Medizin und Haftung
Hans-Jürgen Ahrens • Christian von Bar Gerfried Fischer • Andreas Spickhoff Jochen Taupitz Herausgeber
Medizin und Haftung Festschrift für Erwin Deutsch zum 80. Geburtstag
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Herausgeber Prof. Dr. Andreas Spickhoff Universität Regensburg Forschungsstelle für Medizinrecht und Gesundheitsrecht Universitätsstraße 31 93053 Regensburg
[email protected]
Prof. Dr. Hans-Jürgen Ahrens Universität Osnabrück Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht Katharinenstraße 13-15 49069 Osnabrück
[email protected] Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Christian von Bar Universität Osnabrück European Legal Studies Institut Heger-Tor-Wall 12 49074 Osnabrück
[email protected] Prof. Dr. Gerfried Fischer, LL.M. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Juristische Fakultät Universitätsplatz 10a 06108 Halle (Saale)
[email protected]
ISBN 978-3-642-00611-1
Prof. Dr. Jochen Taupitz Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim (IMGB) Schloss, Westflügel 68131 Mannheim
[email protected]
e-ISBN 978-3-642-00612-8
DOI 10.1007/978-3-642-00612-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandgestaltung: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier 987654321 springer.de
Zum Geleit: Erwin Deutsch 80 Jahre
Erwin Deutsch vollendet am 6. April 2009 sein 80. Lebensjahr. Schon der 80. Geburtstag? Ist nicht vielen die akademische Feier und die Übergabe der Festschrift zum 70. Geburtstag in der altehrwürdigen Aula der Georg AugustUniversität am Wilhelmsplatz in frischer Erinnerung? Wer wie der Verfasser der nachfolgenden Zeilen regelmäßig mit dem Jubilar telefoniert, möchte den Ablauf von zehn weiteren Jahren seit der damaligen Feier kaum für möglich halten. Denn der Tatendrang von Erwin Deutsch erscheint ungebremst, die wissenschaftliche Produktivität der letzten zehn Jahre kann manchen im Amt befindlichen Lehrstuhlsinhaber neidvoll erblassen lassen, und seine den wahren Wissenschaftler kennzeichnende, jedoch so nicht oft erfahrbare Neugier ist immens. Gewiss, die Gesundheit und das Schicksal haben Erwin Deutsch in den letzten zehn Jahren manchmal in einer Weise zu schaffen gemacht, die andere zerbrechen lassen hätten. Doch sein Wissensdurst, daraus folgende stets neue Pläne und die Arbeit haben sicherlich dabei geholfen, die Dinge so zu nehmen, wie sie nun einmal sind. Unschätzbare Unterstützung hat Erwin Deutsch bei alledem von seiner Familie (mit neun Enkeln) erfahren, allen voran von seiner ihn liebevoll umsorgenden Frau Hanna. Wenn Erwin Deutsch als „arztrechtliches Urgestein“ (so eine schöne Formulierung von Hans Lilie) über Patienten und ihre Rechte, über die Patientenautonomie, redet, weiß er, worüber er spricht. Nimmt man sich indes ein wenig Zeit und lässt die letzten zehn Jahre Revue passieren1, dann merkt man schnell, wozu Erwin Deutsch sie genutzt hat. Er ist keiner, der Ankündigungen keine Taten folgen lässt, wohl aber jemand, der ohne Ankündigung viel tut. Erst nach seiner Emeritierung hat er sich der Literaturgattung des Gesetzeskommentators verschrieben und (mittlerweile in zweiter Auflage) einen Kommentar zum AMG und einen weiteren zum MPG (dessen zweite Auflage geplant ist) mitverfasst und herausgegeben. Überhaupt legt Erwin Deutsch mehr Wert auf das eigene Verfassen von Publikationen als auf die bloße Herausgeberschaft. Mitverfasst hat Erwin Deutsch das Standardhandbuch zum Transfusionsrecht (mittlerweile in der zweiten Auflage erschienen). Das Lehrbuch zum Medizinrecht ist in der fünften und sechsten Auflage zu etwa der Hälfte weiter von ihm mitbetreut worden und hat mittlerweile die Schallgrenze der tausend Seiten durchbrochen. Wer deshalb meint, Erwin Deutsch könne sich nicht mehr kurz fassen, liegt falsch. Wohl aber entspricht der Bedeutungszuwachs des Medizinrechts dem Umstand, dass sich das Werk von der ersten bis zu aktuellen Aufla1
Eine ausführliche Würdigung von Erwin Deutsch als Rechtswissenschaftler, Richter und rechtspolitischer Ratgeber findet sich bei Ahrens, FS Deutsch, 1999, S. 1 ff.
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ge vom Volumen her etwa verdreifacht hat. Neu aufgelegt worden ist auch das Lehrbuch zu den Unerlaubten Handlungen (nunmehr mit dem Obertitel „Deliktsrecht“, zusammen mit Hans Jürgen Ahrens); eine weitere Neuauflage erscheint demnächst. Gleich drei weitere Neuauflagen hat das Lehrbuch zum Versicherungsrecht erhalten; die letzte (2008) enthält die erste Gesamtdarstellung des unmittelbar zuvor neugefassten VVG. Aus der Fülle weiterer Aufsätze, Anmerkungen, Buchrezensionen usw. der letzten zehn Jahre2 seien zwei Themenkreise herausgegriffen, welche die wissenschaftliche Neugier des Jubilars, aber auch seine kritische Distanz zu manchen neueren Entwicklungen exemplifizieren mögen. Es handelt sich zum einen um das permanente Interesse von Erwin Deutsch an der medizinischen Forschung, ihrer Entwicklung und den sie betreffenden juristischen Rahmenbedingungen. Nach 19993 hat er zwei weitere beeindruckende internationale Kongresse initiiert, deren zweiter hier in Göttingen soeben abgeschlossen worden ist.4 Nur am Rande sei dankend hervorgehoben, dass die VW-Stiftung diese Tagungen, die sich allesamt durch ein wahrlich interdisziplinär und international mehr als respektables Teilnehmerfeld ausgezeichnet haben, finanziert und dadurch ermöglicht hat. Sie hat damit auf beeindruckende Weise ihrer frühen Förderung des Medizinrechts unter der Leitung der Altmeister Erwin Deutsch und Hans-Ludwig Schreiber in Göttingen Kontinuität verliehen. Bis auf den heutigen Tag ist Erwin Deutsch übrigens Mitglied der Ethik-Kommission der Medizinischen Hochschule in Hannover. Den zweiten Akzent, der an dieser Stelle hervorgehoben sei, hat Erwin Deutsch wiederum im Kontext von Rechtsfragen der (typischerweise, aber nicht notwendig medizinischen) Forschung gesetzt. Wohl als der erste und bis heute als einer von ganz wenigen hat er nämlich die Praxis der Kontrolle guten wissenschaftlichen Standards durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Gestalt von Ombudskommissionen auf den verschiedenen Ebenen (der universitären oder auch derjenigen der DFG) durchaus – und mit Grund – kritisch begleitet. Da die DFG in zivilrechtlichen Handlungsformen auftritt, hat Erwin Deutsch ihren von ihm spöttisch „wissenschaftspolizeilichen“ Aktivitäten Grenzen aufgezeigt, freilich nicht ohne zu bemerken, dass eine Organisation, die de facto ausschließlich aus öffentlichen Geldern gespeist wird, sich der Grundrechtsbindung nicht einfach durch eine „Flucht ins Privatrecht“ entziehen kann. Wenn deswegen juristische Zweifelsfragen (wie etwa die Abgrenzung des Heilversuchs vom wissenschaftlichen Experiment), vor allem aber methodische Einwände gegen Forschungsmaßnahmen von Wissenschaftlern bei voller Namensnennung in der regionalen und überörtlichen Tagespresse durch die DFG angeprangert werden (was eine Hochschulleitung nie tun dürfe, ohne gegen die grundgesetzlich garantierte Wissen2
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Diese sind in dem am Ende dieser Festschrift abgedruckten Schriftenverzeichnis, freilich in den Grenzen des den Herausgebern Auffindbaren, zusammengestellt. Zu den früheren Veröffentlichungen siehe Festschrift für Erwin Deutsch 1999, S. 995-1029. Dokumentiert im Tagungsband: Deutsch/Taupitz, Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin – Zur geplanten Deklaration von Helsinki, 2002. Eine vorherige Tagung fand 2003 in Regensburg statt (dokumentiert im Tagungsband Deutsch/Schreiber/Spickhoff/Taupitz, Die klinische Prüfung in der Medizin – Europäische Regelungswerke auf dem Prüfstand, 2005).
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schaftsfreiheit zu verstoßen), dann ist insoweit in der Tat mehr als nur leise Kritik angezeigt. Dass Erwin Deutsch diese Kritik als Emeritus unbefangen aussprechen kann, liegt auf der Hand; er hätte seine Kritik aber auch zu Zeiten, als er noch nicht entpflichtet war, nicht minder deutlich verlauten lassen. Neben praktischen Hilfestellungen für Mediziner in konkreten Fällen, die häufig in wissenschaftliche Beiträge gemündet sind, unterrichtet Erwin Deutsch bis auf den heutigen Tag gerne und – wie man hört – mit nach wie vor großem Zuspruch, wobei er seit der „Wende“ neben der Lehrtätigkeit in Göttingen auch regelmäßig arztrechtliche, haftungsrechtliche, immaterialgüterrechtliche oder versicherungsrechtliche Veranstaltungen an der Martin Luther-Universität HalleWittenberg anbietet. Gefreut hat ihn, als er vor nicht all zu langer Zeit im Göttinger Tageblatt von einem heutigen Botschafter der Bundesrepublik und einem früheren Göttinger Jura-Studenten als einer von drei akademischen Lehrern der Juristischen Fakultät erwähnt wurde, die einen besonders lang anhaltenden Eindruck hinterlassen haben.5 Das achte Lebensjahrzehnt war für Erwin Deutsch neben einer Zeit weiteren Säens auch ein Jahrzehnt der Ernte. Sein wissenschaftliches Wirken ist nach wie vor durch zahlreiche Zitate in höchsten Gerichtsentscheidungen, vor allem aber auch durch zwei weitere Ehrendoktorate gewürdigt worden: Die Juristische Fakultät der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg verlieh ihm für seine Verdienste rund um den Wiederaufbau der Hallenser Fakultät und seinen späteren Einsatz einen Dr. iur. h. c., die Juristische Fakultät der Dokuz Eylül-Universität Izmir verlieh Erwin Deutsch einen weiteren Dr. iur. h. c. Dass der Jubilar weit über die Grenzen Deutschland hinaus gewirkt hat, zeigte sich bei der Verleihung der letztgenannten Ehrendoktorwürde beispielhaft auch daran, dass der damalige Dekan der dortigen Rechtsfakultät, ùeref Ertaú, ein Doktorand von Erwin Deutsch war. Die Medizinische Fakultät der Universität Göttingen ehrte Erwin Deutsch mit der Albrecht-von-Haller-Medaille für seine Verdienste. Es versteht sich von selbst, dass Erwin Deutsch, seit jeher kleinere, aber auch größere Reisen liebend, die jeweiligen Ehrungen vor Ort in würdigen akademischen Feiern in Empfang genommen hat, übrigens gern auch die jeweiligen Talare, von denen sich in der Höltystraße nun mittlerweile eine schöne Sammlung befinden muss. Dass Erwin Deutsch ein Vorreiter für die Abschaffung alter akademischer Bräuche ist, wird man wohl nicht sagen dürfen. Auch abgesehen von solchen Anlässen hat Erwin Deutsch es sich auch in den letzten zehn Jahren nicht nehmen lassen, ins Ausland – und zwar bis hin auf die andere Seite der Erdkugel (Asien, Australien, Neuseeland) – zu reisen. Besondere Freude hat ihm ein Besuch der Columbia University im Sommer 2007 anlässlich des 50jährigen Jahrestages des Erhalts seines Titels eines Master of Comparative Law der Columbia University in New York gemacht; die Hinreise erfolgte nicht anders als fünfzig Jahre zuvor mit dem Schiff, mögen auch die Bequemlichkeiten auf der Queen Mary II heute größer sein als damals. Wenn ich Erwin Deutsch recht verstanden habe, waren es ihm schon fast zu viele.
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Göttinger Tageblatt vom 12.8.2008 (Interview von Rolf Ulrich).
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Sieht man einmal von seiner Liebe zu ausgewählten Werken der klassischen Musik und insbesondere der Opernliteratur ab, so wird man sagen dürfen, dass Erwin Deutsch seinen Beruf zum Hobby oder sein Hobby zum Beruf machen konnte. Auch daraus erklärt sich seine trotz der Emeritierung nie nachlassende Aktivität als Rechtswissenschaftler, und zwar sowohl als Forschender als auch als Lehrender. Jedem, der dabei war, ist als Ausdruck dessen die glanzvolle Eröffnung der ersten Medizinrechtslehrertagung in Halle im Mai 2008 in Erinnerung, die durch Vorträge der drei Grandseigneurs des Medizinrechts (Erwin Deutsch, Adolf Laufs und Hans Ludwig Schreiber) eröffnet wurden. Erwin Deutsch erschien mit nur noch notdürftig fixiertem gebrochenem Bein, ärztlichen Bedenken zum Trotz. Und viel von dem Klima, in welchem am Lehrstuhl von Erwin Deutsch gearbeitet wurde, zeigt das bis heute alle zwei Jahre stattfindende Treffen früherer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es stand nie zur Diskussion, dieses Treffen ausschließlich als Geselligkeit auszugestalten (die es selbstredend gleichfalls ist). Den zeitlichen Hauptanteil nehmen vielmehr Vorträge früherer Lehrstuhlsangehöriger aus den Themengebieten ein, die den Jubilar interessieren, seien es haftungsrechtliche, medizinrechtliche, kollisionsrechtliche, rechtsvergleichende oder versicherungsrechtliche Fragestellungen. Die durchaus oft kontroversen Diskussionen, die durch große, aber nie verletzende Offenheit gekennzeichnet sind, und ein Streben nach pragmatischer Ausgestaltung der Dogmatik lassen dann alsbald die Atmosphäre entstehen, welche so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Erwin Deutsch geprägt hat. Inhaltlich ist die Festschrift schwerpunktmäßig den Themenbereichen Recht und Medizin sowie Haftungs- und Versicherungsrecht, aber auch darüber hinaus gehend Grundfragen des Zivilrechts gewidmet. Darunter befinden sich - für eine Festschrift für Erwin Deutsch eigentlich selbstverständlich - intradisziplinär, interdisziplinär sowie europäisch und darüber hinausgehend international-rechtsvergleichend angelegte Beiträge. Wir hoffen, die Festschrift damit auf große Interessengebiete des Jubilars fokussiert zu haben, auch wenn diese gewiss nicht vollständig abgebildet worden sind. Die Herausgeber danken dem Springer-Verlag, mit dem Erwin Deutsch seit langem bevorzugt verbunden ist, für die verlegerische Betreuung der Festschrift, sie danken Frau Joanna Karmanski für ihren unermüdlichen Einsatz dabei, die Festschrift insgesamt im besten Sinne des Wortes „in Form“ gebracht zu haben, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Andreas Spickhoff, insbesondere Frau Simone Schönberger, für ihre permanente Unterstützung bei den redaktionellen Arbeiten. Dem Jubilar wünschen die Herausgeber von ganzem Herzen noch viele weitere Jahre der Neugier, der Produktivität und der Kreativität, vor allem aber der Gesundheit und der persönlichen Erfüllung. Im Namen der Herausgeber
Andreas Spickhoff
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Zum Geleit: Erwin Deutsch 80 Jahre................................................................. V Medizin und Recht Andrew Alston Wrongful Detention and Mental Health: An Australian Perspective......................3 Erwin Bernat Sind geklonte Embryonen „entwicklungsfähige Zellen“ i.S.v. § 1 Abs. 3 FMedG? – Anmerkungen zu R (on the Application of Quintavalle) v. Secretary of State for Health.................................................................................19 Hilmar Burchardi / Friedemann Nauck Unsichere Entscheidungsgrundlagen für den Intensivmediziner ..........................43 Francesco D. Busnelli The Problem of Reproductive Cloning .................................................................59 Petra Butler Medical Misadventure ..........................................................................................69 Amalia Diurni Die Arzthaftung von gestern und das Medizinrecht von heute in rechtsvergleichender Perspektive ........................................................................................85 Elmar Doppelfeld Regelungen für die medizinische Forschung – Harmonisierung durch den Europarat.............................................................................................................103 Gunnar Duttge Striktes Verbot der Arzneimittelprüfung an zwangsweise Untergebrachten (§ 40 I S. 3 Nr. 4 AMG)? ....................................................................................119 Alexander P. F. Ehlers / Antje-Katrin Heinemann Biosimilars – ein Markt der Zukunft?.................................................................137
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Gerfried Fischer Haftung für die Fehler von Ethik-Kommissionen nach der Änderung des AMG von 2004 ...................................................................................................151 Ulrich Foerste Beweiserleichterung nach groben und einfachen Behandlungsfehlern...............165 Jens Göben Der „Off-Label-Use“ von Fertigarzneimitteln: Offene Fragen an der Schnittstelle von Standard, Humanität und Wirtschaftlichkeitsgebot.................179 Dieter Hart Nutzen und Risiko in klinischen Prüfungen von Arzneimitteln – Abwägung, Aufklärung, Verfahren........................................................................................197 Horst Hasskarl Verantwortung der sachkundigen Person nach § 14 AMG.................................217 Timothy Stoltzfus Jost Oversight of Marketing Relationships Between Physicians and the Drug and Device Industry: A Comparative Study ..............................................................231 Christian Katzenmeier / Jonas Knetsch Ersatzleistungen bei angeborenen Schäden statt Haftung für neues Leben: Rechtsentwicklung in Frankreich - Anregungen für das deutsche Recht............247 Thorsten Kingreen Medizinrecht und Gesundheitsrecht....................................................................283 Christian Kopetzki Zur Lage der embryonalen Stammzellen in Österreich ......................................297 Otto Ernst Krasney Versicherungsschutz während Krankenhausbehandlung und medizinischer Rehabilitation durch die gesetzliche Unfallversicherung....................................317 Hans Lilie Überwachung und Prüfung der Transplantationsmedizin ...................................331 Voker Lipp Medizinische Forschung am Menschen: Legitimation und Probandenschutz ....343 Hans-Dieter Lippert Wem gehören Daten, die im Rahmen von Forschungsprojekten gewonnen werden?...............................................................................................................359
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Gerhard Müller / Jan Knöbl Der ärztliche Behandlungsabbruch, Änderung der Therapieziele am Lebensende – Rechtssicherheit für den Arzt? .....................................................371 David G. Owen Design Defects in Prescription Drugs: Intersections of Law and Science in American Products Liability Law.......................................................................389 Frank Pflüger GKV-Kostentragung für Medizinprodukte in klinischen Prüfungen ..................405 Heinz Pichlmaier / Hans Friedrich Kienzle Rechte und Pflichten des Arztes .........................................................................415 Reinhard Richardi Lebensschutz durch Legalisierung der anonymen Geburt? ................................425 Henning Rosenau Die Setzung von Standards in der Transplantation: Aufgabe und Legitimation der Bundesärztekammer ................................................................435 Axel Sander Schutzfähigkeit von ex ante-Unterlagen im Nachzulassungsverfahren ..............453 Gerhard H. Schlund Zu den juristischen Besonderheiten des Arzthaftungsprozesses.........................463 Karsten Scholz Ärztliche Weiterbildung in medizinischen Versorgungszentren.........................481 Hans-Ludwig Schreiber Patientenverfügung als Lösung des Problems der Sterbehilfe? ..........................493 Friedrich-Christian Schroeder Zur Legitimation des § 216 StGB .......................................................................505 Ekkehard Schumann Die Therapiefreiheit des Arztes und die Einfuhr von Blut seiner Patienten zu Zwecken der Diagnostik oder der Bearbeitung...................................................511 Eva Schumann De medicis et aegrotis – Arztrecht im Frühmittelalter........................................545 Amos Shapira Notes on the Normative Regulation of Novel Biomedical Technologies ...........569
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Peter Skegg “Surgical Operation” Provisions in Commonwealth Criminal Codes ................581 Michele Slatter ‘Too much of a Good Thing’: Changing Legal Responses to Hoarding.............597 Erich Steffen Einige Gedanken zur Arzthaftung unter einer evidenz-basierten Medizin .........615 Udo Steiner Zur Lage des Arztes als freiem Beruf .................................................................635 Jochen Taupitz / Carmen Rösch Zustimmendes Votum einer Ethikkommission nach Ablehnung der AMGStudie durch eine andere Ethikkommission? ......................................................647 Wilhelm Uhlenbruck Die endlose Geschichte der Patientenverfügung.................................................663 Christa van Wyk Drug-resistant Tuberculosis and Coercive Legal Measures in South Africa: A Comparative and International Law Perspective ................................................679 Haftungs- und Versicherungsrecht Hans-Jürgen Ahrens Deliktische Haftung für Justizunrecht – Privilegien im gerichtlichen Verfahren ............................................................................................................701 Stathis Banakas Injuries, Damages and a Puzzle: Can an Effect ever Precede its Cause?............729 Gert Brüggemeier Gemeinsamer Referenzrahmen (Entwurf), Buch VI: „Außervertragliche Haftung für die Schädigung anderer“ – eine kritische Stellungnahme ...............749 Johannes Hager Durchführungsdefizite beim Ersatz des Schadens? ............................................769 Helmut Koziol Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten: Spiegelbild- oder Differenzierungsthese?.....................................................................................................781
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Rüdiger Krause Schadensersatz bei Streiks nach englischem Recht – Neue Risiken durch OBG Ltd. v. Allan?.............................................................................................795 Gunther Kühne Das Anknüpfungssystem des neuen europäischen internationalen Deliktsrechts...................................................................................................................817 Dirk Looschelders Rettungsobliegenheit des Versicherungsnehmers und Ersatz der Rettungskosten nach dem neuen VVG .............................................................................835 Egon Lorenz Zur quotalen Kürzung der Leistungspflicht des Versicherers bei grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Versicherungsnehmer ................................................................................................................855 Karl-Heinz Matthies Richterliche Mediation im Lichte der Amtshaftung ...........................................869 Dieter Medicus Die eigenübliche Sorgfalt und der Straßenverkehr .............................................883 Gottfried Schiemann Das sonstige Recht – abschreckendes oder gutes Beispiel für ein europäisches Deliktsrecht?..................................................................................895 Andreas Spickhoff Die Einheit des Rechtswidrigkeitsurteils im Zusammenspiel von Internationalem Privat- und Strafrecht ...............................................................................907 Gerald Spindler Erosion des Persönlichkeitsrechts im Internet?...................................................925 Hans Stoll Deliktsrechtliche Verantwortung für bewusste Selbstgefährdung des Verletzten............................................................................................................943 Hans Claudius Taschner Zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Produkthaftung ................................................................................................................957 Kee-Young Yeun Das Koreanische Produkthaftungsgesetz (KPHG)..............................................975
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Seok-Chand Yoon Der deliktische Schutz des Persönlichkeitsrechts im koreanischen Zivilrecht Eine rechtsvergleichende Untersuchung .............................................................997 Grundfragen des Zivilrechts Tony Angelo A Pacific Medley – Conflicts, Codes and Comparisons ...................................1009 Christian von Bar Zwischen wissenschaftlichem Entwurf und politischer Willensbildung: Funktionen und Struktur des Gemeinsamen Referenzrahmens ........................1025 Jürgen Costede Fragen zur Reichweite vertraglicher Leistungspflichten (§§ 275, 313 BGB)...1037 Peter Hanau Intensitätsstufen arbeitsvertraglicher Bindung..................................................1051 Dieter Henrich Ist auf die Rechtsausübungssperre des § 1600 d Abs. 4 BGB noch Verlass? ...1063 Seokin Huang Das Bürgerliche Gesetzbuch Koreas - Eine vergleichende Darstellung ...........1073 Autorenverzeichnis .........................................................................................1089 Schriftenverzeichnis von Erwin Deutsch ......................................................1095
Medizin und Recht
Wrongful Detention and Mental Health: An Australian Perspective
Andrew Alston*
I. Introduction This article discusses two situations in which mental health issues may arise in cases of wrongful detention: 1. Where a person who may or may not have a mental health condition is wrongfully detained in a psychiatric institution; 2. Where a person who does have a mental health condition is wrongfully detained in some other institution, in particular, an aliens’ detention centre. The second situation is of particular concern. In Australia, there have been a number of recent cases where persons with mental health problems have been wrongfully detained by immigration authorities. These persons have had significant problems in asserting their rights, problems that are compounded by the adversarial nature of the Australian legal system. Amongst the possible causes of action, the two most frequently used in cases of wrongful detention are negligence and false imprisonment. An action in negligence lies where one person who owes another person a duty of care breaches that duty with the result that the other person suffers personal injury, economic loss or other legally recognised damage. An action in false imprisonment lies where a person has been detained without her or his consent and without the authority of the law. In Trevorrow v State of South Australia (No 5),1 Gray J said:
* 1
Legal Practitioner, South Australia; Adjunct Associate Professor, School of Law, Flinders University, Adelaide, South Australia. Email:
[email protected]. [2007] SASC 285 at paragraph 982.
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Andrew Alston The tort of false imprisonment is committed when one person directly subjects another to total deprivation of freedom of movement without lawful justification. The tort addresses the unlawful restraint of personal liberty. Fullagar J described the “mere interference with the plaintiff’s person and liberty” as prima facie constituting a “grave infringement of the most elementary and important of all common law rights”.2
In Bolton; Ex parte Beane3 Deane J observed: The common law of Australia knows no lettre de cachet or executive warrant pursuant to which either citizen or alien can be deprived of his freedom by mere administrative decision or action. Any officer of the Commonwealth Executive who, without judicial warrant, purports to authorise or enforce the detention in custody of another person is acting lawfully only to the extent that his conduct is justified by clear statutory mandate.
His Honour4 continued:5 It cannot be too strongly stressed that these basic matters are not the stuff of empty rhetoric. They are the very fabric of the freedom under law which is the prima facie right of every citizen and alien in this land. They represent a bulwark against tyranny.
Usually, cases should be argued on the basis of both negligence and false imprisonment. However, a negligence case will not succeed if there is no recognised damage. As actions based on false imprisonment do not require proof of damage,6 they may provide better prospects for persons who have been wrongfully detained.7
II. Problems of asserting rights People with mental health problems who wish to challenge the actions of powerful government agencies have difficulty asserting their rights for a ranger of reasons: 1. They may not be aware of their rights; 2. They may have difficulty finding help to advise them of their rights and how to assert them; 3. When they try to assert their rights, they may face a hostile reaction;
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Trobridge v Hardy [1955] HCA 68; (1955) 94 CLR 147 at 152. [1987] HCA 12; (1987) 162 CLR 514 at 528. Dean J. [1987] HCA 12; (1987) 162 CLR 514 at 529. Trevorrow v State of South Australia (No 5) [2007] SASC 285 at paragraph 993. For discussion of compensation that may be awarded by the courts, see the heading below: VII. 4. Compensation.
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4. They find that legal proceedings are user unfriendly, lengthy, expensive and stressful; 5. If they are from another country, they may also find that the proceedings are culturally alien, particularly if they are not familiar with adversarial dispute resolution processes; 6. The outcome of legal proceedings is uncertain: the facts of a case may clearly show that a party has a moral claim but that is different from establishing that she or she is entitled to a remedy for false imprisonment. There are two problems in particular. First, it may be difficult to establish that the person was detained against her or his will. Secondly, as the detention is usually by people purporting to exercise a statutory duty, there is a problem in establishing that it did not have the authority of the law.
I. Two cases not involving mental health issues The following two cases occurred before a recent succession of cases in Australia involving the detention of mentally ill persons by immigration authorities. In one case, Vignoli v Sydney Harbour Casino,8 an assertive person succeeded in a claim based on false imprisonment. In the other case, Waine v Broekhuyse,9 a person who was not assertive did not succeed in a claim based on false imprisonment. In Vignoli’s case, the plaintiff was prevented from leaving a casino by staff of the casino and detained under guard for six hours in a small room without food. He was told that the casino video showed that he had been overpaid $ 1,250 and that he must return that amount. He demanded to see the video and said that, if the video showed that he had been overpaid, he would repay the money. He was told that he could not see the video. He was later shown the video and he then agreed that he had been overpaid and refunded the money. Bergin J in the New South Wales Supreme Court found that the plaintiff had been falsely imprisoned and awarded him general or compensatory damages of $ 30,000, aggravated damages of $ 10,000 and exemplary damages of $ 35,000: a total of $ 75,000. The judgment fully discusses the circumstances (only briefly summarised above) that gave rise to the award of such a high amount. Five points are worth noting: 1. The plaintiff was an intelligent and articulate man without mental health problems. 2. He was aware that he was being wrongfully detained. 3. He was able to clearly articulate the infringement of his legal rights. 4. It should have been clear to his captors that they were restraining him against his will and without the authority of the law. 8 9
[1999] NSWSC 1113 (27 November 1999). [1997] ACTSC 51 (11 July 1997).
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5. The experience was embarrassing and stressful but it was not claimed that the plaintiff suffered physical or mental injury. By way of contrast, in Waine v Broekhuyse, the plaintiff, an aboriginal boy aged fourteen, was taken into custody and detained at the Jervis Bay Police Station for about thirty minutes without the presence of a supporting adult. Gallop J in the Supreme Court of the Australian Capital Territory dismissed his claim for wrongful imprisonment saying that “there was no imprisonment, hence there was nothing wrongful.” This was based on the following findings of fact: 1. The incident commenced at 2.30pm. 2. There was no threat actual or implied that the plaintiff must accompany the defendant to the police station. 3. The defendant was trying to comply with his investigative responsibilities and obligations in relation to interrogating an Aboriginal child by asking the plaintiff to accompany him to the police station so that a representative from Aboriginal Legal Service could be obtained. 4. The plaintiff was not prevented from leaving the police station either directly or by implication. 5. There was no apprehension that if the plaintiff did not accompany the defendant to the police station he would be compelled to do so by force. He went voluntarily. The facts are different to those in Vignoli’s case in the following respects: 1. Vignoli attempted to leave the casino. Waine did not attempt to leave the police station. 2. Vignoli expressly objected to confinement. Waine did not. 3. The staff of the casino could not be seen as acting with the authority of the law. A policeman does appear to have the authority of the law. However, it is submitted that these differences should have been overridden by another difference. At all times, Waine was a child – a vulnerable person – in the presence of a policeman – an authority figure. But, the court did not find that Waine was intimidated and said that he was not prevented from leaving the police station and that he went (and presumably stayed) there voluntarily. The case of a person with a mental health condition who is taken into custody by the police or immigration authorities is of particular concern because it is about a person who is disadvantaged and who may not be able to explain her or his circumstances to an intimidating authority. We may respond with outrage and declare that this is wrongful detention but, unfortunately, the facts are more likely to equate with Waine’s case than with Vignoli’s case and it may be difficult to prove that there has been false imprisonment.
Wrongful Detention and Mental Health: An Australian Perspective
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II. Wrongful committal in psychiatric institutions Most jurisdictions have legislation that protects persons responsible for a committal if they acted in good faith. The reasons for this have been expressed as follows: 1. They are performing public duties under mental health legislation: Woodhouse J in Mitchell v Allen,10 2. They are performing difficult duties: Vaughan Williams L.J. in Shackelton v Swift;11 3. Medical Practitioners and others performing difficult duties are better able and more willing to perform these duties if they are protected from litigation: Denning L.J. in Roe v Minister of Health;12 4. They need protection because the persons for whose confinement they are responsible are of a particularly disputatious condition: Denning L.J. in Richardson v London County Council;13 However, concern has been expressed that the protection of medical practitioners and others in these circumstances should be balanced against: a) the interests of persons who have been or who are at risk of being wrongfully confined: O’Sullivan J.A. Kohn v Globerman;14 b) society as a whole: Shultz J.A. in Burke v Efstathianos;15
III. The extent of protection 1. Protection afforded by legislation Much of the legislation in Australia derives from the model provided by section 330 of the English Lunacy Act 1890. The modern version of this model may be found in section 139 of the Mental Health Act 1983 (U.K.). This provides as follows:
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[1969] NZLR 110 at 113. [1913] 2 KB 304 at 313. [1954] 2 All ER 131 at 139. [1957] 2 All ER 330 at 338. (1986) 27 DLR (4th) 383 at 590 (Manitoba Court of Appeal). (1961) 27 DLR (2nd) 518 at 528 (Manitoba Court of Appeal).
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Andrew Alston (1) No person shall be liable, whether on the ground of want of jurisdiction or on any other ground, to any civil or criminal proceedings to which he would have been liable apart from this section in respect of any act purporting to be done in pursuance of this Act or any regulations or rules made under this Act, or in, or in pursuance of anything done in, the discharge of functions conferred by any other enactment on the authority having jurisdiction under Part VII of this Act, unless the act was done in bad faith or without reasonable care. (2) No civil proceedings shall be brought against any person in any court in respect of any such act without the leave of the High Court; and no criminal proceedings shall be brought against any person in any court in respect of any such act except by or with the consent of the Director of Public Prosecutions.
Subsection (2) is used to prevent prospective parties from initiating proceedings. Such provisions have been effective in warding off litigious applicants of the type referred to by Denning L.J. in Richardson v London County Council.16 However, as Vaughan Williams L.J. cautioned in Shackleton v Swift:17 To stay an action, to say that an action shall not be tried, is generally to take a step which ought not to be taken except in a very clear case. …[It] is a strong thing to say to a plaintiff who is bringing an action that his complaint will not be heard, to say that it will be stayed without there having been a trial, without the evidence having been heard.
In Australia, only Tasmania retains the requirement that parties seek leave of the court to initiate proceedings.18 Most of the Australian States provide for protection similar to that which is provided for in section 139 of the English Mental Health Act.19 For example, section 122 of the Mental Health Act 1986 (Victoria, Australia) provides: No civil or criminal proceedings lies20 against any person for anything done in good faith and with reasonable care in reliance on any authority or document apparently given or made in accordance with the requirements of this Act.
The key words here are done in good faith and with reasonable care. The same or similar expressions are used in other Australian provisions.21 In New Zealand, legislation significantly reduces the scope of protection afforded to health professionals and others who, in the exercise of authority under mental health legislation, are responsible for wrongful confinements. The Mental Health (Compulsory Assessment and Treatment) Act 1992 affords protection to a 16 17 18
19 20 21
[1957] 2 All E.R. 330 at p. 338. [1913] 2 K.B. 304 at pp. 311-2. Mental Health Act 1963 s: 114 (2). It was part of the New Zealand Mental Health Act 1969 but this was repealed in 1992. Queensland, South Australia, Tasmania, Victoria, Western Australia. “lies” seems to be a misprint in the Act. Mental Health Act 1974 (Queensland) s. 69 (1), Mental Health Act 1993 (South Australia) s. 36 (2), Mental Health Act 1996 (Western Australia) s 213 (1).
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person from criminal responsibility if he or she acts in good faith.22 This replaced the legislation based on the model of the English Lunacy Act 1890 that afforded protection from both civil and criminal proceedings. New South Wales, Australian Capital Territory and the Northern Territory are less generous. They afford no protection to health professionals. However, the New South Wales Mental Health Act 1990 interestingly does afford comprehensive protection to police officers. Section 294 provides: A member of the Police Force is not liable for any injury or damage caused by the member of the Police Force in the exercise, in good faith, of a function conferred or imposed on the member of the Police Force by or under this Act.
2. Should we protect health professionals from liability? There seems to be a trend against affording legislative protection to health professionals and others who, in the performance of duties under mental health legislation, act in good faith and with reasonable care. This may reflect some prevailing attitudes:23 • In favour of keeping people with mental health problems out of institutions; • Towards increasing accountability of all professionals; • Recognising that people who have been wrongfully detained should be compensated. It is submitted that there is merit both in protecting persons who perform public duties under mental health legislation24 and in adequately compensating persons who have been wrongfully confined. It is further submitted that these are not contradictory propositions. The person who has been wrongfully confined should be compensated but not by the health professional or by any other person who acted in good faith and with reasonable care. Compensation should be paid by the State, as it is in most cases where persons have been wrongfully confined in prisons. This happens in South Australia. Section 36 of its Mental Health Act 1993 provides: 1. A person engaged in the administration of this Act incurs no liability for an honest act or omission in the exercise or discharge, or purported exercise or discharge, by the person or by a body of which he or she is a member, of a power, function or duty under this Act. 2. A liability that would, but for subsection (1), lie against a person lies instead against the Crown. 22 23
24
Mental Health (Compulsory Assessment and Treatment) Act 1992 s. 122. Mere speculation on the part of the author! There is no authoritative research to support it. Woodhouse J in Mitchell v Allen [1969] N.Z.L.R. 110 at p. 113.
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The protection afforded by subsection (1) is wider than that afforded by other provisions that we have looked at. It seems to apply even in cases where the health professional has been grossly negligent. Would it also protect a health professional from liability under the disciplinary provisions of the Medical Practitioners’ Act? Presumably this was not intended. The subsection is not well drafted. Subsection (2), it is suggested, adopts a correct approach to the problem of balancing the rights of patient against those of the health professional. It gives effect to both. The subsection protects the health professional who has acted in good faith. It enables the person who has been wrongfully confined to get compensation. It puts the onus for compensation on the State.
IV. Wrongful Detention of mentally ill persons by immigration authorities 1. The detention of Cornelia Rau Cornelia Rau, an Australian permanent resident, was mistakenly detained under the Commonwealth Migration Act from the end of March 2004 to early February 2005. She was mentally ill and she told the Immigration Department officers a story that was untrue and that they considered to be unbelievable.25 They formed the view that she was an unlawful non-citizen.26 The Palmer Report on the Inquiry into the Circumstances of the Immigration Detention of Cornelia Rau found that the responsible compliance officer in the Department of Immigration and Multicultural and Indigenous Affairs (DIMIA) had a proper and lawful basis for forming a reasonable suspicion that she was an unlawful non-citizen, sufficient to justify her detention.27 However, it also found that “officers should have continued inquiries aimed at identifying her and they should have continued to question whether they were still able to demonstrate that the suspicions on which the detention was originally based persisted and that it was still reasonably held.”28 The report was highly critical of the operations of DIMIA. It found:29 There are serious problems with the handling of immigration detention cases. They stem from deep-seated cultural and attitudinal problems within DIMIA and a failure of executive leadership in the immigration compliance and detention areas.
25
26 27 28 29
M.J. Palmer Inquiry into the Circumstances of the Immigration Detention of Cornelia Rau Report July 2005, Commonwealth of Australia, 2005 (hereinafter referred to as “The Palmer Report”), Part 5 The circumstances and actions leading to the failure to identify Cornelia Rau, Para. 5.1 and 5.2, pp. 95 to 97. The Palmer Report, Para. 2.3.2, p. 10. The Palmer Report. Main Findings no. 2 p. viii. Ibid. Main Finding 17, p. x. i.
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It was particularly critical of the treatment of Cornelia Rau. It found:30 The lack of comprehensive ‘cradle to grave’ case management and of any effective accumulated assessment and review process in relation to mental health care, general treatment, and the identity inquiries conducted during Cornelia Rau’s 10 months in immigration detention significantly affected the quality of care she received and the amount of time she spent in detention.
2. Vivian Alvarez Solon The Palmer Report of July 2005 was followed in September by the Report of the Commonwealth Ombudsman on the Inquiry into the Circumstances of the Vivian Alvarez Matter.31 This was about the mistaken detention by DIMIA and deportation to the Philippines of Vivian Alvarez Solon, a mentally ill woman who was an Australian citizen. Like the Palmer Report, this Report was critical of the operations of DIMIA. It now seems that there have been many other cases of wrongful detention by DIMIA of mentally ill persons. In February 2006, the Immigration Department admitted that there could be another 27 cases of mentally ill persons being unlawfully detained.32 One month later, the Commonwealth Ombudsman released a report into the unlawful detention of a severely mentally ill man, originally from Vietnam who was mistaken for an illegal immigrant.33 a) Arbitration as a solution in the Solon case The problems of asserting the rights of people with mental health problems who have a grievance against government bodies or persons purporting to act in accordance with statutory authority are discussed above. These problems apply, in particular, to court proceedings and this may be why Vivian Alvarez Solon and the Government agreed to submit their case to arbitration. Retired High Court Chief Justice, Sir Anthony Mason, was appointed to determine an appropriate level of compensation. The Government understandably did not want the facts of the case to be publicly debated in a court and was prepared to submit to arbitration where the focus was solely on compensation and not on liability. Arbitration in this case had significant advantages for both Vivian Alvarez Solon and the Government. It saved time (although it did take over a year) and 30 31
32
33
Main Finding 11, p. x. Prof. John McMillan Inquiry into the Circumstances of Vivian Alvarez Matter, Commonwealth Ombudsman, Commonwealth of Australia, 2005. Transcript of Senate Committee Hearings for Monday, February 13, 2006, Statement by Mr. Neil Mann, First Assistant Secretary, Department of Immigration and Multicultural and Indigenous Affairs (DIMIA), p. 77 of 174. Prof. John McMillan Department of Immigration and Multicultural Affairs Report on Referred Immigration Cases: Mr. T Commonwealth Ombudsman, Commonwealth of Australia March 2006.
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money and Vivian Alvarez Solon was spared the traumatic experience of being cross-examined in court. However, the process was shrouded in secrecy. When, at the end of November 2006, it was announced that a settlement had been reached, the amount received by Ms Solon was not revealed. The hearing had been subject to a confidentiality clause. While newspapers speculated that the amount was a seven-figure sum, the parties made no comment. The Immigration Minister, Senator Vanstone, said that the amount was confidential between the parties. She also said: “It isn’t always the case that everything needs to be revealed.”34 From whose point of view was the Minister speaking? It would have been invaluable for other victims of unlawful detention by the Immigration Department to know how much had been paid to Ms Solon and how that amount had been calculated. Such knowledge would have contributed to fair and speedy resolutions of their own claims. b) Court proceedings as a solution in other cases The alternative to arbitration is court proceedings for wrongful detention. Such cases are beginning to trickle through the system. In August 2005, proceedings were issued in the New South Supreme Court on behalf of Shayan Badraie, an Iranian boy who, from the age of five, was held for almost two years in custody in Australian detention centres.35 In addition to the Federal Government, the defendants were Australian Correctional Services, which was the operator of the Woomera Detention Centre, and Australian Correctional Management, which was the operator of the Villawood Detention Centre.36 Shayan suffered post-traumatic stress after being exposed to riots and witnessing suicide attempts and violence in detention. In addition to ordinary damages, aggravated and exemplary damages were sought on his behalf.37 After 63 days of hearings, Shayan’s lawyers accepted an out-of-court settlement offer of $ 400,000. On March 3, 2006, Justice Clifton Hoebent of the Supreme Court approved the settlement.38 Court proceedings of this type are not resolved promptly. In the case of Parviz Yousefi, a statement of claim was lodged in the Supreme Court of New South Wales on August 12, 2005 in which it was claimed that he suffered permanent psychiatric damage due to his experiences in the detention centres at Baxter and Woomera.39 In January 2008, the court awarded him damages of $ 800.000. It may seem that the time between the beginning and the end of the proceedings was rather long. But the delay is not unusual. Cases like this need time to prepare. There is considerable evidence to be obtained and prepared for presentation. This includes the evidence of psychiatrists and other expert witnesses. Apart from be34
35 36 37 38 39
Robert Wainwright and Jessica Irving Vanstone refuses to reveal how much Solon debacle will cost Sydney Morning Herald, December 1, 2006. Fergus Shiel Child refugee sues over ‘unjust’ detention The Age, August 23, 2005. Ibid. Ibid. Sydney Morning Herald, March 3, 2006. Sydney Morning Herald, August 13, 2005.
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ing time consuming, these preliminary activities are expensive and impose considerable stress on already fragile parties.
3. The legal basis of claims: False imprisonment and the Migration Act 1958 (Cwth) As pointed out above, a person wrongfully detained may bring two causes of action, one in negligence and the other in false imprisonment. A case may be based on both negligence and false imprisonment. However, a case based on negligence cannot succeed without legally recognised damage to the plaintiff. Actions based on false imprisonment usually provide better prospects for persons such as Cornelia Rau. An action in false imprisonment lies when a person has been detained against her or his will without the authority of the law. The question in Cornelia Rau’s case is whether she was detained without the authority of the law. The argument that her detention was lawful is based on provisions of the Migration Act 1958. Section 189 (1) provides that if an officer of the Immigration Department knows or reasonably suspects that a person in the country is an unlawful non-citizen, the officer must detain the person. Section 196 (1) provides that an unlawful non-citizen detained under section 189 must be kept in immigration detention until he or she is removed, deported or granted a visa. Cornelia Rau’s case was settled without going to court. If it had gone to court, it would have focused on whether the officers of the Department reasonably suspected, that she was an unlawful non-citizen, first, when they initially detained her and secondly, when they continued to detain her. As clearly established by the High Court in Ruddock v Taylor,40 the fact that a person is subsequently adjudged to be not an unlawful non-citizen, does not determine the issue. A reasonable suspicion may rest on a mistake in fact or on a mistake in law.
4. Compensation The best guidance on appropriate damages for mentally ill persons who have been wrongfully detained by immigration authorities comes from the many court judgments on false imprisonment. Other cases, where the matter has been settled out of court or has been resolved by arbitration, are usually of little help. The amounts paid and the reasons for paying those amounts are usually not disclosed.41 The cases generally agree on the principles to be applied in assessing damages for false imprisonment. A comprehensive discussion of these principles is to be found in the judgment of Veit J in Muir v Albert42. 40
[2005] HCA 48.
41
However, in the case of Cornelia Rau, which was recently settled by the parties out of court, the amount paid was publicly disclosed. See the discussion below under the heading VI. 5. Finding solutions for Cornelia Rau.
42
(1996) 132 DLR (4th) 695 (Alberta Court of Queens Bench) at pp. 713-715.
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His Honour pointed out43 that the overriding objective in awarding damages in a tort action “is to compensate the injured person – not to punish the wrongdoer”. A court can compensate both for financial losses suffered and for other types of losses such as physical pain and injury to feelings. Compensation for injury to feelings is, of course, particularly significant in cases of false imprisonment. However, as Veit J said44: The calculation of [compensation for injury to feelings] is difficult. Money is awarded not as a direct compensation for what has been lost – but as an attempt to provide what money can do – make the real loss easier to bear. Sometimes, the wrongful action, nevertheless had some beneficial effects on the victim; credit must be given to the wrongdoer for any savings, for example, that the victim has achieved despite the wrongful action of the defendant.
The court has power to award damages under three headings: pain and suffering; aggravated damages; and exemplary damages (punitive damages). As to the first heading, Veit J said45: Damages for pain and suffering cannot be tested by any objective standard; they are awarded by the court on the basis of its opinion and judgment of the amount of money that can comfort the plaintiff for the damage which she has proved. Suffering includes, for example, fear of incapacity, fear of being unable to earn a living, humiliation, sadness, embarrassment, social discredit, and loss of freedom.
As to aggravated damages and exemplary damages, Veit J invoked explanations from the leading cases of Uren v John Fairfax & Sons Pty. Ltd46 and Hill v Church of Scientology of Toronto.47 In Hill’s case,48 aggravated damages were explained as follows: Aggravated damages may be awarded in circumstances where the defendant’s conduct has been particularly high-handed or oppressive, thereby increasing the plaintiff’s humiliation and anxiety. … These damages take into account the additional harm caused to the plaintiff’s feelings by the defendant’s outrageous and malicious conduct. Like [damages for pain and suffering] they are compensatory in nature.
Exemplary damages are awarded for the purpose of punishing the defendant and as a mark of the court’s disapproval of the conduct and to deter the defendant and
43 44 45 46 47 48
at p. 713. Ibid. Ibid. [1966] HCA 40; (1966) 117 CLR 118 (High Court of Australia). (1995) 126 DLR (4th) 129. (1995) 126 DLR (4th) 129 at p. 183.
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others from similar behaviour.49 In Uren v John Fairfax & Sons Pty. Ltd,50 Owen J observed: It is not open to doubt that this and other courts in countries where the common law is in force have, time and again, recognised that there are certain types of tortious acts in which a jury may award damages over and above those required to compensate the plaintiff for the injury suffered by him if it forms the opinion, on evidence justifying that conclusion, that the defendant’s conduct in committing the wrong was so reprehensible as to require not only that he should compensate the plaintiff for what he has suffered but should be punished for what he has done in order to discourage him and others from acting in such a fashion.
Courts in Australia have been prepared to award aggravated and exemplary damages for false imprisonment (for a recent example, see Vignoli v Sydney Harbour Casino51) but not in cases involving wrongful detention by immigration authorities. In Goldie v Commonwealth of Australia (No 2),52 Mr. Goldie was unlawfully detained for a period of three days. French J commented53 as follows: Wrongful arrest and imprisonment even for a short time is a serious matter whose seriousness is measured not solely by the length of the period of incarceration. Arrest and imprisonment involve a grave interference with the rights of the individual coupled with humiliation, which is both private and public. The arrest in this case occurred in a public setting and added to the indignity suffered by Mr. Goldie. The physical constraint applied to him was undignified, albeit not unreasonable from the point of view of the ACM officers who were apprehending him. The pat searches and interrogations and the removal of his tie and belt and shoelaces, which followed at the Detention Centre, were all factors to be taken into account in measuring the extent of the interference with his rights associated with the imprisonment and the humiliation and indignity thereby inflicted on him. Acting unlawfully as it turned out, those who had responsibility for apprehending and detaining Mr. Goldie acted with restraint and, in the circumstances, in a manner calculated to minimise so far as practicable the extent of the indignity inflicted on him. As in Taylor,54 the officers concerned could not be said to have been guilty of acting ‘contumeliously, arrogantly or outrageously’. They did no more than was necessary in the discharge of what they believed to be their duty. There was, in my opinion, no aggravation of the undoubted injury to Mr. Goldie’s feelings by reason of the way in which his detention was effected that could justify aggravated damages. A fortiori there is no basis for an award of exemplary damages.
Mr. Goldie was awarded damages of $ 22,000, the breakdown of which was as follows: 49
50 51 52 53 54
Trevorrow v State of South Australia (No 5) [2007] SASC 285 at paragraph 993; Uren v John Fairfax & Sons Pty. Ltd [1966] HCA 40 (1966) 117 CLR 118 at 158. Uren v John Fairfax & Sons Pty. Ltd [1966] HCA 40 (1966) 117 CLR 118 at 158. [1999] NSWSC 1113. [2004] FCA 156. at paras 17 and 18. Re Patterson; Ex parte Taylor; [2001] HCA 51; (2001) 207 CLR 391.
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1. The wrongful arrest and associated physical restraints including an allowance for humiliation and indignity at the time of the apprehension: $ 5,000 2. The conduct in detention, of pat searches, the medical examination and other requirements wrongfully imposed on Mr. Goldie: $ 2,000 3. Detention for a period of three days, including an allowance for the continuing humiliation and indignity associated with that detention: $ 15.00055 Mr. Goldie was detained for three days and received ordinary damages of $ 15,000: $ 5,000 per day.
5. Finding solutions for Cornelia Rau In April 2007, lawyers for Cornelia Rau announced that she would seek compensation in the Supreme Court of New South Wales for being wrongfully detained as an illegal immigrant.56 Ms Rau's solicitor, Harry Freedman, said:57 "We have reluctantly commenced legal proceedings against the Federal Government rather than proceed by way of alternative dispute resolution as, to date, the Government has required that any claim be dealt with in this way. "It is unfortunate that Ms Rau is being forced to litigate, particularly when you consider the adverse findings and the recommendations of Mr. Palmer. The fact that the Commonwealth contracts out its detention centre operations is not Ms Rau's problem. She is the victim in all this."
It seems that neither parties wanted to have the matter resolved by court proceedings. The Government did not want the publicity. Cornelia Rau most likely did not want the above listed problems that claimants have in asserting their rights. Fortunately, the case was settled. In February 2008, Cornelia Rau accepted a compensation offer from the Federal Government of $ 2.6 million. The Supreme Court of New South Wales formally approved the settlement. The Government had previously offered an amount of $ 1 million in settlement. However, in December 2007 there was a Federal election that resulted in a change of government. The new Labor Government under the Prime Ministership of Kevin Rudd seemed anxious to settle this case fairly and promptly.
V. Conclusions It is suggested that the settlement of Cornelia Rau’s claim may have the following consequences:
55 56 57
ara 21. he Age, April 9, 2007. Bid.
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• As the settlement was in response to legal proceedings issued on behalf of Cornelia Rau, there may now be a number of other cases initiated by persons who have been wrongfully detained by the immigration department.58 • Thus, it is unlikely that cases will be resolved by arbitration, as they were for Alvarez Solon, or by other non-adversarial means. • Unless these proceedings are short circuited by prompt intervention and offers of settlement by the government, they will have all the disadvantages of court proceedings discussed above: delay; expense; stress. • In Alvarez Solon’s case, which was resolved by arbitration, there was a confidentiality clause that prevented the parties from disclosing the terms of the settlement. Confidentiality clauses have the effect of delaying proceedings and promoting uncertainty in the fair resolution of claims. In Cornelia Rau’s case there was no confidentiality clause. It is hoped that the resolution of future cases will not be subject to confidentiality clauses. The prompt action of the Government in this case demonstrated an intention to fairly compensate Cornelia Rau for “the terrible ordeal that she has suffered.”59 It also indicated a more compassionate approach to the plight of refugees and other disadvantaged persons in Australia.60
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In February 2008, proceedings were initiated in the South Australian Supreme Court by Abdu Hamidjii, an Iranian refugee, who was detained from June 2000 to Christmas Eve 2004 when the Federal Court ordered that he be put in a mental health facility. Mr. Hamidji claims that his treatment resulted in severe psychiatric illness that will require supervision for the rest of his life. He is now an Australian citizen. Immigration Minister, Chris Evans, addressing the Senate’s Legal and Constitutional Affairs Committee. This is also evidenced by the speech of the Prime Minister, Kevin Rudd, in the House of Representatives on the 13th of February 2008: Apology to Australia’s Indigenous Peoples.
Sind geklonte Embryonen „entwicklungsfähige Zellen“ i.S.v. § 1 Abs. 3 FMedG? – Anmerkungen zu R (on the Application of Quintavalle) v. Secretary of State for Health
Erwin Bernat
I. Der österreichische Gesetzgeber hat mit dem Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG)1 ein Gesamtkonzept staatlicher Regelung im Bereich der Fortpflanzungsmedizin verankert.2 Dieses Gesetz verbietet bestimmte Techniken der assistierten Zeugung kategorisch3 und stellt jene Techniken der Fortpflanzungsmedizin, die es erlaubt, unter die Kontrolle der Verwaltungsbehörden.4 Das FMedG schuf auch neue Regeln für die „gespaltene“ Mutter- und Vaterschaft: Mutter ist im Fall eines Embryotransfers nach Eispende jene Frau, die das Kind gebiert, und Vater ist im Fall der Zeugung des Kindes durch heterologe Insemination jener Mann, der 1
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3
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BG, mit dem Regelungen über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung getroffen (Fortpflanzungsmedizingesetz – FMedG) sowie das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, das Ehegesetz und die Jurisdiktionsnorm geändert werden, BGBl. 1992/275 i.d.F. BGBl. I 2001/98 (1. Euro-Umstellungsgesetz – Bund), BGBl. I 2004/163 (Fortpflanzungsmedizingesetz-Novelle 2004) und BGBl. I 2008/49 (Gewebesicherheitsgesetz – GSG). Zur Entstehungsgeschichte und zur Systematik dieses Gesetzes siehe Bernat, Das Recht der medizinisch assistierten Zeugung 1990 – eine vergleichende Bestandsaufnahme, in: Bernat (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin. Wertung und Gesetzgebung. Beiträge zum Entwurf eines Fortpflanzungshilfegesetzes, 1990, S. 65 ff.; ders., Das Recht der Fortpflanzungsmedizin 2000: ein Dreiländervergleich (Deutschland, Österreich, Schweiz), in: Fischl (Hrsg.), Kinderwunsch. In-vitro-Fertilisierung und Assistierte Reproduktion – Neue Erkenntnisse und Therapiekonzepte, 2000, S. 285 ff.; Hopf, Zwischen Kindeswohl und Fortpflanzungsfreiheit: Der Entwurf zum Fortpflanzungshilfegesetz aus der Sicht des Legisten, in: Bernat (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin, 1990, S. 45 ff. Siehe §§ 2 f. FMedG; dazu genauer Bernat, Einführung in das österreichische Medizinrecht, in: Wenzel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, 2007, S. 1437 (1478 f.). Vgl. Bernat, Das Fortpflanzungsmedizingesetz: Neue Rechtspflichten für den österreichischen Gynäkologen, Gynäkologisch-geburtshilfliche Rundschau 33 (1993) 2 ff.
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Erwin Bernat
der Übertragung des Fremdsamens in besonders solenner Form zugestimmt hat.5 Wunschvater und Wunschmutter werden vor dem „Eindringen“ des Samenspenders in ihre Familie zusätzlich geschützt: „Ein Dritter, dessen Samen für eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung verwendet wird, kann nicht als Vater des mit seinem Samen gezeugten Kindes festgestellt werden“ (§ 163 Abs. 4 Satz 1 ABGB).6 § 1 Abs. 1 FMedG steckt den Geltungsbereich des Fortpflanzungsmedizingesetzes ab. Danach ist „medizinisch unterstützte Fortpflanzung im Sinn [des FMedG] die Anwendung medizinischer Methoden zur Herbeiführung einer Schwangerschaft auf andere Weise als durch Geschlechtsverkehr.“ Verfahren, mit denen in vitro gezeugte Embryonen außerhalb des Körpers einer Frau zur Entwicklung und Reifung gebracht werden sollen (Ektogenese),7 stellen nach dieser Legaldefinition zwar keine medizinisch unterstützten Fortpflanzungen dar, sie sind aber dennoch verboten, wenn auch nur indirekt. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 FMedG darf nämlich der in vitro gezeugte Embryo „nicht für andere Zwecke als für medizinisch unterstützte Fortpflanzungen verwendet werden.“ Und da medizinisch unterstützte Fortpflanzungen nur „Verfahren zur Herbeiführung einer Schwangerschaft auf andere Weise als durch Geschlechtsverkehr“ sind (§ 1 Abs. 1 FMedG), ist schon der bloße Versuch,8 eine in vitro befruchtete Eizelle außerhalb des Körpers einer Frau zur Entwicklung und Reifung zu bringen, unzulässig.9 Verletzt der Arzt § 9 FMedG, kann er mit Geldstrafe bis zu € 36.000, bei Uneinbringlichkeit mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu vierzehn Tagen bestraft werden (§ 22 Abs. 1 Z 3 FMedG). § 1 Abs. 2 FMedG zählt demonstrativ10 auf, welche Methoden der Gesetzgeber als solche der medizinisch unterstützten Fortpflanzung begreift: die künstliche Insemination in vivo,11 die In-vitro-Fertilisation (IVF),12 den Embryotransfer13 5
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§§ 137b, 156a, 163 ABGB i.d.F. Art. II BGBl. 1992/275; dazu Schwimann, Neues Fortpflanzungsmedizinrecht in Österreich, StAZ 1993, 169 ff.; Steininger, Interpretationsvorschläge für die neuen Normierungen im ABGB über die väterliche Abstammung, ÖJZ 1995, 121 ff.; rechtsvergleichend: Lurger, Das Abstammungsrecht bei medizinisch assistierter Zeugung nach der deutschen Kindschaftsrechtsreform im Vergleich mit dem österreichischen Recht, DEuFamR 1 (1999) 210 ff. Samenspender ist nach der Legaldefinition des § 163 Abs. 4 Satz 2 ABGB (i.d.F. des Familien- und Erbrechts-Änderungsgesetzes 2004, BGBl. I 2004/58), „wer seinen Samen einer für medizinisch unterstützte Fortpflanzungen zugelassenen Krankenanstalt mit dem Willen überlässt, nicht selbst als Vater eines mit seinem Samen gezeugten Kindes festgestellt zu werden.“ Bernat, Rechtsfragen medizinisch assistierter Zeugung, 1989, S. 266 f. § 25 Abs. 2 FmedG. JAB, 490 BlgNR 18. GP, S. 2. Die demonstrative Aufzählung in § 1 Abs. 2 FMedG soll verhindern, dass auch Verfahren der Fortpflanzungsmedizin, die es bei Verabschiedung des FMedG noch nicht gab, von diesem Gesetz reguliert werden; siehe den JAB, 490 BlgNR 18. GP, S. 3. § 1 Abs. 2 Z 1 FMedG: „das Einbringen von Samen in die Geschlechtsorgane einer Frau“. § 1 Abs. 2 Z 2 FMedG: „die Vereinigung von Eizellen mit Samenzellen außerhalb des Körpers einer Frau“.
Sind geklonte Embryonen „entwicklungsfähige Zellen“ i.S.v. § 1 Abs. 3 FMedG?
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sowie „das Einbringen von Eizellen oder von Eizellen mit Samen in die Gebärmutter oder den Eileiter einer Frau“.14 Diese Techniken können homolog oder heterolog – also mit den Keimzellen der Wunscheltern oder den Keimzellen eines Spenders – durchgeführt werden. Mit Ausnahme der künstlichen Insemination in vivo hat der Gesetzgeber die Praxis der Fortpflanzungsmedizin nur im homologen System erlaubt.15 Das FMedG ist nicht nur ein Gesetz zur Regelung der Fortpflanzungsmedizin, sondern bezweckt auch den Schutz des extrauterinen Keims, der im Schrifttum als Embryo (in vitro), als Präembryo oder als Zygote bezeichnet wird.16 Demgegenüber nennt § 1 Abs. 3 FMedG den Embryo (in vitro) „entwicklungsfähige Zellen“. Das sind nach der Legaldefinition des § 1 Abs. 3 FMedG „befruchtete Eizellen und daraus entwickelte Zellen“. Während die Regierungsvorlage „entwicklungsfähige Zellen“ erst „ab der Kernverschmelzung“ entstehen ließ,17 kommt es nach der Fassung von § 1 Abs. 3 FMedG, die parlamentarisch verabschiedet wurde, nicht auf die Verschmelzung der Zellkerne, sondern ausschließlich auf das Eindringen der Samenzelle in die Eizelle an, was zu einer Ausweitung des Schutzobjektes „entwicklungsfähige Zellen“ führt.18 Der etwas seltsam anmutende Begriff „entwicklungsfähige Zellen“ findet sich schon im Ministerialentwurf eines „Fortpflanzungshilfegesetzes (FHG)“19 und wurde vom Gesetzgeber ganz bewusst 13
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§ 1 Abs. 2 Z 3 FMedG: „das Einbringen von entwicklungsfähigen Zellen in die Gebärmutter oder den Eileiter einer Frau“. § 1 Abs. 2 Z 4 FMedG. Diese Einschränkung begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken; siehe VfGH 14.10.1999, VfSlg. 15.632 = MedR 2000, 389 m. Anm. v. Bernat; zu dieser Entscheidung Coester-Waltjen, Fortpflanzungsmedizin, EMRK und österreichische Verfassung, FamRZ 2000, 598 f.; Lurger, Das Fortpflanzungsmedizingesetz vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof, DEuFamR 2 (2000) 134 ff.; Novak, Fortpflanzungsmedizingesetz und Grundrechte, in: Bernat (Hrsg.), Die Reproduktionsmedizin am Prüfstand von Recht und Ethik, 2000, S. 62 ff.; Strasser, Ethik der Fortpflanzung, in: Bernat (Hrsg.), Die Reproduktionsmedizin am Prüfstand von Recht und Ethik, 2000, S. 23 ff.; Bernat, A human right to reproduce non-coitally?, Univ. Tasmania L. Rev. 21 (2002) 20 ff.; zur Stellung der Fortpflanzungsmedizin im Licht der EMRK Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008, S. 194 m.w.N. sowie jüngst EGMR, Urt. v. 4.12.2007 (GK), Dickson, Nr. 44.362/2004. Winter, In-vitro-Fertilisation und Embryotransfer an der Frauenklinik Graz, in: Bernat (Hrsg.), Lebensbeginn durch Menschenhand. Probleme künstlicher Befruchtungstechnologien aus medizinischer, ethischer und juristischer Sicht, 1985, S. 41 (49 ff.); Schleiermacher, Der Beginn des Lebens, in: Reiter/Theile (Hrsg.), Genetik und Moral. Beiträge zu einer Ethik des Ungeborenen, 1985, S. 69 ff. § 1 Abs. 3 FMedG i.d.F. 216 BlgNR 18. GP lautete: „Als entwicklungsfähige Zellen sind befruchtete Eizellen und daraus entwickelte Zellen ab der Kernverschmelzung anzusehen.“ In diesem Sinn auch § 8 Abs. 1 des deutschen Embryonenschutzgesetzes (ESchG) vom 13.12.1990 (BGBl. I, S. 2746): „Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an …“. Siehe dazu den JAB, 490 BlgNR 18. GP, S. 3. MinE zu einem „BG über die medizinische Fortpflanzungshilfe beim Menschen (Fortpflanzungshilfegesetz – FHG) sowie über Änderungen des allgemeinen bürgerlichen
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verankert. Dazu heißt es in den amtlichen Erläuterungen zur Regierungsvorlage eines FMedG: „Im Begutachtungsverfahren wurde verschiedentlich gefordert, statt [‚entwicklungsfähige Zellen‘] den Ausdruck ‚Embryo‘ zu verwenden. Diesen Vorschlägen kann sich der vorliegende Entwurf nicht anschließen, da sowohl die wissenschaftliche Terminologie als auch der allgemeine Sprachgebrauch – entsprechend den unterschiedlichen weltanschaulichen Ansätzen – hier weder eindeutig noch einheitlich sind. Im Übrigen sieht der Entwurf […] besondere Vorkehrungen zum Schutz der befruchteten Eizellen vor, so dass die Frage der Wortwahl letztlich zweitrangig ist.“20
Hinter der Verwendung des Begriffs „entwicklungsfähige Zellen“ stand augenscheinlich das Bemühen des Gesetzgebers, weltanschauliche Neutralität zu wahren. Allerdings gerät dieser Begriff in ein Spannungsverhältnis zur rechtsethischen Basiswertung des § 9 Abs. 1 FMedG, der das Leben von „entwicklungsfähigen Zellen“ sogar stärker schützt als das Leben der Zygote in vivo.21 Verbrauchende Forschung22 an „entwicklungsfähigen Zellen“ ist nach § 9 Abs. 1 FMedG kategorisch verboten und kann mit Verwaltungsstrafe oder mit Ersatzfreiheitsstrafe geahndet werden,23 während die im Eileiter befruchtete Eizelle vor Implantation in der Gebärmutterschleimhaut der werdenden Mutter gänzlich schutzlos gestellt ist.24 § 9 Abs. 1 FMedG wäre wenigstens auf den ersten Blick plausibler, hätte der Gesetzgeber das Schutzobjekt dieser Vorschrift mit einem Namen versehen, der sowohl in den empirischen als auch in den normativen Wissenschaften gebräuchlich ist: Embryo (in vitro),25 Präembryo oder Zygote. Die Bezeichnung des frühen menschlichen Keims als „entwicklungsfähige Zellen“ verschleiert unnötigerweise die empirischen Grundlagen der gesetzlichen Regelung, was es dem Normadressaten nicht gerade erleichtert, der Bewertung des § 9 Abs. 1 FMedG zu folgen.
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Gesetzbuchs und des Ehegesetzes“, JMZ 3.509/363-I 1/90; zu diesem Ministerialentwurf siehe die Beiträge in: Bernat (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin, 1991. 216 BlgNR 18. GP, S. 15. Vgl. zur Problematik des Embryonenschutzes schon Bernat/Schick, Embryomanipulation und Strafrecht. Gedanken zum Initiativantrag 156/A vom 25.9.1985 (II-3306 BlgStProt NR XVI. GP), AnwBl. 1985, 632 ff. Siehe dazu Trounson, Why do research on human pre-embryos?, in: P. Singer (Hrsg.), Embryo-Experimentation, 1990, S. 14 ff. Siehe nochmals § 22 Abs. 1 Z 3 FMedG. Kienapfel, Frühabort und Strafrecht, JBl. 1971, 175 ff.; Kopetzki, Rechtliche Aspekte des Embryonenschutzes, in: Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz – Hemmschuh für die Biomedizin?, 2003, S. 51 (53). Siehe etwa das deutsche Embryonenschutzgesetz (ESchG); zu diesem Gesetz weiterführend Deutsch, Embryonenschutz in Deutschland, NJW 1991, 721 ff.; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, S. 490 ff.; Keller/Günther/Kaiser, Kommentar zum Embryonenschutzgesetz, 1992.
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II. 1. Am 23. Februar des Jahres 1997 erfuhr die Öffentlichkeit durch die Medien, dass es dem schottischen Forscher Ian Wilmut gelungen sei, ein Schaf zu klonen.26 Dieses Schaf („Dolly“) verdankte seine Existenz einer bis dahin nicht bekannten Methode des Klonens, nämlich der Methode des Cell Nuclear Replacement (CNR). Vereinfacht dargestellt, geht es dabei um Folgendes. Einem bereits existenten Wesen, sei es ein Embryo, ein Fötus oder ein Geborener, wird eine ausdifferenzierte Zelle entnommen und in eine zuvor entkernte Eizelle eines Wesens derselben Spezies verpflanzt. Sodann wird die adulte Zelle angeregt, sich zu teilen. Gelingt die Zellteilung, wird der in vitro befindliche Zellverband einem Muttertier eingesetzt, wo er sich, wie nach koitaler Befruchtung, bis zur Geburt weiterentwickeln kann. Nach der Geburt existiert ein genetischer Klon jenes Wesens, dessen adulte Zelle für das CNR verwendet worden ist. Der Klon ist also nichts anderes als ein zeitversetzter eineiiger Zwilling.27 Die Methode des reproduktiven Klonens durch CNR könnte auch im Humanbereich angewendet werden. Das ruft bei sehr vielen Menschen Ängste hervor, vielleicht weil sie sich an den Oscar-nominierten Film „The Boys From Brazil“ (1978) erinnern, in dem der ehemalige KZ-Arzt Josef Mengele 94 Buben aus den Genen des „Führers“ klont, die alle identisch aussehen und auch den Lebenslauf von Adolf Hitler bekommen sollen. Weniger angsterregend mag es da erscheinen, wenn Eltern, die ein Kind verloren haben, sich darum bemühen, diesen Verlust durch reproduktives Klonen zu kompensieren.28 Dessen ungeachtet ist das reproduktive Klonen vom ersten Zusatzprotokoll zum Europaratsübereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin29 verboten worden und findet allenfalls unter einigen angelsächsischen Philosophen offene Befürworter.30 26
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Wilmut/Schnieke/McWhir/Kind/Campbell, Viable offspring derived from fetal and adult mammalian cells, Nature 385 (1997) 810 ff. Vgl. Segal, Behavioral aspects of intergenerational human cloning: What twins tell us, Jurimetrics 38 (1997) 57 ff. Siehe Robertson, Liberty, identity, and human cloning, Texas L. Rev. 76 (1998) 1371 ff.; ders., Human cloning and the challenge of regulation, N.E.J.M. 339 (1998) 119 ff.; Bernat, Rechtsethische Argumente gegen das reproduktive Klonen – Kritik und Antikritik, Mezinárodní a srovnávaci právní revue / International and Comparative L. Rev. 10 (2004) 47 ff. Zusatzprotokoll zum Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen vom 12.1.1998, abgedruckt in: Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, S. 992 f.; dazu Saliger, Das Verbot des reproduktiven Klonens nach dem 1. Zusatzprotokoll zum Menschenrechtsübereinkommen, JRE 14 (2006) 541 ff.; zur Frage, ob das reproduktive Klonen von den Verbotsbestimmungen des FMedG erfasst wird, siehe Miklos, Das Verbot des Klonens von Menschen in der österreichischen Rechtsordnung, RdM 2000, 35 ff.; Kopetzki, in: Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz – Hemmschuh für die Biomedizin?, 2003,
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2. Die Methode des Klonens durch CNR (Dolly-Methode) wurde in den letzten Jahren weniger vor dem Hintergrund der menschlichen Reproduktion, sondern verstärkt im Zusammenhang mit der Herstellung von embryonalen Stammzellen diskutiert.31 Embryonale Stammzellen haben ein sehr hohes therapeutisches Potential. Sie können auch aus geklonten Embryonen gewonnen werden (sog. therapeutisches Klonen).32 Dies führt freilich unweigerlich zur Vernichtung der geklonten Embryonen und damit zu einer Instrumentalisierung, die prima facie gegen § 9 Abs. 1 FMedG verstößt. Fraglich ist indes, ob ein im Wege der Dolly-Methode geklonter Embryo überhaupt von § 9 Abs. 1 FMedG geschützt wird. Das in dieser Bestimmung verankerte kategorische Forschungsverbot kann auf Embryonen, die nicht gezeugt, sondern im Wege der Dolly-Methode geklont worden sind, nur unter der Voraussetzung angewendet werden, dass solche Embryonen „entwicklungsfähige Zellen“ i.S.v. § 1 Abs. 3 FMedG sind. Entwicklungsfähige Zellen sind aber, wie § 1 Abs. 3 FMedG sagt, nur „befruchtete Eizellen und daraus entwickelte Zellen“. Ein im Wege der Dolly-Methode geklonter Embryo verdankt sein Dasein nicht jenem Vorgang, den man, jedenfalls im landläufigen Sinn, als Befruchtung bezeichnet. Im landläufigen, aber auch im biologisch-technischen Sinn, umfasst das Wort Befruchtung die Begriffe Konzeption (das ist der zur Befruchtung führende Koitus), Imprägnation (das ist das aktive Eindringen des Spermiums in das Ei) und Konjugation (das ist die Verschmelzung des männlichen und weiblichen haploiden Vorkerns der Keimzellen zu einem Kern).33 Steht daher das therapeutische Klonen eines menschlichen Embryos nach der Dolly-Methode außerhalb des
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S. 51 (59). Siehe etwa Tooley, The moral status of the cloning of Humans, in: Humber/Almeder (Hrsg.), Human Cloning, 1998, S. 67 ff. Siehe beispielsweise die Berichte in Die Furche vom 24.1.2008, 21 ff.; Die Presse vom 11.4.2008, 34; Brownsword, Bioethics today, bioethics tomorrow: Stem cell research and the „dignitarian alliance“, Notre Dame J. of Law, Ethics & Publ. Pol’y 17 (2003) 15 ff.; Langenbach, Kinder aus Stammzellen?, Die Presse vom 1.4.2008, 36; Prat, Der Embryo als Galionsfigur im Streit ums Geld, Die Presse vom 14.4.2008, 30. In Deutschland wurde die Verwendung von importierten embryonalen Stammzellen sogar in einem eigenen Gesetz geregelt: Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG) vom 28.6.2002 (BGBl. I, S. 2277); zu diesem Gesetz Taupitz, Erfahrungen mit dem Stammzellgesetz, JZ 2007, 113 ff.; zur deutschen Diskussion vor Inkrafttreten des StZG Taupitz, Der rechtliche Rahmen des Klonens zu therapeutischen Zwecken, NJW 2001, 3433 ff.; ders., Import embryonaler Stammzellen. Konsequenzen des Bundestagsbeschlusses vom 31.1.2001, ZRP 2002, 111 ff. Überblick bei Brownsword, Stem cells and cloning: Where the regulatory consensus fails, New England L. Rev. 39 (2005) 535 ff.; Dahan, Embryonic stem cell research and therapeutic cloning: Scientific, ethical and legal perspectives, Israel L. Rev. 37 (2003/04) 543 ff.; Deech, Playing god: Who should regulate embryo research?, Brooklyn J. Int’l L. 32 (2007) 31 ff. So Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Aufl. 1998, S. 180 f.
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Einzugsbereichs des FMedG? Und wenn ja: liegt eine planwidrige Lücke vor? Darf eine solche Lücke gegebenenfalls im Wege des Analogieschlusses gefüllt werden?
III. 1. Die Frage, ob ein durch Klonen nach der Dolly-Methode entstandener Embryo der Legaldefinition des Begriffs Embryo („entwicklungsfähige Zellen“) entspricht, wurde zwar vereinzelt auch schon in der österreichischen Literatur aufgegriffen,34 sie wird allerdings im Vereinigten Königreich weit intensiver diskutiert. Ursache des gesteigerten Interesses englischer Rechtsgelehrter an der Klärung dieser Frage war die causa R (on the Application of Quintavalle) v. Secretary of State for Health, die in letzter Instanz vom House of Lords entschieden worden ist.35. Das Verfahren in der causa Quintavalle wurde von der radikalen Lebensschutzorganisation Pro-Life Alliance eingeleitet, die regelmäßig gegen biotechnische Verfahren öffentlich Stellung bezieht,36 die nach ihrer Auffassung das Prinzip von der Heiligkeit des menschlichen Lebens verletzen.37 Antragsgegnerin war die britische 34
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Kopetzki, Embryonale Stammzellen im Rechtsstaat. Thesen zur künftigen Biopolitik, in: Pichler (Hrsg.), Embryonalstammzelltherapie versus „alternative“ Stammzelltherapien, 2002, S. 157 ff.; ders., in: Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz – Hemmschuh für die Biomedizin?, 2003, S. 51 (59 f.). High Court, Queen’s Bench Division (Administrative Court) (1. Instanz) [2001] 4 All E.R. 1013; Court of Appeal (2. Instanz) [2002] 2 All E.R. 625; House of Lords (3. Instanz) [2003] 2 All E.R. 113; siehe zu diesen Entscheidungen: Adcock/Beyleveld, Purposive interpretation and the regulation of technology: Legal constructs, legal fictions, and the rule of law, Medical L. Int’l 8 (2007) 305 ff.; Beyleveld/Pattinson, Globalisation and human dignity: Some effects and implications for the creation and use of embryos, in: Brownsword (Hrsg.), Global Governance and the Quest for Justice. Volume IV: Human Rights, 2004, S. 185 ff.; Grubb, Regulating cloned embryos?, The Law Quarterly Rev. 118 (2002) 358 ff.; ders., Medical L. Rev. 11 (2003) 136 ff.; Herring/Chau, Case commentary: Are cloned embryos embryos?, Child and Family Law Quarterly 14 (2002) 315 ff.; Herring, Cloning in the House of Lords, Family Law 33 (2003) 663 ff.; McLeod, Literal and purposive techniques of legislative interpretation: Some European Community and English common law perspectives, Brooklyn J. Int’l L. 29 (2004) 1109 ff.; Plomer, Beyond the HFE Act 1990: The regulation of stem cell research in the UK, Medical L. Rev. 10 (2002) 132 ff. Siehe auch R (Quintavalle) v. Human Fertilisation and Embryology Authority (Secretary of State for Health Intervening) [2003] 3 All E.R. 257; zu dieser Entscheidung Bernat, Pränatale Diagnostik und Präimplantationsdiagnostik: Gibt es ein Recht auf informierte Fortpflanzung?, in: FS Laufs, 2006, S. 671 (694 ff.). High Court of Justice [2001] 4 All E.R. 1013, 1015, per Crane, J.: „Pro-Life Alliance describes itself as an association committed to campaigning for absolute respect for innocent human life and is opposed inter alia to human cloning.“
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Regierung, vertreten durch ihren Gesundheitsminister. Im hier interessierenden Verfahren beantragte die Pro-Life Alliance beim High Court of Justice die Feststellung, es möge entschieden werden, dass ein Embryo, der durch Klonen im Wege der Dolly-Methode (CNR) entstanden ist, nicht unter die im englischen Recht verankerte Definition des Begriffs „embryo“ fällt. Ich muss an dieser Stelle etwas weiter ausholen. In England wurde schon im Jahre 1990 das Pendant zum österreichischen FMedG, der Human Fertilisation and Embryology Act (HFE Act),38 parlamentarisch verabschiedet. Dieses Gesetz regelt sowohl die Fortpflanzungsmedizin als auch die Forschung mit Keimzellen und extrauterinen Embryonen dem Grunde nach sehr liberal.39 Beispielsweise darf die verbrauchende Forschung in England nicht nur an sog. „übrig gebliebenen“, sondern auch an eigens für das Forschungsprojekt hergestellten Embryonen betrieben werden.40 Allerdings sieht das englische Gesetz vor, dass jene Verfahren der Fortpflanzungsmedizin und Forschung, die nicht a priori verboten sind, nur praktiziert werden dürfen, wenn der Träger des Spitals bzw der Forschungseinrichtung hiefür speziell lizenziert worden ist. Für die Vergabe der Lizenz sorgt die vom Gesetz eingerichtete Human Fertilisation and Embryology Authority (HFEA). Diese Behörde ist auch zuständig für die Kontrolle der Lizenznehmer. Ein Arzt oder Forscher, der Forschung betreibt, ohne hiefür von der HFEA speziell ermächtigt worden zu sein, macht sich sogar einer Straftat („offence“) schuldig.41 Section 1(1) des HFE Act 1990 definiert den Embryo in vitro wie folgt: „(1) In this Act, except where otherwise stated (a) embryo means a live human embryo where fertilisation is complete, and (b) references to an embryo include an egg in the process of fertilisation, and, for this purpose, fertilisation is not complete until the appearance of a two cell zygote.“42
Wie gleichen sich doch die Bilder. Sowohl das österreichische als auch das englische Recht definieren den Begriff Embryo (in vitro) auf die „herkömmliche Weise“. Wie soll man diese Definition interpretieren?
2. Als der HFE Act 1990 parlamentarisch verabschiedet wurde, waren sich sowohl die Rechtsexperten als auch die Regierung darüber einig, dass ein im Wege der Dolly-Methode geklonter Embryo von section 1(1) des HFE Act erfasst werde und 38 39
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Chapter 37. Überblick bei Bernat, Fortpflanzungsmedizin und Recht. Bemerkungen zum Stand der Gesetzgebung in Österreich, Deutschland und Großbritannien, MedR 1991, 308 ff. Zur Unterscheidung Steiner, Rechtsfragen der „In-Vitro-Fertilisation“, JBl. 1984, 175 ff. Siehe sec. 41(2)(a) HFE Act: „A person who contravenes section 3(1) of this Act […] is guilty of an offence.“ Sec. 3(1) HFE Act lautet: „No person shall bring about the creation of an embryo or keep or use an embryo, except in pursuance of a licence.“ Hervorhebung vom Verf.
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dass Forschung mit solcherart geklonten Embryonen an sich erlaubt sei, aber speziell lizenziert werden müsse.43 Demgegenüber vertrat die Pro-Life Alliance in der causa Quintavalle den Rechtsstandpunkt, dass Embryonen, die durch CNR entstanden sind, gar nicht vom HFE Act erfasst werden. Wenn diese Auffassung richtig ist, dann wäre die Forschung am geklonten Embryo in England zulässig, „ohne dass es erst einer expliziten Freigabe bedürfte.“44 Vor dem Hintergrund des österreichischen FMedG hat freilich die Auffassung, der zufolge sich der nach der Dolly-Methode geklonte Embryo im „rechtsfreien Raum“ befindet, weiter reichende Folgen als vor dem Hintergrund des HFE Act. Fällt der durch CNR geklonte Embryo nicht in den Geltungsbereich des FMedG, dann wäre die Forschung an einem solchen Embryo zur Gänze freigestellt.45 Für englisches Recht gilt das soeben Gesagte mutatis mutandis, allerdings ist zu beachten, dass der HFE Act – im Gegensatz zum österreichischen FMedG – die embryonenverbrauchende Forschung gar nicht kategorisch verbietet. Entspricht der im Wege der Dolly-Methode geklonte Embryo also der Legaldefinition von section 1(1) HFE Act, dann müsste in England nur eine Lizenz zur Forschung mit solcherart geklonten Embryonen beantragt werden. Ist man sich dieser ganz unterschiedlichen Tragweite der „restriktiven“ Interpretation der Begriffe „entwicklungsfähige Zellen“ (§ 1 Abs. 3 FMedG) bzw „embryo“ (section 1(1) HFE Act) bewusst, dann stellt sich natürlich die Frage, warum die Pro-Life Alliance überhaupt den Antrag stellte, gerichtlich feststellen zu lassen, dass Forschung am geklonten Embryo nach englischem Recht in den „rechtsfreien Raum“ falle. Vermut43
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Siehe Department of Health, Stem Cell Research: Medical Progress with Responsibility. A Report From the Chief Medical Officer’s Expert Group Reviewing the Potential of Developments in Stem Cell Research and Cell Nuclear Replacement to Benefit Human Health, June 2000, S. 45: „Research using embryos (whether created by in vitro fertilisation or cell nuclear replacement) to increase understanding about human disease and disorders and their cell-based treatments should be permitted, subject to the controls in the Human Fertilisation and Embryology Act 1990.“ Siehe auch Department of Health, a.a.O. S. 40: „The use of cell nuclear replacement to produce human embryos may be said to create a new form of early embryo which is genetically virtually identical to the donor of the cell nucleus. […] [A]s described above the creation of embryos for research in this way is not ruled out under the 1990 Act, provided that the research is for one of the five existing purposes. However, although these embryos differ in the method of their creation, they are undoubtedly human embryonic life, which, given the right conditions, could develop into a human being“ (Hervorhebung vom Verf.). Siehe dazu die zustimmende Government Response to the Recommendations made in the Chief Medical Officer’s Expert Group Report: „Stem Cell Research: Medical Progress with Responsibility“ (Cm. 4833), August 2000: „The Government accepts the Report’s Recommendations in full and will bring forward legislation where necessary to implement them as soon as the Parliamentary timetable allows.“ Vgl. dazu auch Brownsword, Bioethics, stem cells, superman, and the Report of the Select Committee, The Modern L. Rev. 65 (2002) 568 ff. Kopetzki, in: Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz – Hemmschuh für die Biomedizin?, 2003, S. 51 (52); ders., in: Pichler (Hrsg.), Embryonalstammzelltherapie versus „alternative“ Stammzelltherapien, 2002, S. 157 (160). Siehe nochmals Kopetzki, in: Pichler (Hrsg.), Embryonalstammzelltherapie versus „alternative“ Stammzelltherapien, 2002, S. 157 (159).
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lich stand hinter dem Antrag von Pro-Life Alliance „politisches Kalkül“, denn eine Entscheidung, die im Sinne dieser Lebensschutzvereinigung ergangen wäre, hätte wohl die Debatte über die Legitimität der embryonenverbrauchenden Forschung im Vereinigten Königreich erneut ins Rollen gebracht.46 – Anders lässt sich das Vorgehen von Pro-Life Alliance widerspruchsfrei wohl nicht erklären.
3. Richter Crane, der für den High Court of Justice entschied, nahm section 1(1) des HFE Act „beim Wort“ und brachte zum Ausdruck, dass das Klonen nach der Dolly-Methode gesetzlich ungeregelt sei. Folglich dürfe diese Art des Klonens nach englischem Recht ohne Einschränkung praktiziert werden. Richter Crane fasste die Gründe für seine Entscheidung mit folgenden Worten zusammen: „I decline any invitation to attempt to rewrite any of the sections of the 1990 Act to make them apply by analogy to organisms produced by CNR. I accept the defendant’s argument that the reason for inserting in section 1(1)(a) the words ‚where fertilisation is complete‘ and the following words in section 1(1)(b) was to define the moment at which the Act’s protection applied to the organism. Nevertheless the words are there. The question is whether to insert the additional words is permissible: ‚a live human embryo where [if it is produced by fertilisation] fertilisation is complete.‘ With some reluctance, since it would leave organisms produced by CNR outside the statutory and licensing framework, I have come to the conclusion that to insert these words would involve an impermissible rewriting and extension of the definition.“47
In Reaktion auf die Entscheidung von Richter Crane verabschiedete das Parlament innerhalb weniger Wochen den Human Reproductive Cloning Act 2001.48 Dieses Gesetz verbietet allerdings nur das reproduktive Klonen,49 das – wie das therapeutische Klonen – nach Richter Cranes Auffassung außerhalb des Einzugsbereichs des HFE Act steht. Der Human Reproductive Cloning Act 2001 ließ die Frage der Legalität des therapeutischen Klonens völlig unberührt, weil das Parlament abwar46
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Siehe dazu Court of Appeal [2002] 2 All E.R. 625, 628, per Lord Phillips of Worth Matravers, M.R.: „On the face of it, the motivation of the Pro-Life Alliance was not easy to follow. They had caused the baby to be expelled with the bath water. They had established that CNR embryos could be created and used for any purpose without regulation or restriction. As I understand the position, however, the Pro-Life Alliance has assumed that, if their application for judicial review succeeded, the government would be forced to introduce legislation to deal with the practice of creating embryos by CNR. There would be a full Parliamentary debate on the topic which might well result in the prohibition of the process.“ High Court of Justice [2001] 4 All E.R. 1013, 1024, per Crane J. Chapter 23. Siehe sec. 1(1) Human Reproductive Cloning Act 2001: „A person who places in a woman a human embryo which has been created otherwise than by fertilisation is guilty of an offence.“ Eine Verletzung von sec. 1(1) leg. cit. kann mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bestraft werden (sec. 1(2) leg. cit.).
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ten wollte, wie die Rechtsmittelinstanzen in der causa Quintavalle entscheiden würden.50
4. Der Court of Appeal ließ die Berufung gegen die Entscheidung des High Court of Justice zu und gab dem Rechtsmittelbegehren der britischen Regierung vollinhaltlich statt. Lord Phillips of Worth Matravers, M.R., meinte, dass vier Gründe dafür sprächen, das Klonen nach der Dolly- Methode in den Einzugsbereich des HFE Act zu stellen. Erstens. Lord Phillips brachte zum Ausdruck, dass es mitunter ein Gebot der praktischen Vernunft sei, einen im Gesetz verwendeten Begriff im Licht neuerer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu interpretieren, deren gegenwärtigen Stand der Gesetzgeber vergangener Zeiten häufig gar nicht vorhersehen konnte. So wies Lord Phillips beispielsweise auf eine Entscheidung des House of Lords hin,51 das den im Telegraph Act 1863 verwendeten Begriff des „telegraph“ – trotz scheinbar deutlicher Legaldefinition52 – auch auf die telefonische Übermittlung von Nachrichten erstreckt hat, weil das Telefon im Jahre 1863 noch gar nicht erfunden war.53 Würde der Richter allzu sehr am Wortlaut eines Begriffs „kleben“, wäre es vielfach gar nicht möglich, Materien, die sich aufgrund des Fortschritts der empirischen Wissenschaften sehr rasch verändern, einer sinnvollen gesetzlichen Regelung zuzuführen. Lord Phillips maß in diesem Zusammenhang einschlägigen 50
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Grubb, The Law Quarterly Rev. 118 (2002) 358 (360); Herring/Chau, Child and Family Law Quarterly 14 (2002) 315. Att.-Gen. v. Edison Telephone Co. of London (Ltd.) (1880) 6 Q.B.D. 244 (zit. nach Court of Appeal [2002] 2 All E.R. 625, 632); zu dieser Entscheidung auch Smith, Bailey & Gunn on the Modern English Legal System, 4. Aufl. 2002, S. 405 ff. Der Telegraph Act 1869 gab dem Postmaster General ein Monopol auf die Versendung von Telegrammen. Telegramme wurden vom Gesetz definiert als Botschaften, die per „telegraph“ übertragen werden. Und ein „telegraph“ beinhaltet nach dem Telegraph Act 1869 (bloß) „any apparatus for transmitting messages or other communications by means of electric signals“ (zit. nach Court of Appeal [2002] 2 All E.R. 625, 632). Die Übertragung der menschlichen Stimme durch Telefon wird vom Wortlaut dieser Legaldefinition nicht erfasst. „Of course no one supposes that the legislature intended to refer specifically to telephones many years before they were invented, but it is highly probable that they would, and it seems to us that they actually did, use language embracing future discoveries as to the use of electricity for the purpose of conveying intelligence. The real object of the Act of 1863 [The Telegraph Act 1863] was to give special powers to telegraph companies to enable them to open streets, lay down wires, take land, suspend wires over highways, connect wires, erect posts on the roof of houses, and do many other things of the same sort. The act, in short, was intended to confer powers and to impose duties upon companies established for the purpose of communicating information by the action of electricity upon wires, and absurd consequences would follow if the nature and extent of those powers and duties were made dependent upon the means employed for the purpose of giving the information“ (Att-Gen v. Edison Telephone Co of London (Ltd) (1880) 6 QBD 244, 254, zit. nach [2002] 2 All E.R. 625, 632).
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dogmatischen Überlegungen von Lord Wilberforce besondere Bedeutung bei, der in einem obiter dictum zu einer Entscheidung des House of Lords aus dem Jahre 198154 Folgendes ausführte: „Leaving aside cases of omission by inadvertence, this being not such a case, when a new state of affairs, or a fresh set of facts bearing on policy, comes to existence, the courts have to consider whether they fall within the parliamentary intention. They may be held to do so if they fall within the same genus of facts as those to which the expressed policy has been formulated. They may also be held to do so if there can be detected a clear purpose in the legislation which can only be fulfilled if the extension is made. How liberally these principles may be applied must depend on the nature of the enactment, and the strictness or otherwise of the words in which it has been expressed.“55
Lord Phillips übertrug diese dogmatischen Überlegungen von Lord Wilberforce zu den Grenzen der am Zweck der Vorschrift ausgerichteten subjektiv-historischen Gesetzesinterpretation auf die Frage, wie die Definition des Begriffs „embryo“ in section 1(1) HFE Act zu interpretieren sei, und führte weiter aus: „In the context of the Human Rights Act 199856 the boundaries of purposive interpretation have been extended where needs must. I consider that the construction for which [the defendant] contends is viable provided that this is plainly necessary to give effect to Parliamentary intention. When considering that question the court has to ask, not what would Parliament have enacted if it had foreseen the creation by CNR, but, do such embryos plainly fall within the genus covered by the legislation and will the clear purpose of the legislation be defeated if the extension is made?“57
Die Beantwortung dieser Frage lag nun für Lord Phillips auf der Hand. Ein im Wege der Dolly-Methode geklonter Embryo sei in puncto Art („genus“) gar nicht von jenem Embryo zu unterscheiden, der in vitro gezeugt worden ist, weil beide Embryonen eine unter teleologischen Gesichtspunkten ganz wesentliche Eigenschaft teilen:
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Royal College of Nursing of the UK v. Department of Health and Social Security [1981] 1 All E.R. 545. Royal College of Nursing of the UK v. Department of Health and Social Security [1981] 1 All E.R. 545, 564 f., per Lord Wilberforce; zu dieser Entscheidung siehe einlässlich Manchester/Salter/Moodie, Exploring the Law: The Dynamics of Precedent and Statutory Interpretation, 2. Aufl. 2002, S. 238 ff. Im Vereinigten Königreich wurde die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als Human Rights Act im Jahre 1998 in das innerstaatliche Recht überführt. Dieses Gesetz trat am 2.10.2002 in Kraft; dazu Heller, Die Entwicklung der Grundrechte in England und im Vereinigten Königreich – Historisches und Aktuelles, JBl. 2002, 293 ff.; Smith, Bailey & Gunn on the Modern English Legal System, 4. Aufl. 2002, S. 525 ff. Court of Appeal [2002] 2 All E.R. 625, 633, per Lord Phillips of Worth Matravers, M.R.
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„The two are essentially identical as far as structure is concerned, and each is capable of developing into a full grown example of the relevant species. So far as the human embryo is concerned, it is this capacity to develop into a human being that is the significant factor and it is one that is shared by both types of embryo.“58
Zweitens. Lord Phillips betonte in einem nächsten Schritt, dass man bei der Interpretation von Gesetzen zuvörderst den Zweck der Vorschriften im Auge behalten sollte und erinnerte in diesem Zusammenhang an den sog. Warnock Report, der die spätere gesetzliche Regelung in Sachen assistierte Fortpflanzung und Embryologie nachhaltig beeinflusst hat.59 Primäres Anliegen dieses Reports sei es gewesen, die Entstehung neuen Lebens in der Retorte zu regulieren und die verschiedensten Techniken der assistierten Zeugung der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Ein Gesetz, wie es schlussendlich 1990 parlamentarisch verabschiedet worden ist, sei wegen der sehr komplexen ethischen Fragen, die die assistierte Fortpflanzung und Embryologie aufwerfen, nicht nur von den politisch Verantwortlichen sehr begrüßt worden.60 Die „weite“ Interpretation von section 1(1) HFE Act sei daher auch im Licht der Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes geboten: „I consider that a regulatory regime that excludes from its ambits embryos created by CNR is contrary to the intention of Parliament in introducing the 1990 Act. The prospect of such a regime is both startling and alarming. These considerations provide the most cogent reason to reach an interpretation of the 1990 Act which embraces embryos produced by CNR, subject to consideration of any countervailing considerations, or incoherence.“61
Drittens. Lord Phillips stellte sich auch die Frage, welche plausiblen teleologischen Argumente es denn geben könnte, section 1(1) HFE Act nicht auf den im Wege der Dolly-Methode geklonten Embryo zu erstrecken. Er wies auf das Vorbringen der Pro-Life Alliance hin und bemerkte dazu:
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Court of Appeal [2002] 2 All E.R. 625, 634, per Lord Phillips of Worth Matravers, M.R. Department of Health and Social Security, Report of the Committee of Inquiry Into Human Fertilisation and Embryology, Cm. 9314, July 1984; dazu aus der umfangreichen Literatur statt vieler Posch, Das Recht der künstlichen Humanreproduktion im Wandel. Eine rechtsvergleichende Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des anglo-amerikanischen Rechts, in: Bernat (Hrsg.), Lebensbeginn durch Menschenhand, 1985, S. 203 (232 ff.). Court of Appeal [2002] 2 All E.R. 625, 636, per Lord Phillips of Worth Matravers, M.R. Court of Appeal [2002] 2 All E.R. 625, 636, per Lord Phillips of Worth Matravers, M.R.
