei der Rechtssetzung im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Menschenrechte achten, und zu behaupten, sie sei für deren Regelung (z. B. durch Angleichung der einschlägigen nationalen Vorschriften) zuständig. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, an den Beitrag des Gutachtens II/94 zu dieser Debatte zu erinnern. Darin hatte der Gerichtshof die These der Kommission verworfen, der zufolge es möglich sei, aus den zahlreichen Verweisungen auf die Menschenrechte in politischen Texten der Gemeinschaft und der Union das Vorhandensein einer diesbezüglichen transversalen Zielsetzung abzuleiten, die insbesondere den Rückgriff auf Art. 308 als Rechtsgrundlage des Beitritts gestatten würde.32 In gleicher Weise besteht die Schwierigkeit, den Unterschied genau zu erfassen, welcher zwischen den Rechten und der Kompetenz besteht, das heißt die notwendige Unterscheidung zu machen zwischen der Kompetenz und der Verpflichtung, die Rechte zu beachten. Diese Schwierigkeit hat Anlass zu Auseinandersetzungen gegeben, die auch anlässlich der Ausarbeitung der Grundrechtscharta sichtbar wurden. Weshalb, so fragten sich manche Teilnehmer, sollte man in die Charta die Bekräftigung von Rechten in Bereichen aufnehmen, für welche die Union keine Kompetenz besitze? Diese Frage wurde vor allem hinsichtlich des Verbots der Todesstrafe gestellt. Auch wenn man sich in der Tat beim gegenwärtigen Stand des positiven Rechts schwer vorstellen kann, dass die EU auf diesem Gebiet »Recht setzen« könne, so verbietet doch nichts zu denken, dass die EU
—————— 32 Wenn das Gemeinschaftsrecht solchen transversalen Zielen, die für alle Bereiche politischen Handelns gelten, einen gewissen Platz einräumt, so geschieht dies nie stillschweigend, sondern ausdrücklich, wie dies am Beispiel von Art. 3 Abs. 2 des Gemeinschaftsvertrags zur Gleichberechtigung von Mann und Frau ersichtlich wird.
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im Rahmen ihrer Zuständigkeiten etwas tun könnte, das dem Verbot der Todesstrafe zuwiderliefe.33 Ein zweiter Anlass zu Konfusion ergibt sich aus dem offensichtlich horizontalen Charakter der Pflicht der EU und ihrer Mitgliedsstaaten, bei ihrem Tätigwerden die Menschenrechte zu achten. Aber auch hier darf eine derartige horizontale Verpflichtung weder mit einer generellen ausdrücklichen Rechtssetzungsbefugnis auf diesem Gebiet noch mit einer transversalen Zielsetzung verwechselt werden, die z. B. den Rückgriff auf Art. 308 des Römischen Vertrags, eine Form schleichender Vertragsrevision, gestatten würde. Um diese komplexe Frage des für das Gemeinschaftsrecht und sein System der Zuständigkeitsverteilung typischen Verhältnisses zwischen Menschenrechten und Zuständigkeit abzuschließen, sei daran erinnert, dass das Fehlen einer generellen Zuständigkeit der EU, auf dem Gebiet der Grundrechte tätig zu werden und Recht zu setzen, nicht mit dem Ausschluss jeglicher Zuständigkeit gleichgesetzt werden kann. Derartige Zuständigkeiten der Union gibt es aus vielerlei Gründen, so insbesondere etwa aufgrund der Dynamik der Integration, auch im Wirtschaftsbereich. Letztere kann in mancherlei Hinsicht die Union dazu bewegen, zur Verwirklichung ihrer Ziele Grundrechte zu definieren und zu entwickeln.
III. Die Definition und Entwicklung der Grundrechte aufgrund der Dynamik der Integration und des Fortschritts beim Aufbau der Gemeinschaft Die Integration, auch die wirtschaftliche, erweist sich als Quelle der Definition und Entwicklung der Grundrechte, wenn man feststellt, dass die Gemeinschaft auf diesem Gebiet besondere und spezielle Kompetenzen entwickelt, um ihren Zielen, vor allem dem Ziel des Aufbaus eines einheitlichen Wirtschaftsraums, gerecht zu werden (1.). Andererseits hat auch die
—————— 33 Vgl. Jacque 2004: 1007–1028. Nach dem Hinweis auf eine vergleichbare Debatte anlässlich der Verabschiedung der Bill of Rights stützt sich die Verfasserin hinsichtlich der Grundrechtscharta auf das Beispiel des nach den Anschlägen vom 11. September zwischen der EU und den USA geschlossenen Auslieferungs- und Rechtshilfeabkommens, welches eine Auslieferung nach Amerika wegen der dem Auszuliefernden drohenden Todesstrafe ausschließt.
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fortschreitende politische Integration die Union veranlasst, über mit der immer enger werdenden politischen Union einhergehende Bedrohungen von Freiheitsrechten nachzudenken und solche Bedrohungen abzuwehren (2.). Bei dieser kurzen Betrachtung der Integrationsdynamik sollte man auch den bedeutenden Beitrag der Grundrechtscharta nicht übersehen (3.).
1. Die Definition und Entwicklung der Grundrechte aufgrund der Dynamik des einheitlichen Wirtschaftsraums Gewisse Zuständigkeiten der Union in Menschenrechtsfragen gibt es bereits. Gestützt auf das Spezialitätsprinzip ergeben diese Zuständigkeiten sich aus den Bedürfnissen der wirtschaftlichen Integration, deren Verwirklichung das System in gewisser Weise dazu bringt, auch die Menschenrechte zu definieren und zu entwickeln. Manche dieser Kompetenzen sind direkte Zuständigkeiten, wie etwa, wenn es darum geht, die Gleichstellung von Mann und Frau zu erreichen oder Diskriminierung zu untersagen. Andere Kompetenzen hingegen sind viel indirekter und finden ihren Ausdruck in Verordnungen, welche die Achtung der Menschenrechte bei der Wahrnehmung besonderer wirtschaftlicher Zuständigkeiten garantieren. a) Die Dynamik des direkten Schutzes der Grundrechte Auf die Zuweisung besonderer direkter Zuständigkeiten in Menschenrechtsfragen durch die Verträge wurde bereits hingewiesen, so z. B. die Zuständigkeit zur Untersagung von Benachteiligungen nach Art. 13 des Gemeinschaftsvertrags oder zu Maßnahmen zur Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 3.2 des Gemeinschaftsvertrags). Es gibt auch noch andere Beispiele wie etwa den Schutz persönlicher Daten nach dem im Amsterdamer Vertrag eingefügten Art. 286.34 An einem bestimmten Abschnitt des Aufbaus der Gemeinschaft schien es in der Tat nötig, Regeln für Daten festzulegen, die von den Institutionen der Gemeinschaft gespeichert wer-
—————— 34 Wie Jacque 2004: 1007–1028 unterstreicht, gab es in der Tat keine Rechtsgrundlage, die es gestattet hätte, besondere Pflichten für die Behandlung von durch die Institutionen gespeicherten Daten festzulegen, während das Gemeinschaftsrecht aufgrund von Art. 95 (Angleichung der Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten, sofern unterschiedliche Gesetzgebung den gemeinsamen Markt behindert) den Erlass von Rechtsvorschriften gegenüber den Mitgliedsstaaten erlaubt.
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den, und sie in Einklang mit dem Recht auf Schutz der Privatsphäre zu bringen. Diese Beispiele, die direkt den Schutz der Menschenrechte bezwecken, sind zu unterscheiden von den Fällen, in denen die Gemeinschaft nur über eine spezielle indirekte Kompetenz verfügt. b) Die Dynamik des indirekten Schutzes Hier handelt es sich um den Fall, dass die Gemeinschaft eine besondere Zuständigkeit besitzt, die nicht den Schutz der Grundrechte zum Ziel hat, jedoch das System der Gemeinschaft zum Handeln ermächtigt. Da auch die Gemeinschaft die Menschenrechte zu achten hat, muss sie ein doppeltes Ziel verfolgen: Zum Ersten hat sie darauf zu achten, dass sie im Rahmen ihrer Zuständigkeiten, besonders hinsichtlich der Wirtschaftsunion, keine Bestimmungen erlässt, die den Menschenrechten zuwiderlaufen. Zum Zweiten muss sie dafür sorgen, dass keine ihrer Maßnahmen die Menschenrechte beeinträchtigen könnten. Es geht hier um den Fall, dass eine Maßnahme der Gemeinschaft, die nicht von vornherein mit irgendeinem Recht oder irgendeiner Grundfreiheit unvereinbar wäre, bei ihrer Umsetzung in der Praxis eventuell zu einer Beeinträchtigung führen könnte. Daraus ergibt sich für die Union die Pflicht, im Rahmen ihrer speziellen Zuständigkeit (freier Verkehr oder freier Wettbewerb) alles Nötige zu unternehmen, um dies zu verhindern.35 Um auf Gemeinschaftsebene diesen Grundrechtsschutz zu garantieren, kann die Union auf Auslegungsklauseln zurückgreifen. Dies geschah z. B. mit der Verordnung vom 7. Dezember 1997,36 die zur Aufrechterhaltung des freien Waren- oder Dienstleistungsverkehrs erlassen wurde, der durch die Proteste von Produzenten behindert worden war. Diese Verordnung, welche die Pflichten der Staaten zur Wiederherstellung des freien Verkehrs im Fall solcher Behinderungen festlegt, enthält eine Klausel, der zufolge die Verordnung nicht als Beeinträchtigung der Ausübung der von den Mitgliedsstaaten geschützten Grundrechte ausgelegt werden darf. Hierbei ging es offensichtlich um das Recht zu kollektivem Handeln und vor allem
—————— 35 Hier zeigt sich deutlich, dass die Bestimmung, welche die Gemeinschaft zum Handeln ermächtigt, eine spezielle Kompetenz ist, bei deren Wahrnehmung die Grundrechte zu achten sind, nicht jedoch eine hypothetische und utopische Allgemeinzuständigkeit in Grundrechtsfragen. 36 Vgl. die Verordnung 2679 des Rats, die mitunter »Erdbeerverordnung« genannt wird, weil sie im Zusammenhang mit den Protesten französischer Bauern stand, die spanische Lastwagen aufhielten, um ihre Ladung zu zerstören.
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um das Streikrecht. Dieses Beispiel ist insofern einzigartig, als bekanntlich Art. 137, der die Sozialpolitik zum Gegenstand hat und der die Gemeinschaft ermächtigt, Richtlinien über Mindestvorschriften zu erlassen, ausdrücklich das Streikrecht und das Aussperrungsrecht von seinem Anwendungsbereich ausnimmt. Natürlich besitzt die Gemeinschaft keine Rechtssetzungsbefugnis auf diesem Gebiet, sie kann sich jedoch auf ihre Harmonisierungszuständigkeiten berufen, um Grundrechtsverletzungen zu unterbinden. In anderen Fällen wird der Handlungsspielraum der Gemeinschaft noch dadurch verstärkt, dass das Gemeinschaftsrecht sich nicht auf eine bloße Auslegungsklausel beschränkt, sondern Ausnahmeregeln vorsieht, die ganz bewusst die Verwirklichung eines Freiheitsrechts im Auge haben. Dies gilt etwa für einen Rechtsakt der Gemeinschaft im Rahmen des Binnenmarkts, der das staatliche Schlachtviehmonopol37 betraf und mit Rücksicht auf gewisse religiöse Praktiken Ausnahmen von den Schlachtregeln der Gemeinschaft vorsah. Einem informierten Beobachter dürfte nicht entgangen sein, dass ein Rechtsakt, der Wettbewerbsverzerrungen verhindern will und wegen der Religionsfreiheit Ausnahmen vorsieht, nicht einem Rechtsakt gleichgesetzt werden kann, der die Definition und Regelung der Religionsfreiheit zum Ziel hätte. Schließlich gibt es eine dritte Art von Fällen, bei denen man auf Rechtsakte der Gemeinschaft stößt, die bereits als solche Grundrechte regeln wollen und die erlassen wurden, um Unterschiede im Recht der Mitgliedsstaaten zu beseitigen, die das Ziel eines einheitlichen Wirtschaftsraums behindert hätten. Es kam daher zu besonderen Vorschriften, die zwar die Grundrechte betrafen, aber auf der Rechtsgrundlage zur Harmonisierung der nationalen Gesetzgebung beruhten. Derartige Vorschriften bezwecken keinesfalls eine Angleichung der Grundrechte (und somit eine Ersetzung der Grundrechtsdefinition in der nationalen Gesetzgebung durch eine solche der Gemeinschaft), sondern wollen lediglich verhindern, dass nationale Unterschiede in der Definition der Grundrechte die wirtschaftliche Integration erschweren. Als Beispiele könnte man die Richtlinie vom 3. Oktober 1989 zum grenzüberschreitenden Fernsehen, die sich auf die Niederlassungsfreiheit stützt (Art. 52, inzwischen Art. 43 des Gemeinschaftsvertrags), oder die Richtlinien zum Schutz persönlicher Daten nennen. Die erstgenannte
—————— 37 Vgl. Richtlinie 93/119/CE vom 22. Dezember 1993 zum Schutz von Schlachttieren.
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Richtlinie will Behinderungen der freien Verbreitung von Fernsehsendungen unterbinden. Sie möchte im Namen der Meinungsfreiheit und der Ideenvielfalt gewisse Grenzen setzen, etwa Werbung verbieten. Es geht dabei um die Verhütung ungewollter Auswirkungen übertriebener Marktlogik, die anstelle von Informationen Unterhaltungssendungen begünstigt, sowie um die Unterbindung übertriebener Konzentration oder von Werbemethoden, die Grundfreiheiten beeinträchtigen könnten. Die Richtlinien vom 24. Oktober 199538 und vom 12. Juli 200239 sind insoweit noch bemerkenswerter, als sie unmittelbar eine Angleichung der nationalen Vorschriften zum Schutz persönlicher Daten bezwecken. Gleichwohl waren die Anforderungen des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts letztlich Anlass und Zweck des Tätigwerdens der Gemeinschaft. Unterschiede in der nationalen Gesetzgebung bei der Definition des Rechts auf Schutz persönlicher Daten können tatsächlich den freien Datenaustausch behindern und den Wettbewerb verfälschen. Dies ist folglich der Grund des Handelns der Gemeinschaft und nicht irgendeine generelle Grundrechtskompetenz.
2. Die Definition und Entwicklung der Grundrechte aufgrund der Dynamik der fortschreitenden politischen Union Der Aufbau des europäischen Freiheits- und Sicherheitsraums sowie die Entwicklung der Außen- und Sicherheitspolitik bieten Beispiele einer Stärkung der Menschenrechte, die vorgenommen wurde um sicherzustellen, dass die Union die Grundrechte achtet.
—————— 38 Siehe Richtlinie 95/48/CE vom 24. Oktober 1995. 39 Siehe Richtlinie 2002/58/CE vom 12. Juli 2002, die den gleichen Zweck auf dem Gebiet der elektronischen Kommunikation verfolgt. In ihr wird oft eine bedeutsame Stärkung der Grundrechte erblickt. Sie war tatsächlich Gegenstand eines Verfahrens gemeinsamer Entscheidung, was dem Parlament ermöglichte, in diesem Sinn verstärkten Druck auszuüben. Die Richtlinie bezweckte den freien Telefonverkehr und wollte Telefongespräche vor dem Abhören schützen, gestattete jedoch zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gewisse Ausnahmen. Die Beschränkungen des Rechts auf Privatleben sind jedoch derart detailliert umrissen, dass die Mängel der ersten Richtlinie von 1995 erkennbar werden. Beschränkungen müssen in einer demokratischen Gesellschaft mittlerweile notwenig, geeignet und verhältnismäßig sein. Die Gründe für Beschränkungen werden sehr viel präziser aufgezählt (nationale Sicherheit, Verteidigung und öffentliche Sicherheit, Verhütung, Feststellung, Ermittlung und Verfolgung von Straftaten). Außerdem müssen einschränkende Maßnahmen zeitlich begrenzt bleiben.
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a) Dynamische Entwicklung der Grundrechte und Europa als sogenannter »Raum der Freiheit, der Sicherheit und der Gerechtigkeit« Die vom Amsterdamer Vertrag vorgenommene Umkehr der Funktion der Menschenrechte bildet den Ursprung eines echten Paradigmenwechsels auf dem Gebiet der Justiz- und Innenpolitik (Kürzel JAI), die nunmehr die Bezeichnung »Raum der Freiheit, der Sicherheit und der Gerechtigkeit« führt, womit bestätigt werden soll, dass die fortschreitende Tätigkeit der Union in Bezug auf die Anforderungen der Sicherheit und Gerechtigkeit sich nicht nachteilig auf die Achtung der Grundrechte auswirken darf. Informierte Beobachter haben deshalb betont, dass »Schwert und Schild im Strafrecht« zusammengehören.40 Im dritten Pfeiler der Union finden sich mithin zahlreiche Maßnahmen der oben genannten Art, bei denen die Union im eigenen Wirkungskreis tätig wird, um ihrer Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang sei sowohl auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsentscheidungen41 der Mitgliedsstaaten als auch auf seine Grenzen hingewiesen. Was diesen Grundsatz angeht, wurde oft auf seinen revolutionären Charakter verwiesen, weil er dem Richter verbietet, die Vollstreckung einer Gerichtsentscheidung eines anderen Mitgliedsstaates mit der Begründung zu verweigern, dass diese nicht im Einklang mit dem heimischen Recht stehe. Bedeutet die Anerkennung eines solchen Prinzips nicht im Namen der Integration eine Art gegenseitigen Vertrauens darauf, dass trotz aller Unterschiede des nationalen Rechts in jedem Fall auch die Menschenrechte geschützt blieben? Zugleich kennt dieser Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auch Grenzen, die das Unionsrecht selbst umrissen hat, allerdings in noch unvollständiger Weise.42 Das sind genau die Grenzen, die es dem Vollstreckungsrichter erlauben, die Anerkennung und Vollstreckung einer Gerichtsentscheidung
—————— 40 De Kerchove 2008: 269–278, Fußnote 9. 41 Vgl. die Rahmenentscheidung 2002/5844/JAI vom 13. Juni 2002 zum europäischen Haftbefehl; vgl. auch die Rahmenentscheidung 2003/577/JAI vom 22. Juli 2003 zum Vollzug von Entscheidungen über das Einfrieren von Guthaben sowie die Rahmenentscheidung 2005/214/JAI vom 24. Februar 2005. 42 Vgl. De Kerchove 2008: 269–278, der darauf hinweist, dass die auf Verletzung der Grundrechte gegründete Ausnahme von der Vollstreckungspflicht durch die Rahmenentscheidungen in schockierender Weise definiert worden sei, da diese nur dann eine Ausnahme vorsehen, wenn es sich um die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen handele.
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abzulehnen, wenn diese »den Gedanken nahelegt, dass Grundrechte verletzt worden sein könnten«. In gleicher Weise hat die Union auf dem Weg über die Kommission rasch begriffen, dass ein solches Prinzip eine minimale Angleichung des Strafrechts bedingt. Das hat z. B. dazu geführt, eine Rahmenentscheidung zu den Verfahrensgarantien des Angeklagten im Strafprozess vorzuschlagen. Man sieht an diesem besonderen Beispiel sehr deutlich, dass es im Namen der Integration und ihrer besonderen Vertiefung (hier im Bereich der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit) eine Art zwingender Bindung gibt, nämlich zwischen der Pflicht zur Achtung der Menschenrechte auf der einen Seite und ihrer Definition und Entwicklung durch die Union auf der anderen Seite. Diese zwingende Verbindung muss sich ihren Weg zwischen den verschiedenen Rechtstexten bahnen, der gegenseitigen Anerkennung und der Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften.43 Ein weiteres Beispiel für den Beitrag des »Raums der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit« zur Definition und Entwicklung der Menschenrechte zeigt sich bei der Definition des Grundsatzes der Verfügbarkeit, dem zufolge von Polizeidienststellen gesammelte Daten allen Dienststellen der anderen Mitgliedsstaaten uneingeschränkt zugänglich sein müssen. Auch hier geht die Bekräftigung dieses Grundsatzes notwendigerweise einher mit dem Bemühen der Union, zu einer Angleichung der beim polizeilichen und gerichtlichen Datenaustausch zu beachtenden Vorschriften zum Schutz persönlicher Daten zu gelangen. Man kann sich derzeit zwar nur schwer vorstellen, dass es bereits eine echte Außenpolitik für den europäischen »Raum der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit« gibt, doch lassen sich gewisse Voraussetzungen hierfür anführen, die ebenfalls die Definition und Entwicklung der Menschenrechte berühren können. In diesem Zusammenhang kann man z. B. auf die Schutzklauseln gegen die Verhängung der Todesstrafe verweisen, welche
—————— 43 Wie informierte Beobachter nicht versäumt haben zu unterstreichen, stellen die gegenseitige Anerkennung und die Angleichung des nationalen Rechts keine Alternativen dar, weil beide unterschiedliche Ziele verfolgen. Die Harmonisierung ermöglicht die Vermeidung von Unterschieden im nationalen Recht, von denen Straftäter und Verbrecher profitieren könnten. Allerdings kann eine solche Angleichung nicht im großen Rahmen erfolgen, ohne den Grundsatz der Subsidiarität in Frage zu stellen. Was den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung betrifft, so darf dieser nicht dazu dienen, die Harmonisierung zu verhindern oder zu bremsen, wenn er die nationalen Systeme unter Berücksichtigung ihrer Unterschiede unter einen Hut zu bringen versucht.
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die Union in ihren Auslieferungs- und Rechtshilfeabkommen mit ihren Partnern unterzubringen versucht.44 b) Dynamische Entwicklung der Grundrechte der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Politik der Zusammenarbeit Abgesehen von dem bereits erwähnten Beispiel des Handelns zur Verteidigung und Förderung der Grundrechte mit Hilfe des politischen Dialogs hat sich die EU in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik sowie ihrer Politik der Zusammenarbeit in jüngster Zeit vorgenommen, menschenrechtliche Aspekte besonders zu betonen, was eine absolut neue Entwicklung darstellt. Es handelt sich dabei um sog. »intelligente Sanktionen«45, bei denen die Union – insbesondere im Kampf gegen den Terrorismus – entweder aufgrund einer Entschließung des Sicherheitsrats oder in eigener Verantwortung gegen Privatpersonen oder Gruppen Maßnahmen wie das Einfrieren ihrer Konten verhängt. Sehr bald stellte sich die Frage der Achtung der Grundrechte der von solchen Maßnahmen betroffenen Personen durch die Union. So kam es zu einem diesbezüglichen Verfahren vor dem Gerichtshof,46 was eigentlich niemand erwartet hatte, da der Unionsvertrag vom Prinzip der gerichtlichen Immunität der Union ausgegangen war, sofern Handlungen der Union die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Politik der Zusammenarbeit betreffen. Es ist wichtig, hier darauf hinzuweisen, dass ein Tätigkeitsgebiet wie die Außen- und Sicherheitspolitik und die Politik der Zusammenarbeit, bei dem man selbstverständlich unterstellt hatte, dass die Union ganz allgemein vor Gerichten Immunität genieße, plötzlich von den Anforderungen zur Achtung der Menschenrechte irgendwie »eingeholt« wurde. Zu den Menschenrechten zählt ja auch das Recht auf Anhörung und Verteidigung, das Recht auf Eigentum, die Meinungsfreiheit oder die Vereinsfreiheit. Weiter ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass der Schutz dieser Rechte sich zu Anfang erst über die Rechtsprechung entwi-
—————— 44 Manchmal nennt man diese Art Klauseln »litauische Klauseln«. Den USA war es nicht gelungen, sie in den beiden Abkommen mit der EU vom 25. Juni 2003 streichen zu lassen. 45 Man nennt diese Sanktionen »intelligent« im Gegensatz zu staatlichen Sanktionen, die in der Praxis oft ganz ungewollte Auswirkungen gezeigt hatten und vor allem die unschuldige Bevölkerung für die ihren totalitären Regierungen vorgeworfenen Verbrechen büßen ließen. 46 Vgl. die beachtenswerte Synthese dieser Fälle durch Rigaux/Simon 2007.
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ckelt und erst allmählich gleichsam Verfassungsrang angenommen hat. Der Entwurf des Verfassungsvertrags sowie der Lissabonner Vertrag verpflichteten die Union ausdrücklich, bei allen restriktiven Maßnahmen die nötigen rechtlichen Garantien vorzusehen (Art. 315.3 des Vertrags). Ebenso wurde ausdrücklich die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Akte festgelegt (Art. 275 des Vertrags).
3. Die »Krönung« der Grundrechtscharta Es braucht hier nicht besonders darauf hingewiesen zu werden, wie sehr die Grundrechtscharta als wesentlicher Schritt zur Definition und Entwicklung der Grundrechte in der oft kontroversen Geschichte der Grundrechte in der Union anzusehen ist.47 Wenn es sich auch nicht vermeiden ließ, dass es im Lauf der Geschichte zu Kompetenzstreitigkeiten kam, so profitierte die Charta doch von der wachsenden Bedeutung der politischen Union, die nach Ansicht mancher mit Recht danach strebte, ihr System durch einen Verfassungstext zu untermauern. Eine derartige Verfassung war jedoch nicht ohne eine ihr eigene »Erklärung der Menschenrechte« vorstellbar. Natürlich konnte ein solcher Text, der Gegenstand zahlreicher Untersuchungen war, niemals als erschöpfend gelten. Folglich entschied man sich in recht subjektiver Weise für einige der Aspekte, welche die Definition der in der Charta geschützten Rechte berühren. Diese Definition beweist eine gewisse moderne Einstellung. Gleichzeitig beweist die Charta auch den Willen der Union und ihrer Mitgliedsstaaten, letztendlich den Schutz der in der Charta verbrieften Grundrechte nicht erstarren zu lassen. a) Die zeitgemäße Natur der in der Charta verbrieften Grundrechte Sie ergibt sich in erster Linie aus der Synthese, welche die Charta zwischen allen Menschenrechtsgenerationen herstellt, seien es Bürgerrechte oder politische Rechte oder wirtschaftliche und soziale Rechte und gewisse Rechte der mitunter sog. dritten Generation (Recht auf Umweltschutz; Rechte, die mit der technischen Entwicklung – etwa der Bioethik – zusammenhängen; Schutz persönlicher Daten). Der Wunsch, all diese Rechte
—————— 47 Schneider 2002: 636–647; Schneider 2003: 373–389; Schneider 2007: Punkt 66 ff.