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Erwin Bernat „[The plaintiff] was not able to point to any, other than the suggestion that if embryos produced by CNR were not covered by the 1990 Act, this was likely to lead to a detailed debate in Parliament and elsewhere, which might lead to the banning of the creation of such embryos altogether. It does not seem to me that this is a matter which can validly be invoked as a countervailing consideration to the construction for which [the defendant] contends. On the contrary, it merely underlines how serious are the consequences of the construction reached by the judge [speaking for the High Court].“62
Viertens. Lord Phillips untersuchte schließlich, ob eine Einbeziehung des nach der Dolly-Methode geklonten Embryos in das Regelungsregime des HFE Act zur Inkohärenz anderer Bestimmungen des HFE Act führen würde. Seiner Auffassung zufolge stellen sich im jetzigen Zusammenhang insbesondere die folgenden drei Fragen: a) Wann entsteht ein nach der Dolly-Methode geklonter Embryo im Gegensatz zum in vitro gezeugten? b) Wann darf man beim Embryo, der im Wege der Dolly-Methode geklont worden ist, vom Auftreten des Primitivstreifens63 sprechen, wenn der Primitivstreifen beim in vitro gezeugten Embryo „is to be taken to have appeared […] not later than the end of the period of 14 days beginning with the day the gametes are mixed, not counting any time during which the embryo is stored.“64 c) Wer muss dem Klonen nach der Dolly Methode zustimmen? Die Spenderin der Eizelle und der Spender der ausdifferenzierten Zelle?65 Es mag sein, meint Lord Phillips, dass die Beantwortung dieser Fragen ein wenig spekulativ ist, das ändere aber nichts daran, dass das Ergebnis, zu dem die Richter des Court of Appeal in casu gekommen sind,66 von diesen Fragen gar nicht tangiert werde. Das Rechtsmittel des Antragsgegners sei daher im Ergebnis berechtigt gewesen: „My conclusion is that there are most compelling reasons for giving section 1 of the 1990 Act the strained construction for which [the defendant] contends, and very little that weighs against this. I would reverse the decision reached by the [High Court’s] judge and hold that an organism created by cell nuclear replacement falls within the definition of ‚embryo‘ in section 1(1) of that Act.“67
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Court of Appeal [2002] 2 All E.R. 625, 636, per Lord Phillips of Worth Matravers, M.R. Dazu Wachtler, Die frühe Phase menschlicher Entwicklung aus embryologischer Sicht, in: Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz – Hemmschuh für die Biomedizin?, 2003, S. 73 (77). Sec. 1(4) HFE Act. Für den in vitro gezeugten Embryo siehe Schedule 3 zum HFE Act; dazu die Entscheidung des Court of Appeal R v. Human Fertilisation and Embryology Authority, ex parte Blood [1997] 2 All E.R. 687. Neben Lord Phillips of Worth Matravers, M.R., entschieden in der causa Quintavalle Lord Justice Thorpe und Lord Justice Buxton; siehe Court of Appeal [2002] 2 All E.R. 625, 638. Court of Appeal [2002] 2 All E.R. 625, 637, per Lord Phillips of Worth Matravers, M.R.
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5. Das House of Lords bestätigte die Entscheidung des Court of Appeal.68 In der Begründung ihrer Entscheidung stimmen die Richter des House of Lords mehr oder weniger geschlossen Lord Phillips zu. Das heißt, zusammengefasst: „An organism created by CNR fell within the definition of ‚embryo‘ in section 1(1) of the 1990 Act. The essential thrust of that subsection was directed to live human embryos created outside the human body, not to the manner of their creation. The words ‚where fertilisation is complete‘ were not intended to form an integral part of the definition of embryo but were directed to the time at which it should be treated as such. The purpose of the 1990 Act was not to ban all creation and subsequent use of human embryos produced in vitro but instead, and subject to certain express prohibitions, to permit such creation and use subject to specified conditions, restrictions, time limits and subject to regimes of control. Furthermore, as the 1990 Act was only directed to the creation of embryos in vitro, outside the human body, Parliament could not have intended to distinguish between live human embryos produced by fertilisation of a female egg and live human embryos produced without such fertilisation, notwithstanding that at the date of the passing of the Act, Parliament was unaware that the latter alternative was physically possible. Moreover, section 3(3)(d) did not prohibit CNR.69 CNR did not involve ‚replacing a nucleus of the recipient cell of an embryo‘ because there was no embryo until the nucleus of the recipient cell was replaced by the nucleus of the donor cell. The target of the subsection was directed to a particular form of genetic manipulation, namely the replacement of the nucleus of a fertilised human egg, and was not apt to prohibit embryo-splitting, which created clones.“70
IV. Die Entscheidungen des Court of Appeal und des House of Lords in der causa Quintavalle stießen mehrheitlich auf Kritik.71 Im Kern richtet sich diese Kritik gegen die methodische Auffassung der Gerichte, der zufolge die Gleichbehand68
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House of Lords [2003] 2 All E.R. 113; 115, per Lord Bingham of Cornhill; 122, per Lord Steyn; 127, per Lord Hoffman; 127, per Lord Millett; 130, per Lord Scott of Foscote. Sec. 3(3)(d) HFE Act lautet: „A licence cannot authorise replacing a nucleus of a cell of an embryo with a nucleus taken from a cell of any person, embryo or subsequent development of an embryo.“ Der Unterschied zwischen der von sec. 3(3)(d) HFE Act verboten Technik und dem Klonen nach der Dolly-Methode ist also der folgende: Beim Klonen nach der Dolly-Methode wird eine ausdifferenzierte Zelle in eine zuvor entkernte Eizelle verpflanzt, während bei der von sec. 3(3)(d) HFE Act verbotenen Technik eine ausdifferenzierte Zelle in eine zuvor entkernte Zelle eines Embryos verpflanzt wird; siehe weiterführend Herring, Family Law 33 (2003) 663. House of Lords [2003] 2 All E.R. 113 f. (Leitsatz). Grubb, The Law Quarterly Review 118 (2002) 358 ff.; ders., Medical L. Rev. 11 (2003) 136 ff.; Herring/Chau, Child and Family Law Quarterly 14 (2002) 315 ff.; Herring, Family Law 33 (2003) 663 ff.; Plomer, Medical L. Rev. 10 (2002) 132 ff.
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lung von geklontem und gezeugtem Embryo schon de lege lata aufgrund von „purposive interpretation“72 geboten sei. Die Kritiker betonen, dass die von den Gerichten eingemahnte Gleichstellung von geklontem und gezeugtem Embryo in Wahrheit auf einem unzulässigen Analogieschluss zur Überwindung einer Gesetzeslücke beruhe,73 weil das Gesetz nur den gezeugten, nicht aber auch den geklonten Embryo als Schutzobjekt erwähnt.74 Infolgedessen sei es dem Gesetzgeber vorbehalten, die augenscheinliche Lücke im HFE Act zu schließen, denn Richter hätten ganz allgemein nicht die Befugnis, der Entscheidung des Parlaments vorzugreifen. Das heißt, mit den Worten von Lord Wilberforce: „[T]here is one course which the courts cannot take under the law of this country: they cannot fill gaps; they cannot by asking the question, ‚What would Parliament have done in this current case, not being one in contemplation, if the facts had been before it‘, attempt themselves to supply the answer, if the answer is not to be found in the terms of the Act itself.“75
In der Tat ist es dem Richter in den vom common law geprägten Rechtsordnungen nicht gestattet, Lücken im Gesetzesrecht durch Analogieschluss zu beseitigen,76 weil in diesen Rechtsordnungen das Gesetzesrecht nur subsidiäre Bedeutung gegenüber dem Richterrecht hat.77 Demgegenüber hat die Methode der Lückenfüllung in den Rechtsordnungen kontinentaleuropäischer Prägung einen weit höheren Stellenwert. Ja, in Österreich und in der Schweiz hat der Gesetzgeber sogar eigene Regeln kodifiziert, die uns sagen, wie die Gerichte im Lückenbereich vorgehen sollen.78 Allerdings ist der Analogieschluss zur Beseitigung einer Gesetzeslücke auch in den Rechtsordnungen kontinentaleuropäischer Prägung verpönt, soweit 72
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Beispiele für Anwendungsfälle von „purposive interpretation“ bei Smith, Bailey & Gunn on the Modern English Legal System, 4. Aufl. 2002, S. 419 ff.; siehe insbesondere die Entscheidung des House of Lords in der causa Pepper v. Hart [1993] A.C. 593. Siehe etwa Plomer, Medical L. Rev. 10 (2002) 132 (158): „Arguably, the Court of Appeal’s proposed insertion of words into the HFE Act 1990 to bring embryos created by CNR within the reach of the Act, crosses the boundaries between statutory construction and judicial legislation.“ Grubb, The Law Quarterly Rev. 118 (2002) 358 (361 f.): „The court read in words; it did not simply interpret them.“ Royal College of Nursing of the UK v. Dept of Health and Social Security [1981] 1 All E.R. 545, 564 f., per Lord Wilberforce. Einlässlich Freeman, Lloyds’s Introduction to Jurisprudence, 7. Aufl. 2001, S. 1410 ff. Siehe Freeman, Lloyds’s Introduction to Jurisprudence, 7. Aufl. 2001, S. 1411: „The [common law practice] proceeds on the basis that the common law itself represents the basic fabric of the law, into which statutes are interwoven. Hence the practice of drafting statutes in the fullest detail, and the broad assumption that a statute deals only with those cases which fall within its actual wording, and that there is no judicial power to fill ‚gaps‘ in a statute by arguments based on analogy […].“ Siehe Art. 1 (schweizerisches) ZGB und § 7 ABGB. Nach diesen beiden Bestimmungen ist der Analogieschluss im Fall einer Gesetzeslücke nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten; zu den i.Z.m. dem Analogieschluss auftretenden Fragen statt vieler F. Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 2005, S. 55 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007, S. 466 ff.
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die Lücke in einem Gesetz auftritt, das dem Strafrecht zuzurechnen ist, und die Ausfüllung der Gesetzeslücke durch Analogieschluss dem Angeklagten zum Nachteil gereichen würde (Art. 7 Abs. 1 EMRK).79 Das Analogieverbot des Art. 7 Abs. 1 EMRK umfasst neben dem Kernstrafrecht unter anderem auch das Verwaltungsstrafrecht.80 Beruhte die Gleichstellung von geklontem und gezeugtem Embryo in der Tat auf einem Analogieschluss zur Überwindung einer Gesetzeslücke, wäre sie nicht nur nach englischem, sondern auch nach österreichischem Recht verboten. Denn eine Gesetzesanalogie zu § 1 Abs. 3, § 9 Abs. 1 FMedG führte zu einer Ausweitung der Strafbarkeit von Ärzten und Forschern und daher klar zu einer Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK. Die Kernfrage lautet somit auch mit Blick auf das österreichische Recht: Ist die Gleichstellung des geklonten und des gezeugten Embryos Ergebnis einer „bloßen“ Interpretation oder schon einer (im jetzigen Zusammenhang a priori unzulässigen) Gesetzesanalogie? In der österreichischen Literatur hat sich Christian Kopetzki mit dieser Frage als erster beschäftigt. Er kommt zu folgendem Ergebnis: „[D]ie Technik des Transfers somatischer Zellkerne in entkernte Eizellen […] ist weder vom Gentechnikgesetz erfasst (weil [sie] mit Gentechnik im eigentlichen Sinn gar nichts zu tun hat); [sie] ist aber auch im Fortpflanzungsmedizingesetz nicht geregelt: Denn das […] Manipulationsverbot an ‚entwicklungsfähigen Zellen‘ gilt wegen der unmissverständlichen Legaldefinition des § 1 Abs. 3 nur für ‚befruchtete Eizellen und daraus entwickelte Zellen‘. Zellen, die durch Kerntransfer entstehen, mögen zwar unter bestimmten Bedingungen ‚entwicklungsfähig‘ sein, sie sind aber offenkundig nicht ‚befruchtet‘ und demnach auch nicht ‚entwicklungsfähig‘ im spezifischen Sinn des § 1 Abs. 3 FMedG. Manche werden dies für eine kleinliche Wortklauberei der Juristen halten und dafür eintreten, die vermeintliche ‚Lücke‘ durch eine analoge Anwendung des in § 9 Abs. 1 FMedG enthaltenen Verbots zu schließen. Dagegen spricht aber, dass wir es hier mit einem verwaltungsstrafrechtlich sanktionierten Verbot zu tun haben, und im Strafrecht gilt ein striktes Analogieverbot. Außerdem ist zu bezweifeln, dass die Voraussetzungen einer Analogie überhaupt erfüllt wären: Der Gesetzgeber des FMedG hat – wie den Erläuterungen zu entnehmen ist – seinen Regelungswillen auf das Gebiet der menschlichen Fortpflanzung beschränkt. Man kann daher nicht von einer ‚planwidrigen‘ Unvollständigkeit sprechen, wenn das FMedG Sachverhalte ungeregelt lässt, die mit der Fortpflanzung nichts zu tun haben. Aus demselben Grund spricht auch nichts dafür, den Sachverhalt des Kerntransfers unter das Verbot des Keimbahneingriffs zu subsumieren, weil dieses Verbot im Kontext des FMedG nur auf die intergenerative Weitergabe manipulierter genetischer Information abzielt. Das trifft hier aber nicht zu.“81
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Verbot der Analogie in malam partem; siehe dazu auch Höpfel in Wiener Komm StGB Rz. 1 ff. zu § 1. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008, S. 373. Kopetzki, in: Pichler (Hrsg.), Embryonalstammzelltherapie versus „alternative“ Stammzelltherapien, 2002, S. 158 f. (Hervorhebung vom Verf.); ebenso Weschka, Die Herstellung von Chimären und Hybridwesen. Eine rechtsvergleichende Skizze einiger aktueller Fragestellungen, RdM 2007, 164 (167 f.).
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In der Tat heißt es in den amtlichen Erläuterungen zur Regierungsvorlage eines FMedG unter der Überschrift „Eingrenzung des Gesetzesvorhabens“: „Der Gesetzesentwurf betrifft die ‚Anwendung medizinischer Methoden zur Herbeiführung einer Schwangerschaft auf andere Weise als durch Geschlechtsverkehr‘ (§ 1 Abs. 1). Medizinische Behandlungen, die die Fortpflanzung auf natürlichem Weg, ohne den Einsatz derartiger Hilfsmittel, ermöglichen oder erleichtern, sind demnach nicht Gegenstand des Gesetzesvorhabens; insoweit besteht im gegebenen Zusammenhang kein Bedarf für gesetzliche Regelungen. Ferner sollen Belange der Gentechnologie grundsätzlich ausgeklammert bleiben. Die Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen für bestimmte Fortpflanzungstechniken soll nicht mit den Fragen vermengt werden, die die Nutzung und der mögliche Missbrauch der Erkenntnisse von Biologie und Genetik aufwerfen. So haben die in diesem Zusammenhang immer wieder angeführten Möglichkeiten des Klonens, der Chimärenbildung oder der Interspezies-Hybridisierung (deren Anwendung beim Menschen ohne jeden Zweifel abzulehnen ist) mit der medizinischen Hilfe zur Erfüllung des Kinderwunsches nichts zu tun. Soweit allerdings der Einsatz künstlicher Fortpflanzungsverfahren die Möglichkeit des gentechnischen Zugriffs auf menschliche Zellen eröffnet, sieht der Entwurf aber sehr wohl Bestimmungen vor, die allfälligen Missbräuchen vorbeugen sollen (vgl. vor allem die §§ 9, 10 und 17).“82
Auf der einen Seite sagen diese Erläuterungen, dass das „Klonen“ nicht vom FMedG geregelt sei. Auf der anderen Seite bringen dieselben Erläuterungen sehr deutlich zum Ausdruck, dass § 9 FMedG „allfälligen Missbräuchen vorbeugen“ soll.83 Und als Missbrauch begreift das Gesetz ohne Zweifel die „embryonenverbrauchende Forschung“, weil der Embryo in vitro das Potential hat, zum geborenen Menschen zu werden.84 Wenn dem aber so ist, dann sollte doch nicht entscheidend sein, ob dieser Embryo durch Befruchtung der Eizelle oder durch Klonen im Wege der Dolly-Methode entstanden ist.85 Im Übrigen fällt eine andere Methode des Klonens, nämlich das sog. embryo splitting (embryo typing), ganz unzweifelhaft in den Einzugsbereich des FMedG. Bei dieser Methode des Klonens, die schon zu Beginn der 1980er Jahre im Tierbereich praktiziert worden
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Erl. RV FMedG, 216 BlgNR 18. GP, S. 10 (Hervorhebung im Original). 216 BlgNR 18. GP, S. 10. Vgl. zum Potentialitätsargument bloß Bernat, Der menschliche Keim als Objekt des Forschers: rechtsethische und rechtsvergleichende Überlegungen, in: Bender/Gassen/ Platzer/Seehaus (Hrsg.), Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Naturwissenschaftliche und medizinische Aspekte – rechtliche und ethische Implikationen, 2000, S. 57 (66 f.); Schöne-Seifert, Contra Potentialitätsargument: Probleme einer traditionellen Begründung für embryonalen Lebensschutz, in: Damschen/Schönecker (Hrsg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen, 2002, S. 169 ff. Ebenso House of Lords [2003] 2 All E.R. 113, 120, per Lord Bingham of Cornhill mit Blick auf sec. 1(1) HFE Act: „The crucial point […] is that this was an Act passed for the protection of live human embryos created outside the human body. The essential thrust of sec. 1(1)(a) was directed to such embryos, not to the manner of their creation, which Parliament (entirely understandably on the then current state of scientific knowledge) took for granted“.
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ist,86 geht es, wie beim Klonen nach der Dolly-Methode, um die Erzeugung von Mehrlingen, die sich genetisch vollkommen gleichen. Dazu wird die in vitro befruchtete Eizelle in den ersten Teilungsstadien in einzelne Zellen oder auch nur zwei Hälften zertrennt. Da diese Zellen in diesem Entwicklungsstadium noch totipotent sind, kann aus jeder abgespaltenen Zelle ein neuer Mensch entstehen.87 Schon dieser Hinweis macht wohl deutlich, dass die Gesetzesmaterialien versehentlich mehr sagen als sie sagen sollten. Indes darf man sich aufgrund der unzutreffenden Aussagen der Gesetzesmaterialien nicht zu der Aussage hinreißen lassen, das Klonen nach der Dolly-Methode sei dem Klonen durch embryo splitting von vornherein gleich zu stellen. Denn im einen Fall wird eine Eizelle befruchtet und erst danach kommt es zum Klonen (embryo splitting), während im anderen Fall (Klonen nach der Dolly-Methode) eine entkernte Eizelle und eine Somazelle „verschmolzen“ werden. Dieser Vorgang entspricht ganz eindeutig nicht dem Begriff der Befruchtung, wie er bislang definiert worden ist. Aber ist es überhaupt sachgerecht, Definitionen, die der Gesetzgeber aufgrund eines ganz bestimmten Vorverständnisses festlegt, „versteinert“ zu interpretieren? Ist es dem Normadressaten mitunter nicht eher geboten, eine im Gesetz verankerte Definition dynamisch zu interpretieren, weil der Normadressat stets den Auftrag hat, den klar erkennbaren Ordnungsplan des Gesetzgebers gebührend zu berücksichtigen und widerspruchsfreie Ergebnisse zu erzielen? Ich denke, dass niemand daran zweifelt, diese Fragen dem Grunde nach zu bejahen. Ja, nach einer in der Methodenlehre weit verbreiteten Auffassung sind Gesetzesbegriffe stets objektiv-teleologisch zu interpretieren, wenn dies zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen geboten erscheint.88 So betrachtet legt es die objektiv-teleologische Interpretation der in § 1 Abs. 3 FMedG verankerten Legaldefinition wohl mehr als nahe, auch den im Wege der Dolly-Methode entstandenen Embryo als Schutzobjekt des § 9 Abs. 1 FMedG zu begreifen. Der geklonte Embryo wird nicht „wie“ eine befruchtete Eizelle behandelt, sondern „ist“ das Ergebnis einer Befruchtung, weil sich der Sinngehalt dieses Begriffs zur Verweidung von Wertungswidersprüchen erweitert hat. Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen ist es somit geboten, alle Embryonen vor verbrauchender Forschung zu schützen, die das Potential haben, geboren zu werden.89 Unerheblich ist die Art ihrer Entstehung, weil mit dem Verb „befruchten“ alle Vorgänge erfasst werden, die unmittelbar zur Entstehung eines menschlichen Embryos im funktionalen Sinn führen. Dazu zählt nicht nur die Vereinigung von Ei- und Samenzelle, 86
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Jüdes, Experimentelle Manipulation von Keimzellen und Embryonen bei Säugetieren, in: Jüdes (Hrsg.), In-vitro-Fertilisation und Embryotransfer (Retortenbaby). Grundlagen, Methoden, Probleme und Perspektiven, 1983, S. 81 (100). Gröner, Klonen, Hybrid- und Chimärenbildung unter Beteiligung totipotenter menschlicher Zellen, in: Günther/Keller (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik – Strafrechtliche Schranken?, 2. Aufl. 1991, S. 293 (294). F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 456 f. Ebenso Beyleveld/Pattison, in: Brownsword (Hrsg.), Global Governance and the Quest for Justice. Volume IV: Human Rights, 2004, S. 185 (199): „… the word ‚fertilisation‘ could have been read purposively. Fertilisation, understood purposively, is the creation of an embryo by the joining of genetic material“.
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sondern auch das Klonen nach der Dolly-Methode. Beide Methoden legen den Grundstein für die Entstehung eines Organismus, der potentiell eine Person ist. Nur darauf kommt es im normativen Sinn an.90 Natürlich werden Naturwissenschafter das Klonen nach der Dolly-Methode im Allgemeinen auch weiterhin von der Befruchtung einer Eizelle unterscheiden. Und das aus guten Gründen. Aber warum sollte der Normadressat genötigt sein, Gesetzesbegriffe entsprechend naturwissenschaftlichem Verständnis und naturwissenschaftlichen Zielsetzungen zu interpretieren? Wenn der Naturwissenschafter die Begriffe Befruchtung und Klonen unterscheidet, so mag dies ebenso aus teleologischen Erwägungen geschehen, wie der Jurist aus teleologischen Erwägungen gezwungen sein mag, diese beiden Begriffe im Kontext des FMedG „über einen Kamm zu scheren“. Der Naturwissenschafter wird ein Interesse daran haben, die Befruchtung (im herkömmlichen Sinn) vom Klonen nach der Dolly-Methode zu unterscheiden, weil er mehr über die unterschiedlichen Funktionsweisen dieser beiden Reproduktionstechniken lernen will, die sich – biologisch betrachtet – deutlich voneinander unterscheiden. Diese Zielsetzung lässt es geboten erscheinen, die beiden Begriffe scharf von einander zu trennen. Vor dem Hintergrund der im Gesetz zum Ausdruck gebrachten Basiswertung ist die Sichtweise des Naturwissenschafters für den Juristen – jedenfalls i.Z.m. § 1 Abs. 3, § 9 Abs. 1 FMedG – freilich überhaupt nicht maßgeblich. Denn der Sinn und Zweck des § 9 Abs. 1 FMedG ist es ausschließlich, Embryonen im funktionalen Sinn vor dem Zugriff des Forschers zu schützen, weil Embryonen im funktionalen Sinn wenigstens im Allgemeinen das Potential haben sich zum geborenen Menschen zu entwickeln. Nur wenn man annehmen dürfte, dass das Klonen nach der Dolly-Methode a priori nicht zum Entstehen eines Embryos im funktionalen Sinn führen kann, wäre es vor dem Hintergrund der § 1 Abs. 3, § 9 Abs. 1 FMedG geboten, das Klonen nach der Dolly-Methode aus dem Einzugsbereich des FMedG auszuscheiden. Genau dieser Überlegungen wegen ist der sog. Goldhamstertest unter normativen Gesichtspunkten völlig unbedenklich. Dabei wird ein Goldhamsterei mit einer menschlichen Samenzelle imprägniert, um zu testen, ob die Samenzelle befruchtungstauglich ist.91 Das so entstandene „Verschmelzungsprodukt“ ist kein Embryo im funktionalen Sinn, weil es nach allem, was wir wissen, unmöglich ist, dass sich eine Keimzelle des Menschen mit einer Keimzelle des Goldhamsters vereinigt.
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Vgl. Adcock/Beyleveld, Medical L. Int’l 8 (2007) 305 (308): „If the purpose of the Act is to protect functional embryos by whatever means they are created (which their Lordships’ reasoning relies upon), and, at the same time, embryos are defined as created by a process of fertilisation, then whatever process creates a functional embryo is, relative to this purpose and in the context of this understanding, to be regarded as a process of fertilisation“. Vgl. Department of Health and Social Security, Report of the Committee of Inquiry into Human Fertilisation and Embryology, Cm. 9314, July 1984, S. 70 f.; vgl. auch § 7 Abs. 1 Nr. 3 ESchG: „Wer es unternimmt, durch Befruchtung einer menschlichen Eizelle mit dem Samen eines Tieres oder durch Befruchtung einer tierischen Eizelle mit dem Samen eines Menschen einen differenzierungsfähigen Embryo zu erzeugen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“ (Hervorhebung vom Verf.).
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V. Ich gestehe den Kritikern meiner unter IV. vorgestellten Argumentation zu, dass es verlockend erscheint, § 1 Abs. 3, § 9 Abs. 1 FMedG „eng“ zu interpretieren, weil nach weit verbreiteter Auffassung jede Beschränkung der embryonenverbrauchenden Forschung zu einem Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Forschungsfreiheit (Art. 17 StGG) führt92 und dieser Eingriff – richtiger Auffassung zufolge93 – mangels Lebensrecht des Embryos nicht mit Art. 2 Abs. 1 EMRK gerechtfertigt werden kann.94 Wer den Primat der Forschungsfreiheit besonders betont, der müsste freilich wesentlich radikaler, als dies bislang geschehen ist, der Frage nachgehen, ob sich das in § 9 Abs. 1 FMedG verankerte Verbot der embryonenverbrauchenden Forschung im Licht des Art. 17 StGG überhaupt rechtfertigen lässt. Der Gesetzgeber hat indes nicht daran gezweifelt, dass der von § 9 Abs. 1 FMedG hervorgerufene Eingriff in die Forschungsfreiheit legitimierbar sei, wenngleich die Gründe, die für dieses Verbot in den Gesetzesmaterialien namhaft gemacht werden, nicht wirklich überzeugen.95 Aufgrund des vorliegenden Befundes stellt sich daher in methodischer Hinsicht die Frage, welcher Interpretationsmethode der Vorrang gebührt: der verfassungskonformen Interpretation oder jener teleologischen Auslegung der Norm, die den Ordnungsplan des historischen Gesetzgebers in den Vordergrund rückt und ihn im Licht des gegenwärtigen medizinisch-biologischen Wissens bewertet? Weiters ist zu fragen, wie sich das Ergebnis, das durch teleologisches zu Ende Denken der § 1 Abs. 3, § 9 Abs. 1 FMedG erzielt worden ist, zum Gleichheitssatz sowie zum allgemeinen Sachlichkeitsgebot (Art. 7 B-VG) verhält. Und schließlich ist wohl auch in Rechnung zu stellen, dass manche Autoren nicht nur dem geborenen Menschen, sondern auch dem Nasziturus das von Art. 2 Abs. 1 EMRK verbürgte Recht auf Leben zugestehen.96 Die Berücksichtigung dieses Umstandes erscheint mir in Anbetracht der Tatsache, dass bislang nicht einmal auf europäischer Ebene ein Konsens über die Natur und 92
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Kopetzki, Grundrechtliche Aspekte der Biotechnologie am Beispiel des „therapeutischen Klonens“, in: Kopetzki/Mayer (Hrsg.), Biotechnologie und Recht, 2002, S. 15 (52 ff.); siehe zur Forschungsfreiheit i.Z.m. gentechnischen Verfahren auch Huber/Stelzer, Öffentlichrechtliche Rechtsfragen der Gentechnologie, in: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hrsg.), Gentechnologie im österreichischen Recht, 1991, S. 1 (26 ff.). Kopetzki, in: Kopetzki/Mayer (Hrsg.), Biotechnologie und Recht, 2002, S. 15 (19 ff.); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008, S. 102; VfGH 11.10.1974, VfSlg. 7.400 = JBl. 1975, 310 m. Anm. v. Pernthaller. Kopetzki, Stammzellforschung in Österreich – eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts, in: Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Stammzellforschung. Ethische und rechtliche Aspekte, 2008, S. 269 (282 ff.). Vgl. Erl. RV, 216 BlgNR 18. GP, S. 20. F. Bydlinski, Der Schutz des Ungeborenen in zivilrechtlicher Sicht, in: Pammer/Weiler (Hrsg.), Volle Menschenrechte für das ungeborene Kind, 1980, S. 89 ff.; Lewisch, Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) und Strafgesetz, in: FS Platzgummer, 1995, S. 381 (394 ff.); Novak, Das Fristenlösungs-Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, EuGRZ 1975, 197 ff.; Waldstein, Rechtserkenntnis und Rechtsprechung. Bemerkungen zum Erkenntnis des VfGH über die Fristenlösung, JBl. 1976, 505 ff. und 574 ff.
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Erwin Bernat
den Status des Embryos erzielt werden konnte,97 zumindest erwägenswert zu sein. Ja, selbst der EGMR hat in Vo gegen Frankreich98 vor kurzem zugestanden, dass er sich aufgrund der äußerst divergierenden Auffassungen zur Frage des sachlichen Geltungsbereichs von Art. 2 Abs. 1 EMRK außer Stande sehe, zu ihr abschließend und verbindlich Stellung zu beziehen.99 Und daraus folge, meint der EGMR, „dass die Frage, wann das Leben beginnt, in den Beurteilungsraum der Staaten fällt, der ihnen nach Meinung des Gerichtshofs in diesem Bereich zuerkannt werden muss …“.100 Die Frage, ob in Fällen wie dem vorliegenden generell der verfassungskonformen oder jener Interpretation der Vorrang gebührt, die den Ordnungsplan des historischen Gesetzgebers im Auge behält, ist sehr komplex und sollte daher nicht vorschnell in die eine oder die andere Richtung entschieden werden.101 Allerdings legt es das Prinzip von der Einheit der Rechtsordnung mehr als nahe, im Zweifel jene Auslegung zu wählen, die mit dem Gleichheitssatz sowie dem allgemeinen Sachlichkeitsgebot (Art. 7 B-VG) am ehesten im Einklang steht. Das ist hier eindeutig die Auslegung, die nicht nur gezeugte, sondern auch geklonte Embryonen dem Regelungsregime der § 1 Abs. 3, § 9 Abs. 1 FMedG unterstellt. Diese Auffassung gerät zwar in casu in ein Spannungsverhältnis mit dem Grundrecht auf Forschungsfreiheit, allerdings wird der Schaden, den die Rechtsgemeinschaft dadurch erleidet, deutlich von dem Zugewinn größerer Kohärenz des geltenden Rechts aufgewogen: Vor dem Hintergrund des Postulats der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung ist es nicht einmal im Ansatz verständlich, dass der nach der Dolly-Methode geklonte Embryo einen anderen Status verdient wie sein im Labor gezeugter Artgenosse. Ich habe mich im vorliegenden Beitrag mit Fragen beschäftigt, die das geltende Recht aufwirft. Ich habe also nicht zur Debatte gestellt, ob der Embryo in vitro unter rechtsethischen Gesichtspunkten das Recht auf Leben wirklich „verdient“ oder ob es zumindest gute Gründe gibt, den Embryo in vitro vor dem Zugriff des Forschers zu schützen, ohne ihm gleichzeitig ein Recht auf Leben zuzuschreiben.102 Diese Fragen müssen im Rahmen einer de lege ferenda-Diskussion sorgfäl97
98 99 100 101
102
Exemplarisch für diesen Befund etwa die Artt. 1 f., 18 des Europaratsübereinkommens über Menschenrechte und Biomedizin; dazu einlässlich Radau, Die Biomedizinkonvention des Europarates, 2006, S. 213 ff. Urt. v. 8.7.2004 (GK), Nr. 53924/2000, EuGRZ 2004, 568. Dazu einlässlich Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007, S. 398 ff. Vo gegen Frankreich, EuGRZ 2004, 568 (575) (Ziff. 82). Vgl. Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Aufl. 1997, S. 106: Die „verfassungskonforme Auslegung […] darf das gesetzgeberische Ziel nicht in sein Gegenteil verkehren“. Das Schrifttum zu diesen Fragen ist kaum mehr überschaubar; lesenswert: Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse, 2006, S. 357 ff.; F. Bydlinski, Lebensschutz und rechtsethische Begründungen, JBl. 1991, 477 ff.; Harris, On Cloning, 2004, S. 113 ff.; Höffe, Medizin ohne Ethik?, 2002, S. 70 ff.; Hoerster, Zur Rechtsethik des Lebensschutzes, JBl. 1992, 2 ff.; ders., Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen den § 218, 2. Aufl. 1995; ders., Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay, 2002; Joerden, Menschenleben. Ethische Grund- und Grenzfragen des Medizinrechts, 2003, S. 37 ff.; Koller, Personen, Rechte und Entscheidungen über Leben und
Sind geklonte Embryonen „entwicklungsfähige Zellen“ i.S.v. § 1 Abs. 3 FMedG?
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tig analysiert und entschieden werden. Letztlich wird es aber vom Willen der politisch Verantwortlichen abhängen, ob das geltende Recht des Embryonenschutzes eine Kurskorrektur erfährt.
Tod, in: Bernat (Hrsg.), Ethik und Recht an der Grenze zwischen Leben und Tod, 1993, S. 71 ff.; Merkel, Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, 2002; NidaRümelin, Ethische Essays, 2002, S. 369 ff.; Seelmann, Haben Embryonen Menschenwürde? Überlegungen aus juristischer Sicht, in: Kettner (Hrsg.), Biomedizin und Menschenwürde, 2004, S. 63 ff.; Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, 1996; Strong, The moral status of prembryos, embryos, fetuses, and infants, Journal of Medicine and Philosophy 22 (1997) 457 ff.; Woopen, Substanzontologie versus Funktionsontologie – Wie bestimmen wir den Beginn und die Ansprüche schutzwürdigen menschlichen Lebens?, in: Dierks/Wienke/Eisenmenger (Hrsg.), Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, 2007, S. 17 ff.
Unsichere Entscheidungsgrundlagen für den Intensivmediziner
Hilmar Burchardi und Friedemann Nauck Intensivmedizin beinhaltet sehr häufig eine Behandlung im Grenzbereich zwischen Leben und Sterben. Für die Behandelnden bedeutet Intensivmedizin gleichzeitig Entscheidungen im Spannungsfeld von medizinischen Möglichkeiten, sozialen Interessen, gesellschaftlichen Prioritäten und individuellen Erwartungen zu treffen. Derzeit wird in der Gesellschaft das Thema „Sterbehilfe“, aber auch die „Sterbebegleitung“ mit hoher Aufmerksamkeit und Emotionalität diskutiert. Diskussionen zur Novellierung der Sterbehilfegesetze, neuere Entscheidungen des Bundesgerichtshofes, Etablierung von kommerziellen Sterbehilfeorganisationen haben die Debatte erneut entfacht. Im September 2006 hat sich der 66. Deutsche Juristentag eingehend mit diesem Thema beschäftigt. In einem Absatz über den Stand der strafrechtlichen Diskussion schrieb T. Verrel jüngsthin1: „Man hat es bei der Sterbehilfe folglich mit einem für unsere Rechtskultur bemerkenswerten „case law“ zu tun, sodass sich die Unterscheidung zwischen Verbotenem und Erlaubtem in erster Linie aus der Kenntnis, Abgrenzung und Interpretation einiger Leitentscheidungen, insbesondere des BGH ergibt.“
Das hat uns veranlasst, bei der Entscheidung zum Behandlungsabbruch in der Intensivmedizin das wirksame emotionale Umfeld aller Beteiligten einmal näher zu beschreiben. Es soll Verständnis geweckt werden für die Umstände, die bei solchen schwierigen Diskussionen und Entscheidungen zum Tragen kommen. Dabei beschreiben wir bewusst unsere subjektive Wahrnehmung, die aus jahrzehntelanger praktischer Arbeit auf der Intensivstation resultiert. Wir beschreiben Befindlichkeiten, die nur schwer objektivierbar sind und nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Befunderhebung verstanden werden sollen. In der Präambel der „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ (2004) heißt es2:
1
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Verrel in: Grenzsituationen in der Intensivmedizin, hrsg. von Junginger/Perneczky/ Vahl/Werner, Springer, 2008, 123 ff. Dtsch. Ärzteblatt 2004, 101:A1298 f.
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Hilmar Burchardi und Friedemann Nauck „Aufgabe des Arztes ist es, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht daher nicht unter allen Umständen. So gibt es Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sein können. Dann tritt palliativmedizinische Versorgung in den Vordergrund. Die Entscheidung hierzu darf nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden. Unabhängig von anderen Zielen der medizinischen Behandlung hat der Arzt in jedem Fall für eine Basisbetreuung zu sorgen. Dazu gehören u. a.: menschenwürdige Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit sowie Stillen von Hunger und Durst. …. Bei seiner Entscheidungsfindung soll der Arzt mit ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern einen Konsens suchen. …“
Um eine Entscheidung nachträglich richtig zu beurteilen und zu bewerten, müssen die in dieser Situation bestimmenden Bedingungen und das wirksame Umfeld ausgelotet, verstanden und gebührend berücksichtigt werden.
I. Chancen und Risiken der Akutmedizin Die Möglichkeiten der Intensivtherapie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten um ein Vielfaches verbessert und erweitert. Erhalt und sogar Ersatz von lebenswichtigen Organfunktionen sind möglich geworden. Immer kränkere und immer ältere Patienten erhalten Behandlungen, die vor Jahren noch undenkbar erschienen. Krankheitssituationen, die früher zum baldigen Tod führten, lassen sich heute heilen oder zumindest lindern. Immer häufiger überleben Patienten eine vorübergehende lebensbedrohliche Erkrankung oder einen erforderlichen kritischen operativen Eingriff. So verbindet man mit dem Begriff Intensivmedizin eher Lebensrettung und Maximaltherapie, nicht aber die Begriffe Therapiezieländerung oder gar Therapieabbruch. Doch mit seinen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten hat der Intensivmediziner nun aber das schwerwiegende Problem, zwischen maximalem Behandlungseinsatz und Therapiebegrenzung sorgfältig abzuwägen. In solchen Grenzsituationen ist es die ärztliche Aufgabe, nicht nur die medizinischen Herausforderungen anzunehmen, sondern auch ethische Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen der Patientenautonomie, der medizinischen Prognose und der ärztlichen Fürsorge zu treffen. Studien belegen immer deutlicher, dass der rasche, unverzügliche Beginn einer konsequenten, ja aggressiven Intensivbehandlung oft entscheidend für den Behandlungserfolg ist3,4. Je länger gezögert wird, desto schwieriger wird die Thera3
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Rivers/Nguyen/Havstad/Ressler/Muzzin/Knoblich/Peterson/Tomlanovich, N. Engl. J. Med. 2001, 345: 1368 ff. Levy/Macias/Vincent/Russell/Silva/Trzaskoma/Williams, Crit. Care Med. 2005, 33: 2194 ff.
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pie und desto fragwürdiger das Endergebnis. Das bedeutet, dass dem Intensivmediziner nicht viel Zeit bleibt, um gesicherte Erkenntnisse über die akute Krankheitssituation zu erlangen. Er muss handeln, konsequent und rasch. Andererseits beinhalten die großen Möglichkeiten der Intensivmedizin mit ihren oft sehr aggressiven und invasiven Maßnahmen eine Wirksamkeit mit eingreifenden Folgen, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Die Therapie ist ebenso wirksam wie risikoträchtig. Mit den Möglichkeiten steigen auch die Probleme und Risiken. Nutzen und Schaden liegen also dicht beieinander. So ist es geradezu typisch für die Akutsituation in der Intensivmedizin, dass angesichts des dringenden Handlungsbedarfs die tatsächliche Situation oft äußerst unklar ist, die Diagnostik unvollständig und die Chancen für eine erfolgreiche Therapie häufig ungeklärt sind. Die Prognose entscheidet sich häufig erst, nachdem deutlich wird, wie der Patient auf die Therapie anspricht („therapia ex juvantibus“). Der Intensivmediziner gründet seine Behandlung also oft auf sehr „unsicheren Boden“. Das führt dazu, dass er selbst im Zeitalter der „evidence based medicine“ sich häufig auf seine Erfahrung und auf sein klinisches Gespür verlassen muss. Stets ist ein grundlegender Irrtum eingeschlossen! So kann die Abwägung zwischen Handeln und Unterlassen in der Intensivmedizin zu einer großen Bürde werden. Diese Bürde hat darüber hinaus noch einen besonderen juristischen Aspekt: Die intensivmedizinischen Maßnahmen sind eingreifend, aggressiv, risikobelastet – und ihre Folgen (positive wie negative) treten meist unverzüglich ein. Das bedeutet, dass sie im Schadensfall den auslösenden Handlungen meist direkt zuzuordnen sind. Somit ist es nicht verwunderlich, dass dem Intensivmediziner oft mögliche juristische Konsequenzen – bewusst oder unbewusst – vor Augen stehen. Der Intensivmediziner steht also auf recht „unsicherem Eis“ – selbst wenn er es nicht wahrhaben möchte. Die tägliche Routine seiner Arbeit und die jahrelange Erfahrung schützt ihn zwar oft vor Selbstzweifeln, – doch auch das kann ihm zum Verhängnis werden!
II. Die Änderung des Therapiezieles Der Anspruch der Ärzte ist es, zu heilen. Das kann ein Grund sein für eine „Übertherapie am Lebensende“ und dazu führen, dass Ärzte auch am Lebensende eher alle medizinisch möglichen Behandlungen einsetzen als diese zu begrenzen. Andererseits besteht bei den Ärzten und Pflegenden im multidisziplinären Team einer Intensivstation häufig ein durchaus kritisches, ethisches Problembewusstsein dafür, dass die Intensivpatienten möglicherweise „übertherapiert“ werden5. Doch Ärzte und Pflegekräfte empfinden bei der Beendigung einer Therapie möglicherweise eine stärkere unmittelbare Verantwortung für den Tod des Patienten als bei einem Verzicht auf zusätzliche Maßnahmen6. In der ethischen Bewertung besteht
5 6
Albisser Schleger/Pargger/Reiter-Theil, Z. Palliativmed 2008, 9: 67 ff. Melltorp/Nilstun, Intensive Care Med. 1997, 23: 1264 ff.
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Hilmar Burchardi und Friedemann Nauck
allerdings kein Unterschied zwischen der Entscheidung, auf eine zusätzliche Therapie zu verzichten oder die laufende Therapie zu beenden7. Diese vielleicht berechtigte Scheu vor einem Therapieabbruch darf aber nicht dazu verleiten, jede Therapie unkritisch solange fortzuführen, bis der Patient verstirbt. Therapiebegrenzung ist eine Therapiezieländerung am Lebensende, bei der das Behandlungsziel nicht mehr Heilung, sondern Linderung von Leiden ist. In den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung heißt es dazu8: „…Bei Patienten, die sich zwar noch nicht im Sterben befinden, aber nach ärztlicher Erkenntnis aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit sterben werden, weil die Krankheit weit fortgeschritten ist, kann eine Änderung des Behandlungszieles indiziert sein, wenn lebenserhaltende Maßnahmen Leiden nur verlängern würden und die Änderung des Therapieziels dem Willen des Patienten entspricht. …“
Für eine solche Änderung des Behandlungszieles sind unterschiedliche Entscheidungssituationen denkbar9: Therapieverzicht (d.h. Verzicht auf Einsatz einer möglichen intensivmedizinischen Therapie), Therapieerhalt oder „Einfrieren“ der begonnenen Therapie bei kritischer Prognose und geringen Überlebenschancen (also Nicht-Erweitern einer intensivmedizinischen Behandlung, z. B. Nierenersatztherapie, Wiederbelebung), Therapiereduktion, wenn keine Überlebenschance mehr besteht (also z. B. Beendigung einer Therapie mit medikamentöser Kreislaufstützung, stattdessen Beatmung mit 21% O2 und ausreichende Basisversorgung), oder Therapieabbruch am Lebensende (Beenden einer das Sterben verlängernden Therapie bei infauster Prognose). Dabei ist zu beachten, dass für die Durchführung einer jeglichen medizinischen Behandlung stets eine Indikation für diese Therapie bestehen muss. Ohne eine medizinische Indikation ist keine Behandlung zulässig. Die Entscheidung für eine Änderung des Therapieziels (Therapieverzicht, Therapieerhalt oder Therapieabbruch) bedeutet nicht das Ende aller therapeutischen Maßnahmen, sondern erfordert auch in der Intensivmedizin die Begleitung und Betreuung des Sterbenden und Schwerkranken mit infauster Prognose im Sinne der Palliativmedizin. Also Änderung des Therapieziels von „cure“ zu „care“, und bestmögliche Symptomlinderung nicht nur der physischen sondern auch der psychischen, sozialen und spirituellen Dimensionen. Die klare Formulierung der „Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung“ der Bundesärztekammer könnte vermuten lassen, dass die Entscheidungen zu solchen schwerwiegenden Weichenstellungen der therapeutischen Ziele auf klaren, eindeutigen Situationen beruhen würden. Leider ist das nur selten der Fall. Meist gibt es für die Bewertungen „infaust“, „unheilbar“, „hoffnungslos“ keine objektiven Kriterien. Schlimmer noch: sie sind 7
Consensus Report, Crit. Care Med. 1990, 18: 1435 ff.
8
(Fn. 2) Dtsch. Ärzteblatt 2004, 101: A1298 f. Nauck in Intensivmedizin - Kompendium und Repetitorium zur interdisziplinären Weiter- und Fortbildung, hrsg. von Eckart/Forst/Burchardi, ecomed MEDIZIN, 2008, XIV9, 1-15.
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häufig subjektive Einschätzungen, in die die eigenen Erfahrungen (langjährig oder nur kürzere) eingehen10. Solche subjektiven Erfahrungen aber sind selten quantifizierbar. Sie beinhalten dagegen die Bewertung der eigenen Eindrücke, besonders bei jüngeren Erfolgen und Misserfolgen. Je nachhaltiger diese Eindrücke waren, desto prägender haben sie sich als Engramme festgesetzt. Es wäre also vermessen, hier einen objektiven Maßstab, etwa im Sinne der „evidence based medicine“ anzusetzen. So kann das Behandlungsteam (Ärzte wie Pflegepersonal) bei solchen Entscheidungen oftmals zu sehr unterschiedlichen Bewertungen kommen: Äußerungen wie „ … wir dürfen doch die Hoffnung nicht aufgeben“, „ … sie ist doch noch so jung“, „Sie können doch Ihre Ansicht nicht beweisen!“ fallen. Solche Differenzen können zu immensen Spannungen im Team führen und gelegentlich das gesamte Team auseinandertreiben (wir haben solche Situationen in belastender Erinnerung). Hinzu kommt, dass wohl jeder erfahrene Intensivmediziner irgendwann einmal erlebt hat, wie ein Patient aus völlig hoffnungsloser Situation die Intensivstation trotzdem wieder lebendig verlassen konnte. Solche „Wunder“ können ebenfalls Engramme setzen, meist die falschen!
III. Der eventuell nötige Ausbruch aus der Routine Hier erscheint es angebracht, das Selbstverständnis der Intensivmediziner ein wenig zu hinterfragen. Der Beruf prägt die Persönlichkeit, doch auch die individuellen Persönlichkeitsmerkmale bieten oft besondere Affinität zu bestimmten Berufen. Das wird sehr deutlich bei vielen in der Intensivmedizin Tätigen. Bei Intensivmedizinern ist aktives Handeln, tätige Hilfe vorrangig; er ist „handlungsorientiert“. Intellektuelles Differenzieren kommt meist erst an zweiter Stelle und wird erst dann wichtig, wenn die Akutsituation zur Ruhe kommt. Der Intensivmediziner erlernt häufig einen Hang zum „Aktionismus“ und das kann gelegentlich zu einer Tendenz der Selbstüberschätzung seines ärztlichen Handelns führen. Er fühlt sich dem „Helfersyndrom“ verpflichtet („Da müssen wir doch etwas tun!“). Er ist ja in der Tat oft der Einzige, der die unter Umständen rettenden Therapiemaßnahmen vornehmen kann. Verführen kann hierbei auch der so genannte „technologische Imperativ“, also der vermeintliche Zwang, alles tun zu müssen, was möglich ist – selbst unter Missachtung von Endergebnis, Folgeschäden oder Kosten. Dieser kurzsichtige Entscheidungsdrang wird insbesondere dann wirksam, wenn der Patient ohne intensive Therapie wahrscheinlich versterben würde, und wenn er von sich aus keine eigene Entscheidung fällen kann und darüber hinaus auch keine Angehörigen bei seiner Therapieentscheidung verfügbar sind. Erschwerend kommen hier noch die u. U. abweichenden Beurteilungen der primär behandelnden Ärzte hinzu: Des Chirurgen, der von seiner lebensrettenden Operation weiterhin überzeugt ist, des Internisten, der in der Regel weit vom Ak10
Poses/Bekes Copare/Scott, Crit. Care Med . 1989, 17: 827 ff.
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tivismus der Intensivmediziner entfernt ist, des Neurologen, der ohnehin an „hoffnungslose Fälle“ gewöhnt ist. Sie alle sind viel eher davon überzeugt, weiter behandeln zu müssen, nicht aufgeben zu dürfen. Dabei haben sie häufig die Hoffnungslosigkeit der akuten Situation auf der Intensivstation nicht hautnah miterleben. Das Selbstverständnis der Krankenpflegekräfte unterscheidet sich von dieser ärztlichen Haltung wesentlich. Sie stehen grundsätzlich näher am Patienten, erleben sein Leiden und das Leid der Angehörigen direkt, leiden mit ihnen. Nicht selten geht daher von dieser Berufsgruppe die Anregung über eine Therapiezieländerung nachzudenken aus. Allerdings: die Entscheidung dazu überlassen sie dann (und mit Recht) den Ärzten, die diese Verantwortung letztendlich auch übernehmen müssen. Nicht selten klagen die Pflegenden jedoch, dass sie in dieser Diskussion über Therapiebegrenzung bei den behandelnden Ärzten nicht gebührend Gehör finden11. Die Ärzte haben die Anliegen und Argumente der Pflegenden häufig nicht beachtet oder gar erörtert. Bei den Pflegenden führt das zu Frustration und Enttäuschung; haben sie doch einen wesentlichen Anteil an der Intensivbehandlung. Wo dieses Defizit wahrgenommen wird, muss dringend eine Gesprächskultur zwischen den Ärzten und dem Pflegeteam und allen anderen in die Behandlung involvierten Berufsgruppen aufgebaut werden. Alle Seiten müssen auf diesem schwierigen Gebiet zu gegenseitigem Respekt und zu kooperativer Partnerschaft kommen. Jeder kann vom anderen lernen. Die schwere Entscheidung zur Änderung oder auch zu einer Beibehaltung des Behandlungszieles muss also in dieser Gemengelage unterschiedlicher Wahrnehmungen gefällt werden. Eine nicht selten sehr emotionsgeladene Situation! Eine solche Entscheidung ist stets schwierig, nicht selten unbequem und unpopulär. Es ist immer leichter und unverfänglicher, so weiter zu behandeln, wie bisher („…dann kann mir keiner Vorwürfe machen!“). Problematische Entscheidungen zu vermeiden oder vor sich her zu schieben, erscheint zunächst der bequemere Weg zu sein! Kaschiert durch den Vorwand: „Man darf doch nicht aufgeben!“ Insgesamt darf auch nicht vergessen werden, dass das ärztliche Selbstverständnis durch den „Kampf gegen die Krankheit“ bestimmt wird. Daher wird die Aufgabe der kurativen Behandlung oft als Eingeständnis der persönlichen Niederlage empfunden. Insbesondere, wenn über diese Entscheidung im Team kein Einvernehmen herrscht, ist es für den Einzelnen schwer, diesen Vorschlag vor den anderen zu vertreten. Die Entscheidung zur Beendigung einer Intensivbehandlung bedeutet also auch für die Behandelnden ein „Loslassen“, bedeutet von den professionellen Handlungsgewohnheiten abzulassen und völlig auf eine individuelle, palliativmedizinische Behandlung der letzten Lebensphase überzugehen12. Ein Schritt, der 11
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Ferand/Lemaire/Regnier/Kuteifan/Badet/Asfar/Jaber/Chagnon/Renault/Robert/ Pochard/Herve/Brun-Buisson/Duvaldestin, Am. J. Respir. Crit. Care Med. 2003, 167: 1310 ff. Nauck, in Interdisziplinäre Intensivmedizin – Aktuell 2008, hrsg. von Putensen/Quintel/ Kuhlen, MEPS Verlag, 2008, 291 ff.
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von den Behandelnden oft als „Aufgeben“ empfunden wird; dabei ist er doch die wohl ursprünglichste Form der ärztlichen und pflegerischen Tätigkeit. So kann es vorkommen, dass eine solche Entscheidung eines womöglich notwendigen und sinnvollen Therapieabbruchs das gesamte Behandlungsteam stark belastet, es sogar gelegentlich überfordern kann13. Doch in der Mehrzahl der Situationen kann darüber Einvernehmen erzielt werden; insbesondere wenn sich alle die Zeit zu ausgiebiger, intensiver und respektvoller Diskussion im Team nehmen und diese gewichtige Entscheidung nicht unter Zeitdruck vorgenommen wird. Solche Entscheidungen benötigen neben Zeit und Ruhe eine sorgfältige Abwägung. Oft kommt es vor, dass die Krankheitsentwicklung wechselnd ist, dass vorübergehende Phasen der relativen Besserung eintreten, die dann wieder Hoffnung aufkommen lassen - Hoffnung, die wo möglich nach wenigen Tagen wieder enttäuscht wird. So ist es wichtig, die Entwicklung aufmerksam zu verfolgen. Oft fährt man in dieser Phase zweigleisig, insbesondere auch in den Gesprächen mit den Angehörigen: • Einerseitig gibt man die Hoffnung nicht restlos auf, vertraut noch auf die angesetzten Behandlungsmaßnahmen. • Andererseits akzeptiert man, dass jederzeit die Wende zum Versterben eintreten kann. Lynn und Mitarb. sprechen vom Dilemma bei der Behandlungsstrategie am Lebensende14: • Die infauste Prognose (d.h. die Aussichtslosigkeit) ist nicht zweifelsfrei zu bestimmen. • Es gibt keine sicheren Zeichen für den bevorstehenden Tod, selbst wenige Tage vor Eintritt. • „Infauste Prognose“ oder „im Sterben“ sind daher notwendigerweise subjektive Begriffe. • Daher muss ein Sterben in Würde bereits geplant werden, wenn noch Überlebenschancen bestehen. • In der klinischen Praxis ist daher ein kombiniertes Vorgehen nötig: - Behandeln und Kämpfen für das Überleben - Gleichzeitig Akzeptanz des Sterbens.
IV. Defensivmedizin – oder der juristische „Big Brother“ Entscheidungen, die aus der Spur des Üblichen oder des Gewohnten führen, werden immer als schwer empfunden. Neue Wege verunsichern. Selbstsicherheit ist 13
14
Studdert/Mello/Burns/Puopolo/Galper/Truog/Brennan, Intensive Care Med. 2003, 29: 1489 ff. Lynn/Harrell/Cohn/Wagner/Connors, New Horizons 1997, 5: 56 ff.
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gefragt, wo es meist aber keine Gewissheit geben kann. Hinzu kommt, dass der juristische „Big Brother“ bewusst oder unbewusst über den Entscheidungen schwebt: Was wäre, wenn ich mich in meiner Einschätzung doch geirrt hätte? Würde man mir dann nicht Vorwürfe machen können? Was würden die Kollegen sagen? Würden gar juristische Konsequenzen drohen? Gehen wir also lieber auf „Nummer sicher!“ Das sind einige der (zweifelhaften) Grundlagen einer Defensivmedizin mit der Entscheidung, lieber nichts zu tun, was später hinterfragt werden würde; lieber nicht vom Bisherigen abzuweichen. Schließlich gibt es ja Behandlungsstandards, gibt es Leitlinien! Wenn nur diese beachtet werden, dann drohen keine Vorwürfe. Jeder, der nicht in einer solchen akuten Situation steht, würde diesen Druck von sich weisen. Doch vermutlich hat fast jeder einmal diesen Druck verspürt und (selbst mit schlechtem Gewissen) seiner Neigung zur Defensivmedizin nachgegeben – ob er es nun wahrhaben will oder nicht! Juristen fühlen sich an diesem Druck sicher völlig unschuldig (zu Recht, wie wir vermuten). Doch häufig findet sich ein ärztlicher Gutachter, der im Zweifel eine juristische Beurteilung in diese oder jene Richtung bahnt. Von diesen Gutachtern wird viel erwartet: sie sollten nicht nur fachlich kompetent sein, sie sollten auch die zu beurteilenden Situationen aus eigener praktischer Erfahrung kennen. Der Jurist ist vermutlich zufrieden, wenn der Sachverständige eine klare Meinung äußert. Doch war die Situation auch so klar, wie dieser Sachverständige es vermuten lässt? Eine wesentliche Hilfe für diese Situationen ist ein im Team erarbeitetes und abgestimmtes sowie gut dokumentiertes Vorgehen, das wenn immer möglich auch mit den Angehörigen, Vorsorgebevollmächtigten oder Betreuern zuvor erörtert wurde.
V. Der Druck der Ökonomie In Deutschland werden zurzeit jährlich etwa 2 Millionen Kranke in den ca. 21.000 intensivmedizinischen Betten behandelt. Diese Intensivbehandlung verursacht etwa 5-10% der gesamten Krankenhauskosten. Ein großer Anteil dieser Intensivpatienten sind ältere Menschen. Diese haben mit ihrer Multimorbidität (Patienten über 60 Jahre haben im Durchschnitt etwa 5 Krankheiten) einen schwereren Krankheitsverlauf und eine schlechtere Prognose. Angesichts der hohen Kosten ist es nicht verwunderlich, dass sich die Gesellschaft fragt, ob diese Kosten berechtigt sind. Ist die Gesellschaft bereit, für alte und sehr betagte Patienten noch hohe Behandlungskosten einzusetzen? Und wenn ja, gibt es eine Grenze und wo liegt sie? Soll ein 80-jähriger multimorbider Patient mit Schenkelhalsfraktur noch operiert werden, denn das würde unter Umständen eine teure Nachbehandlung auf der Intensivstation erforderlich machen. Wie viel ist der Gesellschaft die Gesundheit (der anderen) wert? Dies sind fundamentale Fragen, die die Solidargemeinschaft kaum in der Lage (und willens) ist zu beantworten. Diese Entscheidungen bleiben bei dem Arzt hängen, der den akut zu behandelnden einzelnen Menschen zu versorgen hat – und das täglich!
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Tatsächlich findet die Rationierung im Krankenhaus und auch auf der Intensivstation längst statt. Nur hält sie sich im Verborgenen, es wird nicht darüber gesprochen und die Entscheidungen werden mit anderen Gründen ummäntelt. Es ist nicht so schwierig, die knappen Intensivbetten besetzt zu halten, um z. B. bei Anfrage für kostenträchtige Problempatienten aus anderen Krankenhäusern oder bei Aufnahme von teuren Schwerstverletzten eine volle Intensivstation zu melden und damit dem Haus Kostendefizite zu ersparen. Dabei hätte man möglicherweise bei etwas gutem Willen, stattdessen weniger kranke Patienten von der Intensivstation verlegen können. Man hätte unter Umständen aber auch eine laufende hoffnungslose Behandlung beenden können, für die bisher niemand eine Entscheidung gewagt hat. So komplex können die erforderlichen Entscheidungen sein, so eng liegen Gut und Böse nebeneinander, sind geradezu miteinander verzahnt! Grundsätzlich ist die Haltung der Ärzteschaft völlig klar: „Rationierung bezieht sich ausdrücklich nicht auf Aspekte der Begegnung und des Umgangs zwischen Kranken und klinisch Tätigen“ und „Humanität ist im Sinne von § 70 SGB V nicht posteriorisierbar“ sagt die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer in ihrer Stellungnahme zu Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)15. Rationalisierung geht vor Rationierung! Wehkamp schreibt16: „Es ist eine moralische Pflicht der Kliniker, auf Gefährdungen ihrer Patienten hinzuweisen, wenn diese unvermeidbar durch politische oder wirtschaftliche Vorgaben entstehen.“ Dennoch fokussieren sich ökonomische Aspekte schon jetzt besonders auch um die kostenträchtige Intensivbehandlung. Selbst wenn sich die Behandelnden innerlich weigern, den ökonomischen Argumenten nachzugeben, ihr immanenter Druck bleibt bestehen, ist täglich spürbar und wird in Zukunft sicher weiter zunehmen.
VI. Gespräch mit Patienten / Angehörigen Die Arzt-Patienten-Beziehung, wie auch das Verständnis von Krankheit, haben sich durch die Fortschritte der Medizin im letzten halben Jahrhundert grundsätzlich verändert. War früher das Gespräch in der Arzt-Patienten-Beziehung ausschlaggebend, werden nun immer mehr die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten für die Beurteilung des Krankheitsverlaufes bestimmend. Die Krankheitsschilderungen der Patienten scheinen immer weniger gefragt zu sein. Für Patienten und Angehörige mag sich dadurch der Eindruck ergeben, als interessierten sich Ärzte mehr für die durch Geräte erhobenen Befunde und Ergebnisse als für die Schilderung der Beschwerden des Patienten. Das Befinden des Patienten bleibt aber dennoch ebenso wichtig - und manchmal wichtiger - für die Beurteilung der Gesamtsituation wie der Befund. 15 16
Dtsch. Ärzteblatt 2004, 97: A1017 ff. Wehkamp, Dtsch. Med. Wochenschr. 2002, 127: 395 ff.
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In der Intensivmedizin sind allerdings die Patienten oft bewusstlos oder meist zumindest durch Medikamente stark gedämpft („Sedierung“). Das ist erforderlich, damit Patienten ohne Leiden die eingreifenden Behandlungsmaßnahmen durchstehen. So ist zum Beispiel bei der apparativen Beatmung der Beatmungstubus in der Luftröhre unangenehm und stellt einen starken Reiz dar; darüber hinaus kämpft der patienteneigene Atemantrieb oft gegen den Zwangsrhythmus des Beatmungsgerätes („der Patient atmet gegen die Maschine“). Daher muss der Patient mehr oder weniger stark mit Medikamenten schmerzgelindert und gedämpft werden. So ist der Patient also meist weder ansprechbar noch entscheidungsfähig. Während der Intensivbehandlung wird daher das unmittelbare Patientengespräch häufig durch das Gespräch mit den Angehörigen ersetzt. Dieses ist meist die einzige Brücke der Behandelnden zu ihren Patienten. Es ist daher unseres Erachtens unerlässlich, dass die Angehörigen über eine große Spanne des Tages freien Zutritt zur Intensivstation haben, um ihre Kranken zu sehen und mit den Ärzten und dem Pflegepersonal zu sprechen. Das ist selbst heutzutage noch nicht überall selbstverständlich. Es gibt durchaus noch Intensivstationen, die vor den Angehörigen abgeschottet werden. Solche Gespräche mit Angehörigen sollten gezielt, ausreichend häufig und regelmäßig stattfinden: Die gesamte Umgebung erscheint für die Angehörigen fremd und bedrohlich; sie werden durch Eindrücke oft verwirrt und erdrückt; außerdem ändert sich die akute Situation des Kranken rasch und oft unerwartet, so dass die Information immer wieder erneuert werden muss. Diese Gespräche kosten viel Geduld und Zeit. Und gerade dieser Zeitaufwand wird heute immer mehr zum Problem! In Zeiten, in denen die Ökonomie den Takt in den Krankenhäusern diktiert, in denen der Personalabbau bis an die Grenze des Erträglichen erzwungen wird, in denen die Arbeitszeit der Ärzte durch Bürokratie und Dokumentationszwang von den Patienten in unerträglicher Weise abgezogen wird, in diesen Zeiten sind die nötige Ruhe und Gelassenheit für solche Gespräche mit Angehörigen kaum aufzubringen. Das belastet die Angehörigen, da „sich niemand für ihren Kranken interessiert“, das belastet ebenso die Ärzte, die sich immer mehr von ihren ureigenen ärztlichen Aufgaben verdrängt fühlen. So wird das so fundamental wichtige ArztPatienten/Angehörigen-Verhältnis immer mehr bedroht; die Medizin wird zur unpersönlichen Gesundheitsversorgung. Wir sind derzeit dabei, in der Medizin viel an Menschlichkeit zu verlieren, was allerdings kaum messbar ist und sich daher als politisches Warnargument nicht eignet. Gefahren entstehen daraus für beide Seiten: Für den Kranken bzw. Angehörigen, dass er die menschliche Fürsorge vermisst, ohne die gute Medizin nicht denkbar ist. Für die Ärzte, dass sie diesen menschlich-karitativen Aufgabenbereich zunehmend verlernen, - und diese Menschlichkeit muss erlernt und ständig gepflegt werden. Menschliche und karitative Zuwendung kostet Zeit, Engagement und innere Stabilität Die lediglich technische Verrichtung des medizinischen Berufes ist vermutlich sehr viel einfacher und kostet den Einzelnen nicht so viel Engagement.
Unsichere Entscheidungsgrundlagen für den Intensivmediziner
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Gespräche mit Angehörigen können sehr hilfreich sein. Die Angehörigen sind in der Regel dankbar. Die Gespräche können aber auch in kritischen Situationen durch Vorwürfe, Ärger und Mistrauen belastet werden. Dann wird oft der Arzt in seinem eigenem Selbstverständnis herausgefordert. Er fühlt sich verletzt und ungerecht behandelt. Doch auch dabei sollte er Arzt bleiben, er muss den Angehörigen zubilligen zu hadern (da das Schicksal nicht greifbar ist, dient oft der Arzt als Adressat des Frustes). Wichtig für den Arzt ist es vor allem, zuhören zu können. Es geht keineswegs nur um die Information der Angehörigen mit medizinischen Fakten; es geht vor allem darum, dass die Familienmitglieder ihre Fragen und Vorstellungen anbringen können. Vor vielen Jahren hat das „Stanford University Medical Center“ eine Strategie für solche Gespräche mit Angehörigen herausgegeben, die uns hilfreich erscheint: • Suche das Gespräch und das Einvernehmen zwischen den verschiedenen Gruppen des Behandlungsteams. • Erkundige Dich nach den Wünschen des Patienten zur Behandlung am Lebensende oder (sofern er nicht entscheidungsfähig ist) suche sorgfältig nach Hinweisen seiner bisherigen Wünsche dazu. • Sei geduldig und strebe nach einer einvernehmlichen Entscheidung. • Setze zeitbegrenzte Ziele (z. B. „Wenn die Niere nicht bis … wieder anspringt, dann…“). • Gestatte dem Patienten bzw. den Angehörigen Gefühle der Verärgerung, der Wut oder des Misstrauens zu äußern. • Habe Verständnis dafür und vermeide es, Dich in eine Verteidigungshaltung bringen zu lassen. • Sofern Konflikte entstehen, suche nach geeigneten Vermittlern. Bei unklaren und schwierigen Entscheidungen, oder wenn im Behandlungsteam kein Konsens besteht, kann bei nicht entscheidungsfähigen Patienten im „ethischen Fallgespräch“ mit Ärzten, Pflegenden, Seelsorgern, Sozialarbeitern und ggf. Angehörigen die bestmögliche und angemessene medizinische, pflegerische, seelsorgerische und psycho-soziale Betreuung und Behandlung für die Patienten ermittelt werden 17,18,19,20. Das „ethische Fallgespräch“ ist für den behandelnden Arzt eine Hilfe bei der Entscheidungsfindung in Fragen einer möglichen Therapiezieländerung. Die Entscheidungen über das weitere therapeutische Vorgehen, über ein „Einfrieren“ der Therapie oder eine Therapiereduktion werden hier im Konsens getroffen. Sie sind jedoch für den juristisch verantwortlichen Arzt nicht verbindlich. Letztendlich steht der betreuende Arzt als Mensch und als juristisch verantwortliche Person vor einer Entscheidung, die ihm keine Gruppe und kein Angehöriger abnehmen kann; 17 18 19 20
Illhardt/Schuth/Wolf, Z. für Medizin. Ethik 1998, 44: 185 ff. Eibach, Z. für Ethik in der Medizin 2004, 50: 21 ff. Schneiderman/Gilmer/Teetzel, Crit. Care Med. 2000, 28: 3920 ff. Nauck, in Grenzsituationen in der Intensivmedizin, hrsg. von Junginger/Perneczky/Vahl/Werner, Springer 2008, S. 220 ff.
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es sei denn, ein Vorsorgebevollmächtigter oder Betreuer ist schriftlich benannt und vermittelt den Willen des Patienten; bei Dissens mit dem Bevollmächtigten/Betreuer hat das Vormundschaftsgericht zu entscheiden. Mancherorts bewährt sich eine leitfadenorientierte Familienkonferenz, in der Ärzte und Pflegende (ggf. auch Geistliche) gemeinsam mit den Familienmitgliedern sich um eine einvernehmliche Entscheidung in den Fragen der Therapiebegrenzung bemühen.21
VII. Probleme der Aufklärung Ärztliche Aufklärung ist mit zahlreichen Schwierigkeiten belastet. Im Gespräch mit den Angehörigen ist das nicht einfacher. Die eindeutige Vermittlung von Information zwischen Arzt und Patient bzw. Angehörigem ist stets schwierig: Kann der Arzt von seiner speziellen Sprache und Begrifflichkeit die Information in die einfache Umgangssprache übertragen? Hat er überhaupt gemerkt, wenn diese Übertragung nicht funktioniert hat, wenn Fakten oder Bewertungen missverstanden wurden? Oft traut sich der Patient oder der Angehörige nicht, nachzufragen. Oder er hat selber nicht gemerkt, dass er etwas nicht richtig verstanden hat. Nicht unwichtig ist auch, dass der Arzt seine eigenen Unsicherheiten vermitteln sollte und nicht aus falsch verstandener Fürsorge oder eigenem Autoritätsbedürfnis eine Sicherheit vortäuscht, die er selber gar nicht hat. Nach unserer Erfahrung ist das Eingeständnis eigener Zweifel durchaus vertrauensbildend! Der Arzt wird menschlicher, wenn er seine Zweifel eingesteht. Die andere Frage liegt darin, ob der Patient bzw. Angehörige überhaupt alles wissen möchte. Er steht ja selber in einem Netzwerk von Abhängigkeiten, von familiären und sozialen Zwängen, von Bindungen an seinen Glauben und vielen anderen Verpflichtungen. In einer sorgfältig durchgeführten Studie über eine präoperative Aufklärung zu einer diagnostischen Bronchoskopie stellten Bieda und Mitarbeiter folgendes fest22: Die schriftliche Aufklärung mittels eines Formulars verursachte Angst. Der mündliche, individuelle Dialog (standardisiertes, strukturiertes Aufklärungsgespräch) beruhigte und schuf Vertrauen, so dass die Mehrheit der Patienten zufrieden war und keine weiteren Fragen mehr hatte. Jedoch konnten sich 1/3 der Teilnehmer nicht an nur eines von 9 erwähnten wichtigen Risiken erinnern. Die Schlussfolgerung der Autoren war, dass der Dialog zwischen Arzt und Patient eher zur Vertrauensbildung als zur Information dient. Offenbar möchte der Patient eher vertrauen als selbst zu entscheiden!
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22
Lautrette/Darmon/Megarbane/Joly/Chevret/Adrie/Barnoud/Bleichner/Bruel/ Choukroun/Curtis/Fieux/Galliot/Garrouste-Orgeas/Georges/Goldgran-Toledano/ Jourdain/Loubert/Reignier/Saidi/Souweine/Vincent/Barnes/Pochard/Schlemmer/Azoulay, N. Engl. J. Med. 2007, 356: 469 ff. Bieda/Meran/Wagner/Ganser, Forum DKG 1997, 12: 112 ff.
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Wenn es um die letzten Risiken geht, möchte man vertrauen und sich in die sicheren Hände eines guten Hirten begeben. Diese etwas desillusionierende Bewertung der Patientenautonomie können viele Ärzte aus ihrer klinischen Tätigkeit bestätigen. Gerade in eigenen Notsituationen haben solche sonst kollegenkritischen Ärzte diese Abwehr der Eigenverantwortung an sich selber erfahren können.
VIII. Die Situation der Angehörigen Die Bewältigung von Entscheidungen in Grenzsituationen wie die Begrenzung der Intensivbehandlung wird besonders für die begleitenden Angehörigen außerordentlich belastend: Während des Intensivaufenthaltes leiden 70% der Familienmitglieder unter signifikanten Angstgefühlen, 35% unter klinisch relevanten Zeichen einer Depression und 32% unter beidem23. Bei der Hälfte der Angehörigen wurden noch 6 Monate nach Entlassung ihres nahen Verwandten Zeichen einer posttraumatischen Stressreaktion nachgewiesen24. Diese Belastung für die Angehörigen von Intensivpatienten wurde bislang unterschätzt. Dennoch ist es von größter Bedeutung, dass die Angehörigen frei ihre kranken Verwandten besuchen und regelmäßig mit dem Behandlungsteam sprechen können. Da die Intensivpatienten meist nicht in der Lage sind, ihre Vorstellungen und Wünsche zur Behandlung einzubringen, da Patientenverfügungen nur selten vorliegen oder für die akute Situation nicht aussagerelevant sind, bleibt das Gespräch mit den Angehörigen unerlässlich. Sie sind die einzige Möglichkeit, etwas über die Präferenzen des Patienten zu erfahren. So ist die gute Kommunikation mit den Angehörigen essentiell. Leider jedoch wird gerade diese Kommunikation oft vernachlässigt, aus Personalmangel und Zeitmangel, aus Desorganisation oder Gedankenlosigkeit25. Dabei ist es gerade die gute Kommunikation, die bei den Angehörigen in der Wertschätzung der Intensivbehandlung an oberster Stelle steht26. Diese Kommunikation ist allerdings wie oben beschrieben nicht konfliktfrei: Knapp die Hälfte der Angehörigen berichteten noch nach einem Jahr von Konflikten mit dem Behandlungsteam bei Diskussionen über die Therapiebegrenzung27. Auch seitens des Behandlungsteams wurden in etwa der Hälfte der Fälle Konflikte wahrgenommen – entweder mit der Familie oder innerhalb der Familie oder des Behandlungsteams28. 23
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Pochard / Azoulay / Chevret / Lemaire / Hubert / Canoui / Grassin / Zittoun / leGall / Dhainaut / Schlemmer, Crit. Care Med. 2001, 29: 1893 ff. Jones/Skirrow/Griffiths/Humphris/Ingleby/Eddleston/Waldmann/Gager, Intensive Care Med. 2004, 30: 456 ff. Azoulay/Chevret/Leleu/Pochard/Barboteu/Adrie/Canoui/Le Gall/Schlemmer, Crit. Care Med. 2000, 28: 3044 ff. Heyland/Tranmer, J. Crit. Care 2001, 16: 142 ff. Breen/Abernethy/Abbott/Tulsky, J. Gen. Intern. Med. 2001, 16: 283 ff. Abbott/Sago/Breen/Abernethy/Tulsky, Crit. Care Med. 2001, 29: 197 ff.
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IX. Ist kompromisslose Autonomie angebracht? Die Betonung der Autonomie oder besser Selbstbestimmung des Patienten bedingt in Europa nicht die Forderung, dass die alleinige Entscheidung beim Patienten bzw. dessen Angehörigen liegt. Es bedeutet eben nicht, dass der behandelnde Arzt aus der Verantwortung für den Patienten befreit wird. Dieses ausschließlich autonomiegeprägte Verständnis wird vornehmlich in den USA vertreten. Der Arzt als Verkäufer von Gesundheitsware ruft in der europäischen Kultur eher Befremden hervor. In Europa ist das Konzept in der medizinischen Betreuung heute die Partnerschaft zwischen Patient und Arzt; im christlichen Verständnis würde man es einen „Pakt“ nennen. Das Prinzip der gemeinsamen Entscheidungsfindung („shared decision making“) ist der Mittelweg zwischen dem althergebrachten Paternalismus und einer ausschließlichen Autonomie. Sie findet Anwendung in den regelmäßigen Gesprächen mit den Patienten, wenn das möglich ist oder mit Angehörigen und besonders in der Familienkonferenz. Hier werden die Fragen und Wünsche der Angehörigen vorgebracht und erörtert, werden die ärztlichen Informationen und Ratschläge angeboten, wird am Ende möglichst eine gemeinsame Entscheidung getroffen. Dieses Konzept lässt vor allem auch die Angehörigen nicht allein mit ihrer schweren Entscheidung, sondern der Arzt bietet ihnen seine helfende Hand und seine karitative Fürsorge an. Wie oft hören wir in der täglichen Praxis: „Doktor, machen Sie was Sie für richtig halten. Ich vertraue Ihnen!“ Allerdings hält sich bei den Ärzten in Europa der alte Paternalismus auch heute noch in erschreckendem Maße: Wie paternalistisch die ärztlichen Entscheidungsmuster derzeit noch sind, ergibt sich aus einer großen europäischen Studie, bei der die Intensivmediziner nach ihren Grundsätzen, Begründungen und Schwierigkeiten bei Entscheidungen zur Therapiebegrenzung befragt wurden29: Die meisten Ärzte hatten in der Regel keine Probleme mit den Entscheidungen am Lebensende; sie ließen sich in ihren Entscheidungen vornehmlich leiten von dem Krankheitsverlauf (79%) und der „good medical practice“ (66%), wenige jedoch von der Lebensqualität (4%), dem Alter (2%) ihrer Patienten oder gar den Wünschen der Angehörige (2%). Dabei war ein deutliches Nord-Süd-Gefälle nachweisbar mit ausgeprägtem Paternalismus vor allem im Süden Europas. Ökonomische Überlegungen spielten nach ihren eigenen Angaben keine Rolle. Vermutlich ist hier noch ein längerer Lernprozess erforderlich, der den entscheidenden primär behandelnden Ärzten und Intensivmedizinern die Bewertung auch der Folgeentwicklungen von Therapiemaßnahmen wieder stärker ins Bewusstsein bringt30. – Ein Wissen, das früher allen verfügbar war, das jedoch im Zeitalter der modernen Medizin und Technologie wohl etwas in den Hintergrund geraten ist. 29
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Sprung/Woodcock/Sjokvist/Ricou/Bulow/Lippert/Maia/Cohen/Baras/Hovilehto/Ledoux/ Phelan/Wennberg/Schobersberger, Intensive Care Med. 2008, 34: 271 ff. Levy, Crit. Care Med. 2001, 29(2 Suppl): N56.
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X. Der verantwortliche behandelnde Arzt Paternalistische Selbstherrlichkeit ist heute nicht mehr vertretbar. Die ärztlichen Entscheidungen müssen möglichst in partnerschaftlichem Konsens getroffen werden. Das betrifft nicht nur den Konsens mit den Patienten bzw. dessen Angehörigen, das gilt auch für den Konsens mit den weiteren behandelnden Ärzten und mit dem gesamten behandelnden Team (Ärzte, Pflegekräfte und weitere in die Behandlung involvierten Berufsgruppen), die alle in die Entscheidungsfindung eingebunden werden sollten. Dennoch bleibt der behandelnde Arzt (bzw. die behandelnden Ärzte) letztlich der Alleinentscheidende, da er juristisch wie ethisch für seine Behandlung alleine verantwortlich ist. Dem wird aber der verständige Patient oder Angehörige auch zustimmen und es sogar begrüßen. Von dieser Endverantwortung kann der Arzt nicht entlastet werden. Er kann sich aber bei seiner schweren Entscheidung durch den Konsens mit den Angehörigen und dem Behandlungsteam wirksam unterstützen lassen. Er steht dann eben nicht mehr alleine mit einer einsamen Entscheidung. Auch ein ethisches Konsil kann ihn nur beraten und ihm mit kompetenter Diskussion die Entscheidung vorbereiten. Die Entscheidung selber kann auch sie ihm nicht abnehmen31. Die Patienten und ihre Angehörigen können dafür von den behandelnden Ärzten erwarten, dass sie nicht nur mit ärztlicher Kompetenz und Sachverstand handeln, sondern dass die Ärzte auch ihre menschliche Empathie und ihre ethische Verantwortung zum Wohle ihrer Patienten einsetzen. Heilen, Pflegen, Fürsorge („cure, care and comfort“) sind auch in der Intensivmedizin gleichwertige Elemente. Insbesondere bei den Entscheidungen zum Lebensende müssen diese Prinzipien einer menschlichen Medizin beachtet werden. Allerdings steht der Arzt mit seinen Entscheidungen in kritischen Situationen häufig auf „unsicherem, wenig Evidenz basiertem Boden“. Diese Ungewissheit verfolgt ihn unablässig. Selbst wenn er sich mit Kollegen, dem Behandlungsteam und den Angehörigen eingehend berät, begleitet die Ungewissheit und Fehlbarkeit seine ärztliche Entscheidung. Damit muss er leben, müssen die Angehörigen und muss die Gesellschaft leben.
31
(Fn. 19) Schneiderman/Gilmer/Teetzel, Crit. Care Med. 2000, 28: 3920 ff.
The Problem of Reproductive Cloning
Francesco D. Busnelli
∗
I. With regard to the issue of cloning, that so far has been on the fringe of my reflections on the law of biomedicine, my first reaction was to think that it does not represent a problem for a lawyer. This attitude is borne by two reasons. First, human cloning has been categorically condemned (if not prohibited) in several documents: the Resolution of the World Health Organisation (14 May 1997); the UNESCO Universal Declaration on the human genome and human rights (3 December 1997, art.11); the opinion of the Italian National Bioethics Committee (CNB) on Cloning as a bioethical problem (21 March 1997); the Réponse au Président de la République au sujet du clonage reproductif of the French National Consultative Bioethics Committee (CCNE) (22 April 1997); the Report of the American National Bioethics Advisory Commission (NBAC) with the subsequent “message” of the President of The United States, Clinton, about the “Cloning Prohibition Act” (June 9th 1997); the Additional Protocol to the European Convention on Biomedicine, adopted in Paris on January 12th 1998; the European Directive 98/44/CE on the legal protection of biotechnological inventions (July 6th 1998, art.6, par.2, lett.a). At first sight, none of these documents leave room for subversive interventions by lawyers, who, by definition, cannot afford to be revolutionary. Second, the scenario that the advocates of cloning propagate – “cloning in lieu of donors gametes, cloning as a source of organs or tissue, replacing a dead child”1 – seems quite futuristic to me. Besides, lawyers are not prophets.
II. Contrary to my first impression, cloning proves to be a legal issue that causes an array of particular problems. Moreover, it has become a significant “testing ∗ 1
Professor of Law, Scuola Superiore S.Anna, Pisa, Italy. See J.A. Robertson, Liberty, Identity, and Human Cloning, 76 Texas Law Review 1998, 1378 ff.
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ground” to examine, both in theory and in practice, the interface of ethics and law (or, rather, ethics and rights) and, specifically, between constitutional principles and legal rules.
III. By lifting the veil of the “condamnation véhémente”2 we face the first problem that there are several forms of cloning: from cloning to “clonings”, so to speak. Two recent European documents, for instance, clarify that animal cloning is not to be necessarily banned, but only requires rules and safeguards. The Draft Scientific Opinion if the Scientific Committee of EFSA (European Food Safety Authority)3 “recommends that the health and welfare of clones are monitored during their full natural life”. The Opinion of EGE (European Group of Ethics in Science and New Technologies to the European Commission) “does not see convincing arguments to justify the production of food from clones and their offspring”4. “If in the future products derived from cloned animals were to be introduced to the European market, the EGE recommends that the following requirements are met: Food safety; Animal welfare and health; Traceability”.5 But even in human cloning it is possible to distinguish between reproductive and non-reproductive cloning; and, within this second type, also to distinguish between the production and culture of cells of embryonic or adult origin which do have the ability to develop into an embryo, and the technique of production of embryos whose development is stopped at a more or less advanced stage in order to obtain immune-compatible cells for cellular therapy.6 With regard to the first technique – i.e., research aimed at deriving stem cells from non-embryonic sources such as an aborted foetus or adult cells – the opinion of the French CCNE appears to be widely shared. While noting that “it is a customary and long established practice of great usefulness for diagnosis and therapy”, the French Committee had concluded that “it raises ethical issues which are 2
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5 6
See Comité Consultatif National d’Ethique pour les Sciences de la Vie et de la Santé (CCNE), Réponse au Président de la République au sujet du clonage reproductif, where the need to start an in-depth analysis, and not to stop at the vehemence of feelings, is clearly stated (25). Draft Scientific Opinion on Food Safety, Animal Health and Welfare and Environmental Impact of Animals derived from Cloning by Somatic Cell Nucleus Transfer (SCNT) and their Offspring and Products Obtained from those Animals, endorsed for public consultation on 19 December 2007, The Opinion is accessible at http://www.efsa.eu.int. Ethical aspects of animal cloning for food supply. Opinion No. 23, issued to Commission President Barroso on 16 January 2008. The Opinion is accessible at http://ec.europa.eu/european_group_ethics. Ibid., Conclusions. See F.D. Busnelli , E. Palmerini, Clonazione, in Dig.IV-ed., Disc. Priv., sez. civ., Agg., Torino, 2000, 142 ff.
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not fundamentally different from those raised by other aspects of biomedical research”.7 As far as the second technique is concerned, however, there are conflicting opinions. The position of the French CCNE is absolutely adamant: it maintains that this technique, apart from being an infringement of the rule that forbids the creation of embryos for research purposes (l. 29 July 1994, art.16-4), would be a “monstrueuse inhumanité”, and points out that it “is astonished to see it promoted by scientists at times distinguished in their field”.8 On the contrary, the UK Report on “Stem cell Research” (2000) (Donaldson R.) “recognises the special status of an embryo as a potential human being, but accepts that it is justified to create or use early embryos for serious research purposes which may benefit others”, of course with “the 14 day limit”. “Such embryos can be seen as being created simply as a means to an end and for use as a product source”. The middle ground is represented by NIH Guidelines for Research Using Human Stem Cells (Sept. 2000). This document states that studies using NIH funds may be conducted “ONLY if the cells were derived from human embryos that were created for the purposes of fertility treatment and were in excess”.9
IV. As regards reproductive human cloning it is crucial to identify the basis for the strict ban that is commonly advocated in all above mentioned national and international documents. Clearly enough, they share “the deep emotion”10 brought about by the birth of Dolly, the cloned sheep, in February 1997. As a consequence, they share the concern that the method “that was used to create Dolly the sheep” might be applied, in the near future, to human beings.11 Likewise, they seem to have in common the widespread feeling of repugnance that reproductive cloning has stirred up among people, on both sides of the Atlantic. It has been reported12 that even the creator of Dolly confessed that he would find it offensive to clone human beings. However – as it was rightly affirmed – “repulsion is not an argument”, and “things considered to be repugnant yesterday
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CCNE, op.cit., 26. Ibid., 29. New Scientists, 29 January 2000. CCNE, op.cit., 25. President’s Remarks announcing the Proposed “Cloning Prohibition Act of 1997”, 9 June 1997. L.Kass, The Wisdom of Repugnance: Why We Should Ban the Cloning of Humans, 32 Valparaiso Univ. L. Review 1998, 686, quoting a news report published on The New York Times in February 1997 whose title is intriguing: Sports of the Times: Could Jordan Be Cloned? Not exactly.
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are today accepted without any problems”.13 These kinds of reactions seem to be rather impulsively or emotionally determined. More importantly, the impression of a general consensus seems to be rather superficial, since the ethical foundations to which these documents refer turn out to be wholly different, and reflect completely distinct legal (or, rather, constitutional) principles. The document of the American NBAC solemnly affirms that cloning a human being is “morally unacceptable”. However, it adds: “at the present time”, stressing that these techniques are not yet perfect from the standpoint of a “safe usage”. Therefore, the ethical basis for the ban is “the safety argument”; and the legal form to enforce it is that of a moratorium. From this ethical standpoint, the if of reproductive cloning is not at issue. Rather, the critical question is which conditions have to be met, for cloning to be allowed. In other words, the discussion turns on how and when to do it. In the European documents the moral unacceptability of reproductive cloning is put forward on a radically different basis. The Additional Protocol to the European Convention on Biomedicine affirms that cloning must be prohibited because it leads to an “instrumentalisation of human beings”. And the French CCNE document refers, more drastically, to an “intolérable chosification de la personne”,14 while the Italian CBN condemns the “assault on biological unit of human beings”.15 In Europe, therefore, the ethical foundation of the unconditional (“no derogation … shall be made”16) cloning prohibition is to protect “human dignity”. Indeed, the prohibition directly concerns the if of reproductive cloning. Finally, the Resolution by the World Health Organisation is more cautious. After saying that using cloning to reproduce human beings is not ethically acceptable, it finishes with “an invitation to the Director-General to take initiatives to clarify and evaluate the ethical, scientific and social consequences of cloning with regard to human health”; and the Director-General, on his part, calls for “wisdom”,17 provided that reproductive human cloning is still banned. Here, the aim to reach a programmatic compromise at an institutional level and to shorten the distances between two ethical conceptions, that nevertheless will remain distinct, is clearly evident.
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L.R. Kass, op. cit., 687. CCNE, op.cit., 27. CNB, La clonazione come problema etico, 21 Marzo 1997. Additional protocol to the Convention on human rights and biomedicine on the prohibition of cloning human beings, art.2. An “optimistic line” that emerges from the Report of Hiroshi Nakajima, can be found in CNB, op. cit.
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V. From a legal point of view the difference between the two ethical conceptions is reflected in the constitutional principles and foundations of the legal systems involved.
1. A legal system that is built on the fundamental idea of individual liberty and freedom, not as a social value (freedom for) but as a “condition of ethical and moral conceptions” (freedom from)18, readily acknowledges a principle of reproductive freedom in order to allow for a procreation of “children of choice”.19 Such a legal system bases the protection of the unborn child on the objective aims of the society.20 In such a legal system it is, by principle, not possible to condemn reproductive cloning. Therefore, the position of the scholar who thinks it should be regarded “as an exercise of procreative liberty and granted the special respect usually accorded to procreative choice”, is coherent. There would not be anything wrong – this is the given example – with the possibility of “a situation in which the parents want another child and are so delighted with the existing one that they simply want to create a twin of her, rather than take a chance on the genetic lottery”.21 Less coherent, but nevertheless significant, is the position of the law philosopher who, after having said that reproductive cloning must lead to an expansion and not to a restriction of liberty, demonstrates preoccupation for a possible “explosion of claims for reproductive freedom”: claims based on a “rampant individualism heedless of the interests of society”.22 Quite worrying is the statement of a researcher according to whom the liberal approach, “quintessentially American”, turns out to be “regrettably inadequate as an approach to human procreation”. He submits that the liberal approach is deprived of all the “anthropological, social and ontological elements that accompany the formation of a new life”.23
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H.T. Engelhardt, The Foundations of Bioethics, 2nd, New York-Oxford, 1996, 18. J.A. Robertson, Children of Choice. Freedom and the New Reproductive Technologies, Princeton, 1994. D.E. Johnsen, The Creation of Fetal Rights: Conflicts with Women’s Constitutional Rights to Liberty, Privacy, and Equal Protection, 95 Yale L. Journal 1986, 599 ff. J.A. Robertson, Liberty, Identity, and Human Cloning, op. cit., 1349. R.C.L. Moffat, Cloning Freedom: Criminalization or Empowerment in Reproductive Policy?, Valparaiso Univ. L. Review 1998, 584, at 601 ff. L.R. Kass, op.cit.,688 ff.
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2. By contrast, reproductive cloning does not seem appealing to a legal system that is based on the principal idea of protecting the dignity of all human beings;24 that extends this protection to the unborn child,25 giving him/her “an adequate protection in respect of the applications of biology and medicine”;26 that does not acknowledge “reproductive liberty” as a subjective right that does not acknowledge abortion as an unquestionable right;27and that finally is not orientated to the suppression of the “genetic lottery”, but continues to consider the “mystery” of procreation as a value to be preserved and to be defended from the “fanatics of artifice”.28 The law philosopher's reflection on this issue is persuasive: if the right of every human life to be a surprise in itself has to be respected, it seems evident that a cloned being has first of all been deprived of his liberty, that can prosper only under the protection of ignorance; therefore, nobody – not even a parent – has this right, to deprive a future human being of his freedom.29 Coherently, the jurist does not hesitate in affirming that the “choice” of the baby to be procreated is a “stretch of authority”. The “right to responsible procreation” cannot become an absolute abuse of power of a subject towards another, reduced to the rank of a product and a programmed object.30 It is, more simply, an expression of the fundamental right, solemnly vested in the parents in the International Conference in Teheran on the Human rights in 1968, to “déterminer librement et consciemment la dimension de leur famille et l'échelonnement des naissances” (art. 16). Meaningful is the warning of the researcher who fears the advent of what he calls (improperly) a “normative procreation” characterised by a new eugenics “mou, démocratique, consensuelle”; and consequently urges to preserve “the val-
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30
European convention on biomedicine, art.1. See also the Recital n. 4 of the Additional Protocol, op. cit., where the extension of its application to “all human beings” is underlined. Additional Protocol, op. cit., Recital n. 2. Additional Protocol, op. cit. Draft explanatory report. A perfect example is offered by a decision of the German Constitutional Court. After having stressed that "a solution that guarantees either the life of the unborn or the right of the mother to abort is not possible", the court introduces the principle of "intolerableness" as a cause for exonerating the woman from "the duty to give birth". See Bundesverfassungsgericht, 28 Mai 1993, NJW, 1993, 1751 ff. In broader terms, M.A. Glendon, Abortion and Divorce in Western Law: American Failures, European Challenges, Cambridge (Mass.), 1987, 145 ff. talks about "abortion for cause" referring to the experience of Germany, France, Italy, Spain, Portugal, Switzerland and Netherlands. J. Testart, L'oeuf transparent, Paris, 1986, 30 ff. H. Jonas, Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man, Chicago, The University of Chicago Press, 1974, 249. J.L. Baudoin, C. Labrusse-Riou, Produire l'homme. De quel droit?, Paris, 1987, 183 f.
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ues of a lay humanism, not subdued to the traditional religions, but also not attracted to the new techno-science mythologies”.31
VI. For all these reasons, reproductive cloning is a problem. Strictly speaking, it is not a problem in itself, but an issue that unfolds the wide gap between ethical conceptions and constitutional principles that divide Western Law. In other words, it might be correct to admit that “so far as cloning is concerned, the issue itself is relatively trivial”.32 But surely the discordance and the inevitable conflict between ethics and constitutional principles, pitilessly laid bare by the issue of cloning, is not so trivial and happens, paradoxically, in a (not only economical, but also legal) context that is influenced by globalisation. The way to a shared ethic is still long, full of obstacles, and it is not known what it will lead to: American Failures, European Challenges (as says M. A. Glendon)? Or American Challenges, European Failures? Or, finally, an overcoming of the two opposite systems? It has already been said that the lawyer is not a prophet. But he has the duty to compare the systems and to point out the principles that are useful in creating a constructive dialogue and to go ahead along a road that is necessarily based on a “minimalist” ethic. The principles that can be pointed out at the moment are at least three: the damage evaluation principle; the principle of precaution; and the principle of the best interest of the child.
1. The damage evaluation principle is not new in the biomedical field. One of its applications has been Recommendation no. 1399 (1999), formulated by the Parliamentary Assembly of the European Council on xenotransplantation. The problem of weighing up the health risks of xenotransplantation with its estimated benefits has been underlined; and, since the risks of rejection and the transfer of diseases remain uncontrollable, the Assembly has recommended that a legallybinding moratorium on clinical experimentation is introduced in all member states. Additionally, the Assembly has invited the Committee of Ministers to “take steps to make this moratorium a worldwide legal agreement”. A worldwide legal agreement on reproductive cloning could prove to be a helpful measure, but not a decisive one: there are, in fact, even among the strongest supporters of the “reproductive liberty” principle and of the “children of choice” those who invoke a prohibition of reproductive cloning because there are
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J. Testart, Introduction à Le magasin des enfants, Paris, 1990, 33. R.C.L. Moffat, op. cit., 605
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Francesco D. Busnelli
still not sufficient guarantees to make sure that children so produced will live without significant health injuries. 33 At the same time, a moratorium could prevent the development of a confrontation between the opposite positions of those who discuss only the “when” and “how” of reproductive cloning and those who are against the “if”.
2. The principle of precaution concerns essentially the role of scientific research in those territories placed at the new frontiers of “human rights and the dignity of the human beings with regard to the applications of biology and medicine”.34 Disturbing and at the same time encouraging pages have been written on the ethics of scientific research: “the research does not self-guarantee its own moral property. However the intrinsic ethical characteristic of research lies just in this: a researcher presupposes that the world in front of her/him has a meaning and he/she has a duty to keep this meaning in the continuous construction of new things”.35 Dealing with the relation between ethics and the law, it is now clear that „the principle that scientists are not responsible for the consequences of their own actions is not acceptable anymore today“.36 Nevertheless researchers' liability, when put in legal terms, cannot be restricted within the legal framework of Roman Law: diligence, skill, caution. Scientific projects necessitate a switch from a logic of prevention (useful to manage known risks) to a logic of precaution (that covers unknown risks as well). In other words, we must “manage scientific uncertainty; and management of uncertainty is a requirement of the principle of precaution”.37 Precaution aims „à privilégier l'hypothèse du pire, lorsqu'on peut redouter un dommage irréversible même à long terme“.38 However, this does not establish a shift from fault liability to strict liability; this means „to adapt liability for fault to contexts of uncertainty“.39 33
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B. Gert, Thinking about Huxley’s Brave New World: Was in Wrong to Create a Genetic Hierarchical Society? Is it Wrong to Prevent One?, in Ethics and Law in Biological Research, edited by C.M. Mazzoni, Kluwer Law International, The Hague-London-New York, 2002, 107. This is the full title of the European Convention on Biomedicine. F. D'Agostino, Etica della ricerca scientifica, in Bioetica nella prospettiva della filosofia del diritto, Torino, 1996, 56 f. L. Battaglia, Dimensioni della bioetica. La filosofia morale dinanzi alle sfide delle scienze della vita, Genova, 1999, 72, quoting Daniel Callahan. L. Baghestan-Perrey, Le principe de précaution: nouveau principe fondamental régissant les rapports entre le droit et la science, D., 1995, Chron., 299. Jacques Chirac, President of the French Republic, in the allocution with which he opened the 4th session of the UNESCO International Committee of Bioethics (CIB) (3 October 1996). G. J. Martin, Précaution et évolution du droit, D., 19954, Chron., 299.
The Problem of Reproductive Cloning
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Without any doubts this position poses a possible limit to scientific initiatives. As was put in the recent French Rapport au Premier Ministre: „in the hands of a legislator or a judge“ the principle of precaution „can be the best as well as the worst of solutions: the best when it succeeds in offering solutions really apt to ameliorate the safety of the people; the worst when it performs as a pillory that prevents any flexibility, discouraging any initiatives for innovation and progress“.40
3. The principle of the best interest of the child should correct, in its actual application, the unlimited freedom that, according to a libertarian conception, could legitimately reach licentiousness, giving freedom itself a „non-desirable reputation“;41 it could change, in other words, reproductive freedom from „freedom for“ into „freedom to“, thereby installing a social control of its exercise. We like to refer to the example of the English Human Fertilisation and Embryology Act 1990 according to which nothing is prohibited a priori, but everything is subject to selective scrutiny preventing health care providers from offering „a woman … treatment services unless account has been taken of the welfare of any child who may be born as a result of the treatment (including the need of that child for a father), and of any other child who may be affected by the birth“ [sec. 13 (5)]. The suggested use of the criterion of the best interest of the child would reduce the distance between „libertarian“ models and „prohibitionist“ ones. By doing so, both models would contain a preventive check of lawfulness that would be performed by the rule-makers in the latter and by the competent agents of a case by case approach in the former.
VII. Through all these concepts shines some sort of a super-principle that might be described as the „responsibility principle“. This is the still relevant lesson of Hans Jonas, who invokes „a new kind of humility – a humility that, unlike any previous one, is not due to the narrowness but to the excess of our capabilities, that is the prominence of our ability to act on our ability to forecast, to evaluate and to judge“.42w
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Ph. Kourilsky, G. Viney, Le principe de précaution. Rapport au Premier Ministre, Paris, 2000, 213 f. R. C. L. Moffat, op. cit., 603. H. Jonas, op. cit., 60 f.
Medical Misadventure
Petra Butler* Ein Beitrag für die Festschrift zu Ehren des achtzigsten Geburtstags von Herrn Professor Deutsch kann für mich nur von “medical misadventure” im neuseeländischen “accident compensation scheme” handeln. Professor Deutsch hat selber ein Interesse am neuseeländischen accident compensation scheme, insbesondere an der Behandlung des medical misadventure, und hat mehrere Beiträge zu diesem Thema veröffentlicht.1 Als Professor Deutsch mir die Behandlung des medical misadventure im neuseeländischen Recht als Doktorarbeitsthema vorschlug,2 setzte er eine Kette von Ereignissen in Bewegung, die mein Leben maßgeblich bestimmt haben. Das von ihm vorgeschlagene Thema brachte mich mit einem DAAD Stipendium nach Neuseeland, wo ich eine zweite Heimat gefunden habe. Der folgende Beitrag beschäftigt sich daher mit der Entwicklung des medical misadventure von den Anfängen des accident compensation schemes bis zum Jahr 2008.
I. Einführung Das accident compensation scheme (“Scheme”) trat in Neuseeland im Jahr 1974 in Kraft und sah ein staatliches Entschädigungssystem für personal injury by accident bei gleichzeitigem Ausschluss einer Klagemöglichkeit aus dem common law vor. Damit war zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte ein umfassendes, öffentlich-rechtliches Entschädigungssystem für alle personal injury by accident in
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Dr jur. Petra Butler LLM(VUW), Senior Lecturer, Associate-Director New Zealand Centre for Public Law, Victoria University of Wellington. Mein herzlicher Dank gilt Nick Swallow, der maßgeblich an der Literaturrecherche beteiligt war. Z.B. Deutsch, Erwin, Kunstfehler und medizinischer Behandlungsunfall in Neuseeland, VersR 1980, 201. Butler, Petra, Medical Misadventure im neuseeländischen Accident Compensation Scheme (Lang, Frankfurt a.M., 1999).
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Kraft, das unabhängig von einem Verschulden Entschädigung gewährt.3 Dem Scheme lagen folgende Prinzipien und Ziele zu Grunde:4 a) Community responsibility: Für die Entschädigung von Unfallopfern besteht eine gemeinschaftliche Verantwortung, da jeder zum statistisch unvermeidlichen Zufallsopfer einer notwendigen oder aber sozial akzeptierten Tätigkeit werden kann. Der Staat hat dafür Sorge zu tragen, Opfern von Personenschäden zu Hilfe zu kommen. Dahinter steht der Gedanke der “Sozialversicherung”, im Gegensatz zur Sozialhilfe. b) Comprehensive entitlement: Das empfohlene Entschädigungssystem behandelt alle personal injury by accident gleich, da eine Unterscheidung danach, ob sich der accident am Arbeitsplatz, auf der Strasse, im Haushalt oder auf dem Sportplatz ereignet, und ob es sich bei dem Opfer um einen Arbeitnehmer oder um einen Rentner handelt, nicht gerechtfertigt ist. c) Complete rehabilitation: Es besteht die Verpflichtung der Gemeinschaft und damit des Staates, Unfallopfer bestmöglich wieder in das Gemeinschaftsleben, einschließlich des Arbeitsprozesses, einzugliedern. d) Real compensation: Das Unfallopfer soll vollständigen Ersatz der aus der medizinischen Heilbehandlung entstehenden Kosten erhalten. Weiterhin sind die Mittel bereitzustellen, die notwendig sind, um die unfallbedingte Erwerbsunfähigkeit der unfallgeschädigten Person in materieller Hinsicht auszugleichen. Dauerhafte körperliche Behinderungen sollen finanziell ausgeglichen werden, ohne dass dabei die weitere Erwerbsfähigkeit anzurechnen ist. e) Administrative efficiency: Ein Vorzug des vorgeschlagenen Entschädigungssystems soll in einem effizienten Verwaltungsaufbau und Verwaltungshandeln bestehen. Über die nächsten Jahrzehnte hat das Scheme zum Teil dramatische Veränderungen erfahren, ist aber in seinem Kern erhalten geblieben. Ursache für die Gesetzesänderungen, die das Scheme in die unterschiedlichsten Richtungen zog, waren in der Regel Regierungswechsel und die damit verbundenen unterschiedlichen Ansichten, wie viel und in welcher Form der Staat Verantwortung für die Unfälle seiner Bürger tragen sollte.5 So wurde zum Beispiel im Jahre 1999 die Versiche3
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Siehe hinsichtlich einer umfassenden Darstellung der noch heute geltenden Grundzüge des schemes: Butler, Petra, Medical Misadventure im neuseeländischen Accident Compensation Scheme (Lang, Frankfurt aM, 1999) 43ff. Report of the Royal Commission of Inquiry into Compensation for Personal Injury in New Zealand (Woodhouse-Report) (Wellington, 1967) 39, 40. Siehe Oliphant, Ken, Beyond Misadventure: Compensation for Medical Injuries in New Zealand, Med Law Rev 2007, 357.
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rung von Arbeitsunfällen an Privatversicherer abgegeben. Mit einem Regierungswechsel wurde diese Regelung jedoch ein Jahr später wieder abgeschafft.6 Im Folgenden wird die Entwicklung des accident compensation scheme im Hinblick auf den medizinischen Kunstfehler und Behandlungsunfall, dem medical misadventure, dargestellt. Die letzte Gesetzesänderung im Jahre 2005 ist dabei von besonderem Interesse, da die neue Definition von medical misadventure das scheme hinsichtlich des medical misadventure wieder näher zur ursprünglichen Idee des Schemes, die Verantwortung der Gemeinschaft für einen medizinischen Unfall, der dem Einzelnen widerfährt, zurückführt.
II. Hintergrund Medical misadventure innerhalb des accident compensation scheme war von Anfang an ein viel diskutierter Anspruchsgrund. Die Abgrenzung des Begriffs Unfalls verursachte im Bereich von medical misadventure besondere Schwierigkeiten und führte zum Teil zu Aufsehen erregenden Entscheidungen.7 Auch wurden insbesondere medical misadventure Fälle für die Kostenexplosion des Scheme Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre verantwortlich gemacht. Dies führte 1992 zu einer detaillierten Regelung der Anspruchsvoraussetzungen für die Entschädigung von medical misadventure, die das Verschuldenserfordernis zum Kern der Anspruchsgewährung machte. Im Jahre 2005, in einer Zeit, in der Neuseeland sich in einem wirtschaftlichen Aufschwung befand, ersetzte die Labour Regierung die Anspruchsvoraussetzung des medical misadventure vom Jahre 1992 mit der Voraussetzung der “treatment injury”, die bewusst die Voraussetzung des Verschuldens vermeidet. In Teil 3 dieses Aufsatzes wird diskutiert, ob auch andere Probleme, die hinsichtlich der medical misadventure-Voraussetzung aufgetreten sind, durch die neue Voraussetzung vermieden werden.
1. Die Anfänge des Medical Misadventure 1974-1992 In der Definition der personal injury by accident waren medical, surgical, dental and first aid misadventure seit 1974 eingeschlossen. Der Begriff medical misadventure selbst war dem neuseeländischen Recht ursprünglich unbekannt8 und 6
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Siehe für eine umfassendere Diskussion: Todd, Stephen, Privatization of Accident Compensation: Policy and Politics in New Zealand (2000) 39 Washburn LJ 404. Die Gesetzesbezeichnung hat sich in den Jahren geändert. Der ursprüngliche Accident Compensation Act (1972) (ACA 1972) wurde im Jahre 1982 konsolidiert und als Accident Compensation Act 1982 (ACA 1982) bekannt. Nach der Gesetzesnovelle 1991 wurde das Gesetz in Accident Rehabilitation, Compensation and Insurance Act 1992 (ARCIA) unbenannt. Seit 2001 heißt das Gesetz nunmehr Injury Prevention Rehabilitation Compensation Act (IPRCA 2001). Der Begriff medical misadventure ist auf die englische Entscheidung Roe v Ministry of Health [1954] 2 All ER 131 (CA) zurückzuführen, wo er zur Abgrenzung von medical negligence zum ersten Mal gebraucht wurde. Der Begriff medical misadventure fand
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ersetzte innerhalb des Begriffs personal injury by accident den Begriff des “accident”.9 Geprägt ist die Rechtsprechung in den ersten 18 Jahren des accident compensation schemes hinsichtlich von medical misadventure von den Ablösungsund Abgrenzungsschwierigkeiten zum negligence-Tatbestand des common law und deren Kriterien wie standard of care and foreseeability. Unter dem accident compensation scheme bestanden von Anfang an keine Zweifel, dass der Begriff des medical misadventure Fälle von vorsätzlichem Handeln10 und medical negligence umfasste, soweit es sich beim letzteren um ein positives Tun handelte.11 Größere Schwierigkeiten bereitete die Abgrenzung des medical misadventure vom “disease“, da diseases von Leistungen gemäß des Accident Compensation Act 1982 (ACA 1982) ausgeschlossen waren.12 Die Schwierigkeit bestand im Besonderen in Fällen, in denen nicht ein positives Tun, sondern ein Unterlassen zu einer personal injury geführt hatte. In diesen Fällen ließ sich argumentieren, dass der Patient an der zu Grunde liegenden Krankheit und nicht an der unterlassenen Behandlung gestorben war.13 So war der Anspruch einer Witwe auf Leistungen nach dem Accident Compensation Act 1972 (ACA 1972) verneint worden, deren Ehemann an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben war, weil rechtzeitige ärztliche Hilfe nicht erfolgte.14 Der Definitionsansatz, den die ACC Appeal Authority ihrer Entscheidung zu Grunde legte, lehnte sich stark an die common law Konzepte von standard of care und foreseeability an.15 In vielen Fällen wurden diese common law Konzepte entscheidungserheblich,16 was dem erklärten Ziel des accident compensation scheme nach einer verschuldensunabhängigen Haftung zuwiderlief. Erst 1984 wurde erstmals ein Anspruch auf Leistungen anerkannt, dessen Entstehungsgrund einem medizinischen Unterlassen zuzuschreiben war.17 Diese High Court Entscheidung nahm zudem Abstand von den common law Konzepten standard of care und foreseeability, was zu einer deutlichen Ausweitung des medical misadventure Begriffs und damit der An-
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sich auch im Australian National Compensation Bill 1974, der jedoch niemals Gesetz wurde. Siehe hierzu Palmer, Geoffrey, Accident Compensation in New Zealand: The First Two Years in: Palmer, Geoffrey (Hrsg) The Welfare State Today (Wellington, 1977) 165, 203. Blair, AP, Accident Compensation in New Zealand (2.Aufl, Wellington, 1983) 76. G v Auckland Hospital Board [1976] 1 NZLR 638. Vennell, Margaret, Medical Negligence and the Effect of the New Zealand Accident Compensation Scheme, ZVglWiss 1981, 228, 230. ACA 1982, s 2(b)(ii). Re Collier (1976) 1 NZAR 130, 133. Re E [1978] ACC Reports- Juli 44, 46. Re E [1978] ACC Reports- Juli 44 basiert auf der Entscheidung von Blair J in Re Collier (1976) 1 NZAR 130 und entwickelte den Begriff des medical misadventure dahingehend, das er positives Tun umfasse, das auf einen medical error or medical mishap zurückzuführen sei. Diese Entscheidungen wurden vom High Court in ACC v Auckland Hospital Board [1980] 2 NZLR 748 bestätigt. Siehe zu einer ausführlichen Diskussion: Butler, Petra, Medical Misadventure im neuseeländischen Accident Compensation Scheme (Lang, Frankfurt aM, 1999) 84 ff. Collins, David, Medical Law in New Zealand (Wellington, 1992) 148. Re Carroll (1984) 4 NZAR 335, 338, 339 (HC).
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spruchsberechtigung führte. In einer weiteren High Court Entscheidung wurde der Anwendungsbereich weiter ausgedehnt, indem die Voraussetzung eines sich unerwartet verwirklichenden Risikos nicht mehr an das Erfordernis der Seltenheit geknüpft wurde.18 Vor dem Inkrafttreten des Accident Rehabilitation, Compensation and Insurance Act 1992 (ARCIA) umfasste medical misadventure daher weit mehr als medical negligence. Patienten, die nach allen Regeln der ärztlichen Kunst behandelt worden waren, aber dennoch im Rahmen der Behandlung geschädigt wurden, erfüllten die Voraussetzungen für medical misadventure und erhielten Leistungen aus dem accident compensation scheme. Wie bereits angedeutet, haben Fälle des medical misadventure die Gerichte und Literatur im Verhältnis zu ihrer Häufigkeit und der ausgezahlten Entschädigungsleistungen übergebührend beschäftigt. Somit war im Vergleich zum tort law nur wenig gewonnen, zumal lange die Konzepte des tort law im Hintergrund immer eine Rolle spielten.
2. Die Definition von Medical Misadventure 1992-2005 Die 1990 gewählte konservative Regierung fand, dass die Entwicklung der medical misadventure Rechtsprechung in die insgesamt in der Rechtsprechung vorzuliegende großzügige Betrachtungsweise und Ausdehnung der Anspruchsberechtigung von personal injury by accident passte.19 Seit Mitte der 80ziger Jahre hatte das accident compensation scheme einen dramatischen Kostenanstieg erfahren; die immer großzügigere Auslegung der Anspruchsvoraussetzungen war als eine der Ursachen identifiziert worden.20 In einem Strategiepapier, das der Minister für ACC ein Jahr nach Amtsantritt veröffentlichte, führte er aus: 21 the boundaries of the scheme have been extended over the years to cover situations which most people would have difficulty in reconciling with the common view of what an accident is.
Der Minister war besonders besorgt über die fehlende gesetzliche Definition von medical misadventure. Einen Begriff, den der Minister als besonders offen für
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Viggars v ACC (1986) 6 NZAR 235 (HC). Zum Beispiel, die Entscheidungen des Court of Appeal in ACC v E [1992] 2 NZLR 426 (psychiatrischer Break down nach einem 4 Tage währenden Management Kurs) und ACC v Mitchell [1992] 2 NZLR 436 (plötzlicher Kindstod). Wie Oliphant jedoch bemerkt, ist nicht der Anstieg von Ansprüchen die Hauptursache der erheblichen Finanzkrise des schemes, sondern dessen fehlende finanzielle Absicherung, Oliphant Ken, Beyond Misadventure: Compensation for Medical Injuries in New Zealand, Med Law Rev 2007, 357, 359. Birch, WF, Accident Compensation: A Fairer Scheme (Office of the Minister of Labour, Wellington, 1991) 31. Es sollte beachtet werden, dass das Strategiepapier wurde ein Jahr vor den Court of Appeal Entscheidungen veröffentlicht.
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eine Vielzahl unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten hielt.22 Die konservative Regierung entschied das accident compensation scheme zu überarbeiten und vor allem “den Wildwuchs zu beschneiden”, um der Finanzkrise Herr zu werden. Das Kernstück der Reform war, den Zentralbegriff der “personal injury by accident” durch eine Vielzahl von Einzeldefinitionen zu ersetzen. Hinsichtlich von medical misadventure bedeutete dies eine detaillierte Definition von medical misadventure (der Paragraph umfasst zehn Absätze) und die Einrichtung einer speziellen zentralen Medical Misadventure Unit (MMU), die nur für die Abwicklung der medical misadventure Fälle zuständig war. Auch wurde ein Beratungsgremium von Sachverständigungen eingerichtet, das der Corporation bei der Entscheidungsfindung zur Seite stehen sollte. Nach s 5(1) ARCIA hatte ein Patient einen Anspruch auf Entschädigung nach dem accident compensation scheme auf Grund von medical misadventure, wenn der Patient entweder einen medical error oder einen medical mishap erlitten hatte. Diese wurden wie folgt definiert:
means the failure of a registered health professional to observe a standard of care and skill reasonably expected in the circumstances. It is not medical error solely because desired results are not achieved or because subsequent events show that different decisions might have produced better results. Medical mishap means an adverse consequence of treatment by a registered health professional, properly given, if (a) the likelihood of the adverse consequence of the treatment occurring is rare; and (b) the adverse consequence of the treatment is severe.
Die Umschreibung “standard of care and skill reasonably to be expected in the circumstances” in der medical error Definition ist nichts anderes als die Bezugnahme auf die Voraussetzungen der negligence Klage. War das Verhalten eines Dienstleistenden im medizinischen Bereich demzufolge als “negligent” zu bezeichnen, war ein Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem ARCIA stets gegeben, sofern es eine personal injury zur Folge hatte. Die Definition traf keine Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen (“in the circumstances”). Medical mishap umfasste alle Fälle, in denen das Verhalten eines registered health professional, das nicht fahrlässig war, zu einer personal injury führte, wie zum Beispiel die (unterlassene) Einholung des informed consent, die unterlassene Datenerfassung und Diagnose, sowie der unterlassene allgemeine Rat.23 Die Worte “properly given” machten jedoch deutlich, dass nur die eigentliche Behandlung umfasst wurde und Unterlassensfälle ausgeschlossen waren. Das bedeutete, dass das Unterlassen einer Behandlung oder eine Fehldiagnose nur dann zu Entschädigungsleistungen gemäß dem ARCIA berechtigten, wenn dies fahrlässig verursacht
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Birch, WF, Accident Compensation: A Fairer Scheme (Office of the Minister of Labour, Wellington, 1991) 31. Vergleiche: New Zealand Law Society Seminar, Accident Compensation-The New Legislation (Auckland 1992) 28.
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wurden, da ein Unterlassen nicht unter medical mishap subsumiert werden konnte.24 Gemäß s 5(2) ARCIA durfte die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer ungünstigen Folge nicht größer als 1% sein. Dies bedeutete, dass eine höhere Wahrscheinlichkeit zum Ausschluss von Entschädigungsleistungen führte. Der 1% Schwelle lag kein rationales Motiv zugrunde, was sich anhand der Gesetzgebungsgeschichte ablesen lässt. War in einem ursprünglichen Vorentwurf noch von einer Wahrscheinlichkeit in Höhe von 0,05% die Rede, so fand sich im Accident Rehabilitation and Compensation Insurance Bill die Bezugnahme auf 0,1%, aus der schließlich in der endgültigen Fassung des Gesetzes die Wahrscheinlichkeit von 1% wurde.25 Zusammenfassend war die erste gesetzliche Regelung von medical misadventure ein Rückfall auf die Definition von 1978 in Re E. 26 Negligence spielte damit wieder die Hauptrolle bei der Bestimmung, ob die Voraussetzungen für medical misadventure gemäß dem ARCIA 1992 erfüllt waren. Dadurch, dass nonnegligent verursachte Fehldiagnosen oder unterlassene Behandlungen nicht mehr in den Schutzbereich des accident compensation schemes fielen, war ein Grossteil der medizinischen Versehen nicht mehr durch Entschädigungsleistungen gedeckt. Da die Schwere der injury nur bei einem kleinen Teil der non-negligent Fälle beweisbar war, wurde der Schutzbereich des ARCIA noch weiter eingeengt. Das bedeutete, dass im Falle von medical misadventure das Gesetz nur einen Ersatz für das tort law darstellte. Fälle, in denen negligence nicht nachgewiesen werden konnten, genügten nur noch in geringer Zahl den Voraussetzungen für medical misadventure. Die Gesetzesnovelle von 1992 hatte sich damit, zumindest hinsichtlich von medical misadventure, von der eigentlichen Idee des accident compensation schemes, ein verschuldensunabhängiges Entschädigungssystem zu schaffen und Unfälle jeder Art als Gemeinschaftsverantwortung zu sehen, weit entfernt. Eine statistische Untersuchung belegt, dass unter dem ARCIA tatsächlich die Mehrheit der Anträge auf Leistungen nach dem accident compensation scheme auf Grund von medical misadventure- von der Accident Compensation Corporation abgelehnt wurden. Die Ablehnungsrate nahm sogar zu: wurden in der Mitte der 90ziger Jahre 54% der Anträge abgelehnt, waren es im Geschäftsjahr 2004-2005 über 70%.27 Von den angenommenen Anträgen wurden 86% als medical mishap klassifiziert und nur 14% als medical error.28 Wenn diese Zahlen im Verhältnis zu 24
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Siehe ausführlich: Butler, Petra, Medical Misadventure im neuseeländischen Accident Compensation Scheme (Lang, Frankfurt aM, 1999) 105ff. Siehe hinsichtlich des Inhalts der weiteren Absätze des s 5 ARCIA und ihre Auswirkung auf den Anspruch aus medical misadventure: Butler, Petra, Medical Misadventure im neuseeländischen Accident Compensation Scheme (Lang, Frankfurt aM, 1999) 108115, 119ff. Re E [1978] ACC Reports- Juli 44, 46, 47. Accident Compensation Corporation, ACC Injury Statistics 2006 http://www.acc.co.nz (last accessed 30.08.2008). Accident Compensation Corporation, ACC Injury Statistics 2006 http://www.acc.co.nz (last accessed 30.08.2008). Helen Cull in Review of Processes Concerning Adverse Medical Events (Ministry of Health, Wellington, 2001) 67, 68 nimmt, hinsichtlich früherer Statistiken an, die aehnliche Zahlen auswiesen, dass ein Teil der medical mishaps
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Petra Butler
den allgemeinen personal injury by accident Anträgen gesetzt werden, machten medical misadventure Anträge nur einen geringfügigen Teil der Anträge aus. Oliphant kalkuliert, dass medical misadventure Anträge lediglich einen Anteil von 0,14% aller Anträge und nur einen Anteil von 0,05% aller akzeptierten Anträge stellten. Die Accident Compensation Corporation lehnte proportional mehr medical misadventure Anträge ab, als in allen anderen Antragsgruppen.29 Obwohl jedoch die Anzahl der akzeptierten medical misadventure Anträge relative gering war, waren die Kosten, die sie verursachten, überproportional hoch. Die durchschnittlichen Kosten für einen medical misadventure Antrag waren viermal so hoch wie für einen anderen durchschnittlichen personal injury by accident Antrag.30 Da medical misadventure Statistiken vor 1992 fehlen, kann der genaue Effekt der 1992-Reformen auf medical misadventure Anträge nicht belegt werden. Jedoch lässt ein Blick auf die Statistik der abgelehnten Anträge der Jahre 1992-2001 annehmen, dass die neue medical misadventure Definition für den Rückgang der Annahme von medical misadventure Anträgen verantwortlich war.31
3. Die Gesetzesänderung von 2005 Die gesetzliche Definition von medical misadventure in s 5 ARCIA führte nicht dazu, dass der medical misadventure weniger Aufmerksamkeit erhielt.32 Im Jahre 2002 setzte der Minister für ACC eine inter-ministerielle Kommission ein, die s 5 ARCIA einer Prüfung unterziehen sollte. Die Kommission fand, dass die Kriterien des medical mishap unklar und willkürlich waren. Anträge von Patienten mit erheblichen Verletzungen, die durch eine medizinische Behandlung verursacht worden waren, waren abgelehnt worden, da die Verletzung nicht selten genug war und andere wiederum, weil zwar die Verletzung selten aber nicht schwer genug war. Besorgnis erregte auch das Verfahren, wie die Accident Compensation Corporation entschied, ob es sich um einen medical misadventure handelte. Zudem war medical error, der einzige Tatbestand im ganzen accident compensation scheme, der ein Verschulden des Verursachers voraussetzte. Dies hatte die negative Auswirkung, dass sich eine “blaming culture” entwickelte, die auch noch dadurch verstärkt wurde, dass die Corporation seit der Gesetzesnovelle von 1992 dazu verpflichtet war, alle Fälle von medical error an die Ärztekammer zu melden. Das
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in Wirklichkeit Fälle von medical error waren. 64% der akzeptierten Anträge waren Anträge von Frauen zwischen 25 und 54 Jahren und betrafen Verletzungen der Reproduktionsorgane (Accident Compensation Corporation, ACC Injury Statistics 2006 http://www.acc.co.nz (last accessed 30.08.2008) Oliphant Ken, Beyond Misadventure: Compensation for Medical Injuries in New Zealand, Med Law Rev 2007, 357, 361. Oliphant Ken, Beyond Misadventure: Compensation for Medical Injuries in New Zealand, Med Law Rev 2007, 357, 362. Oliphant Ken, Beyond Misadventure: Compensation for Medical Injuries in New Zealand, Med Law Rev 2007, 357, 363. Siehe zum Beispiel, Ferguson, Judith, Medical Misadventure under Accident Compensation: Diagnosis and Treatment of a Problem?, 2003 NZ Law Rev 485.
Medical Misadventure
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Ziel des accident compensation schemes von Aufklärung und Erziehung wurde daher gerade im wichtigen Bereich der medizinischen Behandlung nicht erreicht, sondern im Gegenteil ihm wurde entgegengewirkt. 33 Die Kommission fand, dass dadurch die Sicherheit der Patienten gefährdet wurde, da eine Verbesserung der medizinischen Behandlung oft nicht erfolgte. Zudem verzögerte sich die Bearbeitung der medical error Anträge im Verhältnis zu anderen Anträgen auf Grund des fehlenden Willens der Mitarbeit auf Seiten des behandelnden Arztes und des Krankenhauses. Dies wiederum führte dazu, dass Patienten die Leistungen des accident compensation schemes erst verspätet in Anspruch nehmen konnten und oft wertvolle Zeit hinsichtlich von Rehabilitationsmaßnahmen verloren ging. Zudem hatte die Öffentlichkeit unrealistische Erwartungen an die Corporation als Aufsichtsbehörde, welche Ärzte und Krankenhäuser zur Verantwortung ziehen konnte. Im Jahre 2003 veröffentlichte das Ministerium ein Konsultationspapier, in dem drei verschiedene Möglichkeiten für die Reform des medical misadventure vorgestellt wurden: (a) Section 5 ARCIA zu belassen und nur die Definitionen für medical error und medical mishap zu korrigieren, um die erfassten Probleme zu eliminieren. (b) Section 5 ARCIA mit einem Anspruch auf die Entschädigung für “preventable and/or unendurable injuries” zu ersetzen. (c) Section 5 ARCIA mit einem Anspruch auf die Entschädigung für “unintended injury in the treatment process” zu ersetzen.
Die meiste Zustimmung erhielt Vorschlag c. Der größte Vorteil dieses neuen Definitionsansatzes war (der bald als Entschädigung für “treatment injury” bekannt wurde), dass das Verschulden des behandelnden Arztes oder ein Systemverschulden des Krankenhauses überhaupt keine Rolle spielten, um Entschädigungsleistungen für einen medizinischen Behandlungsunfall zu erhalten. Damit würde eine Rückkehr zu den Woodhouse- Prinzipien erfolgen.34 Die Entschädigung würde für den Patienten schneller und unkomplizierter. Auf der anderen Seite würde die Kategorie der “treatment injury” nichts über die Ursache der Verletzung aussagen, was Verbesserungen im Gesundheitssektor behindern würde. Seit dem 1. Juli 2005 erhält der Patient Entschädigung nach dem accident compensation scheme, wenn35
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Accident Compensation Corporation/Department of Labour, Review of ACC Medical Misadventure: Consultation Document (Wellington, 2003) 11. Oliphant Ken, Beyond Misadventure: Compensation for Medical Injuries in New Zealand, Med Law Rev 2007, 357, 367. Section 32(1) IPRCA.
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Petra Butler Treatment injury means personal injury that is (a) suffered by a person seeking treatment from 1 or more registered health professionals; or receiving treatment from, or at the direction of, 1 or more registered health professionals; or referred to in subsection (7)36; and (b) caused by treatment; and (c) not a necessary part, or ordinary consequence, of the treatment, taking into account all the circumstances of the treatment, including- the person’s underlying health condition at the time of the treatment the clinical knowledge at the time of the treatment.
Das Gesetz gibt eine Beispielsliste, was “treatment” beinhaltet: die Diagnose, die Entscheidung, welche Behandlung erfolgen soll, das Unterlassen einer Behandlung, das Geräteversagen und die Informationen, die für die Einwilligung zur Behandlung nötig sind.37 Sich der weiten Anwendung und der früheren Unsicherheiten der Abgrenzung des medical misadventure und Ausdehnung der Anspruchsvoraussetzungen bewusst, hat der Gesetzgeber in s 32(2) IPRCA ausdrücklich geregelt, wann keine treatment injury vorliegt: Treatment injury does not include the following kinds of personal injury: (a) personal injury that is wholly or substantially caused by a person’s underlying health condition; (b) personal injury that is solely attributed to a resource allocation decision; (c) personal injury that is a result of a person unreasonably withholding or delaying their consent to undergo treatment.
Die erste Ausnahme ist die wichtigste, denn sie verleiht dem Grundsatz der neuen Regelung Gewicht: das Kernstück ist die Behandlung und nicht das Befinden des Patienten zur Zeit der Behandlung.38 Jedoch schließt nicht jede “Beteiligung” des Befindens des Patienten zur Zeit der Behandlung einen Anspruch aus. Die Verletzung muss “wholly or substantially” durch das Befinden des Patienten verursacht worden sein. Damit erkennt der Gesetzgeber an, dass oft eine Kombination von Behandlung und Befinden zu einer Verletzung führt. Die zweite Ausnahme ist eine Vergesetzlichung der Rechtsprechung zum neuseeländischen Bill of Rights Act 1990. Im Fall Shortland v Northland Health Limited hatte der Court of Appeal entschieden, dass eine Warteliste und Entscheidungen basierend auf eingeschränkten Ressourcen mit dem Bill of Rights Act 1990 vereinbar seien.39 Daraus lässt sich ableiten, dass die gerechtfertigte Ressourceentscheidung nicht zu einem Anspruch auf Entschädigung führen muss. 36
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Absatz 7:”where a person suffers an infection that is a treatment injury, cover for that injury extends to third parties to whom he or she passes the infection.” Section 32(3) IPRCA. Siehe auch Ruth Dyson, Medical Misadventure Review-Conclusions and Recommendations, Cabinet Social Development Committee (Office of the Minister fro ACC, Wellington, 2004) para 33. In dem Fall ging es um die Ablehnung des Patienten für das Dialyseprogramm. Auf Grund der nur eingeschränkt zur Verfügung stehenden Dialysemöglichkeiten (Geräte und Personal) hatte das zuständige Krankenhaus Kriterien erarbeitet, welche Patienten Anspruch auf Dialyse hatten. Mr Williams erfüllte die Kriterien nicht. Er klagte, da durch die Entscheidung des Krankenhauses sein Recht auf Leben verletzt sei. [1998] 1 NZLR 433 (CA).
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Gerade in einem Land, das der Fläche Westdeutschlands entspricht aber nur vier Millionen Einwohner hat, sind Ressourcenentscheidungen notwendig und an der Tagesordnung. Würde eine Ressourceentscheidung zu einem Anspruch unter dem accident compensation scheme führen, würden Kosten verursacht, die wiederum unnötige Ressourcen verbrauchen und Ressourceentscheidungen unsinnig machen würden. Die Kontrolle von Ressourceentscheidungen erfolgt über den Verwaltungsrechtsweg, wo die Möglichkeit der Abwägung der verschiedenen Rechtspositionen erfolgen kann. Die dritte Ausnahme ist etwas überraschend, da Verschulden weder auf Verursacher- noch auf Verletztenseite eine Rolle spielen sollte. 40 Es ist anzunehmen, dass diese erst sehr spät in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachte Ausnahme auf Einzelfällen beruht, die der Corporation als Problem aufgefallen sind. Inwieweit die neueste Regelung des Kunstfehlers und des medizinischen Behandlungsunfalls erfolgreich war, wird im Folgenden Teil untersucht.
III. Ausblick 1. Gesetzesanwendung Trotz der umfangreichen Regelung und des Ausnahmekatalogs bleiben Unsicherheiten hinsichtlich der Anspruchsberechtigung. Section 31(1)(c) IPRCA schließt einen Anspruch aus, wenn die Verletzung ein notwendiger Teil oder eine zu erwartende Konsequenz der Behandlung ist (“necessary part, or ordinary consequence, of the treatment”). Da “ordinary” “necessary” mit einschließt, stellt sich die Frage, wo auf dem Spektrum der Wahrscheinlichkeit “ordinary” liegt. Wird dieser Ausschluss zu einer erneuten Prozentdebatte führen? Oder werden die Gerichte am Ende auf die im alten s 5 ARCIA 1% für medical mishap zurückgreifen? Oder werden die Gerichte neue Kriterien erarbeiten? Dies bleibt abzuwarten. Es wäre allerdings zu wünschen, dass im Rahmen der Woodhouse-Prinzipien ein Anspruchsausschluss nur dann erfolgt, wenn die Verletzung eine wirkliche “Gang und Gäbe”-Konsequenz der Behandlung ist, um möglichst vielen Patienten einen Anspruch zu gewähren. Wie bereits angedeutet, ist die Ausnahme in s 32(2)(a) IPRCA, die einen Anspruch ausschließt, wenn die Verletzung “wholly or substantially” durch den bereits vorhandenen Gesundheitszustand des Patienten verursacht wird, eine weitere problematische Regelung. Die qualifizierenden Adjektive “wholly or substantially” waren erst spät im Gesetzgebungsprozess hinzugefügt worden, um den Anwendungsbereich der Ausnahme einzuschränken. Jedoch ist deren Bedeutung unklar. Eine mögliche Interpretation ist, dass die Ausnahme immer dann Anwendung findet, wenn der zugrunde liegende Gesundheitszustand die Hauptursache 40
Mitverschulden schmälert die Anspruchsberechtigung nach dem IPRCA nur unter sehr engen Voraussetzungen, nämlich im Falle eines Selbstmordversuches und bei Vorliegen eines Mord verursacht von demjenigen, der die finanzielle Fürsorge trägt (ss 119, 120 IPRCA 2001).
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für die Verletzung war. Jedoch würde diese enge Auslegung dazu führen, dass viele Fälle, die früher von medical misadventure gedeckt waren und die offensichtlich, von der politischen Debatte und der Debatte im Parlament aus zu urteilen, in den Schutzbereich des schemes fallen sollten, nicht mehr unter das accident compensation scheme fallen würden. So würden zum Beispiel Fälle von seltenen Nebenwirkungen zur Behandlung von der Ausnahme gedeckt sein und nicht mehr unter das scheme fallen. Eine andere Möglichkeit der Auslegung ist problematisch, aber wird dem Geist des schemes gerechter. “Substantially” sollte so ausgelegt werden, dass eine Untersuchung hinsichtlich des Einfluss des bestehenden Gesundheitszustands auf die Verletzung im Verhältnis zum Einfluss der Behandlung auf die Verletzung erfolgen muss. Solche Untersuchungen sind dem common law nicht unbekannt und werden im Hinblick auf Mitverschulden und dem anteiligen Verschulden bei mehreren Verursachern bereits durchgeführt.41 Es würde bedeuten, dass eine Patientin mit einer Herzkrankheit, die einen Herzinfarkt auf Grund einer Behandlung erleidet, die normalerweise nicht ein Herzinfarktrisiko beinhaltet, vom accident compensation scheme ausgeschlossen wäre, da der Herzinfarkt eine “normalere” Folge ihre Herzkrankheit ist. Obwohl diese Auslegung der ersteren vorzuziehen ist, wird auch diese Auslegung den ursprünglichen Zielen des Woodhouse Report nicht gerecht, der eine Entschädigung für unverschuldete Unfälle vorsah. Für den Patienten ist es auch der Fall, in dem sich ein Risiko eines bestehenden Gesundheitszustands während einer Behandlung verwirklicht, als Unfall anzusehen. Auch ist es wahrscheinlich, dass die Ausnahme zu einem Teil eine Verschuldensuntersuchung nötig machen wird. Hat der Patient eine seltene Krankheit, die nicht diagnostiziert wird, und sollte sich sein Gesundheitszustand verschlechtern, dann wird der Sachverhalt unter die Ausnahme fallen. Beruht die Nicht-Diagnose der seltenen Krankheit allerdings auf Fahrlässigkeit und wäre eine Verletzung bei einer Behandlung auf Grund richtiger Diagnose nicht eingetreten, dann wäre die Verletzung auf die (Nicht)Behandlung zurückzuführen und ein Anspruch unter dem accident compensation scheme würde besteht. Es ist zu befürchten, dass hinsichtlich des Unterlassens einer medizinischen Behandlung das Scheme wieder auf den Stand der Entscheidung von 1978 in Re E zurückfällt, die ein Unterlassen als anspruchsbegründendes Handeln nicht anerkannte.42 Seit den Anfängen des accident compensation schemes musste ein Ursachenzusammenhang zwischen der personal injury und dem accident bestehen und auch s 32(1) IPRCA macht deutlich, dass die Behandlung kausal für die Verletzung des Patienten sein muss. Da weder der ACA 1982 noch spätere Gesetzesnovellen spezifizierten, wie Kausalität im Zusammenhang mit dem non-fault accident compensation scheme zu verstehen sei, musste grundsätzlich erst einmal auf das common law zurückgegriffen werden. Jedoch spielen Verschuldensüberlegungen in der Kausalität bei negligence durchaus eine Rolle, was dem Sinn des schemes zuwiderläuft. Daher wurde auf den Test zur Feststellung des “remoteness of damage” zurückgegriffen:43
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Siehe Hart, HLA & Honore, T, Causation in the Law (2.Aufl, Oxford, 1985) 233. Re E [1978] ACC Reports- Juli 44, 46. Blair AP, Accident Compensation in New Zealand (2.Aufl, Wellington 1983) 40.
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if it an intervention in the course of affairs which is sufficient to produce the harm without co-operation of the voluntary action of others or abnormal conjunctions of events
Schon früh ist aber entschieden worden, dass, sollte eine personal injury auch ohne den in Frage stehenden accident eingetreten sein – da eine Reserveursache bestand, die zum gleichen Ergebnis geführt hätte- ein Anspruch fraglich gewesen wäre. Erfüllte die Reserveursache nicht die Voraussetzungen eines accident, sondern war ein fortschreitender Prozess, wie zum Beispiel, eine Krankheit, wurde ein Entschädigungsanspruch abgelehnt, da Krankheiten aus dem Schutzbereich des schemes ausgenommen waren und sind.44 Dies stützt die Auslegung der Ausnahme in s 32(2)(a) IPRAC. Es wäre jedoch wünschenswert gewesen, eine klare Regelung hinsichtlich der Kausalität zu treffen.
2. Treatment Injury in der Praxis Bereits 2006, nach nur einem Jahr seit Inkrafttreten des s 32 IPRAC, erklärte die Corporation die Änderung als einen Erfolg. Die Bearbeitungszeit von Anträgen im Bereich des medizinischen Behandlungsunfalls hatte sich von fünf Monaten auf 36 Tage reduziert und das, obwohl die Anzahl der Anträge im Bereich des Behandlungsunfalls stark angestiegen waren.45 Auch die Ablehnungsrate sank erheblich von 71,3% auf 36,5%. Jedoch stiegen die Kosten für medical misadventure/treatment injury um 16,2% im ersten Jahr. Dies war ein geringerer Anstieg als in den zwei vorherigen Jahren.46 Im Vergleich zu den Kosten anderer Unfälle sind die Kosten für medical misadventure/treatment injury sehr hoch. Im Jahr 20052006 waren die Kosten für einen medical misadventure/treatment injury Anspruch dreizehn Mal so hoch wie für einen durchschnittlichen Anspruch. Aber noch im Jahr zuvor waren die Kosten für den einzelnen Anspruch 40mal so hoch gewesen.47 Aus den Statistiken lässt sich ersehen, dass die neue Anspruchsgrundlage der treatment injury zu einem erweiterten Schutzbereich des accident compensation schemes geführt hat. Damit werden hinsichtlich des medizinischen Behandlungsfehlers und Unfalls die Ziele des Woodhouse Reports besser umgesetzt als es in den letzten 13 Jahren zuvor. Anders als dies seit der Gesetzesnovelle von 1992 der Fall war, steht seit 44
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Siehe schon s 2 personal injury (b)(ii) ACA 1982; Re Allport 1 (1977) NZAR 340; Re Dawson (1979) 2 NZAR 31; Giesen, Dieter, International Medical Malpractice (Tübingen 1988) para 1107. ACC News: A Newsletter for Health Care Professionals, issue 93 (August 2006); am 1. Juni 2007 ACC gab an, dass die durchschnittliche Bearbeitungszeit von fünf Monaten auf nur 13 Tage zurückgeging (Oliphant Ken, Beyond Misadventure: Compensation for Medical Injuries in New Zealand, Med Law Rev 2007, 357 fn138). ACC Injury Statistics 2006: 893 medical misadventure/treatment injury Anträge in 2004-2005 zu 2445 in 2005-2006 (das erste Jahr nach Inkrafttreten des s 32 IPRCA). ACC Annual Reports 2004 & 2005 (Wellington 2004, 2005). Im Jahr 2003-2004 waren die Kosten um 24,1% gestiegen und im Jahr 2004-2005 um 25,1%. ACC Annual Report 2006 (Wellington 2006) II.B.2.
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2005 nicht mehr der Einzelne, der die Verletzung “verschuldet” hat, im Vordergrund sondern das System, in dem die Verletzung passiert ist. Statistiken können genutzt werden, um sich auf Fortbildung und Aufklärung zu konzentrieren.48 Die befürchtete Kostenexplosion ist nicht erfolgt. Das ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass sich die meisten Entschädigungsleistungen auf zusätzliche Behandlungen beschränken.
IV. Zusammenfassung Es ist zu begrüßen, dass die Reform 2005 die Begriffe medical error und medical mishap aus dem accident compensation scheme entfernt hat. Der bewusste Versuch, die ursprünglichen Ziele und Prinzipien des Woodhouse Reports umzusetzen, ist anerkennenswert und auch durchaus gelungen. Der neuseeländische Staat hat damit zum Ausdruck gebracht, dass Kunstfehler und medizinische Behandlungsunfälle von der Gemeinschaft getragen werden sollen und nicht ein isoliertes Problem des Einzelnen sind. Die Reform hat die drei Hauptkritikpunkte 49 am medical misadventure Begriff des ARCIA eingeschränkt: (1) lange Dauer der Antragsbearbeitung und hohe compliance Kosten, da die Vertreter der medizinischen Heilberufe eine Mitarbeit an der Aufklärung eher verweigern als aktiv mitzuhelfen. (2) das Fehlen von guten Aufklärungsprogrammen auf Grund fehlender Mitarbeit der Vertreter der medizinischen Heilberufe. (3) unbegründete Klagen, da das accident compensation System auch als Diziplinärorganisation gesehen wurde
Die Abkehr vom Verschuldensbegriff, hinter dem die Idee steht, dass die Ärztin oder der Krankenpfleger nun offen seine Fehler mitteilt, ist damit theoretisch wünschenswert. Jedoch ist es praktisch fragwürdig, ob die Abwendung von der Verschuldensuntersuchung wirklich zu dem gewünschten Erfolg führen wird,50 da immer noch die Möglichkeit eines disziplinarrechtlichen Verfahrens und die Möglichkeit einer Untersuchung unter dem Health and Disability Commissioner’s Act 1994 besteht. Es ist daher weiterhin im Interesse des behandelnden Arztes oder Krankenhauses, ein Verschulden geheim zu halten. Wie genau ein Vertreter der medizinischen Heilberufe oder ein Krankenhaus zur Verantwortung gezogen werden kann, ohne die Verschuldensfrage zu klären, ist offen. Der Vorschlag bei
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Siehe jedoch Howell, B, Medical Misadventure and Accident Compensation in New Zealand: An Incentives-Based Analysis, (2004) 35 VUWLR 857 hinsichtlich der Notwendigkeit Verschulden in einer Form beizubehalten. Easton, Brian, Ending Fault in Accident Compensation: Issues and Lessons from Medical Misadventure (2004) 35 VUWLR 821, 823. Howell, B, Medical Misadventure and Accident Compensation in New Zealand: An Incentive-Based Analysis, (2004) 35 VUWLR 857.
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augenscheinlichen Missständen, eine öffentliche Untersuchung durchzuführen,51 ist keine Lösung. Zum einen sind auch „alltäglichere“ Verletzungen, die auf Verschulden des Arztes oder Krankenhauses beruhen, wichtig genug, um untersucht zu werden, und zum anderen sind öffentliche Untersuchungen teuer und langwierig und werden in der Regel nur bei “Skandalen” durchgeführt.52 Die Bewegung der Corporation hin zur Aufklärung und Weiterbildung ist jedoch ein wichtiger Schritt, die Qualität der medizinischen Versorgung in Neuseeland zu verbessern. Bedauernswert ist es, dass die Reform nicht dazu genutzt wurde, den Begriff der Kausalität zu definieren und das Unterlassen als eine Form des Handelns vollständig anzuerkennen.
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Siehe aber: Easton, Brian, Ending Fault in Accident Compensation: Issues and Lessons from Medical Misadventure (2004) 35 VUWLR 821, 825. Zum Beispiel, Untersuchung der Versuche ohne Einwilligung an Frauen im National Women’s Hospital und die Untersuchung durch einen inkompetenten Pathologen: Ferguson, Judith, Medical Misadventure under Accident Compensation: Diagnosis and Treatment of a Problem?, 2003 NZ Law Rev 485, 486.
Die Arzthaftung von gestern und das Medizinrecht von heute in rechtsvergleichender Perspektive
Amalia Diurni
I. Die Geschichte der Arzthaftung Es ist unmöglich, eine historisch-rechtsvergleichende Abhandlung zum Medizinrecht zu verfassen, ohne von Erwin Deutsch zu sprechen; ebenso unmöglich ist es, einen Beitrag zur Festschrift für Erwin Deutsch zu schreiben, ohne mit der Geschichte der Medizin zu beginnen.
1. Vom römischen Recht bis zum 19. Jahrhundert Nach Auffassung der Lehre1 stellte das Arzt-Patienten-Verhältnis im römischen Recht keine auf die beiden Elemente der Dienstleistung und der Zahlung einer Vergütung gestützte locatio-conductio dar, denn ein solches Verhältnis wurde als erniedrigend empfunden und war vorzugsweise den Sklaven bzw. Freigelassenen vorbehalten. Auch die Unterscheidung zwischen locatio operis und locatio operarum2 war für die Arzt-Patienten-Beziehung nicht von Bedeutung. Arzt und Patient waren – ebenso wie Anwalt und Mandant – nicht rechtlich aneinander gebunden. Der Austausch zwischen der Leistung und der eventuellen Prämie (im Erfolgsfalle)3 war durch den mos geregelt. Der honos stellte das Geschenk dar, das einer Person als Zeichen der Schätzung überreicht wurde, und aus dem Adjektiv honorarius entstand das Substantiv honorarium, das bereits im 2. Jahrhundert n. Chr.
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PESCANI, voce Onorari (diritto romano), in Noviss. dig. it., Bd. XI, Torino, 1965, S. 929. VOLTERRA, Istituzioni di diritto privato romano, Roma, 1980, S. 515 f.; A. MASI, voce Locazione in generale (Storia), in Enc. dir., Bd. XXIV, Milano, 1974, S. 908 ff.; INZITARI, Autonomia privata e controllo pubblico nel rapporto di locazione, Napoli, 1979, S. 5; RESCIGNO, voce Obbligazioni (nozioni), in Enc. dir., Bd. XXIX, Milano, 1979, S. 190 f. PEZZANO, voce Onorario, in Enc. dir., Bd. XXX, Milano, 1980, S. 175 ff.
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in der Fachsprache die Vergütung des „professionista” (Angehöriger einer Berufskategorie) bezeichnete. Der Arzt konnte die Vergütung nicht einklagen, ihm wurde – wenn überhaupt – nur eine actio extra ordinem zuerkannt4. Nach dem Codex Theodosianus aus dem Jahr 428 n. Chr. war unter dem Titel De professoribus et medicis5 eine Vergütung nur im Falle einer erfolgreichen Behandlung zulässig. Die Forderung von Vorauszahlungen war dem Arzt dagegen untersagt. Auch die Digesten6 enthalten Bestimmungen, die verhindern sollen, dass der Arzt seine dem Kranken überlegene Stellung ausnutzt. Die genaueste Regelung der „patti di guarigione“ (Heilungsverträge) der Spätantike und des Hochmittelalters befindet sich in den Leges Visigothorum7, wonach das Arzt-Patient-Verhältnis durch eine Vereinbarung entsteht. Die typische Verpflichtung besteht in einem Leistungserfolg: Der Arzt muss den Kranken heilen; nur die erfolgreiche Behandlung berechtigt zur Zahlung der Vergütung: „Falls der 4
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Vgl. BOZZONI, I medici e il diritto romano, Napoli, 1904, S. 200 ff. Die Quelle der actio extra ordinem der Ärzte infolge der mangelnden Zahlung der Vergütung findet sich in den Digesten 50, 13: De variis et extraordinariis cognitionibus. Nach dem Gesetz Cincia (Lucio Cincio Alimento) de donis et muneribus (204 v. Chr.), übernommen von Tacito [Tac., Ann., 11, 5 (anno 47 d.C.)], war die Entgegennahme einer Vergütung vor der Erbringung der Leistung verboten. Codex Theodosianus, XIII, 3, 8: Impp. Valentinianus et Valens A.A. ad Praetextatum P. V: „Exceptis portus Syxti virginumque vestalium, quot regiones urbi sunt, totidem consistuantur archiatri, qui scientes annonaria sibi commoda a populi commodis honeste obsequi tenuioribus malint, quam turpiter servire divitibus. Quos etiam ea patimur accipere, quae sani offerunt pro obsequiis, non ea quae periclitantes pro salute promittunt [...]”. Dieser Abschnitt wurde im Codex Iustinianus, 10, 53, De professoribus et medicis, 9, zur Gänze wiedergegeben und war Gegenstand von Anmerkungen und Kommentaren. Vgl. NUTTON, Archiatri and the Medical Profession in Antiquity, in Papers of the British School in Rome, Bd. XLV, 1977, S. 191 ff.; BELOW, Der Arzt im römischen Recht, München, 1953. Digesten, 50, 13, 3, Si medicus (Ulpiano, Libro octavo de omnibus tribunalibus, III sec.): „Si medicus, cui curandos suos oculos, qui eis laborabat, commiserat, periculum amittendorum eorum per adversa medicamenta inferendo compulit, ut ei possessiones suas contra fidem bonam aeger venderet: incivile factum praeses provinciae coerceat remque restitui iubeat“. Leges Wisigothorum, Dei medici e dei malati, in Leges Wisigothorum Antiquiores, Aufl. Zeumer, Hannover-Leipzig, 1894, Lib. XI, Tit. I, S. 292: „Lex III. Antiqua <Si medicus pro aegritudine ad placitum expectetur: Si quis medicum ad placitum pro infirmo visitando aut vilnere curando poposcerit: ut viderit vulnus medicus aut dolores agnoverit, statim sub certo placito cautione emissa infirmum suscipiat>”; „Lex IV. Antiqua <Si ad placitum susceptus moriatur infirmus: Si quis medicus infirmum ad placitum susceperit, cautionis emisso vinculo infirmum restituat sanitati; certe si periculum contigerit mortis, mercedem placiti penitus non requirat; nec ulla inde utrique parti calumnia moveatur>”; „Lex V. Antiqua <Si de oculis medicus hypochymata tollat: Si quis medicus hypochyma de oculis abstulerit et ad pristinam sanitatem perduxerit infirmum, V. solidos pro suo beneficio consequatur>”. Vgl. GARRISON, An Introduction of the History of Medicine, Philadelphia, 1929, S. 146; NEUBURGER, History of Medicine, Bd. II, Oxford, 1925, S. 10 f.; AMUNDSEN, Visigothic Medical Legislation, in Bull. Hist. Med., Bd. XLV, n. 6, 1971, S. 553 ff.
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Kranke verstirbt, kann der Arzt die vertraglich vereinbarte Prämie selbstverständlich nicht verlangen”8. Diese Bestimmungen bildeten die Rechtsgrundlage der im Mittelalter üblichen „Heilungsverträge“, die vor einem Notar geschlossen wurden und als „öffentliche Urkunden“ anerkannt waren9. In diesen Verträgen wurden die Vergütung, die Frist und die Methoden der Heilung festgelegt.10 Die medizinische Praxis war also im Grenzbereich zwischen den Handelsbeziehungen und der gegenseitigen Unterstützung angesiedelt: Gegenstand des Erwerbs war nicht die konkrete Leistung oder ein bestimmtes Medikament, sondern das Ergebnis der Behandlung bzw. die Heilung. Die eigentliche therapeutische Beziehung entsprang der gegenseitigen Solidarität, die auf die römische Tradition zurückgeht11 und dann in die christliche Ideologie übernommen wurde12. Im ancien régime genoss der Patient also besondere, anerkannte Privilegien13, und ihm war das Urteil über die Tätigkeit des Arztes überlassen. Der diesbezügliche Wandel beginnt ab der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als die Haftung des Arztes nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Heilung bewertet wird, sondern je nachdem, ob die angewendeten Therapien und Medikamente den traditionellen Behandlungen entsprechen,14 und sich der Grundsatz durchsetzt, dass die berufliche Tätigkeit, die der Arzt – kraft eines öffentlich verliehenen Titels – als rechtmäßiges Mitglied der entsprechenden Kategorie ausübt, nach Zeitaufwand und Leistung zu bezahlen ist. Dadurch kommt es zu einer Professionalisierung des Arztberufes, und das Verstreichen der Zeit begünstigt nun nicht mehr den Patienten, sondern den Arzt. Die Beurteilung der ärztlichen Sorgfalt wird zu einer technischen Beurteilung, die nicht mehr Aufgabe des Patienten, sondern der zuständigen Behörde ist. 8 9
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Vgl. Lex IV, Antiqua, a.a.O. POMATA, La promessa di guarigione - Malati e curatori in antico regime, Bari, 1994, S. 94, dessen Anhang verschiedene Beispiele für Verträge und Urkunden mit Heilungsversprechen von 1244 bis 1764 enthält. Vgl. PILLIO MEDICINENSE, Quaestiones Sabbatinae, Augustae Taurinorum, 1967, C.G.J.C. IV, Quaestio XII, S. 20 f.; BARTOLO DA SASSOFERRATO, In secundam Digesti veteris partem, Venezia, 1570, II, 136, in den Anmerkung zu den Digesten 19, 2, 59, l. „Marcius“. Unter den Kanonisten, DURANDUS, Speculum Judiciale, Bononiae, 1477 [1271], „de salariis“, 201; ANGELUS DE CLAVASIO, Summa, Venezia, 1487, „medicus“, Rn. 14, 235; vgl. unter den Zivilrechtlern TIRAQUEAU, Commentariorum in l. Si unquam. C. de revoc. don., VI, Frankfurt, 1574 (1535), S. 237, Rn. 180; BERTACHINI, Repertorium iuris utriusque Doctoris praestantissimi, Venezia, 1570, „medicus“, 332-334. Vgl. PESCANI, a.a.O., S. 929. Die Idealvorstellung des Arztes, der seine Kunst unentgeltlich zur Verfügung stellt, geht auf die Heiligen Kosmas und Damian zurück und ist im Mittelalter stark in der Volkskultur verwurzelt (s. WITTMANN, Kosmas und Damian: Kultausbreitung und Volksdevotion, Berlin, 1967, S. 12 ff.). Auch mit dem Heiligen werden Vereinbarungen getroffen, und auch er wird um Heilung gebeten, wie die ex-voto bezeugen. Vgl. in diesem Zusammenhang BROWN, Il culto dei santi, trad. it. Torino, 1983, S. 162 ff. TH. ACTIUS, De infirmitate eiusque privilegiis et affectibus, Venezia, 1603. Vgl. POMATA, a.a.O., S. 289 ff.
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Ein weiterer, fundamentaler Schritt in der Geschichte der Medizin erfolgt im 19. Jahrhundert: Die auf die subjektive Symptomatologie des Patienten gestützte Konzeptualisierung wird durch eine Vorstellung abgelöst, in der die Krankheit zu einer individuellen und konkreten Identität wird: Der Patient ist einzig und allein der Träger dieser Krankheit.15 Das spekulative und auf die Analyse der Symptome aufgebaute ärztliche Wissen des ancien régime verwandelt sich in eine auf das Studium der Krankheit und der Therapie gestützte Wissenschaft. In der Zwischenzeit setzen sich auch die Juristen mit dem Heilungsvertrag auseinander und erklären ihn schließlich der sozialen Entwicklung und den Wandlungen der Arztkategorie entsprechend16 für ungültig. Der Ansatz hierfür stammt aus einer Passage der Digesten17, wonach der Vertrag zwischen Anwalt und Mandant nur dann gültig ist, wenn sein Abschluss nicht vor oder während des Prozesses, sondern erst nach dessen Beendigung erfolgt ist.18 Dadurch wird der Gleichstellung zwischen Arzt und Patient ein Ende gesetzt. Durch die Kombination aus wissenschaftlichem Fortschritt, beruflichem und sozialem Bewusstsein, wirtschaftlichem Interesse und juristischer Entwicklung entstand im 19. Jahrhundert das von den Soziologen als „berufliche Dominanz“ bezeichnete Phänomen.19 Kraft dieser Dominanz neigen die Juristen erneut dazu, den Einsatz des vertraglichen Instruments in den Beziehungen zwischen Arzt und Patient sowie zwischen Anwalt und Mandant als rechtmäßig anzusehen. Der Heilungsvertrag gehört aber bereits der Vergangenheit an, denn die Zufallsbedingtheit und die Ungewissheit des Behandlungserfolgs bilden den empirischen Grund dafür, dass die Abhängigkeit zwischen Vergütung und Heilung unangemessen ist. 15
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Vgl. COHEN, The Evolution of the Concept of Disease, in LUSH (Hrsg.), Concepts of Medicine, Oxford, 1961. Zur geschlichtlichen Entwicklung hinsichtlich anderer Berufsgruppen, vgl. PISCIONE, voce Professioni (disciplina delle), in Enc. dir., Bd. XXXVI, Milano, 1987, S. 1040 f. Digesten, 50, 13, Si cui: „Si cui cautum est honorarium, vel si quis de lite pactus est: videamus an petere possit. Et quidem de pactis ita est rescriptum ab imperatore nostro, et divo patre ejus: Litis causae malo more pecuniam tibi promissam ipse quoque profiteris. Sed hoc ita jus est, si suspensa lite societatem futuri emolumenti cautio pollicetur. Si vero post causam actam est honoraria summa, peti poterit usque ad probabilem quantitatem, etsi nomine palmarii cautum sit: sic tamen, ut computetur id quod datum est, cum eo quod debetur, neutrumque compositum licitam quantitatem excedat”. So auch im Justinianischen Kodex, II, 6, De postulando, 2: „Praeterea nullum cum eo litigatore contractum, quem in propriam recepit fidem, ineat advocatus: nullam conferat pactionem”. Die Kommentatoren und Juristen waren der Auffassung, dass der Lohn des Rechtsanwalts nach Beendigung der Leistung, d.h. nach dem Abschluss des Prozesses, zu entrichten war. Vgl. BARTOLO, In tres codicis libros, 242, gefolgt von JANOS MAYNUS, In primam Digesti veteris partem commentarii, Lugduni, 1569, 56: „Advocati non debent habere salarium lite durante [...] quod non debent habere salarium nisi finita causa“. BALDUS, In IV et V Codicis Libros Commentaria, 11, hat dagegen die moderne Vorstellung vorweggenommen und den Standpunkt vertreten, dass die Zahlung der Vergütung nach Beendigung des Prozesses den Klienten begünstige und dessen Nichterfüllung ermögliche. FREIDSON, Professional Dominance, New York, 1970; STARR, The Social Transformation of American Medicine, New York, 1982.
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Der Erfolg ist demnach autonom unter Berücksichtigung der bei der Leistungserbringung angewandten Sorgfalt zu beurteilen und kann nicht in obligatione abgeleitet werden. Als Gegenstand des Interesses des Patienten, das der Arzt zu befriedigen versucht – wenngleich er dazu nicht verpflichtet ist – wird der Erfolg nicht zu einem Bestandteil des Rechtsverhältnisses. Die berufliche Dominanz der Wissenschaft und der Therapien fördern gemeinsam mit dem Prinzip der sorgfältigen Leistung das Entstehen des Konzepts des fachlichen Ermessens20, und zwischen dem Klienten und dem professionista, der einem intellektuellen Beruf nachgeht, kommt ein Vertrag zustande, der für den Klienten als eine Art einseitiger aleatorischer Vertrag anzusehen ist21.
2. Die Differenzierung zwischen Leistungshandlung und Leistungserfolg im französischen und italienischen Recht In diesem Zusammenhang hat die französische Lehre die Unterscheidung zwischen obligation de moyen(s) und obligation de résultat22 ausgearbeitet, die auf Demogue zurückgeht23. Ihr Einfluss auf die Rechtsprechung war so stark24, dass die Fundamente der französischen Lehre regelrecht erschüttert wurden25. 20
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D. CARUSI, Responsabilità del medico e obbligazione di mezzi, in Rass. dir. civ., 1991, S. 491; SANTORO PASSARELLI, Voce Professioni intellettuali, in Noviss. dig. it., Bd. XIV, Torino, 1957, S. 23 ff.; G. GIACOBBE, voce Professioni intellettuali, in Enc. dir., Bd. XXXVI, Milano, 1987, S. 1065 ff. FORTINO, La responsabilità civile del professionista, Milano, 1984, S. 60; FRASCA, Verso un nuovo orientamento giurisprudenziale in tema di ripartizione degli oneri probatori nel caso di responsabilità contrattuale del medico, in La responsabilità medica, Milano, 1982, S. 148; PERULLI, Il lavoro autonomo, in Trattato di diritto civile e commerciale früher unter der Leitung von Cicu und Messineo, jetzt unter der Leitung von Mengoni, Bd. XXVII, T. 1, Milano, 1996, S. 448. Zu den angeblich römischen Quellen der Unterscheidung vgl. MAZEAUD/TUNC, Traité théorique et pratique de la responsabilité civile délictuelle et contractuelle, Bd. I, 6. Aufl., Paris, 1965, S. 38; MAZEAUD, Essai de classification des obligations: obligations contractuelles et extracontractuelles, „obligations déterminées“ et „obligations générales de prudence et de diligence“, in Riv. trim. dr. civ., 1936, S. 27; vgl. MENGONI, Obbligazioni „di risultato“ e obbligazioni di „mezzi“, in Riv. dir. comm., 1954, I, S. 199 ff.; VISINTINI, Trattato breve della responsabilità civile, 3. Aufl., Padova, 2005, S. 90 ff. CANNATA, Le obbligazioni in generale, in Trattato dir. priv. unter der Leitung von Rescigno, Bd. 9, Obbligazioni e contratti, Torino, 1984, S. 36, verweist auf PAPINIANO, D. 22, 1, 4pr. Gegenteiliger Auffassung ist PERULLI, a.a.O., S. 426. DEMOGUE, Traité des obligations en général, Bd. II, Effets des obligations, T. VI, Paris, 1932, n. 153 ff., n. 530 ff., 597 ff. Vgl. Cass. civ., 20.5.1936, in Dalloz, 1936, I, S. 88; Cass. civ., 12.7.1960, in Dalloz, 1960, S. 101. Vgl. MONATERI, Cumulo di responsabilità contrattuale e extracontrattuale, Padova, 1989, S. 90 ff. ; MENGONI, Obbligazioni „di risultato“ e obbligazioni di „mezzi“, in Riv. dir. comm., 1954, I, S. 185, Fußn. 2. H. MAZEAUD/L. MAZEAUD, Traité théorique et pratique de la responsabilité civile, 4. Aufl., Bd. I, Paris, 1947, Rn. 103 ff.; TUNC, Distinzione delle obbligazioni di risultato e delle obbligazioni di diligenza, in Nuova riv. dir. comm., 1947-48, I, S. 145. Ein
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Unter dem normativen Gesichtspunkt vertritt ein Teil der Lehre26 die Auffassung, dass sich Art. 1137 des französischen Code civil auf die Sorgfaltsregel bezieht und die Erfüllung der Leistungshandlungen charakterisiert, während in den Art. 1147 und 1148 fr. Cod. Civ. die Haftung für Nichterfüllung mangels Erreichung des Leistungserfolgs geregelt ist. Das italienische Rechtssystem folgt scheinbar demselben Ansatz, denn Art. 1176 des italienischen Codice civile betrifft die Leistungshandlung27 und Art. 1218 it. Cod. Civ. den Leistungserfolg28. Diese Strukturierung des Schuldverhältnisses wirkt sich auf die Beweislastverteilung aus29: Bei einer Leistungshandlung ist der Gläubiger schlechter gestellt, denn er muss den positiven Beweis erbringen, dass der Schuldner die Sorgfaltspflicht verletzt hat, und somit dessen Verschulden nachweisen. Im Falle eines Leistungserfolgs ist der Erfolg in obligatione, und der Gläubiger muss nur unter Beweis stellen, dass dieser Erfolg nicht erreicht wurde, denn in diesem Fall wird das Verschulden des Schuldners vermutet.30 Der positive Anklang, den die Unterscheidung zwischen Leistungshandlung und Leistungserfolg gefunden hat, ist u.a. darauf zurückzuführen, dass sich in Frankreich langsam aber unaufhaltsam der Grundsatz des „non-cumul“ zwischen
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kritischer Standpunkt wurde vertreten von CAPITANT, Les effets des obligations, in Rev. trim. dr. civ., 1932, S. 721 ff.; ESMEIN, Le fondement de la responsabilité contractuelle rapprochée de la responsabilité délictuelle, in Rev. trim. dr. civ., 1933, S. 627 ff.; Ders., Obligations, in Traité pratique de droit civil français hrsg. von Planiol und Ripert, Bd. VII, 2. Aufl., Paris, 1952, Rn. 378 ter, S. 498 f.; MARTON, Obligations de résultat et obligations de moyens, in Rev. trim. dr. civ., 1935, S. 499 ff.; RODIERE, La responsabilité civile, Paris, 1952, Rn. 1669, S. 288 ff.; COLIN/CAPITANT/JULLIOT DE LA MORANDIERE, Traité de droit civil, Bd. II, 2. Aufl., Paris, 1959, Rn. 691, S. 390 und Rn. 832, S. 464; CHABAS, Vers un changement de nature de l´obligation médical, in Juris class. pér., 1973, I, S. 2541. Vgl. H. MAZEAUD, Essai de classification des obligations, a.a.O., S. 1 ff.; DEMOGUE, a.a.O., T. VI, Rn. 597 ff., S. 642 ff. VISINTINI, a.a.O., S. 202 ; Cass., 11.3.2002, n. 3492, in Giust. civ. Mass., 2002, S. 435. BILANCETTI, La responsabilità penale e civile del medico, 5. Aufl., Padova, 2003, S. 950; Cass., 28.4.1994, in Riv. it. med. leg., 1997, S. 474. Dagegen, VISINTINI, a.a.O., S. 205. Vgl. VINEY/JOURDAIN, Les conditions de la responsabilité, in Traité de droit civil hrsg. von Ghestin, 3. Aufl., Paris, 2006, S. 633 ff.; LE TOURNEAU, Responsabilité civile professionnelle, 2. Aufl., Paris, 2005, a.a.O.; CARBONNIER, Droit civil, Bd. IV, 22. Aufl., Paris, 2000, S. 288 ff.; SAVATIER, La théorie des obligations en droit privé economique, Paris, 1979, n. 128, S. 188 ff.; STARCK, Droit civil, Les Obligations, Paris, 1972, S. 525 ff., S. 611 ff. und S. 654 ff.; WEILL/TERRÉ, Droit civil, Les obligation, 4. Aufl., Paris, 1986, S. 399 ff. und S. 775 ff.; FROSSARD, La distinction des obligations de moyens et des obligations de résultat, Paris, 1965, S. 107 f.; DE LORENZI, voce Obbligazioni di mezzi e obbligazioni di risultato, in Dig. IV disc. priv., Bd. XII, Torino, 1995, S. 398. Vgl. H. MAZEAUD, Essai de classification des obligations, a.a.O., S. 40 ff. ; TUNC, a.a.O., S. 130 ff. Vgl. auch CARBONE, Obbligazioni di mezzi e di risultato tra progetti e tatuaggi, in Corr. giur., 1997, S. 554; Cass., 7.2.1996, n. 973, in Corriere giur., 1996, S. 541 ff., mit Anm. von MARICONDA, Risarcimento del danno e onere della prova.
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vertraglicher und außervertraglicher Haftung durchgesetzt hat31. Unter ständigem Verweis auf – häufig interpolierte – Präzedenzfälle der Rechtsprechung32 hat die Lehre33 in der Überzeugung, dass eine Verwechslung zwischen zwei streng getrennten Ebenen extrem gefährlich ist, das Kumulierungsverbot zu einem Grundsatz des positiven Rechts erhoben. Seine Anerkennung und die ständig steigende Mobilität der Grenzen34 zwischen den beiden Haftungsformen hat unvermeidbar dazu geführt, dass gewisse Verpflichtungen manchmal in den Vertrag einbezogen werden und der vertragliche Bereich dann aber wieder eingeschränkt wird.35
II. Die Gleichstellung der vertraglichen und außervertraglichen Haftung im 20. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert wurde davon ausgegangen, dass die Arzthaftung den in den Art. 1382 und 1383 fr. Cod. Civ. verankerten, allgemein geltenden Maßstäben der Vorsicht und Sorgfalt unterlag.36 Ein Tendenzwandel erfolgte im Jahr 1936 durch die Cour de Cassation37, als sich die vertragliche Natur des Arzt-PatientenVerhältnisses und der schuldrechtliche Inhalt der Leistung nicht als obligation déterminée de guérir le malade, sondern als obligation générale de prudence et diligence38 oder besser gesagt als obligation de sécurité de moyens durchsetzte39. 31
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MONATERI, a.a.O.; GAMBARO, Responsabilità contrattuale ed extracontrattuale. Significato attuale di una distinzione tradizionale, Milano, 1993. SAVATIER, Traité de la responsabilité civil en droit français, I, 2. Aufl., Paris, 1951, n. 148 f., S. 192 f.; D. CARUSI, Responsabilità del medico e obbligazione di mezzi, a.a.O., S. 506 ff.; MONATERI, Cumulo di responsabilità contrattuale e extracontrattuale, a.a.O. Vgl. VINEY/JOURDAIN, a.a.O., S. 263 ff.; MAZEAUD/MAZEAUD/TUNC, Traité de la responsabilité civile, Bd. I, 6. Aufl., Paris, 1965, n. 173-207; MALAURIE/MALAURIE, Cours de droit civil, Les obligations, Paris, 1985, S. 370; WEILL/TERRÉ, Droit civil, 3. Aufl., Paris, 1985, n. 368; MARTY/RAYNAUD, Droit civil, Bd. II, Les obligations, Paris, 1962, n. 368; ESMEIN, Trois problèmes de responsabilité civile, in Rev. trim. dr. civ., 1934, S. 349 f. BUSNELLI, Le mobili frontiere del danno ingiusto, in Contratto e impresa, 1985, S. 1 ff. MONATERI, a.a.O., S. 107. Vgl. AUBRY/RAU, Cours de droit civil français, 4. Aufl., Paris, 1871. Contra, MAZEAUD, Responsabilité délictuelle et responsabilité contractuelle, a.a.O., S. 612. Unter Anwendung der Bestimmungen über die Delikte und die Quasi-Delikte gemäß Art. 1151 f. des italienischen Codice civile von 1865 wurde die zivilrechtliche Haftung des Arztes auch von der italienischen Rechtsprechung in den Bereich des Schutzes aus unerlaubter Handlung eingereiht. Vgl. App. Roma, 8.6.1886, in Foro it., 1886, I, c. 714. Cass. civ., 20.5.1936, in Dalloz, 1936, I, S. 88 mit Anm. von JOSSERAND. Vgl. PLANCQUEEL, Obligations de moyens, obligations de résultat, in Rev. trim. dr. civ., 1972, S. 334. Vgl. für alle, Trib. gr. ist. Meaux, 1.12.1961, in Gazette du Palais, 1962, II, S. 44. Vgl. TUNC, in Rev. trim. dr. civ., 1962, S. 635 f.; H.L. MAZEAUD, ivi, 1957, S. 524. LAMBERT-FAIVRE, Fondement et régime de l´obligation de sécurité, in Dalloz, Chr.,
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Derzeit folgt die Rechtsprechung nach wie vor der traditionellen Auffassung, obwohl nach Ansicht namhafter Autoren bei Fällen der Arzthaftung auf die strenge Unterscheidung zwischen den beiden Haftungsformen verzichtet werden sollte40. Italien hat einen ähnlichen Weg wie Frankreich beschritten: Nach einer zunächst entschiedenen Befürwortung der Arzthaftung als außervertragliche Haftung41 und einer lang anhaltenden Ungewissheit42 ist es heute im Wesentlichen unerheblich, auf welchen Titel der Kläger seinen Schadenersatzanspruch stützt43. Deshalb untersucht die Rechtsprechung – auch ultra petita – stets das Vorliegen der beide Haftungsformen charakterisierenden Elemente44 und vertritt unter diesem Gesichtspunkt den Auffassungen des deutschen BGH ähnliche Standpunkte.45 Grundsätzlich standen die kontinentaleuropäischen Rechtssysteme46 also im letzten Jahrhundert dem Übergang von der vertraglichen auf die außervertragliche Haftung im Bereich des Medizinrechts ziemlich gleichgültig gegenüber. Diese Haltung ist auch heute noch überaus verbreitet, und es wurde eine Reihe von
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11, 1994, S. 84: „L´obligation de sécurité est par nature une obligation déterminée, l´objet de l´obligation étant la sécurité due en tout état de cause par l´auteur du dommage“. VINEY/JOURDAIN, a.a.O., S. 290. App. Milano, 18.4.1939, in Resp. civ. e prev., 1940, S. 120. Vgl. auch, Cass., 13.5.1931, in Ann. dir. comp., Bd. IX, III, S. 468, mit Anm. von MONTEL, In tema di responsabilità del medico e dell’ospedale verso l’ammalato per cura non riuscita; Cass., 27.7.1933, n. 2934, in Mass. Foro it., 1933, S. 566; Cass., 17.6.1936, n. 2107, in Foro it., 1936, I, S. 815. Vgl. GABBA, Anmerkung, in Foro it., 1899, I, S. 93. Im Sinne der vertraglichen Haftung: Cass., 21.12.1978, n. 6141, in Foro it., 1979, I, S. 4; Cass., 1.3.1988, n. 2144, in Foro it., 1988, I, S. 2296, mit Anm. von PRINCIGALLI; Cass., 1.9.1999, n. 9198, in Giust. civ. Mass., 1999, S. 1877. Im Sinne der außervertraglichen Haftung: Cass., 24.3.1979, n. 1716, in Giur. it., 1981, I, 1, S. 297; Cass., 26.3.1990, n. 2428, in Giur. it., 1991, I, S. 600; Cass., 13.3.1998, n. 2750, in Foro it., 1998, I, S. 3521. Vgl. CASTRONOVO, L’obbligazione senza prestazione ai confini tra contratto e torto, in La nuova responsabilità civile, Milano, 1997, schon in Scritti in onore di Luigi Mengoni, Bd. I, Le ragioni del diritto, Milano, 1995, S. 147. Die Corte di Cassazione hat bereits ab dem Urteil Nr. 1282 von 1971 (in Giust. civ., 1971, I, S. 1417) die Behauptung aufgestellt, dass „Art. 2236 des Codice civile (…) nicht nur im vertraglichen, sondern auch im außervertraglichen Bereich anwendbar ist” („L’art. 2236 c.c. (…) è applicabile oltre che nel campo contrattuale anche in quello extracontrattuale”). Für eine Übersicht: PARTISANI, Il contratto atipico di spedalità e cura: nuove regole di responsabilità, in La Resp. civ., 2007, S. 1028. Der Grundsatz wurde incidenter tantum auch vom italienischen Verfassungsgerichtshof aufgestellt: C.Cost., 22.6.1970, n. 307, in Foro it., 1990, I, S. 2694. BGH, 24.1.1995, in NJW, 1995, S. 1618; BGH, 24.1.1984, in NJW, 1984, S. 1403. Vgl. DEUTSCH/SPICKHOFF, Medizinrecht, 6. Aufl., Berlin u.a., 2008, S. 112 f., Rn. 165. Für einen rechtsvergleichenden Überblick über die Arzthaftung vgl. die in Rev. int. dr. comp., 1976 veröffentlichte Übersicht mit den Beiträgen verschiedener namhafter Autoren: SAVATIER, La responsabilité médicale en France, S. 493 ff.; BIANCHI D´ESPINOSA/ZHARA BUDA, La responsabilité médicale en Italie, S. 531 ff.; PETITPIERRE, La responsabilité de droit privé du médicin: aperçu du droit suisse, S. 567 ff.
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Grundsätzen ausgearbeitet, die unabhängig von der jeweiligen Haftungsform zur Anwendung kommen. Obwohl im englischen Common Law der Klage gegen den Arzt traditionellerweise deliktische Natur beigemessen wird, gab es dort einen Zeitpunkt, zu dem bei der Klage auf assumpsit für das entgeltliche Arzt-Patienten-Verhältnis eine vertragliche Haftung zum Tragen kam47. In diesen Fällen war die consideration das zentrale Element: Konnte der Patient keine tangible consideration nachweisen, gingen die Gerichtshöfe davon aus, dass alleine der Umstand, dass sich der Patient der ärztlichen Behandlung unterzogen hatte, als sufficient consideration anzusehen war.48 Seit der Gründung des National Health Systems (NHS) wird einhellig der Standpunkt vertreten, dass zwischen Arzt und Patient kein Vertragsverhältnis besteht.49 Deshalb handelt es sich bei der typischen Haftungsklage gegenüber dem Arzt heute um eine action for negligence, während nur im Falle privater Behandlungen von einem Vertragsverhältnis ausgegangen wird.
1. Der Wandel der zivilrechtlichen Haftung in Europa von der Kodifikationszeit bis heute Für die weitere rechtsgeschichtliche Rekonstruktion ist im Übrigen festzuhalten, dass die zivilrechtliche Haftung selbst einen Wandel durchgemacht hat: An die Stelle der sanktionierenden Haftung des 19. Jahrhunderts, die auf einer auf den Schadensverursacher konzentrierten Schuldzuweisung aufgebaut war, trat im 20. Jahrhundert eine entschädigende Haftung, die auf das Risiko und auf das Schadensopfer konzentriert war. Das 21. Jahrhundert wird aller Wahrscheinlichkeit nach zum Jahrhundert der sogenannten50 responsabilité-anticipation, die auf die Prävention der wichtigsten Risiken und auf den Interessenschutz von Personengruppen ausgerichtet ist (mit dem Ziel ihrer Ausdehnung auf sämtliche Lebewesen und auch ihre Nachkommen).
2. Die fundamentalen Änderungen der letzten Jahrzehnte In der Zeitgeschichte der Medizin sind in den letzten Jahrzehnten zwei fundamentale Änderungen eingetreten. a) Die technologische Revolution In erster Linie war eine regelrechte technologische Revolution zu beobachten: Die gesellschaftlichen Debatten, die Wissenschaft und die Medizin sind deshalb mit 47
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Everard v. Hopkins (1615) 80 ER 1164 und Slater v. Baker and Stapleton (1767) 95 ER 860. Coggs v. Bernard (1703) 92 ER 107. Pfizer Corporation v. Ministry of Health (1965) AC 512 (HL). Anders in Canada: Pittman Estate v. Bain (1994) 112 DLR (4th) 257 (Ont. Gen. Div.). THIBIERGE, Avenir de la responsabilité, responsabilité de l’avenir, in Recueil Dalloz, 2004, Nr. 9, S. 581.
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bis vor kurzer Zeit nicht vorhandenen Problemen konfrontiert. Meiner Auffassung nach geht es in diesem Zusammenhang um den Beginn und das Ende des Lebens: Die Geburt und den Tod, d.h. neben unerwünschten Geburten und Schwangerschaften um genetische Untersuchungen, künstliche Reproduktionstechniken, Frühgeburten und um die Aspekte der Kranken im Endstadium, die Euthanasie, das biologische Testament und den programmierten Selbstmord. Diese Themen stehen in engem Zusammenhang mit der medizinischen und pharmakologischen Erprobung: Hoffnungslose Fälle und Grenzfälle legitimieren und stimulieren den Einsatz unkonventioneller Techniken, Medikamente oder Verfahren. Durch den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt sind der Bereich der Medizin, des Gesundheitswesens und der Pharmazeutik untrennbar zusammengewachsen: Bei einer Frühgeburt überschneidet sich der rein ärztliche Eingriff z.B. mit der Tätigkeit des Pflegepersonals, der medizinischen Hilfskräfte und der Krankenhausorganisation im weiten Sinne (vor allem im Hinblick auf die mechanischen Geräte, wie den Brutkasten), wobei der pharmakologische Beitrag nicht vergessen werden darf. Jeder Bereich kooperiert mit den anderen. Tritt ein Schadensereignis ein, könnte die Haftung bei jedem einzelnen oder bei sämtlichen Bereichen liegen. Diese Entwicklung wird auch auf terminologischer Ebene deutlich: In Italien ist z.B. die „responsabilità del medico“ zur „responsabilità medica“ geworden, was also bedeutet, dass sich die Haftung auch auf die Einrichtung des Gesundheitswesens erstreckt; in England wurde die „medical negligence“ zur „clinical negligence“51. Ausweislich der rechtsvergleichenden Gegenüberstellung ist dieser Ansatz sowohl im Civil law als auch im Common law bereits seit längerer Zeit zum Ausdruck gekommen: In den Vereinigten Staaten wird die Materie als Health Law bezeichnet52, in England spricht man dagegen von Medical Law53, in Deutschland von Medizinrecht (und dies ist Erwin Deutsch zu verdanken)54. In diesen Ländern reicht die Materie von der informierten Zustimmung des Patienten über die Haftung für die eigentliche ärztlichen Behandlung und für den allgemeinen Gesundheitsdienst des Krankenhauses bis zum Schutz der personenbezogen Daten und umfasst schließlich die Erprobung und das Inverkehrbringen von Medikamenten sowie die Produkthaftung. In den Rechtssystemen romanistischer Tradition, wie Frankreich und Italien, wird die Materie dagegen noch nicht als eigenständiger und charakteristischer Rechtsbereich angesehen. Wahrscheinlich konnte sich das Medizinrecht aufgrund der strengen Unterscheidung zwischen Leistungshandlung und Leistungserfolg bisher nicht von der Regelung der beruflichen Haftung loslösen, die der Arzt mit anderen Berufskategorien gemein hat. Denn trotz der behaupteten Überwindung
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GRUBB, Duties in Contract and Tort, in GRUBB (Hrsg.), Principles of Medical Law, 2. Aufl., Oxford, 2004, S. 313. AMERICAN HEALTH LAWYERS ASSOCIATION, Fondamentals of Health Law, 4. Aufl., Washington, 2008. GRUBB (Hgb.), Principles of Medical Law, 2. Aufl., Oxford, 2004. Deutsch/Spickhoff, a.a.O.
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der klassischen Unterscheidung55 wird sie von Lehre und Rechtsprechung laufend verwendet. b) Die exponentielle Aufmerksamkeit für die Person Der zweite Wandel ist eine Folge der exponentiellen Steigerung der Aufmerksamkeit für die Person und für die hohe Wertschätzung der mit der Persönlichkeit verbundenen Aspekte. Vor allem in den Rechtssystemen, die der Verfassung große Bedeutung beimessen, setzen sich zivilrechtliche Freiheiten, das Persönlichkeitsrecht und insbesondere der Grundsatz der Selbstbestimmung der Person energisch durch.56 Aus einer rechtsvergleichenden Gegenüberstellung ergibt sich, dass die Informationspflicht in diesen Ländern im Bereich des Medizinrechts eine fundamentale Rolle spielt, während sich die Situation in den Ländern, in denen die Verfassung eine untergeordnete Bedeutung einnimmt oder überhaupt nicht vorhanden ist, völlig anders gestaltet. Man denke zum Beispiel an einige Systeme, die ein und dieselbe Tradition des Common Law gemein haben: Die Vereinigten Staaten und Kanada, wo die Verfassung den Kernpunkt des gesamten Rechtssystems darstellt, und England, wo es keine Verfassung gibt: In den Vereinigten Staaten und in Kanada muss der patient’s consent „informed“ sein57, in England nur „real“58. In Kanada geht der Supreme Court davon aus, dass die Zustimmung im Falle von fraud oder misrepresentation ungültig ist, auch wenn sie „real“59 ist, während die englischen Gerichtshöfe den gegenteiligen Standpunkt vertreten60. In Kanada stützt sich die Würdigung der duty of information auf den „reasonable patient test“61, in England dagegen auf den sog. „Bolam test“62, dessen Grundlage doctor’s reasonable behavior darstellt63.
III. Die „responsabilité-anticipation“ und die heutigen verschiedenen Lösungen der europäischen Rechtsordnungen Die steigende Aufmerksamkeit für das menschliche Wesen, die ständig wachsende Effizienz der Rechtsmittel für dessen Schutz und die technologische Revolution 55 56
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Cass., 13.4.2007, n. 8826, in www.cortedicassazione.it. Von BAR, Der Einfluß des Verfassungsrechts auf die westeuropäischen Deliktsrechte, in RabelsZ, 59 (1995), S. 214 ff. Canterbury v. Spence (1972) 464 F 2d 772 (DC Cir.). Ciarlariello v. Schacter (1993) 100 DLR (4th) 609. Reibl v. Hughes (1980) 114 DLR (3d) 1, 11; PICARD/ROBERTSON, Legal Liability of Doctors and Hospital in Canada, 3. Aufl., Scarborough, 1996, S. 57 ff. Chatterton v. Gerson (1981) QB 265; Appleton v. Garrett (1997) 8 Med LR 77. Reibl v. Hughes, a.a.O. Bolam v. Friern Hospital Management Comittee (1957) 2 All ER 118; JONES, Medical Negligence, 3. Aufl., Andover, 2003. Diesem Grundsatz folgte das House of Lords in den Urteilen Whitehouse v. Jordan (1981) 1 All ER 267; Bolitho v. City and Hackney HA (1997) 4 All ER 771.
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haben zu einer spontanen Differenzierung von medizinischen Sachverhalten geführt, die heute meiner Meinung nach in zwei Gruppen unterteilt werden können: 1. die unheilbaren oder unbekannten Fälle bzw. die Notfälle; 2. alle anderen Fälle, d.h. die heilbaren Fälle, die die wesentlichen Quellen der Rechtsprechung zum Thema Arzthaftung darstellen. Bei der ersten Gruppe sind die Fehlerrisiken höher und auf rechtlicher Ebene geht die Tendenz dahin, den Arzt von der Haftung freizustellen, ihn in seinem Einsatz nicht zu entmutigen. Bei der zweiten Gruppe neigt man dagegen zu einem gesteigerten Patientenschutz, vor allem durch den Einsatz von Techniken der „vorweggenommenen Haftung“ (die bereits erwähnte responsabilité anticipation), die in den jeweiligen Rechtssystemen entweder ausdrücklich vorgegeben sein (in von der Rechtsprechung oder vom Gesetzgeber aufgestellten Grundsätzen) oder in nicht wörtlich festgehaltener Formen (Kryptotypen) aufscheinen können.64
1. Der Ermessensspielraum der niederländischen Richter In Holland wurde die responsabilité anticipation kodifiziert65, indem in die Regelungen über die zivilrechtliche Haftung im Nieuw Burgerlijk Wetboek von 1992 Maßstäbe für die Festsetzung des Schadens aufgenommen wurden, die die Art der Haftung, das zwischen den Parteien bestehende Rechtsverhältnis und deren jeweilige Leistungsfähigkeit ebenso berücksichtigen wie die Frage, ob ein Versicherungsschutz besteht oder nicht66.
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Zum Begriff der Kryptotypen vgl. SACCO, La comparazione giuridica, in SACCO/GAMBARO, Sistemi giuridici comparati, in Trattato di diritto comparato unter der Leitung von Sacco, 2. Aufl., Torino, 2002, S. 7 ff. HARTKAMP, Das neue niederländische Bürgerliche Gesetzbuch aus europäischer Sicht, in RabelsZ, 57 (1993), S. 672 und S. 679 f. Art. 6.109, Abs. 1 und 2, NBW: „(1) Indien toekenning van volledige schadevergoeding in de gegeven omstandigheden waaronder de aard van de aansprakelijkheid, de tussen partijen bestaande rechtsverhouding en hun beider draagkracht, tot kennelijk onaanvaardbare gevolgen zou leiden, kan de rechter een wettelijke verplichting tot schadevergoeding matigen. (2) De matiging mag niet geschieden tot een lager bedrag dan waarvoor de schuldenaar zijn aansprakelijkheid door verzekering heeft gedekt of verplicht was te dekken. (...)“. Übersetzung ins Deutsche von NIEPER, Buch 6, Allgemeiner Teil des Schuldrechts, in NIEPER/WESTERDIJK, Niederländisches Bürgerliches Gesetzbuch, München, 1995.
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2. Die überwiegende Erheblichkeit der Aufklärungspflicht in Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich und in der Schweiz In Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich und in der Schweiz wurde die responsabilité anticipation im Rahmen einer langen, aber unaufhaltsamen Forschung nach Lösungen zugunsten des Patienten durch die Rechtsprechung umgesetzt. In diesem Zusammenhang konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf die Nichterfüllung der Informationspflicht: Mit der Begründung, dass es für den Patienten schwierig ist, einen negativen Beweis für den Informationsmangel zu erbringen, bzw. dass der Beweis für den Arzt näherliegend ist als für den Patienten, hat die Rechtsprechung eine Beweislastumkehr vorgenommen.67 In diesen Ländern war in den letzten Jahren eine erhebliche Steigerung der auf die Verletzung der Informationspflicht gestützten Prozesse zu beobachten.68 Diese causa petendi wird auch bei Arztfehlern bevorzugt eingesetzt, für die der Patient sonst den positiven Beweis erbringen müsste.69 Im Jahr 1997 hat die Rechtsprechung ihren Standpunkt sowohl in Frankreich70 als auch in Italien71 radikal geändert und behauptet, dass derjenige, dem eine besondere Informationspflicht obliegt, den Beweis für die Erfüllung dieser Pflicht erbringen muss. In Frankreich haftet der Arzt im Übrigen bei Verletzung der Informationspflicht vollumfänglich für den verursachten Schaden, wenn er die Erfüllung seiner Informationspflicht nicht unter Beweis stellt.72 Der Grundsatz wurde darüber hinaus auch auf gesetzlicher Ebene verankert.73 In Deutschland erkennt die Rechtsprechung auf vollen Scha67
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Vgl. DEUTSCH, Neues zur ärztlichen Aufklärung im Ausland, in MedR, 2005, S. 464 ff. Frankreich: CASTELLETTA, a.a.O., S. 16, Rn. 12.11; Italien: FERRANDO, Libertà, responsabilità e procreazione, Padova, 1999; FRANZONI, La responsabilità del medico fra diagnosi, terapia e dovere di informazione, in La responsabilità civile, 2005, S. 584 ff.; Deutschland: SPICKHOFF, Die Entwicklung des Arztrechts 2004/2005, in NJW, 2005, S. 1698; DEUTSCH/SPICKHOFF, a.a.O., S. 164, Rn. 245; Österreich: HÖFTBERGER, Österreichische Rechtsprechung zur Arzthaftung, in MedR, 2000, S. 509 ff.; HARRER, in KOPETZKI/ZAHRL (Hrsg.), Behandlungsanspruch und Wirtschaftlichkeitsgebot, Wien, 1998, S. 49; Schweiz: KUHN, Die Arzthaftung in der Schweiz, in MedR, 1999, S. 250 ff. QUAAS/ZUCK, Medizinrecht, München, 2005, § 13, Rn. 69, sprechen von einem „Auffangtatbestand“. Cass. civ., 25.2.1997, in Dalloz 1997, IR, S. 81. Für die früher vertretene Auffassung s. Cass. Civ., 29.5.1951, in Bull. Civ., n. 162 und in Dalloz, 1952, Jur., S. 53, mit Anm. von SAVATIER; Cass. civ., 4.4.1995, in Bull. civ., I, n. 159. Cass., 24.9.1997, n. 9374, in Mass. Foro it, 1997. Cass. Civ., 11.2.1986, unveröffentlicht, zitiert von CASTELLETTA, Responsabilité médical. Droits des malades, 2. Aufl., Parigi, 2004, S. 71. Art. L. 1111-2 Code de la santé publique, verändert durch Loi 2005-370 vom 22.4.2005 : „(1) Toute personne a le droit d’être informée sur son état de santé. Cette information porte sur les différentes investigations, traitements ou actions de prévention qui sont proposés, leur utilité, leur urgence éventuelle, leurs conséquences, les risques fréquents ou graves normalement prévisibles qu'ils comportent ainsi que sur les autres solutions possibles et sur les conséquences prévisibles en cas de refus. Lorsque,
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densersatz, wenn der Patient einen „echten Entscheidungskonflikt“ hinsichtlich der Aufklärung substantiiert darlegt, ohne diesen beweisen zu müssen74. In Italien ist die Rechtsprechung sogar noch weiter gegangen und hat die Beweislastumkehr auf sämtliche Fälle erweitert, in denen eine Nichterfüllung der Verpflichtung vorliegt: Die Vereinigten Senate der Corte di Cassazione75 haben angemerkt, dass „der Gläubiger den Titel der Verpflichtung beweisen und nur die Nichterfüllung darlegen muss, während der Schuldner die rechtserlöschende Tatsache unter Beweis stellen oder den haftungsbefreienden Beweis nach Art. 1218 it. Cod. Civ. erbringen muss“76. Demzufolge wurde vor allem in Frankreich und Deutschland eine Verteidigungsstrategie durch die Einführung von Risk Management-Prozeduren und die Ausarbeitung strenger Protokolle entwickelt: Der Patient wird überaus gewissenhaft informiert und erhält stets zahlreiche Formulare und detaillierte Informationsbroschüren. Bei bestimmten Eingriffen (wie bei Schönheitsoperationen, bei denen meistens das Ergebnis gewährleistet wird77) wird ein Vertrag abgeschlossen, in
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postérieurement à l'exécution des investigations, traitements ou actions de prévention, des risques nouveaux sont identifiés, la personne concernée doit en être informée, sauf en cas d'impossibilité de la retrouver. (2) Cette information incombe à tout professionnel de santé dans le cadre de ses compétences et dans le respect des règles professionnelles qui lui sont applicables. Seules l'urgence ou l'impossibilité d'informer peuvent l'en dispenser. (3) Cette information est délivrée au cours d'un entretien individuel. (4) La volonté d'une personne d'être tenue dans l'ignorance d'un diagnostic ou d'un pronostic doit être respectée, sauf lorsque des tiers sont exposés à un risque de transmission. (5) Les droits des mineurs ou des majeurs sous tutelle mentionnés au présent article sont exercés, selon les cas, par les titulaires de l'autorité parentale ou par le tuteur. Ceux-ci reçoivent l'information prévue par le présent article, sous réserve des dispositions de l'article L 1111-5. Les intéressés ont le droit de recevoir eux-mêmes une information et de participer à la prise de décision les concernant, d'une manière adaptée soit à leur degré de maturité s'agissant des mineurs, soit à leurs facultés de discernement s'agissant des majeurs sous tutelle. (6) Des recommandations de bonnes pratiques sur la délivrance de l'information sont établies par la Haute Autorité de santé et homologuées par arrêté du ministre chargé de la santé. (7) En cas de litige, il appartient au professionnel ou à l'établissement de santé d'apporter la preuve que l'information a été délivrée à l'intéressé dans les conditions prévues au présent article. Cette preuve peut être apportée par tout moyen.”. BGH, 1.2.2005, in NJW, 2005, S. 1364. Vgl. auch DEUTSCH, Neues zur ärztlichen Aufklärung im Ausland, a.a.O., S. 465; SPICKHOFF, Die Entwicklung des Arztrechts 2006/2007, in NJW, 2007, S. 1632. Cass., Sez. Un., 30.10.2001, n. 13533, in Foro it., 2002, I, S. 769, mit Anm. von LAGHEZZA, Inadempimenti ed onere della prova: le sezioni unite e la difficile arte del rammendo; in Contr., 2002, S. 113, mit Anm. von CARNEVALI, Inadempimento e onere della prova; in Nuova Giur. civ. comm., 2002, I, S. 349, mit Anm. von MEOLI, Risoluzione per inadempimento ed onere della prova. „Il creditore deve dimostrare il titolo dell’obbligazione ed allegare soltanto l’inadempimento, mentre il debitore deve dedurre il fatto estintivo o la prova liberatoria dell’art. 1218 c.c.”. In Frankreich wird die Leistungshandlung des Schönheitschirurgen überaus streng bewertet (CA Paris, 16.6.1995, in Dalloz, 1995, IR, S. 194) und die Informationspflicht ist „total“ (Cass. civ., 14.1.1992, n. 90-10.870, in Bull. civ., I, n. 16). Für Deutschland:
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dem jede Phase der Operation, die erwarteten Mindestergebnisse, die möglichen Risiken usw. genau beschrieben sind.
3. Die policy des englischen House of Lords In England übernimmt die duty of information dagegen wie gesagt eine stark untergeordnete Bedeutung, denn der Informationsmangel bewirkt einen Zustimmungsmangel, und der Arzt wird auf der Grundlage der tort of battery zur Verantwortung gezogen. Im Rahmen der Arzthaftung ist die englische Rechtsprechung bei der Anwendung der tort of battery jedoch äußerst zurückhaltend.78 Alle gegen Ärzte erhobenen Schadenersatzklagen wegen breach of duty sind actions of negligence.79 Die Beweislast obliegt ausschließlich dem claimant, d.h. dem Patienten, obwohl eine Umkehr der Beweislast versucht80, vom House of Lords aber energisch abgewiesen wurde81. Der klassische „but for test“ für den Beweis des kausalen Zusammenhangs ist jedoch zu unflexibel, und deshalb hat das House of Lords in den Fällen der Arzthaftung das Kriterium der „material contribution to the injury“ eingeführt82: Die Haftung des Arztes liegt dann vor, wenn sein Verhalten materiell zum Entstehen des Schadens beigetragen hat. Diese neue Ansicht entsprang der vom Gerichtshof gezeigten Bereitschaft, das Verschulden von einigen den Kläger de facto begünstigenden Elementen abzuleiten. Die Prüfung erfolgt durch äußerst technische gesetzliche Analysen, in denen zum Zweck der Ermittlung des kausalen Zusammenhangs komplexe linguistische Formeln auf die Tatsachen angewendet werden.