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in einem Grundrechtskatalog zusammenzubringen, ist verständlich. Dieser Wunsch nach Vollständigkeit geht jedoch mitunter einher mit einer unklaren Zuordnung der Rechte zu bestimmten Kategorien, wie gewisse Wissenschaftler angemerkt haben, welche die Aufnahme eines Kapitels über das Bürgerrecht bedauerten.48 Schließlich handelt es sich aber trotz gewisser Unvollkommenheiten (»Wer zu viel auf einmal einpacken will, packt schlecht.«) um einen Text, der von der Unteilbarkeit der Menschenrechte ausgeht, wie sie von gewissen Wissenschaftlern verteidigt wird. Hierzu sei besonders darauf hingewiesen, dass die wirtschaftlichen und sozialen Rechte in besondere Rechtstexte mit abgeschwächter Schutzfunktion verlagert worden waren, was manche bedauerten. Die zeitgemäße Natur der verbrieften Rechte rührt auch davon her, dass zahlreiche dieser Rechte neu und zeitgemäßer definiert worden waren, meist mit Rücksicht auf ihre dynamische Auslegung durch die Gerichte oder die Entwicklung der Gemeinschaftsverträge. Das bedeutendste Beispiel bietet zweifellos das Recht auf Heirat, dessen Definition auch die Heirat homosexueller Paare umfasst, falls die nationale Gesetzgebung dies zulässt. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der Grundsatz der Gleichheit von Mann und Frau, der auf sämtliche Gebiete ausgedehnt wurde, wie dies ausdrücklich unter Abänderung des Römischen Vertrags im Amsterdamer Vertrag vorgesehen war. Ein weiteres Zeichen moderner Sichtweise ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen Rechten und Grundsätzen in der Charta. Diese Differenzierung war das Ergebnis des Kompromisses, den die Väter der Charta auf Initiative von Guy Braibant, dem Vertreter der französischen Regierung, gefunden hatten, um aus einer Sackgasse herauszufinden, in der sie festzustecken drohten. Dies war unter dem Druck der Deutschen und Briten geschehen, die aus recht unterschiedlichen Gründen49 die Aufnahme gewisser sozialer
—————— 48 Vgl. dazu Arnold 2000, der unterstreicht, dass viele politischen Rechte (aktives und passives Wahlrecht hinsichtlich des Europäischen Parlamentes, individuelle Rechte gegenüber den Gemeinschaftsinstitutionen), die in der Charta festgeschrieben sind, in nationalen Rechtsordnungen nicht als Menschenrechte gelten, sondern als einfache verfassungsmäßige Rechte. 49 Nach deutscher Lehrmeinung gilt als Recht nur das einklagbare subjektive Recht, während britische Juristen sich keine »Rechte ohne Rechtsmittel, d.h. ohne die Möglichkeit, sie auch gerichtlich geltend zu machen«, vorstellen können. Es ist im Übrigen bekannt, dass Großbritannien sich besonders heftig gegen einen Beitrag der Charta zur Entwicklung und Stärkung sozialer Rechte gewehrt hat.
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Rechte in die Charta ablehnten, weil sie diese Rechte nicht für einklagbar hielten. Die mit der Ausarbeitung der Charta beauftragte Versammlung (sog. Konvention) konnte dem immer wiederkehrenden Streit über die Einklagbarkeit solcher Rechte nicht ausweichen, überwand den Streit jedoch durch den Rückgriff auf Grundsätze, die von Rechten zu unterscheiden seien. Grundsätze sind als Aufruf zu ihrer Verwirklichung zu verstehen. Die Staaten werden aufgefordert, Bestimmungen zu erlassen, die diese Rechte einklagbar machen. Die Grundsätze sollen dazu dienen, das Schreckgespenst solcher Rechte, deren Verwirklichung den Staaten unerträgliche finanzielle Lasten aufbürden würden, zu bannen. Nach den Worten von Guy Braibant sind Grundsätze weniger als klassische Rechte, weil es erst weiterer Zwischenschritte bedarf, um sie einklagbar zu machen, wohl aber mehr als bloße politische Ziele insofern, als sie von einer Art »normativer Einklagbarkeit« profitieren, der zufolge das hinter dem Grundsatz verborgene Recht doch in irgend einer Form berücksichtigt werden muss, weil es den öffentlichen Behörden (den nationalen Stellen hinsichtlich des heimischen Rechts, der Union hinsichtlich des Gemeinschaftsrechts) untersagt ist, bei ihren Rechtsakten diese Grundsätze zu missachten. Dank dieser Kompromisslösung erscheint der Umfang der von der Charta erfassten sozialen Rechte doch recht beachtlich,50 selbst wenn er oftmals überbewertet wurde.51 Sicher ist die moderne Sichtweise der Charta nur eine relative, und zwar insoweit, als sie grundsätzlich keine neuen Rechte begründet52 und lediglich bereits anderweitig verbriefte Rechte kodifiziert. Man muss aber zuge-
—————— 50 Vgl. die von Priollaud/Siritzky 2008: 454–455 genannten Beispiele: das Recht auf Information und Anhörung der Arbeitnehmer, das Recht auf Verhandlung zwischen den Tarifparteien, das Streikrecht, das Recht auf Zugang zur Arbeitsvermittlung, Schutz gegen unrechtmäßige Kündigung, Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, Recht auf Inanspruchnahme von Dienstleistungen allgemeiner Bedeutung. 51 Vgl. Jacque in der oben angeführten Veröffentlichung: Was die sozialen Rechte anbelangt, so folgt der Wortlaut der in der Charta genannten Rechte fast stets dem der nationalen Gesetzgebung. Wo dies nicht der Fall ist, dann, weil das fragliche Recht bereits Gegenstand von Vorschriften der Gemeinschaft ist. In letzterem Fall ist es die Vorschrift der Gemeinschaft und nicht die Charta, welche die Verpflichtung des Staates begründet, dieses im Recht der Gemeinschaft verankerte Grundrecht im Rahmen seiner Durchführungsbestimmungen zu achten. 52 Diese, durchaus erörternswerte Behauptung lässt sich aus zahlreichen Faktoren ableiten: Es sei vor allem an das Mandat erinnert, das der mit der Ausarbeitung der Charta beauftragten Versammlung (Konvention) erteilt worden war, sowie an die Präambel des Zusatzprotokolls zur Anwendbarkeit der Charta in Polen und im Vereinten Königreich, wo ausdrücklich betont wurde, dass die Charta keine neuen Rechte begründe.
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ben, dass es eine Grauzone gibt zwischen dem Versuch, bestehende Rechte zu kodifizieren, und dem Bemühen, bestimmte Rechte aufgrund vielfältiger Anregungen (Rechtsprechung, diverse internationale Rechtstexte, Verfassungspraxis der Mitgliedsstaaten) neu zu formulieren, was zweifellos einer Kodifizierung erst noch gesetzlich zu verankernder Rechte näherkommt. b) Weiteres Offenhalten fortschreitender Entwicklung der Menschenrechte Es wäre falsch zu glauben, dass die Verabschiedung der Grundrechtscharta nach ihrer durch das Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags erfolgten Aufnahme ins positive Recht die einzige Bezugsquelle zum Schutz der Grundrechte in der Union bilde. Gewiss wurde ihr die Stellung primären Rechts zuteil, aber dies hat keineswegs das Verschwinden anderer Grundrechtsquellen im Rechtssystem der Gemeinschaft zur Folge, wie Art. 6 des Lissabonner Vertrags betont. Letzterer verweist in der Tat mit Hilfe allgemeiner Rechtsgrundsätze sicherlich auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention, aber auch auf die Verfassungspraxis der Mitgliedsstaaten. Abgesehen von der Frage, welche Auswirkungen die Vielfalt der Rechtsquellen auf die Rolle einer jeder dieser Rechtsquellen in der Praxis hat, sollte man nicht übersehen, welche Entwicklungsmöglichkeiten in jeder dieser Quellen steckten. Über ihre Interpretation durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze hinaus ist hier vor allem ihre Fähigkeit von Interesse, die Entwicklung der Menschenrechte durch die Gesetzgebung zu beschleunigen. So soll die Praxis der Mitgliedsstaaten nicht in Erstarrung verharren. Vielmehr sollten sowohl ihre Verfassungsbestimmungen als auch ihre Verfassungsrechtsprechung dem Wandel unterliegen. Über die künftige treibende Kraft der Rechtsprechung bei Auslegung der Charta hinaus können die Grundrechte in der Union auch von der Auslegung allgemeiner Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und der Verfassungspraxis der Staaten profitieren. Das eine wie das andere kann zur Verbriefung neuer Rechte wie zu neuerlicher Ausdehnung bestehender Rechte führen.
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Schlussbetrachtung Zum Abschluss dieses (freilich etwas verkürzten) Überblicks über die vorliegende Problematik, um den wir gebeten worden waren, bedarf es keines weiteren Hinweises darauf, dass die Integration der Gemeinschaft nicht ohne Auswirkung auf die Definition und Entwicklung der Menschenrechte und die subtile Beziehung zwischen ihnen und der staatlichen Souveränität oder besser den Souveränitäten bleiben kann. So war die Union wohl oder übel imstande, eine Art negativer Integration in Fragen der Menschenrechte zu entwickeln, bei der die Definition dieser Rechte sich in Verboten ausdrückte, welche die Mitgliedstaaten verpflichteten, gewisse Dinge nicht zu tun. Dazu sind sie aufgrund des gemeinsamen Marktes und ihrer eigenen Bemühungen um den Schutz der Menschenrechte auch durchaus bereit. Deutlich hiervon zu unterscheiden ist die Frage einer positiven Integration der Grundrechte, welche die Union im Rahmen konstruktiver Maßnahmen, um die nationale Politik zum Schutz der Menschenrechte in ihrer Gesamtheit unter einen Hut zu bringen, in Angriff nehmen könnte. Freilich kann es geschehen, dass die Mitgliedsstaaten ebenso wie die europäischen Völker sich dabei in ihrer Identität »zutiefst verletzt« fühlen, was in mancherlei Hinsicht die Grenzen der Idee von der Wertegemeinschaft aufzeigt. Der Streit um die wirtschaftlichen und sozialen Rechte, der die Arbeiten zur Ausarbeitung der Grundrechtscharta »vergiftet« hatte, hat deutlich gezeigt, dass die Staaten wenig Neigung zeigen, es der Ebene der Gemeinschaft zu überlassen festzulegen, »worauf ihre Bürger ein Recht haben« sollten. Beruhte die seinerzeitige Ablehnung des Lissabonner Vertrags durch die irische Bevölkerung nicht auf der ansteckenden Furcht, im Namen der Menschenrechte eine positive Verpflichtung auferlegt zu bekommen, nämlich die Anerkennung des Rechts auf freiwilligen Schwangerschaftsabbruch? Zweifellos führt die delikate Beziehung zwischen der Entwicklung der Menschenrechte und der Souveränität beim Aufbau der Gemeinschaft und ihrem komplexen System der Kompetenzverteilung in gewisser Weise aufs Neue zu der von dem Moralprediger La Rochefoucauld vertretenen Überzeugung, der zufolge »unsere Tugenden allzu oft heimliche Laster« sind.
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CATHERINE SCHNEIDER
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Kommentar Christoph Möllers
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Souveränitätstransfer, Kompetenzen und Menschenrechten auf der Ebene der Europäischen Union setzt auch eine Klärung des Freiheits- und Grundrechtsverständnisses voraus: Bezeichnet man mit den Begriffen Souveränitätstransfer und Kompetenztransfer in aller Regel die Weitergabe von Gesetzgebungsbefugnissen von der mitgliedstaatlichen Ebene hin zur Europäischen Union, dann ist zu klären, inwieweit ein solcher Transfer überhaupt für die Grundrechte von Belang sein kann: In aller Regel dürfte die Weitergabe von Kompetenzen nämlich solange ohne Bedeutung für die Grundrechte sein, wie der Vollzug der transferierten Gesetzgebung weiterhin auf der mitgliedstaatlichen Ebene liegt (1., 2.), dies gilt freilich nicht in gleicher Weise für eine offensive positive Grundrechtspolitik. 1. Genau dies lässt sich in den frühen Phasen der europäischen Integration – wie übrigens auch in den Anfängen der Vereinigten Staaten – erkennen. Europäische Grundrechte – in Abgrenzung zu den europäischen Grundfreiheiten – spielen im Unionsrecht keine Rolle, weil durch das Unionsrecht induzierte Eingriffe in individuelle Freiheitssphären durch nationale Verwaltungen geschehen und durch nationale Grundrechte begrenzt werden. Die seit den 1970er Jahren vom EuGH prononcierte grundrechtsschützende Dimension des Unionsrechts ist schon aus diesem Grund zunächst nur in sehr wenigen Fällen relevant geworden. Es handelte sich, wie die Wissenschaft auch bald erkannte, nicht zuletzt um eine Legitimationsstrategie eines expansiven Gerichts. Ein zweiter Grund für die zunächst sehr beschränkte Bedeutung von Grundrechten lag auf den Regulierungsgebieten der europäischen Integration. Die wechselseitige Öffnung der nationalen Märkte stellte in den allermeisten Fällen keine Beschränkung, sondern eine Ermöglichung individueller Freiheitsbetätigung dar. Die zutreffend als negative Integration
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bezeichnete Phase räumte mitgliedstaatliche Beschränkungen des transnationalen Wirtschaftens aus dem Weg. Deswegen erscheint es wenig überzeugend, die sogenannten Grundfreiheiten der Europäischen Verträge, die der EuGH zu unmittelbar anwendbaren subjektiven Rechten entwickelt hat, als einen auf den wirtschaftlichen Bereich verengten Ursprung der europäischen Grundrechte zu verstehen. Grundrechte sind rechtliche Vorgaben, die Individuen der Verwaltung oder dem Gesetzgeber zumindest auch entgegensetzen können. Die Grundfreiheiten der Verträge richteten sich aber so gut wie nie gegen den europäischen Rechtsetzungsprozess, ganz im Gegenteil: sie ermöglichten und beschleunigten diesen. Weil der EuGH Grundregeln der Verträge als subjektive Rechte gedeutet hat, kam es zu einer intensiven Inanspruchnahme transnationaler Wirtschaftsfreiheiten, deren Wahrnehmung wiederum den Bedarf nach europaweiter Vereinheitlichung nach sich zog. Wo der Schutz dieser Grundfreiheiten bejaht wird, ist dem europäischen Gesetzgeber die Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes eröffnet. Indem der EuGH die Reichweite eines transnationalen subjektiven Rechts, etwa auf freien Handel im Raum der EU, bestimmt, definiert er zugleich die Kompetenzen des europäischen Gesetzgebers im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. Denn nur dieser ist nun befugt, diese transnationalen Freiheiten auszugestalten. Die Einklagbarkeit mobiler Freiheiten vor dem EuGH erweitert mittelbar den Zugriff des europäischen Gesetzgebers. Diesem Mechanismus eine Verengung auf ökonomische Sachverhalte vorzuwerfen, erscheint durchaus möglich, es ist dies aber im Ergebnis weniger ein Vorwurf gegen ein europäisches Grundrechtsverständnis, als vielmehr ein solcher gegen die europäische Politik, deren ausdrücklicher Ansatz es von Beginn an war, eine politische Integration vermittels einer wirtschaftlichen Verflechtung Europas zu ermöglichen. 2. Die Frage nach einer umfassenden Kompetenz der EG/EU hat sich im Prinzip schon in dem Moment nicht mehr gestellt, in dem der EuGH für sich in Anspruch genommen hat, die Grundrechte auch auf Akte der europäischen Hoheitsgewalt anzuwenden. Die Einführung des Art. 6 Abs. 1 EU und der sich entspinnende Dialog zwischen EuGH und EGMR hat ein weiteres dazu beigetragen, dass die Kompetenzfrage unproblematisch ist. Freilich hat sich die europäische Integration selbst gewandelt. Spätestens mit dem Vertrag von Maastricht ist die EU auch zu einer Organisation geworden, die individuelle Rechte massiv beschränkt, namentlich auf dem
KOMMENTAR
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Gebiet der Innen- und Rechtspolitik. Grundrechte, die dagegen in Anschlag gebracht werden können, standen im Prinzip auch vor dem Inkrafttreten der Grundrechte-Charta zur Verfügung. Es fehlt hier auf Seiten des EuGH an einer Kultur des Grundrechtsschutzes nicht nur gegenüber den Mitgliedstaaten, sondern auch gegenüber der EU selbst. Vielleicht dient die Charta als ein politisches Zeichen an die europäischen Gerichte, die europäischen Bürger auch effektiver vor Akten der europäischen Hoheitsgewalt zu schützen. 3. Den bisherigen Ausführungen lag stillschweigend ein negatives oder liberales Grundrechtsverständnis zugrunde, das Grundrechte zuallererst als Abwehrrechte gegen die öffentliche Gewalt versteht. Ein solches Verständnis ist freilich nicht zwingend – dies zeigt auch der gestalterische Umgang des europäischen Gesetzgebers mit den Grundfreiheiten. Bei einem solchen positiven Verständnis von Freiheitsgestaltung durch Gesetz gewinnt die Frage nach den Kompetenzen – auch das zeigte der Blick auf die Grundfreiheiten – eine größere Bedeutung. Eine solche institutionalisierte Grundrechtspolitik, etwa in Form von Initiativen gegen Rassismus oder andere Formen der Diskriminierung, ist in manchen Mitgliedstaaten typischer als in anderen. Sie ist aber auch Kennzeichen der Europäischen Union, die damit nicht zuletzt die Standards des Art. 6 EU sichern will, ohne zu tief in die interne politische Sphäre der Mitgliedstaaten einzudringen. Nicht nur die Frage nach den Kompetenzen allerdings, sondern die Frage nach der Legitimation europäischen Handelns überhaupt mag sich auf diesem Gebiet mit besonderer Dringlichkeit stellen: Denn die Organisation und Sicherung von Grundrechten durch hoheitliche Organisationen gerät grundsätzlich schnell in den Verdacht des Paternalismus.
Die Europäische Agentur für Grundrechte in der europäischen Menschenrechtsarchitektur und ihre Fortentwicklung durch den Vertrag von Lissabon Armin von Bogdandy und Jochen von Bernstorff ∗ A. Einleitung Nachdem die Europäische Agentur für Grundrechte (im Weiteren »Grundrechteagentur«1) ihre Arbeit in den Jahren 2007 bis 2009 erfolgreich aufgenommen hat, sieht sie nun ihr Tätigkeitsfeld durch den Vertrag von Lissabon substantiell ausgeweitet.2 Die Gründung der Agentur stand von Beginn an in einem engen Zusammenhang mit der Europäischen Grundrechtecharta, die ihrerseits eine Entscheidung für eine aktive Grundrechtspolitik der Union darstellte. Der Vertrag von Lissabon erhebt nun die Grundrechtecharta in den Rang des europäischen Primärrechts.3 Gleichzeitig erweiterte sich der Arbeitsbereich der Agentur durch die Aufnahme der Kompetenzen für die Justiz- und Innenpolitik in den AEUV nun auf diesen besonders grundrechtssensiblen Bereich.4 Die Agentur mit ihrem so erweiterten Arbeitsbereich steht damit für zwei bemerkenswerte rechtspolitische Tendenzen in der EU: zum einen für das Anerkenntnis, dass die EU und ihre Organe in vielen Politikbereichen einer begleitenden Grundrechtsexpertise und Kontrolle durch unabhängige Institutionen
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Wir danken Daniel Oberhofer für seine Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts. Dieser Text ist auch in der Zeitschrift Europarecht Heft 2/2010 erschienen. Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates v. 15.2.2007 zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (ABl.EU 2007 Nr. L 53/1); zur Grundrechteagentur Alston/De Schutter 2005; Toggenburg 2007: 86 ff.; Lindner 2008: 129 ff. Zu diesem Politikbereich vor dem Vertrag von Lissabon siehe Toggenburg 2006: 167– 172; und Toggenburg 2008: 385. Über den Schutz von Minderheiten als eine Grundrechtsfrage siehe 10. Jahrestag der Verordnung zur Gründung der Agentur, Art. 1 des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Feb. 1995, O. J. II 1997, 1408. Art. 6 Abs. 1 EUV; näher Pache/Rösch 2009: 772–778. Siehe hierzu unten C II.
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bedürfen, und zum anderen für die rechtlich kontinuierlich verfestigten europäischen Anforderungen an die rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Standards in den Mitgliedstaaten. Diese Entwicklung sei im Folgenden unter Darlegung der Grundstruktur der Agentur näher erläutert. Laut der – nicht ungewollt gewundenen – Sprache von Art. 2 der Verordnung über die Gründung der Agentur (im Weiteren »Verordnung«) ist es ihr Ziel, »den einschlägigen Organen und Einrichtungen der Gemeinschaft (nunmehr in der Sache »Union«, AvB, JvB) und deren Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts (nunmehr in der Sache »Unionsrecht«, AvB, JvB) in Grundrechtsfragen zur Seite [zu] stehen und ihnen Informationen und Fachkenntnisse bereit[zu]stellen, um ihnen die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte zu erleichtern, wenn sie in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereiche Maßnahmen einleiten oder Aktionen festlegen«. Die gewählte institutionelle Form der »Agentur« ist ein unionsrechtlich etabliertes Verwaltungsmodell, wenngleich die Grundrechteagentur aufgrund ihres Aufgabengebietes eine Reihe von Besonderheiten aufweist. Es wäre jedoch kurzsichtig, die Gründung der Agentur allein für ein Phänomen des EU-Rechts zu halten. Wie die Verordnung verdeutlicht, ist sie auch im Lichte des Modells spezialisierter, unabhängiger Institutionen zur Förderung der Menschenrechte konzipiert worden. Dieses Modell, entwickelt von der UN, hat in einer wachsenden Zahl von Staaten zur Gründung nationaler Menschenrechtsinstitutionen geführt. Mehr als 60 spezialisierte Verwaltungsinstitutionen zur Förderung der Menschenrechte wurden weltweit in vielfältiger Gestalt geschaffen, vor allem in Form nationaler Kommissionen und Institute.5 Der Gedanke hinter diesen Institutionen ist, dass die verfassungsrechtliche Verpflichtung auf die Grundrechte und deren Anwendung durch die Gerichte für die vollständige Umsetzung der Menschenrechte nicht ausreichen. Daher fordern die »Pariser Prinzipien« der UN-Generalversammlung die weltweite Gründung unabhängiger und pluralistisch besetzter nationaler Menschenrechtsinstitutionen. Diese sollen die Wirksamkeit des nationalen Menschenrechtsschutzes in Zusammenarbeit mit, aber auch als Gegengewicht zu innerstaatlichen Stellen
—————— 5 Aichele 2003. Seit 2003 das Deutsche Institut für Menschenrechte, in Frankreich »La Commission nationale consultative des droits de l’homme«, in Dänemark das »Dänische Zentrum für Menschenrechte« und in Australien die »Human Rights and Equal Opportunity Commission«.
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fördern.6 Der Verweis auf die Pariser Prinzipien in der Verordnung legt nahe, dass man die Agentur im Licht dieser UN-Empfehlungen betrachten sollte.7 Der zunehmende Einfluss solcher Institutionen in vielen Staaten stellt ein allein gerichtszentriertes Verständnis des Grundrechtsschutzes in Frage. Spezialisierte Grundrechtsverwaltung, verstanden als fördernde Verwaltung, wird nach dem hier vertretenen Ansatz als ein neues, den gerichtlichen Schutz ergänzendes Instrument des Grundrechtsschutzes verstanden und anhand der Grundrechteagentur entfaltet. Die europäische Verwaltungsrechtswissenschaft sollte sich demnach dieses Gebiet erschließen. So könnte eine bedeutende Entwicklung zu ihrem Abschluss kommen: Die Entwicklung einer europäischen Verwaltung durch die Kommission und den Rat in den 70er und 80er Jahren begründete einen Prozess der Konstitutionalisierung der europäischen Gemeinschaften, gerade auch durch den Schutz von Grundrechten,8 woran sich jetzt auf dem Boden des entwickelten europäischen Verfassungsrechts eine neue Dimension des Verwaltungsrechts anschließen könnte, sollte die Agentur ihr volles Potential entwickeln. Hierzu soll im Folgenden zunächst die einschlägige Entwicklung in der Union nachgezeichnet werden (B), um dann die Tätigkeit und Aufgaben der Grundrechteagentur als spezialisierte supranationale Grundrechtsverwaltung darzustellen (C). Der letzte Teil analysiert die zu erwartende Rolle der Grundrechteagentur im verfassungsrechtlichen Gefüge des unionalen Grundrechtsschutzes (D). Der Beitrag schließt mit einem Ausblick (E).