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DEUTSCH/GEIGER, Medizinischer Behandlungsvertrag, in Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, 1982, S. 1095 f.; für Italien: Cass., 8.8.1985, n. 4394, in Foro it., 1986, I, S. 121 f., mit Anm. von PRINCIGALLI; VACCÀ, L’intervento di chirurgia estetica è obbligazione di risultato?, in Resp. civ. e prev., 1986, S. 44; ROMANO, Considerazioni in tema di responsabilità contrattuale del medico per violazione del dovere di informazione, in Giur. it., 1987, I, 1, S. 1136; COSTANZA, Informazione del paziente e responsabilità del medico, in Giust. civ., 1986, I, S. 1432; Trib. Trieste, 14.4.1994, in Resp. civ. e prev., 1994, S. 768, mit Anm. von F. und C. PONTONIO, La responsabilità del chirurgo estetico: obbligazione di mezzi o di risultato?; PERULLI, a.a.O., S. 450 f. Hills v. Potter (1983) 3 All ER 716, 728; Chatterton v. Gerson (1981) QB 432, 443; Abbass v. Kenney (1995) 31 BMLR 157, 163; The Creuzfeldt-Jakob Disease Litigation (1995) 54 BMLR 1. GRUBB, Duties in Contract and Tort, a.a.O., S. 316, Rn. 5.06; Pfizer Corporation v. Ministry of Health (1965) AC 512 (HL). McGhee v. National Coal Board (1973) 1 WLR 1. Wilsher v. Essex AHA (1986) 3 All ER 801. Bomington Castings v. Warlow (1956) AC 613; Holtby v. Brigham & Cowan (Hill) Ltd (2000) 3 All ER 421 (CA).
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IV. Anregungen aus den skandinavischen und indischen Medizinrechtssystemen Abschließend kann behauptet werden, dass sich die Rechtsprechung grundsätzlich auf die eine oder andere Weise darum bemüht, den objektiven Konflikt zwischen der Notwendigkeit des förmlichen Nachweises der Arzthaftung und dem Wunsch nach Gerechtigkeit gegenüber dem Patienten zu lösen. Diese Entscheidung ist ein reines Problem der policy bzw. der Rechtspolitik. Im Vergleich zu allen anderen Fällen der zivilrechtlichen Haftung ist diese Frage jedoch im Bereich des Medizinrechts überaus heikel, denn einerseits gestalten sich die Tatsachenelemente aufgrund des Vorliegens zahlreicher variabler Werte besonders komplex, und andererseits geht es um das Leben und die Gesundheit eines Menschen. Die primären und auf nationaler Ebene anerkannten Zielsetzungen sind auf den Patientenschutz und die Effizienz des Systems gerichtet, und diese Aufgabe ist oft der Quadratur des Kreises gleichzustellen. Ein derart hochgestecktes Ziel kann in diesem Sinne nur durch ein System erreicht werden, in dem die Schäden des Patienten auf der Grundlage der jeweiligen Bedürfnisse und nicht auf der Grundlage des Verschuldensnachweises ersetzt werden. Dieser Weg wurde von den skandinavischen Ländern beschritten, wo die Regeln der zivilrechtlichen Haftung de facto durch die Schaffung eines öffentlichen Versicherungssystems ersetzt wurden83: Nimmt der Schaden gewisse Ausmaße an, wird dem geschädigten Patienten ein Pauschalersatz zuerkannt, der selbstverständlich unter der Summe liegt, die er im Falle des Obsiegens in einem Prozess in anderen europäischen Ländern erhalten würde, aber keine Kosten für Patienten und Schädiger verursacht.84 Prozedural gesehen ist dieser Mechanismus im Übrigen sehr einfach, denn der Patient muss lediglich den Beweis des Kausalzusammenhangs zwischen dem Schadensereignis und dem medizinischen, sanitären oder pharmazeutischen Vorfall erbringen.85 In Zukunft werden meiner Meinung nach zwei Phänomene mit sozialer Bedeutung eine fundamentale Rolle spielen und voraussichtlich einen direkten Einfluss auf das System der Arzthaftung ausüben: • die geänderte Einstellung der Gesellschaft gegenüber dem professionista, der nicht mehr als Verwahrer des absoluten Wissens, sondern als Dienstleister angesehen wird; • die geänderte Einstellung des Rechts gegenüber den Adressaten der Regeln, und hier beziehe ich mich insbesondere auf die Aufmerksamkeit, die die nationalen Gesetzgeber und der Gemeinschaftsgesetzgeber in den letzten Jahrzehnten dem Verbraucher und seinem Schutz gewidmet haben.
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LILIE/FISCHER, Ärztliche Verantwortung im europäischen Rechtsvergleich, in Schriftenreihe der Juristischen Fakultät Halle, Bd. 7, Köln u.a., 1999, S. 156. LILIE/FISCHER, a.a.O., S. 157 f. LILIE/FISCHER, a.a.O., S. 160.
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In diesem Sinne ist der Patient ein Verbraucher von Gütern (Medikamente und Maschinen) und Dienstleistungen (Tätigkeit des Arztes und der medizinischen Hilfskräfte, Krankenhaus), der angesichts des Umstandes, dass dieser Verbrauch seiner Gesundheit dient, eines besonderen Schutzes bedarf.86 Im Übrigen ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Patient als typischer Verbraucher eine unterlegene Stellung einnimmt, und zwar auf drei Ebenen, d.h. informativ, psychologisch und wirtschaftlich. In diesem Zusammenhang ist Indien ein vorbildhaftes Beispiel. Die Entwicklung, die das indische Rechtssystem dazu bewegt hat, die Verbrauchergerichte auch für Rechtsstreitigkeiten in Sachen ärztlicher, sanitärer und pharmazeutischer Haftung zugänglich zu machen, ist zweifellos überaus beeindruckend und äußerst interessant.87 In Indien sind diese drei Bereiche des Medizinrechts im Übrigen stark voneinander abhängig, denn das System ist angesichts der Koexistenz der herkömmlichen Heilkunde (die in vier Schulen gegliedert ist: Ayurveda, Siddha, Unani und Amtchi) und der westlichen Medizin, einschließlich Allopathie und Chirurgie, besonders komplex.88 Im Vergleich zur Lösung der skandinavischen Länder wurde die Effizienz des Systems auch durch die alternative indische Lösung, d.h. die Erweiterung der Zuständigkeit der Verbrauchergerichte auf die geschädigten Patienten, gesteigert und der Patient besser geschützt, vor allem deshalb, weil der Verbraucher insbesondere auf prozessualer Ebene in den Genuss einer Reihe von Erleichterungen, wie der Beweislastumkehr, der Vereinfachung des Prozesses und dessen informellen Verlaufs sowie der favor consumatoris89, kommt.
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HALL/SCHNEIDER, Patients as Consumers: Courts, Contracts, and the new Medical Marketplace, in Michigan Law Review, Bd. 106, N. 4, 2008, S. 643 ff. DAVID ANNOUSSAMY, India, in A. DIURNI (Hrsg.), Percorsi mondiali di diritto privato e comparato, Milano, 2008, S. 198. DAVID ANNOUSSAMY, a.a.O., S. 200 ff. DAVID ANNOUSSAMY, a.a.O., S. 209 ff.
Regelungen für die medizinische Forschung – Harmonisierung durch den Europarat
Elmar Doppelfeld
Einleitung Der Europarat strebt auf der Grundlage seiner Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der fundamentalen Freiheiten vom 4. November 19501 an, die Einheit seiner Mitglieder durch harmonisierte Schutzbestimmungen auf europäischer Ebene zu fördern. Vor diesem Hintergrund sieht der Europarat, veranlasst durch die rasante Entwicklung der Biologie und Medizin insbesondere seit den beiden letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts wie erweiterte Möglichkeiten medizinischer Diagnostik und Therapie, In-vitro-Fertilisation mit dem Zugriff zum menschlichem Genom oder Forschung mit menschlichen Embryonen, Handlungsbedarf für die Bereiche „Medizin und Biologie“. Ein erster Schritt zur Bearbeitung der anstehenden ethischen und rechtlichen Fragen war die Einsetzung einer ad hoc Arbeitsgruppe, des „Comité ad hoc des Experts sur la Bioétique“ (CAHBI). Der Ministerrat des Europarates hat diese Gruppe 1991 umgewandelt in einen ständigen Lenkungsausschuss, das „Steering Committee on Bioethics“, bekannt auch unter dem von seiner amtlichen französischen Bezeichnung „Comité Directeur pour la Bioéthique“ abgeleiteten Akronym CDBI. Global lässt sich der Auftrag dieses Lenkungsausschusses beschreiben mit der Erarbeitung von Regelungen zum Schutz der Menschenrechte und der Würde der Person im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin, wie es im Titel des „Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin“ anklingt – „for the protection of human rights and dignity of the human being with regards to the application of biology and medicine“2. Diese erste vom Lenkungsausschuss erar-
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Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms of 4 November 1950, Council of Europe, CETS No.: 005. Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine, Oviedo, 4.IV. 1997, European Treaty Series – No. 164, Council of Europe, Strasbourg.
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Elmar Doppelfeld
beitete und vom Ministerrat des Europarates verabschiedete Konvention enthält auch grundlegende Vorschriften für die medizinische Forschung am Menschen. Mit dieser Konvention und den auf ihrer Grundlage erarbeiteten Zusatzprotokollen, Instrumenten des internationalen Rechts, folgt der Europarat auf europäischer Ebene der Tendenz staatlicher Regelung auch der Forschung am Menschen. Als Beispiel nationaler Vorschriften mit teilweise unverändert relevantem Gedankengut sei erwähnt die „Anweisung an die Vorsteher der Kliniken, Polikliniken und sonstigen Krankenanstalten“ vom 29. Dezember 1900 des Preußischen Kultusministers3. Mit diesem Erlass wird die Zustimmung des Betroffenen nach gehöriger Belehrung, heute als „informed consent“ bekannt, als Voraussetzung für die Teilnahme an medizinischen Versuchen vorgeschrieben. Anzuführen sind ferner die „Richtlinien für neuartige Heilversuche und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen“ des Reichsministers des Innern vom 28. Februar 19314. Der Nürnberger Codex des internationalen Gerichtshofes, ebenfalls dem Bereich staatlicher Normsetzung zugehörig, wurde Motor internationaler Regelungen. Bei der Bewertung zeitgenössischer staatlicher Regelungen u.a. auch der Konventionen und Zusatzprotokolle des Europarates ist zu würdigen der fruchtbare Einfluss, den zwei internationale Empfehlungen auf ihre Erarbeitung ausgeübt haben: Die nur forschende Ärzte betreffende Deklaration des Weltärztebundes5 von Helsinki insbesondere in ihrer 1975 in Tokio6 verabschiedeten Fassung und die „Internationalen Ethischen Richtlinien für Biomedizinische Forschung am Menschen“ von CIOMS7, gerichtet an alle Forscher. Beide Instrumente können als Äußerungen nichtstaatlicher Organisationen keine unmittelbare rechtliche Wirkung entfalten. Es wird ferner bezweifelt, dass diese oder ähnliche Regelungen ausreichen, um angesichts der Multidisziplinarität der immer tiefer eingreifenden Forschung alle Forscher zu binden und den Schutz der Rechte und Grundfreiheiten der Teilnehmer zu gewährleisten. Diese Überlegung mag beitragen zu der Entscheidung des Europarates, rechtlich bindende Instrumente auf europäischer Ebene vorzulegen. Bevor hierauf näher eingegangen wird, sollen zunächst Entstehungsweise, Systematik und Bindungskraft von Verlautbarungen des Europarates am Beispiel des CDBI dargestellt werden.
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Anweisung an die Vorsteher der Kliniken, Polikliniken und sonstigen Krankenanstalten, Zentralblatt für die Gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1901), 188 – 189. Richtlinien für neuartige Heilversuche und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen. Erlass des Reichsministers des Inneren vom 28. Februar 1931. Reichsgesundheitsblatt 1931, 179 ff. World Medical Association: Declaration of Helsinki Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects, www.wma.net. Die revidierte Deklaration von Helsinki, BAnz.108:7109 vom 13. Juni 1987 Council for International Organizations of Medical Sciences (CIOMS), International Ethical Guidelines for Biomedical Research Involving Human Subjects, Geneva 2002.
Regelungen für die medizinische Forschung - Harmonisierung durch den Europarat
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Entstehung von Konventionen, Protokollen und Empfehlungen Die Mitglieder des CDBI werden, wie die Mitglieder aller Lenkungsausschüsse des Europarates, ausschließlich von den Regierungen seiner derzeit 47 Mitgliedstaaten benannt. Das CDBI bearbeitet vom Ministerrat oder anderen Gremien des Europarates vorgelegte Sachgebiete oder kann im Rahmen seiner Aufgabenzuweisung Themen zur Bearbeitung vorschlagen. Ein vereinbartes, vom Ministerrat gebilligtes Thema wird in seinen Grundzügen von der Plenarversammlung des CDBI diskutiert, bevor zu seiner weiteren Bearbeitung eine Arbeitsgruppe gebildet wird. In Arbeitsgruppen können neben ordentlichen Mitgliedern des CDBI auch von den Regierungen der Mitgliedstaaten zu benennende Sachverständige mitwirken. Die von einer Arbeitsgruppe formulierten Entwürfe werden im ständigen Dialog mit der Plenarversammlung des CDBI überarbeitet und harmonisiert. Bei einer gewissen Reife kann der Text dem Ministerrat zugeleitet werden mit der Bitte, ihn den Mitgliedstaaten sowie den Staaten und Organisationen mit Beobachterstatus, der parlamentarischen Versammlung des Europarates, der europäischen Kommission und dem europäischen Parlament zur Stellungnahme zuzuleiten. Die angesprochenen Gremien, insbesondere die Regierungen der Mitgliedstaaten, entscheiden über das Verfahren der internen Begutachtung einschließlich zu beteiligender Sachverständiger und über die Einbeziehung der Öffentlichkeit. Entwürfe erscheinen überdies im Internet, sodass im formellen Verfahren nicht angesprochene Gruppen, die so genannten Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), zum Beispiel ärztliche berufsständische Vertretungen, wissenschaftliche Organisationen oder Patientenverbände, sich ebenfalls äußern können. Eingegangene Kommentare werden nach sorgfältiger Prüfung gegebenenfalls für eine weitere Überarbeitung des Textes im Dialog zwischen Arbeitsgruppe und dem CDBI genutzt. Im Rahmen dieser Genese wird auch der rechtliche Status der zu verabschiedenden Verlautbarung festgelegt. Mit einer Mehrheit von mindestens 2/3 der Abstimmenden kann das CDBI nach der Geschäftsordnung für Lenkungsausschüsse dem Ministerrat einen Text als Entwurf zuleiten mit der Bitte um Annahme. Falls sich der Ministerrat, gegebenenfalls nach zusätzlicher Konsultation weiterer Gremien, dieser Bitte anschließt, wird der Text in einem förmlichen Verfahren zur Zeichnung durch die Mitgliedstaaten und die sonstigen zur Zeichnung berechtigten Staaten geöffnet. Konventionen und auf ihrer Grundlage verfasste Zusatzprotokolle werden für die Mitgliedstaaten rechtlich bindend, wenn sie nach Unterzeichnung gemäß innerstaatlichem Verfassungsrecht ratifiziert werden. Bei der Zeichnung einer Konvention oder eines Protokolls können beitretende Staaten gegen einzelne Bestimmungen auf der Grundlage innerstaatlichen Rechtes Vorbehalte einlegen. Konventionen und Protokolle treten als Rechtsinstrumente des Europarates in Kraft, wenn sie mindestens von 5 Staaten, darunter 4 Mitgliedstaaten des Europarates, ratifiziert wurden. Nach Erlangung innerstaatlicher Rechtskraft stecken Konventionen und Zusatzprotokolle für die medizinische Forschung den Rahmen ab, den Forscher un-
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Elmar Doppelfeld
geachtet von Empfehlungen sonstiger Genese ausschöpfen, aber nicht überschreiten dürfen. Empfehlungen des Europarates haben keine rechtliche Bindung. Sie stellen einen innerhalb der 47 Mitgliedstaaten abgestimmten Vorschlag für innerstaatliche rechtliche Regelungen dar. Konventionen, Protokolle und Empfehlungen werden durch eine Präambel eingeleitet, die die Grundlagen und die Begründung für ihre Abfassung zusammenfasst. In den Katalog dieser Erwägungsgründe werden ausschließlich Rechtsquellen staatlicher Provenienz einbezogen, Vorlagen von NGOs, z.B. die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes, jedoch nicht aufgenommen. Die Texte enthalten neben den auf ihr spezielles Thema bezogenen Vorschriften eine Anzahl weitgehend gleichförmiger Artikel, die sich mit formalen Rechtsfragen wie Verfahren der Signatur, Sanktionen bei Verstößen, Verhältnis zu anderen Rechtsinstrumenten, Änderung des Inhalts usw. befassen. Diese Artikel werden hier ebenso wie die Präambel lediglich erwähnt ohne weitergehende Betrachtung in der folgenden Darstellung. Ergänzt werden diese Instrumente des Europarates durch einen in der Verantwortung des Generalsekretärs erstellten Kommentar, der zur Interpretation der einzelnen Bestimmungen dienen soll. Für den Bereich „Biomedizinische Forschung“ hat der Europarat das „Menschenrechtübereinkommen zur Biomedizin“ sowie das auf seiner Grundlage erarbeitete Zusatzprotokoll „Biomedizinische Forschung“8 verabschiedet. Ergänzt werden diese Rechtsinstrumente durch die an die Mitgliedstaaten gerichtete „Empfehlung des Ministerrates zur Forschung mit menschlichem Gewebe “9.
Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin Das „Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin“, nach dem Ort seiner Öffnung zur Zeichnung am 4. April 1997 auch als Konvention von Oviedo bekannt, legt in 14 Kapiteln mit 38 Artikeln unverzichtbare Bestimmungen zum Schutz der Menschenrechte und der Würde des „Human Being“ bei der Anwendung von Biologie und Medizin vor.
Allgemeine Bestimmungen Hierzu gehören entsprechend dem umfassenden Titel der Konvention auch Regelungen zur Routineanwendung von Biologie und Medizin am Menschen, die hier außer Betracht bleiben. Erwähnt sei lediglich, dass nach Artikel 4 jeder Eingriff 8
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Additional Protocol to the Convention on Human Rights and Biomedicine Concerning Biomedical Research, Strasbourg, 25.I.2005, Council of Europe Treaty Series – No. 195, Council of Europe, Strasbourg. Recommendation Rec(2006)4 of the Committee of Ministers to member states on research on biological material of human origin.
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im medizinischen Bereich einschließlich der Forschung den Standards und Verpflichtungen des Berufsstandes zu entsprechen hat. Hier lassen sich Einflussnahmen des im Text nicht näher spezifizierten Berufsstandes ableiten. Aus dem Kapitel 1 – Allgemeine Vorschriften – ist neben der Formulierung des schon genannten Ziels der Konvention in Artikel 1 insbesondere das Prinzip des Vorrangs des Individuums vor den reinen Interessen der Gesellschaft oder der Wissenschaft anzuführen. Diese Norm ist ebenso wie die Regelungen über die Zustimmung zu Eingriffen in Kapitel 2 als besonders nachhaltige Vorgabe auch für Zusatzprotokolle und Empfehlungen zu bewerten. Die Konvention bindet die Zulässigkeit eines medizinischen Eingriffes an die freiwillig erteilte Zustimmung der betroffenen Person nach vorheriger angemessener Unterrichtung. Dieser „free informed consent“ kann jederzeit widerrufen werden ohne Nachteile für den Betroffenen, insbesondere ohne jede Einschränkung gegebenenfalls notwendiger ärztlicher Maßnahmen. Mit einer gewissen Ausnahme durch die später zu besprechende Regelung zur Forschung darf an Menschen, die zur Einwilligung nicht fähig sind, nur ein Eingriff zu ihrem unmittelbaren Nutzen durchgeführt werden. Bei nichteinwilligungsfähigen Personen, Minderjährigen wie Erwachsenen, muss die Zustimmung zu einem solchen Eingriff bei dem nach innerstaatlichem Recht autorisierten Vertreter eingeholt werden. Die vertretene Person ist entsprechend ihrer aktuellen Verständnisfähigkeit an der Entscheidung zu beteiligen. Der gesetzliche Vertreter hat das gleiche Recht auf Information, freie Erteilung der Zustimmung sowie Rücknahme des „free informed consent“ wie der betroffene Mensch selbst. Der Schutz der Privatsphäre und das Recht auf Information und auf Nichtwissen werden in einem eigenen Kapitel berücksichtigt, das auch für die medizinische Forschung gilt. Ferner finden sich Vorgaben für den Einsatz humangenetischer Methoden, die ebenfalls die Forschung betreffen.
Forschung am Menschen Kapitel 5 legt Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen fest. Forschung in Biologie und Medizin soll frei durchgeführt werden unter den Bedingungen der Konvention und unter Beachtung anderer gesetzlicher Regelungen zum Schutz des „Human Being“. Die international akzeptierten Regeln für diese Forschung werden kodifiziert, nämlich Fehlen einer Alternative vergleichbarer Effektivität, angemessene Nutzen-Risiko-Relation, Unterrichtung der betroffenen Person über ihre Rechte und gesetzlichen Schutzbestimmungen sowie die jederzeit widerrufbare freie, ausdrückliche, spezielle und dokumentierte Zustimmung. Als weitere Voraussetzung wird die Genehmigung des Forschungsprojektes durch eine „zuständige Institution“ gefordert, wenn das nationale Recht eine förmliche Genehmigung vorschreibt. Mit dieser Formulierung soll die unterschiedliche Rechtslage in den Mitgliedstaaten berücksichtigt werden, die teils formale Genehmigungen von Forschungsvorhaben fordert, teils auf sie verzichtet. Auf jeden Fall haben vor einer gegebenenfalls erforderlichen Genehmigung eine unabhängige Prüfung der
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wissenschaftlichen Qualität einschließlich der Bedeutung des Forschungsprojektes und eine multidisziplinäre Prüfung der ethischen Vertretbarkeit stattzufinden. Mit dieser Bestimmung soll eine Entscheidung der nach innerstaatlichem Recht zuständigen Institution ohne diese unabhängige Prüfung verhindert werden. In dem insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland mit beachtlichen Emotionen diskutierten Artikel 17 finden sich Schutzbestimmungen für die medizinische Forschung mit Personen, die nicht zustimmen können. Es müssen die schon erwähnten, für jedes Forschungsprojekt in der Konvention kodifizierten wissenschaftlichen Bedingungen eingehalten werden. Grundsätzlich sollen die erwarteten Ergebnisse eine begründete Aussicht auf einen Nutzen für die nicht zustimmungsfähigen Teilnehmer bieten. Zusätzlich gilt, dass Forschung vergleichbarer Effektivität an zustimmungsfähigen Personen nicht durchgeführt werden kann. Die Zustimmung zur Einbeziehung eines nichteinwilligungsfähigen Menschen muss entsprechend den bereits genannten Grundbestimmungen von seinem nach innerstaatlichem Recht zuständigen Vertreter erteilt werden. Schließlich darf sich die betroffene Person nicht gegen eine Teilnahme wehren.
Forschung an Nicht-Einwilligungsfähigen Um Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen ohne die begründete Aussicht auf einen unmittelbaren individuellen Nutzen zu ermöglichen, führt der Artikel 17, Absatz 2 die Mitgliedstaaten verpflichtende Bedingungen ein. Solche Forschung muss eine Ausnahme bleiben, Schutzbestimmungen sind gesetzlich vorzuschreiben. Die Forschung wird dann als gerechtfertigt angesehen, wenn sie eine signifikante Verbesserung des wissenschaftlichen Verständnisses der Situation, Krankheit oder Störung des Individuums anstrebt mit dem Ziel zum Nutzen der Person selbst – ein unmittelbarer Nutzen wird also keineswegs ausgeschlossen – oder anderer Personen in der selben Alterskategorie oder mit der selben Krankheit oder mit der selben Störung beizutragen. Die Forschungsprojekte dürfen höchstens mit einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung für die betroffene Person verbunden sein. Durch diese Bindung an „minimal risk and minimal burden“ als objektive Schranken wird die in der übrigen medizinischen Forschung als zulässig angesehene Abwägung des Risikos gegen den erhofften Nutzen für die gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen ausdrücklich ausgeschlossen. Schließlich ist zu ergänzen, dass die Konvention die Erzeugung menschlicher Embryonen für Forschungszwecke verbietet, im übrigen einen angemessenen Schutz des Embryos in jenen Ländern fordert, in denen Forschung an Embryonen In-vitro gesetzlich erlaubt ist.
Das Zusatzprotokoll „Biomedizinische Forschung“ Mit diesem Zusatzprotokoll - Präambel, 40 Artikel, gegliedert in 12 Kapitel sowie 1 Anhang- wird im vorgegebenen Rahmen der Konvention und auf ihrer Grundla-
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ge eine rechtlich bindende spezifische Regelung der biomedizinischen Forschung eingeführt.
Anwendungsbereich und Grundregeln für die Forschung Der Anwendungsbereich des Protokolls (Artikel 2) erfasst die gesamte Forschung auf dem „Gesundheitsgebiet“ einschließlich der hierzu notwendigen Eingriffe am Menschen. Über den Begriff „Eingriff“ – im englischen Originaltext „intervention“ – hat es eingehende Debatten gegeben, da einerseits alle Forschung, die in irgendeiner Weise die Person, auch ohne Verletzung ihres Integumentes, tangieren könnte, eingeschlossen, andererseits Forschungsvorhaben ohne eine solche Gefahr ausgeschlossen werden sollten. Artikel 2 definiert „Eingriff“ als physischen Eingriff traditioneller Art oder als jede andere Maßnahme mit dem Risiko, das psychische Wohlbefinden der betroffenen Person zu stören. Angesprochen werden hier insbesondere Interviews mit Fragen, die die Psyche der Befragten berühren könnten. Durch diese Definition des Anwendungsbereichs wird klargestellt, dass auch solche Studien nach den Bestimmungen des Zusatzprotokolls durchzuführen sind, insbesondere ihr Studienplan einer Ethik-Kommission vorzulegen und das Projekt selbst, wenn nach nationalem Recht erforderlich, förmlich zu genehmigen ist. Das Forschungsprotokoll gilt nicht für die Forschung an Embryonen In-vitro, erfasst jedoch Forschung an Föten und Embryonen In-vivo. Unter den allgemeinen Bestimmungen des Kapitels 2 werden Grundsätze wie Vorrang des Individuums, Freiheit der Forschung unter den Bedingungen des Zusatzprotokolls oder Fehlen einer Alternative zur Forschung am Menschen aus der Konvention wiederholt. Auch das Prinzip der Genehmigung durch eine Behörde gemäß nationalem Recht nach vorhergehender unabhängiger Beurteilung der wissenschaftlichen Qualität und der ethischen Zulässigkeit kehrt wieder. Die Risiko-Nutzen-Abwägung wird breiter gefasst, wobei für Forschung ohne erkennbaren Nutzen für den Betroffenen, vorgenommen an einwilligungsfähigen Personen, ein akzeptables Risiko und eine akzeptable Belastung verlangt werden. Ausdrücklich wird die wissenschaftliche Qualität eines Forschungsprojektes gefordert.
Ethik-Kommissionen Die Tätigkeit von Ethik-Kommissionen wird eingehend geregelt. Jeder Forschungsplan ist ihnen zur unabhängigen Prüfung der ethischen Vertretbarkeit vorzulegen, bei transnationalen Studien soll pro Land eine Ethik-Kommission befasst werden. Die Ethik-Kommissionen sind gehalten, ihre Entscheidung mit Gründen zu versehen. Die Signatarstaaten werden aufgefordert, die Unabhängigkeit der Kommissionen zu sichern und sie vor Einflussnahmen zu schützen. Mitglieder von Ethik-Kommissionen müssen jeden Interessenkonflikt im Zusammenhang mit einem Studienprojekt darlegen und sind im zutreffenden Fall von seiner Beratung auszuschließen. Der Katalog der den Ethik-Kommissionen vorzulegenden Informationen umfasst 20 Einzelpunkte, die in einem Anhang zum Zusatzprotokoll zusammengefasst sind. Mit seinen Kapiteln „ Beschreibung des Projektes“,
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„Teilnehmer, Zustimmung und Information“ sowie „Sonstige Angaben“ entspricht er einschließlich der Pflicht zur Offenlegung finanzieller Interessen des Forschers weitgehend dem in den meisten Mitgliedsländern des Europarates üblichen Anforderungsprofil. Jede Ethik-Kommission kann darüber hinaus zusätzliche Informationen zu vorgelegten Forschungsvorhaben verlangen. Der Katalog soll dazu beitragen, die Basis für die Beurteilung von Forschungsprojekten europaweit zu harmonisieren. Es wurde die Form des Anhangs gewählt, da so eine Änderung zur Berücksichtigung neuer Entwicklungen leichter möglich ist. Das Zusatzprotokoll verpflichtet die Ethik-Kommissionen, jede Art von unangemessenem Einfluss auf zu gewinnende Projektteilnehmer, insbesondere durch Gewährung finanzieller oder sonstiger Vorteile, zu unterbinden. Besondere Aufmerksamkeit hat dabei „vulnerable persons“ zu gelten.
Free Informed Consent Dem „free informed consent“ wird angesichts seiner zentralen Bedeutung ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier werden die Einzelheiten aufgeführt, die den für ein wissenschaftliches Vorhaben zu gewinnenden Personen mitzuteilen sind. Dazu gehören eine Übersicht über den Forschungsplan und die Angabe vorhersehbarer Risiken sowie möglichen Nutzens. Ferner ist die Bewertung durch die zuständige Ethik-Kommission bekannt zu geben. Über Art, Dauer und insbesondere Belastung der vorgesehenen Forschungsmaßnahmen muss eingehend informiert werden. Zu unterrichten ist über sonstige präventive, diagnostische und therapeutische Möglichkeiten. Darzulegen sind Maßnahmen zum Umgang mit unerwarteten Reaktionen sowie Vorkehrungen zum Schutz der Privatsphäre und der im Rahmen des Forschungsprojektes erhobenen Daten. Zur Information gehören Angaben, wie die Unterrichtung über die Ergebnisse des Forschungsprojektes erfolgt sowie in welcher Weise für den Teilnehmer relevante Befunde mitgeteilt werden sollen. Hinzuweisen ist ferner auf Vorkehrungen zur Kompensation eines eingetretenen Schadens, z.B. Abschluss einer Probandenversicherung je nach nationalem Recht. Angaben über eine mögliche künftige Nutzung der Resultate einschließlich ihrer kommerziellen Verwertung sowie über die Finanzierung des Projektes gehören ebenfalls zu den Informationspflichten. Die in der Konvention verankerte Pflicht wird aufgegriffen, den prospektiven Forschungsteilnehmer über seine Rechte und die Möglichkeit des jederzeitigen Widerrufs seiner Zustimmung zu unterrichten. Es sollen Vorkehrungen für den Fall getroffen werden, dass die Zustimmungsfähigkeit des eingeladenen Probanden bezweifelt wird.
Schutz nicht zustimmungsfähiger Forschungsteilnehmer Im Kapitel 5 – „Schutz von Personen, die nicht zustimmungsfähig sind“ – werden Teile der entsprechenden Abschnitte der Konvention wiederholt. Dies mag juristischem Stil widersprechen, dient aber der praktischen Anwendung des Zusatzprotokolls auf diesem sensiblen Gebiet.
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Auf der Grundlage der Konvention wurde im Zusammenhang mit der gruppennützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen präzisiert, dass das Prinzip „minimal risk and minimal burden“ als absolute Grenze auch dann nicht aufgegeben werden darf, wenn sich aus dieser Forschung Nutzen für die betroffene Person selbst abzuzeichnen scheint. Die Informationen, die dem gesetzlichen Vertreter eines einwilligungsunfähigen Menschen zu erteilen sind, werden in Einzelheiten angegeben. Das Zusatzprotokoll versucht in Artikel 17, die vergleichsweise neuen Begriffe „minimal risk and minimal burden“ zu präzisieren. „minimal risk“ lässt sich abschätzen u.a. aus bekannten objektiven Daten einer für das Projekt vorgesehenen Methode. Das Protokoll geht davon aus, dass ihre Anwendung höchstens zu einer sehr geringen und zeitlich begrenzten Beeinträchtigung der Gesundheit der Person führt. „minimal burden“ betrifft die Reaktion des nichteinwilligungsfähigen Forschungsteilnehmers auf eine solche Maßnahme. Eine solche Reaktion, z.B. Angst in ihren vielfältigen Ausdrücken, darf höchstens geringfügig und zeitlich eng begrenzt sein. Zur Beurteilung, ob der Betroffene in üblicher Weise oder sehr viel stärker auf eine bekannte Maßnahme, z.B. eine Blutentnahme, reagiert, soll eine Vertrauensperson hinzugezogen werden. Im Einzelfall müssen für die Zulässigkeit der gruppennützigen Forschung beide Bedingungen erfüllt sein. Würde z.B. eine Methode dem Kriterium „minimal risk“ genügen, aber bei einem Nichteinwilligungsfähigen mehr als „minimal burden“ auslösen, dürfte sie an ihm nicht angewandt werden.
Besondere Situationen Andere sensible Bereiche der Forschung werden in einem weiteren Kapitel abgehandelt. Die Bedingungen für Forschung während der Schwangerschaft oder während der Stillperiode gleichen weitgehend denen für gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen, wenn u.a. gefordert wird, dass vergleichbare Untersuchungen an Nichtschwangeren nicht durchgeführt werden können. Der Nutzen wird ähnlich definiert wie bei Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen, schließlich gelten die schon genannten Bedingungen „minimal risk“ und „minimal burden“. Bei Forschung an Stillenden muss sorgfältig jede gesundheitliche Beeinträchtigung des Säuglings vermieden werden. Für die Forschung in Notfallsituationen müssen Signatarstaaten gesetzliche Schutzbestimmungen einführen. Grundsätzliche Bedingung ist, dass der Betroffene nicht in der Lage ist, zuzustimmen und dass wegen der Eilbedürftigkeit der Forschungsmaßnahme die Einholung der Zustimmung beim gesetzlichen Vertreter ausgeschlossen ist. Weitere gesetzlich vorzuschreibende Bedingungen sind die Alternativlosigkeit zur Notfallforschung, die Beurteilung der Ethik-Kommission und, je nach nationalem Recht, die Befürwortung oder Genehmigung als spezifische Notfallforschung durch die zuständigen Instanzen des betreffenden Staates. Jede ablehnende Vorausverfügung, soweit in der Notfallsituation bekannt, ist zu berücksichtigen. Wenn die Forschung im Notfall als gruppennützig einzuordnen ist, gelten die absoluten Grenzen „minimal risk“ und „minimal burden“. Personen, die in solche Forschungsvorhaben einbezogen wurden, oder ihr gesetzlicher Ver-
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treter müssen über diese Einbeziehung so schnell wie möglich unterrichtet werden, damit die Zustimmung des Betroffenen oder die Genehmigung durch den Vertreter zur weiteren Beteiligung an dem Projekt erteilt oder ohne Verzug versagt werden können. Signatarstaaten können gruppennützige Forschung an Gefangenen oder sonst ihrer Freiheit beraubten Personen auf gesetzlicher Grundlage nur dann zulassen, wenn alternative Forschung nicht möglich ist, wenn der Nutzen ausschließlich dem gleichen Personenkreis zukommt und wenn die schon mehrfach erwähnten Grundbedingungen „minimal risk“ und „minimal burden“ eingehalten werden.
Schutz der Forschungsteilnehmer Die Bedeutung des Schutzes des Forschungsteilnehmers und der Überwachung des Projektes werden durch Bestimmungen in einem eigenen Kapitel unterstrichen. Hierzu gehört der selbstverständliche Grundsatz der Minimierung von Risiko und Belastung. Forschung darf nur unter der Aufsicht eines erfahrenen und entsprechend qualifizierten „clinical professionals“ durchgeführt werden. Der Forscher soll vor dem Einschluss eine sorgfältige Analyse des Gesundheitszustandes des Forschungsteilnehmers durchführen, um ein erhöhtes Risiko zu erkennen und zu vermeiden. Dabei kann er sich auf vorliegende, etwa im Rahmen eines Klinikaufenthaltes erhobene aktuelle Daten stützen. Bei Frauen im reproduktionsfähigen Alter sollen mögliche Auswirkungen des Projektes auf künftige Schwangerschaften oder, so die Forschung an einer Schwangeren durchgeführt wird, auf die Gesundheit des Embryos, des Fötus oder des Kindes bedacht werden. Notwendige präventive, diagnostische oder therapeutische Maßnahmen genießen Vorrang vor dem Forschungsprojekt. Falls Kontrollgruppen gebildet werden, sollen ihre Teilnehmer wissenschaftlich geprüfte Methoden der Prävention, Diagnostik oder Therapie erhalten. Durch den Terminus „wissenschaftlich geprüfte Methode“ soll eine Beliebigkeit der Auswahl vermieden und kein „doppelter Standard“ eingeführt werden. Das Protokoll fordert, anders als die Deklaration von Helsinki, hier nicht „die beste Methode“, die, auch unter Berücksichtigung örtlicher Gegebenheiten, oft schwierig zu definieren ist. Das Zusatzprotokoll erlaubt den Einsatz eines Placebo unter zwei weitgehend bekannten und akzeptierten Bedingungen: Wissenschaftlich geprüfte Methoden sind nicht bekannt oder der Verzicht auf ihre Anwendung im Rahmen des Forschungsprojektes birgt kein unannehmbares Risiko oder keine unannehmbare Belastung. Der Einsatz eines Placebos ausschließlich zum Erkenntnisgewinn ohne zusätzliche einschränkende Bedingungen wird nicht zugelassen.
Unterrichtung über Ergebnisse Zum Schutze der Forschungsteilnehmer müssen im Laufe des Forschungsprojektes auftretende Befunde ebenso wie synchron erscheinende wissenschaftliche Publikationen darauf geprüft werden, ob sich Konsequenzen für die NutzenRisiko-Bewertung oder die Sicherheit der Personen ergeben. Gegebenenfalls ist das Protokoll entsprechend zu ändern. Über diese Änderungen müssen die Teil-
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nehmer unterrichtet werden, auf der Grundlage geänderter Bedingungen ist notfalls ein neuer „free informed consent“ einzuholen. Schließlich müssen die nach nationalem Recht zuständigen Instanzen unter Angabe der Gründe über jede vorzeitige Beendigung eines Forschungsprojektes informiert werden. Hiermit soll dem vielfach beklagten „Versanden“ solcher Projekte vorgebeugt werde. Die Vertraulichkeit wird in zweifacher Hinsicht gesichert. Alle während eines Projektes erhobenen personenbezogenen Daten sind als vertraulich anzusehen und entsprechend den Bestimmungen zum Schutz der Privatsphäre zu behandeln. Die Vertraulichkeit der Verhandlungen der Ethik-Kommission soll auf gesetzlicher Grundlage geschützt werden. Es wird die Pflicht eingeführt, Forschungsteilnehmern eine Unterrichtung über Befunde mit Bedeutung für ihre Gesundheit oder für die Qualität ihres künftigen Lebens anzubieten. Der Forschungsteilnehmer selbst hat zu entscheiden, ob er von diesem Angebot Gebrauch machen möchte. Die Aufklärung über solche Befunde soll im Rahmen einer ärztlichen oder gesundheitlichen Beratung vorgenommen werden. Sonstige persönliche Befunde, die im Forschungsprojekt erhoben wurden, müssen den Teilnehmern zugänglich gemacht werden in Übereinstimmung mit gesetzlichen Bestimmungen zum Datenschutz und zum Schutz des Individuums.
Publikation der Ergebnisse Nach der Beendigung eines Projektes soll ein Bericht oder eine Zusammenfassung der Ethik-Kommission oder der zuständigen Institution des betreffenden Landes zugeleitet werden. Auf Anforderung sind die Schlussfolgerungen aus dem Forschungsprojekt auch den Forschungsteilnehmern zugänglich zu machen. Schließlich soll der Forscher „angemessene Maßnahmen ergreifen, um die Ergebnisse in angemessener Zeit der Öffentlichkeit bekannt zu machen“. Mit dieser Bestimmung versucht das Protokoll, eine Pflicht zur Publikation von Forschungsergebnissen einzuführen. Gegenüber stringenteren Fassungen in früheren Entwürfen wurde von Mitgliedstaaten immer wieder eingewandt, es könne u.a. aus verfassungsrechtlicher Sicht keine Pflicht zur Publikation von Ergebnissen geben. Die zitierte, vielfach als zu schwach kritisierte Bestimmung ist als Kompromissformel zu werten.
Forschung in Drittländern Mit einem besonderen Artikel versucht das Protokoll, die Einhaltung seiner Grundsätze auch außerhalb seines Geltungsbereiches sicherzustellen. An diese Bestimmung wird die Erwartung geknüpft, dass der Forschungsexport in Länder mit „günstigeren Bedingungen“ unterbunden wird. In weiteren Artikeln wird die Sicherstellung einer Entschädigung im Schadensfalle, so durch nationales Gesetz vorgeschrieben, verlangt. Der Leser wird in dem Protokoll Bestimmungen zur Forschung mit asserviertem menschlichem Gewebe vermissen. Der Ministerrat hat dem Vorschlag des CDBI zugestimmt, auf der Grundlage der Konvention von Oviedo und des Zu-
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satzprotokolls „Biomedizinische Forschung“ für diesen Bereich einen gesonderten Regelungsvorschlag zu erarbeiten.
Empfehlung zur Forschung mit menschlichem biologischem Material Angesichts der vergleichsweise neuen Forschungsansätze mit besonderen rechtlichen Problemen, z.B. im Zusammenhang mit Biobanken, wurde beschlossen, die Regelungsansätze für dieses Gebiet in Form einer rechtlich nicht bindenden Empfehlung für die nationalstaatliche Gesetzgebung vorzulegen.
Anwendungsbereich Die Empfehlung erfasst den Gesamtbereich der Forschung mit biologischem menschlichem Material in Sammlungen jeder Art einschließlich seiner Entnahme beim Spender. Sie gilt auch für Gewebe, das ursprünglich für andere Zwecke, z.B. für die medizinische Diagnostik oder für ein anderes Forschungsprojekt entnommen wurde. Zum Anwendungsbereich gehören mit dem Gewebe assoziierte Daten, fötales und embryonales Gewebe hingegen fällt nicht unter die Bestimmungen der Empfehlung. Der Text unterscheidet zwischen identifizierbarem und nicht identifizierbarem Gewebe. Identifizierbares Gewebe kann unmittelbar oder unter Verwendung eines Codes einer Person zugeordnet werden. Die verschiedenen Stufen der Identifizierbarkeit und der Codierung werden im Text für den Sprachgebrauch der Empfehlung definiert. Nicht identifizierbare biologische Materialien können demgegenüber alleine oder in Kombination mit assoziierten Daten mit zumutbaren Mitteln – „reasonable efforts“, wie es entsprechend internationalem Sprachgebrauch heißt – einer Person nicht zugeordnet werden.
Allgemeine Bestimmungen In den allgemeinen Bestimmungen wird den Mitgliedstaaten empfohlen, praktische Richtlinien für die genannte Forschung zu verabschieden und vorzusehen, dass das Risiko für die betroffene Person, für ihre Familie und für das private Leben minimiert wird. Es müssen Maßnahmen zur Vermeidung jeder Diskriminierung als Folge der Gewebeanalyse ergriffen werden. Biologisches Gewebe als solches darf nicht Grundlage finanziellen Gewinns sein. Durch diese Bestimmung soll der Verkauf von Gewebe z.B. zum Zwecke industrieller Nutzung unterbunden werden. Es wird das bekannte Prinzip der Anonymisierung zum frühestmöglichen Zeitpunkt unterstrichen und dem Forscher die Begründung dafür auferlegt, warum er gegebenenfalls mit identifizierbarem Gewebe forschen will. Menschliches biologisches Material für die Forschung darf nur in Übereinstimmung mit den Vorschriften der Empfehlung gewonnen werden. Die Information und die Zustimmung zur Erlangung dieses Materials sollen so spezifisch wie
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möglich sein, wobei jede vorhersehbare Art wissenschaftlichen Nutzens zu berücksichtigen ist. Es wird die Möglichkeit eingeräumt, dass der Gewebsspender auch einer Verwendung seiner Proben in einer nicht näher bestimmbaren Zukunft für noch nicht spezifizierte Forschungszwecke zustimmen kann („open consent“). Eine solche Zustimmung für künftige Forschung wird als rechtswirksam eingesehen, da der Betroffene in Kenntnis dieser Ungewissheit frei seine Entscheidung treffen kann. Mit dieser von bisherigen Auffassungen abweichenden Regelung soll die zukünftige wissenschaftliche Verwendung asservierten Materials erleichtert werden.
Entnahme von Gewebe und free informed consent Eingriffe an einem Menschen zur Gewinnung biologischen Materials zur Sammlung für Forschungszwecke dürfen ausschließlich nach den Bestimmungen des Zusatzprotokolls „Biomedizinische Forschung“ vorgenommen werden. Menschliches Gewebe, das ursprünglich für andere Zwecke entnommen wurde, darf für wissenschaftliche Ziele nur genutzt werden mit Zustimmung des Betroffenen oder der Genehmigung seines gesetzlichen Vertreters oder aufgrund gesetzlicher Bestimmungen. Mit einer besonderen Passage werden die Forscher aufgefordert, bei jeder Entnahme von Gewebe, z.B. auch im Rahmen eines diagnostischen Eingriffs, gleichzeitig um die Zustimmung zur wissenschaftlichen Nutzung nachzusuchen, um das Problem einer späteren Einholung des „free informed consent“ zu vermeiden. Material von Toten soll nur bei Vorliegen einer zu Lebzeiten des Verstorbenen erteilten Zustimmung oder gegebenenfalls nach Genehmigung entsprechend nationalem Recht entnommen werden dürfen. Eine solche Entnahme ist vorbehaltlich gesetzlicher Bestimmungen ausgeschlossen, wenn von dem Verstorbenen ein zu Lebzeiten ausgesprochener Widerspruch bekannt ist.
Sammlungen von Gewebe Im Kontext Forschung gilt die Empfehlung für alle Arten von Sammlungen menschlichen Gewebes, seien sie in einer ärztlichen Praxis, Instituten jeder Größe und Fachrichtung oder in Biobanken angelegt. Sie versucht, den unterschiedlichen Bereichen Rechnung zu tragen durch die Erarbeitung allgemeiner Richtlinien für alle Sammlungen, die durch spezielle Bestimmung für Biobanken ergänzt werden. Nach den allgemeinen Bestimmungen soll der „verantwortliche Leiter“ einer Sammlung bekannt, ihr Ziel klar festgelegt sein. Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind anzugeben. Regeln für Gebrauch und Transfer biologischen Materials müssen ebenso ausgearbeitet werden wie Bestimmungen über mitzuteilende Informationen. Jede Gewebsprobe soll sachgerecht dokumentiert werden, einschließlich der Angabe über vorliegende Zustimmungen oder Genehmigungen für weitere Verwendungen, z.B. für Forschungszwecke. Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zum Schutz der Vertraulichkeit und der Sicherheit des Umgangs mit dem Material runden den Katalog der allgemeinen Anforderungen an eine Sammlung ab.
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Eine Person, die der Einlagerung ihres Gewebes zu Forschungszwecken zugestimmt hat, erhält das Recht, diese Zustimmung zu widerrufen, wenn vorgesehene Forschungsfelder nicht mehr von dem erteilten „free informed consent“ abgedeckt werden. Bei identifizierbarem Gewebe soll der Gewebsspender nach nationalem Recht fordern dürfen, dass sein Material zerstört oder anonymisiert wird. Der gesetzliche Vertreter einer nichteinwilligungsfähigen Person erhält die gleichen Rechte. Die Versendung biologischen Materials und assoziierter personenbezogener Daten in andere Staaten darf nur erfolgen, wenn der empfangende Staat ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet.
Biobanken Ergänzend definiert die Empfehlung eine Biobank als eine bevölkerungsbezogene Einrichtung, die biologisches Material oder mit ihm zusammenhängende Daten für vielfältige künftige Forschungsprojekte sammelt.. Das enthaltene biologische Material und die assoziierten Daten einschließlich jener zu Genealogie, Medizin und Lifestyle werden regelmäßig ergänzt und aktualisiert. Biologisches Material wird von einer Biobank in organisierter Weise empfangen und bei Bedarf zur Verfügung stellt. Eine Biobank muss alle für eine Gewebesammlung geltenden Bestimmungen erfüllen. Darüber hinaus ist bei ihrer erstmaligen Einrichtung oder bei der Umwandlung einer bestehenden Gewebesammlung in eine Biobank eine unabhängige Überprüfung der Einhaltung der Bestimmungen der Empfehlung durchzuführen. Jede Biobank soll einer unabhängigen Aufsicht unterliegen, um insbesondere die Interessen und Rechte der Personen zu schützen, deren Gewebe eingelagert wurde. Regelmäßige Überprüfungen sollen sicherstellen, dass die Vorschriften über Zugang und Benutzung der gesammelten Proben eingehalten werden. Vorgehensweisen für Transfer oder für die Schließung einer Biobank sind zu formulieren. Die Banken sollten regelmäßig, mindestens jährlich, bei Bedarf auch häufiger, Berichte über ihre zurückliegenden oder über ihre geplanten Aktivitäten publizieren. Auf der Grundlage der Empfehlung sollen die Mitgliedstaaten den Zugang der Forscher zu biologischem Materialien und assoziierten Daten in den Biobanken angemessen regeln. Der Gewebsspender kann, unabhängig von dem Typ der Sammlung, Einschränkungen für die wissenschaftliche Nutzung seines Materials verfügen, z.B. eine Verwendung für militärische Forschung ausschließen. Ferner kann er bestimmen, dass sein biologisches Material nicht anonymisiert werden darf.
Free informed consent und Abweichungen Biologisches Material darf nur für Forschungszwecke verwandt werden, für die eine Zustimmung des Gewebespenders vorliegt. Wenn eine Zweckänderung beabsichtigt wird, muss, wie bereits ausgeführt, eine erneute Zustimmung nach den Vorschriften für den „free informed consent“ eingeholt werden. Für die hierzu notwendige Kontaktaufnahme mit dem Betroffenen müssen „reasonable efforts“
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unternommen werden, eine absolute Forderung wird mithin nicht erhoben. Gegen diese Kontaktaufnahme wird gelegentlich kritisch eingewendet, dass hiermit Menschen an frühere Krankheiten erinnert werden. Zu bedenken ist freilich, dass die verbreitete standardisierte Nachsorge bei chronischen oder bösartigen Erkrankungen das gleiche Erinnerungspotenzial birgt. Wenn es nicht möglich ist, unter vertretbaren Bedingungen mit dem Gewebsspender Kontakt aufzunehmen, darf sein Material nur für Forschungszwecke genutzt werden, wenn nach unabhängiger Prüfung das Projekt wissenschaftlich bedeutend ist, sein Ziel nicht mit Materialien, für deren Nutzung eine Zustimmung vorliegt, erreicht werden kann und nicht erkennbar ist, dass der Gewebsspender der speziellen Verwendung widersprochen hätte.
Anonymisierung In einem eigenen Artikel wird festgelegt, dass anonymisiertes biologisches Material nur wissenschaftlich genutzt werden darf, wenn der Gewebsspender nach Belehrung über ihre Folgen der Anonymisierung zugestimmt hat und vor der Anonymisierung von ihm festgelegte Verwendungsbeschränkungen nicht verletzt werden. Die Methode der Anonymisierung, keinesfalls die Anonymisierung in jedem Einzelfall, soll durch nach innerstaatlichem Recht zuständige Instanzen überprüft werden.
Ethik-Kommission Auch für Forschung mit entnommenem Material gilt die schon aus der Konvention und dem Zusatzprotokoll „Biomedizinische Forschung“ bekannte Regel, dass sie nur unternommen werden darf, wenn eine unabhängige Prüfung des wissenschaftlichen Wertes, der Bedeutung des Ziels und der ethischen Zulässigkeit vorgenommen wurde. Die Beteiligung der Ethik-Kommissionen erfolgt nach den im Zusatzprotokoll „Biomedizinische Forschung“ festgelegten Vorschriften, wobei der Reviewprozess entsprechend dem Forschungsprojekt adaptiert werden kann. Das nationale Recht kann eine förmliche Genehmigung von Forschungsvorhaben mit menschlichem Gewebe vorschreiben.
Schlussbemerkungen Mit den vorgestellten Instrumenten versucht der Europarat, das sensible Gebiet der medizinischen Forschung so zu regeln, dass einerseits die in seiner Grundkonvention niedergelegten Grundrechte und Grundfreiheiten des Menschen nicht verletzt werden, dass andererseits die Freiheit der Forschung gewahrt wird. Dabei folgen seine Mitglieder der Auffassung, dass der Schutz der Rechtsgüter „Würde des Menschen“ und „Freiheit der Forschung“ auch im Bereiche der medizinischen Forschung zu den originären Aufgaben des Staates gehört.
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Bildlich gesprochen tut sich bei dem angesprochenen Regelungsbereich ein oft sehr schmaler Pfad auf, der nicht verfehlt werden darf. Die zunehmenden Zeichnungen und Ratifikationen mögen als Indiz dafür gelten, dass das angestrebte Ziel erreichbar ist. Es bleibt abzuwarten, ob die Konvention von Oviedo sich als taugliches Vorbild für weltweite Regelungen bewährt10. Mit den besprochenen rechtlich bindenden internationalen Instrumenten des Europarates werden gegenüber der Vergangenheit grundsätzliche Änderungen eingeleitet. Die Bestimmungen richten sich an alle Forscher ohne jede Beschränkung auf ihre Berufszugehörigkeit. Sie genießen als gesetzlich bindende Instrumente nach innerstaatlicher Ratifizierung Vorrang vor allen Regelungsansätzen berufsständischer oder sonstiger Provenienz. Solche Codices wie die Deklaration von Helsinki oder die Richtlinien von CIOMs, über Jahrzehnte ohne Zweifel maßgebend, verlieren durch das neue System internationaler rechtlicher Regeln freilich nicht ihren Wert. Als Empfehlungen mögen sie dem Forscher bei einer Entscheidung helfen, ob und wie er gesetzlich zulässige Forschungsmöglichkeiten nutzen will.
Anhang: Daten zu den Rechtsinstrumenten (Stand 28.7.2008) Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin • Geöffnet zur Zeichnung: Oviedo, 4. April 1997 • In Kraft als Instrument des Europarates: 1. Dezember 1999 • Zeichnung: 34 Mitgliedstaaten • Ratifizierung: 22 Mitgliedstaaten Zusatzprotokoll „Biomedizinische Forschung • Geöffnet zur Zeichnung: Straßburg, 25. Januar 2005 • In Kraft als Instrument des Europarates: 1. September 2007 • Zeichnung: 16 Mitgliedstaaten • Ratifizierung: 5 Mitgliedstaaten
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Taupitz, J.,(Hrsg.), Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates – taugliches Vorbild für eine weltweit geltende Regelung?, Springer, Berlin Heidelberg 2002.
Striktes Verbot der Arzneimittelprüfung an zwangsweise Untergebrachten (§ 40 I S. 3 Nr. 4 AMG)?
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I. Biomedizinische Forschung und Recht „Je mehr der Arzt und seine Kunst ihr Wissensgebiet erweitern, desto weniger ist Platz für die Ohnmacht der Natur“1. Dieser medizinische Erkenntnis- und Erfahrungszuwachs zugunsten vermehrter Möglichkeiten der heilenden Intervention erfolgt heute, wie der verehrte Jubilar in seinem großen, zuletzt in sechster Auflage gemeinsam mit Andreas Spickhoff herausgegebenen Lehrbuch „Medizinrecht“ in der ihm eigenen Formulierungsgabe prägnant festgehalten hat, nicht mehr vorwiegend unkontrolliert durch „Versuch und Irrtum“ des behandelnden Arztes, sondern aus Gründen der Wissenschaftlichkeit ebenso wie des Patientenschutzes zunehmend in kontrollierten klinischen Versuchen. Hierin mag man allgemein einen Beleg für die Hinwendung der ehedem magischen Vorstellungen verhafteten „Heilkunde“ zu einer mit Absolutheitsanspruch auftretenden „rationalnaturwissenschaftlichen Heiltechnik“ sehen;2 wer jedoch fortwährend den bestmöglichen Behandlungsstandard für die Patienten erwartet, kann sich der Notwendigkeit solcher Versuche am Menschen aller schrecklichen Erfahrungen der jüngeren Geschichte zum Trotz nicht gänzlich verschließen: Denn auch nach noch so intensiver Prüfung im Laboratorium und im Tierversuch muss irgendwann „der Schritt zur Erprobung am Menschen getan werden, im Interesse des Lebens und der Gesundheit der Bürger“3 – der Verzicht auf vorherige Erprobung am Menschen wäre schlechterdings unverantwortlich. Deshalb gilt: „Der Stand der Wissenschaft heute beruht auf den Versuchen von gestern, mögen sie erlaubt oder unerlaubt gewesen sein“4.
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Deutsch, NJW 1995, 3019. Staak, in: Spann-FS 1986, S. 497. Schreiber, in: Martini (Hrsg.), Medizin und Gesellschaft. Ethische Verantwortung und ärztliches Handeln, 1982, S. 181. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht. Arztrecht, Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und Transfusionsrecht, 6. Aufl. 2008, Rn 917; weiterhin etwa Fischer, Medizinische
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Das hiermit freilich schon angedeutete Spannungsfeld ist bekannt und leicht zu spezifizieren: Die Entwicklung neuer Heilmethoden und Wirkstoffe zum Wohle künftiger Patienten impliziert zwangsläufig die Gefährdung jener, die zwecks näherer Erforschung von Sicherheit und Wirksamkeit der noch nicht bewährten Therapieoptionen gegenwärtig in klinische Prüfungen einbezogen werden. Auf dem Boden einer Rechtsordnung, die vom Selbstverständnis gleicher Freiheit aller und einer wechselseitigen Achtung des je anderen in seinem individuellen So-Sein getragen ist, muss diese Gefährdung jedoch stets deutlich begrenzt und durch sichernde Vorkehrungen eingehegt sein, damit das für sich höchst legitime Anliegen der medizinischen Forschung (Art. 5 III GG) nicht in einem menschenrechtswidrigen Zwangszugriff degeneriert: Bezogen auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II S. 1 GG) unterliegen Rechtssubjekte keiner „sittlichen“ Unterwerfungspflicht gegenüber „Interessen der Allgemeinheit“5. Für das medizinethische Selbstverständnis formuliert die Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki/Tokio (2004) ganz in demselben Sinne: „In der medizinischen Forschung am Menschen haben Überlegungen, die das Wohlergehen der Versuchsperson (die von der Forschung betroffene Person) betreffen, Vorrang vor den Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft“6. Dementsprechend unterliegt der Vorstoß in medizinisches Neuland gesteigerter Verantwortlichkeit und dem Gebot verstärkter Vorsicht: „Der ärztliche Pionier benötigt ein wachsames Gewissen“7. Kollidiert medizinische Forschung mit der Maxime „primum non nocere“8, ist daher nicht der Einzelne in seinem Anspruch auf Verschontbleiben von Eingriffen in den status quo rechtfertigungsbedürftig; vielmehr haben die Belange der Forschung zurückzutreten, wenn diese „nur auf Kosten von Leben und Gesundheit des Ein-
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Versuche am Menschen, 1979, S. 3; Rosenau, in: Deutsch/Taupitz (Hrsg.), Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, 2000, S. 63 f. Erschreckend „gemeinwohlfreundlich“ aber Almer, Zwangsweise Unterbringung und medizinische Forschung, 2005, S. 170 f.: „Auf Grund dieser Verantwortung [scil.: resultierend aus einem „Eingeordnetsein“ des Individuums „in die größere Gemeinschaft“] darf der Einzelne nicht nur die Vorteile des Systems abschöpfen, sondern muss sich von der Gesellschaft auch in die sittliche Pflicht nehmen lassen. Zu eben dieser sittlichen Pflicht gehört es, sich zum Wohl der menschlichen Gemeinschaft an notwendigen therapeutischen Untersuchungsarbeiten zu beteiligen“; wie hier dagegen in der nötigen Deutlichkeit Fischer (o. Fn 4), S. 3 f.; Schreiber (o. Fn 3), S. 184. Abschnitt A., 5., abrufbar unter: http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/ 92helsinki.pdf. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 130 Rn 3 f. In der hippokratischen Tradition: Ärztliche Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden; siehe weiterhin § 1 Musterberufsordnung: Ärztinnen und Ärzte dienen der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung. […] Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte ist es, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen […]. Aus medizinethischer Sicht näher Beauchamp/Childress, Principles of Biomedical Ethics, 5. Aufl. 2001, S. 113 ff.: „at least, to do harm“.
Striktes Verbot der Arzneimittelprüfung an zwangsweise Untergebrachten?
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zelnen befriedigt werden können“9. Selbst die hohe Wahrscheinlichkeit eines großen Nutzens (für künftige Patienten) vermag das nahe liegende Risiko einer erheblichen Schädigung der Probanden nicht zu legitimieren; auch bei schwer Erkrankten lässt sich das Eingehen von Lebensgefahr allenfalls als allerletzte Option und nur bei tatsachengestützter („begründeter“) Erfolgserwartung verantworten, muss also der Versuch bei Disproportionalität der Risiko-NutzenAbwägung sofort abgebrochen werden.10 Eine so verstandene „ärztliche Vertretbarkeit“ (vgl. § 40 I S. 3 Nr. 2 AMG) des Forschungsvorhabens ersetzt somit die in alltäglichen Behandlungsfällen das Maß des „Objektiv-Vernünftigen“ ausfüllenden Kriterien der medizinischen Indikation (für das „Ob“) und der Behandlungs- oder „Kunstregeln“ (für das „Wie“)11; das weitere Erfordernis einer zugleich „subjektiven Legitimation“ kraft Selbstbestimmungsrechts des Versuchsteilnehmers ist hingegen dem Grundsatz nach den Anforderungen im „therapeutischen Arbeitsbündnis“12 äquivalent, allerdings wegen der zumindest teilweisen Fremdnützigkeit der Teilnahme an einer medizinischen Forschungsstudie von besonderem Gewicht.13 Das Arzneimittelrecht hat hieraus folgerichtig den Schluss gezogen, dass rein wissenschaftliche klinische Prüfungen mit Einwilligungsunfähigen und Minderjährigen überhaupt nicht (auch § 40 IV Nr. 1 AMG verlangt eine konkret auf den Versuchsteilnehmer bezogene „Indikation“ und damit eine eigennützige [diagnostische oder prophylaktische] Zwecksetzung)14 und sog. „therapeutische Versuche“15 insoweit nur unter der Bedingung einer verschärften Risiko-Nutzen-Abwägung durchgeführt werden dürfen: Im Falle eines (potentiell) individuellen Nutzens muss die klinische Prüfung bei beiden Personengruppen für die jeweils betroffene Person „mit möglichst wenig Belastungen und anderen vorhersehbaren Risiken“ verbunden sein (§ 40 IV Nr. 4 bzw. § 41 III Nr. 1 S. 1 AMG); soweit das Gesetz – für Minderjährige – ausnahmsweise schon einen (direkten) „Gruppennutzen“ für ausreichend erachtet, ist zum Schutz vor substantiellen Beeinträchtigungen nochmals strenger – insoweit von der GCP-Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.4.2001 abweichend16 – eine absolute17 Risiko- und Belastungsgrenze („minimal risk and minimal burden)“ vorgegeben (§ 41 II Nr. 2 lit. d AMG). 9
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Schreiber (o. Fn 3), S. 184; siehe auch Rosenau (o. Fn 4), S. 86: „in dubio contra experimentum“. Deutsch/Spickhoff (o. Fn 4), Rn 935; Deklaration von Helsinki/Tokio (o. Fn 6), Abschnitt B., 17. Gegen den Begriff des „Kunstfehlers“: Schreiber, in: Der medizinische Sachverständige, 1976, S. 71 ff. – Zu den Realtypen ärztlich-medizinischer Fehlleistungen näher Deutsch/Spickhoff (o. Fn 4), Rn 193 ff. Laufs (o. Fn 7), § 39 Rn 14 m.w.N.; weiterführend Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 57 ff. Wie hier bereits Fischer (o. Fn 4), S. 7. Vgl. Rosenau (o. Fn 4), S. 82 f.: „eigennütziger nicht-therapeutischer Versuch“; s. auch Fischer, in: Schreiber-FS 2003, S. 685, 686 m.w.N.; zur Gesetzgebungsgeschichte ders. (o. Fn 4), S. 35 f. Zur Unterscheidung näher Deutsch/Spickhoff (o. Fn 4), Rn 922. Vgl. Art. 4 lit. g): „…wenn … die klinischen Prüfungen so geplant sind, dass sie unter Berücksichtigung der Erkrankung und des Entwicklungsstadiums mit möglichst wenig
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Eben diese Grenze weist das Zusatzprotokoll des Europarates v. 25.1.2005 zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin v. 4.4.199718, bezogen auf die biomedizinische Forschung, in seinem Art. 20 auch für die medizinische Forschung an Personen aus, „denen die Freiheit entzogen ist“: „The research entails only minimal risk and minimal burden“19. Die beiden darüber hinaus gestellten Bedingungen haben einerseits den schon vertrauten Gedanken der Gruppennützigkeit und andererseits die Subsidiarität solcher Versuche zum Gegenstand: Zum einen ist gefordert, dass eine „Forschung von vergleichbarer Wirksamkeit […] ohne Beteiligung von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, nicht durchgeführt werden“ kann; zum anderen muss das Forschungsvorhaben „zum Ziel“ haben, „letztlich zu Ergebnissen beizutragen, die Personen, denen die Freiheit entzogen ist, nützen können“20. Obgleich die Regelung erst nach Unterzeichnung und Ratifikation des Zusatzprotokolls für den jeweils unterzeichnenden Staat verbindlich wird und solches nur möglich ist für Staaten, die – anders als Deutschland21 – zuvor oder gleichzeitig die Biomedizin-Konvention von 1997 ratifiziert haben (vgl. Art. 36 des Zusatzprotokolls), hat sie erkennbar in gleicher Weise wie alle anderen Festlegungen des Protokolls sowie des Übereinkommens selbst den Anspruch, einer gemeinsamen Überzeugung zum Schutz der Menschenrechte im jeweiligen Bereich Ausdruck zu verleihen und hierfür wie zu deren Fortentwicklung einen gemeinsamen rechtlichen Rahmen im gesamteuropäischen Raum zu etablieren.22 Da sie die Forschung an zwangsweise Untergebrachten nicht von vornherein verbietet, weicht sie jedoch von der geltenden deutschen Rechtslage im Bereich des Arzneimittel- wie auch des Medizinprodukterechts entscheidend ab: Denn hiernach ist – innerhalb der benannten, ausdrücklich geregelten Kontexte – die Durchführung klinischer Prüfung strikt untersagt (§ 40 I S. 3 Nr. 4 AMG bzw. § 20 I Nr. 3 MPG). Dieser „gesetzliche Bann“ gegen Versuche an Verwahrten gilt selbst für den Fall einer vorliegenden Einwilligung und selbst für Erkrankte, sofern die betreffende Person gehindert ist, ihren Aufenthalt frei zu bestimmen. Hierin sehen deshalb nicht wenige eine übertrieben „rigide“ und wo-
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Schmerzen, Beschwerden, Angst und anderen vorhersehbaren Risiken verbunden sind…“. Zutreffend hervorgehoben von Fischer, in: Schreiber-FS 2003, S. 685, 693. Council of Europe, Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with Regard to the Application of Biology and Medicine, European Treaty Series/164. Art. 20 lit. iii) des Zusatzprotokolls v. 25.1.2005, abrufbar unter: http://www. conventions.coe.int/Treaty/EN/Treaties/Html/195.htm. Arbeitsübersetzung des Bundesministeriums der Justiz, abrufbar unter: http://www. bmj.de/files/-/1139/Zusatzprotokoll%20Biomedizinische %20Forschung.pdf. Zu den Gründen vgl. Degener, KritV 1998, 7 ff.; Höfling, KritV 1998, 99, 108 f.; Kern, MedR 1998, 485 ff.; Mieth, DuD 1999, 328 ff.; Picker, JZ 2000, 693, 694 ff.; Taupitz, VersR 1998, 542 ff. – eingehend Eser (Hrsg.), Biomedizin und Menschenrechte, 1999; Radau, Die Biomedizin-Konvention des Europarates, 2006. Siehe die Präambel des Zusatzprotokolls, zweite Erwägung: „…dass es das Ziel des Europarates ist, eine größere Einheit unter seinen Mitgliedern herbeizuführen, und dass eines der Mittel zur Erreichung dieses Ziels darin besteht, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu wahren und fortzuentwickeln…“.
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möglich verfassungswidrige Haltung des Gesetzgebers, die entweder schon im Wege der Auslegung oder durch Gesetzesänderung abzumildern sei. Der Jubilar zählt zu den vehementen Kritikern dieser („überdehnten“)23 Vorschrift; mit den nachfolgenden Überlegungen verbinden sich die herzlichsten Glückwünsche zu seinem Ehrentag.
II. Gründe und mögliche Grenzen des Verbots 1. Aktuelle Gesetzeslage Die Gesetzesmaterialien zu § 38 AMG a.F. nehmen explizit Bezug auf das Kernproblem der fraglichen Freiwilligkeit einer Studienteilnahme im lebensweltlichen Zustand zwangsweiser Unterbringung: „Bei Personen, die auf Grund einer gerichtlichen oder behördlichen Anordnung verwahrt werden, wird unterstellt, dass wegen des bestehenden Gewaltverhältnisses eine freie Willensentscheidung nicht möglich ist“24. In der Tat begründet das soziale Umfeld eines „Lebens in der totalen Institution“25 etwa eines psychiatrischen Krankenhauses, einer Entziehungsanstalt oder eines Heimes (vgl. § 1906 IV BGB), d.h. innerhalb eines von Staats wegen zugewiesenen und beherrschten Raumes, wegen der zwangsläufigen „Erpressbarkeit“26 oder Verführbarkeit des Gefangenen schon für sich erhebliche Zweifel an der nötigen Freiverantwortlichkeit von Willensentschlüssen, die nicht ausschließlich eigennützige Ziele verfolgen. Amelung hat die auf eingesperrte Personen potentiell einwirkenden, deren Befähigung zum „autonomen“ Entscheiden in Frage stellenden Einflussfaktoren einleuchtend in vier Fallgruppen unterteilt:27 Danach könne eine u.U. selbstgefährdende Teilnahme an medizinischen Forschungsvorhaben entweder motiviert sein durch die Hoffnung, dadurch früher in Freiheit zu gelangen (1) oder auf diese Weise haftinterne Erleichterungen zu erreichen bzw. befürchteten Repressalien zu entgehen (2); die erteilte Einwilligung kann jedoch auch durch eine von vornherein defizitäre psychische Widerstandsfähigkeit infolge der Haftsituation (z.B. durch Langeweile, Antriebslosigkeit, Gruppenzwang) bedingt (3) oder Resultat einer „speziellen haftpsychologischen Krisensituation“ (z.B. „Haftschock“ zu Beginn einer Untersuchungshaft) sein (4). Aus Sicht der Forschenden stellen Untergebrachte daher eine wesentlich leichter ansprech- und „verfügbare“ und bei sachwidriger Verknüpfung der forschungsbezogenen Intention mit den Haftbedingungen „besonders handliche Population für Versuchszwecke“28 dar. 23 24 25
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Deutsch/Spickhoff (o. Fn 4), Rn 1322. BT-Drucks. 7/3060, S. 54. Almer (o. Fn 5), S. 164; ausf. Überblick zu möglichen Unterbringungsfällen siehe ebd., S. 88 f. Dazu etwa Sigusch, Beilage zu: Jahrbuch für kritische Medizin, Bd. 2, Sonderband 17, 1977, S. 17. Zum Folgenden näher Amelung, ZStW 95 (1983), 1 ff., insbes. 9. Jonas, in: Sass (Hrsg.), Medizin und Ethik, 1989, S. 232, 245.
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In anderen Sachzusammenhängen geht die Rechtsordnung allerdings sehr wohl von der Möglichkeit einer wirksamen Einwilligung auch des Inhaftierten aus. Besonders ins Auge fallen etwa jene Regelungen, welche die Durchführung von Heilbehandlungen entweder generell (vgl. §§ 57, 58, 63 StVollzG; siehe auch § 101 S. 2 StVollzG: „freie Willensbestimmung des Gefangenen“; §§ 56 ff., 93 Nds. JVollzG29; § 21 Abs. 2 Nds. PsychKG) oder jedenfalls bei schwerer wiegenden Eingriffen und erheblichen Risiken (vgl. § 8 III Nds. MVollzG) in den Verantwortungsbereich des Untergebrachten verweisen. Hierbei handelt es sich aber durchweg30 um eigennützige (im direkt-individualbezogenen Sinne) und bei längerer Verweildauer alltägliche Szenarien, so dass schon die Grundsätze zur mutmaßlichen Einwilligung im Zweifel die Annahme eines hypothetisch zustimmenden Willens erlauben. Um so mehr wird man im Falle einer tatsächlich erklärten Zustimmung die ohnehin nicht starren (sondern eingriffsbezogen variablen) Anforderungen an die nötige „Freiwilligkeit“ nicht überspannen dürfen, sofern nur (1) kein zusätzlicher (offener oder versteckter) Zwang auf den Untergebrachten ausgeübt wird und die Einwilligung (2) sowohl objektiv als auch (3) nach der (ggf. durch entsprechende Aufklärung richtig zu stellenden) Vorstellung des Verwahrten „haftneutral“31 ist, mithin evtl. Einflüsse der Zwangslage hinsichtlich der Fortbewegungsfreiheit (Art. 2 II S. 2 und 104 GG) auf dessen Willensbestimmung und -betätigung im konkreten Einzelfall hinreichend unterbunden bzw. kompensiert werden. Können diese Überlegungen jedoch auch Geltung beanspruchen für Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, die nicht wie eine medizinisch indizierte Heilbehandlung (ausschließlich) eigennützigen Zwecken dienen? Sicherlich wird man im Ausgangspunkt sagen können, dass die Teilnahme an medizinischen Forschungsstudien jedenfalls jenseits einer streng zu handhabenden Bagatellschwelle nicht von jedem Menschen in gleicher Weise konsentiert werden und deshalb das freiwillig erteilte Einverständnis nicht der selbstverständliche Regel-, sondern der feststellungspflichtige Ausnahmefall sein dürfte. Deutsch berichtet von einer demoskopischen Erhebung, wonach zwar ein beachtlicher Teil der Bevölkerung die Durchführung von Arzneimittelstudien zur Überprüfung der Wirksamkeit und Sicherheit von Präparaten in der Theorie für unverzichtbar hält, jedoch nur 12 % auch ihre Bereitschaft erklären würden, den Wirkstoff tatsächlich an sich selbst prüfen zu lassen.32 Selbstloser Altruismus hat bekanntlich den selbstbestimmten Entschluss zu Verzicht und Solidarität zur Voraussetzung und darf nicht mit einem „heteronom dekretierten Willen zum Guten“ verwechselt werden.33 Von einer mutmaßlichen Einwilligung lässt sich deshalb nur dort ausgehen, wo die Intervention zur Lebensrettung oder Vermeidung schwerwiegender Gesundheitsschäden unverzichtbar und alternativlos ist. Hierin liegt die Berechti29 30
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Vom 1.1.2008, Nds. GVBl. 2007, 720. Der Sonderfall des § 3 II KastrationsG sei wegen der hiermit einhergehenden besonderen Problematik ausgeklammert. Dazu näher Bay, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Moderne Medizin und Strafrecht, 1989, S. 269 ff. Amelung, ZStW 95 (1983), 1, 13. Deutsch/Spickhoff (o. Fn 4), Rn 1295; zu den Einzelheiten: Noelle-Neumann, in: Bock/Hofmann (Hrsg.), Arzneimittelprüfung am Menschen, 1980, S. 13, 16. Treffend Picker, JZ 2000, 693, 696 f.
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gung für die Sonderregelung des § 41 I S. 2 AMG, wonach bei Notfallpatienten eine nicht aufschiebbare „Behandlung“ umgehend erfolgen und die infolge der Akutsituation zunächst nicht einholbare Einwilligung (selbst eines Vertreters) ausnahmsweise erst nachträglich erfragt werden darf. Diese Regelung wird jedoch entgegen einer sich in der Forschungspraxis wachsender Beliebtheit erfreuenden großzügigen Interpretation im vorstehenden Sinne restriktiv ausgelegt werden müssen, soll nicht der Grundsatz zum Einsturz gebracht werden, dass ein hypothetischer Wille nur bei einer Heilbehandlung lege artis, nicht aber in eine Abweichung vom Behandlungsstandard unterstellt werden kann. Eine weiterreichende Befugnis zur Einbeziehung in klinische Prüfungen, wie sie neuerdings der österreichische Gesetzgeber gewährt hat (vgl. § 43a öAMG)34, dürfte zudem europarechtswidrig sein, da die GCP-Richtlinie in ihrem Art. 5 lit. a) im Sinne eines Mindesterfordernisses (vgl. Art. 3 I S. 1 GCP-Richtlinie)35 ohne jedwede Ausnahme die Einwilligung des (aufgeklärten) gesetzlichen Vertreters verlangt, die natürlich „dem mutmaßlichen Willen des Prüfungsteilsnehmers entsprechen“ muss.36 Das Zusatzprotokoll des Europarates v. 25.1.2005 enthält sich grundsätzlich einer definitiven Entscheidung darüber, ob und unter welchen Schutzbestimmungen medizinische Forschung in Notfallsituationen überhaupt stattfinden darf (Art. 19 I); im Falle einer Erlaubnis durch die jeweilige Rechtsordnung ist der Zugriff auf eine (gesicherte) unmittelbare Nützlichkeit für die betroffene Person begrenzt, es sei denn, das Forschungsvorhaben bringt für diese (im Fall eines bloßen Gruppennutzens) „nur ein minimales Risiko und eine minimale Belastung mit sich“ (Art. 19 II lit. iv)37. Wenn daher auch bei zwangsweise untergebrachten Personen die Zustimmung zur Teilnahme an einer Arzneimittelprüfung (jenseits der Bagatellschwelle) nicht einfach unterstellt werden kann, folgt hieraus zugleich die rechtliche Irrelevanz selbst einer tatsächlich erteilten Einwilligung? Der Gesetzgeber hat zwar im Ergebnis in diesem Sinne entschieden, in seiner Begründung jedoch fein differenzierend von einer „Unterstellung“38 der mangelnden Befähigung zur freien Willensbildung gesprochen. Und dies mit gutem Grund: Gewiss macht der Ausnahmecharakter einer Studienteilnahme bei Abweichung vom Behandlungsstandard („therapeutische Versuche“) und mehr noch bei vollständiger Fremdnützigkeit (rein wissenschaftliche Studien) die autonome Basis einer erteilten Zustimmung in gesteigertem Maße prüfungs- und erklärungsbedürftig, wenn diese im Zustand 34
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§ 43a I Nr. 1 öAMG geht implizit von einer mutmaßlichen Einwilligung aus, wenn die klinische Prüfung bereits bei fehlenden Anhaltspunkten für eine ablehnende Haltung des Notfallpatienten für zulässig erklärt wird. Höhere Anforderungen an den Schutz von Prüfungsteilnehmern sind den Mitgliedstaaten nicht untersagt. Vgl. auch Fischer, in: Schreiber-FS 2003, S. 685, 693: „Mit größerer Tragweite [scil.: im Sinne von Art. 3 I der GCP-Richtlinie] kann nach dem Sinnzusammenhang nur der strengere Schutz der Versuchspersonen gemeint sein“. Wie hier grundsätzlich auch Bernat (in: Bernat/Kröll [Hrsg.], Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, 2003, S. 60, 78 f.), der jedoch zur Vermeidung der Unvereinbarkeit eine „großzügige“ Interpretation der GCP-Richtlinie fordert. Oben Fn 20. Siehe o. bei Fn 24.
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äußerer Unfreiheit gegeben wurde. Denn zu nahe liegt der Verdacht, dass letztlich vielleicht doch die äußeren Lebensbedingungen auf die innere Willensbildung durchgeschlagen und die Mitwirkung des Probanden veranlasst oder befördert haben könnten, zu der er sich vor seiner Inhaftierung oder nach seiner Entlassung niemals verstanden hätte. Ein solchermaßen prägender Einfluss mit negativer Auswirkung auf die Willensentschließungsfreiheit des Inhaftierten ist jedoch auch bei Berücksichtigung aller geschichtlichen Erfahrung (nicht nur in Deutschland)39 lediglich nahe liegend, keineswegs aber unausweichlich. Nichts schließt von vornherein die Möglichkeit aus, durch entsprechende Verfahrensgestaltung auch in Situationen äußerer Unfreiheit die bereits benannten40 Grundbedingungen freiwilliger Teilnahme – die Unterbindung jedweden (unmittelbaren oder mittelbaren) Drucks und die strikte (objektive wie subjektive) „Haftneutralität“ der Entscheidung – her- bzw. sicherzustellen. Bezogen auf diesen „überschießenden“ Anteil einer evtl. doch tatsächlich bestehenden Freiwilligkeit enthält das strikte Verbot des § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG (§ 20 I Nr. 3 MPG) einen Gefährdungstatbestand, der nicht die tatsächliche Situation im konkreten Fall, sondern in abstracto mögliche Missbräuche und Dammbrüche vor Augen hat,41 die durch eine klare (rechtssichere)42 Regelung von vornherein (präventiv) ausgeschlossen werden sollen. Diese normativ erzwungene Gleichbehandlung (im Sinne des Verbots) auch solcher Fälle, die sich in jenem vom Gesetzgeber selbst als entscheidend bezeichneten Wertaspekt (hier: Freiwilligkeit der Probanden) gerade voneinander abheben, wirft schon für sich (Art. 3 I GG) und um so mehr Fragen der Legitimierbarkeit auf, wenn dadurch über die allgemeine Handlungsfreiheit hinaus auch noch besonders gewichtige Grundfreiheiten wie die der medizinischen Forschung (Art. 5 III GG) und evtl. der besseren Gesundheitsversorgung (Art. 2 II S. 1 GG) eingeschränkt werden. Denn der Unbedingtheit einer solchen (noch dazu: strafbewehrten, vgl. § 96 Nr. 10 AMG) Verbotsregelung allein aus Gründen des „Normenschutzes“43 (hier: der Tabuisierung jedweder Instrumentalisierung von Untergebrachten zu medizinischen Versuchsobjekten) steht die Unverhältnismäßigkeit geradezu auf die Stirn geschrieben, sofern nicht plausibel gemacht werden kann, dass sich das berechtigte Schutzanliegen allein durch ein solchermaßen kategorisches Verbot gewährleisten lässt und jedes Zugeständnis einer Ausnahme ungeachtet ihrer in Einzelfällen möglichen Berechtigung die allgemeine Norm aller Voraussicht nach untergraben und letzthin womöglich zu Fall bringen wird. Trotz 39
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Zu Humanexperimenten insbesondere in den USA vgl. die Hinweise bei Deutsch, VersR 1978, 289, 294 ff.; NJW 1995, 3019 ff. sowie eingehend ders., Das Recht der klinischen Forschung am Menschen, 1979; Mitford, The American Prison Business, 1974; Mitscherlich/Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit, 1964. Siehe o. bei Fn 31. I.d.S. deutlich Bork, NJW 1985, 654, 659; Elzer, Allgemeine und besondere klinische Prüfungen an Einwilligungsunfähigen, 1998, S. 58; Fischer (o. Fn 4), S. 33 f., 67 f.; Hägele, Arzneimittelprüfung am Menschen, 2004, S. 613; Stock, Der Probandenschutz bei der medizinischen Forschung am Menschen, 1998, S. 64; Wachenhausen, Medizinische Versuche und klinische Prüfung an Einwilligungsunfähigen, 2001, S. 167. Hierauf abstellend: Holzhauer, NJW 1992, 2325, 2328. Zum Begriff, wenngleich in anderem Sachzusammenhang verwendet: R. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 144 ff.
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des mit der Menschenwürde der Inhaftierten in Frage stehenden Belangs von höchster Wertigkeit bleibt somit wegen der unmittelbar freiheitsbegrenzenden Wirkung dennoch die Errichtung bzw. Aufrechterhaltung des Verbots rechtfertigungsbedürftig, nicht etwa die Inanspruchnahme der Grundrechte. All dies ist aus vielerlei Zusammenhängen wie z.B. aus der Debatte um die sog. „aktiv-direkte Sterbehilfe“ (§ 216 StGB)44 hinreichend vertraut und im hiesigen Kontext natürlich nicht anders zu sehen.
2. Vorschläge einer restriktiven Auslegung des Verbots Es kann daher nicht überraschen, dass auch die „Radikallösung“45 des § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG schon seit längerem deutliche Kritik erfährt, die sich im Wesentlichen aus zwei Überlegungen speist: Zum einen wird geltend gemacht, dass die Erstreckung des Verbots auf „therapeutische Versuche“ den Erkrankten mögliche Lebensrettungs- oder Heilungschancen entzieht und daher – der Intention des Gesetzgebers zuwiderlaufend – die Gruppe der zwangsweise Untergebrachten gegenüber in Freiheit befindlichen Probanden erheblich benachteiligt.46 Zum anderen würde es ebenso die gesetzgeberische Absicht missachten, dürfte das Arzneimittel nicht an Verwahrten getestet werden, bei denen „durch das Medikament der Grund ihrer Verwahrung, etwa [eine] Gewalttätigkeit, beseitigt werden könnte“; denn eine Prüfung an anderen, nicht unter diesen Symptomen Leidenden „wäre jedenfalls unethisch“47. Da auch in diesem Falle „offensichtlich überlegene Heilungschancen“ vorenthalten würden, müsse nicht erst de lege ferenda, sondern schon im Rahmen der Auslegung „hinter den Wortlaut der Norm zurückgegangen“ werden, „um deren eindeutigen Zweck zu erfüllen“, nämlich „den Verwahrten zu schützen“48. Während insoweit also „eine Durchbrechung des Verbots im Wege der teleologischen Reduktion“49 in Betracht komme, sei bei Verwahrten, die zur Lebensrettung oder Erhaltung ihrer Gesundheit dringend ein noch nicht zugelassenes Arzneimittel benötigten, die Einbeziehung in eine klinische Prüfung durch § 34 StGB gerechtfertigt.50 Diese Sichtweise von einer Durchbrechung des
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Näher Duttge, JZ 2006, 899 ff. sowie in: Kettler u.a. (Hrsg.), Selbstbestimmung am Lebensende, 2006, S. 36, 46 ff.; zuletzt ders., in: Türkisches Jahrbuch: Studien zu Ethik und Recht der Medizin, 1/2008 [im Erscheinen]. Almer (o. Fn 5), S. 87. Vgl. Bork, NJW 1985, 654, 659; Fischer (o. Fn 4), S. 67; Hägele (o. Fn 41), S. 614: „gibt den Betroffenen … Steine statt Brot“; Sander, Arzneimittelrecht. Kommentar, Stand: 44. Lfg. (August 2007), § 40 Rn 24. Deutsch/Spickhoff (o. Fn 4), Rn 1322; siehe auch Deutsch, in: Deutsch/Lippert (Hrsg.), Kommentar zum Arzneimittelgesetz (AMG), 2. Aufl. 2007, § 40 Rn 12. Hägele (o. Fn 41), S. 615, inspiriert durch Deutsch (wie vorangehende Fn). Deutsch, in: Deutsch/Lippert (wie Fn 47); Wachenhausen (o. Fn 41), S. 169. Deutsch (wie Fn 47); Stock (o. Fn 41), S. 64: „letzte Chance zur Rettung seines Lebens oder seiner Gesundheit“; missverständlich Wachenhausen (o. Fn 41), S. 168: „übergesetzlicher Notstand gemäß § 34 StGB“; in der Begründung abw. Fischer (o. Fn 4), S. 68: teleologische Reduktion.
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Verbots aus therapeutischen Gründen findet sich unter Verweis auf den Gleichheitsgedanken teilweise auch im Kontext des § 20 I Nr. 3 MPG.51 Schon ihrer praktischen Relevanz wegen verdienen diese Erwägungen Beachtung und nähere Prüfung, freilich nicht nur in der Sache, sondern auch im methodischen Zugriff auf die geltende Gesetzesfassung. Denn es liegt auf der Hand, dass die sehr konkret und unmissverständlich formulierte Verbotsnorm jedenfalls prima vista wenig Interpretationsspielraum belässt, mag man auch der aus dem römischen Recht überlieferten „Sens-Clair-Doktrin“52 wegen der unvermeidlichen Unschärfen sprachlicher Ausdrücke mit einiger Skepsis begegnen.53 Ebenso wenig bietet die Systematik des Gesetzes die Möglichkeit der einschränkenden Auslegung im vorgeschlagenen Sinne, da der in § 41 AMG geregelte Bereich der sog. „therapeutischen Versuche“ lediglich Modifikationen der in § 40 AMG enthaltenen allgemeinen Voraussetzungen enthält („unvollständige Spezialität“)54, die somit auch insoweit Geltung beanspruchen, als § 41 AMG keine Abweichungen enthält („mit folgender Maßgabe“).55 Schon mit Blick auf diese so klar strukturierte Gesetzessystematik kann eine überzeugende Begründung für das evtl. Vorliegen einer sog. „Ausnahmelücke“ nicht leicht fallen, zumal eine solche wie die sie „in weiterdenkendem Gehorsam“ des Gesetzgebers rechtsfortbildend schließende „teleologische Reduktion“ jedenfalls die Feststellung eines „klar erkennbaren Normzwecks“ verlangt, der bei buchstabengetreuer Anwendung in sein Gegenteil verkehrt würde.56 Mit dem nur allgemeinen Verweis auf eine besondere „Schutzbedürftigkeit“ von zwangsweise Untergebrachten57 wird das Anliegen des Gesetzgebers aber ersichtlich zu unspezifisch aufgenommen, weil es im Kontext des § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG, wie schon erörtert, allein um die bestehenden Zweifel an der Freiwilligkeit einer Studienteilnahme und um die Gefahr einer Instrumentalisierung der Probanden geht. Das implizite Ersetzen dieser gesetzgeberischen Zielsetzung durch das Postulat einer möglichst flächendeckenden Gesundheitsfürsorge würde, absolut gesetzt, in gleicher Weise jenen normativen Begrenzungen, die für erkrankte Einwilligungsunfähige und Minderjährige gelten (§§ 41 I-III AMG), den Boden entziehen. Der Gedanke einer Gleichbehandlung mit in Freiheit befindlichen Probanden vermag daher, seine vorrangige Konkretisierungsbedürftigkeit durch den Gesetzgeber einmal hintangestellt, auch deshalb kein anderes Ergebnis zu begründen, weil nach der gesetzgeberischen Idee unter dem Blickwinkel der Entscheidungsfreiheit der Betroffenen gerade ein entscheidender Unterschied be51
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So Rehmann/Wagner, MPG. Medizinproduktegesetz, 2005, § 20 Rn 10 a.E.; Schorn, Medizinprodukterecht, Stand: 22. Akt.-Lfg. (Oktober 2007), § 20 Rn 20 a.E.; a.A. Kage, Das Medizinproduktegesetz, 2004, S. 314: klinische Prüfung „weder rechtlich noch ethisch vertretbar“. L. 25 D. 32, 1: Cum in verbis nulla ambiguitas est, non debet admitti voluntatis quaestio. Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn 732 f. Deutsch, in: Deutsch/Lippert (o. Fn 47), § 41 Rn 1. In diesem Sinne ausdrücklich Deutsch/Spickhoff (o. Fn 4), Rn 1331; nicht verständlich daher der Vorbehalt in Rn 1322: „will man diese Bestimmung [gemeint: § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG] überhaupt auf therapeutische Versuche nach § 41 AMG anwenden…“. Rüthers (o. Fn 53), Rn 848, 902 f. Siehe o. bei Fn 48.
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steht. Wer diese Annahme nicht in Gänze teilen will, darf die Trennlinie nicht zwischen therapeutischen und rein wissenschaftlichen Versuchen ziehen, sondern muss vielmehr zwischen (ausnahmsweise) freiwilliger sowie (regelmäßig)58 unfreiwilliger Einbeziehung in die klinische Prüfung differenzieren.59 Der somit gerade aus der Warte des Gleichheitssatzes maßgebliche Wertaspekt des Selbstbestimmungsrechts (vgl. § 40 I S. 3 Nr. 3 AMG) droht um so mehr aus dem Blick zu geraten, wenn – mit der überwiegenden Auffassung unter den Kritikern60 – das erwünschte Ergebnis unter Heranziehung des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) gewonnen werden soll. Denn dieser ruht bekanntlich auf dem Prinzip des überwiegenden Interesses, das sich vorwiegend am Wert der widerstreitenden Rechtsgüter und am Ausmaß der ihnen drohenden Gefährdung ausrichtet.61 Streng genommen bedürfte es daher für die Feststellung eines („wesentlichen“) Überwiegens gar keiner Zustimmung des Betroffenen, sofern diese nicht – mit welcher Wertigkeit auch immer – als jedenfalls bedeutsamer Gesichtspunkt irgendwie in die Abwägung einbezogen wird. So verfährt die h.M. etwa bei der Rechtfertigung der sog. „indirekten Sterbehilfe“, d.h. der erlaubten leidmindernden Schmerzmedikation selbst bei Inkaufnahme einer lebensverkürzenden Wirkung, sofern diese nur möglich und nicht wahrscheinlich oder gar sicher ist.62 Der Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung 2005 erklärt mit frappierender Nonchalance, dass die evtl. Lebensverkürzung sich zwar isoliert betrachtet weder durch Notstand noch – angeblich – im Wege der (mutmaßlichen) Einwilligung rechtfertigen lasse, jedoch eine „Kombination“ beider Gesichtspunkte die erforderliche Basis für ein erlaubtes Vorgehen biete.63 Die sich hiermit verbindende Vorstellung von einer Art „Rosinentheorie“ wird man aber weder mit dem Gesetz noch mit der Dogmatik der Rechtfertigungsgründe in Einklang bringen können, von der Unverträglichkeit mit grundlegenden Anforderungen der Logik ganz abgesehen: Denn es bleibt schon im Ansatz unerfindlich, wie sich an der Nichtanwendbarkeit eines Erlaubnissatzes etwas dadurch ändern soll, dass auch noch die Voraussetzungen eines weiteren nicht erfüllt sind.64 Die postulierte „Zusammenschau“ dient also nichts anderem als dem Ziel, sich kreativ-schöpferisch von den rechtlichen Vorgaben selbst Dispens zu erteilen. Daher sollte auch im Kontext der §§ 40, 41 AMG nicht unbeachtet bleiben: In einer freiheitlichen Rechtsordnung steht im Zentrum des Werthaften nicht eine wie auch immer näher bestimmte Vorstellung vom „objektiv Vernünftigen“, son58 59
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Zu diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis bereits o. bei Fn 38 f . Zutr. Kandler, Rechtliche Rahmenbedingungen biomedizinischer Forschung am Menschen, 2008, S. 219: „teleologische Reduktion im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen“. Siehe o. Fn 50. Näher statt vieler etwa Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar zum gesamten Strafrecht: StGB, StPO und Nebengesetze, 2008, § 34 StGB Rn 1, 17 ff. Zum Begriff wie auch zum Begründungsproblem näher Duttge u.a., Preis der Freiheit. Reichweite und Grenzen individueller Selbstbestimmung zwischen Leben und Tod, 2. Aufl. 2006, S. 80 ff. Siehe Schöch/Verrel, GA 2005, 553, 574. Hierzu bereits Duttge, GA 2006, 573, 578 f.
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dern das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, der sich in grundsätzlich eigener Verantwortung auch zu selbstgefährdendem Handeln entschließen darf.65 Belange des Gemeinwohls können bei vorhandener oder im Falle von kognitiven Defiziten durch Maßnahmen der „Freiheitsvorsorge“66 (wie insbesondere einer ärztlichen Aufklärung) beförderter Befähigung zur Selbstbestimmung keinesfalls ersetzend (im Sinne einer „Zwangsbeglückung“), sondern bei erheblicher Betroffenheit anderer oder der Allgemeinheit allenfalls begrenzend wirken. So liegt es bei Mitwirkung einer ärztlichen Person, deren rollengebundene „Vernünftigkeit“ und „Professionalität“, getragen von einem entsprechenden Selbstverständnis, wegen des erst hierdurch begründeten Vertrauens gesellschaftlich erwartet wird; darin liegt die Berechtigung, die ärztliche Heilbehandlung an objektive Erfordernisse wie etwas an das Vorliegen einer medizinischen Indikation zu binden und medizinische Forschung von einer „vertretbaren“ Risiko-Nutzen-Analyse abhängig zu machen.67 Hat dieser Gedanke des objektiv „Besseren“ als begrenzender Faktor des Selbstbestimmungsrechts aber im speziellen Kontext bereits durch eine Sondervorschrift (wie § 40 I S. 3 Nr. 2 AMG) seinen ersichtlich abschließenden Ausdruck gefunden, so ist der Rückgriff auf die unspezifische Notstandsregelung des § 34 StGB gesperrt.68 Fehlt es hingegen an der erforderlichen Befähigung zur selbstbestimmten Entscheidung, so kann allein der Rechtsgedanke der mutmaßlichen Einwilligung, primär auf die Präferenzen und den hypothetischen Willen des jeweils Betroffenen (konkret-individuell) gerichtet und regelmäßig durch einen Stellvertreter gedeutet (vgl. §§ 40 IV Nr. 3, 41 III Nr. 2 AMG), nicht jedoch eine mehr oder weniger diffuse Notstandsüberlegung rechtsgutsbezogene Eingriffe rechtfertigen. Intrapersonale Konflikte unterstehen dem Autonomieprinzip und sind keiner Pflicht zur Mindestsolidarität (wem gegenüber?) zugänglich,69 soll der Einzelne nicht einem mehr oder weniger beliebigen „Vernünftigkeits“-Kalkül anderer ausgeliefert werden. Droht somit bei zwangsweise Untergebrachten das Vorenthalten von Lebensrettungs- oder Heilungschancen,70 so entspricht es vorbehaltlich erkennbarer Anhaltspunkte für eine ablehnende Haltung des jeweils Betroffenen stets dessen mutmaßlichem Willen, die fachgerechte ärztliche Behandlung zu erhalten, und zwar bei jeder medizinischen Indikation und nicht erst – aufgrund irriger notstandsähnlicher Erwägung – im Falle besonderer Dringlichkeit oder gar erst bei Lebensgefahr.71 Dies gilt auch für eine Abweichung vom Behandlungsstandard 65
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Zu diesem Wandel des „Menschenbildes“ im Recht eindrucksvoll die gleichnamige Schrift von Böckenförde (2001); siehe auch Hollerbach, Selbstbestimmung im Recht, 1995. Näher Damm, MedR 2002, 375 ff. Dazu bereits o. bei Fn 10 f. Nach vorzugswürdiger Auffassung manifestiert sich diese Sperrwirkung durch spezialgesetzliche Regelungen im Erfordernis der „Angemessenheit“, vgl. Duttge (o. Fn 61), § 34 StGB Rn 23. Zu dieser freilich nicht allgemein konsentierten Auffassung näher Duttge (o. Fn 61), § 34 StGB Rn 9 m.w.N. Siehe die Argumentation o. bei Fn 46. Siehe hingegen die restriktiven Formulierungen o. Fn 50.
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und Verordnung eines (insoweit) nicht oder noch nicht zugelassenen Arzneimittels („off-label“)72 bei Fehlen anderweitiger therapeutischer Möglichkeiten, sofern dies von einer sachkundigen und „vertretbaren“ Einschätzung des behandelnden Arztes getragen ist.73 Dieser individuelle Heilversuch, bei Gabe eines Arzneimittels im Vorfeld der Zulassung neuerdings als „compassionate use“ bezeichnet (vgl. § 21 II Nr. 6 AMG i.V.m. Art. 83 II der VO [EG] 726/2004)74, wird von der Verbotsregelung des § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG allerdings gar nicht erfasst, da diese sich ausschließlich auf „klinische Prüfungen“ bezieht, d.h. auf Untersuchungen am Menschen, „die dazu bestimmt sind, klinische oder pharmakologische Wirkungen von Arzneimitteln zu erforschen … mit dem Ziel, sich von der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit der Arzneimittel zu überzeugen“; erfolgt die Wirkstoffgabe dagegen „nicht einem vorab festgelegten Prüfplan, sondern ausschließlich der ärztlichen Praxis“ gemäß, so handelt es sich um eine (missverständlich) sog. „nicht-interventionelle Prüfung“ (§ 4 XXIII AMG). Soweit die Zwecksetzung also nicht – jedenfalls auch – auf die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse gerichtet ist, sondern allein auf die Gesundung des einzelnen Patienten, finden §§ 40 ff. AMG überhaupt keine Anwendung.75 Damit relativiert sich aber die Sorge vor einer gesundheitsbezogenen Benachteiligung Inhaftierter erheblich: Denn sie beschränkt sich auf jenen Bereich, in dem ein medizinisches Forschungsvorhaben durchgeführt wird, mit dem zugleich therapeutische Wirkungen für die einbezogenen Probanden einhergehen können (so dass besser von einer „Therapiestudie“ statt von einem „therapeutischen Versuch“ gesprochen werden sollte). Ob Betroffenen im Falle einer fehlenden Befähigung zur freien Willensentschließung auch insoweit ein mutmaßliches Einverständnis mit einer Teilnahme an der klinischen Prüfung zugeschrieben werden kann, wird man mit Blick auf den Erprobungscharakter jeder Forschungsstudie und die vor einer Zulassung noch nicht abgeschlossene Einschätzung des Wirkstoffs76 allenfalls ausnahmsweise je nach konkretem Ein72
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Zur Problematik des Off-label-use näher Francke/Hart, Sozialgerichtsbarkeit 2003, 653 ff.; Fritze, Versicherungsmedizin 2004, 61 ff.; Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2004, 655 ff.; siehe auch BSGE 89, 184 ff. zur Frage der Erstattungspflicht aus der GKV. Wie hier ausdrücklich Deutsch/Spickhoff (o. Fn 4), Rn 957 f.: Individualheilversuche nach den „Grundsätzen der vermuteten Einwilligung (§ 683 BGB)“ zulässig. Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates v. 31.3.2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittelagentur, ABl. L 136 v. 30.4.2004, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/ LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:136:0001:0033:DE:PDF; näher zum compassionate use: Kraft, Arzneimittel & Recht 2007, 252 ff.; Mayer, Strafrechtliche Produktverantwortung bei Arzneimittelschäden, 2008, S. 532 f., 541 ff.; Pflügler, PatR 2006, 155 ff. Wie hier Deutsch, PharmR 2001, 202; ders., VersR 2005, 1009, 1010 f.; Deutsch/Spickhoff (o. Fn 4), Rn 932: „Analogie zu den Regeln über die Therapie“; Rn 958 a.E.: Verbot des § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG gilt nicht; Rn 1299: keine Arzneimittelprüfung; der von Fischer (o. Fn 4, S. 67 f.) empfohlenen „teleologischen Reduktion“ für Maßnahmen, „die nach ärztlichem Urteil“ erfolgen, bedarf es deshalb gar nicht. Problematische Verallgemeinerung bei Stock (o. Fn 41), S. 65: „spätestens in Prüfungen der Phase III“.
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zelfall annehmen können; zu denken ist insbesondere an Konstellationen einer akuten gesundheitlichen Gefährdung bei Fehlen jedweder sonstigen Therapieoption. Noch weniger lässt sich im je subjektiv-hypothetischen Sinne eine allgemeine Zustimmung der Probanden mutmaßen, wenn die klinische Studie der Prüfung eines Wirkstoffs dient, der „den Grund der Verwahrung beseitigen“ könnte.77 Gewiss liegt das Ergreifen einer diesbezüglichen Heilungschance im wohlverstandenen Interesse der Untergebrachten, damit im gesunden Zustand alsbald und dauerhaft die Freiheit wiedererlangt werden kann. Nur handelt es sich dabei um das Kalkül des objektiv Vernünftigen bzw. aus Präventionsgründen gesellschaftlich Erwarteten, dem sich zu unterwerfen wohl nicht für jedermann gleichermaßen selbstverständlich sein dürfte. Zu leicht kann der Zugriff auf diese Klientel den Charakter einer „Zwangsbeglückung“ oder gar einer verdeckten Sanktionierung für das Tragen einer gemeinschädlichen Disposition gewinnen78 – was die Verbotsnorm des § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG gerade verhindern will. Der österreichische Gesetzgeber hat die ehedem in § 45 II i.V.m. § 43 Nr. 1 öAMG enthaltene Möglichkeit der Einbeziehung von „angehaltenen“ oder „untergebrachten“ Personen in klinische Prüfungen von Arzneimitteln, die zur Anwendung gerade bei der „psychischen Anlasstat“79 bestimmt sind, inzwischen ersatzlos gestrichen (§ 45 II öAMG-neu)80.
3. Schlussfolgerung für das geltende Recht Der Fokus richtet sich daher unweigerlich auf das Selbstbestimmungsrecht und drängt nach dem vorstehend Erörterten die Frage auf: Gesetzt den Fall, Inhaftierte entschlössen sich aus einem Anflug von Altruismus oder – lebensnäher – in der nicht unbegründeten Hoffnung auf Besserung ihres Gesundheitszustandes gänzlich unbeeinflusst von ihrer Unterbringung in Gebrauch ihrer in jeder Hinsicht gesicherten Willensentschließungsfreiheit für eine Teilnahme an der Arzneimittelprüfung – was könnte dann die gleichwohl postulierte Geltung des Verbots noch rechtfertigen? Sofern die erforderliche Entscheidungsfreiheit hinreichend gesichert werden kann, d.h. die zu besorgenden störenden Einflüsse sich unterbinden und die der Einwilligung eines Inhaftierten ggf. anhaftenden „Rationalitätsdefizite“81 sich ausgleichen lassen, ohne dass hierdurch das Tabu einer Instrumentalisierung von zwangsweise Untergebrachten zu medizinischen Versuchsobjekten82 untergraben und in seinem Fortbestand sukzessive in Frage gestellt wird („slippery slope“), besteht keinerlei Grund mehr, potentiellen Probanden weiterhin die Teil77 78
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81 82
Zu dieser Fallgruppe o. Fn 47 ff. Nach der Devise: Lieber an diesen forschen, als dass „Unschuldige“ u.U. studienbedingte Schäden erleiden. Kopetzki, Grundriß des Unterbringungsrechts, 1997, Rn 667. I.d.F. der öAMG-GCP-Novelle v. 29.4.2004 (BGBl. I Nr. 35/2004); siehe auch Hägele (o. Fn 41), S. 617. Amelung, ZStW 95 (1983), 1, 30. Zu diesem Verständnis dessen, was § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG eigentlich bezweckt, näher o. bei Fn 43.
Striktes Verbot der Arzneimittelprüfung an zwangsweise Untergebrachten?
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nahme zu verwehren und damit zugleich der medizinischen Forschung in den Arm zu fallen. Diese Prämisse zur Grundlage genommen würde der Verbotsvorschrift das Stigma der Unverhältnismäßigkeit anhaften, so dass den in der Literatur – freilich allein mit Bezug auf „therapeutische Versuche“ – bereits erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken83 nicht mehr widersprochen werden könnte. Abhelfen ließe sich dem freilich nicht mehr de lege lata, sondern allein im Wege einer Neuregelung der Materie. Denn auch die verfassungskonforme Auslegung unterliegt funktionell-rechtlichen Grenzen, die überschritten sind, wenn der sich aus der verfassungsrechtlichen Analyse ergebende Inhalt „nicht mehr ein Minus, sondern ein Aliud gegenüber dem ursprünglichen Gesetzesinhalt enthält“84. Mit anderen Worten verbietet sich eine Interpretation gegen den „klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers“85; die Abkehr von einer früheren gesetzgeberischen Entscheidung kann nur der Gesetzgeber selbst vollziehen. Mit Bezug auf § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG: Einer „unwiderlegbaren Vermutung“86 ist denknotwendig eigen, dass sie für jeden vorstellbaren Fall Geltung beansprucht und somit normativ in keiner einzigen Konstellation „widerlegt“ werden kann. Soll die Regelung gleichwohl Ausnahmen erfahren, so erfordert dies ein Tätigwerden des Gesetzgebers.87
III. Eckpunkte einer verfassungskonformen Neuregelung Die Zielrichtung einer Neuregelung liegt auf der Hand: Nicht etwa dürfen objektiv „vernünftig“ erscheinende Zwecke einer erlaubten Durchführung von klinischen Prüfungen (in Gestalt der Sicherung von Heilungschancen allgemeiner und bezogen auf den Grund der Verwahrung spezieller Art) mit Gesetzesautorität hervorgehoben werden88 (was andere, hiervon nicht erfasste, aber im Einzelfall u.U. ebenfalls ethisch vertretbare Forschungsvorhaben unnötig ausschließt), sondern müssen sich die Überlegungen auf die Frage konzentrieren, wie die Willensentschließungs- und -betätigungsfreiheit der zwangsweise Untergebrachten sichergestellt werden kann. Amelung hat hierzu schon vor etwas mehr als 25 Jahren die Einschaltung eines „unabhängigen Gutachtergremiums“ empfohlen, um mit einer solchen Kontrollinstanz eine Art „Gewaltenteilung“ im Verhältnis zur Studienleitung und zum Anstaltspersonal herzustellen und letztlich möglichem Missbrauch 83 84
85 86 87
88
Almer (o. Fn 5), S. 172; Amelung, ZStW 95 (1983), 1, 28 f. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn 83. Siehe z.B. BVerfGE 8, 28, 34; 71, 81, 105; 86, 288, 320. Hägele (o. Fn 41), S. 613. Im Zuständigkeitsbereich der Ethikkommission Göttingen wird § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG daher in seiner geltenden Fassung als kategorisches Verbot angesehen, vgl. auch Wiesemann, in: Fromberger/Müller, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2007, 276, 277. So die empfohlene, unter Mitwirkung des Jubilars erarbeitete Gesetzesfassung eines interdisziplinären Arbeitskreises zum Forschungsbedarf und zur Einwilligungsproblematik bei psychisch Kranken, publiziert in: Helmchen/Lauter, Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?, 1995, S. 68.
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vorzubeugen.89 Heute fällt der Blick natürlich sogleich auf die Ethik-Kommission90, die allerdings weder in ihrer Funktion als vorhabenbezogenes Prüf- und Bewertungsorgan (vgl. § 3 IIc GCP-VO) geeignet noch in ihrer praktischen Tätigkeit in der Lage ist, die nötige Einzelfallprüfung bezogen auf jeden einzelnen Untergebrachten hinsichtlich der je vorhandenen Motivation und individuellen Lebensverhältnisse vorzunehmen.91 Das Wirken einer Ethik-Kommission kann sich vielmehr nur darauf beschränken, auf übergeordneter Ebene das Implementieren einer umfassenden Struktur von freiheitssichernden Mechanismen zu verlangen, zu denen insbesondere die Einsetzung einer eigenständigen, unabhängigen Instanz vor Ort (wie z.B. einer Ombudsperson oder eines „unabhängigen Insiders“)92 zur Prüfung der Einzelfälle zählt. Deren Rechte gegenüber der verantwortlichen Studienleitung (sog. „Sponsor“, vgl. Art. 2 lit. e) der GCP-Richtlinie, § 4 II GCP-VO) und den Prüfern (Art. 2 lit. f) der GCP-Richtlinie), das Verfahren vor Einschluss der Probanden in die klinische Prüfung (z.B. unter Gewährung besonderer Bedenkzeiten) und deren freier, unbehinderter Zugang zu dieser Kontroll- und Beschwerdestelle müssen durch spezielle Regelungen, deren Erstellung und effektive Umsetzung in der Verantwortung der Projektleitung liegt, geklärt werden; diese neu zu schaffende Organisations- und Verfahrensstruktur ist vor Prüfbeginn der Ethikkommission darzulegen. Gewährleistet sein muss weiterhin, dass dieser auch evtl. unplanmäßige Vorkommnisse jedweder Art93 unverzüglich zur Kenntnis gelangen, sei es durch den „Sponsor“ und/oder durch die Prüfer, sei es durch die Kontrollinstanz oder durch die jeweiligen Probanden selbst. Das bereits erwähnte Gebot der „Haftneutralität“94 verlangt zudem auf allen Ebenen eine strikte organisatorische und personelle Trennung zwischen den Bereichen der klinischen Prüfung und der Ingewahrsamhaltung. Nur wenn es gelingt, das Forschungsvorhaben mit allen seinen organisatorischen Anforderungen in vollständiger Unabhängigkeit von der Anstaltsunterbringung durchzuführen, so dass die (Nicht-)Teilnahme der Inhaftierten an der klinischen Prüfung nach Möglichkeit95 keine – weder begünstigende noch benachteiligende – Bedeutung erlangen kann für ihr weiteres Leben in äußerer Unfreiheit, lässt sich ausschließen, dass Anreize oder Sanktionsdrohungen ihre Willensentschließungsfreiheit beeinträchtigen könnten. Das „Trennungsgebot“ muss insbesondere auch die Datenflüsse und -sicherung erfassen, um zu verhindern, dass evtl. Erkenntnisse im Rahmen der Forschung sich mittelbar doch auf die weitere Ausgestaltung der Unterbringung 89 90 91 92 93
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Amelung, ZStW 95 (1983), 1, 29 f. Zum „neuen Bild der Ethikkommission“ eingehend Deutsch, MedR 2006, 411 ff. So aber der Vorschlag bei Almer (o. Fn 5), S. 173. Vgl. Wiesemann (o. Fn 87). D.h. gerade nicht nur beschränkt auf „unerwünschte Ereignisse“ im Sinne von § 3 VI GCP-VO, sondern insbesondere auch jene Ereignisse, die u.U. Bedeutung für die Frage der Willensentschließungsfreiheit haben. Oben Fn 31. Eine unvermeidliche Folgewirkung, die jedoch die Entscheidung des Inhaftierten vor Prüfbeginn nicht beeinflussen darf, kann die Teilnahme an der klinischen Prüfung natürlich bei Erreichen einer wesentlichen Besserung des Gesundheitszustandes oder gar bei einer Heilung erlangen, wenn der vorherige Erkrankungszustand Grund der Unterbringung war.
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oder gar im Sinne von haftverlängernden Entscheidungen auswirken. Auch aus Sicht der Forschenden sollte dabei großes Interesse an einer strengen Handhabung des Datenschutzes bestehen, weil ansonsten Versuchsteilnehmer sich motiviert sehen könnten, mit Blick auf erhoffte Verbesserungen ihrer Haftsituation Versuchsergebnisse zu manipulieren.96 Unverzichtbar ist deshalb zugleich eine sorgfältige und eingehende Aufklärung der Verwahrten nicht nur entsprechend den allgemeinen Grundsätzen über „Wesen, Bedeutung, Risiken und Tragweite der klinischen Prüfung“ (§ 40 I S. 3 Nr. 3a, II AMG), sondern auch und insbesondere darüber, dass sich die Entscheidung über eine Teilnahme oder Nichtteilnahme an der Studie in keinster Weise auf Ausgestaltung oder Dauer der weiteren Unterbringung auswirkt. Die Aufklärung muss darüber hinaus natürlich ebenso das Bestehen einer Anlauf- und Kontrollstelle und die Möglichkeiten des Zugangs zu dieser zum Gegenstand haben. Diese in solcher Weise geschaffene „Legitimation durch Verfahren“ in dem Sinne, dass bestehende Zweifel an einer hinreichenden Beachtung des materiellen Rechts durch Bereitstellung einer Verfahrensstruktur kompensiert werden, die höchstmögliche Gewähr für die Wahrung der rechtlichen Grenzen bietet, 97 kann natürlich stets nur unter dem Vorbehalt besserer Erkenntnis bestehen. Es bedarf daher der fortlaufenden Beobachtung, ob sich die Sicherungsmechanismen tatsächlich bewähren oder eher der Verschleierung einer in Wahrheit fragwürdigen Praxis dienen.98 Als weitere Vorsorgemaßnahme gegen Missbrauch wird man wie auch in sonstigen Fällen der Einbeziehung vulnerabler Probandengruppen (vgl. §§ 40 IV Nr. 2, 41 III Nr. 3 S. 2 AMG) den Rechtsgedanken der Subsidiarität zugrunde legen müssen, ähnlich dem Zusatzprotokoll des Europarates v. 25.1.2005 zur Biomedizin-Konvention, das in seinem Art. 20 lit. i) die Bedingung aufstellt: „Forschung von vergleichbarer Wirksamkeit kann ohne Beteiligung von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, nicht durchgeführt werden“99. Die dort des Weiteren enthaltene Begrenzung auf „minimale Risiken“ und „minimale Belastungen“ (Art. 20 lit. iii)100 will hingegen ersichtlich dem Umstand einer mit Zweifeln behafteten Freiwilligkeit Rechnung tragen und hat mithin eine Klientel vor Augen, die es nach Implementierung einer probandenschützenden Organisations- und Verfahrensstruktur gerade nicht mehr geben sollte. Gleichwohl bleibt zu überlegen, ob eine künftige Regelung sich auf das allgemeine Risiko-NutzenKalkül des § 40 I S. 3 Nr. 2 AMG beschränken oder evtl. doch das strengere Erfordernis der § 40 IV Nr. 4 bzw. § 41 III Nr. 1 S. 1 AMG („möglichst wenig Belastungen und andere vorhersehbare Risiken“) zum Vorbild nehmen sollte. Hier wie im Ganzen einen akzeptablen Kompromiss zu finden zwischen dem unverzichtbaren Schutz der Probanden und dem nicht minder wünschenswerten Fortschritt der medizinischen Forschung, hat nicht zuletzt auch größte praktische Relevanz für jene Bereiche, die jenseits des Arzneimittel- und Medizinprodukte96 97 98
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Zutreffend hervorgehoben von Almer (o. Fn 5), S. 173. Dazu eingehend Saliger, in: Bernat/Kröll (o. Fn 36), S. 124 ff., insbes. S. 162 ff. In letzterem Sinne offenbart die niederländische Euthanasiepraxis einige Verdachtsmomente, näher dazu Duttge u.a. (o. Fn 62), S. 21 ff., 54 ff. Siehe o. Fn 19 f. Zur Erläuterung dieser Begriffe siehe Art. 17 I, II des Zusatzprotokolls (o. Fn 19 f.).
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rechts liegen und – wie etwa die forensisch-psychiatrische Forschung – bisher (noch) keine rechtlichen Vorgaben speziell für wissenschaftlich motivierte Studien mit zwangsweise Untergebrachten kennen. Denn die vorherrschende Ablehnung einer Analogie zum geltenden § 40 I S. 3 Nr. 4 AMG101 ist weniger durch Bedenken an einer – hierauf bezogen – naheliegenden Vergleichbarkeit motiviert, sondern durch das verständliche Unbehagen am bisher bestehenden kompromisslosen Verbot. Eine Korrektur des Arzneimittelrechts könnte daher den Weg bereiten, um auch für jene anderen Gebiete die inzwischen dringend angemahnte Rechtssicherheit102 durch Regelungen herbeizuführen, die nicht aus Sorge vor Missbrauch das Kind mit dem Bade ausschütten.
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Im Überblick: Almer (o. Fn 5), S. 174 ff. Siehe für den Bereich der forensisch-psychiatrischen Forschung: Fromberger/Müller, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2007, 276 ff., 279 f.
Biosimilars – ein Markt der Zukunft?
Alexander P. F. Ehlers und Antje-Katrin Heinemann In den 80er Jahren begann die Vermarktung der ersten Generation der durch rekombinante Technologie hergestellten biologischen Arzneimittel. Bis vor ein paar Jahren hat der Patentschutz die Hersteller der originatoren Biopharmazeutika vor generischen Produkten geschützt. Seit 2002 laufen nun nach und nach die Patente der biologischen Arzneimittel aus und die ersten Biotech-Nachfolgeprodukte, auch genannt Biosimilars, wurden jüngst durch die EMEA1 zugelassen. Insgesamt liegt der Anteil der Biopharmazeutika am gesamten Arzneimittelumsatz bei 9,9 Prozent2 und der Wachstumskurs der Biotech-Branche wird in den nächsten Jahren noch weiter steigen.3 Dieser Beitrag beschäftigt sich unter anderem mit den Unterschieden eines Generikums zu einem Biosimilar, den rechtlichen Rahmenbedingungen für die Zulassung von Biosimilars, der Vergleichbarkeit des Biosimliars mit dem Referenzprodukt sowie den „Risiken und Nebenwirkungen“ des schwierigen, aber möglicherweise lukrativen Marktes der Biosimilars.
I. Biotechnologie und der medizinisch-wissenschaftliche Fortschritt Derzeit sind in Deutschland 123 biotechnologisch hergestellte Arzneimittel mit 93 Wirkstoffen zugelassen.4 Insgesamt liegt der Anteil der Biopharmazeutika am gesamten Arzneimittelumsatz bei 9,9 Prozent5 und der Wachstumskurs der Bio1 2
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European Agency for the Evaluation of Medicinal Products. a.a.O.; Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management (DVFA), Life Science am Kapitalmarkt: Biotechnologie im Fokus 2005, S. 4; Kleist/Mollet/Pfister/ Bühler, Schweizerische Ärztezeitung 2006, S. 1271 (1271). visAvis: Biotechnologie-Report von Ernst & Young prognostiziert Umsatzmilliarde 2007,URL:http://www.visavis.de/technologie/modules.php?name=News&file=article& sid=9384. Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA): Zugelassene gentechnische Arzneimittel in Deutschland 2007, URL:http://www.vfa.de/de/forschung/am_entwicklung/ amzulassungen_gentec.html. a.a.O.; Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management (DVFA), Life Science am Kapitalmarkt: Biotechnologie im Fokus 2005, S. 4; Kleist/Mollet/Pfister/
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tech-Branche wird in den nächsten Jahren noch weiter steigen.6 Allerdings sind die technologischen und wirtschaftlichen Trends dieser Branche stark von den externen Rahmenbedingungen abhängig, wie dem Zulassungsverfahren bei der EMEA sowie der nationalen Gesetzgebung.7
1. Biopharmazeutika Biotechnologisch hergestellte Medikamente („recombinant biologicals“) werden anders als chemische Arzneimittel nicht durch chemische Synthese, sondern aus biologischem Material isoliert (z. B. aus Blutplasma) oder gentechnisch mit Hilfe von lebenden Zellen (z.B. Hamsterzellen) produziert.8 Biopharmazeutika sind entgegen den einfach und klar zu strukturierenden, leicht zu charakterisierenden chemischen Arzneimitteln hochkomplexe dreidimensionale Proteine, deren heterogene Struktur analytisch schwer zu charakterisieren ist und die lediglich durch relativ schwache Wasserstoffbrückenbindungen stabilisiert werden und dementsprechend umgebungsempfindlich sind.9 Im Vergleich zu chemischen Arzneimitteln haben Biopharmazeutika ein sehr hohes Molekulargewicht, in Einzelfällen bis zu 500 000 Dalton. Beispielsweise hat Aspirin ein Molekulargewicht von lediglich 180 Dalton, wohingegen das biotechnologisch hergestellte Insulin ein Molekulargewicht von 5000 Dalton hat, also eine höhere Molekulardichte aufweist. Dies erschwert die Nachahmungsmöglichkeit erheblich. Die Qualität eines Biopharmazeutikums hängt stark von dem Herstellungsprozess ab, das heißt von den Wachstumsbedingungen der Wirtszellen, den verwendeten Lösungszusätzen und Materialien, Fermentationsprozessen und den physikalischen Bedingungen (Temperatur, Scherkräfte, Phasen).10 Folglich bestimmt der Herstellungsprozess das Produkt11 und kleinste Veränderungen haben Auswirkungen auf die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Biopharmazeutikums.
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Bühler, Schweizerische Ärztezeitung 2006, S. 1271 (1271). visAvis: Biotechnologie-Report von Ernst & Young prognostiziert Umsatzmilliarde 2007, URL:http://www.visavis.de/technologie/modules.php?name=News&file=article &sid=9384. Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management (DVFA), Life Science am Kapitalmarkt: Biotechnologie im Fokus 2005, S. 12. Ärzte Zeitung: Zulassung für die ersten gentechnisch erzeugten Generika 2006, URL:http://www.aerztezeitung.de/docs/2006/11/16/206a0605.asp?cat=; Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA): Biologische/biotechnologische Generika sind nicht möglich 2007, URL: http://www.vfa.de/de/presse/positionen/biotech_generika. html. CPMP/437/04 Guideline on Similar Biological Medicinal Products, 30. Oktober 2005; Zylka-Menhorn/Tippmann, Deutsches Ärzteblatt 103, 6/2006, S. 311 ff. Kleist/Mollet/Pfister/Bühler, Schweizerische Ärztezeitung 2006, S. 1271 (1272). „The process is the product“.
Biosimilars - ein Markt der Zukunft?
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2. Generika Von den chemisch hergestellten Arzneimitteln gibt es bereits seit vielen Jahren Nachahmerprodukte, sog. Generika. Nach Ablauf des Patentschutzes ist es Generikaherstellern möglich, Arzneimittel, die dem Produkt des Originalherstellers weitgehend entsprechen und insbesondere den gleichen Wirkstoff in der gleichen Menge enthalten, auf den Markt zu bringen. Generika lassen sich mithin als strukturell klare, chemische Arzneimittel definieren, die identische Kopien des Originalproduktes darstellen und aus pharmazeutischer Sicht kaum zu unterscheiden sind. Für die Zulassung muss der Hersteller eines Generikums nachweisen, dass dieses im Wesentlichen („essentially similar“) dem Originalprodukt gleicht, für das der Hersteller des originalen Arzneimittels insbesondere in klinischen Prüfungen die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nachgewiesen hat.12 Ferner muss der Generikahersteller nicht nur die gleiche Darreichungsform erfüllen, sondern ebenfalls die Bioäquivalenz zwischen dem Generikum und dem Originalpräparat darlegen. Aufgrund der Berufung auf die entsprechenden Unterlagen des Originalherstellers müssen die Hersteller der Generika keine eigenen Prüfungen zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Generikums durchführen. Sie haben infolgedessen erhebliche Einsparungen bei den Entwicklungs- und Forschungskosten und können die Arzneimittel preisgünstiger als die Originalhersteller anbieten. Daher begrüßen nicht nur die Generikahersteller den Ablauf des Patentschutzes von Originalprodukten, sondern auch Gesundheitspolitiker, die sich Kosteneinsparungen im Gesundheitssystem erhoffen.15 13
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3. Biosimilars Generika sind insofern chemische Duplikate des Originals und müssen lediglich kopiert werden. Biotechnologisch hergestellte Medikamente können jedoch aufgrund ihres komplexen Produktionsprozesses nicht identisch kopiert werden.16 Aus diesem Grunde spricht die europäische Arzneimittelbehörde nicht von Bioge12
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Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA): Biologische/biotechnologische Generika sind nicht möglich 2007, URL: http://www.vfa.de/de/presse/positionen/ biotech_generika.html. Der Begriff Bioäquivalenz bewertet die Austauschbarkeit zweier wirkstoffgleicher Arzneimittel. Diese ist gegeben, wenn ein Arzneimittel die gleiche Menge des gleichen Wirkstoffs enthält und der gleichen Darreichungsform vorliegt, die die gleichen Standards erfüllt. Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA): Biologische/biotechnologische Generika sind nicht möglich 2007, URL: http://www.vfa.de/de/presse/positionen/ biotech_generika.html. Kleist/Mollet/Pfister/Bühler, Schweizerische Ärztezeitung 2006, S. 1271 (1271); BIOPRO Baden-Württemberg GmbH: Biosimilars: Nachahmerpräparate von Biopharmazeutika 2007, URL:http://www.bio-pro.de/de/life/thema/03434/index.html. Ärzte Zeitung: Zulassung für die ersten gentechnisch erzeugten Generika 2006, URL:http://www.aerztezeitung.de/docs/2006/11/16/206a0605.asp?cat=.
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nerika, sondern von Biosimilars, denn diese sind ihrem Original zwar ähnlich, können aber niemals identisch sein. a) Der Prozess der Nachahmung von Biopharmazeutika Wie oben erläutert definiert sich ein Biopharmazeutikum, das heißt die Aminosäuresequenz des Proteins, seine Raumstruktur, Glykolisierungsgrad und dessen spezifische Verunreinigungen durch den Herstellungsprozess. Verschiedenste Einflussfaktoren wie beispielsweise minimale Veränderungen der Temperatur können Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des biotechnologischen Arzneimittels beeinträchtigen.17 Die Nachahmung von Biopharmazeutika ist insofern besonders schwierig. Daneben liegt die Schwierigkeit beim „Nachbau“ eines Biopharmazeutikums in der Basis der Prozesse: den lebenden Zellen oder Organismen. Diese lebenden Systeme variieren zwangsläufig ihre Funktion. Damit der Herstellungsprozess überhaupt reproduzierbar ablaufen kann, müssen definierte Kulturen von Mikroorganismen verwendet werden, die die gewünschte Substanz entstehen lassen.18 So werden für die Herstellung des Stoffes Erythropoetin in einer Nährstofflösung gezüchtete Eierstockzellen einer Hamsterart benutzt. Diese werden genetisch so programmiert, dass sie Erythropoetin produzieren.19 Erythropoetin als hämatopoetischer Wachstumsfaktor, der die Bildung roter Blutkörperchen im Knochenmark gezielt anregt, wird normalerweise vorwiegend in den Nieren produziert. Patienten mit Niereninsuffizienz oder Zystennieren bilden jedoch nicht genügend Erythropoetin und leiden deshalb an Anämie. Zur Behandlung der Anämie wird ein Biopharmazeutikum mit diesem Wirkstoff eingesetzt.20 Dennoch verhalten sich diese Zellen nicht immer gleich und somit ist ein solcher komplizierter Prozess nie identisch reproduzierbar. Diese äußerst komplizierten Prozesse müssen fortlaufend sehr genau überwacht werden. Häufige In-Prozess-Kontrollen helfen, auch geringfügige Veränderungen im Herstellungsprozess zu erkennen, denn diese können beispielsweise zu einer falschen Faltung des Proteins sowie zu Ab- und Umbaureaktionen führen oder das Glykolisierungsmuster verändern.21 Von der korrekten Faltung hängt zum Beispiel seine Fähigkeit ab, sich an Rezeptoren zu binden und damit einen pharmakologischen Effekt auszulösen.22 Letztlich entscheiden auch Isolierung und Reinigung des Endprodukts über Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arznei17 18 19
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CHMP/437/04 Guideline on Similar Biological Medicinal Products, 30. Oktober 2005. Gensthaler, Pharmazeutische Zeitung: Biosimilars sind im Kommen, Ausgabe 11/2006. Warnecke, Generika kennt jeder, und was sind Biogenerika?, URL: http://www.dialyseim-alstertal.de/pdf/Generika.pdf. Österreichische Apothekenkammer: Hightech Pharmazie: Pharmakogenetik und Pharmakogenomik sind heute wichtige Forschungsgebiete geworden; URL:http:// www.apotheker.or.at/Internet/OEAK/NewsPresse_1_0_0a.nsf/agentEmergency!OpenA gent&p=5B42BF8D76B69895C1256C0100352210&fsn=fsStartHomeFachinfo&iif=0.; Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management (DVFA), Life Science am Kapitalmarkt: Biotechnologie im Fokus 2005, S. 8. Gensthaler, Pharmazeutische Zeitung: Biosimilars sind im Kommen, Ausgabe 11/2006. Zylka-Menhorn/Tippmann, Deutsches Ärzteblatt 103, 6/2006, S. 311 ff.
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mittels beim Patienten. Eine Garantie, dass ein Biosimilar dem originalen Biopharmazeutikum entspricht, gibt es jedoch auch nicht, wenn der Generikahersteller dieselbe Zelllinie mit denselben Informationsgenen einsetzt sowie einen vergleichbaren Herstellungsprozess durchläuft, denn ebenso spielt die umfassende Datenbasis der Originalhersteller eine Rolle.23 Ein über viele Jahre und Monate maßgeschneiderter Produktionsablauf ist häufig wertvolles geistiges Eigentum der Pharmaunternehmen.24 Genau über dieses Wissen können Generika-Unternehmen im biopharmazeutischen Bereich zwangsläufig nicht verfügen. b) Immunogenität Biotechnologisch hergestellte Arzneimittel bieten neue Therapiemöglichkeiten für bisher nicht oder nur schwer behandelbare Krankheiten. Sie funktionieren, indem sie unerwünschte Antworten im Organismus induzieren.25 Andererseits kann ein Biopharmazeutikum jedoch auch unerwünschte dramatisch variierende und möglicherweise fatale Antworten im Immunsystem zur Folge haben, beispielsweise indem es auf minimalste, analytisch nicht erfassbare Veränderungen überschießend reagiert.26 Eine Schwierigkeit bei der Entwicklung und Nachahmung des Biopharmazeutikums liegt demzufolge ebenfalls in der hohen Immunogenität der großen Proteinmoleküle. Das Molekulargewicht ist ein für die Immunogenität eines Moleküls bedeutsamer Faktor. Kleinere Moleküle mit einem Molekulargewicht von unter 5.000 Dalton sind in der Regel nicht immunogen. Immunogenität ist die Fähigkeit eines Antigens, eine Immunantwort auszulösen.27 Richtet sich diese Reaktion gegen Domänen, die für die Wirksamkeit entscheidend sind, bilden sich neutralisierende Antikörper, welche gegebenenfalls die biologische Aktivität reduzieren und zum partiellen oder kompletten Wirkungsverlust führen.28 Auf der anderen Seite kann sich ein Epitop29 ausprägen und zu anderen unerwünschten Immunreaktionen führen, wie beispielsweise zur Allergie, Anaphylaxie und Serumkrankheit.30
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a.a.O. Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA): Biologische/biotechnologische Generika sind nicht möglich 2007, URL: http://www.vfa.de/de/presse/positionen/ biotech_generika.html. Zylka-Menhorn/Tippmann, Deutsches Ärzteblatt 103, 6/2006, S. 311 ff. Kleist/Mollet/Pfister/Bühler, Schweizerische Ärztezeitung 2006, S. 1271 (1272); Nick, Formulating a development programme for a biosimilars medicinal product, http://www.egagenerics.com/doc/nick_biosim-development.pdf. Forum der forschenden pharmazeutischen Industrie (FOPI): Biosimilars 2006, URL:http://www.fopi.at/page.asp/1416.htm. Zylka-Menhorn/Tippmann, Deutsches Ärzteblatt 103, 6/2006, S. 311 ff.; Kleist/Mollet/Pfister/Bühler, Schweizerische Ärztezeitung 2006, S. 1271 (1272). Ein Epitop (auch antigene Determinante genannt) ist ein kleiner Bereich (Molekülabschnitt) eines Antigens, gegen den das Immunsystem Antikörper bildet; denn weder die Rezeptoren auf der Oberfläche von B-Zellen noch die Antikörper selbst können an ein ganzes Antigen binden. Zylka-Menhorn/Tippmann, Deutsches Ärzteblatt 103, 6/2006, S. 311 ff.
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Ein Beispiel hierfür sind einige Fälle von transfusionspflichtigen Aplasien der roten Blutzellen (Pure Red Cell Aplasia, PRCA), die durch gegen das körpereigene Hormon Erythropoietin gerichtete Antikörper ausgelöst wurden.31 Die Ursache dieser Fälle waren kleinste Veränderungen im Herstellungsprozess. Des Weiteren zeigt das Beispiel der Erfinder und Ingenieure des japanischen Hersteller Showa Denko, dass sogar die Originalhersteller Schwierigkeiten bei deren Herstellung haben: Im Jahre 1989 bekamen sie die Folgen einer kleinen Änderung bei dem Herstellungsprozess der Aminosäure Tryptophan zu spüren. Sie sparten einen Reinigungsprozess, wodurch winzige Verunreinigungen im Präparat vorhanden waren. Mehrere Verbraucher starben, da ihr Immunsystem gegen diese Verunreinigungen rebelliert hatte.32 Infolge dieser lebensbedrohlichen klinischen Konsequenzen ist es erforderlich, die Immunogenität bei der Entwicklung von Biosimilars zu beobachten.33 c) Bioäquivalenz Der Hersteller eines Generikums muss einen einfachen Bioäquivalenznachweis erbringen, d.h. Aufschluss darüber geben, dass das Erfordernis der Gleichheit zwischen dem Generikum und dem Originalpräparat erfüllt ist. Zwei Arzneimittel sind folglich bioäquivalent, wenn sie pharmazeutisch äquivalent oder pharmazeutische Alternativen34 sind und wenn ihre Bioverfügbarkeit35 nach der Verabreichung in der gleichen molekularen Dosis so ähnlich ist, dass ihre Auswirkungen bezüglich Wirksamkeit und Unbedenklichkeit im Wesentlichen gleich sind.36 Diesen Nachweis zu erbringen ist für Hersteller von Nachahmerprodukten chemischer Arzneimittel nicht besonders schwierig, denn durch die Einfachheit von Produkt und Herstellungsprozess lässt sich die volle Übereinstimmung von Original und Generika feststellen. Anders hingegen ist es bei den Biosimilars. Es ist aufgrund der hochkomplexen Moleküle und der beschränkten analytischen Möglichkeiten nicht möglich, zweifelsfrei eine volle Übereinstimmung der Produktcharakteristika festzustellen
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Kleist/Mollet/Pfister/Bühler, Schweizerische Ärztezeitung 2006, S. 1271 (1272); Hürter, Die Kopisten stoßen an Grenzen 2005, URL: http://www.spiegel.de/ wirtschaft/0,1518,346730,00.html. a.a.O. CPMP/3097/02 Note for Guidance on Comparability of Medicinal Products containing Biotechnologyderived Proteins as Drug Substance - Non Clinical and Clinical Issues, Juni 2004; EMEA/CPMP/42832/05 Guideline on Similar Biological Medicinal Products Containing Biotechnologyderived Proteins as Drug Substance - Non Clinical and Clinical Issues, 1. Juni 2006. Diese liegen vor bei dem gleichen Wirkstoff, aber unterschiedlicher chemischer Form (Salz, Ester usw.) oder Darreichungsform oder Stärke. Ausmaß und Geschwindigkeit, mit denen ein Wirkstoff von einer Darreichungsform freigesetzt wird und im Blutkreislauf verfügbar wird. Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA): Biologische/biotechnologische Generika sind nicht möglich 2007,URL: http://www.vfa.de/de/presse/positionen/ biotech_generika.html;
Biosimilars - ein Markt der Zukunft?
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und somit unmöglich eine äquivalente Wirksamkeit und Unbedenklichkeit zu garantieren.37 Schlussfolgernd lässt sich feststellen, dass es für die Zulassung von Biosimilars nicht ausreichen kann, lediglich Daten zur Qualität zu erheben und die Bioäquivalenz nachzuweisen. Fraglich ist daher, welche Daten für die Zulassung von Biosimilars nach den rechtlichen Vorgaben zu erheben sind.
II. Rechtliche Vorgaben Neben der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, der Richtlinie 2003/63/EG der Kommission vom 25. Juni 2003 zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel und der Richtlinie 2004/27/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel sind ferner weitere relevante Leitlinien der EMEA auf die Zulassung von Biosimilars anzuwenden.
1. Europäische Richtlinien Eine rechtliche Grundlage für biologische Arzneimittel wurde in der Richtlinie 2004/27/EG in Art. 10 Abs. 4 geschaffen. Demnach sind Ergebnisse geeigneter vorklinischer oder klinischer Versuche vorzulegen, wenn Unterschiede bei den Rohstoffen oder dem Herstellungsprozess des biologischen Arzneimittels, das einem biologischen Referenzarzneimittel ähnlich ist, vorliegen, wodurch die in der Definition der Generika enthaltenen Bedingungen nicht erfüllt werden. Die Art und Anzahl der vorzulegenden zusätzlichen Daten müssen den relevanten Kriterien des Anhangs I und den diesbezüglichen detaillierten Leitlinien entsprechen.38 Neben der klaren Abgrenzung zu den Generika fordern das Europäische Parlament und der Europäische Rat folglich präklinische und klinische Studien für die Zulassung der Biosimilars. Eine vollständige Neuentwicklung des Produktes wird demnach nicht gefordert. Gemäß Anhang I, Teil II (Spezifische Zulassungsanträge und Anforderungen) Punkt 4 der Richtlinie 2003/63/EG gilt folgendes für biologische Arzneimittel, die im Wesentlichen einem bereits zugelassenen Arzneimittel gleichen (Biosimilars): Die bereitzustellenden Angaben dürfen sich nicht auf die Module 1, 2 und 3 (pharmazeutische, chemische und biologische Daten) beschränken, sondern müssen durch Daten zur Bioäquivalenz und Bioverfügbarkeit ergänzt werden. Die Art 37 38
a.a.O.; Zylka-Menhorn/Tippmann, Deutsches Ärzteblatt 103, 6/2006, S. 311 ff. Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (Amtsblatt L 136, 30.4.2004, S. 34-57).
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und Menge der zusätzlichen Daten (d.h. toxikologische und weitere präklinische und sachdienliche klinische Daten) sind je nach Einzelfall entsprechend den einschlägigen wissenschaftlichen Leitlinien festzulegen. Wegen der Verschiedenartigkeit der biologischen Arzneimittel ist von der zuständigen Behörde unter Berücksichtigung der spezifischen Merkmale jedes einzelnen Arzneimittels festzulegen, welche der in Modul 4 und Modul 5 vorgesehenen Studien erforderlich sind. Nach Modul 4 wären präklinische Studienberichte zur Pharmakologie, Pharmakokinetik und zur Toxikologie notwendig. Nach Modul 5 sind Berichte über klinische Studien bereitzustellen, namentlich Bioverfügbarkeitsstudien, Vergleichende Studien zur Bioverfügbarkeit und Bioäquivalenz, In-vitro-/In-vivoKorrelationsstudien, bioanalytische und analytische Verfahren, sowie verschiedene Studien zur Pharmakokinetik, pharmakodynomische Studien am Menschen und Studien zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels.39 Neben den Standardanforderungen des Zulassungsantrages (Administrative Angaben, Zusammenfassungen und chemische, pharmazeutische und biologische Informationen zu Arzneimitteln, die chemische und/oder biologische Wirkstoffe enthalten) werden von Fall zu Fall somit auch präklinische und klinische Unterlagen gem. Modul 4 und 5 gefordert. Diese Angaben sollen zu einer hinreichend begründeten und wissenschaftlich fundierten Aussage darüber gelangen, ob das Arzneimittel die Kriterien zur Erteilung einer Genehmigung für sein Inverkehrbringen erfüllt.
2. Leitlinien der EMEA Darüber hinaus sind die wissenschaftlichen Leitlinien der EMEA40 Teil des Rechtsrahmens für die Zulassung von Biosimilars. Sie regeln unter anderem, wie die biologische Ähnlichkeit eines Stoffes in Bezug auf ein Referenzarzneimittel wissenschaftlich festgestellt werden kann. Ferner entwickelt die EMEA Leitlinien zu Qualität („quality issues“) und präklinischen sowie klinischen Aspekten („nonclinical and clinical issues“) biologisch ähnlicher Produkte. Die umfassende Leitlinie CHMP/437/0441, die seit Oktober 2005 anzuwenden ist, definiert die rechtlichen Rahmenbedingungen und das Konzept für die Zulassung der „similar biological medicinal products“. Gemäß der Leitlinie sind Vergleichbarkeitsstudien zwischen dem in der Gemeinschaft zugelassenen Referenzarzneimittel und des Biosimilars erforderlich, um nachzuweisen, dass diese ähnliche Eigenschaften in Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit aufweisen.42 Ferner verdeutlicht die Leitlinie, dass die pharmazeutische Form, die Stärke 39
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Richtlinie 2003/63/EG der Kommission vom 25. Juni 2003 zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, S. 67 ff. Insgesamt existieren bis heute zehn Leitlinien für Biosimilars, drei Leitlinien sind derzeit bei der EMEA in Bearbeitung. CPMP/437/04 Guideline on Similar Biological Medicinal Products, 30. Oktober 2005. a.a.O.
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und der Verwaltungsweg des Biosimilars dieselben sein sollten wie die des Referenzarzneimittels. Sollte dies nicht der Fall sein, müssen zusätzliche Daten im Zusammenhang mit der Bioäquivalenz zur Verfügung gestellt werden. Jeder Unterschied zwischen dem Biosimilar und dem Referenzarzneimittel muss durch passende Untersuchungen über eine Fall-zu-Fall-Grundlage gerechtfertigt werden. Des Weiteren geht die ausführliche Leitlinie CHMP/437/04 auf den Pharmakovigilanz-Plan, sowie auf weitere Leitlinien zur Qualität und nichtklinischen und klinischen Gesichtspunkten ein, die für die Entwicklung von Biosimilars von Bedeutung sind. Außerdem existieren die prinzipiellen Leitlinien, wie beispielsweise die Leitlinien EMEA/CHMP/BWP/49348/2005 und EMEA/CHMP/BMWP/42832/2005, die sich mit der Qualität, sowie den Anforderungen in Bezug auf die Sicherheit (präklinische Daten) und der Wirksamkeit (klinische Daten) aller Biosimilars befassen. Daneben folgen beispielsweise der Leitlinie EMEA/CHMP/BMWP/ 42832/2005, die seit Juli 2006 anzuwenden ist, entsprechende produktspezifische Annex-Leitlinien für Insuline43, Erythropoetin44, Somatropin45 und G-CFS46.
III. Zulassungsvoraussetzungen 1. Vergleichbarkeit von Biosimilars und Referenzarzneimittel Für die Zulassung des Biosimilars muss die Vergleichbarkeit mit dem originalen Biopharmazeutikum auf mehreren Ebenen bewiesen werden: Produktqualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit.47 Zunächst ist bedeutsam, dass das ausgewählte Referenzprodukt während der gesamten Vergleichbarkeitsstudien dasselbe sein muss.48 Zum Beispiel sollte sich ein medizinisches Produkt mit dem Wirkstoff Interferon alfa-2a, welches einem anderen in der EU zugelassen medizinischen Produkt 43
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EMEA/CHMP/BMWP/32775/2005 Annex Guideline on Similar Biological Medicinal Products Containing Biotechnologyderived Proteins as Drug Substance - Non Clinical and Clinical Issues containing Recombinant Human Insulin, 1. Juni 2006. EMEA/CHMP/BMWP/94526/2005 Annex Guideline on Similar Biological Medicinal Products Containing Biotechnologyderived Proteins as Drug Substance - Non Clinical and Clinical Issues containing Recombinant Human Erythropoietin, 1. Juli 2006. EMEA/CHMP/BMWP/94528/2005 Annex Guideline on Similar Biological Medicinal Products Containing Biotechnologyderived Proteins as Drug Substance - Non Clinical and Clinical Issues containing Recombinant Human Growth Hormone, 1. Juni 2006. EMEA/CHMP/BMWP/31329/2005 Annex Guideline on Similar Biological Medicinal Products Containing Biotechnologyderived Proteins as Drug Substance - Non Clinical and Clinical Issues containing Recombinant Granulocyte-Colony Stimulation Factor, 1. Juni 2006. CPMP/437/04 Guideline on Similar Biological Medicinal Products, 30. Oktober 2005. Nick, Formulating a development programme for a biosimilars medicinal product, http://www.egagenerics.com/doc/nick_biosim-development.pdf.
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ähnlich sein soll, auf ein Referenzarzneimittel beziehen, das als Wirkstoff Interferon alfa-2a enthält. Folglich kann ein medizinisches Produkt, das Interferon alfa2b enthält, nicht als Referenzarzneimittel betrachtet werden.49 Biosimilars und Referenzarzneimittel müssen anhand validierter analytischer Methoden qualitativ miteinander verglichen werden, das heißt die Aktivität des Wirkstoffs des Biosimilars muss dem Referenzarzneimittel in molekularen und biologischen Bedingungen ähnlich sein ebenso wie das Reinheits- bzw. Verunreinigungsprofil. a) Nicht-klinische Daten Der Hersteller muss darstellen, dass beide Produkte sowohl in in-vitro als auch in in-vivo Studien vergleichbar sind. Biosimilars und Referenzarzneimittel sollten eine ähnliche Wirksamkeit in-vitro und in-vivo aufweisen. Zunächst sollten invitro erste Erkenntnisse über die Vergleichbarkeit in der Reaktivität und im wahrscheinlich begründenden Einflussfaktor in qualitätsbezogenen biologischen Experimenten gewonnen werden, bevor in-vivo Untersuchungen an Tieren vorgenommen werden, um Informationen über die Vergleichbarkeit zwischen Biosimilars und Referenzarzneimittel zu erhalten.50 Demnach wird nicht nur die lokale Verträglichkeit und die gleiche Wirksamkeit geprüft, sondern ebenso, ob Biosimilars und Referenzarzneimittel auch die gleichen Sicherheitsprofile in ihren pharmakologischen sowie toxischen Eigenschaften vorweisen. Zwar kann nun durch ähnliche physikalisch-chemische und biologische Eigenschaften und vergleichbare in-vitro- und in-vivo Effekte zum Referenzprodukt eine ähnliche Wirksamkeit erwartet werden, doch die Erfahrung mit der Entwicklung von Biosimilars ist begrenzt und es ist schwierig, sich der Vergleichbarkeit der hochkomplexen Proteine sicher zu sein. Aus diesem Grunde müssen innovative Biopharmazeutika, nachdem diese Nachweise erbracht wurden, ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit letztlich in umfangreichen klinischen Prüfungen unter Beweis stellen. b) Klinische Daten Gemäß der Leitlinie EMEA/CHMP/BMWP/42832/2005 sind die klinischen Vergleichbarkeitsstudien ein schrittweises Verfahren, das mit pharmakokinetischen51 und pharmakodynamischen52 Studien beginnen sollte und gefolgt wird von weiteren Wirksamkeits- und Unbedenklichkeitsstudien. Die Äquivalenzstudien werden für den Beweis der Vergleichbarkeit als generell randomisierte, konfirmatorische vergleichende klinische Studien angefordert. In bestimmten Fällen können jedoch bestätigende pharmakokinetische und pharmakodynamische Studien ausreichen.53 Dies hängt jedoch von bestimmten Vor49 50 51
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CPMP/437/04 Guideline on Similar Biological Medicinal Products, 30. Oktober 2005. CPMP/437/04 Guideline on Similar Biological Medicinal Products, 30. Oktober 2005. Pharmakokinetik – Verteilung eines Stoffes im menschlichen Körper nach Verabreichung und dessen Ausscheidung. Pharmakodynamik – Wirkung eines Arzneimittels im menschlichen Körpers. EMEA/CPMP/42832/05 Guideline on Similar Biological Medicinal Products Containing Biotechnologyderived Proteins as Drug Substance - Non Clinical and Clinical Is-
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aussetzungen ab: Die Pharmakodynamik des Referenzarzneimittels ist gut gekennzeichnet, es gibt genügend Wissen über pharmakodynamische Eigenschaften des Referenzarzneimittels einschließlich dem Binden zum Zielrezeptoren und seiner tatsächlichen Aktivität. Ferner muss das Verhältnis zwischen Dosis und Wirksamkeit des Referenzarzneimittels hinreichend gekennzeichnet sein. Zuletzt sollte mindestens eine pharmakodynamische Kennzeichnung als stellvertretende Kennzeichnung für die Wirksamkeit angenommen und das Verhältnis zwischen der Dosis und dem Produkt und dieser stellvertretenden Kennzeichnung müsste weithin bekannt sein.54 Die „Äquivalenzgrenzen“ sollten im Studienprotokoll a priori festgelegt und gerechtfertigt werden. Im Allgemeinen sollte die Äquivalenzgrenze in einem klinisch sinnvollen Endpunkt definiert werden und bedarf einer ausreichenden Beschreibung, um zu gewährleisten, dass keine möglichen Differenzen von klinischer Bedeutsamkeit gegeben sind.55 c) Problem Immunogenität Die Studien zur Immunogenität stellen den ausschlaggebenden Teil der Vergleichbarkeitsstudien dar, da es eine beträchtliche interindividuelle Veränderlichkeit in der Antikörperantwort gibt.56 Dies kann schwere Auswirkungen im Hinblick auf Überempfindlichkeitsreaktionen oder durch Ausschluss der Verträglichkeit haben.57 Die Menge der erforderlichen Sicherheitsdaten schwankt in Abhängigkeit von einer Vielzahl von Faktoren. Solche Faktoren sind beispielsweise die Dauer des Verbrauchs, die Seltenheit der Krankheit oder der Grad des Risikos. Zwar variieren diese Faktoren von Produkt zu Produkt, jedoch bleibt die Anzahl der Probanden, die notwendig für den Beweis der Vergleichbarkeit bezüglich der Wirksamkeit sind, gleich. Im Gegensatz zu der Probandenzahl von klassischen Generika, etwa 12 bis 48, sind für die klinische Prüfung von Biosimilars, wenn die Möglichkeit einer gravierenden schädlichen Wirkung besteht, bis zu 300 Probanden notwendig.58 Diese Daten werden von den gegenwärtigen ICHAnforderungen für neue chemische Substanzen für längerfristigen Gebrauch gefordert.59 Die Art, der Schweregrad und die Häufigkeit auftretender unerwünschter 54
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sues, 1. Juni 2006. EMEA/CPMP/42832/05 Guideline on Similar Biological Medicinal Products Containing Biotechnologyderived Proteins as Drug Substance - Non Clinical and Clinical Issues, 1. Juni 2006. a.a.O.; Nick, Formulating a development programme for a biosimilars medicinal product, http://www.egagenerics.com/doc/nick_biosim-development.pdf. EMEA/CPMP/42832/05 Guideline on Similar Biological Medicinal Products Containing Biotechnologyderived Proteins as Drug Substance - Non Clinical and Clinical Issues, 1. Juni 2006. Nick, Formulating a development programme for a biosimilars medicinal product, http://www.egagenerics.com/doc/nick_biosim-development.pdf. BIOPRO Baden-Württemberg GmbH: Problemfälle bleiben im Sicherheitsnetz hängen 2007, URL:http://www.bio-pro.de/de/region/freiburg/magazin/03516/index.html; Nick, Formulating a development programme for a biosimilars medicinal product, http://www.egagenerics.com/doc/nick_biosim-development.pdf. Nick, Formulating a development programme for a biosimilars medicinal product, http://www.egagenerics.com/doc/nick_biosim-development.pdf.
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Arzneimittelwirkungen müssen festgestellt werden und sollten die des Referenzarzneimittels nicht überwiegen.
2. Pharmakovigilanz-Plan Zusammen mit dem Antrag für die Zulassung des Biosimilars müssen die Antragsteller einen Risikomanagementplan (RMP) einreichen, der vom Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) einer Beurteilung unterzogen wird.60 Im RMP müssen bekannte und potenzielle Risiken der Arzneimittel ausgewiesen werden, damit bereits im Voraus (pro aktiv) Maßnahmen zur Risikominimierung, Risikospezifizierung und andere Pharmakovigilanzmaßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ergriffen werden können. Um die Sicherheit des Arzneimittels zu gewährleisten, müsste zum Zeitpunkt der Zulassung ein funktionsfähiges Pharmakovigilanz-System aufgestellt sein. Jede verhängte spezifische Sicherheitsüberwachung zum Referenzarzneimittel oder zur Produktklasse sollte Erwägung finden in dem RMP.61
IV. Aktuelle und zukünftige Entwicklung 1. Zulassungen in der EU Die ersten beiden Biosimilars sind 2006 von der EMEA zugelassen worden. Sowohl bei dem Biosimilar Omnitrope®62 als auch bei dem Biosimilar Valtropin®63 handelt es sich um das menschliche Wachstumshormon Somatropin. Beide Präparate konnten bei ihrem Zulassungsantrag auf umfangreiche klinische Studien verzichten, da es sich um eine gentechnische Kopie des Originalpräparates Genotropin® bzw. Humatrope® handelt, die bereits Ende der 80er Jahre eingeführt wurden. Allerdings ist das Wachstumshormon ein relativ einfaches, nicht glykolisiertes Protein mit einem Molekulargewicht von 22.000 Dalton. Der Nachweis der Ähnlichkeit und gleichen Wirksamkeit des Biosimilars mit dem Referenzarzneimittel war für dieses Arzneimittel, das vergleichbar mit dem Insulin ist, leichter zu erbringen als für hochkomplexe Proteine wie dem Erytropoetin. Ein negatives Votum bekam ein Zulassungsantrag für das Biosimilar Alpheon®64 mit dem Wirkstoff Interferon alpha-2a, welches in der Therapie gegen Hepa60
EMEA/CPMP/42832/05 Guideline on Similar Biological Medicinal Products Containing Biotechnologyderived Proteins as Drug Substance - Non Clinical and Clinical Issues, 1. Juni 2006. 61 EMEA/145874/2006 Überblick über das Arbeitsprogramm der Europäischen Arzneimittel-Agentur 2006, 15. Dezember 2005, S. 17. 62 CPMP/3184/03 Committee for proprietary medicinal products summary of opinion for omnitrope, 26.Juni 2003. 63 Doc. Ref. EMEA/69276/2006, Press release: positive opinion for valtropin. 64 Doc. Ref. EMEA/190896/2006, Questions and answers on recommendation for refusal
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titis B, C und in der Onkologie eingesetzt wird. Der Zulassungsantrag wurde mit der Begründung der unzureichenden Stabilität des Wirkstoffes sowie aufgrund der Unterschiede im Hinblick auf Verunreinigungen im Präparat abgelehnt. Jüngst stimmte der zuständige Ausschuss der Europäischen Arzneimittelbehörde EMEA den Zulassungsanträgen für die Nachahmerversion des Biotechmedikaments EPO von Sandoz, Hexal und Medice Arzneimittel Pütter zu, so dass in den nächsten Monaten nach Absegnung durch die EU-Kommission mit der Zulassung gerechnet werden kann. Stada rechnet mit einer Zulassung dieses Wirkstoffs Ende 2007.65
2. Kennzeichnung der Biosimilars Viele Akteure sprechen sich für eine eigene Wirkstoffsbezeichnung für die Biosimilars (INN, International Nonproprietary Name) mit angepasster Produktbeschreibung aus.66 Diese INN wird von der Weltgesundheitsorganisation vergeben. Die Biosimilars sollten nicht die Wirkstoffbezeichnung des originalen Biopharmazeutikums erhalten, da im Schadensfall nicht mehr nachvollziehbar ist, welches Arzneimittel der Patient erhalten hat. Dies stellt große Schwierigkeiten für Sicherheit und Haftungsfälle dar.67
3. Kostenreduzierung durch Biosimilars? Fraglich dürfte sein, ob durch eine steigende Anzahl von Biosimilar-Zulassungen tatsächlich die erhofften Kosteneinsparungen auf Seiten der Gesundheitspolitik eintreten werden, denn aufgrund des komplexen Herstellungs- und Zulassungsverfahrens sowie den umfangreichen klinischen Studien sind die Entwicklungskosten und die Entwicklungszeit für Biosimilars ungleich höher als für klassische Generika. Mit radikalen Preisreduktionen gegenüber dem Originalprodukt dürfte daher nicht zu rechnen sein, so dass die Gewinnmargen der Unternehmen dementsprechend geringer sein werden. Das Wachstum des Biosimilar-Marktes wird sich an der Entwicklung des Marktes aller biotechnologisch hergestellten Arzneimittel orientieren, so dass die zukünftige Entwicklung abzuwarten sein wird.
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of marketing application for alpheon. Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA): Erste eigene Wirksamkeits- und Sicherheitssstudien ermöglichen Nachbildung von Biopharmazeutika 2006, URL:http:/ /www.vfa.de/de/presse/pressemitteilungen/pr_002_2006.html. BIOPRO Baden-Württemberg GmbH: Wie relevant ist der kleine Unterschied? 2007, URL:http://www.bio-pro.de/de/region/ulm/magazin/03428/index.html; Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA): Erste eigene Wirksamkeits- und Sicherheitsstudien ermöglichen Nachbildung von Biopharmazeutika 2006, URL: http://www.vfa.de/ de/presse/pressemitteilungen/pr_002_2006.html. a.a.O.
Haftung für die Fehler von Ethik-Kommissionen nach der Änderung des AMG von 2004
Gerfried Fischer
I. Einleitung Als der Jubilar vor 30 Jahren seine ersten Untersuchungen zu Fragen der klinischen Forschung veröffentlichte1, spielten aus medizinischen Versuchen resultierende Schadensfälle in der deutschen Gerichtspraxis noch keine große Rolle. Das sog, Thorotrast-Urteil des BGH vom 13. 2. 19562 betraf einen eher untypischen, noch den Kriegsverhältnissen entstammenden Fall der Forschung im Rahmen der Lazarettbehandlung eines Soldaten. Der BGH bejahte hier einen Aufopferungsanspruch, weil der allein Forschungszwecken dienende Eingriff, also ein wissenschaftlicher Versuch3, anders als eine auch der Heilung dienende Neulandbehandlung ein Sonderopfer des Patienten darstellte. In den letzten drei Jahren hatte sich der BGH jedoch gleich zweimal mit Schäden aus medizinischen Behandlungen, die noch nicht voll erprobt waren, also sog. therapeutischen oder Heilversuchen, zu befassen. In der Entscheidung vom 13.6.20064 ging es um das computerunterstützte Fräsverfahren Robodoc bei Hüftgelenksoperationen, in der Entscheidung vom 27.3.20075 um ein bei Beginn der Behandlung in Deutschland noch in (Phase III) der klinischen Prüfung befindliches Antiepileptikum. Die Klagen richteten sich gegen Klinikträger und behandelnde Ärzte. Zu Prozessen gegen Ethik-Kommissionen, deren Mitglieder, Gutachter oder Sachverständige ist es dagegen bisher nicht gekommen, obwohl deren Haftung ebenso lange diskutiert und in der Literatur grundsätzlich bejaht wird6. Nachdem 1
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Deutsch, Medizin und Forschung vor Gericht, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, 1978; ders., Das Recht der klinischen Forschung am Menschen, 1979. BGHZ 20, 61. Zur grundlegenden Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und therapeutischen bzw. Heilversuchen s. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 921; Fischer, Medizinische Versuche am Menschen, 1979, S. 4. BGHZ 168, 103 = NJW 2006, 2477 m. Aufs. Katzenmeier S. 2738. BGH NJW 2007, 2767 = JZ 2007, 1104 m. Anm. Katzenmeier. u. a. Fischer (Fn.3), S. 101 ff; v. Bar/Fischer, Haftung bei der Planung und Förderung medizinischer Forschungsvorhaben, NJW 1980, 2734 ff.; Bork, Das Verfahren vor den
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Gerfried Fischer
aber auf der einen Seite heute praktisch alle klinischen Versuche an Menschen Ethik-Kommissionen zur Begutachtung vorgelegt werden und auf der anderen Seite trotzdem weiterhin immer wieder Versuchspersonen unerwartete Schäden erleiden, ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch Klagen gegen diesen Personenkreis erhoben werden. In den USA ist das bereits geschehen7. Die Versicherungswirtschaft stellt sich jedenfalls insoweit darauf ein, als sie EthikKommissionen von Universitätskliniken in Betriebshaftpflichtversicherungen einschließt, tut sich jedoch nach meinen Informationen nach wie vor schwer, Versicherungen für einzelne Mitglieder anzubieten, die dieses Haftungsrisiko abdecken8.
II. Haftungsgrundlagen 1. Allgemeine Deliktshaftung Aufgabe der Ethik-Kommission ist es, den Schutz der Rechte, die Sicherheit und das Wohlergehen von Personen zu sichern, die an einer klinischen Prüfung teilnehmen9. Natürlich ist es zunächst einmal Pflicht des forschenden Arztes, gesundheitliche Schädigungen der Versuchspersonen, soweit es möglich ist, zu vermeiden. Er haftet, wenn er diese Pflicht sorgfaltswidrig verletzt, aus Vertrag10 nach § 280 BGB und aus Delikt nach § 823 I, II BGB. Neben dem unmittelbaren Schädiger können sich aber auch Personen schadensersatzpflichtig machen, deren Aufgabe es ist, diese Schädigung durch geeignete Sicherheitsmaßnahmen zu verhindern. Das ist im deutschen Recht das Feld der sog. Verkehrssicherungspflichten oder kürzer Verkehrspflichten. Sie sind als solche von der Rechtsprechung ge-
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Ethik-Kommissionen der medizinischen Fachbereiche, 1984, S. 81 ff.; Czwalinna, Ethik-Kommissionen – Forschungslegitimation durch Verfahren, 1985, S. 138 ff.; Kollhosser, Haftungs- und versicherungsrechtliche Fragen bei Ethik-Kommissionen, in: Toellner (Hrsg.), Die Ethik-Kommissionen in der Medizin, 1990, S. 79, 85 ff: Kreß, Die Ethik-Kommissionen im System der Haftung bei der Planung und Durchführung von medizinischen Forschungsvorhaben, 1990; Stock, Der Probandenschutz bei der medizinischen Forschung am Menschen, 1997, S. 168 ff.; Taupitz/Kügler/Medicke, Liability for and Insurability of Biomedical Research Involving Human Subjects Under German Law, in: Dute/Faure/Koziol (Hrsg.), Liability for and Insurability of Biomedical Research Involving Human Subjects in a Comparative Perspective, 2004, S. 151, 174 f.; Pestalozza, Die Haftung der Mitglieder von Ethik-Kommissionen und ihre Überleitung, in: v. Dewitz/Luft/Pestalozza, Ethikkommissionen in der medizinischen Forschung, 2004, S. 159 ff. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn 1074, 1075. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn 1071, schlagen den Abschluss einer kombinierten Haftpflichtversicherung vor, die nicht nur den Körperschaden, sondern auch den möglicherweise viel größeren Vermögensschaden des Forschungsleiters abdeckt. So für die Arzneimittelprüfung § 3 Abs. 2 c der GCP-Verordnung vom 9.8.2004 (BGBl. I 2081, 2082) und Art. 2 lit k der EU-Richtlinie 2001/20/EG (ABl. L 121 vom 1. 5. 2001, S. 34). Das gilt gleichermaßen für alle anderen medizinischen Versuche. Zum Probandenvertrag s. Ehling/Vogeler, MedR 2008, 273 ff.
Haftung für die Fehler von Ethik-Kommissionen nach der Änderung des AMG
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schaffen worden, die folgenden Grundsatz aufgestellt hat: „Wer eine Gefahrenquelle für andere schafft oder unterhält, muss die Vorkehrungen treffen, die erforderlich und zumutbar sind, um die Gefahren nicht wirksam werden zu lassen“11. Den Fortbestand einer Gefahrenquelle ermöglichen aber auch die Personen, die für die Sicherungen sorgen, ohne die diese Quelle nicht unterhalten werden darf. Deshalb hat der BGH bei einem unzureichend gesicherten Autorennen nicht nur den Veranstalter, sondern die für die Sicherung verantwortliche Kommission und die für die Streckenabnahme zuständigen Kommissare gegenüber den Verletzten bzw. den Angehörigen haften lassen12. Die in diesem Urteil aufgestellten Haftungsgrundsätze sind auf die Ethikkommissionen und ihre Mitglieder zu übertragen13. Auch sie trifft aufgrund ihrer Sicherungsaufgabe gegenüber den einzelnen Versuchsteilnehmern eine Verkehrssicherungspflicht, deren Verletzung Schadensersatzansprüche auslöst. Das gleiche gilt für Sachverständige und Gutachter, die die Ethik-Kommission zur Bewertung der Prüfungsunterlagen nach dem novellierten § 42 I 5 AMG heranzieht. Sie werden ja gerade dort benötigt, wo die Mitglieder der EthikKommission nicht über hinreichende eigene Fachkompetenz verfügen. Von Sachverständigen wird erwartet, dass sie die für ihr spezifisches Sachgebiet typischen Gefahren erkennen und verhindern, während dies von den nicht sachkundigen Mitgliedern der Ethik-Kommission nicht verlangt werden kann. Diejenigen, von denen die Beachtung der erforderlichen Sorgfalt gefordert wird, sind dann die Sachverständigen. Sollen die Versuchsteilnehmer wirksam geschützt werden, so muss auch die Verletzung dieser Pflicht durch Schadensersatzansprüche sanktioniert sein.
2. Vertrags- und Amtshaftung a) Vertragshaftung Die Sicherungspflichten der Ethikkommissionen, ihrer Mitglieder und Gutachter können zugleich vertragliche Schutzpflichten nach § 241 Abs. 2 BGB sein, sofern zu den Versuchspersonen ein Schuldverhältnis besteht. Da erstere mit letzteren keine Verträge schließen, kommt dies nur in Betracht, wenn die EthikKommission oder ihre Gutachter aufgrund von Verträgen, insbesondere mit Forschern oder Sponsoren, tätig werden und diese Verträge Schutzwirkung für die Versuchsteilnehmer entfalten. Das ist bei den sog. privaten Ethikkommissionen denkbar, deren Zustimmung nach § 20 Abs. 7 MPG für die Zulassung von Medizinprodukten genügt14. Ob Rechtsgrundlage dafür seit der Schuldrechtsreform § 311 Abs. 3 BGB ist oder ob sich die Drittschutzwirkung weiterhin aus der Auslegung des Vertrages ergibt, ist umstritten15, kann aber hier dahin stehen. Für die 11
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RGZ 121, 404; BGHZ 5, 380 f.; 14, 83, 85; 34, 206, 209; Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl. 1996, Rn. 71. BGH NJW 1975, 533. Fischer (Fn. 3), S. 103; v. Bar/Fischer, NJW 1980, 2734, 2737. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 1073. Dafür Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2007, Rn. 202; vgl. auch
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Haftung wird nach wie vor Leistungs- und Gläubigernähe des Dritten und deren Erkennbarkeit für den Schuldner verlangt16, wobei es freilich auf die Gläubigernähe nicht ankommt, wenn die Vertragsleistung gerade dem Schutz des Dritten dient17. Letzteres ist hier der Fall. Verletzen die Ethikkommission und für sie tätige Personen den ihnen erteilten Sicherungsauftrag, so treffen etwaige Gesundheitsschäden typischerweise nicht sie selbst, sondern die Versuchspersonen. Darin liegt aber nicht etwa wie bei einer Lieferkette eine unzumutbare Erweiterung des Kreises potentieller Schadensersatzgläubiger, sondern der mit dem Begutachtungsauftrag bezweckte Schutz dient primär und für Kommissionsmitglieder wie Gutachter erkennbar den Versuchspersonen. Weil der Drittschutz Hauptvertragsziel ist, bedarf es auch hier keines besonderen Näheverhältnisses zwischen Gläubiger und Drittem, d. h. zwischen den Auftraggebern, also Forschern oder Sponsoren auf der einen und den Versuchspersonen auf der anderen Seite18. Regelmäßig wird allerdings derjenige, der die Ethik-Kommission beauftragt, auch ein Interesse daran haben, dass Schädigungen der Versuchspersonen vermieden werden, schon um seine eigene Haftung zu vermeiden. Jedoch ist ein potentieller Interessenkonflikt nicht ausgeschlossen, weil insbesondere bei entfernten Risiken Sponsoren und Forschern eher an der Durchführung des Versuchs, den davon betroffenen Versuchspersonen eher an dessen Unterbleiben gelegen ist. Das ist aber wie in anderen Fällen drittbezogener Gutachten kein Grund, die Drittschutzwirkung zu verneinen; denn die Genehmigung durch die Ethik-Kommission stärkt wegen deren Fachkompetenz das Vertrauen der Versuchspersonen in die Angemessenheit der Versuchsrisiken. b) Amtshaftung Öffentlich-rechtliche Ethik-Kommissionen werden nicht aufgrund vertraglicher Verpflichtung tätig, sondern üben eine hoheitliche Aufgabe aus19. Das gilt nicht nur dort, wo ihre Zustimmung wie nach § 40 I 2 AMG Zulässigkeitsvoraussetzung für die Durchführung der Versuche ist, sondern auch dort, wo nur wie in § 15 MBO die Beratung vorgeschrieben ist. In beiden Fällen beruht die Einschaltung nicht auf privatautonomer Entscheidung des Forschers oder Sponsors, sondern auf gesetzlicher Anordnung, und die Einsetzung der Ethik-Kommission sowie die Berufung ihrer Mitglieder erfolgt aufgrund gesetzlicher Legitimation. Da in jeder unerlaubten Handlung bei Ausübung einer hoheitlichen Tätigkeit eine Amts-
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Medicus, Bürgerliches Recht, 21. Aufl. 2007, Rn. 846a. Dagegen MünchKomm-BGBGottwald, 5. Aufl. 2007, § 328 Rn. 111; Palandt/Grünberg, 66. Aufl. 2007, § 311 Rn. 60; Staudinger/Löwisch, 2005, § 311 Rn. 161. Looschelders, Schuldrecht AT5, Rn. 204 - 209; vgl. auch Medicus, Bürgerliches Recht21, Rn. 844 – 846. BGHZ 127, 378, 380; BGH NJW 1987, 1758; NJW 1998, 1059, 1060. Vgl. StaudingerJagmann, 2004, § 328 Rn. 101. a. A. Kreß (Fn. 6), S. 193 - 196, der wegen der Vielzahl potentiell Geschädigter ein zu hohes Haftungsrisiko annimmt. Das überzeugt schon wegen der gleichzeitig bestehenden Verkehrspflicht gegenüber dem gleichen Personenkreis nicht. Deutsch/Spickhoff, Medinzinrecht6, Rn 1067; Kreß (Fn. 6), S. 137 – 143; Meuser/Platter, PharmR 2005, 395, 396; Pestalozza (Fn. 6), S. 163.
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pflichtverletzung liegt20, stellen sich die oben dargelegten Verkehrspflichtverletzungen als Verletzung von Amtspflichten dar, für die nicht nach § 823, sondern ausschließlich nach § 839 gehaftet wird21.
3. Haftungsschuldner Die nächste Frage ist freilich, wen die Schadensersatzpflicht trifft. Hier ist zum einen problematisch, ob die Mitglieder der Ethik-Kommission nur für eigene Fehler oder auch für Fehler der anderen haften, wenn sie den Versuchen zustimmen. Vor allem aber ist zu klären, ob die Haftung sie oder die von ihr beauftragten Gutachter selbst trifft oder die Institution, für die sie tätig werden, bei den Fakultätskommissionen also der Träger der Universität, bei Kommissionen der Landesärztekammern die jeweilige Kammer, bei privatrechtlichen die Organisation, die sie beruft. a) Haftung von Kommissionsmitgliedern Die deliktische Verkehrssicherungspflicht trifft grundsätzlich denjenigen, der die potentiellen Risiken beherrschen kann22. Das sind die einzelnen Kommissionsmitglieder oder die von der Kommission beauftragten Gutachter, weil sie es in der Hand haben, durch ihr Votum oder Gutachten Gesundheitsschäden der Versuchsteilnehmer zu verhindern. Allerdings ist nicht jedes Mitglied befähigt, sämtliche möglichen Gefahren des Versuchs zu erkennen. Aus diesem Grunde werden ja gerade Angehörige unterschiedlicher Fachdisziplinen als Mitglieder berufen. Es kann also durchaus sein, dass nur für einzelne von ihnen sorgfaltswidrige Gefährdungen erkennbar sind. Das sollte zwar, wenn diese verkannt werden, nichts am objektiv pflichtwidrigen Handeln aller zustimmenden Mitglieder ändern. Aber bei Mitgliedern, die die Gefahr rechtswidriger Schädigungen nicht erkennen konnten, fehlt es an der subjektiven Pflichtwidrigkeit und damit am Verschulden23, das Voraussetzung für die Haftung nach § 823, aber auch nach § 280 und § 839 ist. Jeder hat also nur für seine eigenen Fehler, nicht für die der anderen einzustehen. Die Ethik-Kommission als solche bildet auch keine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, und schon gar keine werbende, bei der nach neuerer Rechtsprechung24 ein Gesellschafter für die Delikte der anderen haftet. Die für deren gesamtschuldnerische Haftung entwickelten Gründe passen für Ethik-Kommissionen nicht, soweit diese nicht ausdrücklich als GbR auftreten, wie es wohl bei der privatrechtlichen Freiburger Ethikkommission der Fall ist25. 20
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BGHZ 29, 38, 42; 42, 177, 180; Palandt/Sprau, BGB67, § 839 Rn. 37 f.; Soergel/Vinke, BGB13, § 839 Rn. 118. v. Bar/Fischer, NJW 1980, 2734, 2739; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 106; Pestalozza (Fn.6), S. 163. v. Bar, Verkehrspflichten, 1980, 122. v. Bar/Fischer, NJW 1980, 2734, 2738; Czwalinna (Fn. 6), S. 139 f.; Kollhosser (Fn. 6), S.87. BGHZ 154, 88. Kreß (Fn. 6), S. 216 f.
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b) Haftungsüberleitung Die Kommissionsmitglieder tragen aber nicht nur keine Verantwortung für die Fehler der anderen Mitglieder und Gutachter. Bei den öffentlich-rechtlichen Kommissionen der medizinischen Fakultäten und der Ärztekammern tritt an die Stelle ihrer Haftung die des Staates nach § 839 BGB, Art. 34 GG, weil sie hoheitlich tätig werden26. Wie bereits dargelegt, sind unerlaubte Handlungen von Amtsträgern einschließlich der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten zugleich Amtspflichtverletzungen i.S.v. § 839 BGB. Bei den Ethik-Kommissionen der medizinischen Fakultäten gehört die Tätigkeit zum Bereich der Forschung; denn diese erfasst nicht nur eigene Forschungsaktivitäten, sondern auch die Mitwirkung an der Forschung anderer durch deren Anleitung, Begutachtung oder Kontrolle. Die Forschung aber ist Teil der staatlichen Daseinsvorsorge und damit schlicht– hoheitliche Verwaltung. Hoheitlich tätig werden dabei nicht etwa nur die beamteten Kommissionsmitglieder, also die Professoren, sondern alle, die diese Aufgabe wahrnehmen, einschließlich externer Mitglieder. Maßgeblich ist hier der weite haftungsrechtliche Beamtenbegriff27. Haftungsschuldner ist bei der Amtshaftung nach Art. 34 GG der Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst der Amtsträger steht, d. h. nach ständiger Rechtsprechung des BGH die Körperschaft, die ihm das Amt, bei dessen Ausführung er fehlerhaft gehandelt hat, anvertraut hat28. Das ist im Regelfall die, die ihn angestellt hat, unabhängig davon ob er eine staatliche oder eine Selbstverwaltungsaufgabe wahrnimmt29. Die Mitglieder von Fakultätskommissionen sind normalerweise Bedienstete des Landes, das Träger der Universität ist. Auch wenn die Kommissionstätigkeit eine Selbstverwaltungsaufgabe der Universität darstellt, haftet dafür das Land als Anstellungskörperschaft30. Fehlt es an einem Dienstherrn wie u. U. bei externen Kommissionsmitgliedern, haftet die Körperschaft, deren konkrete Aufgabe erfüllt wird, bei den Fakultätskommissionen also die Universität31. Streitig ist es bei den Ärztekammern, bei denen die Kommissionen zumeist nicht aus deren Bediensteten bestehen, so etwa wenn Universitätsprofessoren in deren Kommission berufen werden. Hier wird teilweise die Auffassung vertreten, dann hafte die Universität, auch wenn ihnen diese Aufgabe ja nicht von ihr, sondern von der Kammer übertragen worden ist32. Begründet wird dies damit, dass im Regelfall die anstellende Körperschaft die anvertrauende sei und es, wie dargelegt, nicht darauf ankomme, ob die konkrete (fehlerhaft ausgeführte) Aufgabe in den 26
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Fischer (Fn. 3), S. 103 ; v. Bar/Fischer, NJW 1980, 2734, 2738; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 1069; Kreß (Fn. 6), S. 135 ff; Taupitz/Kügler/Medicke (Fn. 6), Rn. 53; Pestalozza (Fn. 6), S. 162 ff. Kreß (Fn. 6), S. 137; Pestalozza (Fn. 6), S. 163. Zum haftungsrechtlichen Beamtenbegriff generell BGHZ 11, 192, 197; 20, 290; 36, 195; 84, 292; 106, 323, 330; Palandt/Sprau, BGB66, § 839 Rn. 15; Soergel/Vinke, BGB13, § 839 Rn. 35; Schlick, NJW 2008, 127 f. Schlick, NJW 2008, 127, 128. BGHZ 87, 202, 204; 99, 326, 332. Bork (Fn. 6), S. 85; Kollhosser (Fn. 6), S. 86. Bork (Fn. 6), S. 85; Kollhosser (Fn. 6), S. 86. Pestalozza (Fn. 6), S. 165.
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Aufgabenkreis der Anstellungskörperschaft fällt. Jedoch wird in den einschlägigen Entscheidungen33 darauf abgestellt, ob dem Amtsträger die weitere Aufgabe von seinem bisherigen Dienstherrn oder ob ihm diese von einer anderen Institution übertragen wird. In anderen Entscheidungen hat der BGH deshalb ausdrücklich festgestellt, dass dieser Grundsatz nicht gilt, „wenn der Amtsträger unter Herauslösung aus der Organisation seiner Anstellungskörperschaft von einer anderen Körperschaft zur Ausübung hoheitlich eingesetzt wird“34. Was hier zuletzt etwa für den bei einem Krankenhaus angestellten Arzt gesagt worden ist, der den Behandlungsfehler beim Einsatz als Notarzt für einen selbständigen Rettungszweckverband begangen und damit die Haftung des letzteren ausgelöst hat, muss gleichermaßen für Universitätsangehörige gelten, die von der Ärztekammer in deren Kommission berufen worden sind. Die Amtshaftung trifft also nicht die Universität als Anstellungskörperschaft, sondern die Ärztekammer als Trägerin der EthikKommission35. Gleiches muss für die Fälle gelten, in denen Ethik-Kommissionen medizinischer Fakultäten zugleich als Kommissionen von Ärztekammern eingeschaltet geworden sind. Soweit sie von Forschern außerhalb der Universität zur Begutachtung angerufen worden sind36, sind sie im Wege der Organleihe als Organe der Kammer tätig geworden, die damit auch die Haftung trifft. Zur Amtshaftung und damit zur Haftungsüberleitung auf die Körperschaft, die die Ethik-Kommission eingerichtet hat, kommt es allerdings dann nicht, wenn deren Tätigkeit eindeutig in privatrechtlicher Form organisiert ist. In Frage kommt hier wohl weniger die Übertragung auf eine private Gesellschaft als Trägerin der Ethik-Kommission, die bei Arzneimittelstudien auch nicht den Anforderungen des § 42 I 1 AMG genügen dürfte. Praktische Bedeutung hat dies jedoch bei der Beauftragung von Gutachtern nach § 42 I 5 AMG. Schaltet die universitäre EthikKommission einen externen Sachverständigen ein, so handelt es sich um einen privatrechtlichen Gutachtervertrag, wenn dafür ein Honorar vereinbart wird. Werden nur Auslagen erstattet, spricht dies eher für eine Delegation hoheitlicher Tätigkeit, so dass dann die Amtshaftung eingreift. Die Haftung nach § 839 BGB, Art. 34 GG ist für Kommissionsmitglieder wie Gutachter aus mehreren Gründen günstiger als die allgemeine Delikts- und Vertragshaftung. Zum einen haften nicht sie selbst, sondern die öffentlich-rechtliche Körperschaft, also das Land, die Universität oder die Ärztekammer. Ein Rückgriff gegen Mitglieder und Gutachter kommt nach Art. 34 S. 2 GG nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit in Frage37. Bei privaten Forschungsträgern und EthikKommissionen haften dagegen Gutachter und Mitglieder selbst. Richtigerweise sollten sie zwar einen Freistellungsanspruch gegen den Träger haben, wenn ihnen
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s. o. Fn. 29. BGHZ 53, 217, 219; 160, 216, 228 = NJW 2005, 429, 432. Ebenso Kollhosser (Fn. 6), S.87; Kreß (Fn. 6), S. 186. Kanzow, Die Ethik-Kommissionen der Landesärztekammern, in: Toellner (Hrsg.), Die Ethik-Kommissionen in der Medizin, 1990, S. 39, hat als Beispiele Hamburg, das Saargebiet und Westfalen-Lippe genannt. Kreß (Fn. 6), S. 183; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 1071; Pestalozza (Fn. 6), S. 167.
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nur leichte Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist38. Jedoch gilt dies nicht, wenn sie entgeltlich, d.h. gegen Honorar tätig werden. Der weitere Vorteil der Amtshaftung ist, dass sie bei leichter Fahrlässigkeit nach § 839 I 2 BGB subsidiär ist, also nicht eingreift, wenn der geschädigte Versuchsteilnehmer andere Ersatzansprüche hat. Allerdings ist diese rechtspolitisch scharf kritisierte Entlastung39 des Staates durch die Rechtsprechung erheblich eingeschränkt worden. Sie gilt nicht, wenn die anderweitigen Ersatzansprüche sich ebenfalls gegen einen Hoheitsträger, sei es derselbe, sei es ein anderer, richten40. Ein Ersatzanspruch gegen den Prüfer schließt also die Amtshaftung für die Kommission nicht aus, wenn dieser ebenfalls als Universitätsangehöriger tätig wird. Hat der Geschädigte Ansprüche gegen Versicherungen, hängt die Subsidiarität der Amtshaftung vom Zweck der Versicherung ab41. Ist es deren Zweck, den Schaden des durch unerlaubte Handlung Geschädigten endgültig aufzufangen, so bleibt es bei der Subsidiarität der Amtshaftung42. Das ist von Bedeutung für die nach § 40 I Nr. 8 AMG, § 20 I Nr. 9 MedProdG abzuschließende Probandenversicherung. Diese soll nicht nur die Probanden schützen, sondern auch die Prüfer entlasten. Die daraus resultierenden Ansprüche sind deshalb anderweitige Ersatzansprüche im Sinne von § 839 I 2 BGB43, verdrängen also bei leichter Fahrlässigkeit die Amtshaftung. Das muss gleichermaßen für die Mitglieder wie für die Träger der Ethik-Kommissionen gelten.
4. Ersatzberechtigte a) Da primäre Aufgabe einer Ethik-Kommission der Schutz von Körper und Gesundheit der Versuchspersonen ist und diesen gegenüber die darauf gerichteten Verkehrssicherungs- und Amtspflichten bestehen, sind sie natürlich diejenigen, die für ihre Körper- und Gesundheitsschäden Ersatz verlangen können, und zwar einschließlich eines Schmerzensgeldes. b) Die (gesetzlich) vorgeschriebene Begutachtung und Kontrolle durch die EthikKommission bedeutet allerdings aus der Sicht der forschenden Ärzte einen Eingriff in ihre durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützte Forschungsfreiheit. Das wird besonders deutlich, wenn die Ethik-Kommission ein Vorhaben negativ bewertet und 38
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Fischer (Fn. 3), S. 104; v. Bar/Fischer, NJW 1980, 2734, 2739 f.; Kreß (Fn. 6), S. 206; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 1071. MünchKomm-BGB/Papier4, § 839 Rn. 300-303; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 79 f. MünchKomm-BGB/Papier4, § 839 Rn. 310; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht5, S. 84 f.; Soergel/Vinke, BGB13, § 839 Rn. 193. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht5, S. 83. Soergel/Vinke13, BGB, § 839 Rn. 189 aE. Kreß (Fn. 6), S. 160 f.; Taupitz/Kügler/Medicke (Fn. 6), Rn. 55; Pestalozza (Fn. 6), S. 164.
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deshalb keine klinische Prüfung stattfinden darf. Für den Sponsor bedeutet es einen Eingriff in seine wirtschaftliche und berufliche Betätigungsfreiheit, die ebenfalls grundrechtlich, in erster Linie durch Art. 12 GG geschützt ist. Prüfer wie Sponsoren haben deshalb einen Anspruch auf zustimmende Bewertung, wenn dem Versuch keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Sie können verlangen, dass die Bewertung mit der erforderlichen Sorgfalt erfolgt, d.h. dass die Standards einer ordnungsgemäßen wissenschaftlichen Begutachtung eingehalten werden. Das gehört bei öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen zu deren Amtspflichten, und die Verletzung dieser Pflichten zieht Schadensersatzansprüche nach § 839 BGB, Art. 34 GG zugunsten der betroffenen Forscher44 und Sponsoren nach sich. Nach Auffassung des Jubilars soll bei letzteren der Anspruch auf Fälle der Willkür und der unvertretbaren Verzögerung zu begrenzen sein, weil das Recht am Gewerbebetrieb nur gegen betriebsbezogene Eingriffe geschützt ist45. Die fehlende Betriebsbezogenheit in anderen Fällen der sorgfaltswidrigen Begutachtung lässt sich aber wohl nur so begründen, dass Auftraggeber im Gegensatz zu Forschern nur mittelbar Betroffene seien. Das erscheint mir angesichts der Stellung, die sie nach dem Arzneimittelrecht im Verfahren haben, zweifelhaft.
III. Inhalt der Sorgfaltspflichten 1. Patienten- und probandenbezogene Pflichten Die Haftung für die Gesundheitsschäden von Versuchsteilnehmern wird begründet und begrenzt dadurch, dass diese Schäden Folge einer Pflichtverletzung sein müssen. Sowohl die Kommissionsmitglieder als auch Gutachter haften nur für die Verletzung von Pflichten, die gerade ihnen obliegen. Ihre Aufgabe ist es nicht, die sich im Einzelfall bei der Versuchsdurchführung ergebenden Gefährdungen zu erkennen und zu verhindern, sondern diejenigen, die die Studie als solche mit sich bringt. Um ein Bild aus der Produkthaftung zu verwenden, sie sollen Konstruktionsfehler, nicht Fabrikationsfehler verhindern. a) Kontrolle Kontrollgegenstand ist in erster Linie der nach § 7 II Nr. 3 GCP-VO vorzulegende Prüfplan. Er muss daraufhin geprüft werden, ob der erwartete therapeutische Nutzen die Risiken überwiegt. Zuständig dafür ist primär das Kommissionsmitglied, in dessen Fachgebiet der Versuch fällt. Ist ein solches in der Kommission nicht vertreten, dann muss ein Gutachter beauftragt werden. Auf dessen Bestellung hinzuwirken, ist die Pflicht aller Mitglieder, die die fehlende Fachkompetenz in ihrem Kreis erkennen können. Sie trifft vor allem die ärztlichen Mitglieder, die nicht-medizinischen nur, wenn das Fehlen auch für sie offensichtlich ist. Nehmen
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Kommissionsmitglieder die Fachkompetenz in Anspruch, dann müssen sie auch dafür einstehen, dass sie sie besitzen. Die Risikonutzenbewertung muss einmal im Hinblick auf zukünftige Patienten erfolgen, damit keine unnötigen Versuche durchgeführt werden. Zum andern müssen die Prüfungsteilnehmer vor übermäßigen und vor vermeidbaren Risiken bewahrt werden. Deshalb verlangt § 7 Abs. 2 Nr. 11 GCP-VO vom Antragsteller eine Erläuterung der Patienten- bzw. Probandenauswahl. Das ermöglicht der Ethik-Kommission nicht nur die Feststellung, ob die geprüfte Gruppe sich für die Studie eignet, sondern auch die, dass möglichst keine Personen eingeschlossen werden, bei denen unvertretbar höhere oder zusätzliche Risiken bestehen, wie z.B. Schwangere oder bestimmte Allergiker. Sollen Versuche an Personen durchgeführt werden, die gar nicht oder nur beschränkt einwilligungsfähig sind, muss die Kommission darüber hinaus prüfen, ob die besonderen Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen bei ihnen ausnahmsweise Versuche durchgeführt werden dürfen46. Sie hat also u. a. aufgrund von § 41 III Nr. 1 S. 2 AMG darauf zu achten, dass bei einwilligungsunfähigen Personen keine Versuche ohne unmittelbaren Nutzen für diese selbst vorgenommen werden, und bei Arzneimittelprüfungen an Kindern aufgrund von § 41 II 1 Nr. 2 AMG darauf, dass zumindest ein gruppentypischer Nutzen besteht und die Versuche nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden sind47. Da die Antragsunterlagen Angaben zur Eignung der Prüfer und ihrer Mitarbeiter sowie zur Eignung der Prüfstelle enthalten müssen, müssen diese Angaben auch Gegenstand der Bewertung sein. Jedoch kann Pflicht der Ethik-Kommission nur eine Plausibilitäts- bzw. Schlüssigkeitsprüfung, nicht etwa die Durchführung tatsächlicher Nachforschungen sein. Dass aber die Realitätsnähe der Angaben nicht außerhalb jeder Kontrolle steht, ergibt sich schon daraus, dass § 8 Abs. 5 GCP-VO bei multizentrischen Studien eine Prüfung der örtlich beeinflussten Angaben durch die neben der federführenden Ethikkommission beteiligten örtlichen Ethik-Kommissionen verlangt. Es gehört zu den Pflichten der federführenden Kommission darauf zu dringen. Lieblingsthema der juristischen Kommissionsmitglieder sind natürlich die Aufklärungsfragen, weil das zu den Punkten gehört, von denen sie etwas verstehen, auf jeden Fall etwas verstehen sollten. Das bedeutet freilich nicht, dass die medizinischen Mitglieder bei der Diskussion dieses von ihnen meist eher ungeliebten Themas nicht gefragt wären. Denn der Jurist weiß zwar, dass über die behandlungs- bzw. versuchstypischen Risiken aufzuklären ist. Er kann jedoch ohne die Hilfe der Mediziner nicht beurteilen, welche das im Einzelnen sind. Er wird oft nicht allein erkennen, ob sie in den Informationen für die Versuchspersonen vollständig genannt und ob ihre Häufigkeit und Schwere richtig dargestellt sind. Das ist einer der Punkte, bei denen die Beurteilung nur im Zusammenwirken mehrerer Kommissionsmitglieder möglich ist. Missverständnisse lassen sich in 46
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Vgl. Kanzow, Die Ethik-Kommissionen der Landesärztekammern, in: Toellner (Hrsg.), Die Ethik-Kommissionen in der Medizin, 1990, S. 39, 43. Zu Einzelheiten s. Fischer, Der Einfluss der Europäischen Richtlinie 2001 zur Klinischen Prüfung von Arzneimitteln auf Versuche an Kindern und anderen einwilligungsunfähigen Personen, in: Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber, 2003, S. 685 ff.
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aller Regel nur im Gespräch ausschließen. Deshalb müssen die Beschlüsse der Kommission in Sitzungen fallen. Ein reines Aktenumlaufverfahren wäre ein Organisationsfehler, der zur Haftung führen kann48. Ein Organisationsfehler ist es ebenfalls, wenn das in § 42 I 1 AMG niedergelegte Erfordernis der Unabhängigkeit verletzt ist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Mitglieder der Ethikkommission gleichzeitig an der klinischen Prüfung bzw. an dem Forschungsprojekt mitarbeiten49. Bedenken gegen die notwendige Unabhängigkeit vom Sponsor bestehen m.E. aber auch bei Kommissionsmitgliedern, die an anderen vom selben Sponsor betriebenen bzw. geförderten Studien beteiligt sind. Das Erfordernis der Unabhängigkeit gilt im Übrigen gleichermaßen für externe Gutachter und Sachverständige, die die Kommission beauftragt. Diese dürfen ebenso wenig als Forscher am Projekt beteiligt sein. Schließlich ist auch eine Bestellung von Mitgliedern oder Gutachtern der Ethik-Kommission zu Gutachtern im Genehmigungsverfahren durch die zuständige Bundesoberbehörde nach § 42 Abs. 2 AMG problematisch. Zwar besteht hier kein Einfluss des Sponsors oder Prüfers. Aber die Personenidentität stellt die Unabhängigkeit der Bewertung in Frage, die mit der Teilung der Beurteilung zwischen Ethik-Kommission und Bundesoberbehörde erstrebt wird. Ein besonderes Problem stellt die Prüfung der Probandenversicherung dar. Deren Bestehen ist nach § 40 I 3 Nr. 9 AMG und § 20 Abs.1 Nr. 8 MPG Zulässigkeitsvoraussetzung der klinischen Prüfung von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Nach § 42 I 7 Nr. 3 AMG ist die Nichterfüllung dieser Voraussetzung ein Grund, aus dem die Ethik-Kommission ihre Zustimmung versagen darf, und gleiches muss auch für Medizinprodukte gelten50. Nach § 40 III 2 AMG muss der Umfang dieser Versicherung „in einem angemessenen Verhältnis zu den mit der klinischen Prüfung verbundenen Risiken stehen und … so festgelegt werden, dass für jeden Fall des Todes oder der dauernden Erwerbsunfähigkeit einer von der klinischen Prüfung betroffenen Person 500.000 Euro zur Verfügung stehen.“ Die zuletzt genannte Voraussetzung wird von den Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Probandenbedingungen51 zwar insoweit erfüllt, als § 6 (4) eine Einzelhöchstgrenze von 512.000 Euro vorsieht. Jedoch enthält § 6 (3) Höchstgrenzen52, die dazu führen, dass schon bei mehr als 10 Geschädigten jeder Einzelne weniger erhalten kann. Das ist mit der klaren Grenze von § 40 III 2 AMG nicht in Einklang zu bringen53. Außerdem werden keine genetischen Schädigungen ersetzt, der Ersatz von Spätschäden – nach § 4 (3) AVB älter als 5 Jahre – ausgeschlossen und kein Schmerzensgeld geleistet, obwohl der Ersatz immateriellen 48
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Von Bar/Fischer, NJW 1980, 2734, 2737; Czwalinna, MedR 86, 308; a. A. wohl Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 1047. Vgl. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 1041, 1048. Vgl. Voit, Die Probandenversicherung bei klinischer Prüfung von Medizinprodukten und Arzneimitteln im Licht des 2. Schadensersatzänderungsgesetzes, PatR 2004, 69 f. Text Stand April 2002. Ursprüngliche Fassung bei Fischer (Fn. 3), S. 126 ff. 5.113.0000 € bei Teilnahme von bis zu 1000 Personen an der klinischen Prüfung, 10.226.000 € bei Teilnahme von 1000 bis 3000 Personen und 15.339.000 € bei Teilnahme von mehr als 3000 Personen. Fischer (Fn. 3), S. 96; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 1342.