B. Die Entwicklung zur Grundrechteagentur I. Von reaktiver zu aktiver Grundrechtspolitik Grundrechte, in den ursprünglichen Verträgen nicht erwähnt, haben seit den späten 60er Jahren im europäischen Integrationsprozess kontinuierlich
—————— 6 Entschließung 48/134 der UN-Vollversammlung vom 20. Dez. 1993, U.N. Doc. A/ RES/48/134, im Anhang zur Entschließung sind die Grundsätze aufgeführt. 7 20. Erwägungsgrund; Nowak 2005: 91–107, wo diese Frage noch vor der Gründung der Agentur behandelt wird. 8 Zu dieser Entwicklung statt aller Weiler 1999a.
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an Bedeutung gewonnen.9 Wie bekannt, wurden sie zunächst vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg reaktiv auf Forderungen nationaler Gerichte entwickelt. Mit dem Ausbau der politischen Union verstärken sich daneben politische Aktivitäten, so etwa Ausarbeitung und Annahme der Grundrechtecharta für die Europäische Union im Jahre 2000.10 Die Verabschiedung der Charta, die durch den Lissaboner Vertrag zu europäischem Primärrecht erstarkt ist,11 aber auch die inzwischen umfängliche Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg sind Teil einer Entwicklung, welche die Union und ihr Rechtssystem substantiell fortentwickeln, indem sie ihre grundrechtliche und damit verfassungsrechtliche Dimension stärken. Hinzu kommt nun die Grundrechteagentur, die dieser normativen Dimension eine potentiell wirkungsmächtige administrative Komponente hinzufügt. Um diese Entwicklung recht zu erfassen, ist eine Rückblende dienlich. Die europäische Rechtsordnung diente zunächst einem ökonomischen Zweckverband: Sie wurde mit dem Ziel geschaffen, die europäischen Völker und Staaten über den Zusammenschluss ihrer nationalen Märkte zu integrieren.12 Das europäische Recht war so Instrument einer tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Umstrukturierung: Nicht der Schutz der fundamentalen Rechte des Einzelnen, sondern der Bau eines Binnenmarkts zum Zweck einer gemeinsamen europäischen Zukunft ist sein Kernauftrag gewesen. Grundrechte wurden erst allmählich berücksichtigt, und dann auch nur, um das Ermessen der supranationalen Institutionen zu begrenzen. Sie determinierten nicht Ziele, Aufgaben und Aktivitäten der Union. Nach dem alten Art. 2 EG überragte der Gemeinsame Markt alle anderen Ziele. Bei der Gründung der Agentur enthielt das Primärrecht mit Art. 6 Abs. 2 EU zwar seit 1993 das Prinzip der Achtung der Menschenrechte
—————— 9 Pernice 1979; Cassese/Clapham/Weiler 1991. Der Terminus Menschenrechte wird zumeist für internationale Gewährleistungen, der der Grundrechte für verfassungsrechtliche Gewährleistungen genutzt. Allerdings gibt es zahlreiche Überlappungen im Recht der EU, so bereits in Art. 6 Abs. 3 EUV. 10 Hinsichtlich früherer Vorhaben siehe Bieber/de Gucht/Lenaerts/Weiler 1996: 365 ff. 11 Wenn auch für Großbritannien und Polen nicht mit voller Justiziabilität, Protokoll Nr. 30 zum Lissaboner Vertrag über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl. Nr. C 115 S. 313 f. vom 09.05.2008. 12 Ipsen 1972: 110.
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und Grundfreiheiten.13 Ungeachtet seiner prominenten Stellung im EUV ist dem Prinzip des Grundrechtsschutzes in der Praxis der Institutionen jedoch keine besonders herausgehobene Bedeutung zugekommen. Die Grundrechte stellen – auch nach dem durch den Lissabon-Vertrag neu gefassten Art. 6 EU – weiterhin nicht den wichtigsten Bezugspunkt der Unionsrechtsordnung, selbst wenn die neue Fassung von Art. 6 Abs. 1 EUV die Europäische Grundrechte-Charta nun auf den Rang des Primärrechts erhebt. Die Bedeutung der Grundrechte ist insbesondere geringer als die der Grundrechte unter dem Grundgesetz, die allerdings im weltweiten Vergleich eine singuläre Erscheinung bildet. Die geringere Bedeutung in der Union entspricht dem Entwicklungspfad der Integration. Wesentlich für die Konstitutionalisierung der europäischen Union sind zwar Rechte des Einzelnen, also individuelle Rechte gewesen,14 diese wurden aber kaum als Grundrechte qualifiziert.15 Ähnliches gilt für die vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg seit dem Ende der sechziger Jahre als principes généraux entwickelten individualschützenden Prinzipien.16 Diese principes généraux waren über lange Zeit, in französischer Tradition, stark verwaltungsrechtlich orientiert. Bis heute wird etwa das Verhältnismäßigkeitsprinzip oft als eigener Maßstab und nicht im Zusammenhang mit einem Grundrecht gegenüber Maßnahmen der Union angewandt. Die Entwicklung einer spezifischen Grundrechtspolitik ist gleichwohl eine alte Forderung. Insbesondere die damalige Generaldirektion V der Europäischen Kommission (Beschäftigung und soziale Angelegenheiten) und das Europäische Parlament setzten sich schon zu Beginn der neunziger Jahre dafür ein, der Grundrechtspolitik größere Bedeutung zu verleihen.17 Von wissenschaftlicher Seite ist diese Forderung in programmatischer Form von Philip Alston und Joseph Weiler in einem wegweisenden Auftragswerk für das nach einer Grundrechtspolitik suchende Europäische
—————— 13 Diese Grundfreiheiten des Art. 6 Abs. 1 und 2 EU beziehen sich nicht auf die binnenmarktorientierten Grundfreiheiten des EG-Vertrags, sondern auf Rechte, die entsprechend der Terminologie der Grundrechtecharta als Grundrechte bezeichnet sind, Calliess, in: ders./Ruffert 2007: Art. 6 EUV, Rn 38–39. 14 Das Prinzip der unmittelbaren Wirksamkeit begründet individuelle Rechte; näher Beljin 2007: 489 ff. 15 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit stellt hier die Ausnahme dar, da sie vom EuGH schon eher früh als ein Grundrecht bezeichnet wurde; O’Leary 1999: 377, 378 ff.; zum rechtlichen Unterschied zwischen binnenmarktorientierten Grundfreiheiten und Grundrechten im europäischen Recht siehe v. Bogdandy 2000: 1307, 1326 ff. 16 Ausführlich Pescatore 1968: 629 ff. 17 Siehe den Nachweis von Dokumenten in: Alston 1999: 939–940.
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Parlament erhoben worden.18 Angesichts der Unzulänglichkeiten eines gerichtlichen Schutzes fordern Alston und Weiler Rechtswissenschaft und Politik auf, den Blickwinkel zu erweitern und sich stärker mit anderen Möglichkeiten der Durchsetzung von Grundrechten zu befassen. Grundrechtspolitik fordere alle politischen und administrativen Organe und nicht nur die Judikative. Hier taucht die Forderung nach einer Agentur, welche die Beachtung der Grundrechte durch EU-Institutionen, Mitgliedstaaten und Privatpersonen überwacht,19 zum ersten Mal prominent im Schrifttum auf. Weiter fordern sie erhebliche organisatorische und prozedurale Änderungen, beispielsweise einen eigenen Kommissar, der einer Generaldirektion für Grundrechte vorstehen soll.20 Der zur Grundrechteagentur führende Ansatz ist eng mit der Forderung nach einem Wandel von negativer zu positiver Integration im Bereich der Grundrechte verknüpft. Den konzeptionellen Hintergrund bildet das Binnenmarktprogramm: Unter negativer Integration wird dort vor allem die Marktintegration durch den deregulierenden Effekt der Grundfreiheiten des Binnenmarkts verstanden, die durch die Gerichte durchgesetzt werden, während positive Integration das regulative Eingreifen der politischen und administrativen Institutionen der Union bezeichnet.21 Für Vertreter einer aktiven Grundrechtspolitik berücksichtigt die hergebrachte Betrachtung der Grundrechte lediglich den Aspekt der negativen Integration, das heißt den Schutz gegen Eingriffe in Grundrechte. Die administrative Stärkung der Grundrechte ist insofern als Ergänzung des Aspektes der negativen Integration durch einen Aspekt positiver Integration konzipiert. Alston und Weiler führen als Argumente Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, die unzureichende Beachtung der Gleichheitsvorschriften und Diskriminierungsverbote, die unzureichende Gewährleistung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte von benachteiligten Gruppen und Minder-
—————— 18 Alston/Weiler 1999: 3 ff. Ihr Ansatz hat maßgeblich den Ausschuss der Weisen und dessen »Human Rights Agenda For the European Union for the Year 2000. Leading by Example«, beeinflusst, abgedruckt in: Alston 1999: Annex (hinter S. 917). 19 Alston/Weiler 1999: 55–59. Das Europäische Parlament befasst sich bereits mit Grundrechtsfragen, unabhängig davon, ob eine Verletzung durch die Union, einen Mitgliedstaat oder eine Privatperson erfolgt. Es nimmt daher im Bereich der Grundrechte eine generelle Befassungskompetenz für Grundrechte in Anspruch, siehe EP–Dok. A5– 60/2000; A5–50/2000. 20 Alston/Weiler 1999: 3, 40–42, 45–52. Die neue Kommission 2010–2014 nimmt dies auf und richtet ein eigenes Grundrechtsressort ein, dem Kommissarin Viviane Reding vorsteht. 21 Scharpf 1999: 47 ff.; Poiares Maduro 1998: 109 ff.
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heiten sowie die unbefriedigende Rechtsstellung von Flüchtlingen und Asylsuchenden an.22 Des Weiteren fordern sie in einer menschenrechtlichen Perspektive, inspiriert durch die US-amerikanische Praxis, eine Gesetzgebung gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und die Pflicht des Arbeitgebers, für eine ausgewogene Zusammensetzung seines Mitarbeiterstabes zu sorgen.23 In einer solchen Grundrechtspolitik, zu implementieren weniger durch die Gerichte denn durch spezialisierte Bürokratien unter Einbindung von Nichtregierungsorganisationen, sollen Minderheitenpolitik, Migrationspolitik und allgemeine Nichtdiskriminierungspolitik zusammenfließen.24 Bereits Art. 13 EG, eingeführt durch den Vertrag von Amsterdam (jetzt Art. 19 AEUV), zeigte, dass solche Forderungen aus der Wissenschaft in der Politik Widerhall fanden und zu wichtigen gesetzgeberischen Entscheidungen während des letzten Jahrzehnts geführt haben.25 Die zunehmende politische Bedeutung der Grundrechte in der Union verdeutlichte der Vertrag von Amsterdam zudem durch die Einführung von Art. 6 und 7 EU (jetzt Art. 6 und 7 EUV). Mit dem Vertrag von Lissabon wird diese Ausrichtung des europäischen Grundrechtschutzes weiter verfestigt. Durch den neu gefassten Art. 2 EUV ist die Achtung der Menschenrechte als grundlegender Wert der Union (vorher Art. 6) im Vertragstext zum ersten Mal vor das Ziel des Binnenmarkts (jetzt Art. 3 Abs. 3) gerückt. Zudem ist das dort enthaltene Bekenntnis zu den Menschenrechten um die ausdrücklich erwähnten Rechte der Angehörigen von Minderheiten erweitert worden.
—————— 22 Alston/Weiler 1999: 3, 14 ff. 23 Alston/Weiler 1999: 3, 16, 60. 24 Ganz in diesem Sinne dann das E.U. Network of Independent Experts on Fundamental Rights, Thematic Comment No. 3: The Protection of Minorities in the European Union, 25.4.2005, CRF-CDF.ThemComm2005.en, http://ec.europa.eu/justice_home/cfr_cdf/ doc/thematic_comments_2005_en.pdf (03.02.2010), insb. S. 20, 92 ff., verfasst von Olivier De Schutter. 25 Beispielsweise: Richtlinie des Rates 2000/43/EG vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl.EU 2000 Nr. L 180/22); Richtlinie des Rates 2000/78/EG vom 27. Nov. 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl.EU 2000 Nr. L 303/16); fokussiert auf die Diskriminierung von Drittstaatsangehörigen Richtlinie des Rates 2003/86/EG vom 22. Sept. 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl.EU 2003 Nr. L 251/12); Richtlinie des Rates 2003/109/EG vom 25. Nov. 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl.EU 2004 Nr. L 16/44).
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Zwei wichtige politische Entwicklungen in den neunziger Jahren hatten den Boden für die Entwicklung einer solchen Grundrechtspolitik – bis hin zur Gründung der Grundrechteagentur als vorläufigem Höhepunkt – bereitet: die Menschenrechts- und Minderheitenschutzpolitik der Union gegenüber den osteuropäischen Staaten (II) und die Tätigkeit der 1997 gegründeten Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, der Vorläuferorganisation der Grundrechteagentur (III).
II. Minderheitenschutz in den Beitrittsstaaten Die Union begab sich mit politischer Sichtbarkeit erstmalig auf das Feld der Grundrechtspolitik im Rahmen des Minderheitenschutzes nach dem Fall der Berliner Mauer. Die Grundzüge der Entwicklung sind wohlbekannt: Der Zusammenbruch der sozialistischen Diktaturen ließ ethnische Konflikte in Mittel-, Ost- und Südosteuropa aufleben; mancher erlangte sogar sicherheitspolitische Relevanz für den Westen, so die Kriege im früheren Jugoslawien, der Umgang der baltischen Staaten mit ihrer russischsprachigen Bevölkerung und die Spannungen um ungarische Minderheiten. Die Union begab sich auf dieses Feld nicht allein, sondern arbeitsteilig mit einer Reihe von internationalen Institutionen. 1993 verständigten sich die maßgeblichen westeuropäischen Kräfte auf eine gemeinsame Minderheitenschutzpolitk, welche die rechtlichen, organisatorischen und legitimatorischen Ressourcen diverser europäischer Organisationen zu einer übergreifenden Politik zum Schutz entsprechender Gruppen in den Transformationsstaaten zusammenführte. Diese Verständigung manifestierte sich zum einen in der Entscheidung des Europäischen Rates vom 21. und 22. Juni 1993 zur Eröffnung einer Beitrittsperspektive für die Transformationsstaaten unter den sogenannten Kopenhagener Kriterien, die den Minderheitenschutz umfassen,26 zum anderen in der Wiener Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Europarats vom 9. Oktober 1993, die das Ministerkomitee des Europarats mit der Entwicklung eines eigenen Rechtsregimes des Minderheitenschutzes beauftragte.27 Auf dieser Grundlage wurde eine Grundrechtspolitik entwickelt, deren institutionelle Pfeiler
—————— 26 Schlussfolgerung des Vorsitzes v. 21./22.6.1993 (SN 190/1/93), S. 13. 27 2. Spiegelstrich der Wiener Erklärung v. 9.10.1993, http://www.coe.am/en/docs/sum mits/vienna_summit.pdf (4.12.2008).
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Europäische Union, Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) waren. Ungeachtet einer Reihe von Reibungsverlusten und gegenseitigen Spannungen kann man das Wirken dieser Organisationen so verstehen, dass sie arbeitsteilig die westeuropäischen Vorstellungen über den Umgang mit Minderheitskulturen gegenüber den Transformationsstaaten formulieren und implementieren halfen.28 Der normative Fluchtpunkt dieses neuen Politikfeldes waren die Beitrittskriterien zur Europäischen Union aus Art. O EU in Verbindung mit den zunächst ungeschriebenen, seit Amsterdam in Art. 6 Abs. 1 EU (jetzt Art. 2 EUV) positivierten Kriterien; er wurde allein von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union niedergelegt.29 Eine erste Stufe der Konkretisierung erfolgte, nunmehr inklusiv, durch das im Europarat in den Jahren 1993 bis 1995 erarbeitete Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten.30 Seine Ratifikation und Umsetzung gilt als die wesentliche Anforderung zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien und des Art. 49 EUV in Sachen Minderheitenschutz.31 Die weitere legislatorische Konkretisierung erfolgte durch soft law-Instrumente diverser Akteure.32 Die implementierende Funktion der europäischen Grundrechtspolitik zum Schutze von Minderheitsangehörigen ist auf eine Reihe von Organisationen verteilt. Im Mittelpunkt steht die Europäische Union, deren Beitrittsperspektive der zentrale Mechanismus im Sinne eines positiven Anreizes ist.33 Dies funktioniert allerdings nur, wenn die transformationsstaatliche Exekution der überstaatlichen Vorgaben von außen kontrolliert wird. Diese Aufgabe hat eine Reihe von Einrichtungen übernommen. So erstellt die EU-Kommission regelmäßige Fortschrittsberichte, gespeist aus eigenen Erkenntnissen, solchen der weiteren überstaatlichen Einrichtungen sowie Informationen aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich. Weiter bleibt der Europarat in diese Kontrolle eingeschaltet, insbesondere mittels des Bera-
—————— 28 Zur Interaktion der Organisationen Toggenburg 2006a: 24. 29 Allerdings sind die Kriterien des Art. O i.V.m. Art. F EUV bereits im KSZE Dokument v. 29.6.1990 niedergelegt, Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschenrechtliche Dimension der KSZE v. 29.6.1990, Punkt 1. 30 Vom 1.2.1995, in Kraft getreten am 1.2.1998; zu den Verhandlungen näher Hofmann 1995: 200 ff. 31 Sasse 2004: 61, 68, 72. 32 Für eine eingehende Analyse siehe v. Bogdandy 2008: 241–275. 33 Smith 2001: 31 ff.; Zielonka 2001: 511 ff.
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tenden Ausschusses zur Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten.34 Insgesamt entwickelte die Europäische Union im Beitrittsprozess der neunziger Jahre eine eigene Grundrechtspolitik gegenüber den Beitrittsländern, die sich vor allem auf Diskriminierungsfragen fokussierte. Rechtfertigung und Wirksamkeit dieser Politik waren eine direkte Folge des Beitrittsbegehrens der osteuropäischen Staaten. Allerdings ist diese Politik nicht überall vollständig erfolgreich gewesen, sodass sich die Frage stellt, wie nach dem Beitritt auf Versäumnisse bei der Implementierung von Grundrechten zu reagieren ist. Einen Ansatz bot die Vorläuferorganisation der Grundrechteagentur, die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
III. Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (im folgenden »Beobachtungsstelle«) wurde 1997 durch EGVerordnung gegründet.35 Ihre zentrale Zielsetzung gemäß dem Gründungsdokument bestand darin, »objektive, zuverlässige und vergleichbare Informationen« über rassistische, fremdenfeindliche und antisemitische Phänomene auf europäischer Ebene bereitzustellen.36 Hierbei ging es vor allem um die Erhebung von objektiven und vergleichbaren Daten zu Rassismus und Xenophobie sowie um die Untersuchung von Beispielen erfolgreicher Gegenstrategien. Dieser thematisch eng geführten Aufgabenstellung stand ein weiter Fokus gegenüber: Jeder Akt im Zusammenhang mit ausländerfeindlichen Phänomenen in den Mitgliedstaaten konnte zum Gegenstand einer Aktion der Beobachtungsstelle werden, eine Begrenzung auf den sachlichen Anwendungsbereich des Ge-
—————— 34 Art. 26 Rahmenübereinkommen; näher Hofmann 1999: 379 ff. 35 Verordnung (EG) Nr. 1035/97 des Rates v. 2.6.1997 zur Einrichtung einer Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (ABl.EG Nr. L 151/1); hierzu Flauss 2001: 487 ff. 36 Art. 2 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 1035/97; Eingehend zur Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie den von ihr ins Leben gerufenen Expertennetzwerken RAXEN und RAREN v. Bogdandy/v. Bernstorff 2009: 1035, 1043–1044.
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meinschaftsrechts fehlte.37 Demgegenüber ist der Beobachtungsbereich der Grundrechteagentur deutlich beschränkter. Die Bestrebungen der Beobachtungsstelle richteten sich von Beginn an auf die Bildung neuer einschlägiger Netzwerke staatlicher und nicht-staatlicher Akteure sowie die Kooperation mit bestehenden Netzwerken zur Bekämpfung von Rassismus, Xenophobie und Antisemitismus. Mit Hilfe dieser Netzwerke sollte zum einen eine Art »Frühwarnsystem« geschaffen und zum anderen positive Entwicklungen in den Mitgliedstaaten erfasst werden. Gleichzeitig nutzte die Beobachtungsstelle diese Netzwerke, um sogenannte »Runde Tische« in einer Reihe von Mitgliedstaaten einzurichten, an denen Vertreter der Zivilgesellschaft und staatliche Vertreter in regelmäßigen Abständen nationale Problemlagen und »best practices« eruierten.38 Nach längeren kontroversen Verhandlungen zwischen den zentralen Akteuren des europäischen Grundrechtsschutzes wurde die Beobachtungsstelle im Frühjahr 2007 auf dem Verordnungswege in eine Europäische Grundrechteagentur umgewandelt.
C. Die Grundrechteagentur im Einzelnen Die als Nachfolgeinstitution der Beobachtungsstelle gegründete Grundrechteagentur führt die diversen Entwicklungsstränge zusammen. Als Agentur ist sie wie die Beobachtungsstelle als Informationsagentur der Europäischen Union einzustufen. Gleichzeitig orientiert sich die Grundrechteagentur im Blick auf die thematische Ausrichtung und das institutionelle Verhältnis zu den Organen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten an dem von den Vereinten Nationen standardisierten Modell unabhängiger nationaler Menschenrechtsinstitutionen. Gemäß den »Pariser Prinzipien« der UN-Generalversammlung aus dem Jahr 1993 sollen unabhängige und plural zusammengesetzte Verwaltungsstellen die nationale Implementation von Grundrechten fördern.39 In unterschiedlicher institutioneller Ausgestaltung, vor allem in Form nationaler Kommis-
—————— 37 Vgl. Art. 2 Verordnung (EG) Nr. 1035/97. 38 U.a. in Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Frankreich, Dänemark, Deutschland, Finnland und Österreich, siehe Winkler 2002: 262, 268. 39 Resolution 48/134 der UN-Generalversammlung aus dem Jahr 1993, U.N. Doc. A/RES/48/134, Operativer Paragraph 2.
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sionen und Institute, sind weltweit zahlreiche Spezialverwaltungen auf nationaler Ebene eingesetzt worden.40 Die Grundrechteagentur soll im folgenden zunächst in ihrer unionsrechtlichen Dimension als Informationsagentur in ihrer Struktur (I) und ihren Aufgaben (II) analysiert werden, um sie dann in einem zweiten Schritt vor dem Hintergrund des vom UNMenschenrechtsschutzsystem propagierten Modells der »nationalen Menschenrechtsinstitution« zu evaluieren (III).
I. Organisationsform und Strukturen Die Grundrechteagentur entspricht weitgehend dem Typus einer europäischen Informationsagentur.41 Der sich verdichtende europäische Informationsverbund wird nicht nur durch die Kommission administriert, sondern vermehrt auch durch spezialisierte Agenturen.42 Die Entwicklung dieser Agenturen erfolgt in einem Externalisierungsprozess, in dem unionale Verwaltungsaufgaben durch andere Träger als die Kommission wahrgenommen werden; hierin liegt eine der großen Entwicklungslinien des unionalen Verwaltungsrechts der letzten 15 Jahre.43 Je nach Zählweise bestehen etwa zwanzig Agenturen der Union,44 von denen die meisten auch Aufgaben im Informationsverbund wahrnehmen. Informationsagenturen wie die Grundrechteagentur unterscheiden sich von den anderen Agenturen dadurch, dass ihre Hauptaufgaben in Informationsversorgung sowie im Kommunikations- und Netzwerkmanagement liegen, zu verstehen als Teil
—————— 40 Nachweise oben, FN 5. 41 Zu dem Typus ausführlich v. Bogdandy 2008a: 347 ff. 42 Für Schmidt-Aßmann 2004: 395 (401 f.), stellen die europäischen Agenturen – zusammen mit den Komitologieausschüssen – einen spezifischen Typus europäischer Verwaltungskooperation dar: die institutionalisierte Kooperation. Davon zu unterscheiden sind die sog. Exekutivagenturen, wie sie nach Art. 55 Haushaltsordnung (ABl.EG 2002 Nr. L 248/1) in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 58/2003 des Rates v. 19.12.2002 zur Festlegung des Statuts der Exekutivagenturen, die mit bestimmten Aufgaben bei der Verwaltung von Gemeinschaftsprogrammen beauftragt werden (ABl.EG 2003 Nr. L 11/1), eingesetzt werden können. Denn hierbei handelt es sich um lediglich »nachgeordnete Instanzen der EG-Kommission« (Schmidt-Aßmann, ebd., 401). 43 Aus der umfangreichen Literatur Fischer-Appelt 1999: 46 ff.; Geradin/Petit 2004: 1, 36 ff.; Eine allgemeine Einordnung der Agenturen in die institutionelle Struktur der Union findet sich mit kritischer Tendenz bei de Búrca 1999: 75 ff. 44 Vgl. die Auflistung unter http://europa.eu/agencies/index_de.htm (03.02.2010), die nach Säulen der Union differenziert. Die Bezeichnung der Agenturen variiert, sie werden auch Stiftungen, Zentren, Fonds, Behörden, Stellen oder Ämter genannt.