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Schadens inzwischen nach § 253 Abs. 2 BGB zu den Regelfolgen der Körper- und Gesundheitsverletzung gehört. Ob bei diesen Beschränkungen noch ein angemessenes Verhältnis zu den Risiken besteht, ist fraglich54. Deshalb ist im Hinblick auf die mangelnde Absicherung des Schmerzensgeldes die Auffassung vertreten worden, dass diese die Ethik-Kommission zur Versagung der Zustimmung nach § 42 II 3 Nr. 3 AMG berechtigt, ja sogar verpflichtet und die zu Unrecht erteilte Zustimmung zur Amtshaftung führt55. Das erscheint mir in diesem Punkt nicht zwingend, weil die Probandenversicherung primär eine verschuldensunabhängige Entschädigung sichern will, wenn kein anderer für den Schaden haftet. Wenn darin das Schmerzensgeld hätte einbezogen werden sollen, hätte es nahe gelegen, im 2. Schadensersatzänderungsgesetz nicht nur bei den Gefährdungshaftungen, sondern auch im AMG eine entsprechende Anpassung vorzusehen. Wesentlich näher liegt es angesichts des klaren Wortlauts von § 40 III 2 AMG, die zustimmende Bewertung wegen der schon angesprochenen zu niedrigen Deckung bei Schädigung einer größeren Zahl von Versuchspersonen zu versagen und eine Amtspflichtverletzung anzunehmen, wenn die Ethik-Kommission dies nicht tut. Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit der Kommissionsmitglieder, die sogar den Rückgriff erlauben würden, lassen sich aber wohl mit der Begründung verneinen, dass dieses qualifizierte Verschulden sich nicht nur auf den Gesetzesverstoß als Pflichtwidrigkeit, sondern auch auf die Schädigung beziehen muss56. Daran wird es regelmäßig fehlen; denn Schäden solcher Größenordnung werden nicht gerade auf der Hand liegen, wenn die Angemessenheit der Risiken vor Versuchsbeginn zu Recht bejaht wird, also nicht gleichzeitig ein Verstoß gegen § 40 I 4 Nr. 2 AMG vorliegt. b) Überwachung Das Arzneimittelgesetz macht die zustimmende Bewertung der Ethik-Kommission in § 40 I 3 AMG nur zur Voraussetzung des Beginns der klinischen Prüfung und dem entspricht es, dass wie schon gesagt, der Prüfplan zentrale Bewertungsgrundlage ist. Eine erneute Stellungnahme während der Durchführung schreibt § 10 GCP-VO noch bei bestimmten Änderungen des Prüfplans vor. Eine fortwährende Überwachung durch die Kommission ist dagegen weder im novellierten AMG57 noch in der GCP-VO vorgesehen und ebenso wenig die Rücknahme oder der Widerruf des Votums. Diese Aufgaben werden allein den 54
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Ausführlich dazu Rittner/Kratz/Walter-Sack, Zur Angemessenheit des Probandenschutzes nach § 40 Abs. 1 Nr. 8 AMG – Bericht der Arbeitsgruppe „Probandenversicherung“ des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen, VersR 2000, 688 ff. Voit, Anforderungen des AMG an die Ausgestaltung der Probandenversicherung bei der Durchführung klinischer Studien und ihre Konsequenzen für Sponsor, Prüfer und EthikKommission, PharmR 2005, 345, 350. Vgl. Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl. 1996, Rn. 344 gegen BGHZ 34, 375. Anders Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 155, für das frühere Recht unter Berufung auf § 40 I 4 AMG aF. Diese Vorschrift statuierte aber ebenso wie jetzt §§ 12 VI, 13 II - IV GCP-VO nur die Pflicht zur Unterrichtung der Ethik-Kommission über schwerwiegende oder unerwartete unerwünschte Ereignisse, nicht deren Pflicht zur fortlaufenden Überwachung der Studie.
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zuständigen Landesbehörden und Bundesoberbehörden übertragen58, die die Ethik-Kommmission allerdings von ihren Maßnahmen zu unterrichten haben. Eine Informationspflicht gegenüber der Kommission besteht auch für den Prüfer beim Tod eines Prüfungsteilnehmers (§ 12 Abs. 6 GCP-VO) und für den Sponsor bei ihm bekannt gewordenen unerwarteten schwerwiegenden Nebenwirkungen (§ 13 Abs. 2 GCP-VO), insbesondere mit Todesfolge oder -gefahr (§ 13 Abs. 3 GCPVO). Zwar knüpfen weder das Gesetz noch die Verordnung daran eine Pflicht der Ethik-Kommmission einzugreifen. Jedoch ergibt sich diese aus allgemeinen Verkehrssicherungsregeln. Ähnlich wie bei der Produktbeobachtungspflicht muss die Ethik-Kommission aufgrund solcher Informationen ihre Stellungnahme überprüfen und ggf. aufgrund einer Neubewertung widerrufen59. Tut sie das sorgfaltswidrig nicht, so löst das Schadensersatzansprüche späterer Opfer aus.
2. Prüfer- und sponsorenbezogene Pflichten Wie schon (unter II 3 b) dargelegt, haben auch die Prüfer und Sponsoren einen Anspruch auf sorgfältige Begutachtung. Die Kommissionsmitglieder sind also nicht nur verpflichtet, Versuche mit unvertretbaren Risiken zu verhindern, sondern auch solche mit vertretbaren Risiken zustimmend zu bewerten. Dazu müssen sie die neuesten zugänglichen Forschungsergebnisse ihres Fachgebietes heranziehen und berücksichtigen. In der Bewertung selbst muss ihnen ein Beurteilungsspielraum zugestanden werden60, so dass nur der Weg dorthin einer gerichtlichen Kontrolle im Hinblick auf Sorgfaltsverstöße unterliegt, nicht das Ergebnis einer Richtigkeitskontrolle. Was die Verfahrensregelungen betrifft, so muss das Unabhängigkeitsgebot auch zugunsten der Prüfer (und Sponsoren) eingehalten werden. Seine Verletzung kann bei negativem Votum für diesen Personenkreis Schadensersatzansprüche auslösen. Die haftungsrechtlich problematischsten Verfahrensregeln stellen m. E. die Fristen dar, innerhalb deren die Ethik-Kommission entscheiden muss. Die Regelfrist des 42 I 9 AMG beträgt 60 Tage, bei einer einzigen Prüfstelle nach § 8 Abs. 3 GCP-VO nur 30 Tage, und diese kurze Frist gilt auch für die lokalen nicht federführenden Ethikkommissionen. Das ist bei risikoreichen Versuchen ein nicht gerade großzügiger Zeitraum, in dem die Kommission zwischen der Szylla der Patientenschädigung und der Charybdis der Forschungsblockade hindurchsteuern muss. Überlegt man, welche Schäden aus einem fehlerhaften Negativvotum und aus einer Fristenüberschreitung entstehen können, ist die Frage einer Haftpflichtversicherung für Kommissionsmitglieder vielleicht doch nicht so abwegig, wie sie die Versicherungen teilweise einschätzen, auch wenn primär die öffentliche Hand haftet und der Regress eher selten droht.
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Vgl. Wölk, aaO. S. 147. Vgl. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 1063. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 1068.
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IV. Gesamtbewertung Man könnte deshalb überlegen, ob nach der Neuregelung des AMG das Haftungsrisiko nicht zu groß ist. Das hatte auch der Bundesrat gemeint und deshalb für § 42 Abs. 1 AMG eine Ergänzung vorgeschlagen61, die folgenden Wortlaut haben sollte: „Die Haftung der Mitglieder der nach Landesrecht zuständigen EthikKommission und der Körperschaft, in deren Dienst sie stehen, wird auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt.“ Der Bundesrat hatte dabei allerdings weniger das Interesse der Kommissionsmitglieder als vielmehr das der Landesärztekammern als Träger von Ethikkommissionen im Auge. Dass davon auch die Länder als Träger universitärer Ethik-Kommissionen profitiert hätten, war ein sicher nicht unerwünschter weiterer Effekt. Rechtspolitisch wäre die – nicht Gesetz gewordene – Entlastung der Träger aber nicht unproblematisch. Denn sie ginge zu Lasten der Versuchsteilnehmer, soweit deren Schäden nicht durch die Probandenversicherung gedeckt sind. Die allgemeine Kritik, die an § 839 I 2 BGB geübt wird62, müsste deshalb auch diese Regelung treffen. Dass die Kommissionsmitglieder vor Ersatzansprüchen wegen leichter Fahrlässigkeit geschützt werden, ist jedenfalls bei den öffentlich-rechtlichen Kommissionen schon durch die Begrenzung des Regresses auf Fälle mindestens grober Fahrlässigkeit sichergestellt. Dass auch der Träger entlastet wird, soweit der Schaden nicht von der Probandenversicherung getragen wird, geht m.E. zu weit63. Wichtiger wäre es, dafür zu sorgen, dass die Probandenversicherungen endlich den Anforderungen des § 40 III 2 AMG entsprechen, und damit ein unnötiges Haftungsrisiko auszuräumen.
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BR-Drucks. 287/04 vom 14.05.2004, S. 6. S.o. Fn. 39. Zur Unwirksamkeit von Haftungsausschlüssen durch Landesgesetz, Satzung, Bescheid oder Vereinbarung s. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6, Rn. 1070.
Beweiserleichterung nach groben und einfachen Behandlungsfehlern
Ulrich Foerste Der schwierigste Part des Arzthaftungsprozesses ist oft der Beweis des Patienten, dass der Behandlungsfehler seine Gesundung erschwert hat. Dieser Kausalitätsbeweis wird allerdings durch Richterrecht erleichtert: bisweilen durch Anscheinsbeweis, also die diskrete Senkung des Beweismaßes1 auf bloße Wahrscheinlichkeit, wenn die konkrete Schädigung typischerweise Folge des jeweiligen Behandlungsfehlers ist,2 vor allem aber nach grobem Behandlungsfehler, nämlich durch Beweislastumkehr. Nach einfachen Behandlungsfehlern erfährt der Patient keine vergleichbare Hilfe: Die Beweislast für die Folgen soll bei ihm, das Beweismaß unberührt bleiben. Hatte der Arzt allerdings die klare Pflicht, Kontrollbefunde zu erheben, und verletzte er diese schuldhaft, so wird vermutet, dass die Befunderhebung ein „reaktionspflichtiges Ergebnis“ gezeigt hätte, wenn es hinreichend wahrscheinlich war. Der Beweis, dass die Unkenntnis dieses Befundes zum Schaden führte, soll dagegen weiter dem Patienten obliegen − mit einer interessanten Ausnahme für Fälle, in denen der nicht erhobene Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis gezeigt hätte, dessen Übergehung dann sogar als „grober“ Fehler hätte gelten müssen. Das weite Feld dieser Beweisregeln hat gerade den Jubilar über Jahrzehnte beschäftigt.3 Der Verfasser hofft dennoch auf Verständnis für eine altbackene und eine unübliche Frage: Überzeugt die Beweislastumkehr nach groben ärztlichen Fehlern? Und bleibt die Rechtsprechung ihrem Anliegen treu, den Beweis für die Folgen des Behandlungsfehlers lediglich bei groben Fehlern zu erleichtern?
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Zutr. Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 1975, S. 120 ff.; Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S. 206 f., 215. Das ist eher selten; zur Rspr. ausf. Soergel/Spickhoff, BGB, 13. Aufl. (2005), § 823 Anh I Rn. 224 ff. S. nur Deutsch, Festschrift Hermann Lange, 1992, S. 433 ff.
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I. Plausibilität der richterlichen Beweislastumkehr nach groben Behandlungsfehlern 1. Die Rechtsprechung: Beweislastumkehr statt Beweismaßreduzierung Im Schrifttum wird teilweise vertreten, die BGH-Rechtsprechung zur Kausalität grober Behandlungsfehler sei der Sache nach keine Beweislastumkehr, sondern lediglich eine Beweismaßreduzierung.4 Dieser Eindruck wurde durch gewisse ältere Entscheidungen in der Tat nahegelegt.5 Nachdem der BGH allerdings klargestellt hat, der Beweislastumkehr stehe nicht einmal entgegen, dass die Kausalität des groben Fehlers durchaus unwahrscheinlich sei,6 ist unzweifelhaft, dass heute eine echte Beweislastumkehr vorgegeben wird.
2. Die Kritik an der Rechtsprechung Die Beweislastumkehr beruht auf Rechtsfortbildung. Als solche muss sie jenseits der Überwindung bloßer „Unbilligkeit“, die mit jeder Beweislastregel verbunden ist um nachvollziehbare und verallgemeinerungsfähige Begründung bemüht sein. Insofern hat Gewicht, dass die BGH-Rechtsprechung zum groben Behandlungsfehler, trotz breiter Zufriedenheit mit ihren Ergebnissen, auf anhaltende Kritik stößt. Seit jeher wird moniert, die Beschränkung der Beweiserleichterung auf Folgen grober Fehler sei sachwidrig, da eine Abstufung nach dem Verschuldensgrad im materiellen Recht keinen Anhalt finde,7 pönale Begründungselemente in das Haftungsrecht hineintrage8 und vor allem ohne Bezug zur Beweisnot des Patienten sei, zumal die Folgen grober Fehler oft sogar besser als die Tragweite leichter Fehler feststellbar seien.9 Ohnehin seien grobe und leichtere Fehler teilweise schwer abgrenzbar.10 Vielfach wird daher zu allgemeiner Erleichterung des Kausalitätsbeweises geraten, vereinzelt sogar zur Beweislastumkehr, vor allem aber zur Beweismaßsenkung oder gar zur Abkehr von der Alles-oderNichts-Lösung des geltenden Haftungsrechts, d.h. zur Proportionalhaftung entsprechend der Wahrscheinlichkeit einer Schädigung.
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Eingehend Musielak, JuS 1983, 609, 612 ff.; MünchKomm-BGB/Wagner, 4. Aufl. (2004), § 823 Rn. 732. Z. B. in BGH NJW 1981, 2513; dazu Musielak, JuS 1983, 609, 614 f. BGHZ 159, 48, 54 ff. (Wahrscheinlichkeit u.U. nur 10 %!). Hanau, NJW 1968, 2291. Fleischer, JZ 1999, 766, 773 m. w. N.; Brüggemeier, Deliktsrecht, 1986, Rn. 684 („moralische Wertung“). H. Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, 1997, S. 235 Anm. 86. Laut Bydlinski warnt „der fließende Übergang ... vor einer so abrupten Lösung“ (Probleme der Schadensverursachung nach deutschem und österreichischem Recht, 1964, S. 87).
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3. Die Proportionalhaftung als Alternative? Neben dem Jubilar11 und anderen hat zuletzt Gerhard Wagner12 dafür plädiert, den möglichen Schädiger bei zweifelhafter Kausalität seiner Tathandlung im Umfang der Wahrscheinlichkeit dieser Kausalität haften zu lassen, um so den Nachteilen der tradierten Alles-oder-Nichts-Lösung zu entgehen. Auf Einzelheiten der bestechenden Modelle kann hier nicht eingegangen werden. Gegen jede Anteilshaftung dürfte aber sprechen, dass sie dem geltenden Recht allzu fern steht. Anlehnen könnte sie sich allenfalls an § 830 I 2 BGB, wonach bereits mehrere mögliche Täter, zumal rechtswidrig und schuldhaft gefährdende Personen, dem Opfer vollständig, beim folgenden Innenausgleich aber nur anteilig haften sollen. Namentlich F. Bydlinski und Canaris plädieren dafür, dieses Prinzip auf den Fall zu erstrecken, dass die Haftung eines Täters in Frage steht, weil Haftungsgrund und Zufallsereignis konkurrieren, und diese Person von vornherein nur anteilig haften zu lassen. Bydlinski räumt freilich ein, dass dieser Schritt von der ratio des § 830 I 2 BGB nicht mehr gedeckt sei, also eigentlich nur rechtspolitisches Postulat sein könne. Er fordert ihn dennoch, weil die Beweislast des Geschädigten für Kausalität heute (scil. ohnehin) nicht mehr akzeptiert werde.13 Canaris hingegen sieht den Zweck der Norm darin, den „unverdiente(n) Glücksfall“ zu verhindern, der einem Beteiligten erwüchse, wenn er trotz konkret schadensgeeigneten Verhaltens nur deshalb von der Haftung verschont bliebe, weil auch noch ein anderer den Schaden verursacht haben könnte.14 Diese Deutung entfernt sich jedoch wesentlich vom Tatbestand des § 830 I 2 BGB und ist daher nicht mehr die des Gesetzgebers. Die Norm lässt mögliche Kausalität eben nur in einem Sonderfall genügen: wenn ein Schadensersatzanspruch zweifelsfrei besteht und nur unklar ist, gegen welchen der möglichen Täter er sich richtet.15 Dies lässt sich nicht auf den Fall übertragen, dass möglicherweise niemand haftet − auch nicht mit der Ergänzung Wagners, jedenfalls beim Innenausgleich solcher Gesamtschuldner bleibe „überhaupt nichts anderes übrig“, als ihn an der (bloßen) Wahrscheinlichkeit zu orientieren, dass der jeweilige Beteiligte Verursacher sei;16 denn dieser Ausgleich beruht auf einer ganz anderen Wertung: auf der für Solidarbeiträge praktizierten Analogie zu §§ 254 BGB, 287 ZPO, die deshalb − entgegen Wagner − auch nicht einfach „nach außen gekehrt“ werden darf und ohnehin bedenklich ist, weil zunächst einmal jede Tatsache, die einen vom Paritätsprinzip (§ 426 I 1 BGB) abweichenden Ausgleich rechtfertigen soll, des vollen Beweises bedarf.17 Dass der Gesetzgeber eine Beteiligtenhaftung überhaupt vorsieht, spricht eigentlich eher dagegen, dass er sich eine generelle Beweiserleichterung für Kausalität vorstellen konnte; denn dann hätte das Randproblem konkurrierender Täter keiner Erwähnung bedurft. 11 12 13
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Deutsch, Festschrift v. Caemmerer, 1978, S. 329, 335 (de lege ferenda). Gutachten zum 66. DJT, 2006, A 60 f. Festschrift Beitzke, 1979, S. 3, 30 ff.; Festschrift Frotz, 1993, S. 3 ff.; ihm i. E. folgend Gottwald, Schadenszurechnung und Schadensschätzung, 1979, S. 118 ff. Larenz/Canaris, Schuldrecht, Band II/2, 13. Aufl., § 82 II 3 b, c. Deutlich Prot. zum BGB, Bd. 2, 1898, S. 606. G. Wagner, Festschrift G. Hirsch, 2008, S. 453, 466. Staudinger/Noack, BGB, Neubearb. 2005, § 426 Rn. 40 m. w. N.
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4. Bloße Beweismaßreduktion als Alternative Weitaus zahlreicher sind die Versuche, den Kausalitätsbeweis durch Beweismaßreduktion zu erleichtern, sei es durch Leugnung einer gesetzlichen Beweismaßvorgabe, sei es durch Zuordnung jedweder Kausalfrage zu § 287 ZPO, sei es durch Relativierung des „normalen“ Beweismaßes, das nach herrschender Meinung anzuerkennen ist, im Wege teleologischer Reduktion. Daran gemessen, ist die vom BGH vorgegebene Beweislastumkehr zwar überschießend, aber meist weniger hilfreich, da sie auf Fälle grober Behandlungsfehler begrenzt sein soll. Beweismaßreduktion könnte viel elementarer helfen. a) Beweismaßvorgabe im geltenden Recht Allerdings ist unbestreitbar, dass unser Zivilprozessrecht sehr wohl ein Beweismaß vorgibt und an dieses im Grundsatz auch hohe Anforderungen stellt. Der Einwand, mit § 286 ZPO sei nur über die Freiheit der Beweiswürdigung, nämlich gegen die legale Beweistheorie, nicht aber über das Beweismaß entschieden worden, wird zwar unermüdlich wiederholt,18 ist von Walter19 aber schon vor 30 Jahren widerlegt worden: Die Freiheit der Beweiswürdigung wurde bei Beratung der CPO selbstredend auf die Wahrheitsfindung bezogen, da es um die Frage ging, ob die Wahrheit zuverlässiger mit oder ohne Vorgaben zur Gewichtung von Beweismitteln zu finden sei. Dass der Richter entsprechende Überzeugung20 gewinnen müsse, wurde also vorausgesetzt. Andernfalls wäre auch nicht verständlich, dass der zivilprozessuale Beweis in der Begründung zu E § 249 CPO ohne weiteres mit dem im Strafprozess zu führenden Beweis verglichen wurde,21 denn dessen Anforderungen stehen außer Frage. Denkbar ist freilich, dass jener hohe Standard Ausnahmen erfährt; darauf wird zurückzukommen sein. b) Abgrenzung der §§ 286, 287 ZPO Weniger klar ist, wo die Grenzlinie zwischen dem Vollbeweis i. S. d. § 286 ZPO und bloßer Wahrscheinlichkeit der Schädigung (§ 287 I ZPO) zu ziehen ist. Ausweislich der Materialien sollte sie sichtlich zwischen haftungsbegründender und -ausfüllender Kausalität verlaufen.22 Dies macht den Erfolg der Haftungsklage allerdings davon abhängig, ob sie (auch) auf Normen gründet, die bereits für Verhaltensunrecht haften lassen (z. B. §§ 280 I, 823 II, 826 BGB). Denn danach mag der Haftungsprozess des Patienten scheitern, weil wegen § 823 I BGB eine Verschlechterung der Gesundheit bewiesen werden muss, aber nicht hinreichend belegbar ist (§ 286 I ZPO), während er gelingen müsste, wenn dank eines Behandlungsvertrags genügt, dass dem Arzt ein Fehler unterlief, der den Zustand des 18 19 20
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Zuletzt von G. Wagner (Fn. 16), S. 460 f. (Fn. 1), S. 163 f. Der Begriff findet sich auch in der Begründung zu E § 249 CPO, in: Hahn (Hrsg.), Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. II/1, 1881, S. 275. Motive zur CPO (Fn. 20), S. 275. Motive zur CPO (Fn. 20), S. 277; der BGH folgt dem nur teilweise, z. B. in NJW 2004, 777, 778.
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Patienten wahrscheinlich (§ 287 ZPO) verschlechterte. Diese Diskrepanz wird überwiegend für unerträglich gehalten;23 auch der VI. Senat des BGH sorgt für Angleichung, indem er die Beeinträchtigung des Patienten − systemwidrig − selbst dann zur haftungsbegründenden Kausalität schlägt, wenn eine Vertragsverletzung in Rede steht.24 Andererseits wäre die Rechtsunsicherheit, welche mit einer generellen Absenkung des Beweismaßes für haftungsbegründende Kausalität i. S. d. § 823 I BGB einherginge,25 ebenfalls problematisch. Noch heikler ist, dass die Harmonisierung konsequenterweise auch auf die Frage zu erstrecken wäre, ob überhaupt ein Recht(sgut) verletzt wurde. Zumindest besteht kein hinreichender Grund, die klare gesetzliche Differenzierung der Beweisanforderungen an Ersatzpflicht und Schädigung generell (!) − und über das bisherige Richterrecht hinaus − einzuebnen. De lege lata müssen wir daher wohl auch die zweifelhaften Konsequenzen hinnehmen, welche gerade dann spürbar werden, wenn Verhaltens- und Eingriffsnormtatbestände konkurrieren.26 Demnach gilt: Bei (vermutet schuldhafter) Verletzung eines Behandlungsvertrages genügt dank § 287 ZPO, dass der ärztliche Fehler den Zustand des Patienten wahrscheinlich verschlechtert hat. Kann sich die Haftung nur aus § 823 I BGB ergeben, so genügt das nicht; die schädliche Auswirkung des Behandlungsfehlers bedarf im Zweifel des Beweises. Daran ändert auch nichts, dass eine Körper- oder Gesundheitsverletzung bereits in dem ärztlichen Heileingriff liegen kann. Denn haftungsbegründend ist sie nur, wenn sie auch widerrechtlich und schuldhaft erfolgt; Eingriffe de lege artis (und mit Zustimmung des Patienten) genügen also keineswegs.27 c) Beweismaßreduktion je nach materiellem Recht? Breite Zustimmung findet die These, das hohe Regelbeweismaß sei teleologisch zu reduzieren, wenn es Wertungen des materiellen Rechts unterlaufen würde,28 insbesondere dort, wo die angeordnete Haftung andernfalls wegen der (typischen) Schwierigkeiten des Kausalitätsbeweises vereitelt würde.29 Ungeklärt ist indessen, woran man derart abweichende Vorgaben des materiellen Rechts erkennen soll. Wo dieses sich nicht gerade explizit zurücknimmt (wie in § 252 S. 2 BGB), bestehen ja immer zwei Möglichkeiten: Entweder beharrt der Gesetzgeber auf dem Eingriff, an den er die Haftung schließlich auch gebunden hat, also auch auf dessen Nachweis (ungeachtet typischer oder singulärer Beweisnot, auf die er auch außerhalb des Haftungsrechts wenig Rücksicht nimmt). Oder er billigt eine Haftung schon unterhalb dieser Schwelle. Für letzteres müsste die Norm freilich Anhalt geben. Insoweit begnügt man sich offenbar mit dem Befund, die mit der Norm verbundene Präventionswirkung sei um so stärker, je öfter Verstöße sankti23 24 25 26
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S. nur Gottwald (Fn. 13), S. 78 ff., 87 f. („undenkbar“). BGH NJW 1987, 705, 706. Dazu instruktiv Walter (Fn. 1), S. 181 ff. So auch noch BGH VersR 1975, 540, 541; Arens, ZZP 88 (1975), 1, 26 f., freilich unter Hinweis auf die Besonderheit frühzeitiger „Konkretisierung“ vertraglicher Pflichten. Anders jetzt offenbar Wagner (Fn. 16), S. 464 f.; i. d. S. schon Schiemann, 66. DJT (2006), L 153, 154 f.; klärend Taupitz, a. a. O., L 162. S. nur Walter (Fn. 1), S. 165, 223; Gottwald, KF 1986, 1, 15, 16 f. R. Weber, KF 1986, 48.
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oniert werden könnten.30 Ergänzen ließe sich, dass natürlich auch der Opferschutz umso besser wird, je eher die Haftung greift. Beide Erkenntnisse helfen aber wenig. Sie gelten (grosso modo) für jede Haftungsnorm,31 können also kaum Topoi der Differenzierung sein, welcher sie doch dienen sollen. Vor allem bleibt offen, ob die greifbare Verbesserung von Prävention und Ausgleich dem Gesetzgeber Anlass genug war, deshalb auch die Zumutungen an den Täter zu erhöhen. Realistisch betrachtet, kann der Interpret also nur sein entsprechendes Rechtsgefühl unterlegen. Dies bereits als Fernwirkung des Haftungsrechts zu deuten, fällt schwer. d) Beweismaßreduktion nach unerlaubter Handlung Immerhin besteht Anhalt dafür, dass auch der Gesetzgeber das Beweismaß für die Kausalität absenken wollte, soweit deliktische Haftung in Streit steht. Denn das Allgemeine Landrecht stellte insoweit sogar eine Vermutung auf: „Wer aber in der Ausübung einer unerlaubten Handlung sich befunden hat, der hat die Vermuthung wider sich, daß ein bey solcher Gelegenheit entstandener Schade durch seine Schuld sey verursacht worden.“ (ALR I 6 § 25). Sie wurde aber bewusst nicht in das BGB übernommen, mit dem Hinweis, auch insoweit „greift das Prinzip der freien Beweiswürdigung ein“.32 Der I. BGB-Kommission war nun gewiss gegenwärtig, dass die Vermutung dem Geschädigten aus deliktstypischer Beweisnot half. Während der Beratungen der Kommission (1874 - 1887) entschied das RG nämlich gleich mehrfach, dass zu entsprechender Hilfe auch Anlass bestehe:33 Hatte der Täter schuldhaft gefährlich gehandelt, so sollte für seine Haftung ausreichen, dass pflichtgemäßes Verhalten die Gefahr wesentlich vermindert hätte, und im Übrigen die Beweislast auf den Täter übergehen34 − eine Kombination von Beweismaßreduktion und Vermutung, die über den heutigen Anscheinsbeweis in doppelter Hinsicht hinausging35 (und später ständige Rechtsprechung wurde36). Die BGB-Kommission wird also realisiert haben, dass ein Verzicht auf die ALRVermutung den Geschädigten erheblich treffen mochte. Und „freie Beweiswürdigung“ konnte auf den ersten Blick keinerlei Ersatz sein, solange das unterstellte 30
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Dies betonend Gottwald, KF 1986, 1, 16; Spickhoff, Gesetzesverstoß und Haftung, 1998, S. 317 (zugleich relativierend); entsprechend schon Bydlinski (Fn. 10), S. 80. Auch Gottwald konzediert, die von Fikentscher für bestimmte Bereiche postulierte Absenkung der Haftungsvoraussetzungen sei „schwer greifbar“ (KF 1986, 1, 18). Das lässt sich verallgemeinern. Motive zum BGB, Bd. 2, S. 729 mit Anm. 3. RGZ 1, 271, 274 (1879); 10, 140, 143 f. (1883): „so würde die Rechtsverfolgung nahezu ausgeschlossen sein“; deutlich auch RGZ 10, 64, 66, obschon zu § 260 CPO = § 287 ZPO: Kausalität lasse „sich nachträglich nie mit voller Sicherheit bestimmen“. RGZ 1, 271, 273 f. (Schutzbrillen); sogar für volle Beweislastumkehr RGZ 10, 140, 143 f. (schwerer Explosionsfall, „große Gefahr“ für „weite Kreise“). Da auf Typizität des Erfahrungssatzes verzichtet wurde und dessen bloße Erschütterung nicht genügte. Vgl. RGZ 95, 249 f. (1919): „Ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit muß dann bei Abwesenheit gleich starker Möglichkeiten dem Richter genügen“; Planck/Flad, BGB, Bd. II/2, 4. Aufl. (1928), § 823 Anm. B II 2 a γ m. w. N.
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Beweismaß weiterhin die Überzeugung von der Kausalität sein sollte. Wenn die Kommission dennoch meinte, dank der ihr „vorliegenden Erfahrungen“ (gewiss auch der RG-Judikatur) bestehe für Sonderregeln „kein Bedürfnis“, weil dem Richter freie Beweiswürdigung zustehe,37 spricht also einiges dafür, dass diese hier auch die Freiheit einschließen sollte, ihren Bezugspunkt zu ändern, nämlich das später so genannte (Regel-) Beweismaß bei Bedarf abzusenken.38 Heute würde man solches eher als „kreative“ Beweiswürdigung abtun. Doch damals war man ohnehin großzügiger. So wurde vertreten, wahrhaft freie Beweiswürdigung sei keiner Überprüfung anhand rationaler Maßstäbe (Denk- und Erfahrungssätze) zugänglich;39 das musste zugleich das implizite Beweismaß (der richterlichen „Überzeugung“) gefährden. Die Gerichte wussten den Freiraum zu nutzen. Und auf Ebene des Haftungsrechts erhielt er wohl sogar den Segen des Gesetzgebers, der die vom Entwurf vorausgesetzte Beweiserleichterung mit der Verabschiedung des BGB in seinen Willen aufnahm.
5. Zulässigkeit selbst einer Beweislastumkehr? Eine Absenkung des Beweismaßes hilft dem Patienten freilich nicht, wenn die Kausalität des Behandlungsfehlers für seine Verletzung nicht einmal überwiegend wahrscheinlich ist. Die Rechtsprechung will aber auch in diesem Fall helfen: durch Beweislastumkehr. a) Begründung der richterlichen Beweislastumkehr Soweit deren Anbindung an grobe Behandlungsfehler als „Pönalisierung“ des Haftungsrechts kritisiert wird, ist klarzustellen, dass ein grober Fehler nach der Rechtsprechung gerade nicht von entsprechendem Verschulden abhängen soll.40 Der BGH berücksichtigt ihn vielmehr im Rahmen einer „gerechten Interessenabwägung“; entscheidend soll sein, dass der schwerwiegende Verstoß gegen die lex artis die Entwicklung des Gesundheitszustandes ungewiss gemacht habe, weshalb der Arzt „näher dran“ sei, mit dem Beweisrisiko belastet zu werden.41 Erich Steffen hat ergänzt, es würde § 242 BGB verletzen, wenn der Arzt aus den besonderen Erschwernissen, die er „durch seinen Verstoß gegen elementare Behandlungsregeln“ in die Kausalitätsfeststellung trug, noch prozessualen Nutzen ziehen könnte.42 Dies deutet schon an, dass die Beweislastumkehr auch nicht auf den Gesichtspunkt besonderer Gefahrerhöhung gestützt wird, nämlich weder auf hinreichende 37 38 39
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Motive zum BGB (Fn. 32). So i. E. auch Gottwald (Fn. 13), S. 81. Immerhin von Stein, Das private Wissen des Richters, 1893 (Neudruck 1969), S. 34 ff., 41 f., 110 ff., auch für die „Causalitätserfahrung“, unter Hinweis auf die RG-Judikatur (S. 112); drastisch in der Tat RGZ 21, 162, 165; zur Flexibilität des Schrifttums Stoll, KF 1986, 60. BGH NJW 1992, 754, 755; Steffen, Festschrift Brandner, 1996, S. 327, 335 f. Vgl. BGH NJW 1959, 1583, 1584; s. schon RGZ 171, 168, 171. Steffen (Fn. 40), S. 334 f.; ähnlich schon RGZ 10, 64, 66.
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Indizien für Kausalität, die eine Umkehr der Beweislast ja auch erübrigen würden, noch auf überwiegende Wahrscheinlichkeit;43 selbst eine nur 10 %ige Wahrscheinlichkeit, dass der Fehler kausal wurde, soll genügen.44 Das ist insofern konsequent, als andernfalls das Kriterium des „groben“ Fehlers durch den ungleich präziseren Maßstab erhöhter Wahrscheinlichkeit einer Schädigung durch den Fehler zu ersetzen, jedenfalls aber zu ergänzen wäre. b) Beweisvereitlung im klassischen Sinne Ist freilich − dem BGH folgend − allein darauf abzustellen, dass der Arzt durch seinen Behandlungsfehler die Klärung von dessen Folgen erschwert hat, so fragt sich, inwiefern dies auf grobe Fehler beschränkt bleiben kann. Jedenfalls dann, wenn man auf die Beweisnot, also auf die Schutzbedürftigkeit des Patienten abstellt, ist wichtig, dass dessen Beweisführung durch weniger gravierende Fehler zumindest gleichermaßen erschwert werden kann; Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen groben und sonstigen Fehlern kommen noch hinzu. Nach den Regeln der Beweisvereitlung genügt denn auch durchweg einfache Fahrlässigkeit, um der benachteiligten Partei zu helfen. Nötig ist zwar „doppelte“ Fahrlässigkeit. Wer aber als Arzt schuldhaft schlecht behandelt, wird meist auch fahrlässig verkennen, dass er den Patienten auf diese Weise in die Gefahr bringt, die Folgen des Kunstfehlers für den Organismus nicht eindeutig belegen zu können. Auf einen „groben“ Fehler scheint es daher ebenso wenig anzukommen wie darauf, dass die Rechtsprechung für ihn kein Verschulden fordert. Indessen wäre es verfehlt, unser Problem den Regeln der Beweisvereitlung zu unterwerfen. Diese setzt ihrem Zweck nach voraus, dass ein Beweismittel für eine wahrnehmbare Tatsache vorhanden oder doch greifbar ist, aber dennoch nicht erfasst und gesichert wird. Daran fehlt es bei haftungsbegründendem Verhalten zumindest dann, wenn der Fehler selbst gar nicht Beweisthema ist (z. B. weil er im Prozess unter Beweis gestellt wird) und wenn er auch irgendwelche erfassbaren Folgen seinerzeit noch gar nicht ausgelöst haben konnte: Hier geht es gar nicht um Beweismittel, deren Vernachlässigung den Patienten benachteiligen könnte. Man muss schon einen Schritt weitergehen und postulieren, ein Verkehrspflichtiger habe nicht nur Gefahren für Rechtsgüter zu steuern, sondern damit auch zu vermeiden, dass bei Realisierung der Gefahr für mögliche Opfer Beweisnot entstehe − ungeachtet verfügbarer Beweismittel. Mit Beweisvereitlung klassischen Zuschnitts hätte dies aber nichts mehr zu tun. Der Terminus sollte hier daher besser vermieden werden, da er verfehlte Assoziationen weckt. c) Beweisvereitlung als Analogon der Herbeiführung von Beweisnot? Immerhin wird die Beweislastumkehr darauf gestützt, dass der Patient ohne den (groben) Behandlungsfehler nicht in Beweisnot wäre und es dem Arzt versagt sei 43
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Nüßgens, Festschrift Hauß, 1978, S. 287, 295 ff.; anders anscheinend A. Diederichsen, 66. DJT, 2006, L 156 („eo ipso“), freilich ohne Anhalt in der Rechtsprechung ihres Senats. BGHZ 159, 48, 54 ff.
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dies auszunutzen. Trägt dieser also eine Mitverantwortung für die Beweisnot und muss sie deshalb analog der Vereitlung von Beweismitteln behandelt werden? Auf den ersten Blick gilt eher das Gegenteil: Wer in haftungsbegründender Weise handelt, trägt das Risiko der Unaufklärbarkeit entsprechender Folgen nicht schon deshalb, weil er durch sein Verhalten zugleich Beweisnot geschaffen hat, die andernfalls nicht bestünde, da dann eine Schädigung entweder ausgeblieben oder doch eindeutig der Sphäre des Opfers zurechenbar wäre (casum sentit dominus).45 Dies folgt aus den Regeln über Beweislast und -maß, den §§ 286 f. ZPO und e contrario § 830 I 2 BGB. Für den Fall, dass die haftungsbegründende Kausalität streitig ist, akzeptierte der Gesetzgeber zwar eine Minderung des Beweismaßes, und dies gewiss auch im Hinblick auf das festgestellte deliktische Verhalten des Gegners. Doch für eine Beweislastumkehr, jenseits von Sonderrecht, fehlt jeder Anhalt; im Gegenteil: Eine allgemeine Kausalitätsvermutung nach Delikten, wie im preußischen Recht, wurde gerade verworfen, weil freie Beweiswürdigung, also auch Konstanz der Beweislast, ausreichend und vorzugswürdig erschienen. Eine generelle Beweislastumkehr zu Lasten deliktischer Täter würde also das Haftungsrecht „verkürzen“ und wäre Rechtsfortbildung contra legem. Sie kommt daher allenfalls für Sonderfälle in Betracht; die normierte Ausnahme der „Beteiligung“ Mehrerer (§ 830 I 2 BGB) unterstreicht das. Damit verbietet sich auch, die Schaffung von Beweisnot einer Beweisvereitlung gleichzustellen. d) Sonderfall wegen des Gebots von Waffengleichheit? Als Indiz für einen Sonderfall gilt offenbar auch die Notwendigkeit, im Arzthaftungsstreit prozessuale Waffengleichheit im Verhältnis zur Behandlungsseite herzustellen, um die vielfältige Unterlegenheit des Patienten auszugleichen.46 Das überzeugt nicht.47 Die strukturelle Unterlegenheit des Patienten ist weniger Spezifikum als Beispiel für das Alltagsphänomen, dass in der heute hochgradig arbeitsteiligen und technisierten Welt Spezialisierung und Komplexität derart zunehmen, dass Laien und Außenstehende von Erkenntnissen oft abgeschnitten sind. Deswegen ist der Spezialist aber längst nicht allwissend. Ist z. B. ein Behandlungsfehler unterlaufen, dessen Folgen selbst für Sachverständige unklar sind, so überblickt der Behandler sie nicht besser als der Patient.48 Jedenfalls hier also legitimiert Informationsasymmetrie keine Beweiserleichterung.49 Umgekehrt scheint kein Grund zu bestehen, Beweiserleichterungen gerade auf ärztliche Fehler zu beschränken. 45
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S. nur Gottwald, KF 1986, S. 16 Anm. 170; für die Arzthaftung BGHZ 99, 391, 398 („in aller Regel“). So − auch zur Beweislastumkehr − wohl BVerfG NJW 1979, 1925 f.; Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, 1982, S. 84; Schiemann, Festschrift Gernhuber, 1993, S. 387, 398; Krämer, Festschrift G. Hirsch, 2008, S. 387, 390. Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 463 m. w. N.; differenzierend auch Soergel/Spickhoff (Fn. 2), § 823 Anh I Rn. 216. Verkannt bei Schiemann (Fn. 46), S. 401. RGZ 78, 432, 435; MünchKomm/Wagner (Fn. 4), § 823 Rn. 729. − Deshalb hilft auch die „Gefahrenkreistheorie“ nicht: Musielak, AcP 176, 465, 477 ff.; anders, aber wenig klar Franzki (Fn. 46), S. 88 f.
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e) Sonderfall wegen groben Fehlers? Soweit Beweislastumkehr an grobe Fehler anknüpft, sind immerhin diese eine Besonderheit.50 Das Rechtsgefühl würde strapaziert, wenn der Patient mangels Kausalitätsbeweises ohne Ersatz bliebe, obwohl die Behandlungsseite ihn nicht nur gefährdete,51 sondern durch einen groben, d. h. besonders leicht vermeidbaren, Fehler gefährdete.52 Sachgerechter wäre es allerdings, auf das jeweilige Verschulden des Täters abzustellen; allenfalls so wären die Folgen der Beweislastumkehr auch individuell zumutbar. Umgekehrt wirkt eine Beweislastumkehr weniger dringlich, wenn der schwere Fehler sich (entgegen allem Vorverständnis) in casu wenig auswirkte: Erhöhte der Täter die Gefahr für den Verletzten nur um 10 %, so würde man den Taterfolg vielleicht nicht einmal bei Vorsatz vermuten wollen. Auch der Gesetzgeber hielt eine Vermutung der Kausalität ja bei jedem deliktischen Handeln für entbehrlich, also selbst bei schweren Fehlern. Unerträglich pauschal erscheint dies allenfalls dann, wenn mindestens grobe Fahrlässigkeit vorlag und der Fehler die Gefahr nachteiliger Folgen erheblich erhöhte (zumindest um 30 %).53 f) Sonderfall wegen groben beruflichen Fehlers? Wer darauf abstellt, dass der Geschehensablauf bei Einhaltung elementarer Berufspflichten hätte generell beherrscht werden können,54 führt einerseits kein neues Argument ein, sondern umschreibt (in unserem Kontext) nur neuerlich, dass ausgerechnet ein grober Fehler die Gefahr erhöhte. Andererseits ist der berufliche Fehler ein weiteres qualifizierendes Merkmal, zumal dann, wenn man − so die Tendenz der Rechtsprechung − nur Gefährdungen für Körper und Gesundheit ins Auge fasst. Ob dies sachgerecht ist, ist eine andere Frage. Die Grundentscheidung des Gesetzgebers gegen eine Kausalitätsvermutung nimmt keine Rücksicht darauf, ob verkehrserforderliche oder berufliche Sorgfalt verletzt wurde. Berufliche Standards sind richtigerweise auch nur eine Untergruppe der nach § 276 II BGB stets maßgebenden verkehrserforderlichen Sorgfalt. Unabhängig davon geben sie keinen Anhalt für eine Fernwirkung auf die Beweislast für die Kausalität eines Verstoßes; denn solches würde weder durch Expertentum (s. o.) noch durch Vertrauen auf die Wahrung gerade professioneller Standards55 nahe gelegt.
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In diesem Sinne Nüßgens (Fn. 43), S. 300. Das geschieht bei jedem Behandlungsfehler, muss also nach dem oben Gesagten (I. 5. c)) außer Acht bleiben; anders Walter (Fn. 1), S. 242 f.; offenbar auch Katzenmeier (Fn. 47), S. 465 zu Anm. 379. Vgl. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. (2008), Rn. 529 f.: „Die Schwere des Fehlers gleicht also die Unsicherheit in der Kausalverknüpfung aus.“. Zur Bedeutung des Schutzeffektes verkehrsgerechten Verhaltens auch Stoll, AcP 176, 145, 175; Franzki (Fn. 46), S. 90 f., der diese Hürde dann freilich mit Fiktionen unterläuft. Dazu Katzenmeier (Fn. 46), S. 465 m. w. N. Anders Katzenmeier (Fn. 46), S. 466 f.
Beweiserleichterung nach groben und einfachen Behandlungsfehlern
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g) Ergebnis Nach allem dürfte ein grober Behandlungsfehler kein hinreichender Grund für eine so folgenschwere Rechtsfortbildung wie eine Beweislastumkehr sein.
II. Unterbliebene Befunderhebung als einfacher Behandlungsfehler Zweifelhaft ist aber auch die Konsistenz der Rechtsprechung. Denn der BGH gibt eine Kausalitätsvermutung nicht nur nach groben, sondern teils auch nach einfachen Behandlungsfehlern vor, z. B. für den Fall, dass schuldhaft eine Befunderhebungspflicht verletzt wird. Hinzukommen soll, dass die Befunderhebung medizinisch zweifelsfrei geboten war.56 Ihre Unterlassung mag sich daher oft auch als grober Fehler erweisen − mit der Folge der oben skizzierten umfassenden Beweislastumkehr. Aber auch in sonstigen Fällen ist laut BGH zu unterstellen, dass eine Befunderhebung ein positives und deshalb „reaktionspflichtiges Ergebnis“ gezeigt hätte, wenn ein solches immerhin wahrscheinlich war.57 Der Sache nach wird hier eine Teil-Kausalität vermutet, nämlich die, dass der ärztliche Fehler bewirkte, dass ein reaktionspflichtiges Ergebnis unbekannt blieb58 − während die Beweislast für den weiteren Kausalverlauf (dass die Unkenntnis des fingierten positiven Befundes mangels adäquater Behandlung nachteilige Folgen hatte) im Prinzip unverändert bleiben soll. Diese Kausalitätsvermutung bei bloßer Wahrscheinlichkeit dürfte zwar den Vorstellungen des Gesetzgebers nahekommen (s. o. I. 4. d)). Sie ist aber deutlich anders strukturiert als die oben behandelte Hilfe nach sonstigen Behandlungsfehlern: Nur hier nämlich soll grobe Pflichtwidrigkeit entbehrlich sein, während der fragliche Erfolg (die Reaktionspflichtigkeit des Befundes) aber immerhin wahrscheinlich sein muss. Lassen sich diese Divergenzen rechtfertigen? Der BGH betrachtet die unterbliebene Befunderhebung sichtlich als Besonderheit; diese soll − „ähnlich“ der unterbliebenen Dokumentation von Befunden − in der Beweis- und Prozessbezogenheit der Befundungspflicht liegen und deshalb Ausgleich der „von der Gegenpartei zu verantwortenden Aufklärungshindernisse“ gebieten, sofern die Befundsicherung „gerade wegen des erhöhten Risikos“ des Ursachenverlaufs, den der Patient behauptet, geschuldet war.59 Die letztgenannte Einschränkung soll abgrenzen gegenüber dem Prinzip, dass der Schädiger in der Regel keine Mitverantwortung für die Beweisnot trägt, in die der Verletzte infolge des Fehlverhaltens geraten ist (s. o. I. 5. c)). Doch die Formel vom „erhöhten Risiko“ dürfte eher rhetorischer Art sein; sie lässt sich nämlich dahin verdichten, dass jedes absehbar gefährliche Defizit an Befunderhebung Beweiserleichterung rechtfertige. Was bleibt, ist die Aussage, ein durch Unterlassen geprägter Behandlungs-
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BGHZ 138, 1, 6. S. nur BGHZ 138, 1, 4 f. So deutlich schon Nixdorf, VersR 1996, 160, 162. BGHZ 99, 391, 397 ff.
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fehler gebiete prozessuale Hilfe dann, wenn er einen rechenschaftspflichtigen Befund vereitelt habe. Ist das begründbar? Ob hier Beweisvereitlung gegeben ist, hat der BGH offen gelassen.60 Für Vereitlung scheint zu sprechen, dass korrekte Befunderhebung immerhin die Chance bietet, ein Beweismittel aufzufinden; ein solches ist für den Arzt dann also auch greifbar (anders als oben I. 5. b)). Andererseits wird vielfach angenommen, beweisvereitelnd könne nicht schon eine Handlung sein, die sich mit haftungsbegründendem Verhalten, z. B. einem Behandlungsfehler, deckt, soweit gerade dessen Folgen streitig sind.61 Das schließt Beweiserleichterung freilich dann nicht aus, wenn Befundsicherung oder Dokumentation unterblieben ist. Beides mag zwar auch aus therapeutischen Gründen geschuldet sein,62 doch der prozessuale Streit dreht sich kaum je um die Folgen solcher Behandlungsfehler, sondern um Folgen anderer Fehler. Wurde dagegen Befunderhebung versäumt, so ist dies regelmäßig haftungsbegründend. Zumindest dann sollte Beweisvereitlung nicht auf solche Beweismittel erstreckt werden, die der Arzt überhaupt erst aufzufinden hatte. Andernfalls würde die Haftungsnorm sachwidrig verkürzt:63 Es gibt keinen Grund, den Nachweis der Folgen einer Pflichtverletzung ausgerechnet dort zu erleichtern, wo eine Befunderhebung unterblieb, denn haftungsrechtlich ist es belanglos, ob eine Untersuchung oder die Therapie versäumt wurde.64 Helfen kann daher nur die Annahme, der Arzt handle treuwidrig, wenn er prozessual eine Beweisnot ausnutzt, zu der sein Fehlverhalten beigetragen hat (Selbstwiderspruch). Dies nimmt der BGH nunmehr an.65 Eine solche Mitverantwortung des Schädigers ist jedoch, auch nach Ansicht des BGH, im „Regelfall“ nicht gegeben.66 Entscheidend ist also, ob der Umstand, dass der Arzt einen Befund, der rechenschafts- und (wahrscheinlich) auch reaktionspflichtig gemacht hätte, gar nicht erst erhob, eine Ausnahme rechtfertigt. Das ist nicht ersichtlich. Dass ein Befund nicht erhoben wird, ist weder gefahrträchtiger als andere Fehler, noch erschwert es den Kausalitätsbeweis stärker, noch weist es auf besonders schwere Fehler hin. Und dass der Befund, wäre er denn erhoben worden, dann hätte dokumentiert werden müssen, um (auch) das Persönlichkeitsrecht des Patienten zu wahren,67 ändert nichts daran, dass eine derart hochrangige Pflicht nun 60 61
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BGHZ 99, 391, 398. Vgl. allgemein RG JW 1938, 2152; OLG Bamberg VersR 1971, 769, 770; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Aufl. (2008), § 286 Rn. 190; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976, S. 171 f.; Musielak/Foerste, ZPO, 6. Aufl. (2008), § 286 Rn. 64; i. Ü. Gaupp, Beweisfragen im Rahmen ärztlicher Haftungsprozesse, 1969, S. 59, 84 ff.; Franzki (Fn. 46), S. 79 f.; Kaufmann, Die Beweislastproblematik im Arzthaftungsprozeß, 1984, S. 69 ff.; Baumgärtel, Festschrift Kralik, 1986, S. 63, 69 f; Sundmacher, Die unterlassene Befunderhebung des Arztes, 2008, S. 135 f. Dezidiert BGHZ 72, 132, 138 (Dokumentation). So schon Gaupp (Fn. 61), S. 86 f. Zur besonderen „Nähe“ von Befunderhebung und Behandlungsfehler auch Spickhoff (Fn. 2), § 823 Anh I Rn. 248. Vgl. BGH NJW 1993, 528, 529; dazu Steffen (Fn. 40), S. 332 f.; krit. schon Foerste, VersR 1988, 958 f. S. nur BGHZ 99, 391, 398 (zur Arzthaftung). Dies betonend BGHZ 99, 391, 397.
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einmal nicht entstand − wegen eines „einfachen“ Behandlungsfehlers. Nach allem besteht kein Anlass zu spezifischer Sanktionierung unterbliebener Befunderhebung. Wie könnte eine Beweiserleichterung auch davon abhängen, ob der Arzt vergaß, ein Implantat periodisch auszuwechseln (grober Fehler nötig!) oder zu überprüfen (jeder Fehler ausreichend?).
III. Beweislastumkehr bei hypothetischem groben Behandlungsfehler? Bei schlichtem Verstoß gegen Befunderhebungs-, Befundsicherungs- oder Dokumentationspflichten erleichtert der BGH den Kausalitätsnachweis nur insofern, als ggf. ein positiver, reaktionspflichtiger Befund vermutet wird. Der Beweis, dass die Unkenntnis dieses Befundes mangels adäquater Behandlung schädigte, soll dagegen weiterhin dem Patienten obliegen und erst entbehrlich sein, wenn der vernachlässigte Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis gezeigt hätte, dessen Übergehung dann sogar als „grober“ ärztlicher Fehler hätte gelten müssen.68 Letzterenfalls werden zwei Beweiserleichterungen kombiniert, nämlich diejenige wegen Vereitlung eines Beweises mit derjenigen wegen schwerwiegender Mitverantwortung für Beweisnot. Diese Staffelung trägt nur teilweise. Die Beweislastumkehr wegen groben Behandlungsfehlers setzt schließlich voraus, dass ein solcher auch festgestellt ist. Bei unterbliebener Befundsicherung oder Dokumentation soll sich die Vermutung, ein immerhin wahrscheinlicher positiver Befund habe tatsächlich vorgelegen, auch darauf beziehen können, der Befund sei derart aussagekräftig oder bedeutsam gewesen, dass seine Verkennung sogar ein grober Fehler gewesen sein müsse. Das ist immerhin schlüssig. Im Haftpflichtprozess weitaus wichtiger ist allerdings erschöpfende Befunderhebung. War schon diese unterblieben, so rechtfertigt das (für sich allein) gar keine Beweiserleichterung (s. o. II.). Aber auch die Gegenansicht hilft nicht weiter; denn aus ihr lässt sich bestenfalls folgern, dass − so der BGH − ordnungsgemäße Befunderhebung ein immerhin wahrscheinliches positives Ergebnis tatsächlich „gezeigt hätte und sich die Verkennung dieses Befunds als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde“.69 Schon der Irrealis dieser Aussage unterstreicht, dass aus der Vernachlässigung des vermuteten Befundes − ungeachtet der Wahrunterstellung − ein weiterer (grober) Fehler nicht hergeleitet werden soll (und kann), sondern dass der Fehler nur hätte unterlaufen können, wenn der Befund denn erhoben worden wäre. Ohne Befunderhebung kann die Übergehung des vereitelten (und deshalb fehlenden!) Befundes eben gar kein Fehler sein. Der BGH sanktioniert also die Schaffung von Beweisnot durch einen fiktiven groben Fehler.70 Das widerspricht seiner übrigen Judikatur zur Beweislastumkehr, die 68
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BGH NJW 2004, 1871, 1872 (Befunderhebung); BGHZ 132, 47, 52 f. (Befundsicherung). BGH NJW 2004, 1871, 1872 (sub b). So jetzt auch Sundmacher (Fn. 61), S. 157; zu pauschal daher die Replik von Gross, Festschrift Geiß, 2000, S. 429, 435 a. E.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl.
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natürlich nur an reale Behandlungsfehler anknüpft (Verbot des Selbstwiderspruchs), und dem Willen des Gesetzgebers, der eine generelle Kausalitätsvermutung ablehnte.
IV. Ergebnisse 1. Dass die Rechtsprechung den Beweis der haftungsbegründenden Kausalität nur bei Anscheinsbeweis und nach grobem Behandlungsfehler erleichtert, erscheint teils zu eng, teils zu weitgehend: Einerseits bleibt außer Acht, dass der Gesetzgeber nach deliktischem Verhalten wohl bereits das Beweismaß senken wollte. Andererseits dürfte ein grober Behandlungsfehler kein hinreichender Grund für eine so folgenschwere Rechtsfortbildung wie eine Beweislastumkehr sein. Diese wäre eher zu rechtfertigen, wenn der Fehler grob fahrlässig war und die Gefahr nachteiliger Folgen auch noch erheblich erhöhte (mindestens um 30 %).
2. Solange die Rechtsprechung den Kausalitätsbeweis nur nach groben Behandlungsfehlern erleichtern will, ist ihre weitergehende Hilfe bei Verletzung der Befunderhebungspflicht überzogen. Denn hier geht das beweiserschwerende Verhalten − anders als bei unterbliebener Befundsicherung oder Dokumentation − kaum über den jeweiligen Behandlungsfehler hinaus, um dessen Folgen gestritten wird; dann bleibt kein Raum für Beweiserleichterung. De facto nähert sich die Rechtsprechung also einer Beweismaßreduktion für Kausalität.
3. Soweit die Rechtsprechung bei unterbliebener Befunderhebung der Behandlungsseite auch die Beweislast für die Kausalität zuschiebt, lässt sie dafür einen fiktiven groben Behandlungsfehler ausreichen. De facto sollen hier also schon einfache Behandlungsfehler die Beweislast umkehren. Das bricht mit der übrigen Judikatur und ist zudem Rechtsfortbildung contra legem.
(2006), Rn. B 297; soweit Spickhoff der Beweislastumkehr bei grobem Fehler „gewissermaßen Fernwirkungen“ (Rückwirkung?) zuschreibt (NJW 2004, 2345, 2346), setzt auch das einen realen Fehler voraus.
Der „Off-Label-Use“ von Fertigarzneimitteln: Offene Fragen an der Schnittstelle von Standard, Humanität und Wirtschaftlichkeitsgebot
Jens Göben
I. Rechtstatsächliches Der „Off-Label-Use“ eines Arzneimittels bezeichnet dessen Anwendung außerhalb der zugelassenen Indikation. Die zulassungsüberschreitende Anwendung basiert auf einer entsprechenden medizinisch-pharmazeutischen Praxis, weil sich der Therapieansatz in der täglichen Behandlungspraxis bewährt hat. Aus der zivilrechtlichen Perspektive des Arzthaftungsrechts handelt es sich dabei spätestens seit der „Aciclovir“-Entscheidung1 des OLG Köln um ein Realphänomen: Behandlungsvertraglich schuldet der Arzt dem Patienten stets die bestmögliche Behandlung – deshalb kann im Einzelfall ein Verlassen des arzneimittelrechtlichen Zulassungsstandards geboten, jedenfalls erlaubt sein. Freilich ist der Begriff „Standard“2 relativ: In einer Vielzahl von Fällen mag der durch §§ 21 ff. AMG fixierte Zulassungsstandard des Präparates zugleich die aus medizinischer Sicht optimale medikamentöse Versorgung vorgeben. Eine neue Arzneimitteltherapie wird dann zum Standard, wenn sie an einem für Aussagen über die NutzenRisiko-Bilanz ausreichend großen Patientenkreis medizinisch-wissenschaftlich erprobt, im Wesentlichen unbestritten und für den jeweiligen Patienten risikoärmer bzw. weniger belastend ist oder doch bessere Heilungschancen verspricht. Existiert mangels hinreichender Datenlage (noch) kein feststehendes Behandlungsschema, gewährt erst der „Off-Label-Use“ dem Patienten eine erfolgversprechende Behandlung oder eine zusätzliche Therapiechance. Zu nennen ist hier zunächst der Bereich der Pädiatrie.3 Wichtige Gründe für den „Off-Label-Use“ 1 2
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OLG Köln VersR 1991, 186 f. m. Anm. Deutsch. Zum Begriff des Standards mit Blick auf den Sorgfaltsmaßstab Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rz. 189 f.; Velten, Der medizinische Standard im Arzthaftungsprozess, S. 53 f.; auch Walter, Medizinische Leitlinien und Behandlungsfehlerhaftung, GesR 6/2003, 165. Wie oft Erwachsenen Medikamente außerhalb der Zulassung verschrieben werden, ist statistisch nicht genau erfasst. Für die ambulante Pädiatrie hat die Universität Tübingen genaue Daten ermittelt: 13,2 % aller Verordnungen im Referenzzeitraum lagen außer-
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sind dabei das geringe Marktpotential pädiatrischer Indikationen sowie die hohen Anforderungen an Planung und Durchführung klinischer Studien an nicht oder nur beschränkt einwilligungsfähigen Minderjährigen. Darüber hinaus spielt der zulassungsüberschreitende Einsatz von Arzneimitteln in der Onkologie4, aber auch in der Neurologie und Infektiologie eine wichtige Rolle. Der „Off-Label-Use“ wirft unter mehreren Gesichtspunkten Fragen auf: So ist in arzneimittelrechtlicher Hinsicht zunächst zu klären, unter welchen Umständen der Einsatz von Arzneimitteln außerhalb ihres zugelassenen Indikationsbereichs überhaupt erlaubt ist. Dies betrifft besonders das Verhältnis des bestimmungsgemäßen Gebrauchs des Arzneimittels nach § 84 AMG zu der Überschreitung des Therapiegebietes. Die intensive juristische und öffentliche Diskussion des zulassungsüberschreitenden Einsatzes von Arzneimitteln hat ihre eigentlichen Wurzeln freilich in den immer schwieriger werdenden finanziellen Rahmenbedingungen des öffentlichen Gesundheitswesens. Das Wirtschaftlichkeitsgebot in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verpflichtet den Arzt zu einer zweckmäßigen, ausreichenden und nicht mehr als notwendigen Arzneimitteltherapie, §§ 2, 12, 70 SGB V. Die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels zu Lasten der GKV setzt dessen Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz voraus. Fehlt die Zulassung, scheidet eine Verordnung zu Lasten der GKV aus. Liegt sie vor, darf das Präparat grundsätzlich nur zulassungsbegrenzt verordnet werden, d. h. nur für diejenige Indikation, die im Zulassungsbescheid verkörpert ist. Da das Zusammenspiel von Arzneimittelrecht und Recht der GKV bei Arzneimitteln gesetzlich nicht exakt geregelt ist, besteht ein grundsätzliches Regressrisiko für den behandelnden Arzt (§ 106 Abs. 5 SGB V). Darüber hinaus sehen sich gesetzlich versicherte Patienten der Situation ausgesetzt, nach erfolgter Ablehnung eines Kostenübernahmeantrags die Leistungsverpflichtung ihres Kostenträgers sozialgerichtlich durchsetzen zu müssen, um dringend benötigte Therapien zu erhalten. Unter welchen besonderen Umständen Arzneimittel, die off label verordnet werden, ausnahmsweise erstattungsfähig sind, ist erst durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts allmählich konkretisiert worden.
II. Der Begriff des „Off-Label-Use“ Eine gesetzliche Definition des zulassungsüberschreitenden Einsatzes von Arzneimitteln wird zwar gelegentlich5 postuliert, besteht aber bislang weder im Arzneimittelrecht noch im Sozialrecht. Dementsprechend gehen die Vorstellungen
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halb des Zulassungsbereichs des jeweiligen Medikaments, weil keine Zulassung für Kinder vorlag. Im Bereich der stationären Pädiatrie kommen bis zu 90 % der Präparate off label zum Einsatz; vgl. im Einzelnen dazu Bücheler/Schwoerer/Gleiter, BundGesBl. 2003, 467 ff. Je nach Art der Erkrankung 70 % bis 90 %; der Off-Label-Use ist hier der Standard; Weißbach/Boedefeld, Off-Label-Verordnungen in der Onkologie, BundGesBl. 2003, 462 ff. Freund, PharmaR 2004, 275 ff. (299).
Der „Off-Label-Use“ von Fertigarzneimitteln
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darüber, wann ein Arzneimittel off label eingesetzt wird, erheblich auseinander. Der Begriff selbst hat sich im US-amerikanischen Pharmamarkt entwickelt, wo Arzneimittel größtenteils die entsprechenden Informationen durch den pharmazeutischen Unternehmer lediglich auf den Etiketten tragen, die unmittelbar auf der Primärverpackung aufgebracht sind. Gerade im Bereich der OTC-Präparate sind in den USA Packungsbeilagen oder Umverpackungen regulatorisch nicht vorgeschrieben. „Off-Label-Use“ bedeutet in diesem Zusammenhang also, dass ein Arzneimittel außerhalb der genehmigten Anwendungsgebiete (Indikationen) – wie sie auch in den Informationstexten aufgeführt sind – bei Patienten Anwendung findet.
1. Verlassen des Indikationsgebietes Eindeutig liegt ein Fall der Zulassungsüberschreitung vor, wenn die durch den Zulassungsbescheid formulierte Indikation oder das Indikationsgebiet verlassen wird. Das zulassungsbezogene Indikationsgebiet bestimmt sich nach dem Antrag des pharmazeutischen Unternehmers und den mit dem Antrag eingereichten Unterlagen. Nach § 22 Absatz 1 Nr. 6 AMG soll der Antrag die Anwendungsgebiete, für die die Zulassung beantragt wird, beinhalten. Das BfArM prüft die Unterlagen nur in Bezug auf den eingereichten Antrag und muss die Zulassungsentscheidung auf diese Kriterien beschränken; eine Zwangszulassung oder Zulassungserweiterung von Amts wegen ist dem deutschen Recht fremd. Bisweilen wird bezweifelt, ob auch der Einsatz eines Arzneimittels abweichend von der genehmigten Darreichungsform oder den Anwendungsmodalitäten6 einen „Off-Label-Use“ darstellt. Ein enges Begriffsverständnis setzt etwa bei den gesetzlichen Änderungsmöglichkeiten des § 29 AMG an; nur Änderungen, die eine Verpflichtung zur Neuzulassung für den pharmazeutischen Unternehmer nach § 29 Abs. 3 AMG zur Folge hätten,7 unterfielen dann dem „Off-Label-Use“.8 Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass Grundlage der Unterscheidung dann ein komplexer Gesetzestext mit einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe,9 einem geringen Erkenntniswert und ohne Hilfestellung für den behandelnden Arzt wäre. Das Bundessozialgericht hat eine genauere Begriffsfestlegung bislang vermieden.10 6
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Etwa Abweichungen vom Dosierungsschema, dem Anwendungsintervall, dem Applikationszweck, der Kontraindikation oder der Kombination mit anderen Arzneimitteln. Auch die der Indikation entsprechende Anwendung eines Präparats bei Kindern – ohne dass eine Anwendung bei Kindern vorgesehen wäre – fiele darunter. Hierzu gehört insbesondere eine Erweiterung der Anwendungsgebiete über § 29 Abs. 2 a Nr. 1 AMG hinaus. Dierks, Gesetzliche Rahmenbedingungen und die Leistungsgrenzen der GKV für die Arzneimitteltherapie, in: Glaeske/Dierks, Off-Label-Use, Weichenstellung nach dem BSG-Urteil 2002, S. 56. Zutreffend v. Harder, Arzneimittel & Recht 3/2007, 99 ff. In der „Sandoglobulin“-Entscheidung – Urteil v. 19. 03. 2002, BSGE 89, 184 ff. – betont das BSG die wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit des pharmazeutischen Unternehmers, ggf. eine Zulassungserweiterung für weitere Anwendungsgebiete zu beantra-
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2. „Unlicensed Use“ Unter „Unlicensed Use“ ist demgegenüber die Anwendung eines Arzneimittels zu verstehen, das bislang über keine Zulassung11 verfügt.12 Ein solches Präparat ist nach dem Wortlaut des § 21 Abs. 1 AMG nicht verkehrsfähig, darf somit vom pharmazeutischen Unternehmer nicht in Verkehr gebracht werden. Grundsätzlich kommt allerdings die Versorgung von Patienten mit derartigen Arzneimitteln im Wege eines Individualimports nach § 73 Abs. 3 AMG in Betracht.13 Dafür ist freilich Voraussetzung, dass derartige Arzneimittel im jeweiligen Ausfuhrstaat verkehrsfähig sind, von einer deutschen Apotheke bestellt werden und nur in geringen Mengen auf besondere Bestellung einzelner Personen bezogen und abgegeben werden. Eine Kostenerstattung zu Lasten der GKV scheidet in aller Regel aus.14 Durchbrechungen sind nach neuerer Rechtsprechung15 allenfalls dann denkbar, wenn der Krankheitsverlauf ohne den Einsatz des nicht zugelassenen Arzneimittels den tödlichen Ausgang schon in näherer, wenn auch ggf. noch nicht genau absehbarer Zeit erwarten lässt. Ein langer Krankheitsverlauf bietet hingegen aufgrund der typischerweise voranschreitenden medizinischen und pharmakologischen Erkenntnisse Aussicht auf zukünftige Therapieoptionen. Die mit Blick auf den grundgesetzlichen Lebens- und Gesundheitsschutz gebotene verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen des Krankenversicherungsrechts kommt mithin nur dann in Betracht, wenn beim Patienten eine notstandsähnliche Situation mit einem der Lebenserhaltung dienenden, akuten Behandlungsbedarf vorliegt.16
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gen; dies könnte in Richtung eines engen Begriffsverständnisses interpretiert werden. In einer späteren Entscheidung – BSG Urt. v. 26. 09. 2006, Az. B I KR 1/06 – Ilomedin – ergibt sich die Begründung für die Zulassungsüberschreitung sowohl aus der nicht zugelassenen Indikation als auch aus der nicht zugelassenen Darreichungsform. Es liegen weder eine nationale Zulassung nach §§ 21 ff. AMG noch die Anerkennung einer in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft erworbenen Zulassung (Mutual Recognition Procedure bzw. Decentralized Procedure gem. § 25 b Abs.2 und Abs. 3 AMG i. V. m. Art. 8, 28 ff. RL 2001/83/EG) noch eine zentrale europäische Zulassung durch die EMEA gem. VO (EG) Nr. 726/2004 vor. Vereinzelt wird der Begriff im Sinne der vorgenannten weiten Off-Label-UseDefinition verwendet, d. h. bei Anwendungsmodifikationen, die nicht zustimmungspflichtige Änderungsanzeigen nach § 29 Abs. 1 AMG darstellen, z. B. SchroederPrintzen/Tadayon, Die Zulässigkeit des Off-Label-Use nach der Entscheidung des BSG vom 19. 03. 2002, SGb 12/2002, 664 ff. Hauck, A & R 4/2006, 147 ff. (152). BSG PharmaR 2005, 211 ff.: Kostenübernahme für Immucothel, das zur Verringerung der Rezidivrate bei Harnblasenkarzinomen eingesetzt wird; die Zulassung bestand lediglich in den Niederlanden. BSG, Urt. v. 14. 12. 2006 – Az. B 1 KR 12/06 R. Dazu unten IV. 2.
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3. „Compassionate Use“ Als gesetzliche Ausnahmeregelung, nach der es einer Zulassung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels nicht bedarf, nennt § 21 Abs. 2 Ziffer 6 AMG den „Compassionate Use“17. Es handelt sich um die Bereitstellung eines nicht marktreifen Arzneimittels aus humanitären Gründen. Grundsätzlich durfte schon bisher ein (noch) nicht zugelassenes Arzneimittel auch jenseits klinischer Prüfungen unter dem Gesichtspunkt des rechtfertigenden Notstands bei Schwerstkranken angewendet werden, um einer wesentlichen Verschlechterung der Gesundheit oder der Gefahr des Todes entgegenzuwirken.18 Die Regelung ist durch das 14. AMGÄnderungsgesetz19 – inhaltlich vergleichbar mit Art. 83 der VO (EG) Nr. 726/2004 – neu ins nationale Recht aufgenommen worden und erlaubt jetzt strengrechtlich einen „Compassionate Use“ als ultima ratio: Neben dem Fehlen einer Therapiealternative und dem europarechtlich vorgegebenen Schweregrad der Erkrankung wird der Nachweis gefordert, dass das betreffende Arzneimittel entweder Gegenstand eines Zulassungsantrags oder Gegenstand einer noch nicht abgeschlossenen klinischen Prüfung ist. Damit ist eine Ersterprobung am Menschen im Rahmen eines Compassionate Use ausgeschlossen. Im Falle der Erprobung im Rahmen einer klinischen Prüfung muss diese nahezu abgeschlossen sein, um zu gewährleisten, dass ausreichende Unterlagen zur Dokumentation von Wirksamkeit, Sicherheit und Qualität des Arzneimittels vorliegen. Die vom CHMP der EMEA erstellte Richtlinie zum „Compassionate Use“ stellt klar, dass damit keinesfalls eine klinische Prüfung ersetzt werden kann.20 Bislang liegt die konkretisierende Rechtsverordnung nach § 80 AMG erst im Entwurf vor. Deshalb hat das BfArM derzeit noch keine Befugnis, über „Compassionate Use“-Programme zu entscheiden. Es werden seitens des BfArM lediglich empfehlende Hinweise gegeben, die aus Sicht der Zulassungsbehörde vor der Durchführung eines solchen Programms erfüllt sein sollten: • Vorliegen eines Nachweises, dass die Patienten an einer lebensbedrohenden oder zu einer schweren Behinderung führenden Krankheit leiden; • Vorliegen eines Nachweises, dass es keine zufriedenstellende alternative Therapiemöglichkeit mit einem in der EU zugelassenen Arzneimittel gibt; • Vorliegen des Nachweises, dass das betreffende Arzneimittel entweder Gegenstand eines Zulassungsantrags oder Gegenstand einer noch nicht abgeschlossenen klinischen Prüfung ist;
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Gelegentlich findet sich auch der Begriff „Named Patient Programme“, MDSMedizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen, Gemeinsame Hinweise zur Einordnung von Arzneimitteln in der Erprobung, Stand 01. 07. 2003, S. 15 f. Deutsch, Die Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren als Rechtsproblem, MedR 2001, 435, 437. BGBl. 2005 I S. 2570. Guideline on Compassionate Use of Medical Products Pursuant to Art. 83 of Reg. No. 726/2004 [19.07.2007], EMEA Doc. 27170/2066, abrufbar über www.emea.europa.eu/ pdfs/human/euleg/2717006/enfin.pdf.
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• Berücksichtigung der EMEA-Guideline on Compassionate Use (EMEA Doc. 27170/2066); • zum Nachweis einer Wirksamkeit in der vorgesehenen Indikation und der Sicherheit der Behandlung Existenz geeigneter Dokumente, z.B. aktuelle „Investigator’s Brochure“ (Prüferinformation) mit den für die Anmeldung relevanten nicht-klinischen Daten (Studiendaten); • Definition von Ein- und Ausschlusskriterien sowie ggf. Abbruchkriterien für das „Compassionate Use“-Programm; • Maßnahmen zur Pharmakovigilanz im „Compassionate Use“-Programm.
III. Haftungsrechtliche Einkleidung des „Off-Label-Use“ Aus Patientensicht stellt sich die Frage, gegen wen im Falle von Arzneimittelschäden, die aufgrund eines off-label verwendeten Präparates eintreten, Schadensersatzansprüche bestehen. Sofern sich der Patient gegen den pharmazeutischen Unternehmer wenden könnte, bestünde für ihn im Rahmen der §§ 84, 84 a AMG der Vorteil der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung, die auch Schmerzensgeld erfasst. Für den Unternehmer würde die arzneimittelrechtliche Verantwortlichkeit für den zulassungsüberschreitenden Einsatz seines Präparates hingegen einen wesentlichen zusätzlichen Kostenfaktor bei seiner Preiskalkulation darstellen.
1. Haftung des pharmazeutischen Unternehmers Soweit ersichtlich, ist es bislang noch zu keiner (Gefährdungs-) Haftung eines pharmazeutischen Unternehmers im Rahmen des Off-Label-Use gekommen. Gleichwohl ist die Fragestellung nicht lediglich theoretischer Natur: So hat der Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung der Leitentscheidung des Bundessozialgerichtes vom 19. März 200221 mit der Schaffung des § 35 b Abs. 3 SGB V Wissenschaft und Verwaltung verpflichtet, sich fortlaufend um valide Feststellungen zum jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Anwendung von zugelassenen Arzneimitteln für Indikationen und Indikationsbereiche, für die sie nach dem Arzneimittelgesetz nicht zugelassen sind, zu bemühen. Die daraufhin beim BfArM eingerichteten Expertengruppen22 "Anwendung von Arzneimitteln außerhalb des zugelassenen Indikationsbereiches" bereiten das verfügbare wissenschaftliche Erkenntnismaterial auf, um sodann Empfehlungen an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) im Hinblick auf eine Änderung der für die Erstattung relevanten Arzneimittelrichtlinien abzugeben. Die Bewertung, ob die Anwendung eines Präparates jenseits des zugelassenen Anwendungsbereichs dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entspricht, kann nur erfolgen, wenn und 21 22
„Sandoglobulin“ – BSG v. 19. 03. 2002 – B 1 KR 37/00 R, BSGE 89,184 ff. Es existieren drei Off-Label-Expertengruppen, die beim BfArM angesiedelt sind: Die Expertengruppe Onkologie, die Expertengruppen Neurologie und Infektiologie/HIV.
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soweit der pharmazeutische Unternehmer dieser Anwendung des Arzneimittels als „bestimmungsgemäßer Gebrauch“ im Sinne des § 84 AMG zustimmt. a) „Bestimmungsmäßiger Gebrauch“ gemäß § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG ? Nach § 84 Abs. 1 AMG ist ein pharmazeutischer Unternehmer zum Schadensersatz gegenüber dem Geschädigten verpflichtet, wenn infolge der Anwendung eines zum Gebrauch beim Menschen bestimmten Arzneimittels, das durch den Unternehmer im Geltungsbereich des AMG in Verkehr gebracht und an den Verbraucher abgegeben wurde und das der Pflicht zur Zulassung unterliegt oder durch Rechtsverordnung von der Zulassung befreit wurde, ein Mensch getötet oder Körper oder Gesundheit eines Menschen nicht unerheblich verletzt worden ist. Der Tatbestand knüpft damit an die Gefahrenquelle „Inverkehrbringen eines Arzneimittels“ an und weist die dadurch entstehenden Haftungsrisiken dem Unternehmer als Träger der Gefahrenquelle zu. Pharmazeutischer Unternehmer ist nach der Legaldefinition des § 4 Abs. 18 AMG der Inhaber der Zulassung oder Registrierung und auch derjenige, der Arzneimittel unter seinem Namen in Verkehr bringt. Der Begriff Inverkehrbringen wird in § 4 Abs. 17 AMG weit gefasst: Hierzu gehört zunächst der Verkauf und die sonstige Abgabe von Arzneimitteln, aber auch bereits das Vorrätighalten, das Feilhalten und Feilbieten von Arzneimitteln sowie die Abgabe von Arzneimitteln an andere. Als pharmazeutischer Unternehmer und damit Anspruchsgegner kommt daher je nach Einzelfall der Zulassungsinhaber, der Parallelimporteur oder auch ein Mitvertreiber neben dem Zulassungsinhaber in Betracht. Das zentralisierte Zulassungsverfahren bei der EMEA nach den Regeln der EG-Verordnung Nr. 726/2004 kennt den Begriff des pharmazeutischen Unternehmers nicht. Aus diesem Grunde unterfallen zentral zugelassene Arzneimittel dem Haftungsregime des § 84 AMG nur dann, wenn der für das Inverkehrbringen Verantwortliche, d. h. der Zulassungsinhaber, das Arzneimittel mit einer Kennzeichnung und Aufmachung in Verkehr gebracht hat, die es in Deutschland verkehrsfähig machen, insbesondere mit der Beschriftung in deutscher Sprache.23 Demgegenüber bringt ein Arzt, der mit der zulassungsüberschreitenden Anwendung eines Arzneimittels beim Patienten eine weitere Gefahrenquelle unmittelbar eröffnet, nach ganz überwiegender Auffassung24 das Präparat nicht „in den Verkehr“: Eine Abgabe an andere im Sinne des § 4 Abs. 17 AMG setzt voraus, dass die tatsächliche Verfügungsgewalt über eine Sache vom bisherigen Berechtigten auf einen anderen übergeht, ohne dass die Sacheigenschaft verloren geht.25 Dies ist bei angewendeten Arzneimitteln regelmäßig nicht der Fall. Ob die Voraussetzungen des § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG (fehlerhafte Arzneimittelherstellung oder -entwicklung) erfüllt sind, hängt im Wesentlichen davon ab, ob die zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels als bestim23 24
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Rehmann, Kommentar zum AMG, § 84 Rz. 3; Koenig/Müller, MedR 2008, 190 (193). Pabel, NJW 1989, 759 ff.; Rehmann, Kommentar zum AMG, § 4 Rz. 19; auch BVerwGE 94, 341 ff. (für Tierarzneimittel). Rehmann a. a. O. (Fn. 24).
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mungsgemäßer Gebrauch im Sinne des § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG einzuordnen ist. Das Merkmal „bestimmungsgemäßer Gebrauch“ dient der Abgrenzung der typischen Risiko- und Verantwortungssphären von Hersteller, Arzt und Patient. Es ist im Arzneimittelgesetz an insgesamt 18 Stellen erwähnt, allerdings nicht legaldefiniert. Zur konkreten tatbestandlichen Ausgestaltung dieses Merkmals werden unterschiedliche Auffassungen vertreten. Einigkeit besteht allerdings darin, dass der bestimmungsgemäße Gebrauch jedenfalls auch vom pharmazeutischen Unternehmer festgelegt wird26. Diese Festlegung erfolgt in der Regel schon mit dem Zulassungsantrag und den darin enthaltenen Informationen; sie bilden als allgemeine Merkmale des Arzneimittels (Summary of Product Characteristics, SPC) die Grundlage der Zulassungsentscheidung. Namentlich handelt es sich um das Therapiegebiet, die Indikationen, Dosierungsvorgaben, Art und Dauer der Anwendung, Gegenanzeigen, Nebenwirkungen und Warnhinweise. Andererseits kann der Unternehmer durch die ausdrückliche und eindeutige Nennung von Kontraindikationen den bestimmungsgemäßen Gebrauch – und damit auch sein Haftungsrisiko – beschränken. Nach überwiegender Meinung ergibt sich der bestimmungsgemäße Gebrauch allerdings nicht nur aus den Angaben des Unternehmers, sondern auch aus den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft.27 Findet ein in der Praxis üblicher Arzneimittelgebrauch wissenschaftliche Anerkennung und schließt ein Unternehmer diesen Gebrauch nicht aus, obwohl er ihn kennt oder kennen müsste, so ist auch dieser als „bestimmungsgemäß“ anzusehen. Dies gilt auch für off-labelAnwendungen, sofern sie in der ärztlichen Praxis üblich sind und nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis die begründete Aussicht besteht, dass damit ein Behandlungserfolg erzielt werden kann. Wegen der in § 63 a AMG geregelten Pflicht des pharmazeutischen Unternehmers, über einen Stufenplanbeauftragten systematisch Arzneimittelrisiken zu sammeln, zu erfassen und zu bewerten, werden die Anforderungen an das Kennenmüssen nicht sehr hoch anzusetzen sein. Hiervon abzugrenzen sind die Fälle des „naheliegenden Fehlgebrauchs“. Unter naheliegendem Fehlgebrauch sind Anwendungen zu verstehen, die abweichend von den – ggf. auch unklaren oder unvollständigen – Vorgaben der Packungsbeilage erfolgen und die bei objektiver Betrachtung voraussehbar sind. Sie stellen keine bewusste28, sondern eine versehentliche Fehlanwendung des Arzneimittels dar. Bisweilen wird auch dieser naheliegende Fehlgebrauch als bestimmungsge26
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Krüger, PharmaR 2004, 52; Kloesel/Cyran, Kommentar zum AMG, § 5 Blatt 24 g; Deutsch/Spickhoff, Rz. 1512; Sander, Kommentar zum AMG, § 84 Anm. C 13; Kullmann, PharmaR 1981, 113 ff.; Göben, Arzneimittelhaftung und Gentechnikhaftung (1995), S. 77 f.; Papier, Der bestimmungsgemäße Gebrauch der Arzneimittel (1980), S. 12 ff., 53, vertritt die Auffassung, dass neben den Unternehmerangaben auch die allgemeine Verkehrsauffassung maßgeblich sei. Kloesel/Cyran, § 5 Blatt 24 g; Rehmann, § 84 AMG Rz. 1; Koenig/Müller, MedR 2008, 192 (195); Kempe-Müller, Der bestimmungsgemäße Gebrauch von Arzneimitteln gem. § 84 AMG (2008), S. 43 f.; Besch, Produkthaftung für fehlerhafte Arzneimittel (2000), S. 52. Bewusst bestimmungswidriger Fehlgebrauch – z. B. suchtbedingte Fehldosierung – schließt eine Haftung des pharmazeutischen Unternehmers nach § 84 AMG aus, Vogeler, MedR 1984, 18 (20); BGH NJW 1972, 2217, 2221 (Estil).
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mäßer Gebrauch angesehen.29 Richtigerweise wird man diese Fälle jedoch unter die Instruktionsfehler im Sinne des § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AMG fassen.30 Für die Einbeziehung des wissenschaftlich anerkannten Off-Label-Use in den bestimmungsgemäßen Gebrauch spricht, dass der pharmazeutische Unternehmer auch nach der Zulassung für die Verkehrsfähigkeit seines Präparates verantwortlich bleibt. Dies wird durch § 25 Abs. 10 AMG ausdrücklich bestimmt. Ihn trifft, wie jeden anderen Hersteller eines risikobehafteten Produkts, eine Nachmarktbeobachtungspflicht.31 Sie bezieht sich grundsätzlich auch auf das Anwendungsspektrum: Der Unternehmer muss fortlaufend ermitteln, ob sein Arzneimittel den Gebrauchs- und Fachinformationen entsprechend angewendet wird. Stellt er einen indikationsfremden Einsatz fest, liegt es an ihm, dies durch geeignete Maßnahmen zu unterbinden, etwa mit Warnhinweisen in der Fach- und Gebrauchsinformation, der Aufnahme der Off-Label-Anwendung als Kontraindikation oder mit „RedHand-Letters“ zu reagieren. Unterlässt er dies und duldet – z. B. aus wirtschaftlichen oder regulatorischen Gründen – die Zulassungsüberschreitung, wäre die Berufung auf die begrenzte Zweckbestimmung jedenfalls rechtsmissbräuchlich.32 Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Zustimmung des pharmazeutischen Unternehmers zur Bewertung der wissenschaftlichen Erkenntnisse im Rahmen eines Off-Label-Use keine zwingende Voraussetzung der Gefährdungshaftung nach § 84 AMG ist. Die Soll-Vorschrift über die Zustimmung des pharmazeutischen Unternehmers in § 35 Abs. 3 S. 3 SGB V hat damit lediglich eine deklaratorische Wirkung und die Funktion einer Beweissicherung. Ist der Beweis über die Kenntnis des pharmazeutischen Unternehmers eindeutig anderweitig erbracht, kann die Zustimmung auch entfallen. Im Extremfall könnte die Bewertung zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis eines bestimmten Off-Label-Use sogar gegen den Willen des pharmazeutischen Unternehmers durchgeführt werden:33 Dies wäre etwa denkbar, wenn ein Arzneimittel dringend für eine größere Patientenzahl mit lebensbedrohlichen Erkrankungen benötigt wird, keine andere Therapie möglich ist und voraussichtlich die von der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen eines Off-Label-Use hinsichtlich der wissenschaftlichen Erkenntnisse erfüllt werden. Die Kenntnis des pharmazeutischen Unternehmers vom Off-Label-Use kommt spätestens mit dem Ersuchen um Zustimmung zustan-
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Wolter, ZRP 1974, 260, 262; Räpple, Das Verbot bedenklicher Arzneimittel (1991), S. 62 f. So z. B. Koenig/Müller, MedR 2008, 190 ff. (195). Krüger, PharmaR 2004, 52 ff.; Franken, A&R 2006, a. a. O.; Meyer/Grunert, PharmaR 2005, 205 ff. Deutsch/Spickhoff, Rz. 1135 (die in der Sache einen objektiv bestimmungswidrigen Gebrauch bejahen); kritisch zum Gedanken der unzulässigen Rechtsausübung Krüger, PharmaR 2004, 52 ff. Dieses Szenario ist eher theoretischer Natur: In aller Regel wird die Zustimmung im Rahmen der wissenschaftlichen Aufbereitung durch die Expertengruppen erteilt; die Haftpflichtversicherungsbedingungen der pharmazeutischen Unternehmer sind angepasst worden und erfassen den wissenschaftlich aufbereiteten Off-Label-Use als bestimmungsgemäßen Gebrauch.
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de. Seine Haftung könnte er nur verhindern, wenn er den Off-Label-Use aktiv und ausdrücklich, z.B. durch Aufnahme einer Kontraindikation, ausschließt.34 b) Unvertretbarkeit schädlicher Wirkungen Wann die schädlichen Wirkungen eines bestimmungsadäquat eingesetzten Arzneimittels über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen, bestimmt sich nach einer Nutzen-Risiko-Abwägung im Einzelfall. Es ist zu prüfen, ob die schädlichen Wirkungen eines Arzneimittels, wenn sie bei seinem Inverkehrbringen bereits bekannt gewesen wären, im Lichte des damaligen Arzneimittelangebots hätten in Kauf genommen werden dürfen. Mit der Unvertretbarkeitsprüfung wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Arzneimittel grundsätzlich hinnehmbare Nebenwirkungen haben können. Der Haftungsgrund des § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AMG korrespondiert mit dem Zulassungsversagungsgrund des § 25 Abs. 2 Nr. 5 AMG und dem Rücknahmegrund des § 30 Abs. 1 AMG. In die Nutzen-Risiko-Abwägung sind ökonomische Aspekte, insbesondere der Preis des Arzneimittels, nicht mit einzubeziehen. Denn der Arzt ist nicht verpflichtet, auf die Anwendung eines teureren Arzneimittels mit geringerem Nebenwirkungsrisiko zu verzichten, wenn für dasselbe Krankheitsbild ein kostengünstigeres Arzneimittel mit höherem Unsicherheitsfaktor für Nebenwirkungen erhältlich ist. Speziell vor diesem Hintergrund wird die aktuelle Diskussion um die medikamentöse Behandlung der altersbedingten neovaskulären („feuchten“) Makuladegeneration (AMD) geführt. AMD ist eine Netzhauterkrankung, die überwiegend ab dem 50. Lebensjahr auftritt. Sie führt zu einem Verlust der zentralen Sehkraft, weil Sinneszellen an der Makula im Zentrum der Netzhaut zerstört werden. Die Zerstörung erfolgt durch krankhafte Blutgefäßwucherungen unterhalb der Netzhautmitte. Als Behandlungsoptionen steht neben einer thermischen (Laserkoagulation) und einer photodynamischen auch eine medikamentöse Therapie mit gefäßwachstumshemmenden Substanzen zur Verfügung. Mit dem Präparat Lucentis® steht ein Wirkstoff (Ranibizumab) zur Verfügung, der gegen die feuchte AMD in den USA sowie in Europa zugelassen ist. Ranibizumab wurde aus dem Wirkstoff Bevacizumab entwickelt, der in dem Arzneimittel Avastin® verwendet wird. Avastin® ist arzneimittelrechtlich für die Anwendungsgebiete der First-Line-Behandlung von Patienten mit metastasierendem Kolon- oder Rektumkarzinom und mit metastasierendem Mammakarzinom zugelassen. Eine Zulassung für die Behandlung der AMD ist seitens des Herstellers nicht beabsichtigt. Im Jahre 2005 berichtete eine universitäre Arbeitsgruppe von der Austrocknung der Makuladegeneration mit dem Wirkstoff Bevacizumab. Aufgrund des vergleichbaren Wirkungsansatzes wird dieser Wirkstoff in Fachkreisen seitdem als alternative Behandlungsmethode bei AMD im Off-Label-Use diskutiert. Nicht auszuschließen ist, dass mit der Behandlung von AMD durch Avastin® ein erhöhtes Risiko für Infektionen am Auge sowie eine Schädigung der Retina einhergeht. Eine einschlägige Head-to-Head-Studie ist noch nicht abge34
Buchner/Jäkel, PharmaR 2003, 433 (436).
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schlossen. Sollte sich erweisen, dass die Therapie der AMD mit Avastin® zwar zu einer Sehverbesserung führt, dass aber – anders als beim indikationsspezifisch zugelassenen Präparat Lucentis® – zugleich ein erhöhtes Risiko für eine Retinaschädigung oder eine Augenverletzung besteht, ergäbe die Nutzen-RisikoAbwägung, dass der „therapeutische Wert“ von Avastin® dessen „schädliche Wirkungen“ bei der Off-Label-Indikation „AMD“ nicht überwiegt. Dabei wäre unbeachtlich, dass eine Injektion von Lucentis® etwa 30mal so teuer ist wie eine Injektion von Avastin®.35 c) Sonstige Haftungsgründe Daneben kommt die Gefährdungshaftung wegen Instruktionsfehlers gem. § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AMG im Rahmen des Off-Label-Use in Betracht. Maßgeblicher Beurteilungszeitraum für den letzten medizinischen Erkenntnisstand ist nicht der Zeitpunkt des erstmaligen Inverkehrbringens, sondern der Zeitpunkt des Inverkehrbringens des konkret angewandten Arzneimittels selbst.36 Dies gilt auch für Risiken im Zusammenhang mit einer zulassungsüberschreitenden Anwendung. Besteht also nach den neuesten medizinischen Erkenntnissen konkreter Anlass zu einem nicht unerheblichen Risiko für schädliche Nebenwirkungen im Off-LabelUse, ist der pharmazeutische Unternehmer gehalten, in seiner Produktinformation auf diese Risiken – ausdrücklich auch in Verbindung mit der zulassungsüberschreitenden Anwendung – hinzuweisen. Kommt er seinen entsprechenden Warnund Informationspflichten nach, so liegen die auf der Gesundheitsverletzung beruhenden Schäden nicht im Schutzbereich der Norm. Eine bloße öffentliche Mitteilung, die Zulassung werde nicht erweitert, genügt dabei nicht. Schließlich besteht die verschuldensunabhängige Produzentenhaftung gem. § 823 ff. BGB. Zwischen beiden Haftungstatbeständen besteht gem. § 91 AMG echte Anspruchskonkurrenz. Soweit eine arzneimittelbedingte Schädigung bereits von § 84 AMG erfasst ist, verdrängt § 84 AMG eine verschuldensunabhängige Produkthaftung nach dem Produkthaftungsgesetz, § 15 Abs. 1 ProdHG.
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Dazu „Schuss ins Auge“, DIE ZEIT v. 08. 05. 2008; bemerkenswerterweise hat das SG Düsseldorf mit Beschluss vom 23. 08. 2007 (Az. S 2 KA 104/07 ER) einen Antrag des Herstellers von Lucentis® auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen. Angefochten war ein Vertrag zwischen dem Verband der chirurgischen Augenärzte in NRW und einzelnen GKV, der die Versorgung und Kostenerstattung bei AMD mit Avastin® zum Gegenstand hatte. In dem vom Vertragsarzt gegenüber dem Patienten zu verwendenden Aufklärungs- und Einwilligungsformular wurden Avastin® und Lucentis® vorgestellt und – auch unter Kostenaspekten – bewertet. Auf den off-labelCharakter einer möglichen Behandlung mit Avastin® wurde hingewiesen. Der Antragsteller sah hierin einen zivil-, wettbewerbs- und kartellrechtlich unzulässigen Totalboykott seines Präparats. Anders das SG Düsseldorf: Dass die Willensbildung von Arzt und Patient durch die Bezifferung der Kosten für die Medikamente gesteuert werden soll, sei ein legitimes Anliegen der Vertragspartner. BGH NJW 1989, 1542; OLG Stuttgart VersR 1990, 631.
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2. Die Haftung des Arztes Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes für den zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln bleibt von § 84 AMG unberührt. Das Haftungsrisiko liegt sogar allein bei ihm, sofern eine Haftung des pharmazeutischen Unternehmers ausscheiden sollte. Die vertragliche und deliktische im Hinblick auf das Pflichtenprogramm aneinander gerückte Haftung nimmt den im Zeitpunkt der ärztlichen Behandlung geltenden Standard in den Blick: An diesem Standard muss der Arzt seine Arzneimittelauswahl ausrichten; der Standard konkretisiert seine Therapiefreiheit. Standard ist, was auf dem betreffenden Fachgebiet belegbar dem gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht, z. B. basierend auf Erkenntnissen aus kontrollierten Studien, langjähriger Praxiserfahrung im Ausland, qualitätssichernden Leitlinien37 oder Therapieempfehlungen, darüber hinaus, was in der medizinischen Praxis zur Behandlung der jeweiligen gesundheitlichen Störung allgemein anerkannt ist.38 Dies lässt den Konflikt deutlich werden, dem ein Arzt in der Off-LabelTherapie stets unterliegt: Die arzneimittelrechtliche Zulassung lässt nur Rückschlüsse auf die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit eines Arzneimittels im Hinblick auf die vom Hersteller im Zulassungsantrag genannten Anwendungsgebiete zu. Die zulassungsüberschreitende Anwendung entspricht dann - und nur dann - dem medizinischen Standard, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das off label eingesetzte Präparat sowohl für das jeweilige Therapiegebiet als auch für die betreffenden Indikationen zugelassen werden kann, und wenn es in der medizinischen Praxis zur Behandlung der jeweiligen gesundheitlichen Störung anerkannt ist. Davon kann nach der Rechtsprechung nur für zwei Konstellationen ausgegangen werden: Entweder ist eine Erweiterung der Zulassung des jeweiligen Arzneimittels bereits beantragt und es sind die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht, die eine klinisch relevante Wirksamkeit bzw. klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. Oder es sind außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Ergebnisse veröffentlicht, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen. Dabei muss in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne bestehen.39 Vor einem zulassungsüberschreitenden Einsatz hat der Arzt sämtliche Informationsquellen sorgfältig auszuschöpfen, um eine umfassende Nutzen-Risiko-Abwägung vornehmen zu können. In aller Regel kann er auf seine unmittelbar fachgebietsbezogenen Erfahrungen hinsichtlich der Nebenwirkungen, Gegenanzeigen und Wechselwirkungen bzw. auf Erfahrungswerte hinsichtlich altersgebundener Spezifika der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik nicht zurückgreifen. Trifft also der Arzt gleichwohl eine Entscheidung zugunsten des Off-Label-Use allein aufgrund von Einzelfallbeobachtungen und Einzelfallerfahrungen oder auf der Basis von Veröffentlichungen 37 38
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Differenzierend OLG Naumburg MedR 2002, 471. v. Hirschfeld/Stampehl, in Ehlers/Broglie (Hrsg.), Arzthaftungsrecht (2005), Rz. 69 f.; Palandt/Sprau, Kommentar zum BGB (2008), § 823 Rz. 135. BSGE 89, 184 ff.; dazu unten IV. 2.