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des Bemühens um einen leistungsfähigen europäischen Kommunikationsraum. Wenngleich die Kommission das Hauptorgan der europäischen Informationsverwaltung bleibt, so übernehmen Agenturen im Allgemeinen und die Informationsagenturen im Besonderen hier zunehmend wichtige Aufgaben. Anders als in anderen Informationsagenturen geht es auf der Leitungsebene der Grundrechteagentur aber weniger um die enge Verzahnung der klassischen Ministerialabürokratie auf europäischer Ebene, sondern um eine Verflechtung der spezialisierten Grundrechtsverwaltungseinheiten, die mehr oder weniger unabhängig gegenüber den Ministerialbürokratien der Mitgliedstaaten agieren. Der Verwaltungsrat, das intern kompetenzstärkste Organ der Agentur, setzt sich dementsprechend nicht aus Vertretern der mitgliedstaatlichen Regierungen zusammen, sondern aus »unabhängigen Persönlichkeiten«, die durch die Mitgliedstaaten benannt werden.45 Dies unterscheidet die Grundrechteagentur grundlegend von anderen Informationsagenturen, in denen in aller Regel die nationalen Ministerialverwaltungen, oft auf Staatssekretärsebene, im Verwaltungsrat vertreten und so in die Programmgestaltung und Kontrolle der Agenturen unmittelbar involviert sind. Die organisatorische Struktur der Agentur ist insgesamt durch eine intensive Einbindung maßgeblicher externer Akteure in die Agenturorgane geprägt.46 Dies dient dem Organisationszweck: Die Struktur fördert ein hohes Maß an Interaktion sowohl mit staatlichen als auch mit nicht-staatlichen Akteuren in den Mitgliedstaaten und mit anderen Organen der Europäischen Union und des Europarates. Diese Form kooperativer Problemanalyse und gemeinsam generierten Wissens prägt die Perzeption des thematischen Aufgabenfeldes bei den entscheidenden mitgliedstaatlichen und unionalen Akteuren und wirkt insofern koordinierend und indirekt sogar steuernd auf diese ein.
II. Ziele und Aufgaben Die Agentur hat keine hoheitlichen Kompetenzen; insbesondere verfügt sie weder über quasi-gerichtliche Befugnisse im Sinne einer Beschwerde-
—————— 45 Art. 12 Abs. 1 lit. a GründungsVO. 46 Siehe für eine detaillierte Darstellung der inneren Organisationsstruktur der Agentur v. Bogdandy/v. Bernstorff 2009: 1047–1056.
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stelle (15. Begründungserwägung47) noch über eine Befugnis, rechtsverbindliche Entscheidungen mit Außenwirkung zu treffen. Das Ziel der Grundrechteagentur besteht nach Art. 2 Gründungsverordnung vielmehr darin, den relevanten Organen, Einrichtungen, Ämtern und Agenturen der Gemeinschaft (nunmehr Union) und ihrer Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts (nunmehr Unionsrecht) in Bezug auf die Grundrechte Unterstützung zu gewähren. Nach dem einschränkenden Art. 3 Abs. 3 Gründungsverordnung befasst sie sich dabei nur mit Grundrechtsfragen in der Europäischen Union und in deren Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Durchführung des Gemeinschaftsrechts; damit ist der Fokus, zumindest auf den ersten Blick, deutlich enger als derjenige der Beobachtungsstelle. Die Mitgliedstaaten können in ihrem autonomen Bereich nicht Gegenstand der Beobachtung sein. Aber auch mit Blick auf die Union war der Fokus hierdurch ursprünglich beschränkt worden: Das Gemeinschaftsrecht war bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon derjenige Teil des Unionsrechts, der im EG-Vertrag oder im EAG-Vertrag gegründet ist. Danach umfasste der Zuständigkeitsbereich der Grundrechteagentur die besonders grundrechtssensiblen Tätigkeiten in den Bereichen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen unter dem Unionsvertrag noch nicht; eine Ausdehnung auf diese Bereiche in der Zukunft wurde aber durch die Verordnung ausdrücklich offen gehalten.48 Das Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages hat in diesem Kontext erhebliche Auswirkung auf die Agentur, da dies Maßnahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in den Einflussbereich der Agentur bringt. Der Reformvertrag verschiebt diesen Politikbereich aus dem EU-Vertrag in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Art. 82 ff. AEUV), also den reformierten EG-Vertrag. Art. 3 der Gründungsverordnung (Anwendungsbereich) erstreckt die Tätigkeit der Agentur auf die »im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft festgelegten Zuständigkeiten der Gemeinschaft«, welche, nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, die Maßnahmen im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit umfassen. Zugunsten eines fortgesetzten Ausschlusses dieser Politiken könnte man nun annehmen, dass Art. 3 der Gründungsverordnung eine statische Verweisung auf den EG-Vertrag in seiner Fassung von 2007 darstelle. Üblicherweise sind Ver-
—————— 47 Vgl. auch Art. 4 Abs. 2 GründungsVO. 48 32. Begründungserwägung.
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weisungen innerhalb einer Rechtsordnung aber dynamischer Natur, und es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, warum diese Grundregel in diesem Fall nicht gelten sollte. Erwägungsgrund 32 der Verordnung stützt, wie oben bereits erwähnt, ein solches dynamisches Verständnis der Kompetenzfrage, indem er klarstellt, dass »Diese Verordnung […] nicht dahin gehend ausgelegt werden [sollte], dass sie der Frage vorgreift, ob der Zuständigkeitsbereich der Agentur auf Tätigkeiten in den Bereichen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ausgedehnt werden kann.« Es ist in diesem Zusammenhang zudem bemerkenswert, dass die französische Ratspräsidentschaft im Herbst 2008 von der Agentur ein Gutachten zur Grundrechtskonformität des Entwurfs eines Rahmenbeschlusses nach Art. 29, 30 Abs. 1, 34 Abs. 2 EU (Maßnahmen des ehemaligen Titel VI EU sind jetzt im AEUV [Art. 67 ff.] geregelt) über die Verwendung von Fluggastdatensätzen zu Strafverfolgungszwecken49 eingeholt hat, was allgemein auf Zustimmung stieß.50 Dies entsprach der Erklärung des Rates zur Anhörung der Agentur im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, wonach »sich jedes Organ der Union im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens (…) auf freiwilliger Basis derartige Fachkenntnisse auch im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zunutze machen kann«51. Danach konnte die Agentur bereits vor dem Inkrafttreten des Reformvertrags auf Anfrage seitens der Unionsorgane auch Maßnahmen unter dem ehemaligen EUVertrag gutachterlich prüfen. Auch ein Tätigwerden der Agentur auf Anfrage des Rates im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 7 EU (jetzt Art. 7 EUV) ist zulässig. Dies war während des Rechtsetzungsprozesses zwar umstritten.52 Der Rat hat jedoch in einer Stellungnahme klargestellt, »dass der Rat die künftige Agentur der Europäischen Union für Grundrechte um Unterstützung ersuchen kann, wenn er beschließt, von unabhängigen Persönlichkeiten einen Bericht über die Lage in einem Mitgliedstaat im Sinne des Artikels 7 EUV zu
—————— 49 KOM (2007) 654. 50 http://fra.europa.eu/fra/material/pub/discussion/FRA_opinion_PNR_en.pdf (20.12.2008), hierzu European Parliament resolution of 20 November 2008 on the proposal for a Council framework decision on the use of Passenger Name Record (PNR) for law enforcement purposes. 51 Stellungnahme des Rates v. 12.2.2007, Ratsdokument 6166/07, S. 4. 52 Siehe die Stellungnahme des Rates v. 12.2.2007, Ratsdokument 6166/07, S. 5; näher De Schutter 2008: 509, 524 f.
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erhalten, sofern er zu der Überzeugung gelangt ist, dass die Voraussetzungen des Artikels 7 EUV erfüllt sind«53. Die Aufgaben der Grundrechteagentur lassen sich näher in drei wesentliche Bereiche aufgliedern: erstens die Bereitstellung einer wissenschaftlich hochwertigen Daten- und Informationsgrundlage für die Grundrechtspolitik, zweitens eine europäische Grundrechtskommunikation und drittens die Politikberatung. Die Bereitstellung einer wissenschaftlich hochwertigen Daten- und Informationsgrundlage für die Grundrechtspolitik führt zunächst zum Sammel- und Analyseauftrag der Agentur, der auch Ergebnisse von nationalen und internationalen Forschungs- und Überwachungsmaßnahmen erfasst.54 Ein wichtiges Ziel bei der Datenanalyse ist die Feststellung von Prioritäten für unionale Aktivitäten. Entsprechend dem Vernetzungsauftrag werden die nationalen Menschenrechtsinstitutionen als Kooperationspartner ebenso erwähnt wie Europarat, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Vereinte Nationen und andere internationale Organisationen.55 Ein wichtiger Aspekt dieses ersten Aufgabenbereiches ist die methodische Verbesserung des Datenvergleichs. Es ist expliziter Auftrag der Grundrechteagentur, gemeinsame Indikatoren zu erarbeiten, die eine stärkere Kohärenz der Informationen und damit eine verbesserte Vergleichbarkeit der Informationen ermöglichen.56 Diese Aufgabe der Grundrechteagentur ist keineswegs nur technischer Natur. Die Entwicklung spezifischer Standards und Methoden der Informationsgewinnung kann zur Ausbildung einer gemeinsamen »Sprache« in Grundrechtsfragen beitragen, große Wirkung auf die öffentliche Wahrnehmung von Grundrechtsverletzungen zeitigen und den europäischen Kommunikationsraum in Grundrechtsfragen voranbringen. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Standards, nicht zuletzt in Folge des Kommunikationsauftrags, anschließend von einer Vielzahl von öffentlichen und privaten Akteuren verwandt wer-
—————— 53 Stellungnahme des Rates v. 12.2.2007, Ratsdokument 6166/07, S. 3. 54 Art. 6; thematisch befasst sich die Agentur gemäß ihrem Arbeitsprogramm 2009 mit Projekten aus den Bereichen: Recht auf Privatsphäre in der Informationsgesellschaft, Asyl- und Immigrationsfragen, Xenophobie, Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie; Diskriminierungsfragen im Blick auf Geschlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion, Glauben, Behinderung, Alter und sexueller Orientierung; Kinderrechte; Partizipationsrechte der Bürger innerhalb der EU; Justizgrundrechte; siehe Annual Work Programme 2009 http://fra.europa.eu/fra/material/pub/WP/wp09_en.pdf (14.1.2009). 55 Art. 8 Abs. 2 lit. b GründungsVO. 56 Art. 4 Abs. 1 lit. a und b GründungsVO.
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den. Hierfür sorgt die Vergabe von Projektmitteln in Millionenhöhe zur Durchführung von Forschungsstudien, die diese Standards nachdrücklich in die derzeit noch durchaus heterogenen mitgliedstaatlichen Diskursräume einbringen. Die administrative Steuerungsleistung liegt in der indirekten Implementierung von Erhebungs- und Darstellungsstandards zu bestimmten, von der Agentur festgelegten Themen.57 Nicht nur die Themensetzung, sondern auch die Erhebungs- und Darstellungsweisen können im sensiblen Grundrechtsbereich die öffentliche Wahrnehmung von Problemlagen und angebotener Lösungsstrategien erheblich beeinflussen. Die Förderung des Grundrechtsschutzes erfolgt also mittelbar durch beeinflussende Förderung einer Vielzahl von privaten und öffentlichen Akteuren in den Mitgliedstaaten, die im Bereich des Grundrechtsschutzes aktiv sind.58 Mit Blick auf den Verbreitungsauftrag veröffentlicht die Agentur themenspezifische Berichte auf der Grundlage ihrer Analysen, Forschungsarbeiten und Erhebungen.59 Die Verordnung beauftragt die Grundrechteagentur darüber hinaus, eine eigene Kommunikationsstrategie zu entwickeln, um die Öffentlichkeit für Grundrechtsfragen zu sensibilisieren.60 Dies gibt der Agentur die Möglichkeit, in der Öffentlichkeit aktiv auf Problemlagen auch in den Mitgliedstaaten hinzuweisen. Noch nicht geklärt ist, ob dabei Art. 4 Abs. 1 lit. d) Gründungsverordnung es ausschließt, dass die Agentur eine Evaluierung eines bestimmten mitgliedstaatlichen Handelns vornimmt, da nach dieser Bestimmung sie »zu bestimmten Themen«, aber eben nicht bestimmten Mitgliedstaaten Schlussfolgerungen und Gutachten ausarbeitet und veröffentlicht.61 Diese Formulierung erscheint jedoch zu vage, als dass sie diesen wichtigen Tätigkeitsbereich verschließen könnte, sodass eine konkrete Situation in einem Mitgliedstaat untersucht werden kann. Auch kann die Grundrechteagentur die vorgesehenen thematischen Analysen und Gutachten zur Beachtung der Grundrechte bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechtes ohne Bezugnahme auf die rechtliche und faktische Situation in den Mitgliedstaaten praktisch nicht erstellen. Zu den öffentlichkeitswirksamen Aufgaben gehört weiter ein
—————— 57 58 59 60 61
Allgemein zur Informationsverwaltung Schmidt-Aßmann 2006: 278 ff. Zur vergleichbaren Steuerung der Wissenschaften Schmidt-Aßmann 2006: 133 f. Art. 4 Abs. 1 lit. f GründungsVO. Art. 4 Abs. 1 lit. h GründungsVO. De Schutter 2008: 509, 524.
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Jahresbericht über Grundrechtsfragen, der auf »best practices« im Grundrechtsschutz hinweisen soll.62 Die Aufgaben der Grundrechteagentur umfassen schließlich die Bereitstellung von Informationen mit dem Zweck, die Formulierung und Durchführung von Politiken zu unterstützen (Politikberatung). Die Unterstützung der politischen Instanzen kann durch Aufträge zur Ausarbeitung von Gutachten, Schlussfolgerungen und Berichten erfolgen.63 Eine Verwendung dieser Agenturprodukte im unionalen Gesetzgebungsverfahren ist vorgesehen.64 Dies ist nach der Gründungsverordnung allerdings nur möglich, wenn das jeweilige EU-Organ zuvor die Grundrechteagentur um eine solche Stellungnahme ersucht hat. Damit kann die Agentur zwar im Rahmen ihrer Programme von sich aus Berichte und Schlussfolgerungen verfassen, diese werden offiziell aber nur dann für die unionale Gesetzgebung relevant, wenn eine spezifische Anfrage der EU-Organe vorgelegen hat. Gelingt es der Agentur also, enge Arbeitsbeziehungen zu den EU-Gesetzgebungsorganen aufzubauen, kann sie mit ihrer Arbeit Einfluss auf zukünftige Rechtsentwicklungen nehmen. Ein erster Anwendungsfall war das bereits erwähnte Ersuchen des Rates im Jahre 2008 um eine Stellungnahme zum Entwurf eines Rahmenbeschlusses über die Verwendung von Fluggastdatensätzen zu Strafverfolgungszwecken. Hier kommt die Grundrechteagentur in ihrer Stellungnahme zu dem Schluss, dass Teile des geplanten Rahmenbeschlusses gegen europäische Grundrechtsstandards aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Grundrechtecharta verstoßen und deshalb konkrete Modifikationen erforderlich seien.65
III. Die Grundrechteagentur und die Pariser Prinzipien Gemäß Art. 16 Gründungsverordnung nimmt die Grundrechteagentur ihre Aufgaben in »völliger Unabhängigkeit« wahr. Dies unterscheidet die Grundrechteagentur von anderen europäischen Agenturen. Die 20. Begründungserwägung verweist hier auf den völkerrechtlichen Fluchtpunkt der geforderten Autonomie der Grundrechteagentur. Danach soll unter
—————— 62 63 64 65
Art. 4 Abs. 1 lit e GründungsVO. Art. 4 Abs. 1 lit c und d GründungsVO. Art. 4 Abs. 2 GründungsVO. Hierzu den Nachweis in FN 50.
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Berücksichtigung der »Pariser Prinzipien« die Zusammensetzung des Verwaltungsrates die Unabhängigkeit der Agentur sowohl von den Organen der Union als auch von den Regierungen der Mitgliedstaaten »gewährleisten«. Zwar war bereits in der Gründungsverordnung der Beobachtungsstelle von »unabhängigen Sachverständigen« und »weitgehend unabhängiger« Tätigkeit die Rede, jedoch geht die Grundrechteagentur hier einen Schritt weiter und beruft sich erstmalig explizit auf die »Grundsätze, die für den Status und die Arbeitsweise nationaler Institutionen zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte gelten«66. Die geforderte Unabhängigkeit der Agentur wird gleichsam durch Rückgriff auf einen externen völkerrechtlichen, wenngleich unverbindlichen Standard gerechtfertigt und normativ konturiert. Im Folgenden soll die Grundrechteagentur vor der Matrix der Vorgaben der Pariser Prinzipien für unabhängige Menschenrechtsinstitutionen genauer betrachtet werden. Die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1993 enthält Standards zu Aufgaben, zur Unabhängigkeit und zur Arbeitsweise unabhängiger Menschenrechtsinstitutionen.67 Mit Blick auf die Aufgaben sollen Menschenrechtsinstitutionen über ein möglichst weit gefasstes Mandat zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte verfügen.68 Dies ist bei der Grundrechteagentur im Blick auf die zur Anwendung kommenden Menschenrechte insofern der Fall, als die Gründungsverordnung auf Art. 6 Abs. 2 EU (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) verweist.69 In der 9. Begründungserwägung zur Verordnung wird deutlich, dass eine weite Auslegung des Art. 6 Abs. 2 EU (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) avisiert ist, die eine Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Rechten einschließt;70 hier wird zudem auf die Grundrechtecharta verwiesen. Die Begrenzung der Aufgaben, soweit die Mitgliedstaaten betroffen sind, auf deren Durchführung des Unionsrechts dürfte sich aufgrund der breiten Antidiskriminierungsrichtlinien71 als weniger einschneidende Aufgabenbe-
—————— 66 20. Begründungserwägung. 67 Resolution 48/134 der UN-Generalversammlung v. 20.12.1993, U.N. Doc. A/RES/ 48/134. 68 Ebd., Annex, unter der Überschrift »Competence and responsibilities«, Nr. 2. 69 Art. 3 Abs. 2 GründungsVO. 70 Schon die 2. Begründungserwägung weist auf die vom Europarat beschlossenen Sozialchartas hin; siehe hierzu Alston 2005: 159. 71 Richtlinie 2000/43/EG v. 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl.EG 2000 Nr. L 180/22); Richtlinie 2000/78/EG v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rah-
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schränkung herausstellen als vielleicht von einigen Regierungen bei der Gründung erhofft. Sieht man die Grundrechteagentur als eine supranationale Grundrechtsverwaltung, die im Verbund mit vergleichbaren mitgliedstaatlichen Institutionen operiert, dann nimmt die Begrenzung auf das Unionsrecht zudem eine grundsätzlich nachvollziehbare Arbeitsteilung zwischen supranationaler und nationaler Ebene vor. Eine nicht unerhebliche Beschränkung der Kompetenzen war allerdings die Ausnahme der sogenannten »dritten Säule« vom Tätigkeitsbereich der Agentur. Die Verordnung nahm zunächst, wie oben ausgeführt, diesen Bereich aus dem sachlichen Anwendungsbereich heraus, stellte aber zugleich fest, dass eine endgültige Entscheidung über diese Frage vom Rat erst zu einem späteren Zeitpunkt zu treffen ist.72 Dass die Agentur in diesem Bereich gleichwohl auf Antrag der Unionsorgane tätig werden konnte,73 reichte den Pariser Prinzipien nicht. Durch den Vertrag von Lissabon kommt dieser Bereich nun, wie ausgeführt, in den Kompetenzbereich der Agentur. Der so erfolgte Kompetenzzuwachs nähert die Agentur dem Leitbild der Pariser Prinzipien damit weiter an. In geographischer Hinsicht enthält Art. 3 Abs. 3 Gründungsverordnung eine Begrenzung der Agenturtätigkeit auf »Grundrechtsfragen in der Europäischen Union und in deren Mitgliedstaaten«. Gleichwohl können nach Art. 28 Abs. 1 und 2 Gründungsverordnung Bewerberländer und Staaten, mit denen die Europäische Union Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen abgeschlossen hat, in den Tätigkeitsbereich der Agentur aufgenommen werden. Damit erweitert sich der potentielle geographische Tätigkeitsbereich der Agentur erheblich.74 Zentrales Kriterium einer Menschenrechtsinstitution ist nach den Pariser Prinzipien eine gewisse sachliche und persönliche Unabhängigkeit in
—————— mens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl.EG 2000 Nr. L 303/16); mit Blick auf Diskriminierungen von Drittstaatsangehörigen Richtlinie 2003/86/EG v. 22.9.2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl.EU 2003 Nr. L 251/12); Richtlinie 2003/109/EG v. 25.11.2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl.EU 2004 Nr. L 16/44). 72 Stellungnahme des Rates v. 12.2.2007, Ratsdokument 6166/07, S. 4; zu den vom Deutschen Bundesrat erhobenen juristischen Bedenken gegen eine Zuständigkeit der Agentur innerhalb der dritten Säule: Toggenburg 2007: 99. 73 Oben C II. 74 Toggenburg 2008: 100; für eine massive zukünftige Ausdehnung auf den universellen Menschenrechtsschutz: Härtel 2008: 489, 511 f.
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ihrem Tätigkeitsbereich sowie eine plurale Binnenstruktur.75 Die persönliche Unabhängigkeit wird bei der Agentur – wie oben76 ausgeführt – durch die Loslösung von den mitgliedstaatlichen Ministerialverwaltungen bei der Zusammensetzung des Verwaltungsrates erreicht. Wichtig erscheint hier, dass die Mitgliedstaaten in der Praxis tatsächlich unabhängige Vertreter benennen. Die Gründungsverordnung spricht hier von Personen, die in einer »unabhängigen nationalen Menschenrechtsinstitution oder in anderen Organisationen des öffentlichen oder privaten Sektors mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut sind«.77 Da nicht alle Mitgliedstaaten über solche Menschenrechtsinstitutionen verfügen, war eine Öffnung für andere unabhängige Persönlichkeiten erforderlich.78 Die Verflechtung zuständiger Verwaltungseinheiten in den mitgliedstaatlichen Ministerialverwaltungen erfolgt bei der Grundrechteagentur dagegen über »nationale Verbindungsbeamte«, die nur als externe nationale Ansprechpartner der Agentur dienen.79 Die Kommission ist zwar in die Strukturen der Grundrechteagentur integriert, sie ist jedoch kein gewichtiger Akteur, wie dies insbesondere bei einer Exekutivagentur nach der Verordnung (EG) 58/2003 der Fall ist, die ganz unter der Führung und Kontrolle der Kommission steht. Die sachliche Unabhängigkeit der Agentur statuiert Art. 16 Abs. 1 Gründungsverordnung, nach dem diese ihre Aufgaben »in völliger Unabhängigkeit« wahrnimmt. Die stärkste Einschränkung dieser sachlichen Unabhängigkeit ist in Art. 5 Abs. 1 Gründungsverordnung enthalten, der die Kompetenz zur Verabschiedung des Mehrjahresrahmens der Grundrechteagentur dem Rat überträgt, der auf Vorschlag der Kommission tätig wird. Hier wird die Agentur nur konsultiert und muss sich anschließend innerhalb dieses Rahmens bewegen. Damit die sachliche Unabhängigkeit im Sinne der Pariser Prinzipien nicht über Gebühr beschränkt wird, sollte das Mehrjahresprogramm nur einen abstrakt gefassten Rahmen vorgeben, welches der Agentur die notwendigen Spielräume bei der Ausgestaltung belässt. Die programmatische Fremdsteuerung steht insgesamt in einem starken Span-
—————— 75 Resolution 48/134 der UN-Generalversammlung v. 20.12.1993, U.N. Doc. A/RES/ 48/134, Annex, unter der Überschrift »Composition and guarantees of independence and pluralism«, Nr. 1–3. 76 Unter C I. 77 Art. 12 Abs. 1 lit. a GründungsVO. 78 Die jeweiligen Mitglieder können der Website entnommen werden, http//fra.europa.eu (03.02.2010). 79 Art. 8 Abs. 1 GründungsVO.
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nungsverhältnis zu dem normativen Leitbild einer unabhängigen Menschenrechtsorganisation. Die Netzwerkbildung sowie die Einbeziehung nationaler Verbindungsbeamter auf der Arbeitsebene tragen zur Pluralisierung der Arbeit der Institution bei. Zur Arbeitsweise sehen die Pariser Prinzipien neben der Beratungs- und Initiativfunktion eine enge Vernetzung mit der Zivilgesellschaft vor, die bei der Grundrechteagentur institutionell auf mehreren Ebenen ermöglicht wird. Hervorzuheben ist hier die institutionalisierte Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene über ein Kooperationsnetz mit dem Namen »Plattform der Grundrechte«. Die Zusammenarbeit mit der Plattform erfolgt über den Direktor der Grundrechteagentur und dient der Bündelung von Wissen und der Erarbeitung neuer Programme und Maßnahmen der Agentur, aber auch allgemein zur Implementierung der Grundrechte.80 Die zivilgesellschaftlichen Akteure sind damit im Unionsrecht als wesentliche Stützen der Grundrechtsverwirklichung anerkannt, was vom deutschen öffentlichen Recht kaum gesagt werden kann. Insoweit entspricht die Grundrechteagentur den Pariser Prinzipien. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die derzeitige Rechtslage nicht vollständig dem Leitbild einer unabhängigen Menschenrechtsinstitution im Sinne der »Pariser Prinzipien« entspricht. Insbesondere die Fremdsteuerung durch Kommission und Rat ist problematisch; dem kann allerdings mittels einer »prinzipienkonformen« Auslegung der Gründungsverordnung begegnet werden.
D. Der mögliche Einfluss der Agentur auf die Verfassung Europas Grundrechte sind ein zentraler Bestandteil jeder verfassungsmäßigen Ordnung. Wird nun zu deren Förderung eine besondere administrative Körperschaft errichtet, ist eine Beeinflussung der bestehenden Ordnung durch diese Körperschaft entsprechend wahrscheinlich. Dies gilt insbesondere für die verfassungsmäßige Ordnung der Europäischen Union, die nur ein
—————— 80 Art. 10 GründungsVO.