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mit unzureichenden Aussagen über den wissenschaftlichen Stand, genügt dies nicht den Anforderungen an einen gesicherten medizinischen Standard. Er handelt dann sorgfaltswidrig. Mit Blick auf die Einwilligung und Aufklärung des Patienten sowie auf die ärztliche Dokumentation gelten die allgemeinen Prinzipien des Arzthaftungsrechts.40 Dass auch bei der Verschreibung von Arzneimitteln eine ärztliche Aufklärungspflicht besteht, die sich auch auf die Risiken und Nebenwirkungen erstreckt, hat der BGH41 ausdrücklich klargestellt. Auch über den Off-Label-Use ist explizit aufzuklären, da dem Arzneimittel gerade das „Gütesiegel“42 der Zulassung fehlt, welches – unabhängig von der tatsächlichen Qualität oder Sicherheit – für die Einwilligung des Patienten maßgeblich sein kann. Bei der indikationsfremden Anwendung des Präparates ist die Dokumentationspflicht im Vergleich zur Behandlung mit einem zugelassenen Arzneimittel deutlich gesteigert. So hat der Arzt sämtliche Normabweichungen sorgfältig zu registrieren. Während der pharmazeutische Unternehmer im Zweifel nur die im Rahmen der klinischen Prüfungen aufgetretenen oder bei Nachmarktbeobachtungen ermittelten Risiken kennt, hat der behandelnde Mediziner seltene bzw. bislang unbekannte Auffälligkeiten festzustellen und der zuständigen Bundesoberbehörde anzuzeigen. Verletzt der Arzt seine weitergehende Dokumentationspflicht, kommen dem Patienten Beweiserleichterungen zum Vorliegen eines Behandlungsfehlers zu. Jenseits dessen verbleibt die Pflicht zum Nachweis der Schadenskausalität allerdings beim geschädigten Patienten. Gelingt dies, haftet der Arzt dann freilich auch für die unerwünschten Nebenwirkungen und bislang unbekannten Nebenfolgen: Sie liegen im Schutzbereich des Behandlungsvertrages. Das geringere Maß der Einschätzbarkeit ergibt sich gerade durch die fehlenden therapiegebietsbezogenen klinischen Studien.43
3. Die Haftung des Apothekers Die Verantwortung des Apothekers beim Off-Label-Use wird höchstens ausnahmsweise in Betracht kommen. Ist das Arzneimittel verkehrsfähig, darf es der Apotheker auch abgeben, auch wenn es erkennbar außerhalb der zugelassenen Indikation eingesetzt werden soll. In aller Regel wird der Apotheker die OffLabel-Anwendung schon gar nicht erkennen können, da ärztliche Rezepte keine Diagnosen enthalten. Selbst wenn dies der Fall ist, etwa ein für Kinder nicht zugelassenes Präparat einem Kind verordnet wurde, gilt § 17 Abs. 4 ApBetrO. Danach müssen Verschreibungen vom Arzt unverzüglich ausgeführt werden. Die abgegebenen Arzneimittel müssen den Verschreibungen entsprechen. Der Apotheker hat lediglich die Pflicht, bei Bedenken den verschreibenden Arzt zu konsultieren. Der 40
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Koenig/Müller, MedR 2008, 190 (201); vgl. auch v. Harder, A & R 2007, 99 (104); Kozianka/Hußmann, PharmaR 2006, 457 ff.; Buchner/Jäkel, PharmaR 2003, 433 ff. (437); Freund, PharmaR 2004, 275 ff. (293). BGH NJW 2005, 1716 ff. BGH MedR 1996, 22 ff. („Surgibone“). Koenig/Müller, MedR 2008, 190 (201).
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Apotheker muss eine Abgabe lediglich dann verweigern, wenn das abzugebende Präparat bedenklich im Sinne des § 5 Abs. 1 AMG ist. Bezugspunkt ist hier jedoch die generelle Bedenklichkeit des Arzneimittels, unabhängig von der Indikation.
IV. Die Erstattungsfähigkeit von off-label verordneten Arzneimitteln zu Lasten der GKV 1. Vorgreiflichkeit der Arzneimittelzulassung Die Kostenerstattung im Recht der GKV ist lange Zeit durch die Vorgreiflichkeit der arzneimittelrechtlichen Zulassung geprägt worden. Nach § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit diese in der vertragsärztlichen Versorgung verordnungsfähig sind.44 Die Richtlinien des G-BA45 über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinien) knüpfen den Versorgungsanspruch an die Verkehrsfähigkeit der Arzneimittel nach dem AMG. Nach dieser Systematik ist der Off-Label-Use eine „neue Behandlungsmethode“ im Sinne des § 135 SGB V. Derartigen Methoden, mit denen medizinisches Neuland betreten wird, stand das Bundessozialgericht stets restriktiv gegenüber: In der „Remedacen“-Entscheidung46 wurde die Leistungspflicht der Kassen davon abhängig gemacht, dass der Therapieerfolg aus wissenschaftlich einwandfreien Statistiken ablesbar sei; der Erfolg im Einzelfall war irrelevant. Bestätigt wurde dies im „Jomol“-Urteil47 ebenso wie in der „SKAT“-Entscheidung48. § 135 SGB V wird als „Qualitätssicherungsregelung“ interpretiert, die auch sicherstelle, dass das System der GKV nicht die Arzneimittelforschung finanziere. In den „ASI“Urteilen49 wird ein Kostenerstattungs- bzw. Freistellungsanspruch des Versicherten allenfalls für den Fall eines „Systemversagens“ erwogen, d. h. wenn die fehlende Anerkennung der Außenseitermethode lediglich darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem G-BA nicht oder nicht rechtzeitig durchgeführt wird. Dies müsse allerdings gerichtlich festgestellt worden sein.
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Anders im Bereich der Privaten Krankenversicherung; die PKV-Musterbedingungen definieren die Ansprüche der privat Versicherten wie folgt: „Der Versicherer leistet im vertraglichen Umfang für Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind. Er leistet darüber hinaus für Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis als ebenso erfolgversprechend bewährt haben oder die angewandt werden, weil keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen.“. Ermächtigung gemäß § 92 SGB V. BSG NJW 1996, 2451 ff. – Drogensubstitution. BSGE 82, 233 ff. – Krebstherapeutikum. BSG NJW 2000, 2764 ff. – Autoinjektionstherapie bei erektiler Dysfunktion. BSG SGb 2001, 436 ff.; BSG ZfS 2000, 180 – Immuntherapie bei Nierenkarzinom.
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2. Das „Sandoglobulin“-Urteil50 des BSG Mit seiner Grundsatzentscheidung zur Behandlung von Multipler Sklerose mit Sandoglobulin hat das BSG nunmehr die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der GKV im Falle des Off-Label-Use bestimmt. Eine an multipler Sklerose mit primär chronisch progredienter Verlaufsform erkrankte Patientin klagte auf Erstattung der Kosten für die Behandlung mit dem Präparat Sandoglobulin (ein intravenös zu applizierendes Immunglobulin), das nicht für die MS-Behandlung, sondern für Antikörper-Mangelsyndrome zugelassen ist. Die Klage wurde mit der Begründung abgewiesen, es stehe eine (zugelassene) Behandlungsalternative für diese Verlaufsform der MS mit Betaferon zur Verfügung.
Die drei wesentlichen erstattungsrechtlichen Voraussetzungen für die zulässige Off-Label-Verschreibung formuliert das BSG wie folgt: 1. Es muss sich um eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung) handeln; 2. es darf keine andere Therapie verfügbar sein; 3. aufgrund der Datenlage muss die begründete Aussicht bestehen, dass mit dem betreffenden Präparat ein (kurativer oder palliativer) Behandlungserfolg erzielt werden kann. Dafür müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Hiervon kann dann ausgegangen werden, wenn entweder • die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder • außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Schon die Feststellung der ersten beiden der genannten Voraussetzungen bereitet in der Praxis Schwierigkeiten. Soweit eine Erkrankung nicht als schwerwiegend zu qualifizieren ist, muss der Arzt vom Standpunkt des Sozialrechts aus von einer indizierten medikamentösen Therapie Abstand nehmen, obgleich diese unter Umständen Behandlungsstandard und berufsrechtliche Pflicht sein kann.51 Das BSG hat den Begriff „schwerwiegende Erkrankung“ später dahingehend konkretisert, 50 51
BSGE 89,184 ff. Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2004, 655 (657) unter Hinweis u. a. auf das ärztliche Berufsrecht; Engelmann/Meurer/Verhasselt, NZS 2003, 70.
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dass sich die Erkrankung durch „ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abheben muss“. Abzustellen ist dabei auf die konkreten Therapieziele, nicht auf eine möglicherweise vorhandene oder mitursächliche Grunderkrankung. Ist Therapieziel nicht die Behandlung der schwerwiegenden Grunderkrankung, sondern eine darauf basierende Symptomatik, muss diese die Graviditätsschwelle der schwerwiegenden Erkrankung überschreiten. Bejahend: BSG Urteil v. 26. 09. 200652 – „Ilomedin“: Inhalative Ilomedin-Therapie bei sekundärer pulmonaler Hypertonie bei CREST-Syndrom im Stadium NYHA IV; verneinend: BSG ArztR 2007, 187: „Restless Leg“-Syndrom keine schwerwiegende Erkrankung: keine Off-Label-Anwendung eines Parkinson-Präparates zur Suizidprophylaxe; BSG Urteil v. 04. 04. 200653 – Myopathie wegen MAD-Mangels; LSG Bayern Urt. v. 13. 06. 2006 – ADS/ADHS bei Volljährigen.
Ob eine therapeutische Alternative für den Patienten zur Verfügung steht, ist im Wege einer eher großzügigen Interpretation zu beantworten. Ein zugelassenes Alternativpräparat stellt die Vermutung auf, dass eine Behandlungsalternative besteht.54 Allerdings kann dessen Anwendung wegen schwerer Neben- oder Wechselwirkungen im Einzelfall unzumutbar sein. Die mit der Umstellung auf ein zugelassenes Arzneimittel verbundenen Compliance-Probleme reichen noch nicht aus. Die Datenlage, die eine begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg bietet, ist jedenfalls dann negativ zu beurteilen, wenn das BfArM die Zulassung des Arzneimittels versagt, widerruft, zurücknimmt oder dessen Ruhen anordnet. Gleiches gilt, wenn für das Präparat die Zulassung im zentralen Verfahren bzw. im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung verweigert wird. In der Iloprost/Ilomedin-Entscheidung des BSG hatte der Hersteller bei der EMEA beantragt, Iloprost zur inhalativen Anwendung bei primärer pulmonaler Hypertonie und auch speziellen Formen der sekundären pulmonalen Hypertonie, u. a. der mit Kollagenosen assoziierten Form der pulmonalen Hypertonie im NYHA-Stadium III und IV zuzulassen. Die EMEA erteilte die Zulassung nur für NYHA-Stadium III, versagte sie jedoch für Stadium IV. Diese Teilversagung führte dazu, dass das BSG die Voraussetzungen für die Erstattungsfähigkeit mit Blick auf den nicht hinreichend sicheren voraussichtlichen Behandlungserfolg verneinte. Soweit Erkenntnisse außerhalb eines Zulassungsverfahrens für die Beurteilung des Behandlungserfolgs herangezogen werden, kommt es darauf an, inwieweit valide Studienergebnisse, Publikationen, Leitlinien von Fachgesellschaften, Sachverständigengutachten etc. verfügbar sind. In aller Regel kann ein Vertragsarzt diese Frage nicht im Wege eigener Beurteilung beantworten. Methodisch kommen die Grundsätze der Evidenz-basierten Medizin (EBM) als gesetzlicher Qualitätsmaßstab für den Nachweis der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des 52 53 54
BSGE 97, 112 ff. BSG NZS 2007, 88 ff. Vgl. BSG NJW 2007, 1385 ff. zum äquivalenten Problem der alternativen Behandlungsmethode (Thermotherapie zur Tumorzerstörung).
Der „Off-Label-Use“ von Fertigarzneimitteln
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Arzneimittels zur Anwendung.55 Ziel der EBM ist es, Verfahrensvorgaben für die Evaluation von medizinischen Erkenntnissen zu machen. Als Rangskala kennt sie unterschiedliche Evidenzen, angefangen von der Meta-Analyse kontrollierter Studien bis hin zu ärztlicher Erfahrung.56 Das BSG verlangt in seinem Sandoglobulin-Urteil bewusst eine hohe Evidenzstufe in der Rangskala der EBM. Eine gewisse Abschwächung im Sinne einer verfassungskonformen Rechtsfortbildung ist allerdings durch den sog. NikolausBeschluss57 des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Bei der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung ist für eine Aussicht auf Behandlungserfolg im Einzelfall eine auf Indizien gestützte nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf ausreichend. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG strahlt hier in der Weise aus, dass Ausnahmefälle unerforschbarer58 Krankheiten oder (akut) lebensbedrohlicher Erkrankungen die GKV zur Kostenübernahme auch dann verpflichten können, wenn das Medikament off label oder sogar ohne jede Zulassung eingesetzt wird. In der Praxis sind derartige Fälle freilich selten.59 Um therapeutische Erkenntnisse außerhalb des formalisierten arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens im Sinne einer höchstmöglichen Evidenz verwerten zu können, sind seit dem Jahr 2002 gem. § 35 b Abs. 3 SGB V beim BfArM multidisziplinäre Expertengruppen zur Anwendung von Arzneimitteln außerhalb des zugelassenen Indikationsbereichs eingerichtet worden.60 Einschlägige Gruppen – mit jeweils zeitlich befristetem Mandat – gibt es bislang für die Bereiche Onkologie, Infektiologie mit Schwerpunkt HIV/AIDS und Neurologie/Psychiatrie.61 Die Expertengruppen leiten dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ihre Empfehlungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Off-Label-Use der von ihnen bewerteten Arzneimittel zu. Treffen positive Empfehlung der Gruppe, die Anerkennung dieses Off-Label-Use als „bestim55 56 57
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Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2004, 655 (659). Hart, MedR 2000, 1 ff. BVerfGE 115, 25 ff.: Kostenübernahme für eine Bioresonanztherapie bei Duchenne’scher Muskeldystrophie. BSG, Urt. v. 19. 10. 2004 „Visudyne“: Drohende Erblindung eines Kindes aufgrund eines Koloboms; Erstattungsfähigkeit einer Off-Label-Anwendung von Visudyne nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil Krankheit so selten ist, dass eine systematische Erforschung ausscheidet. Bejaht bei fortgeschrittenem, metastasiertem Karzinom, z. B. BSG NJW 2007, 1380 ff.; LSG NRW, Beschl. v. 05. 03. 2007 (Az. L 1 B 1039/05 KR ER); Multipler Sklerose (LSG Schleswig-Holstein, Urt. v. 31. 01. 2007, Az. L 5 KR 28/06); verneint bei Prostatakarzinom im Anfangsstadium (BSG Urt. v. 14. 12. 2006, Az. B 1 KR 12/06 R); Kardiomyopathie bei Friedreich’scher Ataxie (BSG Urt. v. 14. 12. 2006, Az. B 1 KR 12/06 R) sowie in 20 bis 30 Jahren drohender Erblindung (BSG, Beschl. v. 26. 09. 2006, Az. B 1 KR 16/06 B). Der Bearbeitungsstand der einzelnen Bewertungsaufträge in den jeweiligen Expertengruppen ist abrufbar unter www.bfarm.de. Die Arzneimittel-Richtlinie des G-BA mit der zugehörigen Anlage sowie die Entscheidungsgrundlagen zur Umsetzung der Empfehlungen der Expertengruppen sind abrufbar unter www.g-ba.de.
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mungsgemäßer Gebrauch“ durch den pharmazeutischen Unternehmer und die Aufnahme des Arzneimittels und der Off-Label-Indikation in Teil A der entsprechenden Anlage 962 zur Arzneimittel-Richtlinie (§ 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 SGB V) durch den G-BA zusammen, ist eine Verordnungsfähigkeit zu Lasten der GKV gegeben. Die Bewertung einzelner Indikationen und Präparate ist allerdings sehr arbeits- und zeitaufwendig.
3. Konsequenzen Die Rechtsprechung des BSG löst die Problematik der Verordnungsfähigkeit eines Off-Label-Einsatzes zu Lasten der GKV nach den bisherigen Erfahrungen nur ansatzweise. Dies betrifft zum einen die Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung der vom Gericht vorgegebenen Kriterien, zum anderen aber auch die Frage, ob ein Off-Label-Use ohne Aufnahme in die Arzneimittel-Richtlinien nunmehr ausgeschlossen ist. Bei der Beschlussfassung des G-BA über die ArzneimittelRichtlinien handelt es sich um untergesetzliche Normsetzung, deren Entscheidungsprogramm primär in § 92 SGB V geregelt ist. Für den G-BA dürfte deshalb keine strenge Bindung an die vom Bundessozialgericht entwickelten Ausnahmevoraussetzungen für einen Off-Label-Use von Arzneimitteln bestehen. Der Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts weist die Richtung, inwieweit ein Off-Label-Use jenseits einer positiven Entscheidung des G-BA über die Erweiterung der Arzneimittel-Richtlinien realisiert werden kann. Im Einzelfall wird der betroffene Patient allerdings auch künftig nicht davor bewahrt bleiben, eine Kostenübernahme für eine erstrebte Off-Label-Anwendung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes bei den Sozialgerichten zu erwirken. Im Übrigen sind – gerade auch auf europäischer Ebene – deutliche Anstrengungen erkennbar, eine zumindest partielle Regelung des Off-Label-Use im Arzneimittelrecht selbst vorzunehmen. Dies betrifft namentlich die Kinderarzneimittel: So haben Europäisches Parlament und Rat eine Verordnung über Arzneimittel bei Kindern verabschiedet.63 Danach muss ein Zulassungsantrag für ein neues Arzneimittel nunmehr die Ergebnisse klinischer Studien an Kindern und Jugendlichen enthalten, es sei denn, das Arzneimittel ist für die Anwendung in dieser Gruppe nicht geeignet. Die Anforderungen an die klinische Prüfung sind in einem Forschungs - und Entwicklungsprogramm („PIP – Pediatric Investigation Plan“) niederzulegen. Jedes Prüfkonzept muss dann einem eigens dafür bei der EMEA eingerichteten Ausschuss zur Zustimmung vorgelegt werden. Ausgenommen hiervon sind lediglich homöopathische und traditionelle pflanzliche Arzneimittel. Als Ausgleich für diese neuen Anforderungen werden den pharmazeutischen Unternehmen nunmehr Anreize und Vergünstigungen in Form verlängerter Schutzfristen bei der Vermarktung der Arzneimittel gewährt.
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Stand: 13. 09. 2007. VO (EG) Nr. 1906/2006, ABl. L 378 v. 27. 12. 2006, S. 1 ff.
Nutzen und Risiko in klinischen Prüfungen von Arzneimitteln – Abwägung, Aufklärung, Verfahren
Dieter Hart Im Kapitel „Arzneimittelprüfung“ der 6. Auflage des Medizinrechts schreibt Deutsch1: „Es ist ohne weiteres ersichtlich, dass therapeutischer Fortschritt und Patientenschutz in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander stehen. … Therapeutischer Fortschritt und Patientenschutz sollten einander ergänzen, sich aber nach Möglichkeit nicht behindern.“
Dieses Spannungsverhältnis wird im Recht der klinischen Prüfung von Arzneimitteln als Teil des Arzneimittelforschungsrechts an den Regelungskomplexen Vertretbarkeit der Risiken gegenüber dem Nutzen (Nutzen/Risiko-Abwägung) und der Einwilligung nach Aufklärung (Patienteninformation) sowie dem Verhältnis beider zueinander entweder besonders sichtbar oder es löst sich auf. Der dritte Aspekt der Relationierung ist im Arzneimittelprüfrecht kein ausdrücklicher Regelungsgegenstand, spielt aber in der Praxis der Bewertung von Prüfanträgen durch Ethikkommissionen durchaus eine wichtige Rolle. Der Beitrag konzentriert sich nach einem kurzen schwerpunktbezogenen Überblick über das neue Arzneimittelprüfrecht (I.) und seine Normzentren (II.) auf das Wissen über Nutzen und Risiken (III.) und die Abwägung zwischen beiden (VI.), die durch die Unsicherheit im Wissen und in den Bewertungsmaßstäben gekennzeichnet ist (V.), die partiell durch Verfahrensvorgaben (VI.) und die Patienteninformation „kompensiert“ werden kann (VII.). Die Prüfung von Kinderarzneimitteln ist ein Beispiel für die Bewährung der formulierten Grundsätze (VIII.), die resümierend als Leitlinien formuliert werden (IX.).
1
Deutsch in: Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht – Arztrecht, Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und Transfusionsrecht, 6. Aufl. 2008, Rz. 1295; der zitierte letzte Satz bezieht sich auf Fülgraff, Patientenschutz und therapeutischer Fortschritt, in: Bock/Hofmann (Hrsg.), Arzneimittelprüfung am Menschen – ein interdisziplinäres Gespräch, 1980, 186, 187 f.
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Dieter Hart
I. Neues Recht der klinischen Arzneimittelprüfung „Klinische Prüfung bei Menschen ist jede am Menschen durchgeführte Untersuchung, die dazu bestimmt ist, klinische oder pharmakologische Wirkungen von Arzneimitteln zu erforschen oder nachzuweisen oder Nebenwirkungen festzustellen oder die Resorption, die Verteilung, den Stoffwechsel oder die Ausscheidung zu untersuchen, mit dem Ziel, sich von der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit der Arzneimittel zu überzeugen. Satz 1 gilt nicht für eine Untersuchung, die eine nichtinterventionelle Prüfung ist. Nichtinterventionelle Prüfung ist eine Untersuchung, in deren Rahmen Erkenntnisse aus der Behandlung von Personen mit Arzneimitteln gemäß den in der Zulassung festgelegten Angaben für seine Anwendung anhand epidemiologischer Methoden analysiert werden; dabei folgt die Behandlung einschließlich der Diagnose und Überwachung nicht einem vorab festgelegten Prüfplan, sondern ausschließlich der ärztlichen Praxis.“2
Arzneimittelwirkungsforschung ist der Gegenstand des klinischen Prüfrechts, das durch die GCP-Richtlinie europäisch harmonisiert wurde. Diese ist national insbesondere durch die 12. AMG-Novelle3 sowie die GCP-V4 umgesetzt und mittelbar durch die 14. AMG-Novelle5 ergänzt worden. Eine nicht-interventionelle Prüfung („Anwendungsbeobachtung“) ist arzneimittelrechtlich nicht klinische Arzneimittelprüfung, kann aber durchaus Arzneimittelwirkungsforschung sein. Gegenüber dem früheren Recht gibt es erhebliche, hier nicht vollständig aufgezählte Änderungen: • erstmalige Definition wichtiger Begriffe des klinischen Prüfrechts (klinische Prüfung, § 4 Abs. 23 AMG; Sponsor, § 4 Abs. 24 AMG; Prüfer, § 4 Abs. 25 AMG; verbundenes Risiko, § 4 Abs. 27 AMG; Nutzen-Risiko-Verhältnis, § 4 Abs. 28 AMG; multizentrische klinische Prüfung, § 3 Abs. 1 GCP-V; Prüfplan, § 3 Abs. 2 GCP-V; Einwilligung, § 3 Abs. 2b GCP-V; Ethikkommission, 6 § 3 Abs. 2c GCP-V) ; • „Zulassungspflicht“ für klinische Prüfungen statt der früheren Beratung und Regelung der Verfahren vor den Ethikkommissionen und den Bundesoberbehörden (§ 40 Abs. 1 S. 1, 2 AMG; §§ 42, 42a AMG, §§ 7 – 10 GCP-V);
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§ 4 XXIV AMG; Umsetzung von Art. 2 lit. a und c GCP-RiLi, Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln, ABl. L 121/34 v. 1.5.2001. Zwölftes Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl. I, S. 2031. Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen vom 9. August 2004, BGBl. 2004 Teil I Nr. 42 v. 12. August 2004, S. 2081 ff. Vierzehntes Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 29. August 2005. BGBl. Teil I Nr. 54 v. 5.9.2005; 2570. Die Aufzählung ist nicht vollständig.
Nutzen und Risiko in klinischen Prüfungen von Arzneimitteln
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• Verfahren bei multizentrischen Prüfungen (§ 42 Abs. 1 S. 2 AMG; § 3 Abs. 1, § 7 Abs. 1 S. 4, 5, § 8 Abs. 5 GCP-V); • Einwilligung und Datenschutz (§ 40 Abs. 2a AMG); • Einwilligung von Patienten in Notfallsituationen (§ 41 Abs. 1 S. 2, 3 AMG); • grundsätzliche Regelung zum individuellen Nutzen oder direkten Gruppennutzen als möglicher Legitimation der klinischen Prüfung an Kranken (§ 41 Abs. 1 AMG); • Sonderregelungen für die klinische Prüfung an Minderjährigen (§§ 40 Abs. 4, 41 Abs. 2 AMG) und nicht-einwilligungsfähigen Volljährigen (§ 41 Abs. 3 AMG); • die Einrichtung einer Kontaktstelle für Prüfungsteilnehmer = betroffene Personen (§ 40 Abs. 5 AMG). Die genannten arzneimittelrechtlichen Normen sind im Lichte der GCP-RiLi auszulegen. Das betrifft vor allem die dortigen Normen zum Schutz von Prüfungsteilnehmern, die in Art. 3 Abs. 2 lit. a S. 2 GCP-RiLi eine klare Anweisung zum Erfordernis der Nutzen-Risiko-Abwägung enthalten, die nicht ausdrücklich ins deutsche Recht übernommen wurde, aber interpretatorisch von Bedeutung ist: „Eine klinische Prüfung darf nur beginnen, wenn eine Ethikkommission und/oder die zuständige Behörde zu der Schlussfolgerung kommt, dass der erwartete therapeutische Nutzen und der Nutzen für die öffentliche Gesundheit die Risiken überwiegen, und nur fortgeführt werden, wenn die Einhaltung dieser Anforderung ständig überwacht wird.“
§ 4 Abs. 27, 28, § 25 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 AMG und § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG nehmen das in dieser Eindeutigkeit nicht auf, wenn auch das Überwiegen des Nutzens im deutschen Arzneimittelrecht nach allgemeiner Ansicht Bestandteil der Bilanzierung ist.7 Das Überwachungsmoment kommt in § 40 Abs. 4 Nr. 4 a. E. AMG zum Ausdruck. Jenseits der materiellrechtlichen Präzisierungen und Neuerungen sind vor allem die Verfahrensregelungen von Bedeutung, die das „Zulassungsverfahren“ für klinische Arzneimittelprüfungen einem klaren und straffen Regime unterwerfen, das einen erheblichen Präzisierungsgewinn schafft.8
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Art. 3 Abs. 2 lit. a GCP-RiLi; Kloesel/Cyran, § 40 AMG Anm. 49. Siehe insgesamt insbesondere den ausgezeichneten Leitfaden für Ethikkommissionen von Raspe/Hüppe/Steinmann, Empfehlungen zur Begutachtung klinischer Studien durch Ethik-Kommissionen. Deutscher Ärzteverlag, Köln, 2006.
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II. Normzentren des Prüfrechts Die klinische Arzneimittelprüfung9 ist ein Instrument der Überprüfung der Eigenschaften, besonders der Sicherheit von Arzneimitteln am Menschen. Sicherheit ist im Arzneimittelrecht insbesondere definiert durch die Voraussetzungen Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit. Die positive Sicherheitsbewertung in der klinischen Prüfung ist Voraussetzung für die Feststellung der Verkehrsfähigkeit eines Arzneimittels im Rahmen der Zulassung sowohl auf nationaler wie europäischer Ebene und sowohl im nationalen (§§ 21 II Nr. 2, 22 II Nr. 3, 40 – 42a AMG) wie europäischen Arzneimittelrecht (Art. 6 Abs. 1 VO 726/2004 EWG10 unter Verweis auf insbesondere die in diesem Zusammenhang wichtigen Art. 8 und 10, 10a, 10b, und 11 Richtlinie 2001/83/EG11 und Teil 4 des Anhangs I des Gemeinschaftskodexes) geregelt. § 40 AMG enthält Regelungen (allgemeine Voraussetzungen) für alle klinischen Prüfungen von Arzneimitteln (Menschen = Probanden und Patienten), die in § 41 AMG (besondere Voraussetzungen) für Prüfungen am Patienten (Person, die an einer Krankheit leidet), insbesondere an spezifischen Patientengruppen, ergänzt und spezifiziert werden.12 § 42 AMG enthält Regelungen über das Verfahren bei der Ethikkommission13 und das Genehmigungsverfahren bei der Bundesoberbehörde. § 42a AMG regelt die Rücknahme, den Widerruf und die Anordnung des Ruhens der Genehmigung durch die Bundesoberbehörde. Die GCP-V beruht auf der Ermächtigung des § 42 III AMG und soll insbesondere die Einhaltung der Guten Klinischen Praxis bei der Planung, Durchführung und Dokumentation klinischer Prüfungen am Menschen und der Berichterstattung darüber sicherstellen. Die GCP-V soll gewährleisten, „dass die Rechte, die Sicherheit und das Wohlergehen der betroffenen Person geschützt werden und die Ergebnisse der klinischen
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Die folgenden beiden Absätze sind an Hart, Klinische Arzneimittelprüfung, in: Rieger (Hrsg.), Lexikon des Arztrechts (zukünftig: Rieger/Dahm/Steinhilper (Hrsg.), Heidelberger Kommentar – Arztrecht, Krankenhausrecht, Medizinrecht [HK-AKM]), 2. Aufl. 2002, Stand Mai 2008, BVZ 2880 angelehnt. Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur, ABl. L 136/1 v. 30.4.2004. Richtlinie 2001/83/EG vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, ABl. L 311/67 v. 28.11.2001, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2004/27/EG v. 31. März 2004, ABl. L 136/34 v. 30.4.2004. Siehe Pestalozza, Risiken und Nebenwirkungen: Die klinische Prüfung von Arzneimitteln am Menschen nach der 12. AMG-Novelle, NJW 2004, 3374 ff, 3377 f; Krüger, Rechtliche Grundlagen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln am Menschen, KHuR 2/2005, 24 ff; insgesamt dazu – allerdings altes Recht – Glaeske/Greiser/Hart, Arzneimittelsicherheit und Länderüberwachung, S. 108 ff; Hasskarl/Kleinsorge, Rechtliche und medizinische Voraussetzungen zur Durchführung klinischer Prüfungen von Arzneimitteln, in: Kleinsorge/Steichele/Sander (Hrsg.), Klinische Arzneimittelprüfung, 1987, 25 ff. Insgesamt dazu Deutsch, Das neue Bild der Ethikkommissionen, MedR 2006, 411-416.
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Prüfung glaubwürdig sind.“ (§ 1 Abs. 1 S. 2 GCP-V; Art. 1 Abs. 2 S. 2 GCPRiLi). Im Zentrum dieser Regelungen stehen die • Nutzen/Risiko-Abwägung, die • Einwilligung nach Aufklärung (informed consent) und die • Verfahren der Genehmigung der klinischen Prüfung. Alle drei Bereiche des Prüfrechts enthalten sicherheitsrechtliche Spezifizierungen, die auf die komplexe Unsicherheitssituation der klinischen Arzneimittelprüfung durch legitimatorische Anforderungen reagieren.14 Die arzneimittelrechtliche Nutzen/Risiko-Abwägung besteht aus vier Elementen: • • • •
der Indikation, dem Nutzen, den Risiken und dem absoluten und relativen Vergleich zwischen Nutzen und Risiken.
Der Prozess der Abwägung setzt den Nutzen und die Risiken dieses Arzneimittels in Beziehung zueinander und beide in Beziehung zur Indikation. Nur bei einer positiven Nutzen/Risiko-Bilanz für die angegebene(n) Indikation(en) ist das Arzneimittel unbedenklich.15 Die Situation der zu beginnenden klinischen Prüfung ist durch eine klare Indikation, aber die Unsicherheit über Nutzen und Risiken und über den Vergleich gekennzeichnet. Die Unsicherheit bezieht sich auf das Wissen über Nutzen und Risiken sowie auf ihre Bewertung und Aussagen über den Vergleich lassen sich einigermaßen verlässlich meist erst am Ende der Prüfung machen, insbesondere dann, wenn die Prüfung gegen Standard erfolgte. Die klinische Prüfung soll erst die Informationen schaffen, die bei der Arzneimittelzulassung die positive Aussage wirksam und unbedenklich erlauben, aber trotzdem wird die „Zulassung“ der klinischen Prüfung an die Aussage „Nutzen für die Heilkunde“ oder/und „Nutzen“ oder „direkter Gruppennutzen“ für den Patienten gebunden. Die Qualität dieser Nutzenaussagen beim Beginn der klinischen Prüfung muss deshalb von der Qualität der Nutzenaussage bei der Zulassung ebenso abweichen wie die Qualität der Nutzenaussage in der Pharmakovigilanz. Dasselbe gilt für die Risikoaussagen, für die Bilanzierung und den Vergleich.
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Vgl. insgesamt Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, 2004. Hart, Die Nutzen/Risiko-Abwägung im Arzneimittelrecht - Ein Element des Health Technology Assessment, Bundesgesundheitsblatt GesundheitsforschGesundheitsschutz, 2/2005, 204-214; Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, S. 226 ff.
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III. Nutzen und Risiko: Wissen Am Beginn der klinischen Prüfung neuer Wirkstoffe, also vor der Phase I-Prüfung am Probanden ist das Wissen über einen neuen Wirkstoff des Arzneimittels auf die Ergebnisse der analytischen und der toxikologisch-pharmakologischen Prüfung, mögliche Analogieschlüsse zu vergleichbaren Wirkstoffen und Arzneimitteln, auf durchgeführte (individuelle) Humanexperimente und Heilversuche und darauf basierte Hypothesen beschränkt. In der Qualitätsrangskala der Evidenzbasierten Medizin (EbM)16 sind die Aussagen über die Eigenschaften des Prüfarzneimittels grundsätzlich auf dem letzten Rang (ärztliche [systematische] Beobachtung von Einzelfällen; Expertenmeinungen). Allerdings ist für die unterschiedlichen typischen Ausgangssituationen der Prüfung zu differenzieren. Die folgende Auflistung ist nach absteigendem Wissensschatz geordnet: • Phase IV-Prüfungen17 sind in der Regel durch hochwertiges Wissen über das Arzneimittel aufgrund vorangehender Zulassungsprüfungen der Phasen I – III gekennzeichnet. In der Klassifizierung und Bewertung von Unterlagen gemäß § 18 Abs. 2 G-BA-VerfO18 handelte es sich in der Regel um die Evidenzstufe I b oder I c, also randomisierte kontrollierte Studien oder andere Interventionsstudien oder nach § 18 Abs. 3 G-BA-VerfO der Evidenzstufen I b randomisierte klinische Studien. • Bei Therapieoptimierungsprüfungen (TOP) etwa in der Onkologie19 ist die Ausgangssituation hinsichtlich des Wissens anders als am Beginn dieses Abschnitts als Grundsatz geschildert. Die TOP ist eine vom Zweck her näher eingegrenzte Therapieprüfung: Sie geht von einem vorhandenen Standard aus und zielt auf seine Verbesserung oder seine Evaluation. Geht es um die Optimierung einer Arzneimitteltherapie (z. B. durch eine Dosisänderung eines zugelassenen Arzneimittels), dann handelt es sich um die klinische Prüfung eines 16
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Siehe insgesamt Raspe, Theorie, Geschichte und Ethik der Evidenzbasierten Medizin, in: Kunz/Ollenschläger/Raspe/Jonitz/Donner-Banzhoff (Hrsg.), Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis, 2. Aufl. 2007, S. 15-29 sowie Bertelsmann/Lerzynski/Kunz, Kritische Bewertung von Studien zu therapeutischen Interventionen, ebendort, S. 133-148. Zur Phaseneinteilung siehe Hart, Klinische Arzneimittelprüfung, in: Rieger/Dahm/Steinhilper (Hrsg.), HK-AKM BVZ 2880, Rdnr. 4. In der Fassung vom 20.09.2005 BAnz. 2005, Nr. 242 (S. 16 998), zuletzt geändert am 18.04.2006 BAnz. 2006, Nr. 124 (S. 4876). Hart, Juristische Grundlagen von Therapieoptimierungsstudien, individuellen Heilversuchen und klinischen Prüfungen, in: Glaeske/Berlit (Hrsg.), Arzneimitteltherapie außerhalb der Regelversorgung, München 1999, S. 17-34; ders., Therapieoptimierungsprüfungen. Einordnung, Arzneimittel- und Krankenversicherungsrecht, Onkologe 2000/8, 778-782; Francke/Hart, Rechtliche Bedingungen von Therapieoptimierungsprüfungen: Arzneimittel-, Haftungs- und Sozialrecht, FORUM DKG Sonderheft 1/2000, 31-33; Pfeffer, Therapieoptimierungsstudien und klinische Prüfungen von Arzneimitteln in der Onkologie, 2003.
Nutzen und Risiko in klinischen Prüfungen von Arzneimitteln
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Arzneimittels nach den AMG-Vorschriften. Die Prüfung eines Therapiekonzepts, das sich aus verschiedenen Therapieelementen zusammensetzt, deren eines eine Arzneimitteltherapie ist, ist nur dann eine klinische Arzneimittelprüfung, wenn ihr Zweck darin besteht, Arzneimittelwirkungen zu erkennen. TOP zur Verbesserung eines vorhandenen Standards (z. B. Dosisänderungen, Veränderungen der Applikationsweise) sind deshalb nur dann klinische Arzneimittelprüfungen, wenn tatsächlich und nach dem Prüfdesign Aussagen über das eingesetzte Arzneimittel gewonnen werden sollen und können. Dann aber liegen in der Regel vorangehende klinische Studien vor, die hochwertiges Wissen über das Arzneimittel in dieser Indikation der Evidenzklasse I b oder I c enthalten können. Phase III-Studien neuer Produkte/Wirkstoffe sind ebenfalls grundsätzlich mit hochwertigem Wissen aus Studien der Phase II (Evidenzstufen I b oder I c) insbesondere zur wirksamen Dosis und zum Wirkprinzip unterlegt, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass Phase II-Studien häufig weder kontrolliert gegen Standard prüfen noch randomisiert und/oder verblindet erfolgen und dann einen niederwertigeren Qualitätsrang haben. Phase II-Studien erlauben erstmals (eher grundsätzliche) Aussagen zur Wirksamkeit und Sicherheit des indizierten Arzneimittels. Möglich ist auch, dass Phase III-Studien schon auf vorangehende Phase III-Studien etwa geringerer Patientenzahl oder mehrere Phase II-Studien zurückgreifen können. Studien der Phase I lassen zusätzlich gewisse Aussagen über Risiken des Arzneimittels zu – allerdings ohne Indikationsbezug. Phase III-Studien von zugelassenen Arzneimitteln in einer anderen Indikation oder sonst off label können unter dem Wissensaspekt auf die hochwertigen Zulassungsstudien zurückgreifen, die möglicherweise Analogieschlüsse erlauben. Ansonsten gilt die eingangs geschilderte Grundsituation. Phase II-Studien sind, sofern es sich um neue Produkte/Wirkstoffe handelt, durch die eingangs geschilderte Grundsituation und zusätzlich gewisse Aussagen über Risiken des Arzneimittels aufgrund von Phase I-Studien gekennzeichnet. Im Sinne von § 18 VerfO-G-BA handelt es sich um die Evidenzstufe IV oder V, also Beobachtungen, Berichte, Meinungen von Experten. Die Wissenssituation bei Phase I-Studien entspricht der eingangs geschilderten.
Bei bekannten Wirkstoffen/Arzneimitteln in neuen Indikationen, Darreichungsformen u. ä. ist mindestens der Rückgriff auf die Risikodaten möglich, sodass in der Regel von einem guten Wissensstand aufgrund der Zulassungsdaten ausgegangen werden kann. Bis auf die ersten beiden Konstellationen ist die Wissenssituation bei der Durchführung klinischer Arzneimittelprüfungen durch einerseits hohe Unsicherheit und andererseits erhebliche Lückenhaftigkeit gekennzeichnet. Das macht deutlich, dass die informationelle empirische Grundlage für eine Nutzen/RisikoAbwägung im klinischen Prüfrecht in der Regel dürftig und damit notwendigerweise der Anteil an prognostischen Bewertungen hoch ist. Die Nutzen/RisikoAbwägung im klinischen Arzneimittelprüfrecht ist ihrerseits riskant. Das ist ein
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Hinweis auf die gravierende Bedeutung der zweiten Legitimationssäule klinischer Forschung: die Einwilligung der Prüfteilnehmer nach Aufklärung.20
IV. Die Abwägung: Bewertung und Vergleich Je qualitativ besser und umfangreicher die Evidenz über Nutzen und Risiken des Prüfarzneimittels, desto sicherer kann das Abwägungsurteil begründet werden und ausfallen. Je geringerwertig die Evidenz, desto höher ist der Unsicherheitsanteil in der bewertenden Abwägung. Je mehr hochwertige vergleichende Evidenz – insbesondere gegen einen Standard – vorliegt, desto verlässlicher ist die Abwägungsbilanz.21 Im Rahmen der §§ 40, 41 AMG sind zwei Abwägungen zu unterscheiden: • die ärztliche Vertretbarkeit der vorhersehbaren Risiken und Nachteile gegenüber dem Nutzen für die betroffene Person (Menschen = Probanden (Gesunden) und Patienten), § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG, • wobei diese prüfteilnehmerbezogene Vertretbarkeit für Patienten in § 41 Abs. 1 S. 1 AMG durch eine individuelle oder direkt gruppenbezogene Nützlichkeit präzisiert wird, (2.) und • die ärztliche Vertretbarkeit der vorhersehbaren Risiken und Nachteile gegenüber der voraussichtlichen Bedeutung des Arzneimittels für die Heilkunde („Heilkundenutzen“), § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG (1.). Für Phase I-Prüfungen an Probanden22 kann es nur um die zweite Abwägung gehen, weil es keinen Nutzen des Arzneimittels für Gesunde gibt, weshalb sich dort die Abwägung nur auf den Heilkundenutzen beziehen kann.
1. Heilkundenutzen Die Abwägung Risiken für die betroffene Person gegen einen Heilkundenutzen setzt prinzipiell Unvergleichliches in Beziehung.23 Umschreibt man aber den Heilkundenutzen als die Behandlungschance für zukünftige Patienten und damit den Heilkundenutzen als potentiellen Patientennutzen, ist man jedenfalls auf dem Wege, individuelle Risiken mit einem potentiellen Gruppennutzen in Beziehung zu setzen und damit die Unvergleichlichkeit zu relativieren. Wenn man zusätzlich erkennt, dass selbst bei hochwertiger Evidenz aus kontrollierten klinischen Prüfungen die Kenntnis über Risiken relativ gering ist, dann weiß man, dass es sich 20
21
22
23
Überblick bei Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, S. 230 ff m. umfassenden Angaben. Siehe auch Francke/Hart, Bewertungskriterien und -methoden nach dem SGB V, MedR 1/2008, 2-24, bes. 7 ff. Das gilt nicht für Phase I-Prüfungen in der Onkologie, die an Patienten durchgeführt werden. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1317.
Nutzen und Risiko in klinischen Prüfungen von Arzneimitteln
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bei dieser Abwägung nur um „Plausibilitätsindizien“ handeln kann. Das ist bei bekannten Wirkstoffen/Arzneimitteln natürlich anders. Dass die Risikobelastung für (z. B. onkologische) Patienten bei Indikationen mit hohen Mortalitäts- und Morbiditätsraten, aber nur unzureichenden therapeutischen Angeboten wegen der Möglichkeit der Fortentwicklung der Behandlungschancen der Heilkunde (also für potentielle Patienten) höher sein darf als bei Indikationen mit befriedigenden Behandlungsangeboten, ist plausibel. Dass dies bei Probanden nicht vertretbar wäre, ebenso. Insofern lässt sich sagen, dass die Entdeckung bzw. Lückenschließung bei bisher fehlenden oder nur geringen Behandlungschancen („Innovationen“) ein höheres Maß an Risikobereitschaft legitimiert, als dies bei gesicherten Standardbehandlungen der Fall wäre. Insofern gehen Relevanzaspekte in die Bewertung ein. Die Formulierung „wenn und solange“ am Eingang von § 40 Abs. 1 S. 3 AMG erfordert die positive Bilanz beider Abwägungen nicht nur vor Beginn der klinischen Prüfung, sondern während ihres gesamten Verlaufs (permanente positive Bilanz).24 Es handelt sich gleichsam um die Etablierung der Pharmakovigilanz im klinischen Prüfrecht. Das impliziert, dass Verfahren vorgehalten werden, die geeignet sind, die Einhaltung dieses Erfordernisses auch zu gewährleisten. Insofern geht es nicht nur um das Ergebnis „positive Bilanz“, sondern auch um das Verfahren der Verlaufsbeobachtung und Erfolgskontrolle in der klinischen Prüfung und dessen effektive Institutionalisierung. Der Zugewinn an Wissen im Verlauf der klinischen Prüfung darf die Nutzen/Risiko-Bilanz nicht negativ werden lassen. Diesen Aspekt behandelt Abschnitt VI. Die Abwägung Risiko/Heilkundenutzen ist der Sache nach eher eine Relevanzbewertung der möglichen zukünftigen Arzneimittelbehandlung als eine eigenschaftsbezogene Nutzen/Risiko-Abwägung. Sie ist auch jenseits des Wissensdefizits über die Risiken durch hohe Bewertungsunsicherheit gekennzeichnet, weil der Vertretbarkeitsmaßstab auf einer sehr abstrakten Beziehungsebene ansetzt. Die Konsequenz aus dieser Situation kann nur lauten: konservative, vorsichtige Bewertung.
2. Patientennutzen Für die klinische Prüfung am Patienten muss entweder ein individueller Nutzen oder ein (allgemeiner) direkter Gruppennutzen gegeben sein („vertretbar“ = § 40 I 3 Nr. 2 AMG, „angezeigt“ = § 41 I 1 Nr. 1 AMG oder „für die Gruppe... verbunden“ § 41 I 1 Nr. 2 AMG). Nur wenn das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiken positiv ist, also der prognostische Nutzen des Arzneimittels seine prognostischen Risiken überwiegt, darf die Prüfung durchgeführt und – bestätigt sich die Prognose – das Arzneimittel zugelassen werden. Die positive Nutzen/Risiko-Bilanz muss während des gesamten Verlaufs der klinischen Prüfung („wenn und solange“) gewährleistet sein; wird die Bilanz negativ, muss die Prüfung abgebrochen werden. 24
Kloesel/Cyran, § 40 AMG Anm. 45a, 47, 49.
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Die Abwägung zwischen (individuellem/allgemeinem) Nutzen und Risiken bewertet beide auf der Basis des gegebenen grundsätzlich unzureichenden, aber nach den typischen Prüfsituationen unterschiedlichen Wissens. Die prognostizierbare Nutzenchance muss die prognostizierbaren Risiken am Beginn der Prüfung und während ihrer Durchführung überwiegen. Das Maß der Vertretbarkeit (= positive Bilanz) ist bei grundsätzlich erforderlichen kontrollierten Studien grundsätzlich die existierende Standardbehandlung, ansonsten als add on zur Standardbehandlung oder die Nicht-Behandlung bei fehlender Standardbehandlung oder bei begründeter Abweichung eine andere (unkontrollierte) Studienform. Der Standard bildet das Maß des prognostisch zu erreichenden Nutzens und der prognostisch zu erreichenden Unschädlichkeit. Bei Phase IV-Studien und TOP mit ihren eher hochwertigen Wissensgrundlagen ist diese Bewertung relativ gut begründbar und bereitet keine erheblichen Schwierigkeiten, sofern tatsächlich eine Standardbehandlung gesichert ist – was bei onkologischen Studien ohne industriellen Sponsor nicht immer der Fall ist. Anders ist es häufig bei Phase II- und Phase III-Prüfungen. Während Phase III-Prüfungen überwiegend kontrolliert und randomisiert ablaufen, ist das bei Phase II-Prüfungen eher selten der Fall. Die kontrollierte Studie gegen Standard orientiert sich bei dem Vertretbarkeitsmaß an dem des Standards, weil sie dieses mindestens erreichen muss, um als Zulassungsstudie anerkannt zu werden. Die Ergebnisse der vorangehenden Phase II-Prüfung(en) geben erste relativ sichere Hinweise für die Erreichung dieses Ziels, weil Nutzen und Risiken in ihrem Verhältnis abschätzbar und vergleichbar werden. Die unkontrollierte Phase II-Prüfung kann auf solche Abwägungsdaten regelmäßig nicht zurückgreifen, sodass die Unsicherheit der (positiven) Bewertung am Beginn der Prüfung erheblich höher ist. Die Konsequenz aus dieser Situation kann auch hier nur lauten: konservative, vorsichtige Bewertung. Für bekannte Wirkstoffe/Arzneimittel, die in einer neuen Indikation, Darreichungsform usw. geprüft werden, kann evtl. auf die positiven Bewertungen jedenfalls in wenn auch bedingter Analogie zurückgegriffen werden, sodass eine gewisse Qualitätsbasis der abwägenden Bewertung gewährleistet ist. Insgesamt muss man also auch hinsichtlich der Qualität der Abwägungsbewertung bei der Prüfung am Patienten differenzieren. Je umfangreicher das empirische Material an Wissen und das normative Material an Bewertung, desto höher ist die Qualität der Bewertungsentscheidung „Zulassung“ der klinischen Prüfung.25 Das kann man tabellarisch folgendermaßen darstellen:
25
Ähnlich Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, S. 299 ff.
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Wissen
Sicherheit
207
Abwägung
Qualität des Materials
ansteigend
ansteigend Unsicherheit
V. Die Unsicherheit im Wissen und bei der Bewertung Unsicherheit ist das grundlegende Dilemma der klinischen Arzneimittelprüfung, jener Bewältigung ihre Aufgabe.26 Abgesehen von den skizzierten Situationen des Vorhandenseins umfangreichen hochwertigen Wissens und hochwertiger Bewertungsdaten schafft die klinische Prüfung in ihrem Prozess erst die Daten, die erforderlich sind, um eine verlässliche Nutzen/Risiko-Abwägung zu ermöglichen, obwohl dies doch die Voraussetzung ihres Beginns unter dem Aspekt des Prüfteilnehmerschutzes wäre. Bis auf die eher seltenen Ausnahmefälle hat damit jede Nutzen/RisikoAbwägung im klinischen Prüfrecht einen hohen Unsicherheits- und Hypothesenanteil. Der Sache nach handelt es sich um Prognosen, die sich im Verlaufe der Prüfung bestätigen oder falsifizieren oder unsicher bleiben. Aus diesem Grunde verlangt die Sicherheit der Prüfpersonen die Orientierung der Prüfung am Gebot der konservativen Schätzung und Bewertung: je geringer das Wissen, desto höher die Risikoprognosen (Annahme Risiko hoch) und je unsicherer die Abschätzung, desto eher muss die Bewertung negativ ausfallen.
26
Pfeiffer, Güterabwägung in der klinischen Forschung, in: Sass/Viefhues (Hrsg.), Güterabwägung in der Medizin: ethische und ärztliche Probleme, 1991, 220 ff, 225; Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, S. 48 f, 233 f, 247 f, 258 ff.
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Die Wahrscheinlichkeit, dass im Prozess der Prüfung das Wissen und die Sicherheit der Nutzen/Risiko-Bewertung zunehmen, ist hoch. Die Probanden- und Patientensicherheit, denen das Prüfrecht verpflichtet ist, erfordern, dass die Prüfteilnehmer an diesem Wissens- und Sicherheitsgewinn während der klinischen Prüfung beteiligt werden: durch aktuelle Information, durch permanente Abschätzungsüberprüfung und durch institutionalisierte Kontrollen (Verfahrenskontrollen) beider. Das erste Prinzip konservativer Schätzung gilt vornehmlich für den Beginn der klinischen Prüfung („Zulassung“), das zweite der Beteiligung der Prüfpersonen am Wissens- und Sicherheitsgewinn für den Prozess ihrer Durchführung („Verfahren“).27 Aber auch das zweite Prinzip ist für die „Zulassungsentscheidung“ von erheblicher Relevanz, weil seine Institutionalisierung im Prüfplan und in der Praxis der Prüfung einen Einfluss auf die Abwägung von Nutzen und Risiken hat. Es scheint geeignet, das doppelte Unsicherheitsrisiko durch entsprechende Kontrollen unter Patientensicherheitsaspekten zu minimieren und damit die Chance der positiven Bestätigung der Prognosen und Hypothesen zu erhöhen.
VI. Kompensation von Unsicherheit durch Verfahrensvorgaben („Prozeduralisierung“) Es ist Inhalt der gesetzlichen Regelung der positiven Nutzen/Risiko-Bilanz am Beginn und während des gesamten Verlaufs der klinischen Arzneimittelprüfung, dass die Prüfung bei einer negativen Wendung ausgesetzt oder abgebrochen werden muss.28 § 7 Abs. 3 Nr. 17 GCP-V verlangt auch deshalb, im Antrag an die Ethikkommission „Kriterien für das Aussetzen oder die vorzeitige Beendigung der klinischen Prüfung“
vorzulegen. Jenes Schutzgebot bedarf einer verfahrensmäßigen Absicherung im Prüfplan in der Art einer „Pharmakovigilanz der klinischen Prüfung“, die dem Prüfer, dem Leiter der klinischen Prüfung (LkP) oder/und dem Sponsor obliegt. Der Sache nach geht es um ein Risikomanagement der klinischen Prüfung als permanenten Diskurs über Wissen, Bewertungen und Entscheidungen.29 Die Prüfpläne sind in dieser Hinsicht nur selten vorbildlich und manchmal nachlässig, weil das Gebot der permanenten Aufrechterhaltung einer positiven Nutzen/Risiko27 28
29
Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, S. 310 ff, 317 ff. Hart, Heilversuch, Entwicklung therapeutischer Strategien, klinische Prüfung und Humanexperiment – Grundsätze ihrer arzneimittel-, arzthaftungs- und berufsrechtlichen Beurteilung, MedR 1994, 94-105, bes. 97; Klösel/Cyran, AMG § 40 Anm. 45a sowie § 41 Anm. 7, 8. Hart, Zur Rechtsverfassung der Kommunikation über Arzneimittelrisiken. Risikoinformation, Risikotransparenz, Risikomanagement, in: Hart/Kemmnitz/Schnieders (Hrsg.), Arzneimittelrisiken: Kommunikation und Rechtsverfassung, 1998, S. 139-171, bes. 141.
Nutzen und Risiko in klinischen Prüfungen von Arzneimitteln
209
Bilanz in der klinischen Prüfung in seinen institutionell-organisatorischen Anforderungen und Auswirkungen eher unterschätzt wird. Als Instrumente einer solchen institutionell-organisatorischen Gewährleistung von Patientensicherheit („Prozeduralisierung“) kommen beispielsweise in Betracht: • Festlegung und ständige Beobachtung einer im Prüfplan definierten Risikoschwelle oder einer Belastungsgrenze30 bzw. von Abbruchkriterien durch alle Prüfer; • diesbezügliche Berichtspflichten der Prüfärzte an den LkP und Festlegung von Eingreifsschwellen bzw. Abbruchkriterien für den LkP; • systematische Beobachtung der Berichte über unerwünschte Ereignisse und Nebenwirkungen durch den LkP; • Festlegung der Verfahrensweise bei einzelnen, nach bisherigen Erfahrungen am häufigsten zu erwartenden unerwünschten Ereignissen und Wirkungen; • (zeitliche, sachliche) Festsetzung von Zwischenauswertungen mit oder ohne Aufhebung der Verblindung; • Einrichtung eines (unabhängigen) data safety monitoring board mit einer genauen Bezeichnung seiner Aufgaben etwa in der Art der vorangehenden Aufzählung (z. B. periodische Prüfung der Daten nach Zeitpunkten des Empfangs der Studienmedikation und nach eingeschlossenen Patienten, Risikoschwelle, Verfahrenszuständigkeiten, Maßnahmenbündel); • Beobachtung der Entwicklung des medizinischen Standards der Behandlung während der klinischen Prüfung durch den LkP mit gegebenenfalls Reaktionspflichten (Information, Aussetzen, Abbruch), wenn sich dort prüfungsrelevante Änderungen für die Nutzen/Risiko-Abwägung ergeben. Empirisch werden grundsätzlich bei großen multizentrischen Studien viele dieser Instrumente eingesetzt. Ob und welche dieser Instrumente eingesetzt werden müssen, hängt von dem jeweiligen Typus der klinischen Prüfung, dem Stand des Wissens und der Qualität der Bewertungen über Nutzen und Risiken ab. Prinzipiell sind allerdings die Beobachtung des Standards, der Risikoschwelle, der unerwünschten Ereignisse und Wirkungen sowie die Festlegung von Aussetzungsoder/und Abbruchkriterien im Prüfplan zu gewährleisten, um die gesetzlichen Erfordernisse des klinischen Prüfrechts zu erfüllen. Ethikkommissionen müssen sich an diesen Maßstäben bei der Prüfung der vorgelegten Anträge orientieren.
30
Dazu unter VIII. Prüfung an Minderjährigen.
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VII. Kompensation von Unsicherheit durch Patienteninformation Nach § 40 Abs. 2 AMG ist die betroffene Person „über Wesen, Bedeutung, Risiken und Tragweite der klinischen Prüfung sowie über ihr Recht aufzuklären, die Teilnahme an der klinischen Prüfung jederzeit zu beenden; …“
Es handelt sich – jedenfalls auch – um die informationelle Seite der Nutzen/Risiko-Abwägung. Der Prüfteilnehmer muss in den Stand versetzt werden, Nutzen und Risiken der Teilnahme an der klinischen Prüfung gegen den Verlauf, Nutzen und Risiken der Nichtteilnahme abzuwägen, also eine eigenständige informierte Entscheidung auf der Basis verständlicher, umfassender und wahrheitsgemäßer Information zu treffen. Die Anforderungen an die Aufklärung sind bei der klinischen Prüfung gegenüber der individuellen ärztlichen Behandlung erheblich gesteigert.31 Die Aufklärung hat insofern die Unsicherheit32 des Wissens und der Bewertung von Nutzen und Risiken am Beginn zu umfassen, weshalb eine Entscheidung des BGH zur Aufklärung beim individuellen Heilversuch33 ebenso als Beleg für dieses Erfordernis gelten kann wie die Robodoc-Entscheidung34, die eine Aufklärung über die Möglichkeit unbekannter Risiken bei Neulandbehandlungen konstatiert. Beide Entscheidungen sind Konsequenz des Gebotes „im Zweifel Risiko ja“, das auf der Informationsebene Befolgung erheischt: Die Möglichkeit eines Risikos erfordert die Aufklärung darüber. Deshalb ist bei der Aufklärung nicht zu beschönigen, sondern vom „worst case“ auszugehen. Die mögliche Chance der Teilnahme an der Prüfung legitimiert keinesfalls die Relativierung ihrer Risiken in der Aufklärung – es gibt kein „ärztliches Privileg“ oder „humanitäres Prinzip“ im Interesse der Durchführung einer klinischen Prüfung.35 31
32 33
34
35
Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1318; Hart, Aufklärung bei der Arzneimittelbehandlung, in: Rieger (Hrsg.), Lexikon des Arztrechts, 2. Aufl. 2002, Stand Mai 2008, BVZ 643, Rdnr. 8, 12, 13; siehe auch früher ders., Arzneimitteltherapie und ärztliche Verantwortung, 1990, S. 145 ff. So im Ansatz auch Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1318. BGHZ 172, 1 – Aufklärung beim Heilversuch = NJW 2007, 2767 = VersR 2007, 995 = GesR 2007, 311 = MedR 2007, 653 = JZ 2007, 1104 m. Anm. Katzenmeier 1108 ff; dazu auch Hart, Arzthaftung wegen Behandlungs- und Aufklärungsfehlern im Zusammenhang mit einem Heilversuch mit einem neuen, erst im Laufe der Behandlung zugelassenen Arzneimittel, MedR 2007, 631 ff. BGHZ 162, 320 = NJW 2006, 2477 = MedR 2006, 650; dazu B. Buchner, Der Einsatz neuer medizinischer Behandlungsmethoden – ärztliche Aufklärung oder präventive Kontrolle?, VersR 2006, 1460 ff. Deutsch vertritt das humanitäre Prinzip im Rahmen der individuellen Behandlung für eng begrenzte Fallgruppen, vgl. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 321-325; im
Nutzen und Risiko in klinischen Prüfungen von Arzneimitteln
211
Diese Anforderungen an die Aufklärung gelten aber nicht nur am Beginn, sondern ebenso über den gesamten Verlauf der klinischen Prüfung. Gelegentlich spricht man auch heute noch von Trendaufklärung.36 Ergeben sich während der klinischen Prüfung einwilligungsrelevante Änderungen der Prüfsituation, so sind diese Gegenstand der Studienverlaufsaufklärung. Einwilligungsrelevant sind Änderungen, die die Entscheidung des Patienten über die weitere Studienteilnahme beeinflussen können, also etwa • Veränderungen des medizinischen Standards, der in der Prüfung zugrunde gelegt wurde, in Form der Steigerung des Nutzens oder der Verringerungen der Risiken der Behandlung oder • sichtbar werdende erhebliche Nutzensteigerung oder Risikosenkung in der Behandlungsgruppe gegenüber der Kontrollgruppe oder umgekehrt oder • das auffällige Auftreten von unerwünschten Ereignissen oder Wirkungen, auch ohne dass dadurch die Nutzen/Risiko-Bilanz negativ würde.37 Das „wenn und solange“ des Überwiegens des Nutzens über die Risiken während des gesamten Verlaufs der klinischen Prüfung (§ 40 Abs. 1 S. 3 AMG) findet seine Entsprechung in der Aufklärung über diese Bedingung als Voraussetzung für die Wirksamkeit der Einwilligung über den gesamten Verlauf der klinischen Prüfung. Die Patienteninformation muss auf dem Stand der Entwicklung des Wissens und Bewertens in der klinischen Prüfung sein. Das Recht, „die Teilnahme an der klinischen Prüfung jederzeit zu beenden“ setzt informationell voraus, über den jeweiligen Stand des Wissens und der Bewertungen in der klinischen Prüfung „auf dem Laufenden“ zu sein – ansonsten wäre es gegenstandslos. Im Prozess der klinischen Prüfung sind der Prozess der Entwicklung von Wissen und Bewertungen mit dem Prozess der Patienteninformation in Gleichklang zu halten. Die Wirksamkeit der Einwilligung über den gesamten Prozess der Prüfung erfordert die Aktualität der Aufklärung über ihre Nutzen und Risiken.38
36
37
38
klinischen Prüfrecht ist eine diesbezügliche Norm im früheren § 41 Nr. 7 AMG, der in der 12. AMG-Novelle entfallen ist, enthalten gewesen, der wortgleich von Deutsch im Kapitel über klinische Prüfungen als Legitimation für das auch dort behauptete humanitäre Prinzip „zitiert“ wird, a.a.O. Rdnr. 1334. § 41 Abs. 1 S. 2 AMG kann als Beleg für das humanitäre Prinzip nicht herangezogen werden, weil die Notfallsituation gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Einwilligung nicht eingeholt werden kann. Sie ist deshalb konsequenterweise gemäß § 41 Abs. 1 S. 3 AMG einzuholen („wenn dies möglich und zumutbar ist“; diese Formulierung bezieht sich auf die individuelle Konstitution des Patienten). Siehe schon früher Hart, Arzneimitteltherapie und ärztliche Verantwortung, S. 136, 151; Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, S. 383 ff, 404 ff. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1321; dazu Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, S. 401 f. Deutsch verneint diese Verpflichtung in der Tendenz, Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1321, obwohl sich diese Verpflichtung zur Aufklärung in der Praxis durchgesetzt hat und in allen Patienteninformationen als Standard formuliert wird. Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz, S. 388.
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Die Einwilligung nach Aufklärung kann eine negative Nutzen/Risiko-Bilanz nie kompensieren.
VIII. Die Arzneimittelprüfung an Kindern und Jugendlichen § 40 Abs. 4 Nr. 4 AMG ist eine besonders auf die Risikoseite bezogene Ausprägung der Voraussetzung einer positiven Nutzen/Risiko-Bilanz; er gilt prinzipiell für alle klinischen Prüfungen von Arzneimitteln an Minderjährigen.39 „Die klinische Prüfung darf nur durchgeführt werden, wenn sie für die betroffene Person mit möglichst wenig Belastungen und anderen vorhersehbaren Risiken verbunden ist; sowohl der Belastungsgrad als auch die Risikoschwelle müssen im Prüfplan eigens definiert und vom Prüfer ständig überwacht werden.“
Der erste Halbsatz wird in § 41 Abs. 2 S. 1 Nr. 2d AMG für Minderjährige bei Prüfungen mit direktem Gruppennutzen spezifiziert, indem für die Prüfung an Patienten das „möglichst wenig Belastungen …“ durch „minimales Risiko und minimale Belastung“ ersetzt wird. Was eine minimale Belastung und ein minimales Risiko sind, wird in § 41 Abs. 2 S. 1d AMG und parallel dazu an einer anderen Stelle, in Art. 17 Zusatzprotokoll über biomedizinische Forschung zum Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates40 definiert. In den beiden großen AMG-Kommentaren41 findet sich zum einen eine wörtliche Wiederholung des Gesetzestextes, zum anderen der Hinweis auf die Herkunft des Gesetzestextes aus der GCP-Richtlinie 2001/20/EG vom 4. April 2001, die die Grundlage für das neue Prüfrecht nach der 12. AMG-Novelle war. Es heißt dort in Art. 4 lit. g:
39
40
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Anders wohl Sander, Erl. § 41 AMG Nr. 8, der allerdings aufgrund des „Verweises“ auf § 40 Abs. 1 - 4 AMG in § 41 Abs. 2 S. 1 AMG zum selben Ergebnis kommt. Systematisch bezieht sich nur § 40 Abs. 4 Nr. 1 AMG auf die Prüfung von Diagnostika und Prophylaktika an gesunden Minderjährigen, die übrigen Regelungen des § 40 Abs. 4 wie der gesamte § 40 AMG auf Menschen, also Gesunde und Kranke. Europarat, Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin über biomedizinische Forschung (englische Fassung), SEV-Nr.: 195, zur Unterzeichnung ausgelegt seit 25.01.2005. Die Formulierung „minimal risk/minimal burden“ findet sich schon in Art. 17 Abs. 2 lit. ii Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin, SEV-Nr. 164. Kloesel/Cyran, § 40 AMG Anm. 114; Sander, Erl. § 40 AMG Nr. 44; zur GCP-RiLi A. Laufs, Die neue europäische Richtlinie zur Arzneimittelprüfung und das deutsche Recht, MedR 2004, 583-593, bes. 588 ff.
Nutzen und Risiko in klinischen Prüfungen von Arzneimitteln
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„.. darf eine klinische Prüfung an Minderjährigen nur durchgeführt werden, wenn … g) die klinischen Prüfungen so geplant sind, dass sie unter Berücksichtigung der Erkrankung und des Entwicklungsstadiums mit möglichst wenig Schmerzen, Beschwerden, Angst und anderen vorhersehbaren Risiken verbunden sind; sowohl die Risikoschwelle als auch der Belastungsgrad müssen eigens definiert und ständig überprüft werden; …“
In der Kommentierung Kloesel/Cyran42 heißt es dann: „Diese Forderung sollte als Grundsatz für jede klinische Prüfung auch an Volljährigen gelten.“ Die Änderung der Teilformulierung von § 40 Abs. 4 Nr. 4 AMG in § 41 Abs. 2 S. 1d AMG soll laut Gesetzesbegründung die Ethikkommission und die Bundesoberbehörde zu einer besonders gründlichen Überprüfung der Nutzen/Risiko-Bilanz bei Prüfungen an minderjährigen Patienten anhalten.43 Die Besonderheit der Regelungen besteht einerseits in ihrer Prozessorientierung („Prozeduralisierung“), die jeweils in den letzten Halbsätzen zum Ausdruck kommt und insofern mit den hiesigen Ausführungen zu den Verfahrensvorgaben (VI.) zusammenpasst.44 Die Norm hat das Ziel, die Anforderungen an den Probanden- und Patientenschutz bei Minderjährigen in besonderer Weise zu präzisieren. Belastungsgrenze und Risikoschwelle sind Umschreibungen für eine bei Minderjährigen besonders intensive und betonte Nutzen/Risiko-Abwägung unter Risikovorsorgegesichtspunkten. Belastungsgrenze und Risikoschwelle sollen durch ihre präzise „Festlegung“ dazu dienen, den Prozess der Beobachtung von Nutzen und Risiken während der klinischen Prüfung an Minderjährigen in Permanenz und durch eindeutige Kriterienbildung zu organisieren und den Prüfärzten das Schutzziel als ständige Aufgabe vor Augen halten. Die Besonderheit der Regelungen besteht andererseits in einer Art „Stoppregel“: die Grenze und Schwelle gelten absolut. Sie dürfen auch dann nicht überschritten werden, wenn sich ein vorher nicht prognostizierter (Zusatz-)Nutzen während der Prüfung zeigen sollte.45 Über die quantitative oder qualitative Festlegung solcher Schwellen besteht nach unserer Kenntnis kaum Erfahrung und keine Routine. Beide Varianten erscheinen möglich. Quantitativ könnte man daran denken, eine bestimmte Intensität und Häufigkeit des Auftretens von unerwünschten Wirkungen oder das Auftreten bestimmter unerwünschter Wirkungen ähnlich der Festlegung von Abbruchkriterien als Schwelle und Grenze zu formulieren, womit für den Fall ihres Überschreitens die Nutzen/Risiko-Abwägung negativ würde. Zur Orientierung wäre es für Ethikkommissionen hilfreich und wünschenswert, eine Skalierung oder Graduierung jedenfalls von minimalen Belastungen und minimalen Risiken für therapeutische Studien (§ 41 Abs. 2 S. 1d AMG) zu haben,
42 43
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Kloesel/Cyran, § 40 AMG Anm. 114. Entwurf eines zwölften Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, BT-Drs. 15/2109, S. 31 f. In diese Richtung auch Eck, Die Zulässigkeit medizinischer Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2005, S. 108 f, 128, 328 f. Entwurf eines zwölften Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, BT-Drs. 15/2109, S. 31 f; vgl. auch die Formulierungen in Art. 15 Abs. 2 lit. ii Zusatzprotokoll.
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die auf einem Konsens in der pädiatrischen Fachgesellschaft46 beruhten.47 Die prozessorientierte, qualitative Variante („Prozeduralisierung“) erscheint ebenso geeignet, die Schutzziele zu erfüllen, am besten in Kombination mit einer quantitativ-absoluten Festlegung eines Maßes. Der Prüfplan soll also eine Belastungsgrenze und eine Risikoschwelle festlegen, die als Kontrollkriterien eine permanente Aufgabe der Prüfärzte prozesshaft organisieren. Es wird auf diese Weise mindestens ein Aufmerksamkeitssignal generiert, bei dessen „Leuchten“ auf der Ebene der gesamten Prüfung die Mechanismen in Gang gesetzt werden, die nach eingehender Analyse und Bewertung durch den LkP und der sonstigen Institutionen der Überwachung in der Folge zum Umkippen der Nutzen/Risiko-Bilanz und damit zum Ruhen oder Abbruch der Prüfung führen können. Bei klinischen Prüfungen an Minderjährigen müssen deshalb alle unter VI. genannten Instrumente eingesetzt werden, um einen angemessenen Schutz von Probanden und Patienten zu gewährleisten.
IX. Leitlinien für Ethikkommissionen Wichtige Zentren der Arbeit der Ethikkommissionen bei der Beurteilung der Anträge auf zustimmende Bewertung von klinischen Prüfungen von Arzneimitteln48 sind die Relevanz der Prüfung49, die umfassende Nutzen/Risiko-Abwägung und die Aufklärung und Einwilligung der betroffenen Personen. Diese Bewertungen entscheiden über das Verhältnis von Innovation, Bewährung und Schutz bei medizinischen Behandlungen. Das Verhältnis von Autonomie, als Entscheidung für Risikogeneigtheit und Schutz, als Entscheidung für Risikovorsorge sollte nicht auf dieser Ebene des systematischen, sondern der des individuellen Heilversuchs bestimmt werden – der systematische Heilversuch in der Form der klinischen Arzneimittelprüfung ist nicht der Ort für individuelle Entscheidungen über Heilexperimente, die wegen der individuellen Autonomielegitimation ohne vorangehende Absicherungen im Wissen und Bewerten erfolgen dürfen.50 Im Folgenden werden Prinzipien für die Analyse, Beurteilung und Entscheidung der Ethikkommissionen über die Bewertung von Anträgen auf zustimmende Bewertung von klinischen 46 47
48
49
50
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Siehe insgesamt Seyberth, Arzneimittel in der Pädiatrie: Ein Paradigmenwechsel bahnt sich an, Dt Ärztebl 2008; 105(27): A-1497-1499, bes. 1499 die Forderung, kindgerechte Studien zu entwickeln und durchzuführen. Siehe zu diesem Abschnitt und zu den Schritten der Nutzen/Risiko-Abwägung demnächst Hüppe/Raspe, Analyse und Abwägung von Nutzen- und Schadenpotenzialen aus klinischer Forschung, in: Boos/Merkel/Raspe/Schöne-Seifert (Hrsg.). Nutzen und Schaden aus klinischer Forschung am Menschen. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln (erscheint Ende 2008) und Raspe/Hüppe/Steinmann, Empfehlungen zur Begutachtung klinischer Studien durch Ethik-Kommissionen, S. 51-53. Art. 6 Abs. 3 lit. a GCP-RiLi; § 7 Abs. 3 Ziff. 1 GCP-V. In diesem Zusammenhang ist die Unterrichtungspflicht der zuständigen Bundesoberbehörde zu anderen klinischen Prüfungen nach § 42 Abs. 2a AMG von erheblicher Bedeutung. Siehe dazu Hart, Heilversuch, MedR 1994, 94-105.
Nutzen und Risiko in klinischen Prüfungen von Arzneimitteln
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Arzneimittelprüfungen formuliert, die sich insbesondere auf die drei genannten Zentren ihrer Arbeit beziehen. • Nutzen/Risiko-Bewertung und Aufklärung vor Einwilligung vor und während der klinischen Prüfung stehen in einem gegenseitigen Ergänzungs-, nicht Ersetzungsverhältnis. • Für die Nutzen/Risiko-Bewertung sind der Stand des Wissens über beide und die Bewertungen über ihr Verhältnis gründlich zu überprüfen, nachzufragen und gegebenenfalls zu erforschen. • Voraussetzung dafür ist u. a. die Klärung der Frage, ob es einen Standard der Behandlung für diese Indikation gibt, wie sein Nutzen/Risiko-Profil beschaffen ist und ob und wie er in der Studie und in der Patienteninformation berücksichtigt ist. • Ein positives Votum der Ethikkommission setzt voraus, dass die Nutzen/Risiko-Bilanz der Studienbehandlung der Standard-Behandlung mindestens gleichwertig ist. • Ein positives Votum der Ethikkommission setzt voraus, dass der Nutzen der Studienbehandlung ihre Risiken überwiegt. • Für die Beurteilung der beiden letzten Voraussetzungen sollte möglichst hochwertige Evidenz herangezogen werden, wobei zwischen den Anforderungen an die Feststellung des Nutzens (möglichst hochwertig) und an die der Risiken (Verdacht reicht wegen der Geltung des Vorsorgeprinzips aus) unterschieden werden muss.51 • Es müssen im Prüfplan verfahrensmäßige Vorgaben enthalten sein, die eine Verlaufsbeobachtung und Erfolgskontrolle hinsichtlich des Überwiegens des Nutzens gegenüber den Risiken während des gesamten Prozesses der klinischen Prüfung gewährleisten. • Für Prüfungen an Minderjährigen gelten je nach Studienart (nichttherapeutisch/therapeutisch) und Nutzencharakteristik (Individualnutzen/direkter Gruppennutzen) unterschiedliche Zusatzanforderungen hinsichtlich Belastungen und Risiken, aber gleichermaßen sind (quantitativ und/oder qualitativ) Belastungsgrenzen und Risikoschwellen im Prüfplan festzulegen und durch die Ethikkommission auf ihre Angemessenheit zu überprüfen. • Es sind institutionell-organisatorische Vorgaben hinsichtlich der Überprüfung der Nutzen/Risiko-Bilanz vorzusehen. Dies gilt für Prüfungen an Minderjährigen verstärkt. Es ist besondere Aufmerksamkeit bei der Überprüfung solcher Mechanismen erforderlich. • Die Einwilligung nach Aufklärung kann eine negative Nutzen/Risiko-Bilanz keinesfalls kompensieren. • Die Einwilligung setzt eine umfassende Aufklärung der betroffenen Personen voraus. Sie ist sowohl vor Beginn der klinischen Prüfung wie während des gesamten Verlaufs zu gewährleisten („Studienverlaufsaufklärung“). 51
Ausführlich Francke/Hart, Bewertungskriterien und -methoden nach dem SGB V, MedR 1/2008, 2-24, bes. 5 ff.
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• Während der klinischen Prüfung sind der Prozess der Entwicklung von Wissen und Bewertungen über Nutzen und Risiken mit dem Prozess der Patienteninformation in Gleichklang zu halten, um das Recht auf einen jederzeitigen Widerruf der Einwilligung informationell zu gewährleisten. • Das „wenn und solange“ des Überwiegens des Nutzens über die Risiken während des gesamten Verlaufs der klinischen Prüfung (§ 40 Abs. 1 S. 3 AMG) findet seine Entsprechung in der Aufklärung über diese Bedingung als Voraussetzung für die Wirksamkeit der Einwilligung über den gesamten Verlauf der klinischen Prüfung. Das Spannungsverhältnis löst sich auf im rechtlich verfassten Prozess von Nutzen/Risiko-Bilanzierung und Aufklärung sowie seiner verfahrensmäßigen Kontrolle. Die Ethikkommission kann sein Steuerungszentrum sein.
Verantwortung der sachkundigen Person nach § 14 AMG
Horst Hasskarl
I. Einführung Das deutsche Arzneimittelrecht befasst sich mit den großen Komplexen „Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“, der „Herstellung und Qualitätskontrolle von Prüfpräparaten und zugelassenen Arzneimitteln“, der „Zulassung von Arzneimitteln“, dem “Inverkehrbringen von Arzneimitteln“, der „Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken (Pharmakovigilanz)“, der „Werbung für Arzneimittel“, und der „Überwachung von Arzneimitteln“ durch die zuständigen Behörden. In allen genannten Bereichen hat der Gesetzgeber es für erforderlich gehalten, persönliche Verantwortungsträger zu benennen, deren Tätigwerden von einer bestimmten Sachkunde abhängig zu machen und diese mit einem gesetzlich definierten Aufgaben- und Verantwortungsbereich zu versehen. Im Bereich der Entwicklung und Prüfung sind dies der für die pharmakologisch-toxikologische Prüfung verantwortliche Wissenschaftler (§ 40 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 Arzneimittelgesetz – AMG1 ) und ein Hauptprüfer oder Leiter der klinischen Prüfung (§ 40 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 AMG), im Bereich der Herstellung und Qualitätskontrolle die sachkundige Person nach § 14 AMG (Abs. 1 Nr. 1, 19 AMG), häufig Qualified Person, QP genannt, der Leiter der Herstellung und der Leiter der Qualitätskontrolle (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 AMG in Verbindung mit § 12 Abs. 1 der Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverordnung – AMWHV2), die verantwortliche Person nach § 20c AMG, die für die Lagerung verantwortliche Person (§ 7 Abs. 5 AMWHV), im Bereich der Zulassung und des Inverkehrbringens von Arzneimitteln der Stufenplanbeauftragte gem. § 63a und der Informationsbeauftragte gem. § 74a AMG und im Bereich des Großhandels mit Arzneimitteln eine verantwortliche Person (§ 52a Abs. 2 Nr. 3 AMG). Allen benannten Verantwortungsträgern ist gemeinsam, dass 1
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I.d.F. der Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3394), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. November 2007 (BGBl. I S. 2631). Vom 3. November 2006 (BGBl. I S. 2523), geändert durch Verordnung vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 521).
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sie die jeweils umschriebene Sachkunde sowie die erforderliche Zuverlässigkeit besitzen müssen. Diese Personen sind der zuständigen Behörde, also der jeweiligen Landesbehörde, gegenüber zu benennen; Wechsel sind entsprechend anzuzeigen. Der Gesetzgeber hätte sich damit begnügen können zu verlangen, dass die Anforderungen an die jeweiligen Tätigkeiten in den Bereichen abstrakt durch den Entwickler, Hersteller, Inverkehrbringer und Werbung betreibenden Unternehmer, also durch die Einrichtung oder den Betrieb, der auf dem Gebiet rechtlich tätig ist, zu gewährleisten sind, wie auch immer er das intern organisiert. Er hat sich im Laufe der Jahrzehnte jedoch zunehmend dazu entschlossen zu fordern, dass sachkundige Personen der zuständigen Behörde namentlich bekannt zu geben sind und der Behörde, der Exekutive, die Gelegenheit gegeben wird, jeweils die Sachkundevoraussetzungen für die einzelnen Funktionen zu überprüfen. Es hat also im Arzneimittelrecht eine starke Personalisierung der Verantwortung stattgefunden, wodurch zugleich die Überwachung durch die zuständige Behörde deutlich vereinfacht wurde. Dies geht natürlich einher mit der Verpflichtung des verantwortlichen Betriebs zur Vorlage von Unterlagen, aus denen sich die Sachkunde – und auch die Zuverlässigkeit der Verantwortungsträger – ergibt. Der Betrieb, in der Regel eine juristische Person, bleibt trotz der von ihm zu benennenden persönlichen Verantwortungsträger selbstverständlich der rechtliche Zentraladressat arzneimittelrechtlicher Verpflichtungen. In besonderem Maße galt die Verantwortungspersonalisierung schon seit dem Inkrafttreten des heutigen AMG am 1. Januar 19783 für den Bereich Herstellung und Qualitätskontrolle. Voraussetzung für die Erteilung einer Herstellungserlaubnis nach § 13 AMG war das Vorhandensein einer Person mit der erforderlichen Sachkenntnis, unter deren Leitung die Arzneimittel hergestellt werden sollen (Herstellungsleiter), einer Person mit der erforderlichen Sachkenntnis, unter deren Leitung die Arzneimittel geprüft werden sollen (Kontrollleiter), und einer Person – ohne Sachkenntnis –, unter deren Leitung die Arzneimittel vertrieben werden sollen (Vertriebsleiter). Diese in § 14 Abs. 1 AMG enthaltenen personellen Voraussetzungen wurden um die Sachkenntnisvoraussetzungen in § 15 AMG ergänzt.
II. Gesetzlicher Werdegang Die bis zum Inkrafttreten der 14. AMG-Novelle am 6. September 20054 geforderte personelle Verantwortungsdreiheit von Herstellungsleiter, Kontrollleiter und Vertriebsleiter wurde durch diese Novelle beseitigt. Es wurde jetzt für eine Herstellungserlaubnis das Vorhandensein einer sachkundigen Person nach § 14 sowie eines Leiters der Herstellung und eines Leiters der Qualitätskontrolle gefordert. Der Vertriebsleiter entfiel als eigenständiger Verantwortungsträger.
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Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. August 1976 (BGBl. I S. 2445). 14. Gesetz zur Änderung des AMG vom 29. August 2005 (BGBl. I S. 2570).
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Vorausgegangen war jedoch eine bereits im Rahmen der Betriebsverordnung für Pharmazeutische Unternehmer eingeführte Änderung5. Erstmalig erschien in § 7 (Freigabe) der Pharmabetriebsverordnung das Erfordernis, dass der Kontrollleiter oder eine gleich qualifizierte Person (sachkundige Person) zu bestätigen hat, dass die Arzneimittelcharge ordnungsgemäß nach den geltenden Rechtsvorschriften und bei den zugelassenen Arzneimitteln entsprechend denen der Zulassung sowie bei Prüfpräparaten entsprechend den der Genehmigung der klinischen Prüfung zugrunde gelegten Anforderungen hergestellt und geprüft wurde. Damit enthielt der Begriff der Freigabe erstmalig eine gesetzliche Definition.6 Obwohl in § 7 Abs. 1 Satz 1 PharmBetrVO also bereits durch die 12. AMG-Novelle die sachkundige Person im Wege einer Legaldefinition eingeführt wurde, verblieb es hinsichtlich der personellen Anforderungen im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Herstellungserlaubnis nach § 14 AMG zunächst bei dem Erfordernis eines Herstellungsleiters, Kontrollleiters und Vertriebsleiters. Dieser Zustand hat sich durch die 14. AMG-Novelle7 geändert. Jetzt wurde § 14 Abs. 1 AMG in seinen Nummern 1 bis 4 vollständig novelliert. Zum ersten Mal befand sich nunmehr die Legaldefinition der Sachkundigen Person nicht mehr nur in der Pharmabetriebsverordnung (§ 7), sondern im AMG selbst. Die Vorschrift lautete und lautet noch heute: § 14 Entscheidung über die Herstellungserlaubnis (1) „Die Erlaubnis darf nur versagt werden, wenn 1. nicht mindestens eine Person mit der nach § 15 erforderlichen Sachkenntnis (sachkundige Person nach § 14) vorhanden ist, die für die in § 19 genannten Tätigkeiten verantwortlich ist, …“
Damit wurden zugleich der Herstellungsleiter (bisher § 14 Abs.1 Nr. 1 AMG a.F.), der Kontrollleiter (bisher § 14 Abs. 1 Nr. 2 AMG a.F.) und der Vertriebsleiter (§ 14 Abs. 1 Nr. 3 AMG a.F.) abgeschafft. Zugleich entfielen auch die bisher in § 19 Abs. 1, 2 und 3 AMG gesetzlich definierten Verantwortungsbereiche dieser Verantwortungsträger. In § 19 AMG wird seitdem lediglich der Verantwortungsbereich der sachkundigen Person nach § 14 definiert. Die Vorschrift lautet: § 19 Verantwortungsbereich(e) „Die sachkundige Person nach § 14 ist dafür verantwortlich, dass jede Charge des Arzneimittels entsprechend den Vorschriften über den Verkehr mit Arzneimitteln hergestellt und geprüft wurde. Sie hat die Einhaltung dieser Vorschriften für jede Arzneimittelcharge in einem fortlaufenden Register oder einem vergleichbaren Dokument vor deren Inverkehrbringen zu bescheinigen.“
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Art. 3 des 12. Gesetzes zur Änderung des AMG vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 2031). Zu der Rolle dieser sachkundigen Person nach damaligem Recht s. Hasskarl/Ziegler, Rechtliche Verantwortung und Aufgaben der sachkundigen Person, in: Pharma Recht 2005, S. 15 ff. S. Fußnote 4.
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III. Europarechtliche Einbettung Durch die 14. AMG-Novelle hat der deutsche Gesetzgeber endlich das nachvollzogen, was durch das EG-Richtlinienrecht seit langem vorgeschrieben war.8 Die Richtlinie 75/319/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten9 forderte bereits seit 1977 für die Herstellungserlaubnis das ständige und ununterbrochene Vorhandensein von mindestens einer sachkundigen Person (Art. 21 Abs. 1). Diese Person musste die Qualifikationsvoraussetzungen erfüllen, die im Einzelnen in der gleichen Richtlinie festgelegt wurden (Art. 23). Diese sachkundige Person muss danach mindestens 2 Jahre auf dem Gebiet der qualitativen Analyse von Arzneimitteln, der quantitativen Analyse der wirksamen Bestandteile sowie der Versuche und Prüfungen tätig gewesen sein, die erforderlich sind, um die Qualität der Arzneimittel zu gewährleisten. Diese Tätigkeit musste in einem Betrieb abgeleistet werden, der über eine Herstellungserlaubnis verfügt (Art. 23b). Die Richtlinie 75/319/EWG wurde bekanntlich durch die für das Arzneimittelrecht in Europa zentral wichtige Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel vom 6. November 200110 ersetzt. Dieses als Gemeinschaftskodex und damit als das „europäische AMG“ zu bezeichnende Normenwerk enthält nunmehr in den Artikeln 40 bis 53 zusammenfassend die normativen Anforderungen für die Erteilung einer Herstellungserlaubnis bzw. einer Importerlaubnis. Darin ist – wie zuvor in der Richtlinie 75/319/EWG – das Erfordernis einer sachkundigen Person enthalten (Art. 49); der Aufgaben- und Verantwortungsbereich ist in Art. 51 der Richtlinie 2001/83/EG umschrieben. Erst durch die 14. AMG-Novelle – und also mit achtundzwanzigjähriger Verspätung – wurden diese Bestimmungen insoweit in das deutsche Arzneimittelrecht transponiert und wurde die Rechtsfigur der sachkundigen Person nach § 14 AMG auf Gesetzesebene geschaffen.
IV. Die Sachkenntnis der sachkundigen Person Wie sich dem bereits zitierten § 14 Abs. 1 Nr. 1 AMG entnehmen lässt, muss die sachkundige Person die nach § 15 AMG erforderliche Sachkenntnis besitzen. Diese Bestimmung lautet: § 15 Sachkenntnis (1) Der Nachweis der erforderlichen Sachkenntnis als sachkundige Person nach § 14 wird erbracht durch 1. die Approbation als Apotheker oder 8
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S. die Gesetzesbegründung in Bundestagsdrucksache 15/5316 vom 20. April 2004 (elektronische Fassung), S. 85. Amtsblatt Nr. L 147 vom 9. Juni 1975, S. 13. ABl. EG Nr. L 311/67 vom 28. November 2001, zuletzt geändert durch Richtlinie 2008/29/EG vom 11. März 2008, ABl. EU Nr. L81/51 vom 20. März 2008.
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2. das Zeugnis über eine nach abgeschlossenem Hochschulstudium der Pharmazie, der Chemie, der Biologie, der Human- oder der Veterinärmedizin abgelegte Prüfung sowie eine mindestens zweijährige praktische Tätigkeit in der Arzneimittelprüfung.
Soweit es sich bei der sachkundigen Person nach § 14 nicht um einen approbierten Apotheker handelt, sondern um einen Pharmazeuten, Chemiker, Biologen, Humanmediziner oder Veterinärmediziner, müssen die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 AMG zusätzlich erfüllt sein. Dies bedeutet ausreichende nachweisbare Kenntnisse in Experimenteller Physik, Allgemeiner und Anorganischer Chemie, Organischer Chemie, Analytischer Chemie, Pharmazeutischer Chemie, Biochemie, Physiologie, Mikrobiologie, Pharmakologie, pharmazeutischer Technologie, Toxikologie und Pharmazeutischer Biologie. Soweit es sich um die zuvor genannten Berufsgruppen und die Sachkunde für Blutzubereitungen, Sera und Impfstoffe handelt, sind Kenntnisse für diesen Personenkreis in den zusätzlichen zwölf Fächern des § 15 Abs. 2 AMG nicht erforderlich. In einer differenzierenden Weise legt § 15 Abs. 3 und Abs. 3a AMG für diese und andere Fälle besondere Anforderungen fest, die u.a. auch transfusionsmedizinische Erfahrungen umfassen. Fraglich kann sein, was unter einer praktischen Tätigkeit in der „Arzneimittelprüfung“ zu verstehen ist. Eine Auslegungshilfe bietet hier § 17 Abs. 1 Satz 3 AMWHV. Danach soll die Prüfung „neben der vollständigen qualitativen und quantitativen Analyse, insbesondere der Wirkstoffe, auch alle sonstigen Überprüfungen erfassen, die erforderlich sind, um die jeweilige Produktqualität zu gewährleisten“. Diese Bestimmung zielt zwar auf die erforderliche Arzneimittelprüfung ab, die erfolgen muss, wenn das Arzneimittel importiert und in Deutschland geprüft wird. Da § 17 Abs. 1 Satz 2 AMWHV aber ausdrücklich auf § 14 AMWHV hinsichtlich der Prüfung verweist und § 14 AMWHV die Anforderungen an die erforderliche Qualitätskontrolle enthält, ist erkennbar, dass die Arzneimittelprüfung im Sinne des § 15 Abs. 1 AMG die qualitative und quantitative Analyse von Arzneimitteln und Wirkstoffen umfasst. Dies lässt sich auch Art. 49 Abs. 3 der Richtlinie 2001/83/EG, dem Gemeinschaftskodex, entnehmen. Die Bestimmung lautet: Art. 49 Abs. 3 Die sachkundige Person muss mindestens zwei Jahre in einem oder mehreren Unternehmen, denen eine Herstellungserlaubnis erteilt wurde, auf dem Gebiet der qualitativen Analyse von Arzneimitteln, der quantitativen Analyse der wirksamen Bestandteile sowie der Versuche und Prüfungen, die erforderlich sind, um die Qualität der Arzneimittel zu gewährleisten, tätig gewesen sein.
Auch wenn der Begriff der Arzneimittelprüfung – im Gegensatz zum Begriff der Herstellung, vgl. § 4 Abs. 14 AMG – nicht legal definiert ist, stellt das Zurückge-
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hen auf die umzusetzende und umgesetzte Richtlinie 2001/83/EG eine sachgerechte Auslegungshilfe dar.11 Erstaunlicherweise ist in dem legal definierten Verantwortungsbereich der sachkundigen Person nach § 14, der in § 19 AMG scheinbar abschließend umschrieben ist, die eigentliche rechtlich erhebliche und konkrete Kerntätigkeit, nämlich die Freigabe von Arzneimittelchargen, nicht enthalten. Dass die Freigabe zum Inverkehrbringen der außerordentlich verantwortungsvolle und entscheidende Akt ist, der es erst gestattet, ein Arzneimittel an Ärzte, Patienten, Großhändler und Apotheken abzugeben, ergibt sich also nicht aus dem AMG. Die Notwendigkeit der Freigabe durch die sachkundige Person nach § 14 AMG ergibt sich vielmehr aus der AMWHV, deren Ermächtigungsgrundlage in § 54 AMG enthalten ist. Von überragender rechtlicher Bedeutung für die Verantwortung der sachkundigen Person nach § 14 AMG ist § 16 AMWHV (Freigabe zum Inverkehrbringen). Der Bedeutung wegen soll diese Vorschrift im Wortlaut zitiert werden: § 16 Freigabe zum Inverkehrbringen (1) Die Freigabe einer Charge zum Inverkehrbringen darf von der sachkundigen Person nach § 14 des Arzneimittelgesetzes, die mit dem Produkt und mit den für dessen Herstellung und Prüfung eingesetzten Verfahren vertraut ist, nur nach von ihr vorher erstellten schriftlichen Anweisungen und Verfahrensbeschreibungen nach Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 vorgenommen werden. (2) Die Freigabe darf nur erfolgen, wenn 1. das Herstellungsprotokoll und das Prüfprotokoll ordnungsgemäß unterzeichnet sind, 2. zusätzlich zu den analytischen Ergebnissen essentielle Informationen wie die Herstellungsbedingungen und die Ergebnisse der In-Prozess-Kontrollen berücksichtigt wurden, 3. die Überprüfung der Herstellungs- und Prüfunterlagen die Übereinstimmung der Produkte mit ihren Spezifikationen einschließlich der Endverpackung bestätigt hat und 4. bei zugelassenen oder registrierten Arzneimitteln die Übereinstimmung mit den Zulassungs- oder Registrierungsunterlagen und bei Prüfpräparaten die Übereinstimmung mit den Unterlagen für die Genehmigung für die klinische Prüfung, in der sie zur Anwendung kommen, vorliegt.
V. Aufgaben- und Verantwortungsbereiche des Leiters der Herstellung und des Leiters der Qualitätskontrolle Der Aufgaben- und Verantwortungsbereich der sachkundigen Person nach § 14 AMG ist nicht gründlich bestimmbar, ohne zuvor die Aufgaben und Verantwortungsbereiche der übrigen Verantwortungsträger, nämlich des Leiters der Herstellung und des Leiters der Qualitätskontrolle, in die Betrachtung einzubeziehen, deren eigenverantwortliche Tätigkeiten der abschließenden Tätigkeit der sachkun11
So auch VG Köln, Urteil vom 17. Dezember 2007 – 24K2342/07, abgedruckt in: Gesundheitsrecht 2008, S. 159 ff.
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digen Person nach § 14 AMG zeitlich vorausgehen. Das Vorhandensein dieser Leiter ist für die Erteilung einer Herstellungserlaubnis gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 2 AMG erforderlich. Die Qualifikationsvoraussetzungen der beiden genannten Leiter sind deutlich geringer als diejenigen, die an den bisherigen Herstellungsleiter und den bisherigen Kontrollleiter gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AMG a. F. gestellt wurden. Herstellungsleiter und Kontrollleiter benötigten die Sachkunde gemäß § 15 AMG, also eine formalisierte akademische Ausbildung mit einer zeitlich genau festgelegten praktischen Erfahrung. Demgegenüber enthält § 14 Abs. 1 Nr. 2 AMG als Qualifikationsvoraussetzung für den Leiter der Herstellung und den Leiter der Qualitätskontrolle lediglich eine „ausreichende fachliche Qualifikation und praktische Erfahrung“. Beide Begriffe sind unbestimmte Rechtsbegriffe und müssen im Hinblick auf die Art des Arzneimittels, das Gefährdungspotential des Arzneimittels und die einzuhaltenden Bedingungen bei der Herstellung und Prüfung des Arzneimittels nach Sinn und Zweck ausgelegt werden. Hier muss eine jeweils fallbezogene Subsumption vorgenommen werden, um die ausreichende fachliche Qualifikation und die praktische Erfahrung bei der Herstellung bzw. der Qualitätskontrolle zu ermitteln. Eine akademische Qualifikation kann grundsätzlich nicht verlangt werden, wobei eine solche Forderung der zuständigen Landesbehörde im Einzelfall ausnahmsweise ihre Berechtigung haben könnte, wie u.U. bei Blutzubereitungen. Rechtlich ganz und gar unabhängig von der Frage der Qualifikation und der praktischen Erfahrung in der Arzneimittelherstellung und in der Arzneimittelprüfung hat der Verordnungsgeber es für notwendig erachtet, die Aufgaben und Verantwortungen der genannten Leiter präzise zu umschreiben. Er hat dies in § 12 AMWHV getan. Die zentral wichtige Vorschrift des § 12 Abs. 1 AMWHV hat folgenden Wortlaut: § 12 Personal in leitender und in verantwortlicher Stellung (1) Der Verantwortungsbereich der sachkundigen Person ist nach Maßgabe von § 19 des Arzneimittelgesetzes schriftlich festzulegen. Die Aufgaben der Leitung der Herstellung und der Leitung der Qualitätskontrolle sind ebenfalls schriftlich festzulegen. Zu den Aufgaben der Leitung der Herstellung gehören insbesondere 1. Sicherstellung, dass die Produkte vorschriftsmäßig hergestellt und gelagert werden, 2. Genehmigung der Herstellungsanweisung nach § 13 Abs. 1 und Sicherstellung, dass diese eingehalten wird, 3. Kontrolle der Wartung, der Räumlichkeiten und der Ausrüstung für die Herstellung, 4. Sicherstellung, dass die notwendigen Validierungen der Herstellungsverfahren durchgeführt werden, und 5. Sicherstellung der erforderlichen anfänglichen und fortlaufenden Schulung des Personals, das im Bereich der Herstellung tätig ist. Zu den Aufgaben der Leitung der Qualitätskontrolle gehören insbesondere 1. Billigung oder Zurückweisung von Ausgangsstoffen, Verpackungsmaterial und Zwischenprodukten, 2. Genehmigung von Spezifikationen, Anweisungen zur Probenahme und von Prüfanweisungen nach § 14 Abs. 1 sowie Sicherstellung, dass diese eingehalten werden,
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Horst Hasskarl 3. Sicherstellung, dass alle erforderlichen Prüfungen durchgeführt werden, 4. Zustimmung zur Beauftragung sowie Überwachung der Analysenlabors, die im Auftrag tätig werden, 5. Kontrolle der Wartung, der Räumlichkeiten und der Ausrüstung für die Durchführung der Prüfungen, 6. Sicherstellung, dass die notwendigen Validierungen und Prüfverfahren durchgeführt werden, und 7. Sicherstellung der erforderlichen anfänglichen und fortlaufenden Schulung des Personals, das im Bereich der Prüfung tätig ist. Die Leitung der Herstellung und die Leitung der Qualitätskontrolle muss, abgesehen von den Fällen des § 14 Abs. 2 und 2 b des Arzneimittelgesetzes, voneinander unabhängig sein.