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Element des europäischen Verfassungsraums darstellt.81 Jede Entwicklung in diesem Bereich muss in einer Zusammenschau mit den Verfassungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Menschenrechtskonvention gesehen werden. Die Errichtung und die Arbeit der Agentur berühren drei fundamentale Verfassungsfragen: Erstens die Entwicklung der EU hin zu einer Hüterin von Verfassungsprinzipien im europäischen Rechtsraum; zweitens die Beziehungen zwischen der Agentur und den Einrichtungen der EMRK; und drittens die Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die verfassungsmäßige Autonomie der Mitgliedstaaten.
I. Die EU als Hüterin von Verfassungsprinzipien im europäischen Rechtsraum Die Kernaussage der folgenden Ausführungen ist, dass eine aktive Menschenrechtspolitik der Union – und das ist geradezu die raison d’être der Agentur – in einer Linie steht mit der im Vertrag von Amsterdam getroffenen und durch den Lissaboner Vertrag verfestigten Entscheidung, das Grundrechtsprofil der EU zu kultivieren und sie zu einem Garanten von Verfassungsprinzipien im europäischen Rechtsraum weiterzuentwickeln. Die prominentesten rechtlichen Manifestationen dieser Entwicklung sind die Aufnahme der Verfassungsprinzipien in Art. 6 Abs. 1 EU (jetzt Art. 2 EUV) und des Sanktionsmechanismus in Art. 7 EUV. Durch die explizite Aufnahme der Grundprinzipien in Art. 6 Abs. 1 EU formulierte der Vertrag von Amsterdam Verfassungsprinzipien für jede Form öffentlicher Gewalt im europäischen Verfassungsraum und wies der Union durch Art. 7 EU die Rolle eines Garanten für deren Einhaltung zu. Sie hat die Beachtung dieser normativen Essentialia im gesamten europäischen Verfassungsraum, einschließlich der Mitgliedstaaten, sicherzustellen.82 Zu diesem Zweck kam es zu bedeutender Rechtssetzungstätigkeit, insbesondere, aber nicht ausschließlich, aufgrund der Ermächtigung des Art. 13 EG (jetzt Art. 19 AEUV).83 Des Weiteren ist die EU, noch unter der Rechtspersönlich-
—————— 81 Grundlegend Weiler 1999a. 82 Näher v. Bogdandy 1999. 83 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, Abl.EG 2000, L 180/22; Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, Abl.EG. 2000, L 303/16.
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keit der EG, einem wichtigen menschenrechtlichen Vertragsinstrument der Vereinten Nationen beigetreten.84 Die Grundrechtecharta der EU ist ein weiterer Aspekt von grundlegender Bedeutung für diese Entwicklung. Die Entscheidungen, die Charta zu entwerfen und anzunehmen, verfolgten das Ziel, die EU im Bereich der Grundrechte zu einem autonomen politischen Akteur zu entwickeln. Wie schon der Name der Agentur nahelegt (9. Erwägungsgrund), steht ihre Errichtung in engem Zusammenhang mit dem Projekt der Grundrechtecharta und soll sowohl ein administratives Element zu ihrer Förderung und Umsetzung sein als auch ihre Wahrnehmung in der europäischen Öffentlichkeit fördern. Man mag nun argumentieren, dass diese Entwicklungen nicht das Ziel hatten, die verfassungsmäßige Ordnung zu verändern, und auf die ursprüngliche Abneigung verweisen, die Charta mit rechtlicher Verbindlichkeit auszustatten. Mit dem Inkrafttreten des Reformvertrags von Lissabon, der die Charta in den Rang des europäischen Primärrechts erhebt, ist diesem Argument allerdings de lege lata der Boden entzogen. Schon vor Lissabon haben zudem viele Institutionen, einschließlich des EuGH,85 von der Charta Gebrauch gemacht. Die Kommission nutzt die Charta schon seit 2001 zur Beurteilung der Grundrechtsrelevanz ihrer legislativen Vorschläge.86 So wurde der grundrechtliche acquis der Union bereits durch den Vertrag von Amsterdam und die zunächst noch unverbindliche Charta erheblich weiterentwickelt. Aus diesem Grund widerspricht auch das Gutachten des EuGH zum Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK nicht unserem Argument. Die Aussage des Gerichts, dass »[…] keine Vertragsbestimmung den Institutionen der Gemeinschaft die generelle Macht überträgt, Regelungen über Menschenrechte zu verabschieden oder internationale Übereinkommen in diesem Bereich abzuschließen […]«,87 bezog sich nur auf die Beitrittsfrage. Zugegeben, die Stärkung des Grundrechtsprofils der Union geschah nicht unwidersprochen, und es verbleiben Unsicherheiten und offene Fragen. Dies mag erklären, warum die Grundentscheidung, die die Grundrechteagentur auf den Weg brachte,
—————— 84 Entscheidung des Rates vom 20. März 2007, CS/2007/7404 (Unterzeichnung des UNÜbereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen). 85 Beispielsweise: Fall C-540/03 Europäisches Parlament gg. Rat [2006] ECR I-5769, Abs. 37– 39 und 58. 86 KOM (2005) 172; Toner 2006: 316. 87 Urteilsbegründung 2/94 zum Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK [1996] ECR I-1759, Absatz 27.
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von den Vertretern der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat getroffen wurde und nicht durch den Europäischen Rat selbst.
II. Die Agentur und die Institutionen der EMRK Die EMRK und ihre Institutionen, der Europarat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, sind Teil des europäischen Verfassungsraums.88 Bisher waren der Schutz und die Förderung der Menschenrechte im europäischen Rechtsraum eher eine Aufgabe dieser Institutionen denn derer der EU. Dementsprechend muss die Agentur vorsichtig in die bestehenden Strukturen eingebettet werden. Im Verlauf der Beratungen über die Errichtung der Agentur wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass sie die Arbeit des Europarates nicht duplizieren oder zu einem institutionellen Wettbewerber werden sollte. Diesen Bedenken wurde im Rahmen der spezifischen inneren Organisation der Agentur Rechnung getragen, beispielsweise durch die enge Einbindung des Europarates auf Leitungsebene.89 Es ist erhellend, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie die Frage des Verhältnisses zwischen der EMRK und dem EGMR auf der einen und dem System der EU auf der anderen Seite in der EU-Grundrechtecharta gelöst wurde. Während der Erarbeitung der Charta war die Frage, ob die EU überhaupt eine eigene Menschenrechtspolitik benötigte, bereits diskutiert worden. Als ein Ergebnis hieraus zielt Art. 52 Abs. 3 der Charta auf eine harmonisierende Anwendung von übereinstimmenden Rechten der Charta und der EMRK ab. Gleichzeitig setzt der gleiche Absatz in seinem zweiten Satz fest, dass »diese Bestimmung nicht dem entgegen steht, dass das Recht der Union einen weitergehenden Schutz gewährt«. In diesem Sinne gehen viele Bestimmungen der Charta über die in der EMRK festgeschriebenen Menschenrechte hinaus. Wie den Mitgliedstaaten ist es auch der EU durch ihre verfassungsmäßige Anerkennung der EMRK-Standards in Art. 6 Abs. 2 EU (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) nicht verwehrt, ein höheres Schutzniveau zu etablieren als das von den Menschenrechtsstandards des Europa-
—————— 88 Dies ergibt bereits der Verweis auf die EMRK in Art. 6 Abs. 2 EU (jetzt Art. 6 Abs. 2 und 3 EUV); Grabenwarter 2008: 5 f. 89 Siehe oben C I.
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rats geforderte.90 Des Weiteren kann nicht klar genug gesagt werden, dass die Union sich mit ihrer Agentur fundamental von einer internationalen Organisation mit dem Auftrag, Menschenrechte zu schützen, unterscheidet: Die EU übt selbst öffentliche Gewalt aus und bedarf daher, wie ein Staat, einer begleitenden Menschenrechtspolitik. Die Bedenken des Europarats wurden so allerdings nicht ausgeräumt. Um ihnen zu begegnen, haben die Agentur und der Europarat am 15. Juli 2008 ein Kooperationsabkommen geschlossen, welches detailliert festlegt, wie die interinstitutionellen Beziehungen gestärkt und eine Duplikation der Arbeit vermieden werden sollen.91 Das Abkommen stellt das Grundprinzip auf, dass sich die Zusammenarbeit mit dem Europarat auf alle gegenwärtigen wie zukünftigen Aktivitäten der Agentur beziehen soll.92 Beide Seiten sollen regelmäßige Konsultationen durchführen, insbesondere hinsichtlich des jährlichen Arbeitsprogramms der Agentur, ihres Jahresberichts und ihrer Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft.93 Das Abkommen enthält auch eine wechselseitige Verpflichtung zum Austausch von während der Tätigkeit generierten Daten und Informationen94 und sieht die Möglichkeit für die Agentur vor, Projekte des Europarats zu finanzieren.95 Beide Institutionen haben das Recht, als Beobachter an den relevanten Sitzungen der anderen Institution teilzunehmen.96 Die Regelungen zielen auf sich ergänzende institutionelle Praktiken ab, einschließlich der Durchführung gemeinsamer Projekte. Zudem könnte die Tätigkeit der Agentur auf lange Sicht gesehen dazu beitragen, die enorme Anzahl von Fällen zu reduzieren, die derzeit den EGMR geradezu überschwemmen und zu einer Krise geführt haben.97
—————— 90 Für eine ausführliche Diskussion der Beziehung zwischen der Agentur und dem Europarat siehe De Schutter 2008: 530 ff. 91 ABl.EU 2008, L 186/7. 92 Nr. 6 des Abkommens (ABl.EU 2008, L 186/8). 93 Nr. 13 a–c des Abkommens (ABl.EU 2008, L 186/9). 94 Nr. 7–11 des Abkommens (ABl.EU 2008, L 186/8). 95 Nr. 15 des Abkommens (ABl.EU 2008, L 186/9). 96 Nr. 4 des Abkommens (ABl.EU 2008, L 186/8). 97 Für eine eingehende Analyse und eine Einschätzung von Strategien zum Umgang mit dem Problem siehe Wolfrum/Deutsch 2009; zur »Explosion« der Anzahl der Fälle siehe den »Report of the Group of Wise Persons to the Committee of Ministers«, Council of Europe – Committee of Ministers Doc. CM(2006)203 vom 15 Nov. 2006; am 15. Januar 2010 hat das russische Parlament das Protokoll Nr. 14 angenommen, welches eine Reihe von Maßnahmen zur Bekämpfung der Überlastung des Gerichtshofs enthält. Da Russ-
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Eine intensive Kooperation zwischen Menschenrechtsinstitutionen auf der einen und dem EGMR und dem Europarat auf der anderen Seite könnte sich als entscheidend dafür erweisen, die Arbeitslast des EGMR zu reduzieren. Zu diesen Institutionen gehören natürlich an vorderster Front die Gerichte (einschließlich des EuGH), aber auch Verwaltungen, insbesondere spezialisierte Grundrechtsinstitutionen wie die Agentur. So könnte die Agentur beispielsweise Fälle des EGMR, in denen der Gerichtshof strukturelle Grundrechtsverletzungen in EU-Mitgliedstaaten festgestellt hat, weiterverfolgen und dann einen wohlabgestimmten Einsatz unionaler Regelungskompetenzen empfehlen, um solchen Problemen entgegenzutreten. Diese ausdifferenzierten Mechanismen könnten sich als wirkungsvoller als die des Europarats erweisen, insbesondere wenn die Agentur eng mit der Kommission zusammenarbeitet und es ihr gelingt, zum Zentrum eines breiten Netzwerks von Menschen- und Grundrechtsinstitutionen in ganz Europa zu werden. So könnte die Agentur eine wichtige Rolle bei der Umsetzung von Standards und Entscheidungen aus Straßburg einnehmen.
III. Die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten All dies führt zu einer weiteren, äußerst sensiblen verfassungsrechtlichen Frage: In welchem Umfang können die Organe der EU im Allgemeinen und die Grundrechteagentur im Besonderen Akte der Mitgliedstaaten auf der Basis angeblicher Grundrechtsverletzungen überwachen oder gar angreifen? In Frage stehen hier also auf der einen Seite die durch Art. 6 Abs. 3 EU geschützte Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten und auf der anderen Seite die Rolle der EU als Garant gemeinsamer Standards im Grundrechtsschutz. Bis heute ist die weitgehende Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten in der Ausformung nationaler Politiken zum Schutz der Grundrechte eine der fundamentalen Konstanten der europäischen Integration,98 obwohl sich die EU zu einem Garanten gemeinsamer Verfassungsprinzipien entwickelt hat.
—————— land als einziger Staat das Protokoll noch nicht ratifiziert hatte, steht nach vollständiger Ratifikation Russlands einem Inkrafttreten des Protokolls nichts mehr im Wege. 98 Weiler 1999: 102–129. Dies schließt nicht aus, dass einige Mitgliedstaaten ihre Grundrechte autonom an Europäischen Standards ausrichten, Huber 2008: § 26 Rn 98 ff.
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Art. 7 EUV bestimmt die Rolle der Union im Verhältnis zur Grundrechtssituation in den Mitgliedstaaten.99 Eine Reihe von Indikatoren weist darauf hin, dass die Grundrechtssituation in den Mitgliedstaaten nicht überall den europäischen Grundrechtsstandards genügt. Vor allem der Umgang mit Angehörigen einiger Minderheiten, insbesondere den Roma, hat in manchen Mitgliedstaaten ein so kritisches Maß erreicht, dass möglicherweise sogar die Grenze des Art. 7 EU erreicht sein könnte.100 Allerdings gewährt Art. 7 EUV allein der Agentur keine Kompetenz, sie kann in einem Verfahren unter Art. 7 EUV ausschließlich auf Initiative des Rats tätig werden.101 Ihr autonomes Beobachtungsgebiet ist viel enger gefasst. Der Gründungsverordnung ist zu entnehmen, dass sich die Agentur mit »…Grundrechtsfragen in der Europäischen Union und in deren Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Durchführung des Gemeinschaftsrechts« befasst.102 Weiterhin erscheint die Wortwahl »Durchführung« statt einer weiten Fassung wie »im Anwendungsbereich« bewusst gewählt.103 Bei der Auslegung des Begriffs der »Durchführung« muss jedoch die jüngere Rechtsprechung des EuGH in den Blick genommen werden. Das Gericht statuiert, mit Bezug auf eine generelle Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Notwendigkeit der Beachtung von Grundrechten bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht. Es verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Grundrechte bei der Umsetzung von Unionsrecht zu schützen und nimmt dabei Bezug auf die Charta und die Rechtsprechung des EGMR.104 Diese Entwicklung wurde besonders deutlich im Fall zur Familienzusammenfüh-
—————— 99 Kühling 2009: 657, 662 ff.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert 2007, Art. 7, Rn 7 ff. 100 Als Beispiel für eine vom EGMR in diesem Bereich festgestellte Grundrechtsverletzung siehe die bahnbrechende Entscheidung des Gerichts vom 13. November 2007 zur Diskriminierung der Roma im tschechischen Schulsystem: D. H. und Andere gg. Tschechische Republik, Große Kammer, Antrag Nr. 57325/00; siehe auch die erfolgreiche Beschwerde gegen die Verletzung des Rechts auf Wohnung und gegen die Diskriminierung der Roma in Griechenland unter der europäischen Sozialcharta: Roma Human Rights Centre gg. Griechenland, Entscheidung des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte vom 8. Dezember 2004, Beschwerde Nr. 15/2003; näher Wolfrum 1985: 75–91; Guglielmo 2004: 37–58; De Schutter/Verstichel 2005. 101 Siehe oben C II. 102 Art. 3 Abs. 3 GründungsVO. 103 Wie z.B. im bahnbrechenden ERT Fall: C-260/89 Elliniki Radiophonia Tileorassi AE (ERT) gg. Dimotiki Etairia Pliroforissis and Sotirios Kouvelas, Slg. 1991, I-2925. 104 Siehe zu dieser Entwicklung Bast 2009: 489, 495–507; Kühling 2009: 657, 662 ff.
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rungsrichtlinie aus dem Jahr 2006.105 Wie kritische Stimmen in der Literatur anmerkten, ermöglicht es diese Strategie dem Gericht, Rechtssätze neu auszulegen und die Einschätzungsspielräume der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts zu beschränken.106 Dieser Ansatz erweitert das Konzept der »Durchführung« und damit das mögliche Beobachtungsspektrum der Grundrechteagentur hinsichtlich der Mitgliedstaaten erheblich. Die Ansicht, dass die Agentur eine solide Datenbasis hinsichtlich der Grundrechtssituation in den Mitgliedstaaten aufbauen und auf ein entsprechendes öffentliches Bewusstsein hinarbeiten sollte, hat somit vieles für sich. Zusätzlich sollte sie das Netzwerk zwischen den einschlägigen nationalen Einrichtungen konsolidieren. So könnte sich im Laufe der Zeit durch strukturierten Informations- und Datenaustausch zwischen den nationalen Grundrechtseinrichtungen und der Agentur ein europäisches Grundrechtssystem mit erheblichem Mehrwert entwickeln. Hieraus ist aber nicht zu schließen, dass die Agentur vorrangig die Mitgliedstaaten beobachten sollte. Rechtsetzung und Verwaltungstätigkeit der Union selbst entwickeln eine zunehmende Grundrechtsrelevanz. In den komplexen inter-institutionellen Verhandlungsprozessen der Union kommt Grundrechtsfragen bislang nicht immer ausreichende Bedeutung zu. Die Agentur bietet hier die Gelegenheit, diesem Defizit entgegenzutreten und den Schutz der Grundrechte auszubauen. Die bereits erwähnte Anfrage des Rates zu einer vorläufigen Stellungnahme hinsichtlich des Entwurfs einer Rahmenentscheidung zur Verwendung von Flugpassagierdaten in der Strafverfolgung weist hier den richtigen Weg.
E. Zusammenfassung und Ausblick: Grundrechtsschutz durch unabhängige Verwaltungsstellen Die Agentur stellt eine institutionelle Anerkennung der Tatsache dar, dass sich die EU im Ausgang des letzten Jahrhunderts auf den Weg zu einer eigenständigen, unionsspezifischen Grundrechtspolitik begeben hat. Diese
—————— 105 Fall C-540/03 Europäisches Parlament gg. Rat [2006] ECR I-5769; siehe zu dieser Tendenz auch Fall C-305/05 Ordre des barreaux francophones et germanophones und Andere gg. Rat, Slg. 2007, I-5305, Rn 28. 106 Zu diesem Problem siehe Huber 2008a: 190; Masing 2006: 264.
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Tatsache muss im Kontext der Entwicklung zu einer engen politischen Union, des Beitritts der mittel- und osteuropäischen Staaten mit ihrem nicht immer vollständig überwundenen Hintergrund in autokratischen Herrschaftssystemen und von neuen Kompetenzen der Union in grundrechtssensiblen Politikbereichen gesehen werden. Es gab zuvor keinen institutionellen Mechanismus, der unabhängig und gezielt grundrechtsspezifische Fragen untersuchen und evaluieren konnte. Zudem haben Kompetenzen der Union, wie zum Beispiel Art. 13 EG (jetzt Art. 19 AEUV), das Bedürfnis der EU-Institutionen nach belastbaren Daten zur Grundrechtssituation in den Mitgliedstaaten noch verstärkt. Häufig waren die Mitgliedstaaten entweder nicht in der Lage oder nicht willens, die notwendigen Daten bereit zu stellen. Zudem machten es die unterschiedlichen Verfahren zur Datenerhebung oft unmöglich, die vorhandenen Informationen zu analysieren und zu vergleichen. Eine weitere Aufgabe, die das vorherige institutionelle System nicht zufriedenstellend erfüllte, war die Koordination der Unionspolitik mit menschenrechtlichen Institutionen der Mitgliedstaaten, des Europarates und der internationalen Organisationen in diesem Bereich. Im Hinblick auf die derzeitige rechtliche Grundlage und strukturelle Ausgestaltung der Agentur können die wichtigsten Schlussfolgerungen dieses Beitrages wie folgt zusammengefasst werden: Obwohl sie der Form nach eine Informationsagentur der EU ist, genießt sie doch durch die Bezugnahmen auf das Modell der unabhängigen Menschenrechtsinstitution entsprechend der Pariser Prinzipien der Vereinten Nationen einen gewissen Sonderstatus. Die Agentur wird den Voraussetzungen des UN-Modells derzeit aber nur zum Teil gerecht. Die größte Diskrepanz besteht in ihrer Abhängigkeit von Kommission und Rat hinsichtlich der mehrjährigen Arbeitsprogramme. Grundrechtsschutz durch unabhängige Verwaltungsstellen ist ein relativ neues Modell des Grundrechtsschutzes, das nur langsam rechtswissenschaftlich entdeckt wird.107 Die bisherigen Erfahrungen auf nationaler Ebene zeigen, dass solche Institutionen einen wirksamen und spezifischen Beitrag zur Implementierung von Grund- und Menschenrechten leisten können. Allerdings stellt eine spezialisierte Grundrechtsverwaltung durch unabhängige Stellen keine Alternative zur gerichtlichen Kontrolle dar. Sie
—————— 107 Gusy 2008: 511, 522 ff.; mit einer rechtsvergleichenden Bestandsaufnahme: Aichele 2003.
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ist als ergänzendes administratives Element des Grundrechtsschutzes zu konzipieren, birgt als solche aber erhebliches Potential.
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Die nationale Ebene (Beispiele)
Kombination aus theoretischer ex ante- und konkreter ex post-Prüfung: Das finnische Modell Kaarlo Tuori 1. Die Entwicklung der finnischen Verfassung in den letzten 20 Jahren ist die nordeuropäische Manifestation der Welle des Neuen Konstitutionalismus oder, wie er auch genannt wurde, des Weltkonstitutionalismus, der in den letzten Jahrzehnten weltweit aufgetreten ist. Der Neue Konstitutionalismus ist sogar in jenen europäischen Staaten aufgetreten, so z. B. in den nordeuropäischen Demokratien Schweden und Finnland oder in Großbritannien mit der Verabschiedung des Human Rights Act 1998, die sich nicht mir einer ähnlichen konstitutionellen Vergangenheitsbewältigung konfrontiert sahen, wie die ehemaligen totalitären Staaten. Die neueste Manifestation des Neuen Konstitutionalismus ist die Gründung einer konkreten ex postPrüfung der Gesetzgebung in Frankreich, wo die Gesetzgebungshoheit seit der Revolution ideologisch durch den Rousseau’schen Gedanken der Gesetzgebung als unberührbarer Ausdruck des allgemeinen Willens gestützt wird. In Finnland sind die wichtigsten Meilensteine in der Konstitutionalisierung seiner Rechtsordnung und seines Rechtssystems die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention und deren Aufnahme in innerstaatliches Recht 1990, die Reform des Grundrechtekatalogs der Verfassung im Jahr 1995 und die neue Verfassung von 2000, die eine ex postPrüfung der Gesetzgebung einführte. Der unmittelbare Hintergrund der Konstitutionalisierung in Finnland, wie auch in vielen anderen westeuropäischen Staaten, ist die Europäisierung des Rechtssystems, ein zweigleisiger Prozess mit einer Menschenrechts- und einer EU-(EG-)Rechtsdimension. Der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte ergänzt nicht nur die nationalen gerichtlichen Überprüfungsmechanismen, sondern stellt auch einen Anreiz für deren Entwicklung dar. Daher könnten selbst Kritiker der verfassungsrechtlichen Überprüfung eine nationale der transnationalen Kontrolle vorziehen, und Bedenken der nationalen Souveränität haben wahrscheinlich ihre Rolle gespielt, nicht nur bei der Eingliederung des Europäischen Übereinkommens in die innerstaatliche Rechtsordnung, sondern auch bei der Annahme
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oder Stärkung der institutionalisierten verfassungsrechtlichen Überprüfung in jenen westeuropäischen Staaten, die traditionell der Doktrin der Gesetzgebungshoheit anhingen, wie z. B. Großbritannien und Frankreich. Das EG-Rechtssystem der Vorentscheidungen wurde wiederum dem deutschen und italienischen Modell der konkreten, ex post durchgeführten verfassungsrechtlichen Prüfung nachempfunden, wobei der Luxemburger Gerichtshof die Rolle des Hüters des »höheren« Rechts einnimmt. Ein integrales Element bei der Konstitutionalisierung des EG-Rechts war seitens des Gerichtshofes die Annahme der unmittelbaren Anwendbarkeit und Suprematie des EG-Rechts über kollidierendes innerstaatliches Recht. Die Aufrechterhaltung dieser Grundsätze fällt nicht dem Luxemburger Gerichtshof zu, sondern auch den nationalen Gerichten, von denen im Fall eines kollidierenden Rechts erwartet wird, dem EU-Recht den Vorzug zu geben. Diese Befugnisse zur Überprüfung von Gesetzen im Licht des EURechts haben wahrscheinlich den Boden für die Einführung eines nationalen Systems der ex post durchgeführten verfassungsrechtlichen Prüfung in (ehemaligen?) Bastionen der Gesetzgebungshoheit bereitet, wie zum Beispiel in Großbritannien und in Frankreich, aber auch – wie wir nicht unterschlagen wollen – in Finnland. 2. Bevor das finnische Modell der verfassungsrechtlichen Überprüfung besprochen wird, möchte ich kurz meine Position zur generellen Rechtfertigung einer externen verfassungsrechtlichen Überprüfung von Gesetzen darlegen. Meine Haltung ist die eines moderaten Kritikers: Ich verteidige die verfassungsrechtliche Überprüfung als letztmögliche Instanz, aber ich gebe auch die Relevanz kritischer Meinungen zu, welche Beschränkungen der gerechtfertigen Überprüfung vertreten. Seit ihren frühesten Anfängen in den USA des ausgehenden 18. Jahrhunderts wurden die verfassungsrechtliche Überprüfung und die Oberhoheit der Gerichte von kritischen Debatten über die generelle Rechtfertigung und die legitimen Einschränkungen begleitet. Der globale Trend eines neuen Konstitutionalismus hat die Globalisierung der Kontroverse über die verfassungsrechtliche Überprüfung mit sich gebracht. Nicht nur in den USA, sondern auch in vielen anderen Staaten auf der Welt, sind die Judizialisierung1 und die sich daraus ergebende Courtocracy oder Juristokratie2 unter Beschuss geraten. Die Kritik ist natürlich vielfältig, abhängig von der
—————— 1 Shapiro/Stone Sweet 2002. 2 Hirschl 2007.
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speziellen Form der Überprüfung, auf die sich der Kritiker konzentriert. Es gibt jedoch auch grundsätzliche Themen, die Jeremy Waldron in The Core of the Case against Judicial Review in repräsentativer Weise diskutiert. Er baut seinen Fall auf bestimmten Hintergrundannahmen auf und gibt zu, dass, wenn diese nicht zutreffen, sein Argument auch nicht standhält. Er beschreibt vier Annahmen. Wir befassen uns mit einer Gesellschaft mit 1) demokratischen Institutionen, die in angemessener Weise gut funktionieren, einschließlich einer repräsentativem Legislative, die auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts für Erwachsene gewählt wurde; 2) einer Reihe gerichtlicher Institutionen, die ebenfalls gut funktionieren, die auf nichtrepräsentativer Grundlage eingerichtet wurden, um einzelne Rechtsfälle zu hören, Rechtsstreits beizulegen und die Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten; 3) einer Verpflichtung einer Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft und einer Mehrzahl ihrer Beamten auf den Gedanken der Individual- und Minderheitenrechte und 4) beständigen, wesentlichen und im guten Glauben vertretenen Meinungsverschiedenheiten über Rechte (i.e. was die Verpflichtung auf die Rechte überhaupt bedeutet und welche Auswirkungen diese hat) unter den Mitgliedern der Gesellschaft, die der Idee von Rechten verpflichtet sind.3 Waldron untermauert seinen Fall mit zwei Argumenten, die bereits aus anderen kritischen Einwürfen bekannt sind. Erstens hat die gerichtliche Überprüfung die Tendenz, die wahren Begebenheiten zu verdecken, wenn Bürger im Hinblick auf Rechte verschiedene Ansichten vertreten und sie konzentriert sich auf »Nebenaspekte wie Präzedenzfälle, Rechtstexte und Auslegungen«. Dies könnte man Verrechtlichung von Fragen zu Rechten nennen. Zweitens ist die gerichtliche Überprüfung aus demokratischer Sicht unrechtmäßig. »Durch die Bevorzugung eines Mehrheitsentscheids einer geringen Zahl nicht gewählter und nicht rechenschaftspflichtiger Richter wird gewöhnlichen Bürgern das Wahlrecht entzogen, was geschätzten Grundsätzen der Vertretung und der politischen Gleichheit bei der endgültigen Lösung von Rechtsproblemen widerspricht«.4 Dies ist das berühmte der Mehrheit widersprechende Problem.5 Ich bin von Waldrons Argumentation nicht gänzlich überzeugt. Wenn wir unsere Definition von Demokratie vom Mehrheitsprinzip in Richtung eines beratenden Konzepts ausweiten, bestehen a priori selbst in Bezug auf
—————— 3 Waldron 2006: 60. 4 Ebd.: 53 (Übers. der Zitate durch Verf.). 5 Bickel 1962.
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die konstitutionelle Entscheidung, die häufig kritisch debattiert wird, keine Hürden und erhält damit demokratische Merkmale. Einen Urteilsspruch als etwas notwendigerweise Undemokratisches zu verstehen, ist zu einseitig. Ein weiteres Problem in Waldrons Argumentation sind seine Hintergrundannahmen, die solche Rechtsverstöße ausschließen, die Verteidiger der verfassungsrechtlichen Überprüfung im Sinn haben und die ihrer Meinung nach ein legitimer Gegenstand der Überprüfung sind. Selbst in einem »gesunden«, funktionierenden demokratischen Rechtsstaat – zu denen ich Finnland gerne zählen möchte – können einzelne Fälle auftauchen, bei denen eine verfassungsrechtliche Überprüfung angeraten sein kann. Waldron befasst sich nicht wirklich mit der Verteidigung der verfassungsrechtlichen Überprüfung, die ich vertreten möchte und die ich das Argument der letzten Instanz nenne. Waldron verweist bei seiner Argumentation gegen die gerichtliche Überprüfung auf Kontroversen, wie zum Beispiel jene im Hinblick auf Abtreibung, die von auffälliger ethischer oder moralischer Natur sind und bei denen der politische Aspekt, das heißt die instrumentalisierende Dimension der praktischen Vernunft, eine sekundäre Rolle spielt. Wenn ein Gericht Gesetze über diese Themen aussetzt, erklärt es nicht die politischen Entscheidungen der Legislative für ungültig, sondern vielmehr deren ethischen oder moralischen Ansichten. Wenn das Gesetzgebungsverfahren bereits ethische oder moralische Ausführungen enthält und wenn die Legislative ihre Entscheidung explizit auf ethische und moralische Gründe stützt, dann rechtfertigt das Letzte-Instanz-Argument zugunsten einer verfassungsrechtlichen Überprüfung kein Eingreifen des Gerichts. Abtreibungen mögen die am hitzigsten diskutierten Fälle einer verfassungsrechtlichen Überprüfung sein, aber man ist schlecht beraten, sie als Beispiele anzubringen. Die meisten Gesetzgebungsprojekte verfolgen politische Ziele und eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, Sicherheitserwägungen usw. In Standardfällen ist das gesetzgebende Motiv vorwiegend pragmatischer Natur und moralische und ethische Erwägungen spielen lediglich die Rolle von untergeordneten Einschränkungen; das Verhältnis von pragmatischen zu ethischen und moralischen Aspekten verhält sich in exakt umgekehrter Weise zu ihrer jeweiligen Bedeutung für das Recht auf Abtreibung. Und mit genau diesen Standardfällen befasst sich das Argument der letzten Instanz. Die Sorgen über Demokratie und Politisierung richterlicher Entscheidungen sind berechtigt und warnen vor einem Überschreiten legitimer
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Grenzen der verfassungsrechtlichen Überprüfung und der Umkehrung ausdrücklicher politischer oder wertegebundener Entscheidungen der Legislative. Sie sind jedoch nicht ein tödlicher Schlag gegen eine gerechtfertigte gerichtliche Überprüfung, sondern lediglich eine Erinnerung an ihre Grenzen. Gleichermaßen relevant ist die Bedrohung durch eine Verrechtlichung der Politik, die sich aus einer übermäßigen »flächendeckenden« Interpretation der Verfassung ergibt. Versuche, kontroverse politische oder wertegebundene Entscheidungen durch eine verfassungsrechtliche Auslegung zu zementieren, neigen dazu, die Freiheit der demokratischen politischen Ausführungen und Entscheidungsfindung einzuschränken. Man muss sich auch der Gefahren einer versteinerten verfassungsrechtlichen Doktrin bewusst sein. Nichtsdestotrotz sollte man nicht zulassen, dass das Argument der Verrechtlichung die positive Rolle verdeckt, welche die Doktrin bei der Sicherung der Beständigkeit und Kontrollierbarkeit der verfassungsrechtlichen Entscheidung spielt. Im Verfassungsrecht, wie auch in anderen Rechtsbereichen, sind dogmatische Konstruktionen notwendig, man darf jedoch nicht zulassen, dass sie zu ideologischen Formulierungen versteinern, welche die jeweiligen Themen behindern, anstatt ihnen zu dienen. 3. Die Debatten über die verfassungsrechtliche Überprüfung konzentrieren sich in der Regel auf drei grundlegende Verfassungsmodelle: das US-amerikanische Modell der dezentralisierten verfassungsrechtlichen Überprüfung, das deutsche zentralisierte Modell des Verfassungsgerichtes und das (vor 1998) britische Modell der parlamentarischen Oberhoheit, das keine externe Überprüfung parlamentarischer Gesetzgebung zulässt. Obwohl der Fall gegen die gerichtliche Überprüfung, auf der Grundlage des der Mehrheit widersprechenden Problems oder des demokratischen Arguments und der Verrechtlichung des Rechte-Diskurses, behauptet, eine allgemeinere Reichweite zu haben, gründet er vor allem auf der US-amerikanischen Erfahrung. Nichtsdestotrotz weist auch die Kritik am deutschen Modell ähnliche Bedenken auf. Die Kritiker sehen im Verfassungsgericht eine dritte legislative Kammer, die sich nicht mit Kelsens Rolle des negativen Gesetzgebers zufrieden gibt, sondern sich zu einem höchst signifikanten positiven Gesetzgeber entwickelt hat.6
—————— 6 Kelsen 1929.
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Das deutsche Modell hat weltweiten Ruhm als Alternative zum USamerikanischen Modell der verfassungsrechtlichen Überprüfung erlangt. Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg neue, zwischenzeitliche oder hybride Formen hervorgebracht hat, die man weder dem deutschen noch dem US-amerikanischen Modell der Gesetzgebungshoheit zuordnen kann. Diese werden häufig ignoriert, obwohl man sie als Experimente betrachten kann, welche die grundsätzliche Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Kontrolle eingestehen, aber versuchen, die problematischen Folgen zu vermeiden, vor denen uns die Kritiker warnen. Dies trifft für die Innovationen zu, die Stephen Gardbaum unter dem Label New Commonwealth Model of Constitutionalism gesammelt hat.7 Ich möchte auch das finnische System der verfassungsrechtlichen Überprüfung zu den neuen Hybridformen rechnen. Im Hinblick auf die ex post durchgeführte verfassungsrechtliche Überprüfung hat sich Finnland, wie andere nordische Staaten auch, für das US-amerikanische dezentralisierte Modell entschieden. Die Einzigartigkeit des finnischen Systems liegt in seiner Kombination einer abstrakten ex ante und konkreten ex post durchgeführten Überprüfung. In der finnischen Demokratie, wie auch in anderen nordischen Staaten, hat sich das Parlament traditionell eines sehr prominenten Status gegenüber den Gerichten erfreut. Seine höhere Position hat sich z. B. in der hohen Stellung von Gesetzesmaterialien in der Hierarchie von Rechtsquellen manifestiert, die höher ist als bei Vorläufern der Verfassungsgerichte. Vor der Verfassungsreform im Jahr 2000 gestattete das finnische System keine ex post durchgeführte Kontrolle der Gerichte hinsichtlich der Verfassungskonformität der parlamentarischen Gesetzgebung. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit bestand ausschließlich in einer ex anteÜberprüfung, die vom Parlamentsausschuss für Verfassungsrecht durchgeführt wurde. Der Ausschuss für Verfassungsrecht ist ein eigenartiges quasi-rechtliches Organ. Wie andere Ausschüsse auch, setzt er sich aus Mitgliedern des Parlaments zusammen und hat damit einen politischen Charakter. Seine Ausführungen basieren jedoch auf den Meinungen von Verfassungsrechtlern, vorwiegend Universitätsprofessoren, und in der Regel hält sich der Ausschuss an deren Meinungen. In ihrer Einhaltung eines rechtlichen und
—————— 7 Gardbaum 2001.
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nicht so sehr politischen Argumentationsmusters unterscheiden sich die Berichte des Ausschusses für Verfassungsrecht erheblich von jenen anderer Parlamentsausschüsse. So verweisen die Berichte z. B. regelmäßig auf verfassungsrechtliche Präzedenzfälle, welche das fragliche Thema entscheiden, dennoch fühlt sich der Ausschuss keinesfalls der strikten Doktrin des stare decisis unterworfen. Die Experten des Ausschusses für Verfassungsrecht haben kein offizielles Amt, ihre Rolle wird weder in der Verfassung noch der Geschäftsordnung des Parlaments genannt. Trotzdem ist ihre Aufgabe ausschlaggebend, und es ist kaum vorstellbar, dass der Ausschuss sich einmal nicht an eine einstimmige Expertenmeinung hält. Gibt es vielfältige Expertenmeinungen, so gewinnt die politische Ausrichtung der Mitglieder mehr Gewicht und die Abstimmung spiegelt die Trennlinien zwischen Regierung und Opposition wider, obwohl dies selten vorkommt. Obwohl der Ausschuss der institutionellen Struktur des Parlaments angehört, fallen seine Ausführungen nicht unter das reguläre parlamentarische Verfahren. Er wird nur dann angerufen, wenn es Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines geplanten Gesetzes gibt. Im Gegensatz zur abstrakten ex ante-Überprüfung durch viele Verfassungsgerichte oder ein Quasi-Gericht wie den französischen Conseil constitutionnel wurde der Ausschuss nicht in ein Instrument der politischen Opposition verwandelt. Vielmehr ist es bei Standardfällen gerade die Regierung, die im Gesetzesvorschlag, den sie dem Parlament vorlegt, diesem rät, den Ausschuss anzurufen. Die Einleitung einer verfassungsrechtlichen Überprüfung führt nur selten zu politischen Kontroversen. Die Einschätzung des Ausschusses ist für das Parlament bindend. Allerdings ist es seit dem 19. Jh. ein wesentliches Merkmal des finnischen Modells, dass das Parlament die Macht hat, die Entscheidung des Ausschusses durch eine Ausnahmeregelung zu überstimmen: ein Gesetz, das der Ausschuss für verfassungswidrig befunden hat, kann immer noch in einem für eine Verfassungsänderung erforderlichen Verfahren beschlossen werden. Die neue Verfassung von 2000 hat keine formalen Änderungen der ex ante-Überprüfung durch den Ausschuss für Verfassungsrecht gebracht. Die wichtigste Neuerung war die Einführung einer konkreten ex post-Überprüfung. Art. 106 der Verfassung besagt, dass »wenn in einer Angelegenheit, die vor Gericht verhandelt wird, die Anwendung eines Gesetzes nachweislich im Konflikt mit der Verfassung steht, das Gericht der Bestimmung der Verfassung den Vorrang einräumen muss«. Nichtsdestotrotz wäre es übereilt, daraus zu schließen, dass Art. 106 einen radikalen Bruch mit der finni-
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schen Verfassungstradition darstellt, eine entschiedene Abkehr von der ex ante-Kontrolle des Ausschusses für Verfassungsrecht in Richtung einer gerichtlichen ex post-Überprüfung. Die Gerichte wurden lediglich mit einer schwächeren Form einer starken gerichtlichen Überprüfung betraut: Sie haben zwar nicht die Befugnis, ein Gesetz für nichtig zu erklären, aber sie können es für den jeweiligen Fall außer Acht lassen. Wie in den Rechtsmaterialien zur Vorbereitung der Verfassung explizit angegeben, bleibt die primäre Aufgabe der Gerichte, im Hinblick auf die Durchsetzung der Verfassung die Statuten in Abstimmung mit den verfassungsrechtlichen Bestimmungen auszulegen. Auch die Vorbereitungsmaterialien für die Verfassung betonten die Vorrangigkeit der ex ante-Kontrolle in der neuen Verfassung. Entsprechend hat der Oberste Gerichtshof in seiner einzigen Entscheidung, bei der er sich auf Art. 106 bezieht, erklärt, dass »die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze vor allem dem Ausschuss für Verfassungsrecht zukommt, dem im Gesetzgebungsprozess eine ex ante-Überwachung zufällt«8. Es kann durchaus sein, dass in der Praxis die wichtigste Folgeerscheinung, die von der Möglichkeit einer konkreten ex post-Kontrolle eröffnet wurde, ein gründlicheres ex ante-Monitoring sein wird. Und tatsächlich hat sich die Arbeitslast des Ausschusses für Verfassungsrecht, gemessen an der Zahl seiner Berichte, nach der Grundrechtereform 1995 und dem Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahr 2000 signifikant erhöht. In den Vorbereitungsmaterialien für die neue Verfassung wurde die Vorrangigkeit der ex ante-Überprüfung in der Forderung nach einem nachweislichen Konflikt gemäß Art. 106 verankert. Wenn der Ausschuss für Verfassungsrecht in seiner ex ante-Überprüfung explizit erklärt hat, dass das fragliche Statut nicht der Verfassung widerspricht, ist es kaum vorstellbar, dass ein Gericht einen nachweislichen Konflikt mit einer Verfassungsbestimmung feststellen wird. Die Befugnis des Parlaments, die Entscheidung des Ausschusses für Verfassungsrecht zu überstimmen, ähnelt der kanadischen NotwithstandingKlausel. In den Jahrzehnten vor den Verfassungsreformen 1995 und 2000 kritisierten einige Verfassungsrechtler die Ausnahmeregelungen als Schwächung des Schutzes der Grundrechte und als Umwandlung der verfassungsrechtlichen ex ante-Überprüfung in eine rein formale Beurteilung der zu befolgenden legislativen Verfahren. Tatsächlich ist die Zahl der Aus-
—————— 8 KKO 2004: 26.
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nahmeregelungen schon vor den Verfassungsreformen 1995 und 2000 erheblich gesunken. Laut den Vorbereitungsmaterialien für die neue Verfassung soll nur selten auf die Ausnahmeregelung zurückgegriffen werden, nämlich als Regel nur dann, wenn sie notwendig ist, um einen internationalen Vertrag oder eine andere Verpflichtung des internationalen Rechts aufzunehmen. Ausnahmeregelungen haben viel ihrer vormaligen Bedeutung verloren, und bei Feststellung eines Konfliktes mit der Verfassung begnügt sich der Ausschuss für Verfassungsrecht nicht mehr damit, zur Verfahrensfrage Stellung zu nehmen, sondern weist auf, wie das Gesetz geändert werden sollte, um diesen Konflikt beizulegen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das finnische Modell der verfassungsrechtlichen Überprüfung durch die zentrale Rolle des Ausschusses für Verfassungsrecht eine bemerkenswerte parlamentarische Prägung aufweist. Die Judikative hat nicht die dominante Rolle angenommen, die Kritiker des US-amerikanischen und deutschen Modells kritisieren, sondern eine rein ergänzende Funktion erhalten. Aber auch im finnischen Modell sind Zeichen einer Judizialisierung und Verrechtlichung der Politik erkennbar. Schließlich stellt der Ausschuss für Verfassungsrecht ein quasirechtliches Element innerhalb der Legislative dar, und seine steigende Bedeutung kann zu einer bestimmten Verrechtlichung der Gesetzgebungspolitik werden. In den von der Regierung dem Parlament vorgelegten Gesetzesentwürfen ist eine Zunahme der Verweise auf verfassungsrechtlich verankerte Grundrechtsbestimmungen zu erkennen. Dies spiegelt ein erhöhtes Bewusstsein für die Grundrechte in der Rechts- und politischen Kultur wider und kann damit grundsätzlich als positives Phänomen betrachtet werden. Trotzdem sollte man auch die Gefahr einer Verrechtlichung bei dieser Entwicklung nicht ignorieren. 4. Das Kriterium eines nachweislichen Konflikts mit der Verfassung als Voraussetzung für die Befugnis der Gerichte, ein parlamentarisches Gesetz auszusetzen, erfüllt auch noch andere wichtige Funktionen neben der Feststellung der Vorrangigkeit der ex ante-Überprüfung, die vom Ausschuss für Verfassungsrecht ausgeübt wird. Mit der expliziten Nennung dieses Kriteriums haben die finnische und schwedische Verfassung die Bitte nach gerichtlicher Zurückhaltung positiviert. In Bezug auf die allgemeine Forderung nach gerichtlicher Zurückhaltung schließt das Kriterium eines nachweislichen Konflikts den Vorrang interpretatorischer Mittel zur Vermeidung von Widersprüchen mit der Verfassung ein. Dementsprechend betonten die
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Vorbereitungsmaterialien für den Grundrechtskatalog von 1995 und die neue Verfassung von 2000 die Verpflichtung der Gerichte, die Gesetze im Einklang mit der Verfassung auszulegen. Diese Verpflichtung verbindet das finnische Modell mit den Beispielen des New Commonwealth Model of Constitutionalism wie z. B. dem neuseeländischen Grundrechtskatalog und dem britischen Human Rights Act von 1998, die ebenfalls auf dem Vorrang der interpretativen Instrumente gründen. In Deutschland wurde die vermutete Gefahr einer Politisierung der richterlichen Entscheidung und einer Verrechtlichung der Politik – eine Entwicklung, die als ein »Wandel von einem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat in einen verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat« bezeichnet wird9 – auf bestimmte Doktrinen bezogen, die vom Verfassungsgericht angenommen wurden; wie z. B. Grundrechtsnormen als Rechtsgrundsätze; Drittwirkung von Grundrechtsnormen und die Schutzpflicht des Staates. In Zusammenhang mit der Reform des Grundrechtskatalogs von 1995 haben diese Doktrinen auch Einlass in das finnische Verfassungsrecht gefunden. Allerdings beschränkt die Klausel über den nachweislichen Konflikt deren Einfluss. Damit kann man in Anlehnung an diese Klausel argumentieren, dass es dem Gesetzgeber – und nicht den Gerichten – überlassen bleibt, über die Drittwirkung der Grundrechte auf die Beziehung von Privatpersonen zu entscheiden. Dies gilt sowohl in Bezug auf die traditionelle Rechtsstaatsfunktion der Freiheitsrechte als auch in Bezug auf ein Bollwerk gegen eine willkürliche Machtausübung und für ihre Rolle als allgemeine Rechtsgrundsätze mit potenziellen Folgen in allen Rechtsbereichen. Die vermutete Vernachlässigung der Drittwirkung der Grundrechte durch ein Gesetz kann schwerlich als nachweislicher Konflikt mit der Verfassung herhalten. Ursprünglich wurde das Kriterium des nachweislichen Konflikts der schwedischen Verfassung entliehen. Gegenwärtig wird eine Verfassungsreform sowohl in Schweden als auch in Finnland erwogen. Es wurden Stimmen laut, die Einschränkung einer verfassungsrechtlichen ex post-Überprüfung abzuschaffen. Allerdings impliziert dies, wie ich bereits argumentiert habe, wichtige normative Botschaften, die nichts von ihrer Relevanz verloren haben.
—————— 9 »Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat« (Böckenförde 1991: 190).
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Literatur Bickel, Alexander (1962), The Least Dangerous Branch, Bobbs-Merrill, New York 1962. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1991), Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, S. 159– 199. Gardbaum, Stephen (2001), The New Commonwealth Model of Constitutionalism, in: American Journal of Comparative Law 49 (2001), S. 707–760. Hirschl, Ran (2007), Juristocracy, Harvard Univ. Press, Cambridge (Mass.)/London 2007. Kelsen, Hans (1929), Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 5, Berlin/Leipzig 1929, S. 30–123. Shapiro, Martin/Stone Sweet, Alec (2002), On Law, Politics, and Judicialization, Oxford University Press, Oxford 2002. Waldron, Jeremy (2006), The Core of the Case against Judicial Review, in: Yale Law Review 115 (2005–2006), S. 1346–1407.
Definitions- und Entwicklungsprozesse der Menschenrechte außerhalb der Volkssouveränität. Ein Kommentar Richard Clayton 1. Es war mir eine Ehre, der Konferenz beizuwohnen und mich an den Debatten zu beteiligen. Der Vortrag von Herrn Kaarlo Tuori hat mir sehr gut gefallen. Obwohl ich viel weniger über die Struktur des Menschenrechtsschutzes in Finnland weiß, als ich eigentlich sollte, unterstreicht Herrn Tuoris Vortrag, wie vielfältig die Systeme sind, die wir in zahlreichen Staaten des Europarats implementiert haben, um die Menschenrechte zu schützen. 2. Eines der Hauptthemen, das während dieser UniDem-Tagung zu Diskussionen geführt hat, ist, ob der gerichtliche Schutz der Menschenrechte in Konflikt mit der Idee der Volkssouveränität steht (wie im demokratischen Prozess verkörpert). Es scheint mir jedoch, dass einige der Redner die Position übertrieben haben, und ich möchte zwei kurze Anmerkungen machen. 3. Erstens ist es nicht schwierig, einen Menschenrechtsschutz zu erlangen, der nicht die legislativen Vorrechte unterminiert, wie man am Human Rights Act in Großbritannien erkennen kann. Zweitens ist der Hinweis, das demokratische System schütze unterdrückte Minderheiten auf eine Weise, die gerichtliche Rechtsmittel bei Verstößen gegen die Menschenrechte überflüssig mache, bei näherer Betrachtung nur schwer aufrecht zu erhalten. 4. Wie allgemein bekannt ist, sind das grundlegende Rechtsprinzip und die politische Tatsache, welche sich wie ein roter Faden durch das britische Verfassungsrecht ziehen, der Gedanke, dass keine Handlung einer souveränen Legislative (bestehend aus der Königin, den Lords und Commons) in den Augen der Gerichte ungültig sein kann, dass es der Legislative gemäß der Verfassung immer offen steht, jegliches Gesetz aufzuheben und dass kein Parlament seine Nachfolger binden kann.1 Die traditionelle For-
—————— 1 Wade, William, The Basis of Legal Sovereignty (1955) CLJ 172, 174.
DEFINITIONS- UND ENTWICKLUNGSPROZESSE
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mulierung der parlamentarischen Souveränität benötigt heute eine Modifizierung, um die britische Mitgliedschaft zur Europäischen Gemeinschaft2 und die Idee widerzuspiegeln, dass es die Gerichte sind, die die Doktrin überwachen.3 5. Trotzdem ist das Prinzip der parlamentarischen Souveränität entscheidend für die verfassungsrechtliche Lösung, die über den Human Rights Act 1998 (HRA) zur Inkraftsetzung der Europäischen Konvention führte. Laut dem HRA haben die Gerichte keine Befugnis, das Parlament zu überstimmen oder Gesetze außer Kraft zu setzen. Statt dessen haben die Gerichte laut Abschnitt 3 des HRA die Befugnis, die Gesetze dahingehend auszulegen, dass sie mit den Konventionsrechten vereinbar sind. Wie Lord Nicholls im Fall Ghaidan v Godin Mendoza betont hat, hat Abschnitt 3 einen ungewöhnlichen und weitreichenden Charakter; er kann vom Gericht verlangen, die eindeutige Bedeutung aufzugeben, welche die Gesetzgebung ansonsten hätte.4 Wenn jedoch der Konflikt zwischen einer gesetzlichen Bestimmung und dem Konventionsrecht nicht behoben werden kann, ist das Gericht befugt, eine Inkompatibilitätserklärung abzugeben.5 6. Das Ergebnis ist, dass die Gerichte die legislative Absicht entweder durch eine überstrapazierte gesetzliche Auslegung oder durch eine Inkompatibilitätserklärung aussetzen können. Das Parlament hat aber das letzte Wort. Anders als der US-amerikanische Supreme Court, dessen Meinungen über Verfassungsrechte nur durch einen komplexen Prozess der Verfassungsänderung verworfen werden können, steht es der britischen Legislative immer offen, die Entscheidungen der Gerichte gemäß HRA umzukehren. In Folge wurde der Grundsatz der parlamentarischen Souveränität bewahrt und das HRA vermeidet das Schreckgespenst der gerichtlichen Vorherrschaft, die das amerikanische System geschaffen hat. 7. Zweifelsohne profitieren wir alle vom Austausch unterschiedlicher Erfahrungen, wie Menschenrechte durch die innerstaatliche Legislative umgesetzt werden können. Aber das HRA bietet ein Modell, das zeigt, dass es keinen zwangsläufigen Konflikt zwischen den Gerichten und der Legislative bei Menschenrechten geben muss.
—————— 2 Siehe R v Secretary of State for Transport, ex p Factortame Ltd (No 2) (1990) ECR I-2433. 3 Siehe R (Jackson) v Attorney General (2006) 1 AC 262, insbesondere, Lord Steyn Abs. 102 und Lord Hope Abs. 107. 4 (2004) 2 AC 557, Abs. 30. 5 Gemäß Abschnitt 19 des HRA.
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8. Im nächsten Schritt möchte ich etwas zu einer Behauptung sagen, die einige Redner aufgestellt haben, die die Rolle der Gerichte dahingehend kritisiert haben, sie eigneten sich demokratische Funktionen an, indem sie über Menschenrechte urteilten. Natürlich wurde das HRA (wie alle Menschenrechtsinstrumente) durch mächtige und reiche Eliten für ihre Zwecke genutzt, und es ist nur schwer zu erkennen, wie Mechanismen geschaffen werden können, die dieses Phänomen überwinden oder verhindern können. 9. Aber ich denke, dass der Wert der Bereitstellung von Menschenrechten, die durch die Gerichte durchgesetzt werden, eine tiefergehende Bedeutung hat. Die grundsätzlich Begünstigten der Menschenrechte sind die politisch Enteigneten: Minderheiten, Sinti und Roma, Häftlinge, mutmaßliche Terroristen usw. Sie haben keinen Anteil am politischen Prozess, weil es selten zu Abstimmungen für Politiker kommt, die ihre Sache vertreten. 10. Nehmen wir z. B. die wichtige Entscheidung der Grand Chamber im Fall A v Großbritannien, bei dem entschieden wurde, dass mutmaßliche Terroristen ein uneingeschränktes Recht auf faire Einsicht in die gegen sie erhobene Anklage haben, auf der ihre Verhaftung basiert.6 Obwohl es an Kafkas Prozess erinnern würde, einem Häftling dieses Recht auf Einsicht zu verweigern, ist es einfach unvorstellbar, dass diese Rechte auf faire Behandlung ausdrücklich vom Parlament durchgesetzt würden. Tatsächlich hat das House of Lords diesen Grundsatz abgelehnt, als er vor ihm geltend gemacht wurde, bis es vom Straßburger Gerichtshof eins Besseren belehrt wurde,7 was erneut unterstreicht, warum internationale Gerichte eine solch ausschlaggebende Rolle beim Schutz der Menschenrechte spielen.
—————— 6 Urteil vom 19. Februar 2009. 7 Secretary of State for the Home Department v MB (2005) 2 AC 738, bei dem drei der vier Lordrichter, die die Mehrheit bildeten, favorisierten, den Fall zur erneuten Verhandlung an die erste Instanz zurückzuverweisen (Baroness Hale, Lord Carswell und Lord Brown). Nur Lord Bingham vertrat die Meinung, dass das Konzept der Fairness »einen Kern, ein uneingeschränktes Minimum an Verfahrensschutz« enthalte und gegenüber dem Häftling die Offenlegung der ihm vorgeworfenen Taten einschließe: siehe Abs. 41 und 43. Allerdings übernahmen nach der Entscheidung der Grand Chamber im Fall A ein Gremium aus neun Richtern im House of Lords den Ansatz von Lord Bingham: siehe Secretary of State for the Home Department v AF (Nr. 3) (2009) 3WLR 74 (Übers. des Zitats durch Verf.).
Definitions- und Entwicklungsprozesse der Menschenrechte außerhalb der Volkssouveränität: Gerichtliche Prüfung als Ersatz für politische Willensbildung Péter Paczolay
I. Entwicklung der Menschenrechte? Unsere Tagung konzentriert sich auf die Definition und die Entwicklung der Menschenrechte. Das Thema, welches in diesem Beitrag behandelt wird, ist das Verhältnis zwischen souveräner Rechtsetzung und den Gerichten. Ich habe das Gefühl, dass wir voraussetzen, dass die Menschenrechte sich tatsächlich entwickeln. Ich fürchte, dass die Realität weitaus pessimistischer ist. Obwohl ich zugebe, dass es eine klare historische Tendenz einer Entwicklung und Ausbreitung der Menschenrechte gibt, markiert der Beginn des 21. Jh. eine Krise und ein Nachlassen im Schutz der Menschenrechte. Zu den Ursachen dieses Nachlassens kann man die Schwäche der internationalen Gemeinschaft zählen, effektiv auf massenhafte Verstöße gegen Menschenrechte zu reagieren. Ein weiterer Trend definiert die Hierarchie der Menschenrechte neu, und um die Menschenwürde zu schützen und unterschiedliche Formen von Hass zu bekämpfen, sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene, werden klassische politische Freiheiten, wie z. B. die Redefreiheit, beschnitten. Die Legitimität der gerichtlichen Prüfung, bei der es sich um eine antimehrheitliche Institution handelt, entstammt der Annahme, dass die gerichtliche Prüfung zu einer Erhöhung des Menschenrechtsschutzes beiträgt. Richter Jackson am US Supreme Court hat dies sehr zutreffend beschrieben: »Der eigentliche Zweck der Bill of Right war, bestimmte Themen den Wechselfällen der politischen Kontroverse zu entziehen, sie außerhalb der Reichweite von Mehrheiten und Beamten zu stellen und sie als Rechtsgrundsätze zu etablieren, die von den Gerichten angewandt werden. Das Recht des Einzelnen auf Leben, Freiheit und Eigentum, die Redefreiheit, die Pressefreiheit, die Religions- und Ver-
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sammlungsfreiheit dürfen nicht der Abstimmung unterworfen werden; sie hängen von keinen Wahlen ab.«1
Allerdings ist die positive Rolle der gerichtlichen Prüfung soziologisch nicht erwiesen: Richter könnten zur Entwicklung der Menschenrechte beitragen, sie manchmal aber auch aushöhlen.
II. Vom »Sprachrohr des Rechts« zur »Regierung durch die Gerichte« Der klassische Ansatz der Rolle der Gerichte basiert auf zwei Unterteilungen: – Erstens die Gewaltentrennung, welche die Rolle der Gerichte auf die Anwendung der Gesetze beschränkt (besonders in Staaten mit bürgerlichem Recht) wie von Montesquieu formuliert, der den Richter lediglich das Sprachrohr des Rechts nennt (bouche de la loi). – Zweitens die Trennung von Politik und Recht, das heißt dass die politische Entscheidungsfindung den Organen der Volkssouveränität obliegt (repräsentative und/oder direkte Demokratie), getrennt von der Welt des Rechts. Allerdings wurde die Annahme dieser strikten Dichotomie spätestens seit den 1920er Jahren in Frage gestellt. In dieser Zeit wurde das Konzept und der Vorwurf der »Regierung durch die Gerichte« laut. Der Rechtsrealismus, der in den 1930er Jahren in den USA sehr beliebt wurde, trug zur neuen Sichtweise der richterlichen Aktivität bei. Kelsen merkt bereits 1926 an, dass die richterlichen Entscheidungen nicht nur eine Bekanntmachung des Rechts und eine Betonung des Willens der Legislative seien. Die Richter schafften bei der Auslegung des Rechts in einem Prozess individuelle Rechtsnormen.2 Das Problem der politischen und richterlichen Entscheidungsfindung ist im Fall der gerichtlichen Prüfung sogar noch komplizierter.
—————— 1 West Virginia State Board of Education v. Barnette, 319 US (1943) 624, 638. – Übersetzungen der Zitate durch Verfasser. 2 Kelsen 1926.
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Die gerichtliche Prüfung wurde bei ihrer Geburt in der amerikanischen Erfahrung als Spannung zwischen höherem Recht und Volkssouveränität verstanden. Das amerikanische Politik- und Rechtsverständnis im 18. Jahrhundert entwickelte zwei zusammenlaufende Theorien: Die des Grundrechts als höherem Recht und das Konzept des Volkswillens als Volkssouveränität. Der amerikanische Konstitutionalismus entwickelte sich in der Interaktion dieser zwei Werte: Volkssouveränität und Rechtsstaatsprinzip. Die zwei Werte sind in den politischen Ministerien bzw. der Judikative verkörpert. »Volkssouveränität verweist auf den Willen; Grundrecht auf die Grenzen.«3
Volkssouveränität kann auf verschiedene Weise ausgeübt werden: entweder direkt oder durch Vertreter des Volkes. Die Venedig-Kommission hat vor kurzem in einem Sachverständigengutachten die Bedeutung von Volkssouveränität erklärt.4 »Es ist offensichtlich, dass in einem Verfassungsstaat der Gedanke einer Macht, die keiner Beschränkung und keinen Verpflichtungen auf Grundlage der Verfassung unterliegt, nicht akzeptiert werden kann. Die Volkssouveränität, die im Rahmen eines verfassungsrechtlichen Systems geschaffen wird, darf nicht als konstituierende Macht missverstanden werden, und es ist absolut mit der Volkssouveränität vereinbar, zu fordern, dass ihre Ausübung bestimmten Verfahren folgen muss […] Die Volkssouveränität ist ein sehr allgemeines Prinzip, das durch die konkreteren Bestimmungen der Verfassung operativ wird, und sie kann nicht dazu benutzt werden, diese Bestimmungen außer Acht zu lassen.«
Die begrenzte Rolle der Judikative, im Vergleich zu den »politischen« Bereichen, hat im 20. Jahrhundert dramatische Veränderungen erlebt und der allgemeine Vorwurf wurde gegen die Richter unter dem Etikett »Regierung durch die Gerichte« erhoben und zum ersten Mal 1922 von Lambert formuliert.5
—————— 3 McCloskey 1960: 12. 4 Entwurf Amicus Curiae für das Verfassungsgericht von Albanien über die Zulässigkeit eines Referendums über die Außerkraftsetzung von Verfassungsänderungen, CDL (2009)030. 5 Lambert 1922.
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III. Judikative und Demokratie Die grundlegende Spannung zwischen gerichtlicher Prüfung und demokratischer Theorie ist das dem Mehrheitsprinzip zuwiderlaufende Wesen der gerichtlichen Prüfung. Wie am obigen Zitat deutlich zu erkennen, beschränkt die gerichtliche Prüfung den Willen des Volkes. Allerdings überschritten die Ausweitung der gerichtlichen Prüfung und die wachsende Bedeutung der Verfassungsgerichte jene Grenzen, die Kelsen, der Vater des europäischen Modells der gerichtlichen Prüfung, dieser sensiblen Institution zusprach.6 Die europäische gerichtliche Prüfung hielt sich nicht an die Grenzen des negativen Gesetzgebers, sondern schrieb häufig positive Regelungen für den Gesetzgeber oder den gewöhnlichen Richter vor. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die Richter sich routinemäßig an der Formulierung und Umsetzung der öffentlichen Politik beteiligten und damit auf soziale Forderungen reagierten.7 Die orthodoxe Auffassung der Dichotomie von Politik und Recht wurde Ende der 1950er Jahre überschritten. Der Beitrag von Robert A. Dahl, der beim Role of the Supreme Court Symposium vorgestellt und 1957 veröffentlicht wurde (Decision-making in a democracy: the Supreme Court as a national policy-maker)8, eröffnete den Weg für eine dramatisch neue Herangehensweise an die politische Rolle von Richtern. Dahl belegte die These, dass der Supreme Court nicht nur eine Rechtsinstitution ist, sondern »auch eine politische Institution, eine Institution, die sozusagen Entscheidungen über kontroverse Fragen der nationalen Politik fällt.«9 Dahl belegte seine These durch soziologische Analysen und argumentierte überzeugend, dass das Gericht häufig zwischen kontroversen Alternativen der Politik wählen muss, indem es sich auf zumindest einige Akzeptanzkriterien bei Tatsachen- und Wertfragen stützt, die man nicht im bestehenden Recht oder in der Verfassung findet oder aus diesen ableiten kann.10 Diese Alternativen decken manchmal schwere Gräben innerhalb der Gesellschaft auf, wie z. B. in bezug auf die Segregation, Wirtschaftsregulierung oder später bei der Abtreibung. Dahl verdeutlichte auch, dass das Gericht, das sich durch das Mehrheitskriterium und die Kriterien des
—————— 6 7 8 9 10
Kelsen 1928: 197–257; Triepel 1929. T. Becker 1970. Dahl 1957: 280. Ebd.: 279. Ebd.: 281.
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Rechts oder der Gerechtigkeit manövriert, (1) mit der Minderheit gegen die Mehrheit entscheiden kann, (2) mit der Mehrheit stimmen kann oder (3) mit einer Minderheit gegen andere Minderheiten stimmen kann. Dabei kann das Gericht entweder eine bestimmte Politik fördern oder sie verzögern. Einige Jahre später beschrieb Gabriel Almond in The Politics of the Developing Areas (1960) einen funktionalen Ansatz der Regierungsaktivitäten. Die »Ausgabe«-Funktionen der Regierung bestehen aus dem Fällen von Entscheidungen, der Anwendung von Entscheidungen und den Entscheidungsfunktionen über Regelungen. Laut Almond sind die Strukturen einer Regierung multifunktional. Dies bedeutet, dass die Regeln sowohl von Beamten und Richtern als auch von der Legislative gemacht werden. Die Regeln werden von den Gerichten und von der Exekutive angewendet und die Entscheidungen werden von Beamten und Ministern und Richtern gefällt.11 Die funktionale Doktrin der Gewaltenteilung ersetzte die reine Theorie der Gewaltenteilung. Nimmt man zum Beispiel die Gerichte: Ein Richter, der sich mit einem Fall befasst, übt alle drei Funktionen aus.12 Dahl selbst kehrte zum Thema zurück und wiederholte einige seiner früheren Egebnisse. Er nannte die Rolle der Richter, welche sich mit der gerichtlichen Prüfung befassen, »eine Quasi-Vormundschaft«.13 »Wenn Grundrechte und Interessen nicht durch Mittel angemessen geschützt werden können, die mit demokratischen Prozessen vereinbar sind, dann bleibe als Alternative nur, ihren Schutz durch Beamte sicherzustellen, die nicht dem demokratischen Prozess unterliegen. Da diese Beamten ihre Entscheidungen im Kontext eines allgemein demokratischen Systems fällen, aber nicht demokratisch kontrolliert würden, könne man sie als QuasiVormünder bezeichnen.« Wenn man die amerikanische und komparative Erfahrung berücksichtigt, formulierte Dahl einige bemerkenswerte Aussagen. Zum einen stellte er ein umgekehrtes Verhältnis zwischen der Autorität der Richter als Quasi-Vormünder und der Autorität des Volkes (demos) und seiner Vertreter fest. Je mehr Befugnisse die Richter haben, desto weniger Raum bleibt für den demos. Die erste Regel lautet demnach wie folgt: »Je breiter der Umfang der Rechte und Interessen, die der endgültigen Entscheidung der
—————— 11 Almond/Coleman 1960: 16–17. 12 Vile 1967: 318. 13 Dahl 1989: 187.
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Quasi-Vormünder unterliegen, desto schmaler der Umfang des demokratischen Prozesses.« Außerdem ist die Macht der Quasi-Vormünder nicht nur negativ: Ein Gericht kann es für notwendig erachten, reine negative Beschränkungen auszuweiten und versuchen, eine positive Politik festzulegen. So lautet die zweite Regel: »Je breiter der Umfang der Rechte und Interessen, mit deren Schutz die Quasi-Vormünder beauftragt wurden, desto stärker können sie die Funktion der Rechtsetzung und der Politik übernehmen.«14
IV. Volkssouveränität und Individualrechte im Rahmen der gerichtlichen Prüfung Die gerichtliche Prüfung kann entweder gegen den Volkswillen (oder die Mehrheitsentscheidung) handeln oder diesen ersetzen. Das Konzept basiert auf der Idee, dass die Verteidigung der Menschenrechte ausgeweitet wird und wächst. Die Richter entscheiden an Stelle der Politiker – um es einfach auszudrücken. Damit beschneidet die gerichtliche Prüfung nicht den Volkswillen, sondern ersetzt diesen als Vorläufer zukünftiger politischer Entscheidungen. Einige Beispiele: Brown v Board of Education im Jahr 1954 erklärte die Rassentrennung für verfassungswidrig. Ein weiteres Jahrzehnt war notwendig, bis der Gesetzgeber den Civil Rights Act (1964) verabschiedete. Roe v Wade (1973), der die Abtreibung legal machte, ist ein weiteres Beispiel einer gerichtlichen Entscheidung, die der Volksmeinung entgegenlief. Ähnliche Beispiele könnte man aus der Rechtsprechung der europäischen Verfassungsgerichte anführen, wenn die jeweiligen Gerichte auf Fragen und soziale Bedürfnisse reagierten, die der Gesetzgeber oder ein anderer Begünstigter des Volkswillens nicht angemessen erfüllen konnte.15 In den heutigen europäischen Demokratien bilden die Legislative und die Exekutive (wobei Letztere von der parlamentarischen Mehrheit kontrolliert wird) einen »Machtblock« mit der gerichtlichen Prüfung als einzigem Gegengewicht.
—————— 14 Ebd.: 189. 15 Sweet/Brunell 1998: 63–81.
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V. Ausgewählte ungarische Beispiele Die Verfassung bestimmt jene politischen Entscheidungen, die vorhergehend wahrscheinlich die Vorurteile und anderen negativen Präferenzen der Mehrheit zu einem bestimmten Zeitpunkt widerspiegeln. Sie entzieht diese Entscheidungen insgesamt den mehrheitlich besetzten politischen Institutionen. In Ungarn liegt es in der Macht des Verfassungsgerichtes, die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsnormen unter besonderer Berücksichtigung des Schutzes der Grundrechte zu prüfen.16 Aus diesem Grund ist das Gericht befugt, Verfassungsentscheidungen zu treffen, wenn es darum geht, ob einige rechtliche Bestimmungen, die von der Mehrheit verabschiedet wurden, gegen Grundrechte verstoßen, wobei der Grundsatz der gleichen Menschenwürde besonders betont wird. Im ersten Jahr der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen signalisierte die Entscheidung über die Todesstrafe die Bedeutung der verfassungsgerichtlichen Prüfung und schockierte ein unvorbereitetes Parlament und die Öffentlichkeit. Das Gericht erklärte die Todesstrafe für verfassungswidrig und schaffte sie ab. Die Begründung des Gerichts war recht kurz und die Richter führten ihre eigenen Theorien in zustimmenden Stellungnahmen aus. Trotzdem ist deutlich, dass das Gericht den Zusammenhang zwischen Recht auf Leben und dem Recht auf Menschenwürde untersuchte und sie als unantastbar erklärte.17 Diese Begründung wurde daraufhin vom südafrikanischen Verfassungsgericht,18 dem litauischen Verfassungsgericht,19 dem Verfassungsgericht von Albanien20 und dem Verfassungsgericht der Ukraine übernommen.21 Der Bereich des Schutzes persönlicher Daten war ein weiteres Beispiel für das Bemühen des Gerichtes, verschiedene Bereiche der gesetzlichen Regelungen gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit zu modernisieren. 1991 führte das Gericht das Recht auf Selbstbestimmung bei In-
—————— 16 Die Rechtsprechung und die Funktionen des Verfassungsgerichts sind durch Artikel 32/A der Verfassung und durch Gesetz Nr. 32 von 1989 über das Verfassungsgericht geregelt, erhältlich unter: http://www.mkab.hu/en/enpage5.htm. 17 Siehe die englische Übersetzung des Urteils zur Todesstrafe in: Constitutional Democracy. The Hungarian Constitutional Court, S. 118 (László Sólyom & Georg Brunner [Hrsg.], Univ. of Michigan Press, 2000). 18 The State v. T. Makwanyane and M. Mchunu, CCT/3/94, Urteil vom 6. Juni 1995. 19 Fall Nr. 2/98. Urteil vom 9. Dezember 1998. 20 Fall Nr. 65. Urteil vom 10. Dezember 1999. 21 Fall Nr. 11 rp/99. Urteil vom 29. Dezember 1999.
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formationen ein und erklärte die uneingeschränkte Nutzung des Systems einer einheitlichen persönlichen Identifikationsnummer (sogenannte PIN) für verfassungswidrig. Es setzte außerdem der Legislative eine Frist für die Modifizierung des Systems gemäß den im Urteil enthaltenen Auflagen.22 Derselbe progressive Drang, den das Gericht im Fall des Datenschutzes zeigte, liegt auch seiner Entscheidung über die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zugrunde, in der das Gericht die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im Bürgerlichen Gesetzbuch und in allen entsprechenden Gesetzen erzwang.23 Die Entscheidung betonte, dass der Staat »traditionelle Institutionen beibehalten und unterstützen und gleichzeitig neue Rechtsformen für die Anerkennung neuer Phänomene einführen kann, und dadurch gleichzeitig die Grenzen der »Normalität« in der öffentlichen Meinung ausweiten kann«.24 Auf der Grundlage dieser Ermächtigung verabschiedete das Parlament im Dezember 2007 das Gesetz über eingetragene Partnerschaften. Das Gesetz hätte gleich- und andersgeschlechtliche Paare berechtigt, ihre Partnerschaften eintragen zu lassen. In seiner Entscheidung 154/2008 befand das Gericht das Gesetz über eingetragene Partnerschaften, das unverheiratete und gleichgeschlechtliche Partnerschaften anerkannte, für verfassungswidrig, da das Gesetz die Ehe herabsetze. Allerdings besagt dieselbe Entscheidung, dass ein Partnerschaftsentwurf nur für homosexuelle Paare verfassungsgemäß wäre.25 Während das Gericht mit seiner ersten Entscheidung über die Volkssouveränität hinausging, nahm es in seiner zweiten Entscheidung die von der parlamentarischen Mehrheit getroffenen Schritte zurück (mit dem Hinweis auf den Schutz der Ehe, die in der ungarischen Verfassung geschützt ist). Schließlich sollte ich noch die Entscheidung des Gerichts über den Umweltschutz erwähnen, in dem es eine Nichtausnahmeregelung aufstellte: Der gesetzlich gesicherte Grad an Naturschutz kann nur unter Be-
—————— 22 Siehe die englische Übersetzung der PIN-Entscheidung in Fußnote 17, S. 139. 23 Siehe die englische Übersetzung der Entscheidung über gleichgeschlechtliche Partnerschaften in der Fußnote 17, S. 316. Ich sollte erwähnen, dass die Beschwerden scheiterten, den Gedanken der Ehe ausschließlich als Gemeinschaft von Mann und Frau zu betrachten. 24 Id. S. 318. 25 Nach der Entscheidung des Gerichtes 154/2008 verabschiedete das Parlament im April 2009 ein überarbeitetes Gesetz über eingetragene Partnerschaften.
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dingungen reduziert werden, die für die Einschränkung eines beliebigen Grundrechts gültig sind.26
Literatur Becker, Theodore (1970), Comparative Judicial Politics, Rand McNally, Chicago 1970. Almond, Gabriel A./Coleman, James Smoot (1960), The Politics of Developing Areas, Princeton Univ. Press, Princeton 1960. Dahl, Robert A. (1957), Decision-making in a democracy: the Supreme Court as a national policy-maker, in: The Journal of Public Law 6 (1957), S. 279–295. Dahl, Robert A. (1989), Democracy and its critics, Yale University Press, New Haven 1989. Kelsen, Hans (1926), Grundriss einer allgemeinen Theorie des Staates, Rohmer, Wien 1926. Kelsen, Hans (1928), La garantie jurisdictionnelle de la Constitution (La justice constitutionelle), in: Revue de droit public et science politique XXXV (1928), S. 197–257. Lambert, Edouard (1922), Le gouvernement des juges et la lutte contre la legislation sociale aux Etats-Unis, Giard, Paris 1922. McCloskey, Robert (1960), The American Supreme Court, The University of Chicago Press, Chicago 1960. Triepel, Heinrich (1929), Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, W. de Gruyter, Berlin/Leipzig 1929. Vile, Maurice J. C. (1967), Constitutionalism and the separation of powers, Oxford, Clarendon 1967. Sweet, Alec Stone/Brunell, Thomas L. (1998), Constructing a Supranational Constitution: Dispute Resolution and Governance in the European Community, in: American Political Science Review 92 (1998), S. 63–81.
—————— 26 Siehe die englische Übersetzung der Umweltschutz-Entscheidung in Fußnote 17, S. 298.
Kommentar Regina Kreide
Peter Paczolay ist Präsident des Verfassungsgerichts in Ungarn und in seinem Beitrag beschreibt und beurteilt er die Rolle des Gerichts in einer solch differenzierten und reflexiven Weise, dass dies allein schon für diese in Frage gestellte Institution spricht. Leider aber gibt es doch von meiner Seite aus noch einige kritische Rückfragen. Seine Hauptthese drückt seine Reflexion über die Rolle des Gerichts für die Entwicklung der Menschenrechte aus, und er kommt zu dem Schluss – so zumindest verstehe ich ihn –, dass die gerichtliche Prüfung zwar ambivalent ist, aber in einigen Fällen ein willkommenes Instrument, um den Willen des Volkssouveräns zu den grundlegenden Menschenrechtsideen hinzuleiten. Einerseits, so Peter Paczolay, fungiert die gerichtliche Prüfung als »Ersatz« der Volkssouveränität. Während Hans Kelsen noch für eine gerichtliche Prüfung argumentierte, die lediglich die Entscheidungsprozesse des Gerichts dahingehend kontrolliert, ob sie mit dem Verfassungsrecht kompatibel sind – ohne aber dabei den Inhalt des Rechts zu bestimmen oder zu ändern –, hat die gerichtliche Prüfung heute eine andere Funktion. Nach Robert Dahl handelt die gerichtliche Prüfung entweder gegen den Volkswillen oder er begrenzt ihn oder agiert sogar als »Quasi-Vormund«: Wenn der Schutz der Grundrechte durch demokratische Prozesse unmöglich ist, bleibt als einzige Alternative, ihren Schutz durch Beamte sicherzustellen, die nicht dem demokratischen Prozess unterworfen sind. Eine Folge davon ist: Nicht das Volk macht die Gesetze, sondern das Gericht. Andererseits kann die gerichtliche Prüfung ein Instrument sein, welches die gerichtliche Definition und Entwicklung der Menschenrechte fördert. Paczolay erwähnt die Entscheidung Brown vs. Board of Education 1954 in den USA, wo die Rassentrennung als verfassungswidrig erklärt wurde, und er betont das ungarische Beispiel der Abschaffung der Todesstrafe durch eine Entscheidung des Gerichts. Schließlich scheint Paczolay, auch wenn er die
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antidemokratische Kehrseite der gerichtlichen Prüfung keineswegs leugnet, die Idee zu favorisieren, dass das Verfassungsgericht ein Ersatz der Volkssouveränität sein sollte – zumindest in einigen Fällen. Dies führt mich zu meiner ersten Anmerkung.
1. Misstrauen gegenüber der Demokratie Wenn meine Darstellung korrekt ist, dann wirft sie eine Frage auf, die sich auf die Funktion der gerichtlichen Prüfung aus normativer Sicht bezieht. Was sind die sozialen und politischen Bedingungen, die die Funktion des Gerichts bestimmen? Um es präziser auszudrücken: Wann ist es angemessen, dass das Gericht die Rechtsetzungsprozesse und deren Verfassungskonformität nur kontrolliert, und wann sollte es die Entscheidungen des Gesetzgebers einschränken? Mehr noch: Wann ist es notwendig, sogar als positiver Gesetzgeber aufzutreten, der dem Volk vorschreibt, was es hätte entscheiden sollen? Mein Eindruck ist, dass Peter Paczolay sagt, es hänge vom historischen und politischen Kontext ab, ob dieser letzte Schritt, i.e. das Ersetzen des Volkswillens, wirklich notwendig ist. Wenn z. B. in einem Land die Leugnung des Holocausts von der »Zivilgesellschaft« oder dem Parlament nicht sanktioniert wird, dann wäre eine Entscheidung des Gerichts eine Korrektur einer in gewissem Maße »defekten« demokratischen Kultur. Man könnte argumentieren, dass ein Eingreifen des Gerichts nicht erforderlich ist, solange eine Gesellschaft als demokratisch hochentwickelt angesehen wird und Demokratie einen fest verankerten Bestandteil der politischen Kultur eines Landes darstellt. Dies funktioniert aber nur dann, wenn es beispielsweise zur politischen Kultur gehört, dass sich Widerstand in der Bevölkerung gegen eine öffentliche Diskriminierung oder gar Dezimierung von Minderheiten regt. Ist dies nicht der Fall, dann käme im Ansatz von Peter Paczolay das Gericht zum Zug. Damit aber manifestiert sich womöglich ein Misstrauen gegenüber der Demokratie und den demokratischen Fähigkeiten des Volkssouveräns. Um dies auszuschließen, müsste geklärt werden, unter welchen sozialen und politischen Bedingungen eine Demokratie als stabil genug und nicht mehr länger abhängig von diesem weitreichenden Eingreifen der Gerichte zu betrachten ist.
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2. Lernprozesse »von oben«? Daran knüpft ein zweiter Punkt unmittelbar an. Können Bürger tatsächlich aus Gerichtsentscheidungen etwas über Menschenrechte lernen? Kann man durch Gerichtsentscheidungen erfahren, was Menschenrechte bedeuten und wie man sie (in Ungarn) interpretiert? Peter Paczolay setzt auf den Überraschungseffekt. Eine Gerichtsentscheidung, die beispielsweise die Respektierung von Minderheitenrechten einfordert, werde ein »unvorbereitetes Parlament schockieren« und so dazu führen, dass das Parlament entsprechende Gesetze erlasse. Ein solches Vorgehen aber könnte einige problematische »Nebeneffekte« besitzen. Ich werde in der gebotenen Kürze drei nennen. Ich streite nicht ab, dass die gerichtliche Prüfung ein wichtiges Instrument für die formale Kontrolle der Rechtsetzungsprozesse des Gesetzgebers ist. Institutionen können, wie schon Kant wusste, durchaus befriedende Wirkung besitzen. Aber Lernprozesse »von oben herab« in Gang bringen zu wollen, kann schnell in ihr Gegenteil umschlagen und zur Ablehnung der in Frage stehenden Rechte und Institutionen führen. Das haben, gerade mit Blick auf die Menschenrechte, verschiedene postkoloniale Theorien überzeugend gezeigt.1 Man denke nur an den Versuch der Briten, in dem von ihnen besetzten Ägypten die Verschleierung der Frauen mit der Begründung zu untersagen, dies würde den gleichen Rechten der Frau widersprechen. Der Schleier wurde fortan von den Ägypterinnen zum Symbol für den Widerstand gegen die Besatzer. Zweitens verkennt die Vorstellung, Verfassungsentscheide könnten Lernprozesse lostreten, ein wichtiges Charakteristikum von Menschenrechten. Menschenrechte erwachsen aus konkreten Ungerechtigkeiten und sind das Ergebnis politischer Kämpfe, deren geteiltes Ziel die Inklusion in die politische Gemeinschaft und die Anerkennung als vollwertiges Gesellschaftsmitglied ist. In Menschenrechten spiegeln sich grundlegende Bedürfnisse und Interessen, die durch die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft interpretiert und realisiert werden. Es wäre ein Irrtum, Menschenrechte lediglich als moralphilosophischen Überlegungen entsprungene abstrakte Forderungen eines Verfassungsgerichtes zu verstehen. Sie sind eine Reaktion auf sehr spezifische Bedrohungen und Verletzlichkeiten, die in einer Gesellschaft aufgetreten sind oder noch auftreten können.2 Aber Men-
—————— 1 Mohanty 2003. 2 Benhabib 2004.
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schenrechte sind nicht nur das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen in Reaktion auf Unterdrückung, Demütigung und staatliche Willkür; sie unterliegen selbst der stetigen Veränderung, der reiterierenden Interpretation. Das bedeutet zum einen anzuerkennen, dass Menschenrechte einen normativen Standard formulieren, mit dessen Hilfe die Legitimität von Staaten ebenso wie die internationaler Regelsysteme beurteilt werden kann. Das heißt aber zugleich zu akzeptieren, dass sie trotz ihrer moralischen Seite nicht für alle Zeiten ›festgeschrieben‹ sind. Menschenrechte sind ›gemacht‹, veränderbar und grundsätzlich offen für neue Rechte und andere Lesarten. Und wegen dieses grundsätzlich unabgeschlossenen Interpretationsprozesses sind Menschenrechte (einschließlich der Verfassungsrechte) auf demokratische Prozesse angewiesen.3 Ein Verfassungsgericht kann diese Interpretationsrolle nur unzureichend ausfüllen, da es für die Bestimmung der Interessen und Bedürfnisse der Bürger nicht auf deren Erfahrungen zurückgreifen, sondern nur indirekt widerspiegeln kann. Und schließlich geht die Stärkung des Verfassungsgerichts unmittelbar auf Kosten des Ansehens der Demokratie, die in der politischen Öffentlichkeit als wenig geeignetes Instrumentarium, zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte beitragen zu können, erscheinen muss. Angesicht verfassungsgerichtlicher Gesetzesvorlagen wird die Demokratie zu einem bedeutungslosen »Hickhack« degradiert, ohne über reale Entscheidungskompetenzen zu verfügen. Das muss zweifellos zur Enttäuschung der Bürger führen. Wird das Gericht hingegen tatsächlich »nur« als Kontrollinstanz verstanden, dann lässt es durchaus Raum für demokratische Selbstbestimmung. So hat z. B. im deutschen Fall des Schächtens, der von muslimischen Metzgern eingereicht wurde, das Gericht entschieden, dass ein striktes Verbot nicht mit der freien Religionsausübung vereinbar ist, sondern dass es Aufgabe der Parlamente der einzelnen Bundesländer ist, Auflagen, Verbote und Regeln aufzustellen. Hier wurde der Fall an die Parlamente zurückverwiesen, es wurden Grenzen der Selbstbestimmung aufgestellt, aber es wurde nicht durch das Gericht die Arbeit der Parlamente übernommen.
—————— 3 Kreide 2008.
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3. Der intrinsische Wert der Volkssouveränität Schließlich bin ich noch an Peter Paczolays Idee der Volkssouveränität interessiert. Es gibt mindestens zwei Lesarten der Volkssouveränität. Zum einen kann man Volkssouveränität (und Demokratie) in pragmatischer Variante als ein Mittel verstehen, mithilfe dessen man mit sozialen Problemen umgehen und die bestmögliche Lösung für ein Problem finden kann.4 Stellt sich dann heraus, dass die gefundene Lösungen nicht ordentlich funktioniert, könnte es effizient sein, diese Arbeit dem Gericht zu überlassen. Dann wird die Volkssouveränität in Bezug auf ihre Kapazität, Probleme zu lösen, legitimiert und das Gericht zur Ausfalloption, wenn die Demokratie versagen sollte. Die deutsche Politikwissenschaftlerin Ingeborg Maus hingegen offeriert eine zweite Lesart. Sie argumentiert, mit Verweis auf Kant, dass die Volkssouveränität einen intrinsischen Wert hat.5 Politische Autonomie und damit der normative Anspruch, keinen willkürlichen Regeln unterworfen zu werden, sondern selbst Autorin dieser Regeln zu sein, ist ein Anspruch, der niemandem ohne guten Grund verwehr werden kann. Volksouveränität ist nicht, oder zumindest nicht nur, Mittel zum Zweck bestmöglicher politischer Ergebnisse, sondern in ihr entfaltet sich die politische Autonomie der Bürger. Politische Autonomie bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Zwang, sondern die politische Selbstbestimmung, das heißt, die gleichberechtigte Teilhabe der von den Regeln Betroffenen an politischer Selbstgesetzgebung. Wenn man die Volkssouveränität auf diese Weise definiert, ist es schwierig, das Ersetzen des Volkswillens durch Gerichtsurteile zu legitimieren. Dies wäre eine ungebührliche Entmachtung der Bürger. Ich vermute, dass Peter Paczolay der ersten Variante zuneigt und Volkssouveränität als Problemlösungsinstrument sieht, das häufig genug im Falle Ungarns versagt, aber ich würde gern mehr darüber erfahren.
—————— 4 Dewey 1927. 5 Maus 1992.
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Literatur Benhabib, Seyla (2004), The Rights of Others. Aliens, Residents and Citizens, Cambridge University Press, Cambridge 2004. Dewey, John (1927), The Public and its Problems, Swallow, Athens 1927. Kreide, Regina (2008): Globale Politik und Menschenrechte, Campus, Frankfurt am Main 2008. Mohanty, Chandra Talpade (2003), Feminism without Borders. Decolonizing Theory, Practicing Solidarity, Duke Univ. Press., Durham/London 2003. Maus, Ingeborg (1992), Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992.
Autorinnen und Autoren
Inge Lorange Backer ist Professor am Institut für Öffentliches und Internationales Recht, Universität Oslo. Ehemaliger Generaldirektor, Rechtsabteilung, norwegisches Justizministerium (1995–2008). Vorsitzender des Lenkungsausschusses für rechtliche Zusammenarbeit des Europarates (CDCJ) 2003–2005. Jüngere Publikationen: »Den europeiske menneskerettsdomstol. Utviklingen i praksis og forholdet til nasjonal suverenitet«, in: Nytt Norsk Tidsskrift, 2009, 279–286; »Feller Den europeiske menneskerettsdomstol juryen?«, in: Tidsskrift for strafferett, 2009, 301–330; »Ideals and Implementation: Ratifying Another Complaints Procedure?«, in: Nordisk tidsskrift for menneskerettigheter, 2009, 91–96. Richard Bellamy ist Professor of Political Science und Director of the European Institute, UCL an der University of London. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Rechtstheorie und politischen Theorie, insbesondere in den Zusammenhängen von Demokratie, Bürgerrechten und Konstitutionalismus. Jüngste Veröffentlichungen: Political Constitutionalism. A Republican Defence of the Constitutionality of Democracy, Cambridge 2007; Citizenship. A Short Introduction, Oxford 2008; International Library of Contemporary Essays in Political Theory and Public Policy (4 Bände, Ashgate, 2010), herausgegeben mit Antonino Palumbo. Samantha Besson ist Professorin für Europarecht und Völkerrecht an der Universität Freiburg (Schweiz) und Ko-Direktorin des Instituts für Europarecht der Universitäten Bern, Fribourg und Neuchâtel (Schweiz). Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Rechtsphilosophie und politischen Philosophie, insbesondere der Demokratie-, Menschenrechts- und Völkerrechtstheorie. Jüngste Veröffentlichungen: Legal Republicanism. National and International Perspectives, Oxford 2009, herausgegeben mit José Luis Martí; The Philosophy of International Law, Oxford 2010, herausgegeben mit John Tasioulas. Jochen von Bernstorff ist Wissenschaftlicher Referent für Grund- und Menschenrechtsschutz und Pressesprecher des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Weitere Forschungsgebiete: Allgemeines Völker- und Europarecht, Recht der Internationalen Organisationen/Internationales Verwaltungsrecht, Theorie und Geschichte des Völkerrechts.
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Armin von Bogdandy ist Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg und Honorarprofessor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist zudem Präsident des OECD-Kernenergiegerichts in Paris und Mitglied des Wissenschaftlichen Komitees der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte. Ausgewählte jüngere Veröffentlichungen: »Völkerrecht als öffentliches Recht: Konturen eines rechtlichen Rahmens für Global Governance«, in: Der Staat 49/1, 23-50 (2010) (zusammen mit Philipp Dann, Matthias Goldmann); »Zur Herrschaft internationaler Gerichte: Eine Untersuchung internationaler öffentlicher Gewalt und ihrer demokratischen Rechtfertigung«, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 70/1, 1–49 (2010) (zusammen mit Ingo Venzke); »Founding Principles«, in: Principles of European Constitutional Law; Armin von Bogdandy, Jürgen Bast (Hrsg.), Hart Publishing, Oxford, München 2010, 11–54; Handbuch Ius Publicum Europaeum, 2 Bände, Heidelberg, 2007–2008 (zusammen mit Pedro Cruz Villalón, Peter M. Huber). Hauke Brunkhorst ist Professor für Soziologie an der Universität Flensburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Gesellschafts- und Evolutionstheorie, Weltgesellschaft, Demokratie- und Verfassungstheorie. Jüngste Buchveröffentlichungen: La Revoluzione Giuridica Di Hans Kelsen E Altri Saggi, Torino 2010; Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte – Kommentar, Frankfurt/M. 2007; Solidarity. From Civic Friendship to a Global Legal Community, Cambridge/London 2005; (Hrsg.), Demokratie in der Weltgesellschaft. Sonderband 18 der Zeitschrift Soziale Welt, Baden-Baden 2009. Richard Clayton ist als Barrister in London tätig. Zudem ist er Associate Fellow am Centre for Public Law, University of Cambridge. Ausgewählte jüngste Veröffentlichungen: Coauthor – The Law of Human Rights, 2. Aufl., Oxford 2009; Civil Actions against the Police, 4. Aufl., Sweet & Maxwell (im Erscheinen); The Law of the European Convention on Human Rights. A Practitioner Text, Oxford University Press (im Erscheinen). Sergio Dellavalle ist Professor für Staatstheorie an der Juristischen Fakultät der Universität Turin und Senior Research Fellow beim Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Seine Interessenschwerpunkte liegen in der Rechtsphilosophie, in der politischen Philosophie und in den Grundlagen des Völkerrechts. Jüngste Veröffentlichungen: »The Necessity of International Law Against the A-normativity of Neo-Conservative Thought«, in: Progress in International Law, hg. von Russell Miller, Rebecca Bratspies, Leiden/Boston 2008, 95–118; »Hegels äußeres Staatsrecht: Souveränität und Kriegsrecht. Über eine schwierige Verortung zwischen universaler Vernunft und einzelstaatlichem Ethos«, in: Der Staat – eine Hieroglyphe der Vernunft. Staat und Gesellschaft bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hg. von Walter Pauly, Baden-Baden 2009, 177–198; Constitutionalism Beyond the Constitution. The Treaty of Lisbon in the Light of Post-National Public Law, 2009. http://centers.law.nyu.edu/jeanmonnet/papers/09/090301.pdf;
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Für weitere Informationen, siehe: http://www.mpil.de/ww/de/pub/organisation/wiss_bereich/ sdellava.cfm. Klaus Günther ist Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozessrecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main sowie Sprecher des Frankfurter Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen«. Ausgewählte jüngste Veröffentlichungen: »Legal Pluralism or Uniform Concept of Law? Globalisation as a Problem of legal Theory«, in: NoFo – Journal of Extreme Legal Positivism 5, April 2008 (for Kaarlo Tuori on his sixtieth birthday), Helsinki, 5–21; »Liberale und diskurstheoretische Deutung der Menschenrechte«, in: W. Brugger/U. Neumann (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2008, 338–359. Gret Haller ist Juristin und Gastwissenschaftlerin an der Goethe-Universität, Assoziiertes Mitglied des Exzellenzclusters »Herausbildung normativer Ordnungen« sowie Vertreterin der Schweiz in der »Venedig-Kommission« des Europarates. Jüngere Publikationen: »Individualisierung der Menschenrechte? Die kollektive – demokratische – Dimension der Menschenrechte und ihre Bedeutung für Integrationsprozesse, illustriert durch das Beispiel des State-Building in Bosnien & Herzegowina«, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie (ZfRSoz) 31/2010, 123–144; »Menschenrechte und Volkssouveränität. Mögliche Antworten auf eine 200 Jahre alte offene Frage«, in: Bammer/Holzinger/Vogl/Wenda (Hrsg.), Rechtsschutz gestern – heute – morgen. Festgabe zum 80. Geburtstag von Rudolf Machacek und Franz Matscher, Wien 2008. Weitere auf: www.grethaller.ch Jan Helgesen ist Professor an der Universität of Oslo, erster Vizepräsident und ehemaliger Präsident der Venedig Kommission. Ausgewählte Veröffentlichungen: »Bør vi – anno 2002 – modernisere individets grunnlovsvern?«, in: Rettsteori og Rettsliv. Festskrift til Carsten Smith, Oslo 2002, 385–409; Rettskildelære, 5. Aufl. 2001. Regina Kreide ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Justus Liebig-Universität Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind internationale politische Theorie und politische Philosophie, vor allem globale Gerechtigkeit, Menschenrechte Konstitutionalismus und Demokratie. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen gehören: Globale Politik und Menschenrechte. Macht und Ohnmacht eines politischen Instruments, Frankfurt/New York 2008; Transnationale Verrechtlichung. Nationale Demokratien im Kontext globaler Politik, Frankfurt/New York 2008 (mit Andreas Niederberger); Habermas-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2009 (mit Hauke Brunkhorst und Cristina Lafont); »Neglected Injustice: Poverty as a Violation of Social Autonomy«, in Freedom from Poverty. Who Owes What to the Very Poor, hg. von Thomas Pogge, Oxford 2007; »Preventing Military Humanitarian Intervention? John Rawls and Jürgen Habermas on a Just Global Order«, in: Peer Zumbansen/Russell Miller (eds.): Comparative Law as Transnational Law, Oxford 2011. Außerdem ist sie Herausgeberin der Zeitschrift für Menschenrechte/Journal for Human Rights.
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Christoph Möllers ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Interessenschwerpunkte liegen im deutschen und vergleichenden Verfassungsrecht, der europäischen Konstitutionalisierung der Demokratietheorie im öffentlichen Recht, der Theorie des Verwaltungsrechts und der Konzeption von Normativität. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehört: Die Drei Gewalten, Weilerswist 2008; »Religionsfreiheit als Gefahr?«, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 68 (2009), 47–87. »Recht und Demokratie«, in: H. Brunkhorst/R. Kreide/C. Lafont (Hrsg.), Habermas-Handbuch, Stuttgart 2009, 254–263. Ulfrid Neumann ist Professor für Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Strafrecht und Strafprozessrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte sind die Theorie der juristischen Argumentation, Ontologisierungsphänomene im Recht und Probleme strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Neuere Veröffentlichungen: Wahrheit im Recht. Zu Problematik und Legitimität einer fragwürdigen Denkform, Baden-Baden 2004; »Rechtswissenschaft als säkulare Theologie. Zu einem wissenschaftstheoretischen Topos des Kritischen Rationalismus«, in: E. Hilgendorf (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Geburtstag, Berlin 2006, 401–414; »Rechtsphilosophie – Theorie oder praktische Philosophie des Rechts?«, in: Okko Behrends u.a. (Hrsg.), Elementa iuris, Baden-Baden 2009, 41–61; »Rechtsanwendung, Methodik und Rechtstheorie«, in: Marcel Senn/Barbara Fritschi (Hrsg.), »Rechtswissenschaft und Hermeneutik«, in: ARSP-Beiheft 117 (2009), 87–96. Péter Paczolay ist Präsident des Verfassungsgerichts Ungarn. Ausgewählte Veröffentlichungen: Freedom of expression and separation of powers in the jurisprudence of Constitutional Courts. The 10th Conference of the European Constitutional Courts, Budapest 6–9 May, 1996; »Judicial Review of the Compensation Law in Hungary«, in: Michigan Journal of International Law 13 (1992), 806–831. Jarna Petman ist Professorin für Internationales Recht (ad interim) an der Universität Helsinki und Mitglied des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte, Europarat. Jüngere Publikationen: »The Special Reaching for the Universal: Why a Special Convention for Persons with Disabilities?«, in: The United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities: Multidisciplinary Perspectives, hg. von M. Scheinin/J. Kumpuvuori, 2009; »Deformalization of International Organizations Law«, in: Research Handbook on the Law of International Organizations, hg. von J. Klabbers/Å. Wallendahl, 2010; Human Rights and Violence. The Hope and the Fear of the Liberal World, 2010. Catherine Schneider ist Professorin an der juristischen Fakultät der Universität Pierre Mendes France in Grenoble, wo sie zunächst das Studienzentrum für internationale Sicherheit und europäische Zusammenarbeit (CESICE) leitete und heute auch als Koordinatorin des Exzellenzzentrums Jean Monnet wirkt. Sie ist Ehrendoktorin der Universität Lobatchevski in Nijni Novgorod und hat seit 1998 einen
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Lehrstuhl Jean Monnet für europäisches Recht ad personam inne. Sie hat zahlreiche Monographien und Sammelbände zum europäischen Recht des Europarates und der Europäischen Union veröffentlicht. Schwerpunkte ihrer Forschungstätigkeit bilden der nicht juristische Schutz der Menschenrechte sowie das Recht der Außenbeziehungen der Europäischen Union. Kaarlo Tuori ist Professor of Jurisprudence an der Helsinki Universität. Aus seinen jüngeren Veröffentlichungen: Sosiaalioikeus. Kolmas pianos, Helsinki 2004; »Fundamental-Rights Principles. Disciplining the Instrumentalism of Policies«, in: Associations 7 (2) (2003), 327–348; »Om rättssäkerhet och social rättigheter (samt mycket annat)«, in: Tidskrift for retsvitenkap 2003, 341–365.