Der Aufgaben- und Verantwortungsbereich des Leiters der Herstellung wird weiter konkretisiert durch § 13 AMWHV. Die Bestimmung lautet: § 13 Herstellung (1) Die Herstellungsvorgänge sind mit Ausnahme der Freigabe unter Verantwortung der Leitung der Herstellung nach vorher erstellten schriftlichen Anweisungen und Verfahrensbeschreibungen (Herstellungsanweisungen) durchzuführen. Sie müssen in Übereinstimmung mit der guten Herstellungspraxis sowie den anerkannten pharmazeutischen Regeln erfolgen. (2) Bei Arzneimitteln, die zugelassen oder registriert sind, muss die Herstellungsanweisung den Zulassungs- oder Registrierungsunterlagen, bei Prüfpräparaten den Genehmigungsunterlagen für die klinische Prüfung, in der sie zur Anwendung kommen, entsprechen. [...] (7) Die Herstellung jeder Charge ist gemäß der Herstellungsanweisung nach Abs. 1 durchzuführen und vollständig zu protokollieren (Herstellungsprotokoll). [...] (8) Im Herstellungsprotokoll ist von der Leitung der Herstellung mit Datum und Unterschrift zu bestätigen, dass die Charge entsprechend der Herstellungsanweisung hergestellt wurde.
Daraus ergibt sich, dass der Leiter der Herstellung – insoweit entsprechend dem Herstellungsleiter des alten Rechts – derjenige ist, unter dessen Leitung und Verantwortung das Arzneimittel hergestellt wird. Der Umfang seines Aufgabenbereichs definiert sich also grundsätzlich über den Begriff des Herstellens nach § 4 Abs. 14 AMG. Da die Freigabe ein Akt des Herstellens ist, wie sich § 4 Abs. 14 AMG entnehmen lässt, für die Freigabe als Herstellungsakt jedoch die sachkundige Person nach § 14 AMG verantwortlich ist, siehe § 16 Abs. 1 AMWHV, gehört der Herstellungsakt „Freigabe“ nicht in den Verantwortungsbereich und Aufgabenbereich des Leiters der Herstellung. Er ist in § 13 Abs. 1 Satz 1 AMWHV daher ausdrücklich ausgenommen. Wie bereits dargestellt, sind die Aufgaben und damit die Verantwortungsbereiche des Leiters der Qualitätskontrolle in § 12 Abs. 1 Satz 4 AMWHV beschrieben. Da es sich insoweit, wie bezüglich des Leiters der Herstellung, um Mindestaufgaben handelt („insbesondere“), kann betriebsintern der Aufgabenbereich – wie beim Leiter der Herstellung – auch bei dem Leiter der Qualitätskontrolle erweitert werden. Wie § 13 AMWHV den Bereich des Leiters der Herstellung konkretisiert,
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so geschieht dies für den Leiter der Qualitätskontrolle durch § 14 AMWHV. Diese Bestimmung lautet: § 14 Prüfung (1) Ausgangsstoffe und Endprodukte sowie erforderlichenfalls auch Zwischenprodukte sind unter Verantwortung der Leitung der Qualitätskontrolle nach vorher erstellten schriftlichen Anweisungen und Verfahrensbeschreibungen (Prüfanweisung) zu prüfen. Die Prüfung muss in Übereinstimmung mit der guten Herstellungspraxis sowie den anerkannten pharmazeutischen Regeln erfolgen. Die Sätze 1 und 2 gelten entsprechend für Behältnisse, äußere Umhüllungen, Verpackungs- und Kennzeichnungsmaterialien sowie Packungsbeilagen. (2) Bei Arzneimitteln, die zugelassen oder registriert sind, muss die Prüfanweisung den Zulassungs- oder Registrierungsunterlagen, bei Prüfpräparaten den Genehmigungsunterlagen für die klinische Prüfung, in der sie zur Anwendung kommen, entsprechen. [...] (4) Die Prüfung ist gemäß der Prüfanweisung nach Abs. 1 durchzuführen und vollständig zu protokollieren (Prüfprotokoll). Alle Abweichungen im Prozess und von der Festlegung in der Spezifikation sind zu dokumentieren und gründlich zu untersuchen. Die Leitung der Qualitätskontrolle hat im Prüfprotokoll mit Datum und Unterschrift zu bestätigen, dass die Prüfung entsprechend der Prüfanweisung durchgeführt worden ist und das Produkt die erforderliche Qualität besitzt. (5) Wurde die erforderliche Qualität festgestellt, sind Produkte entsprechend kenntlich zu machen; bei zeitlicher Begrenzung der Haltbarkeit ist das Enddatum anzugeben.
Da die AMWHV u.a. die Umsetzung der Richtlinie 2003/94/EG der Kommission vom 8. Oktober 2003 zur Festlegung der Grundsätze und Leitlinien der guten Herstellungspraxis für Humanarzneimittel und für zur Anwendung beim Menschen bestimmte Prüfpräparate darstellt12 und eine Verbindlichmachung des EGGMP-Leitfadens für die gute Herstellungspraxis für Arzneimittel und Prüfpräparate einschließlich seiner Anhänge vorsieht (vgl. § 3 Abs. 2 i.V. mit § 2 Nr. 3 AMWHV),13 ist es für die Inhaber von Herstellungserlaubnissen wichtig, dass nach den EG-GMP-Leitlinien der Leiter der Herstellung und der Leiter der Qualitätskontrolle auch gemeinsam Aufgaben wahrnehmen können. Demgemäß heißt es in Kap. 2.7 des EG-GMP-Leitfadens: 2.7 Die Leiter der Herstellung und der Qualitätskontrolle teilen im Allgemeinen einige die Qualität betreffenden Verantwortungsbereiche untereinander auf oder üben die Verantwortung gemeinsam aus. Je nach nationalen Regelungen können dies sein: - Genehmigung schriftlicher Verfahrensbeschreibungen und anderer Dokumente einschließlich Ergänzungen; - Überwachung und Kontrolle der Umgebungsbedingungen bei der Herstellung; - Betriebshygiene; - Validierung von Verfahren; - Schulung; 12 13
ABl. EU Nr. L 262/22 vom 14. Oktober 2003. Die deutschsprachige Veröffentlichung erfolgte im Bundesanzeiger Nr. 210 vom 9. November 2006, S. 6887.
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Genehmigung und Überwachung von Materiallieferanten; Zustimmung zur Beauftragung der Hersteller, die im Lohnauftrag arbeiten, sowie deren Überwachung; Festlegung und Überwachung der Lagerungsbedingungen für Material und Produkte; Aufbewahrung von Protokollen; Überwachung der Einhaltung der Anforderungen der guten Herstellungspraxis; Überprüfungen, Untersuchungen und Entnahme von Proben zur Überwachung von Faktoren, die die Produktqualität beeinflussen können.
VI. Aufgaben- und Verantwortungsbereich der sachkundigen Person nach § 14 AMG Der Aufgaben- und Verantwortungsbereich der sachkundigen Person nach § 14 AMG wurde mit Hinweis auf § 19 AMG sowie § 16 AMWHV bereits dargestellt. Ergänzend ist zu betonen, dass die sachkundige Person nach § 14 AMG in einem fortlaufenden Register oder einem hierfür vorgesehenen vergleichbaren Dokument die Einhaltung der Vorschriften des Arzneimittelrechts für die Herstellung und Prüfung vor dem Inverkehrbringen der Arzneimittel zu bescheinigen hat (§ 19 S. 2 AMG). Eine entsprechende Vorschrift findet sich in § 17 Abs. 5 AMWHV. Sollte ein Arzneimittel in Teilherstellungsstufen oder Prüfungen in anderen Herstellungsbetrieben vorgenommen werden, so kann die sachkundige Person nach § 14 für die endgültige Freigabe zum Inverkehrbringen zwar die Bestätigungen anderer sachkundiger Personen über die Teilherstellungsstufe oder die Prüfung mit heranziehen. Sie bleibt jedoch auch in diesem Fall persönlich für die Freigabe zum Inverkehrbringen der Charge verantwortlich, vgl. § 16 Abs. 4 Satz 2 AMWHV. Diese Verantwortung geht einher mit der zusätzlichen Verpflichtung, sich durch persönliche Kenntnisnahme oder durch Bestätigung anderer ausreichend sachkundiger Personen davon zu überzeugen, dass der Hersteller in der Lage ist, die Arzneimittel GMP-gerecht herzustellen und zu prüfen, vgl. § 16 Abs. 5 AMWHV. Im Zusammenhang mit der Freigabe von Prüfpräparaten,14 die in einem Nicht-EU-Mitgliedsstaat hergestellt wurden und für die eine Genehmigung für das Inverkehrbringen im Herkunftsland vorliegt, ist die sachkundige Person nach § 14 AMG dafür verantwortlich, dass jede Herstellungscharge allen erforderlichen Prüfungen unterzogen wurde, um die Qualität der Prüfpräparate gemäß den Genehmigungsunterlagen für die klinische Prüfung zu bestätigen, vgl. § 17 Abs. 4 AMWHV. Eine weitere Verpflichtung der sachkundigen Person enthält § 18 AMWHV, wonach die sachkundige Person nach § 14 sicherzustellen hat, dass Rückstellmuster von jeder Charge eines Fertigarzneimittels in ausreichender Menge zum Zwecke einer gegebenenfalls erforderlichen analytischen Nachtestung und zum Nachweis der Kennzeichnung einschließlich der Packungsbeilage mindestens ein Jahr über den Ablauf des Verfalldatums hinaus aufbewahrt werden. Diese Verpflich14
im Sinne des § 3 Abs. 3 der GCP-Verordnung vom 9. August 2004 (BGBl. I S. 2081, zuletzt geändert durch Verordnung vom 3. November 2006 (BGBl. I S. 2523).
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tung wird konkretisiert durch den Anhang 19 des EG-GMP-Leitfadens, der Leitlinien für Referenz- und Rückstellmuster enthält. In der Literatur,15 aber auch in einschlägigen Fortbildungsveranstaltungen wird gelegentlich die Auffassung vertreten, dass die Verantwortung für die GMPgerechte Herstellung eines Arzneimittels und für die GMP-gerechte Prüfung des Arzneimittels vollständig auf die sachkundige Person nach § 14 übergegangen sei, dass also Herstellung, Prüfung und Freigabe in deren Verantwortungsbereich liegen. Diese Auffassung trifft nicht zu. Wie § 14 Abs. 1 Nr. 2 AMG erkennen lässt, ist das Vorhandensein eines – separaten – Leiters der Herstellung und eines – separaten – Leiters der Qualitätskontrolle mit ausreichender fachlicher Qualifikation, praktischer Erfahrung und Zuverlässigkeit weiterhin, wie im alten Recht, erforderlich. Diesen Leitern kommt somit eine eigenständige öffentlichrechtliche Verantwortung zu. Dies ergibt sich nicht nur, wie oben bereits dargestellt, aus § 12 Abs. 1 AMWHV, sondern lässt sich z.B. § 14 Abs. 4 Nr. 4 AMG entnehmen. Danach können bestimmte Herstellungsschritte und Prüfungsschritte in beauftragten oder anderen Betrieben durchgeführt werden, ohne dass diese Betriebe Inhaber einer Herstellungserlaubnis sein müssen, „wenn ... gewährleistet ist, dass die Herstellung und Prüfung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erfolgt und der Leiter der Herstellung und der Leiter der Qualitätskontrolle ihre Verantwortung wahrnehmen können“. Die sachkundige Person nach § 14 spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Dies schließt ein Weisungsrecht der sachkundigen Person gegenüber den genannten Leitern aus.16 Das schärfste Instrument, das der sachkundigen Person zur Verfügung steht, ist die Nichtfreigabe einer Charge. Konsequenterweise hat die sachkundige Person gemäß § 19 AMG lediglich zu bestätigen, dass die „Charge des Arzneimittels entsprechend den Vorschriften über den Verkehr mit Arzneimitteln hergestellt und geprüft wurde“. Demgegenüber hat § 12 Abs. 1 AMWHV dem Leiter der Herstellung die Verantwortung dafür auferlegt, dass die Arzneimittel vorschriftsmäßig hergestellt und gelagert werden (§ 12 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1). Gleiches gilt für die Verpflichtung des Leiters der Qualitätskontrolle. Er muss sicherstellen, dass alle erforderlichen Prüfungen durchgeführt werden und wurden. Daraus folgt, dass die sachkundige Person nach § 14 für die tatsächliche Herstellung und Prüfung nicht verantwortlich ist, sondern – ex post – die ordnungsgemäße und von anderen zu verantwortende Herstellung und Prüfung lediglich bescheinigt, falls die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Sie schuldet also eine sachkundige retrospektive Beurteilung der Herstellung und Prüfung einer Arzneimittelcharge. Ihr insoweit bestehender Verantwortungsbereich wird durch Anhang 16 (Ergänzende Leitlinien für
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Z.B. Wesch, Überörtliche „Freigabe“ von Arzneimitteln und Verpackungsmaterial, in: Pharmazeutische Industrie 2008, S. 736 (737); zum Gesamtkomplex der Aufgaben, Pflichten und Verantwortlichkeiten der sachkundigen Person s. Die Qualified Person, Herausgeber: Concept Heidelberg, 2007; s. auch Hasskarl, Herstellungserlaubnisse im novellierten Arzneimittelrecht in: Transfusion Medicine and Hemotherapy 2007, S. 105 ff. A.A. Wesch, a.a.O.. Das Verhältnis zwischen der sachkundigen Person und den Leitern dürfte zutreffend als Kooperation zu bezeichnen sein.
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die Zertifizierung durch eine sachkundige Person und Chargenfreigabe) des GMPLeitfadens17 konkretisiert. Wie bereits erwähnt, ergibt sich die originäre und eigenständige Verantwortung des Leiters der Herstellung und des Leiters der Qualitätskontrolle direkt aus der AMWHV (§§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 1 AMWHV). Schließlich ist die zentral wichtige Vorschrift des § 12 AMWHV überschrieben mit „Personal in leitender und in verantwortlicher Stellung“. Nimmt man hier noch die Regelung des § 4 Abs. 2 Satz 2 AMWHV hinzu, wonach zwischen den Verantwortungsbereichen des Personals keine Lücken oder unbegründete Überlappungen bestehen dürfen, folgt daraus, dass nicht nur der Aufgabenbereich, sondern auch der Verantwortungsbereich der sachkundigen Person gegenüber den Verantwortungsbereichen des Leiters der Herstellung und des Leiters der Qualitätskontrolle abzugrenzen ist. Mithin liegt die originäre und wegen der gesetzlichen Fixierung in § 12 AMWHV nicht übertragbare Verantwortung für die GMP-gerechte Herstellung eines Arzneimittels beim Leiter der Herstellung und für die GMP-gerechte Prüfung beim Leiter der Qualitätskontrolle. Diese Feststellung wird bestätigt durch § 66 Satz 2 AMG. Danach sind neben der sachkundigen Person der Leiter der Herstellung (wie früher der Herstellungsleiter) und der Leiter der Qualitätskontrolle (wie früher der Kontrollleiter) gegenüber den zuständigen Behörden persönlich zur Auskunftserteilung usw. verpflichtet. Aufgaben und Verantwortlichkeiten laufen also weiterhin parallel. Die sachkundige Person nach § 14 AMG besitzt einen eigenständigen, hoch bedeutsamen Verantwortungsbereich insoweit, als sie die Freigabe zum Inverkehrbringen vorzunehmen hat und eine Überprüfung von Vorgängen durchzuführen hat, die in der Vergangenheit bereits unter der Verantwortung anderer Personen geschehen sind. Die sachkundige Person ist damit ein sachkundiger Kontrolleur, nicht jedoch ein Hersteller oder Prüfer. Mit der Freigabe ist also nicht etwa die Übernahme der Verantwortung für Herstellung und Prüfung verbunden. Im Übrigen ist der Inhaber der Herstellungserlaubnis verpflichtet, der sachkundigen Person nach § 14, aber auch dem Leiter der Herstellung und dem Leiter der Qualitätskontrolle ausreichende Befugnisse einzuräumen, damit sie ihrer Verantwortung nachkommen können, wie sich dies § 4 Abs. 2 Satz 5 AMWHV entnehmen lässt. Die genannten drei Verantwortungsträger bleiben jedoch in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer des Inhabers der Herstellungserlaubnis arbeitsrechtlich stets weisungsgebunden. Auch die sachkundige Person nach § 14 steht nicht etwa rechtlich eigenständig neben dem Erlaubnisinhaber, sie ist vielmehr ein unerlässlicher organisatorischer Bestandteil von ihm.
VII. Ordnungswidrigkeitsrechtliche und strafrechtliche Verantwortung Eine abschließende Betrachtung wendet sich der strafrechtlichen Verantwortung der sachkundigen Person zu. Eine spezielle Strafvorschrift, die ein Verhalten der 17
Veröffentlicht in: Bundesanzeiger Nr. 87 vom 10. Mai 2007, S. 4826.
Verantwortung der sachkundigen Person nach § 14 AMG
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sachkundigen Person unter Strafe stellt, gibt es weder im AMG noch in der AMWHV. Dagegen handelt eine sachkundige Person ordnungswidrig, wenn sie unter Verletzung des § 16 Abs. 1 AMWHV (Freigabe zum Inverkehrbringen) eine Charge freigibt, wenn sie nicht sicherstellt, dass die erforderlichen Rückstellmuster gemäß § 18 Abs. 1 AMWHV aufbewahrt werden oder wenn sie bei Prüfpräparaten, also bei Arzneimitteln, die für die klinische Prüfung bestimmt sind, nicht sicherstellt, dass ausreichende Muster jeder Charge aufbewahrt werden (§ 18 Abs. 3 AMWHV). Diese Ordnungswidrigkeitstatbestände sind in § 32 Nr. 1, 3 und 4 AMWHV enthalten. Eine derartige Ordnungswidrigkeit kann, wie sich § 97 Abs. 2 Nr. 31 i.V. mit Abs. 3 AMG entnehmen lässt, mit einer Geldbuße bis zu 25.000 € geahndet werden. Derartige spezielle Ordnungswidrigkeitstatbestände bestehen im Hinblick auf den Leiter der Herstellung und den Leiter der Qualitätskontrolle nicht. Gleichwohl kann dieser Personenkreis ordnungswidrigkeitsrechtlich über § 9 Abs. 2 OWiG in Anspruch genommen werden. Strafrechtlich können alle drei Verantwortungsträger nach allgemeinem Strafrecht belangt werden. Dies folgt aus § 14 Abs. 2 StGB. Wenn beispielsweise eine kontaminierte Charge eines Arzneimittels hergestellt und die Herstellung im Herstellungsprotokoll durch den Leiter der Herstellung als „ordnungsgemäß hergestellt“ bescheinigt wird, wenn diese kontaminierte Charge vom Leiter der Qualitätskontrolle als „ordnungsgemäß geprüft“ bezeichnet wird und ihre Qualität somit bestätigt ist und schließlich die sachkundige Person nach § 14 die Freigabe zum Inverkehrbringen gemäß § 16 AMWHV ohne Beanstandung vornimmt und durch diese kontaminierte Charge ein Patient zu Schaden kommt, hängt die Strafbarkeit der beteiligten drei Personen (fahrlässige Körperverletzung gemäß § 229 StGB) vom Umfang ihres je eigenen Verschuldens ab. Eine Regelung, dass in einem solchen Fall lediglich die sachkundige Person strafrechtlich verantwortlich ist, gibt es nicht. Im Gegenteil dürfte ihr Verschulden wohl grundsätzlich als geringer zu bewerten sein, weil zuvor der Leiter der Herstellung und der Leiter der Qualitätskontrolle in schriftlicher Form die ordnungsgemäße Herstellung und Prüfung bestätigt haben. Die zivilrechtliche persönliche Haftung der drei Verantwortungsträger, also die Haftung auf Schadensersatz, verdient keine eigenständige Darstellung, weil dieses Risiko wegen der Haftung des Zulassungsinhabers gemäß § 84 AMG und seine Absicherung durch eine Pharmahaftpflichtversicherung gemäß § 94 AMG, wegen der beim Hersteller in aller Regel bestehenden freiwilligen Betriebshaftpflichtversicherung zur Absicherung von Risiken nach dem Produkthaftungsgesetz oder nach § 823 BGB und aus arbeitsrechtlichen Gründen praktisch nicht besteht.18 Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass die drei genannten arzneimittelrechtlichen Verantwortungsträger in einem Verantwortungsverbund stehen und dass jeder für die Einhaltung der ihm gesetzlich übertragenen Verantwortungen persönlich verantwortlich ist. Eine Gesamtverantwortung der sachkundigen Person für Herstellung und Prüfung eines Arzneimittels ist nicht gegeben. 18
S. hierzu Wesch, Haftungsrechtliche Verantwortung der Qualified Person, in: Pharmazeutische Industrie 2008, S. 239 ff. Die von ihm vertretene Auffassung einer weiterreichenden Haftung der sachkundigen Person (a.a.O., S. 242) wird nicht geteilt.
Oversight of Marketing Relationships Between Physicians and the Drug and Device Industry: A Comparative Study
Timothy Stoltzfus Jost∗
Professional Industry Relationships Two of the abiding concerns of the scholarship of Professor Erwin Deutsch have been medical and pharmaceutical law. It is appropriate, therefore, that a chapter in this Festschrift commemorating the eightieth birthday of Prof. Deutsch should examine the interaction between the pharmaceutical industry and physicians. Throughout the world, complex mutually-dependent relationships exist between physicians and pharmaceutical or medical device companies.1 These relationships are found in research, education, and clinical practice. They include, for example, drug and device company sponsorship of research, fellowships, and continuing professional education; industry payments to physicians for consulting; gifts to physicians and their employees in marketing; and industry involvement in the formulation of clinical practice guidelines. Some physicians also hold equity interests in drug or device companies or intellectual property interests in their products. Physician-industry relationships present conflicts of interest because the physician’s primary commitment to patients in the clinical context, students in the educational context, and science (and patients) in the research context comes into conflict with a secondary commitment to a drug or device company based on the financial interest of the physician.2 The literature on physician/industry conflicts of interest has generally viewed these relationships negatively. There is a concern that industry funding of research may bias the findings of research or obscure the source of research reports, or at
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I thank Timothy Diette and Jeff Caswell for comments on earlier drafts, John Appelbaum for research assistance, and the Lewis Law Center for research support. See, documenting these relationships, Campbell, et al., A National Survey of PhysicianIndustry Relationships, NEJM 2007, 1742 (94% of physicians in a recent survey in the United States had some type of relationship with the pharmaceutical industry). See Emanuel/Thompson, Conflicts of Interest, in Emanuel, The Oxford Textbook of Research Ethics (2008).
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least delay or limit the release of results and sharing of data.3 Industry support of undergraduate, graduate, or continuing education may bias presentations to favor the products of sponsors. Physicians in clinical practice may favor drugs and devices produced by firms that offer them consulting contracts or gifts, or in which they hold property interest, rather than the product that is most appropriate for a particular patient or most cost effective.4 Conflicts of interest may even infect clinical practice guidelines.5 Biases resulting from industry-physician relationships may result in bad research, patient injury, and high health care system costs. But there are also arguments favoring close relationships between industry and physicians.6 In most countries, industry support for research is necessary if medical research is to continue. Support from government and from non-profit foundations is far from adequate to support continued medical progress, and is any event usually is focused on basic science rather than on clinical trials and product development. Industry support for medical education may provide much needed funds to make up short-falls educational institutions would otherwise face if they had to depend on public support and on student fees. Industry marketing and support for continuing professional education helps busy doctors in practice learn about new products that may prove very beneficial to their patients but that they may not otherwise have known of. Moreover, doctors are trained to be scientists and to think critically–it should not be assumed that a gift of a meal or pen will distort their judgment, which a life-time of training tells them should be devoted solely to the welfare of their patients. Conflicts of interest do not necessarily result in bias. But they may. Common sense tells us that financial interests do affect judgment, or are likely to. Indeed, there is considerable empirical evidence that even small gifts, even when given without any strings attached, create an expectation of reciprocity on both sides that distorts judgment and result in bias.7 Tellingly, physicians who are skeptical that pharmaceutical representatives influence their own prescribing believe that the behavior of their colleagues is influenced by industry relationships.8 Indeed, a systematic review of the medical literature on gifting
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See, Berkelman/Li/Gross, Scope and Conflict of Financial Conflicts of Interest in Biomedical Research: A Systematic Review, JAMA 2003, 454; Steinbrook, Gag Clauses in Clinical-Trial Agreements, NEJM 2005, 2160; Martinson/Anderson/de Vries, Scientists Behaving Badly, Nature 2005, 737; Lemmens, Leopards in the Temple: Restoring Scientific Integrity to Commercialized Research Science, JLMedEth 2004, 641. Wazana, Physicians and the Pharmaceutical Industry: Is a Gift Ever Just a Gift? JAMA 2000, 373. See Eichacker/Nathanson/Danner, Surviving Sepsis–Practice Guidelines, Marketing Campaigns, and Eli Lilly, NEJM 2006, 1640; Choudhry/Stelfox/Detsky, Relationships Between Authors of Clinical Practice Guidelines and the Pharmaceutical Industry, JAMA 2002, 612. See Stossel, Regulation of Financial Conflicts of Interest in Medical Practice and Medical Research: A Damaging Solution in Search of a Problem, Bio&Med 2007, 54. Katz/Caplan/Merz, All Gifts Large and Small: Toward an Understanding of the Ethics of Pharmaceutical Industry Gift Giving, Am.J.Bio 2003, 39; Dana/Loewenstein, A Social Science Perspective on Gifts to Physicians from Industry, JAMA 2003, 252. Dana/Lowenstein, JAMA 2003 at 254.
Marketing Relationships between Physicians and the Drug and Device Industry
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found that gifts had a negative effect in most instances.9 There is reason, therefore, to be cautious in encouraging, or even permitting, financial relationships between industry and physicians. This chapter considers why physician-industry conflicts of interest exist, how developed countries regulate them, and how they should be regulated. It examines first the economic basis of physician/industry relationships and then considers how a number of developed countries have responded to these relationships. It focuses primarily on industry activities best described as “marketing.” It specifically does not address in any detail industry sponsorship of research. Industry sponsorship of research is perhaps unavoidable, and is generally accepted as making a positive contribution, despite the concerns it raises. Most (although not all) commentators agree that industry research funding should be regulated rather than banned.10 It is less clear that industry marketing efforts aimed at medical education and clinical practice are necessary. The argument for banning them, or at least regulating them, is stronger.
The Market for Drugs and Devices The market for drugs and devices is quite distinctive. The supply side, demand side, and regulation of the market are each atypical. On the supply side, the market is characterized by very high fixed costs with relatively low variable production costs.11 This is particularly true with small molecule drugs, where research and development can cost hundreds of millions of dollars, while manufacturing costs are comparatively small. Second, manufacturers often have considerable market power. Drugs and devices are usually protected by patents (or sometimes trade secrets), and in some countries by market exclusivity periods that supplement patent rights. Intellectual property rights give breakthrough products sole dominance over the market. Because of the high cost of developing innovator products, companies often find it more profitable to produce new products that offer only marginal improvements over existing products (longer lasting slow release products, for example) or products that are therapeutically similar to competing products that dominate lucrative markets.12 But even products that have therapeutic equivalents often retain some market power until 9 10
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Wazana, JAMA 2000, 373. See, e.g. AAMC-AAU Advisory Committee, Protecting Patients, Preserving Integrity, Advancing Health: Accelerating the Implementation of COI Policies in Human Subjects Research (2008): FASEB, Call to Action: Managing Financial Relationships Between Academia and Industry in Biomedical Research (2007). The cost of developing a new drug has been estimated at over $800 million, though this estimate is quite controversial. See Adams/Brantner, Estimating the Cost of New Drug Development: Is it really $802 Million?, Health Aff 2006, 420. Only about a quarter of drug company revenues are spent on production costs. Reinhardt, Perspectives on the Pharmaceutical Industry, HealthAff 2001, 136, 141. See Pattikawa, Longitudinal Study on the Performance of U.S. Pharmaceutical Firms: The Increasing Role of Marketing (2007).
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they face competition from multiple generics.13 Many countries regulate in one way or another the prices paid for drugs and devices, but regulated prices are often a function of prices paid by other countries, and throughout most of the developed world, prices are not radically different.14 On the demand side, drugs and devices usually face relatively low price elasticity of demand.15 Health is of great value and sick patients are often willing to pay for the restoration of health and well-being or for protection against a worsening of their condition. An even more important factor influencing demand is moral hazard. In developed countries, most patients are covered by public or private insurance, or both. In most developed countries, patients rarely pay the full cost of drugs and devices. Patients often face some cost-sharing obligations, but most of the cost of a drug or device is usually borne by insurance. Insurance coverage allows pharmaceutical companies to keep prices high.16 Moreover, purchasing decisions are often not made by the patient, but rather by an agent – in the first instance by the physician who must write a prescription, and beyond that by institutional formulary committees or by national coverage determination entities. In short, the demand mechanisms that normally control price are fundamentally distorted with respect to drugs and devices. Medicinal products are also heavily regulated. While drugs and devices offer great value to society, they also often have serious side effects and can cause serious injury if they malfunction or are used excessively or inappropriately. Moreover, if harmless or ineffective products are relied upon when effective alternatives are available, patients may suffer serious health consequences. Developed countries, therefore, usually require that drugs and potentially harmful devices be proven safe and effective through rigorous testing.17 This is usually done through clinical trials. However, clinical trials are usually limited in their length, the scope of the population that participates, and the indications that they consider. Yet drug and device approval agencies do not usually control the prescribing or use of the products themselves, and prescribing in practice is usually not limited to the indications for which a product is tested – off-label use is common.18 There is an incentive, therefore, for drug companies to conduct clinical trials and to get approval for a relatively narrow indication and then to encourage use of the product for a whole range of other treatments without further clinical trials.19 13 14
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See Pavcnik, Do Pharmaceutical Prices Respond to Insurance?, (2000), 20. See Danzon/Furukawa, International Prices and Availability of Pharmaceuticals in 2005, HealthAff 2008, 221; Cabrales/Jiménez-Martín, The Determinants of Pricing in Pharmaceuticals: Are U.S. Prices Really Higher Than Those of Canada? (2007). See Ringel, et al., The Elasticity of Demand for Health Care (2002), 35-36. Pavcnik, 2000 at 20. This is usually done on a national basis, though in Europe it is also done at the European level by the European Medicines Agency. For a brief description and history of the approval process, see History and Future of the ICH, at http://www. ich.org/cache/compo/276-254-1.html. See Radley/Finkelstein/Stafford, Off-label Prescribing Among Office-Based Physicians, ArchInternMed 2006, 1021; Conroy, et al., Survey of Unlicensed and Off Label Drug Use in Paediatric Wards in European Countries, BMJ 2000, 79. See, Steiman, et al., Characteristics and Impact of Drug Detailing for Gabapentin, PLoS
Marketing Relationships between Physicians and the Drug and Device Industry
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These characteristics of drug and device markets often result in troubling relationships between manufacturers and professionals. Drug and device companies face a host of incentives to spend a great deal of money marketing their products. As noted above, their variable production costs tend to be low, but they are able to keep prices high because of low elasticity of demand, moral hazard, and relative lack of competition as long as a product is covered by a patent or exclusivity period. Even when products are therapeutically equivalent, there is an incentive for aggressive marketing as manufacturers try to differentiate their products from competitor products or to break into a market dominated by other manufacturers. The money that companies receive because of the difference between low production costs and high prices can be devoted to research and development, profit, or marketing. Companies that wish to stay in business must spend some money, often a great deal, on research and development. But companies face in particular an incentive to spend heavily on marketing. Generally, market power results in decreased quantity supplied and a higher price than that found in a competitive market. But in drug and device markets, it seems that increased demand need not result in reduced price, thus the optimal strategy of drug and device companies would seem to be to engage in aggressive marketing to shift the demand curve.20 As long as a dollar or euro spent on marketing brings in more than an additional dollar or euro after variable costs (including marketing costs) are covered, marketing makes sense. In fact, while the average manufacturing industry spends less than 1 % of its sales income on marketing, drug companies spend 10% to 20%.21 The fact that drugs and devices are prescribed or ordered by physicians, rather than purchased, also has a profound effect on the nature of marketing. In most developed countries, direct to consumer brand advertising of prescription drugs is still prohibited. Even where direct-to-consumer advertising is permitted, however, it does not really sell the product to consumers, who cannot legally buy it without a prescription. Rather direct-to-consumer advertising enlists consumers to pressure their doctors to order the product.22 Most marketing is in fact directed at physicians, the real decision-makers with respect to drug and device purchases, and is aimed at persuading them to order or prescribe a particular product.23 In 2004, pharmaceutical companies in the United States spent almost $43 billion on marketing to physicians, $61,000 for each physician in the United States.24 Marketing can also be aimed less directly at formulary committees, guideline committees, or 20 21
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Medicine 2007, e134. See Garber/Jones/Romer, Insurance and Incentives for Medical Innovation (2006). King, Marketing, Product Differentiation, and Competition in the Market for Antiulcer Drugs (2002), 2. This marketing is often aimed at getting physicians to switch from one drug to another rather than to expanding the market. Id. at 23-24. Mintzes, et al., Influence of Direct to Consumer Pharmaceutical Advertising and Patients' Requests on Prescribing Decisions: Two Site Cross Sectional Survey, BMJ 2002, 278. See Narayanan/Manchanda/Chintagunta, The Informative Versus Persuasive Role of Marketing Communication in New Product Categories: An Application to the Prescription Antihistamines Market (2 003). Gagnon/Lexchin, The Cost of Pushing Pills: A New Estimate of Pharmaceutical Promotion Expenditures in the United States, PLoSMed 2008, e1.
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at others who decide whether or not a particular product will be covered or available to patients. The prevalence of off-label prescribing increases the incentives faced by manufacturers to market their products aggressively, since they cannot depend on physicians or formulary or guideline committees learning of all of the indications for which products may be used through official channels. Marketing takes place through a wide variety of channels. First, companies advertise in professional and scientific journals. This strategy makes sense because it allows drug companies to disseminate information about their products directly to their most important audience. It also, however, makes journals financially dependent upon them and thus vulnerable to their influence when a journal must decide whether or not to publish an article favorable to a product or critical of the industry.25 Second, companies sponsor medical education, including continuing medical education which physicians may need to attend to maintain their licensure or specialty certification. In 2000, industry sponsored 314,000 educational events for physicians in the U.S.26 Traditionally drug companies in the United States could pick the speakers for continuing education symposia and even provide them with the text and slides for their presentations. Although drug companies are no longer supposed to be so directly involved in CME in the United States, they still fund over half of continuing education, usually indirectly through commercial CME providers.27 Industry CME funding amounts to over one billion dollars a year and compliance with requirements is far from universal.28 In some other countries, companies continue to be more directly involved in CME.29 In the past, continuing professional education programs were often held at resorts or other recreational destinations and companies covered travel costs for physicians and sometimes even for their families. Most countries now limit payments for physician entertainment, but continuing education still takes place in attractive settings and companies can still fund travel costs for speakers (who sometimes do not have to do much to earn their pay) and even for CME attendees in many countries. While most professions finance continuing education by paying fees, the medical profession seems to believe that continuing education is only possible if it is funded by drug and device companies. Third, companies play a major role in funding specialty societies and even patient disease organizations.30 Companies help sponsor specialty society annual meetings and journals and pay fees for space in exhibition halls at society meet25
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See, Smith, Medical Journals Are an Extension of the Marketing Arm of Pharmaceutical Companies. PLoS Med 2005, e138. Brennan et al., Health Industry Practices That Create Conflicts of Interest: a Policy Proposal for Academic Medical Centers, JAMA 2006, 429 at 430. Relman, Defending Professional Independence: ACCME’s Proposed New Guidelines for Commercial Support of CME, JAMA 2003, 2418. Sen.Fin.Comm.Staff, Use of Educational Grants by Pharmaceutical Manufacturers, (2007). Moynihan, Doctor’s Education: The Invisible Influence of Drug Company Sponsorship, BMJ 2008, 416. See, e.g. Harris, Drug Makers Scrutinized Over Grants, NYTimes, 11 Jan. 2006; Rowland, Doctors Fight Over Drug Firm Influence, BosGlobe, 16 June 2005.
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ings. Companies often offer their own marketing programs in tandem with specialty association meetings. Specialty societies in turn often play an active role in formulating practice guidelines, which can favor particular products or approaches to the treatment of diseases. Companies also provide funding for some patient disease organizations, which in turn pressure government and insurers to cover particular products or procedures.31 Fourth, companies often pay medical opinion leaders to market their products to other doctors through consulting or “speaker’s bureau” contracts.32 These arrangements not only have the potential to distort the judgment of the physician hired as a consultant or speaker, but can also be quite effective in affecting the prescribing behavior of physicians with whom opinion leaders interact. These operations can be quite sophisticated where companies have access to physician prescribing data, allowing them to target their efforts on “switching” doctors who are low prescribers of their products and to track changes in prescribing behavior after physicians have been exposed to a company presentation.33 Physicians also receive payments for participating in post-marketing research. While this research can be a legitimate effort to discover longer-term side effects of drugs or to study the safety and effectiveness of drugs in new populations or for new indications, it is sometimes little more than a ploy to pay doctors for prescribing a particular drug.34 Doctors participating in sham research collect little useful data, which is in any event not effectively reviewed. Finally, companies engage in detailing. Britain has 8000 drug company representatives, while the United States had 83,000 in the year 2000.35 It is the responsibility of detailers to personally contact physicians or their offices to distribute information about drugs. Detailers provide food for the office and leave behind mementos of their visit.36 These are often trivial items – coffee mugs, pens, pads of paper.37 Historically, however, they included much more expensive gifts such as sports equipment or tickets to sports or entertainment events, and these practices may continue in some countries. Drug companies also frequently offer food, entertainment, and small gifts to doctors in training – undergraduate or graduate medical students. These can include practice-related gifts, such as stethoscopes or reference books which can be useful to the students, but even these establish a bond between the company and the future professional. Moreover, industry largess can create dependence on the part of institutions and their leadership as well as 31
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See Ginsberg, Donations Tie Drug Firms and Nonprofits: Many Patient Groups Reveal Few, if Any, Details on Relationships with Pharmaceutical Donors, Philadelphia Inquirer, 28 May, 2006. Smith, Curbing the Influence of the Drug Industry: A British View, PLoSMed 2005, e241. See Carlat, Dr. Drug Rep., NYTimes, 25 Nov. 2007. See OIG, HHS, Compliance Program Guidance for Pharmaceutical Manufacturers, Fed. Reg. 2003, 2731. Smith PLoSMed 2005, at 822; Clayton, ‘Tis Always the Season for Giving (2004), 3. See Moynihan, Who Pays for the Pizza? Redefining the Relationships Between Doctors and Drug Companies, Entanglement, BMJ 2003, 1189. Sikora, Whose Pen is In Your Pocket? CanFamPhys 2006, 394.
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individual physicians.38 Finally, drug companies often give physicians samples or vouchers for the purchase of drugs, thus encouraging physicians to get patients started on their products. Products that doctors prescribe in response to marketing may or may not be the most appropriate for a particular patient. Patients who are prescribed inappropriate drugs may, of course, suffer side effects or experience aggravation of their medical conditions. Marketing tends to focus on newer products, which may be safer or more effective than older products, but which also may not have been fully tested for long term side-effects. Several widely noted incidents in recent years have involved heavily marketed drugs such as VIOXX that turned out to be dangerous or ineffective.39 Heavily advertised products also tend to be more costly than alternatives. It also increases the cost of health care by leading to overprescribing of drugs and probably over-diagnosis of illnesses.40 Thus marketing may drive up health care costs, which are often not directly borne by the patient because of insurance. To sum up the argument thus far, developed countries have attempted to encourage drug and device innovation by granting intellectual property rights and market exclusivity, and by setting prices quite high where prices are regulated. Markets generally fail to keep prices low because of low elasticity of demand and moral hazard. Because high prices are often coupled with low production costs, drug and device companies can expand their income by expanding their markets. They do so primarily by marketing their products to physicians, either directly or indirectly through influencing medical and scientific journals, specialty societies, disease advocacy groups, and guidelines panels. These marketing practices effectively transfer large sums of money from patients, government, and insurers to drug companies, who in turn spread it throughout the health care industry, but primarily to doctors and their organizations. Doctors, who often believe themselves to be underpaid, have come to expect this largess, and indeed many believe that they are entitled to it.41 The entire arrangement, however, has the potential to corrupt medical judgment and thus to be contrary to the interest of patients. The question then becomes, what is the appropriate response to this situation?
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See Mather, The Pipeline and the Porcupine: Alternate Metaphors of the PhysicianIndustry Relationship, SocSciMed 2005, 1323. See Topol, Failing the Public Health–Rofecoxib, Merck, and the FDA, NEJM 2004, 1707; Lenzer, Secret US Report Surfaces on Antidepressants in Children, BMJ 2004, 307. Moynihan/Heath/Henry, Selling Sickness: The Pharmaceutical Industry and Disease Mongering, BMJ 2002, 886. Sierles, et al., Medical Students' Exposure to and Attitudes about Drug Company Interactions: a National Survey, JAMA 2005, 1034, 1035.
Marketing Relationships between Physicians and the Drug and Device Industry
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Comparative Approaches to Regulation of Industry/Professional Relationships One of the most common responses is industry self-regulation through codes of conduct. The IFPMA Code of Pharmaceutical Marketing Practices lays down a baseline for pharmaceutical promotion worldwide. In Europe, the Code on the Promotion of Prescription-Only Medicines to, and Interactions with, Healthcare Professionals of the European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA), adopted in 1991 and revised most recently in 2007, establishes a self-regulatory framework for the thirty pharmaceutical-producing countries of Europe. The major pharmaceutical producing countries of Europe each also have their own independent codes, including the recently revised Association of the British Pharmaceutical Industry (ABPI) Code of Practice and the Code of Conduct of the Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie e.V. In the United States, the Pharmaceutical Research and Manufacturing Association (PhRMA) Code governs interactions between pharmaceutical companies and professionals while the AdvaMed code governs device manufacturers. These codes vary from country to country in their stringency. At a minimum they proscribe or limit the least defensible forms of marketing. The EFPIA Code, which sets out a minimum standard for European codes, permits companies to host promotional events and pay travel costs for professionals to attend, but cautions companies to avoid venues that are “‘renowned’ for their entertainment facilities or are ‘extravagant’.”42 It also prohibits companies from offering gifts to professionals as an inducement to prescribe a particular product, but allows “inexpensive” gifts that are relevant to the practice of medicine.43 European national codes tend to reinforce the EFPIA Code, but contain national variations. The German Code, for example, prohibits “unreasonably molesting advertising,” including faxes and e-mails without prior permission.44 National codes can also be more specific and detailed. The British Code prohibits gifts with a value in excess of £6. The Japanese code is quite permissive, allowing pharmaceutical companies to pay for transportation for doctors attending conferences and to engage in unlimited assistance to providers in connection with their own products.45 In general, industry codes are vague and open to interpretation. It is also often not clear that any serious consequences follow from violating industry codes. The EFPIA Code suggests that national associations require offending companies to cease unpermitted activities and sanction offending companies with a combination of publication and fines.46 Complaints of violations of the ABPI Code in Britain are investigated by the Prescription Medicines Code of Practice Authority, which investigated 127 complaints in 2007, although many of these had to do with ad42 43 44 45
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§§ 9.01, 9.07. §§ 10.01, 10.02. § 13. Rodwin, Physicians’ Conflicts of Interest in Japan and the United States: Lessons for the United States, JHealthPolPol’yL 2000, 343, 354. Art.18.
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vertisements and a number were brought by competing pharmaceutical companies.47 I know of no independent research, however, as to the extent to which companies are in fact complying with marketing codes. A second common approach to regulating these relationships is professional association codes of conduct, which focus on the physician target of marketing. The World Medical Association’s 2004 “Statement Concerning the Relationship Between Physicians and Commercial Enterprises” is weaker than the statements of many national professional or regulatory bodies but at least provides a baseline for countries in which regulation does not exist or is minimal.48 The American Medical Association has issued an ethical opinion addressing gifts to physicians from industry and a lengthy set of questions and answers explicating that opinion.49 It permits, for example, gifts that are primarily for the benefit of patients and not of substantial value (defined as around $100) and “modest” dinners, but does not permit gifts of cash or sweepstakes offering expensive prizes. Significantly, it does not allow pharmaceutical companies to pay for travel, lodging, or meal expenses for physicians to attend conferences or meetings, although it does allow funding for social events during conferences and for travel expenses for “bona fide faculty.” The Canadian Medical Association Policy on Physicians and the Pharmaceutical Industry prohibits industry funding of travel expenses for physicians attending CME. It also prohibits “receipt of personal gifts of any significant monetary or other value,” and notes that gifts of any value have been shown to have the potential to influence clinical decisions.50 Finally, it prohibits doctors from charging a fee to see manufacturing representatives.51 Professionals must in all developed countries be licensed (or in a few countries, registered). A number of countries have professional licensure regulations limiting industry/physician relationships. Regulatory guidance is often quite vague. A General Medical Council Opinion of 2006, for example, states, “You must not ask for or accept any inducement, gift or hospitality which may affect or be seen to affect the way you prescribe for, treat, or refer patients.” The German (Muster-) Berufsordnung likewise prohibits gifts that are not “geringfügig.”52 It also prohibits doctors from participating in pharmaceutical advertising and requires doctors to file any contracts between them and pharmaceutical companies with the physician chamber.53 It does permit, however, pharmaceutical companies to pay travel costs for doctors to attend continuing education programs.54 In France, the Code de la Santé Publique (Article L.4113-6) prohibits doctors from 47 48 49
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PMCPA, Annual Report (2007), 2. See http://www.wma.net/e/policy/r2.htm. See Opinion E-8.061, Gifts to Physicians from Industry http://www.amaassn.org/ama/pub/category/4001.html; and Addendum II, Clarification on Gifts to Physicians from Industry. CMA Policy, Guidelines for Physicians in Interaction with Industry, sec. 44. Id. at sec. 49. MBO 2006, § 33 (2) & (3). MBO §§ 33 & 34. See Lippert/Ratzel, Arzt und Industrie nach den Beschlüssen des 106. Deutscher Ärztetag 2003, NJW 2003, 3301. Id. at § 33(4).
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receiving gifts worth more than 30 €.55 In the Netherlands both drug companies and doctors have been fined for providing and receiving “excess hospitality.”56 Again, however, it is hard to know how widespread noncompliance with regulatory requirements is, or how frequently disciplinary actions are brought. In a few countries continued licensure status depends on fulfilling continuing medical education (CME) requirements.57 In other countries, CME is not required, but physicians’ fees may be increased or decreased based on continuing education credits. In most countries, continuing education is voluntary and is handled through specialty associations or colleges and faculties.58 Industry involvement in CME seems pervasive, yet it does not seem to be addressed by government regulation in most countries.59 It is addressed in some, however, through private accreditation agencies. In the United States the Accreditation Council for Continuing Medical Education accredits continuing medical education. Accreditation is in turn required by state regulatory boards for CME credit. The ACCME attempts to limit the control that drug and device companies exert over continuing education that they finance. Its standards, for example, prohibit commercial interests from dictating the content or choosing the speakers for accredited CME activities, or for paying travel costs for doctors receiving CME.60 Marketing practices can also be addressed by government regulation of advertising. Title VIII of the European Council Directive 2001/83/EC addresses advertising of medicinal products, including advertising to health care professionals. Articles 94 and 95 permit drug and device companies only to offer inexpensive gifts and hospitality to professionals. Article 97 obligates member states to enforce the directive. In the U.K., pharmaceutical marketing is regulated by the Healthcare Products Regulatory Agency, in cooperation with the self-regulatory PMCPA.61 The HPRA publishes The Blue Guide: Advertising and Promotion of Medicines in the UK, which explains the UK Medicines Regulations, which in turn implement the EC Directive. It contains specific interpretation of the regulations, for example, defining “inexpensive” as not costing more that £ 6 (excluding VAT), and items “relevant to the practice of medicine” as including coffee mugs.62 The United States Food and Drug Administration (FDA) has statutory authority to regulate drug and device labeling and advertising.63 The FDA does not attempt to 55
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Wager, How to Dance with Porcupines: Rules and Guidelines on Doctor’s Relations With Drug Companies, BMJ 2003, 1196. McGuaran, Royal College Issues New Guidelines on Gifts from Drug Companies, BMJ 2002, 511. See Peck, et al., Continuing Medical Education GMC, Guidance on Continuing Professional Development, International Comparisons, BMJ 2000, 432. http://www.gmcuk.org/education/continuing_professional_development/cpd_guidance.asp. Peck, et al., BMJ 2000, at 433. Moynihan, BMJ 2008, 416. See ACCME, The ACCME Standards for Commercial Support (2007). See Memorandum of Understanding, available at http://www.gmc-uk.org/education/ continuing_professional_development/cpd_guidance.asp. Blue Guide ( 2005), at 30. 21 U.S.C. §§ 352(f), (n),(q) & (r), 353.
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control industry supported educational programs as long as the programs are independently administered, as outlined in an industry guidance.64 Professional school faculty and employees must also abide by the policies that govern their institution. Some medical schools in the United States have adopted policies greatly limiting pharmaceutical promotion on campus, for example. The Association of American Medical Colleges is currently in the process of considering recommendations for greater restrictions on interactions between industry and academic medical centers and their students.65 In countries where professional schools are state run, laws governing the institutions may require that the administration approve payments that faculty receive from industry.66 Finally, relationships between industry and physicians may also raise criminal law issues. This is particularly likely in countries where physicians are public employees. In Germany and Japan, for example, doctors employed by public hospitals or public educational institutions are civil servants. Gifts or payments to them could be considered to be attempts to bribe or corrupt public officials, which is in turn potentially a serious offense. Section 331 of the German Criminal Code prohibits a public official from accepting a benefit for discharge of an official duty, while section 332 prohibits an official from accepting a benefit in return for violating the officer’s official duties.67 In a recent decision, the Bundesgerichtshof refused to find a university professor guilty of violating section 331 where the doctor had received payments from a pacemaker manufacturer for services but where there was no evidence that the services were not approved by the university or that they had influenced treatment decisions. The court went on to observe that prosecutions for payments received by officials from third parties in connection with their official duties were certainly possible, and that it was very important that university faculty disclose industry relationships to the university administration and receive approval where necessary.68 In Japan, a “National Public Official Moral Code,” adopted in 2000 imposes constraints on doctors working at university hospitals similar to those found in the German law.69 Physician-industry relationships may also be problematic if they increase the costs of public insurance programs. In the United States, for example, it is illegal for an entity such as a pharmaceutical or device company to offer or pay “remuneration” to a physician in exchange for the referral of a patient or the ordering of a service, or for a physician to solicit or receive such a payment.70 Additionally, a physician may not refer a patient for a “designated health service,” including out64
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See FDA, Guidance for Industry: Industry-Supported Scientific and Educational Activities (1997). See Report of the AAMC Task Force on Industry Funding of Medical Education to the AAMC Executive Council (2008). See § 42, Beamtenrechtsrahmengesetz. StGB §§ 331, 332. See Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht 6 Auf. 2008, 491, 492; Lippert/Ratzel, NJW 2003, 3304-3305. 5 StR 363/02, BGH 5. Strafsenat, 25.2.2003. Akabayashi/Slingsby/Takimoto, Conflict of Interest: A Japanese Perspective, CambQHealthcareEth 2005, 277, 278. 42 U.S.C. § 1320a-7b(b).
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patient pharmaceuticals and durable medical equipment, if the physician has an investment or compensation arrangement with the entity providing the services.71 Both laws the antikickback and self referral laws cover all forms of remuneration, direct and indirect, in cash and in kind. It is, of course, always possible for physicians or companies to argue that a payment from a company was for something other than a referral, for example for genuine consulting services, but if “one purpose” for a payment is to secure a referral, it violates the law.72 The sanctions for violation of the antikickback and self-referral laws are potentially very serious. Violation of the antikickback law is a felony, punishable by up to five years in prison. Violation of the self-referral law results in the service for which the patient is referred not being covered by public insurance, but intentional violation of either law can potentially result in administrative sanctions or civil fines. Civil fraud cases brought against companies for violation of the law in recent years have been settled for amounts in the hundreds of millions of dollars. The Office of Inspector General of the Department of Health and Human services has issued a number of “compliance guidances” for pharmaceutical companies identifying a number of questionable practices, including: • Payments for switching patients from competing products; • Illegitimate consulting or advisory payments; • Payments to physicians for listening to detailers or provision of entertainment, recreation, travel, meals, or other benefits in association with information or marketing presentations; • Gifts, gratuities, and other business courtesies; and • Compensation relationships with physicians for services connected directly or indirectly to a manufacturer's marketing and sales activities, such as speaking, certain research, or preceptor or "shadowing" services.73 Pharmaceutical manufacturers have been a primary focus of fraud and abuse enforcement in recent years. In 2007, Purdue Pharma and Purdue Frederick agreed to pay $600 million for illegal marketing of Oxycontin, while three of its chief executives pled guilty to criminal charges. In 2006, Serono agreed to pay a fine of $704 million for illegal promotion of Serostim. Among other illegal practices, Serono had paid for a number of physicians to attend an AIDS conference in Cannes at its expense. The Department of Justice has also recently entered into “deferred prosecution agreements” with a number of medical device companies in which they have agreed to pay over 300 million dollars for violations of the fraud and abuse laws, and to agree to a number of practices in the future and continuing monitoring of their marketing practices by an independent monitor.74 It is possible that in other countries, receipt of payments from pharmaceutical companies could be seen as fraud as well, but in Germany, the fact that physicians have no direct 71 72
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42 U.S.C. § 1395nn. United States v. Greber, 760 F.2d 68 (3rd Cir. 1985). OIG, FedReg 2003, 23731. http://www.usdoj.gov/usao/nj/press/files/pdffiles/hips0927.rel.pdf.
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relationships with sickness funds because the Kassenärztlichen Vereinigungen intervene, makes this unlikely.75 In other countries, the potential of conflicts to affect medical costs is recognized but not criminalized. In Scotland, for example, financial relationships between physicians and drug companies are simply subject to public disclosure.76 In sum, regulation of marketing relationships between physicians and the drug and device industry are universally addressed by regulation, self-regulation, or criminal prohibition. Countries vary in the extent to which they rely on each of these approaches. Countries also vary in the stringency of their regulation. Some, for example, allow drug companies to finance physician travel to educational events sponsored by drug companies, others do not, and some even prohibit direct drug company funding of continuing education. Countries also vary in the specificity and clarity of their requirements. It is easier to evade and harder to enforce a requirement that gifts not be “excessive” than one that they not exceed £ 6. But all countries permit some financial benefits to flow from industry to physicians, none examined here permit them without limitation. Moreover, the international trend is toward stricter limits on these relationships.
How Should Industry Professional Relationships be Regulated? Drug and device companies should be prohibited from giving any gifts to professionals who have the authority to prescribe or order their products, to the families or employees of such professionals, or to undergraduate or graduate professionals in training. Where drug or device companies contract with a professional to provide a service for remuneration, compensation should be for a service of real value to the company for some purpose other than marketing (or assistance in marketing to others) and the compensation should be for the fair market value of the services and not be based on the volume and value of referrals. Drug and device companies should be absolutely prohibited from funding medical education, including continuing medical education, directly or indirectly. Drug and device companies must, of course, be allowed to continue to market their products, in print media, electronically, through presentations by company employees, and through face-to-face contact with physicians. Limitation of their right to do so may be unconstitutional in several countries as an abridgement of freedom of expression.77 But freedom of expression does not include the right to pay professionals to use a product, or even for their attention. Such payments should be stopped. 75 76
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Deutsch/Spickhoff, 2008, 493. Christie, Scottish Doctors Will Have to Register Financial Links to Drug Companies, BMJ 2004, 328. See Kesselheim/Avorn, Pharmaceutical Promotion to Physicians and First Amendment Rights, NEJM 2008, 1727; RJR-MacDonald Inc. v. Canada [1995] 3 S.C.R. 199 (commercial speech protected in Canada).
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Ending payments from drug companies to professionals will, however, upset the financial balance that currently exists in health systems in developed nations. The basic thesis of this chapter is that drug and device companies have been overpaid for their products and have passed on some of the excess payments they have received to others in the health care industry through marketing. The continuing medical education industry in particular, but also specialty societies and even patient disease organizations and medical schools (not to mention the office staff of doctors in clinical practice) have come to depend on funding from the drug and device industry. In most developed countries physicians are generously paid and should be able to afford their own lunches without drug industry assistance, but real shortfalls may appear in the funding of medical education and practice guideline development. Also, physicians may face diminished access to information about new drugs and devices. This funding shortfall should be made up by a tax imposed on the drug and device industry to raise funds for education and for practice guideline development. This money could be distributed through a government agency or through one or more nonprofit foundations formed for this purpose. Part of this money should be used to fund new “academic detailing” programs that would disseminate to doctors accurate, evidence-based, and unbiased information on drugs and devices. There is a long and successful track record for such programs in Canada, England, the Netherlands, Australia, and a number of American states.78 The rest of the funding would be passed on to continuing medical education providers for CME, specialty societies and patient groups for guidelines development and patient education, and perhaps to medical schools for fellowships.79 Drug and device manufacturers will protest that limitations on their marketing practices will diminish physician knowledge of new products (or new uses of existing products), and thus harm patient care. Limits on marketing may also reduce sales and thus the income that the industry depends on to do research and product development. It is not obvious that these results would follow. Drug companies will still be able to advertise their products through traditional channels, as do other successful industries. An adequately funded drug information agency should be able to get information out quickly to physicians about innovative products. It is demeaning to physicians to believe that they will inform themselves about products that will benefit their patients only if the information comes with free pizza. Truly superior products should thrive as their benefits are revealed by unbiased, evidence-based information. The producers of superior products will prosper, allowing them to pursue further innovative research. Drug companies, on the other hand, will find little profit in “me too” products that offer no comparative advantages to existing products unless they decide to compete seriously on price. Educational institutions – undergraduate, graduate, and continuing – will be able to focus their efforts on education, not on marketing. Unbiased practice guidelines and formularies will improve medical practice and patient care.
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See, Statement of Jerry Avorn, available at http://aging.senate.gov/events/hr190ja.pdf. See Brennan, et al., JAMA 2006, 431-432, calling for funding of CME through voluntary pooling of funding by drug companies.
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In the end, the goal of our health care systems is the care of patients. Patients are not well served by our current system for marketing of drugs and devices, the goal of which seems to be the distortion, indeed the corruption, of medical judgment through financial inducements. Vague and easily evaded prohibitions of particular practices are unlikely to improve the situation. Indeed, total prohibition of marketing inducements is not alone the optimal solution. Prohibition must be coupled with redirection of financial flows so that the educational functions currently served by marketing practices could be carried on, but in an objective and unbiased fashion. The proposal put forth by this chapter would make this possible.
Ersatzleistungen bei angeborenen Schäden statt Haftung für neues Leben: Rechtsentwicklung in Frankreich - Anregungen für das deutsche Recht
Christian Katzenmeier und Jonas Knetsch Mit seinen zahlreichen Publikationen hat Erwin Deutsch das Medizinrecht über Jahrzehnte wie kaum ein anderer geformt und viele Denkanstöße gegeben. Sein besonderes Interesse gilt immer wieder dem Ersatz angeborener Schäden. Dabei beschränkt sich Deutsch nicht darauf, die hiesige Rechtsprechung zu kommentieren und zu kritisieren1, schon früh richtete er den Blick auf alternative, in anderen Rechtsordnungen beschrittene Wege2. In Fällen von „wrongful life“ und „wrongful conception“ spricht Deutsch sich trotz dogmatischer Bedenken für einen eigenen Anspruch des Kindes aus3 und sieht darin eine pragmatische Lösung.4 Die folgenden, dem Jubilar zugeeigneten Ausführungen gelten der bis heute nicht befriedigend gelösten Problematik. Der Beitrag präsentiert die Rechtsentwicklung in Frankreich und regt eine neue Lösung für das deutsche Recht an.5
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Vgl. etwa die Anm. zu OLG Celle, JZ 1978, 528 u. OLG Bamberg, JZ 1978, 529 in JZ 1978, 532; zu BGHZ 76, 259 in SGb 1981, 78; zu BGHZ 86, 240 in JZ 1983, 451; zu BGHZ 89, 95 in JZ 1984, 889; zu BVerfGE 88, 203 in NJW 1993, 2361; zu BGHZ 124, 128 in NJW 1994, 776; zu BGHZ 143, 389 in JZ 2000, 729; zu BGHZ 151, 133 in NJW 2003, 26. Vgl. insbes. die Abhandlung „Unerwünschte Empfängnis, unerwünschte Geburt und unerwünschtes Leben verglichen mit wrongful conception, wrongful birth und wrongful life des anglo-amerikanischen Rechts“ in MDR 1984, 793; sowie „Das Kind oder sein Unterhalt als Schaden“ in VersR 1995, 609. Deutlich in VersR 1995, 609 (614): „Angesichts der gravierenden Fehler bei der Beratung der Eltern vor der Konzeption sollte der wirklich Geschädigte, und das ist das Kind, einen Ersatzanspruch haben“; aus jüngerer Zeit „Das behindert geborene Kind als Anspruchsberechtigter“ in NJW 2003, 26 (27 f.); s. auch Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 446. Zur spezifischen, „phänomenologischen“ Methode des Jubilars s. Ahrens, Festschrift für Deutsch, 1999, S. 1 (6). Dabei kann angeknüpft werden an die Überlegungen von Katzenmeier, Festschrift für Jayme, 2004, S. 1277 ff. und Knetsch, VersR 2006, 1050, diese werden zusammengeführt und fortgeschrieben.
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I. Der Streit um „Haftung für neues Leben“ Seit Jahrzehnten begreift die Rechtsprechung der Zivilgerichte den Unterhaltsaufwand für ein – gesund oder behindert geborenes – unerwünschtes Kind als ersatzfähigen Vermögensschaden und gewährt den Eltern, die aufgrund eines schuldhaften ärztlichen Versäumnisses in ihrer Familienplanung gestört wurden, einen prinzipiell umfassenden Schutz6. Wichtige Fallgruppen dieser „Haftung für neues Leben“7 bilden die fehlgeschlagene Sterilisation, der unterlassene oder falsche Hinweis auf die Versagerquote bei einem sterilisierenden Eingriff, der missglückte erlaubte Schwangerschaftsabbruch, sowie die im Rahmen pränataler Diagnostik pflichtwidrig nicht als Möglichkeit eröffnete zulässige Abtreibung. Trotz des Widerspruchs des Zweiten Senats des BVerfG, der die rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes als Schaden mit Rücksicht auf die in Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierte Würde des Menschen untersagte8, hält der BGH an seiner Spruchpraxis fest, denn nicht das Kind, sondern dessen Unterhalt stelle den Schaden dar9. Diese Position billigte zuletzt der Erste Senat – unter Verzicht auf die wohl eröffnete verfassungsgerichtliche Plenarentscheidung – zumindest in Fällen fehlgeschlagener Sterilisation und fehlerhafter genetischer Beratung10. Der Streit über das Thema „Kind als Schaden“ ist damit aber keineswegs verstummt, sondern wird leidenschaftlicher denn je ausgefochten. So entfachten die BGHUrteile der letzten Jahre erneut eine Grundsatzdebatte11. Kritiker sehen in der Differenzierung einen letztlich unstatthaften Kunstgriff. Die Unterhaltspflicht knüpfe an die Abstammung an, man könne sie nicht im Wege der Schadensersatzpflicht auf Dritte abwälzen12. Dies verbiete sich auch deshalb, weil es nachteilige seelische Folgen für das Kind mit sich bringen könne, wenn es später erfahre, dass seine Existenz als Schadensereignis gewertet werde. In der Auseinandersetzung darf eines nicht verkannt werden: Die Judikate sind kein Zeugnis moralischer Stumpfsinnigkeit der urteilenden Richter, vielmehr das Ergebnis einer pragmatischen, in sich schlüssigen juristischen Dogmatik. Mit 6
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Grdl. BGHZ 76, 249 u. 259; 86, 240; 89, 95; 95, 199; 151, 133; jüngst BGH, NJW 2006, 1660 und NJW 2007, 989. H. Lange, Haftung für neues Leben?, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse, Jg. 1991, Nr. 2, 1991, S. 19; Laufs, NJW 1998, 796 (796 f.). BVerfGE 88, 203 (296) = NJW 1993, 1751 (1763 f.). BGHZ 124, 128 (136 ff.); BGH, NJW 1997, 1638 (1640). BVerfGE 96, 378 = NJW 1998, 519. Zu dem Konflikt zwischen den beiden Senaten vgl. Stürner, JZ 1998, 317. BGH, Urt. v. 18. Juni 2002 – VI ZR 136/01 = BGHZ 151, 133 = NJW 2002, 2636; Kritik etwa von Stürner, JZ 2003, 155; C. Wagner, NJW 2002, 3379; SchmidtRecla/Schumann, MedR 2002, 643; Katzenmeier, JR 2003, 70; auch Deutsch, NJW 2003, 26; ders., ZRP 2003, 332; um Verständnis werbend G. Müller, NJW 2003, 697 – Zu der Fortentwicklung der Rspr. durch BGH, Urt. v. 14. November 2006 – VI ZR 48/06 = NJW 2007, 989, s. Mörsdorf-Schulte, NJW 2007, 964; Schlund, JR 2007, 463; Born, FamRZ 2007, 129; Katzenmeier, LMK 2007, 213142. Vgl. nur etwa Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rn. 347 ff.; ders., NJW 1998, 796; ders., in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 106, Rn. 11 m.w.N.
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Nachdruck verficht der VI. Zivilsenat des BGH die Wertneutralität seiner allein die wirtschaftliche Seite eines hochkomplexen Lebenssachverhalts erfassenden Betrachtungsweise, die Begriffe „Schaden“ und „Schadensersatz“ seien juristische Kategorien, die bei sachlicher und emotionsfreier Betrachtungsweise kein Unwerturteil enthalten13. Da in der Rechtsordnung auch anderweitig anerkannt ist, dass Unterhaltspflicht und Elternschaft auseinanderfallen können, vermag der BGH in der Übernahme der Unterhaltslast durch den Arzt keine Missachtung des Lebensrechts und der Menschenwürde des betreffenden Kindes zu erkennen, sondern sieht darin im Gegenteil einen wirtschaftlichen Vorteil für das Kind, der geeignet sei, dessen Akzeptanz durch die Eltern zu erhöhen14. Dem mit Behinderung geborenen Kind selbst gewährt die Rechtsprechung keine eigenen Ansprüche15. Denn eine Alternative zum Leben unter schweren und schwersten Bedingungen wäre in den einschlägigen Fällen ja nicht das (nicht mögliche) Leben als gesunder Mensch, sondern die Nicht-Existenz. Ein Recht auf Nicht-Existenz aber lasse sich nicht postulieren, und die Existenz könne gegenüber der Nicht-Existenz auch nicht als Nachteil begriffen werden. Diese Feststellungen tragen dem BGH zusätzliche Kritik ein: Das Gericht messe mit zweierlei Maß, wenn es dem unerwünschten, mit kongenitalen Gebrechen geborenen Kind Ersatzansprüche versagt, wenn es also das Lebensgut einmal mit Blick auf das Kind für absolut sakrosankt, dann wieder aus der Perspektive der Eltern für weitgehend disponibel halte16. Darüber hinaus wird auf die bedenkliche Folge dieser Ansicht hingewiesen, dass dem Kind nach einem Ableben der Eltern nichts mehr zugute kommt, es also gerade dann ganz unversorgt dasteht, wenn es einer Versorgung wegen des Wegfalls der Unterhaltspflichtigen am meisten bedarf. Die unzureichende Absicherung des Kindes wird von Kritikern wie Befürwortern der BGH-Rechtsprechung in besonderem Maße als unbefriedigend empfunden. Bei der Suche nach einer Lösung mag die Rechtsvergleichung wertvolle Anregungen geben. Besondere Aufmerksamkeit gilt der jüngeren Rechtsentwicklung in Frankreich. Dort ist eine bemerkenswerte neue Regelung getroffen worden. Der Weg verlief nicht geradlinig, sondern ist durch unterschiedliche Ansatzpunkte und kontroverse Debatten gekennzeichnet. Eine genauere Betrachtung und Analyse verspricht Gewinn für die Problembewältigung auch hierzulande.
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G. Müller, NJW 2003, 697 (699). BGHZ 124, 128 (143 f.). Ebenso nunmehr das Schweizerische Bundesgericht (BGer) 20. Dezember 2005 (BGE) 132 III 359, 4C.178/2005; aus der österr. Rspr. vgl. zuletzt OGH 7. März 2006, 5 Ob 165/05h, RdM 2006, 90; 14. September 2006, 6 Ob 101/06f, ÖJZ 2006, 171 mit Anm. Steininger; 30. November 2006, 2 Ob 172/06t. BGHZ 86, 240 (250 ff.); OLG München, NJW 1981, 2012; OLG Düsseldorf, VersR 1995, 1498. Picker, Schadensersatz für das unerwünschte eigene Leben – „Wrongful life“, 1995, S. 26 ff. und passim; dazu Zimmermann, JZ 1997, 131 f.; Laufs, NJW 1998, 796 (797).
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II. Rechtsentwicklung in Frankreich 1. Übersicht Ausgangspunkt der Entwicklung ist der sog. arrêt Perruche vom 17. November 2000. Er gilt als die am meisten kommentierte Gerichtsentscheidung in der Geschichte des französischen Privatrechts. Wohl nie zuvor erregten sich Juristen, Politiker und die Gesellschaft so sehr über ein Verdikt des Kassationsgerichtshofs. Die Cour de cassation hatte einem behindert geborenen Kind einen Anspruch auf Schadensersatz zugesprochen, da sich die Mutter ohne die Sorgfaltswidrigkeit des Arztes bei der pränatalen Vorsorgeuntersuchung für eine Abtreibung entschieden hätte. Auch im französischen Recht sind bei Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit ärztlichen Pflichtverletzungen vor der Geburt eines Kindes verschiedene Fallgruppen zu unterscheiden. Juristisch ohne größere Probleme lässt sich die Konstellation erfassen, in der das ungeborene Kind durch aktives Handeln eines Dritten noch im Mutterleib geschädigt wird. Schon vor der PerrucheRechtsprechung eröffnete das Haftungsrecht hier dem Kind nach der Geburt einen eigenen Anspruch auf Ersatz des Schadens17. Dieser Anspruch wurde im Jahr 2002 legislativ bestätigt und die Ersatzpflicht ausdrücklich auch auf die Fälle ausgeweitet, in denen ein Arzt eine therapierbare Krankheit des ungeborenen Kindes nicht erkannt oder falsch behandelt hat18. Anders als der deutsche Bundesgerichtshof sieht die Spruchpraxis der französischen Zivil- und Verwaltungsgerichte19 allerdings keinen Anspruch der Eltern auf Entschädigung für die Geburt eines ungewollten gesunden Kindes vor. Sowohl die Cour de cassation als auch der Conseil d’Etat vertreten den Standpunkt, dass Eltern nach einer fehlgeschlagenen Sterilisation oder einem „missglückten“ 17
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Vgl. Conseil d’Etat (CE), 27. September 1989, Recueil Dalloz (D.) 1991, jur. 80 mit Anm. Verpeaux und Cour de cassation (Cass.), 1. Zivilkammer (Civ. 1), 16. Juli 1991, La semaine juridique – Edition générale (JCP G) 1992, II, Nr. 21881 mit Anm. Moreau. Ähnlich auch Cass. Civ. 1, 3. Februar 1993, Nr. 91-12.391 (unveröffentlicht). Art. 1 des Gesetzes vom 4. März 2002: „La personne née avec un handicap dû à une faute médicale peut obtenir la réparation de son préjudice lorsque l’acte fautif a provoqué directement le handicap ou l’a aggravé ou n’a pas permis de prendre les mesures susceptibles de l’atténuer“ (eine Person, die mit einer auf einem ärztlichen Fehler beruhenden Behinderung geboren wurde, kann Schadensersatz erhalten, wenn das Fehlverhalten die Behinderung unmittelbar verursacht oder verschlimmert hat oder das Fehlverhalten verhindert hat, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Behinderung zu lindern). Das zuständige Gericht sowie das anwendbare Recht (Verwaltungs- oder Zivilrecht) bestimmen sich nach den in Anspruch genommenen Personen. Im französischen Recht kommt es nur bei Behandlung durch niedergelassene Ärzte oder private Kliniken zu einem privatrechtlichen Behandlungsvertrag, anderenfalls besteht ein öffentlichrechtliches Vertragsverhältnis, das der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte unterliegt, s. T. Winter, „Bébé préjudice“ und „Kind als Schaden“, 2002, S. 34. Unterschiede in der Spruchpraxis sind jedoch selten (siehe aber unter II. 2. zu CE, 14. Februar 1997, Quarez).
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Schwangerschaftsabbruch keinen Schadensersatzanspruch gegen die behandelten Ärzte geltend machen können20. Hierzu führt der Kassationsgerichtshof aus, dass für die Mutter die alleinige Existenz des von ihr geborenen Kindes keinen juristisch ersatzfähigen Schaden darstellen kann („l’existence de l’enfant qu’elle a conçu ne peut, à elle seule, constituer pour sa mère un préjudice juridiquement réparable“)21, insofern es sich um die normalen Belastungen einer jeden Mutterschaft handele und nicht eine besondere Schadensposition hinzutrete22. Augenscheinlich sind insoweit rein ethische Gesichtspunkte maßgebend, die Rechtsprechung folgt jedenfalls keiner erkennbaren juristischen Argumentationsstruktur, um den Ersatzanspruch auszuschließen23. Die Ablehnung solcher „wrongful birth“Forderungen steht hierbei im Einklang mit der Rechtsprechung in manch anderen europäischen Ländern, die ebenfalls einen Anspruch der Eltern auf Ersatz des Schadens bei Geburt eines gesunden Kindes verneinen24. Einem Anspruch des Kindes steht seit Inkrafttreten des Gesetzes vom 4. März 2002 auch die Regelung in Art. L. 114-5 des französischen Sozialhilfegesetzbuchs (Code de l’action sociale et des familles [C. act. soc. fam.]) entgegen: „Niemand kann einen Schaden allein daraus geltend machen, dass er geboren wurde.“25 Die umstrittene Konstellation, die zur Perruche-Rechtsprechung führte und Auslöser für das Gesetz vom 4. März 2002 war, betrifft die Frage nach der Ersatzpflicht bei der Geburt eines behinderten Kindes in einem Fall, in dem die Mutter bei pflichtgemäßem Verhalten des Arztes oder des Krankenhauses von ihrem Kinderwunsch Abstand genommen hätte, also die Schwangerschaft vermieden hätte oder hätte abbrechen lassen. Für diesen Fall erkannte die französische Cour de cassation in ihrem umstrittenen Judikat einen eigenen Ersatzanspruch des Kindes an. Anders entschied der Conseil d’Etat, welcher nicht dem Kind, sondern den Eltern einen Anspruch auf Schadensersatz zusprach. Die divergierenden Positionen der Höchstgerichte stellten beide auf eine Lösung nach allgemeinem Haf20
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Grundlegend CE, 2. Juli 1982, Gazette du Palais (Gaz. Pal.) 1983, I, 193 mit Anm. Moderne sowie Cass. Civ. 1, 25. Juni 1991, D. 1991, jur. 566 mit Anm. Le Tourneau. Zu einer Entscheidung der Cour d’appel de Paris (29. November 2001, D. 2003, 661 mit Anm. Pomart), die nach einem fehlgeschlagenen Schwangerschaftsabbruch der Mutter einen Schadensersatzanspruch auf der Grundlage einer mangelhaften Aufklärung über das Risiko des Fortbestehens einer Schwangerschaft zuspricht, siehe Arnold, VersR 2004, 309. Cass. Civ. 1, 25. Juni 1991, D. 1991, jur. 566. Die Cour de cassation verlangt „un dommage particulier ajouté aux charges normales de la maternité“. So auch Demme/Lorentz, Revue internationale de droit comparé (RID comp.) 2005, 103 (107 ff.). Vgl. v. Bar, The Common European Law of Torts, Vol. 1, 1998, Nr. 582 und die diversen Urteilsanmerkungen in European Review of Private Law 2003, 201 (227). Zum italienischen, dänischen und wohl auch niederländischen Recht s. Rebhahn, ZEuP 2004, 794 (797); zu den jüngsten Entwicklungen im österreichischen Recht s. die Nachweise in Fn. 14. Anders aber die Position der belgischen, spanischen, englischen sowie der Gerichte in den meisten amerikanischen Staaten, vgl. v. Bar, a.a.O., Nr. 582 und Demme/Lorentz, RID comp. 2005, 103 (107 ff.). Dazu eingehend unter II. 3.
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tungsrecht ab (sub 2.). Aufgrund vehementer Proteste der Ärzteschaft, von Versicherungen, von Behindertenverbänden und Juristen beschloss das französische Parlament am 4. März 2002 das Gesetz über die Patientenrechte und die Qualität des Gesundheitswesens („loi relative aux droits des malades et à la qualité du système de santé“)26. Dieser Legislativakt beschnitt in erheblichem Maße die durch die französischen (Zivil- und Verwaltungs-) Gerichte bis dato gewährten Entschädigungsrechte der Eltern respektive des behindert geborenen Kindes. Das Gesetz verwies für den Ausgleich der weitaus bedeutendsten Schadensposition, dem Mehraufwand für Pflege und Erziehung des Kindes, auf die nationale Solidarität („solidarité nationale“), ohne jedoch konkrete Alternativlösungen vorzusehen (sub 3.). Erst mit Gesetz vom 11. Februar 200527 entschloss sich der französische Gesetzgeber, die entstandene Regelungslücke zu schließen und die Versorgung des behindert geborenen Kindes durch das Sozialversicherungs- und Fürsorgerecht aufzufangen. Mit Gesetz vom 19. Dezember 200728 wurde der neu geschaffene und umfassend angelegte Ausgleichsanspruch („prestation de compensation“) auf Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren ausgeweitet, womit die „Kind als Schaden“-Problematik vorerst einer abschließenden Lösung zugeführt worden ist (sub 4.).
2. Haftungsrechtliche Lösungsansätze Im Quarez-Urteil vom 14. Februar 1997 bejahte der Conseil d’Etat in einer „wrongful birth“-Konstellation einen Schadensersatzanspruch der Eltern, da sie sich bei korrekter Interpretation einer Amniozentese und Entdeckung der Behinderung für den Abbruch der Schwangerschaft entschieden hätten29. Ein eigener Anspruch des Kindes wurde abgelehnt. Das Urteil stützte sich insoweit ganz auf den fehlenden Kausalzusammenhang zwischen dem Fehlverhalten des Krankenhauses bei der Amniozentese und dem vorgebrachten Schaden des Kindes. Erst in einer Pressemitteilung vom 20. Februar 1997 führte der Conseil d’Etat darüber hinaus an, dass der Umstand zu leben, nicht als ein erlittener Schaden des Kindes angesehen werden könne („le fait d’être en vie ne saurait être regardé comme un préjudice subi par l’enfant“). Das Gericht orientierte sich seinerzeit wohl an dem Schlussantrag („conclusions“) der Regierungskommissarin V. Pécresse, die einen Ersatzanspruch des Kindes auch aus rechtsethischen Gründen ausschloss: Bejahe man einen Anspruch des Kindes, so könne dies letztlich auch zu einer Inanspruchnahme der Mutter mit der Begründung führen, dass diese die Schwangerschaft nicht abgebrochen und damit dem Kind durch die Behinderung einen Vermögensnachteil zugefügt habe30. 26
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Loi n° 2002-303, Journal officiel (JO) v. 5. März 2002, 4118. Der Originaltext jedes französischen Gesetzes ist kostenlos abrufbar unter http://www.legifrance.gouv.fr. Loi n° 2005-102, JO v. 12. Februar 2005, 2353. Loi n° 2007-1786, JO v. 21. Dezember 2007, 20603. CE, 14. Februar 1997, Quarez, Revue française de droit administratif (RFDA) 1997, 382 mit Anm. Mathieu. Vgl. Pécresse, RFDA 1997, 374. Zu dieser Rechtsprechung in deutscher Sprache Son-
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Im Gegensatz zur Rechtsprechung des Conseil d‘Etat hatte die Cour de cassation bereits ein Jahr vor dem Quarez-Urteil, in einer Entscheidung vom 26. März 1996, einen Anspruch des behindert geborenen Kindes auf Ersatz der Schäden, die ihm aus der vom Arzt schuldhaft nicht erkannten Behinderung entstanden sind, bejaht. Besondere Aufmerksamkeit erregte gleichwohl erst die Entscheidung der Assemblée plénière (Vollversammlung) der Cour de cassation vom 17. November 200031. Sie bestätigte das erste Judikat der Cour de cassation (sub a)) und wurde in einer Fülle von Beiträgen scharf kritisiert (sub b)). a) Die Entscheidungen der Cour de cassation in der Sache „Perruche“ Der umstrittenen Rechtsprechung der Cour de cassation lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Januar 1983 wurde Frau Perruche von ihrem Sohn Nicolas entbunden, der schwerstbehindert mit dem sog. Gregg-Syndrom zur Welt kam, welches typischerweise durch eine Rötelinfektion der Mutter während der Schwangerschaft verursacht wird. Frau Perruche war in der Tat im Mai 1982 an Röteln erkrankt und hatte aus diesem Grund ihren Hausarzt aufgesucht. Sie teilte ihm mit, dass sie die Leibesfrucht abtreiben würde, sollten in ihrem Körper nicht ausreichend Antikörper vorhanden sein. Aus der fehlerhaften Interpretation zweier widersprüchlicher serologischer Befunde durch das Labor zog der behandelnde Arzt den Schluss, die Schwangere sei gegen Röteln immun, woraufhin Frau Perruche die Schwangerschaft nicht unterbrach.
Nach Art. L. 162-12 a.F. Code de la santé publique wäre eine Abtreibung zu dem Zeitpunkt nicht strafbar gewesen, da diese im französischen Recht aus therapeutischen Gründen ohne zeitliche Begrenzung durchgeführt werden darf32. Die Klage der Eltern (im eigenen Namen und im Namen ihres Kindes) richtete sich sowohl
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nenberger, FamRZ 2001, 1414 (1417). Cass. Ass. plén., 17. November 2000, JCP G 2000, II, Nr. 10438 mit Bericht des Referenten P. Sargos, den Schlussfolgerungen des Generalanwalts J. Sainte-Rose sowie einer Anm. von F. Chabas. Ein Nachweis der zahlreichen Urteilskommentierungen findet sich u.a. bei Lambert-Faivre, D. 2002, chr. 1217 (dort Fn. 2). Siehe auch die Dokumentation auf http://www.courdecassation.fr. Die durch Neufassung des Gesetzbuches nunmehr unter Art. L. 2213-1 des Code de la santé publique zu findende Regelung besagt, dass eine Abtreibung zu jeder Zeit vorgenommen werden kann, wenn zwei Ärzte bescheinigen, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft die Gesundheit der Schwangeren in besonderem Maße gefährdet oder falls das Kind bei Geburt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine besonders schwere Gesundheitsbeeinträchtigung haben wird, die zum Zeitpunkt der Diagnose als unheilbar gilt („L'interruption volontaire d'une grossesse peut, à toute époque, être pratiquée si deux médecins membres d'une équipe pluridisciplinaire attestent, après que cette équipe a rendu son avis consultatif, soit que la poursuite de la grossesse met en péril grave la santé de la femme, soit qu'il existe une forte probabilité que l'enfant à naître soit atteint d'une affection d'une particulière gravité reconnue comme incurable au moment du diagnostic“).
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gegen den Hausarzt als auch gegen das Labor auf Ersatz der den Eltern und dem Kind entstandenen Schäden. Das Erstgericht (Tribunal de grande instance d’Evry) gab der Klage statt33 und verpflichtete die beiden Beklagten gesamtschuldnerisch zu einer Zahlung von 500.000 Francs an das Kind als Ersatz seines Körperschadens und nahezu zwei Millionen Francs an den Sozialversicherungsträger für die Behandlungskosten. Ohne konkret auf das Verschulden des Arztes einzugehen, wurden beide Beklagte für die fehlerhafte Analyse der serologischen Untersuchungen verantwortlich gemacht34. Nach Berufung des Arztes bestätigte die Cour d’appel de Paris am 17. Dezember 199335 das Verschulden beider Akteure, wies jedoch die Klage auf Ersatz des dem Kind entstandenen Schadens mit der Begründung ab, aus dem Unterlassen der Abtreibung könne kein für das Kind ersatzfähiger Schaden abgeleitet werden36. Ferner sei die Behinderung nicht auf das Fehlverhalten von Labor und Arzt, sondern allein auf die Rötelinfektion zurückzuführen, die der Existenz des Kindes unabhängig von jeglicher medizinischer Behandlung anhafte37. Mit Entscheidung vom 26. März 199638 hob die Cour de cassation das Urteil der Cour d’appel de Paris nach Kassationsbeschwerde der Eltern auf. Die erste Zivilkammer entschied, dass das Fehlverhalten des Arztes und des Labors sehr wohl einen Schaden des Kindes verursacht habe, da die Eltern ihren Willen geäußert hatten, im Falle einer Rötelinfektion eine Abtreibung vornehmen zu lassen und sie daher durch die fehlerhaft durchgeführte serologische Analyse davon abgehalten worden seien, sich gegen die Austragung des Kindes zu entscheiden39. 33
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TGI Evry, 13. Januar 1992 (unveröffentlicht), zusammengefasst bei Labrusse-Riou, Naissances handicapées et responsabilité (Forschungsbericht Université Paris 1), 2005, S. 15. Kritisch zu dem Umstand, dass dem Arzt das Verschulden des Labors zugerechnet wurde v. Bar, Anm. zu Cass. Civ. 1, 26. März 1996, ZEuP 2000, 121 (122). CA Paris, 17. Dezember 1993, D. 1995, somm. 98 mit Anm. Penneau. In dieselbe Richtung auch CA Bordeaux, 26. Januar 1995, JCP G 1995, IV, Nr. 1568 sowie CA Versailles, 8. Juli 1993, D. 1995, somm. 98 mit Anm. Penneau. Hierzu die Cour d’appel in der Originalfassung: „le fait pour l'enfant de devoir supporter les conséquences de la rubéole faute pour la mère d'avoir décidé une interruption de grossesse ne peut, à lui seul, constituer pour l'enfant un préjudice réparable“. Dazu im Originaltext: „les séquelles dont est atteint Nicolas X... ont pour seule cause la rubéole que lui a transmise in utero sa mère […] cette infection au caractère irréversible est inhérente à la personne de l’enfant et ne résulte pas des fautes commises“. Cass. Civ. 1, 26. März 1996, D. 1997, 35 mit Anm. Roche-Dahan und ZEuP 2000, 120 mit Anm. v. Bar. Am selben Tag erging eine weitere Entscheidung der ersten Zivilkammer, in der die Richter dem Kind ebenfalls einen eigenen Ersatzanspruch gegen einen Arzt zusprachen. In dieser Sache hatten die Eltern des Kindes sich mehr als vier Jahre vor Zeugung des Kindes bei einem Genetiker erkundigt, wie hoch das Risiko sei, dass ein Kind die Erbkrankheit des Vaters erben könnte. Trotz negativen Gutachtens traten bei dem Kind nach der Geburt die Symptome der befürchteten Krankheit auf. Zu diesem Punkt führt die Cour de cassation aus: „il était constaté que les parents avaient marqué leur volonté, en cas de rubéole, de provoquer une interruption de grossesse et que les fautes commises les avaient faussement induits dans la croyance que la mère était immunisée, en sorte que ces fautes étaient génératrices du dommage subi par
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Die Richter erkannten daher (vier Jahre vor der umstrittenen PerrucheEntscheidung der Assemblée plénière) dem Kind einen eigenen deliktischen Schadensersatzanspruch zu. Zwar kam es zu einigen kritischen Reaktionen von Juristen und Ärzten, jedoch fielen diese bei weitem nicht so heftig aus wie nach dem Perruche-Urteil vom 17. November 2000, wohl auch weil der Conseil d’Etat ein knappes Jahr später in seiner Quarez-Entscheidung40 in einem anderen Fall nur den Eltern einen Anspruch zuerkannte und man erwartete, dass diese Lösung sich durchsetzen würde41. Die Cour de cassation verwies das Verfahren an die Cour d’appel d’Orléans zurück. Diese entschied am 5. Februar 1999 wie schon das Erstberufungsgericht (Cour d’appel de Paris), dass das Kind keinen ersatzfähigen Schaden erlitten habe, der in einem Kausalzusammenhang zum Verschulden von Arzt und Labor steht42. Vom Referenten P. Sargos als „arrêt de rébellion“ bezeichnet, wandte sich das Urteil der Cour d’appel also ausdrücklich gegen die Lösung der Cour de cassation und entzog dem Kind den gewährten eigenen Schadensersatzanspruch. Da im französischen Prozessrecht das Berufungsgericht, an welches das Verfahren zurückverwiesen wird, üblicherweise der Rechtsauffassung der Cour de cassation folgt, kam die erneute Kassationsbeschwerde der Eltern wiederum vor das oberste Zivilgericht, das nunmehr in seiner würdevollsten Besetzung eines großen Senats, der Assemblée plénière, ausschließlich über den Anspruch des Kindes zu befinden hatte43. Die Cour de cassation hob die abweisende Entscheidung der Cour d’appel d’Orléans auf und sprach dem Kind erneut einen eigenen Schadensersatzanspruch zu. Selbst für französische Verhältnisse ist das Urteil vom 17. Dezember 2000 ausgesprochen knapp und wenig aussagekräftig44. Die für die umstrittene Rechtsposition des Kindes entscheidende Passage beschränkt sich auf einen Absatz, aus dem sich die genaue Rechtsauffassung der Cour de cassation nur ungefähr ableiten lässt:
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l'enfant du fait de la rubéole de sa mère“. Siehe oben II. 2. So Rebhahn, ZEuP 2004, 794 (802). CA Orléans, 5. Februar 1999, Revue trimestrielle de droit civil (RTD civ.) 2000, 80 ff. mit Anm. Hauser: „l'enfant Nicolas X... ne subit pas de préjudice indemnisable en relation de causalité avec les fautes commises par le laboratoire de biologie médicale et le docteur Y...“. Zu dem Grundsatz, dass der Kassationsgerichtshof anders als der deutsche Bundesgerichtshof nicht in der Sache selbst entscheiden, sondern das angefochtene Urteil nur aufheben und die Sache an ein anderes Gericht verweisen kann, siehe Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, § 9 I. Falls nach der Entscheidung durch die Assemblée plénière erneut auf Aufhebung erkannt und die Sache an ein drittes Gericht zurückverwiesen wird, ist erst dieses an die Rechtsauffassung der Cour de cassation gebunden. Vgl. zum Stil französischer Gerichtsentscheidungen Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, 4. Aufl. 2001, S. 11 f. m.w.N. und Murad/Sonnenberger, Das Französische Zivilrecht: Einführung und Allgemeiner Teil des Zivilrechts - Band 1/1, 2. Aufl. 1994, Rn. 1 B 61.
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„(…) dès lors que les fautes commises par le médecin et le laboratoire dans l'exécution des contrats formés avec Mme X... avaient empêché celle-ci d'exercer son choix d'interrompre sa grossesse afin d'éviter la naissance d'un enfant atteint d'un handicap, ce dernier peut demander la réparation du préjudice résultant de ce handicap et causé par les fautes retenues“
Aufschlussreicher hierzu sind der Bericht des Referenten P. Sargos und der Schlussantrag des Generalanwalts J. Sainte-Rose, welche dem Gericht bei der Urteilsfindung vorlagen, sowie der Jahresbericht 2000 der Cour de cassation, der die Entscheidungsgründe darlegt. Das Höchstgericht stellte in dem Judikat nicht auf die Behinderung an sich ab, für die die Pflichtverletzung des Arztes und des Labors nicht ursächlich gewesen seien, sondern auf die Nachteile, die dem Kind aus der Behinderung entstanden sind. Was die Richter des französischen Kassationsgerichtshofs allein interessierte, war die Entwicklung des Lebens des Kindes, welches von Leiden und Nachteilen aller Art geprägt sein werde. Diese seien den Beklagten zuzurechnen, da durch deren Verschulden die schwangere Frau das ihr zustehende Recht über die Austragung des Kindes oder den Abbruch der Schwangerschaft nicht wirksam habe ausüben können. Anders als J. Sainte-Rose, der in seinem Schlussantrag Zweifel an dem Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem geltend gemachten Schaden und dem Fehlverhalten von Arzt und Labor äußerte45, qualifizierte P. Sargos den Umstand, dass die Fehldiagnose des Arztes rein biologisch betrachtet nicht die Ursache der Schädigung des Kindes ist, als bedeutungslose Binsenweisheit („lapalissade sans portée“)46. Es sei unerheblich, dass die aus dem Vertrag mit der Mutter sich ergebenden ärztlichen Pflichten a priori nur dieser gegenüber bestanden, denn ein Dritter, der geltend macht, er sei durch eine Vertragsverletzung gegenüber dem Gläubiger geschädigt worden, berufe sich auf die verletzte Pflicht als Grundlage einer deliktischen Haftung nach Art. 1382 ff. Code civil47. Für P. Sargos bestand die Hauptschwierigkeit einer Entschädigung des Kindes darin, eine Verletzung der Menschenwürde („principe du respect de la personne humaine“) zu begründen, hatten es doch erst die Fehler des Arztes und des Labors dem Kind ermöglicht, auf die Welt zu kommen, wenn auch mit einer Behinde45
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Hierzu im Originaltext: „Sous le prétexte d'indemniser un handicap alors que celui-ci ne peut être rattaché par un lien de causalité au comportement fautif des praticiens, n'est-ce pas, en réalité, la naissance et donc la vie de l'enfant qui sont considérées comme un préjudice?“. P. Sargos teilt damit die Auffassung von Jourdain, der in seiner Anmerkung (RTD civ. 1996, 623) zum ersten Perruche-Urteil der Cour de cassation schrieb: „La motivation utilisée par les magistrats du second degré pour nier le lien de causalité entre les fautes constatées et les séquelles de la rubéole semblait bien fragile. Dire en effet que ces séquelles ont pour cause la rubéole est une lapalissade sans portée. La vraie question était de savoir si, sans les fautes commises par le médecin et le laboratoire, ces séquelles auraient pu être évitées“. Siehe Nr. 39 des Berichts und vgl. Cass. Civ. 1, 7. Juli 1998, D. 1999, 391. Allgemein zu diesem Punkt, Terré/Simler/Lequette, Droit civil - Les obligations, 9. Aufl. 2005, Rn. 495 m.w.N. Anders wohl aber die Vorentscheidung vom 26. März 1996, s. dazu in deutscher Sprache v. Bar, ZEuP 2000, 120.
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rung, die die Mutter bei zutreffender Diagnose durch einen Schwangerschaftsabbruch verhindert hätte48. P. Sargos wehrte sich gegen den Vorwurf, die Entschädigung des behinderten Kindes komme einer Eugenik gleich, indem er anführte, es sei inkonsequent, die Kausalität bei dem Ersatzanspruch der Mutter zu bejahen, beim Ersatzanspruch des Kindes aber zu verneinen, handele es sich doch um dasselbe Fehlverhalten. Spreche man dem behinderten Kind keinen eigenen Anspruch zu, so bleibe es oft ohne Hilfe, bisweilen auch noch zu Lebzeiten der Eltern. Die Menschenwürde werde durch Anerkennung eines Schadensersatzanspruchs des behinderten Kindes eher geschützt als durch die Ablehnung einer Ersatzpflicht. Der Kassationsgerichtshof ist an den Bericht des Referenten nicht gebunden, er kann sich über die Lösungsvorschläge des Berichts oder des Schlussantrags des Generalanwalts49 hinwegsetzen. Der Jahresbericht 2000 der Cour de cassation greift aber die Überlegungen von P. Sargos auf und begründet die PerrucheJudikatur damit, dass ein effektiver und nicht bloß theoretischer Respekt der Person die Zuerkennung eines Ersatzanspruches an das behinderte Kind selbst erfordere50. Zwar habe der Conseil d’Etat in seiner Quarez-Entscheidung sich für den alleinigen Ersatzanspruch der Eltern und die Entschädigung in Form einer Einmalzahlung entschieden, doch unterliege damit die Versorgung des behinderten Kindes Wagnissen, die allein der Sphäre der Eltern zuzurechnen sind, wie Scheidung, Tod eines Elternteils, verbunden mit einer dem Kind ungünstigen Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft, oder einer unsicheren Geldanlage51. Trotz des Widerstands einiger Instanzgerichte52 gewann die Perruche-Judikatur mit drei Folgeentscheidungen der Vollversammlung der Cour de cassation vom 13. Juli 200153 weiter Konturen. Das Gericht hatte in einem gleichlautenden Ur-
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Vgl. Nr. 41 des Berichts. Ausführlich zu beiden Dokumenten in der Perruche-Entscheidung Sonnenberger, FamRZ 2001, 1414 (1417 ff.). Rapport annuel 2000 de la Cour de cassation, S. 389 (390): „L’Assemblée plénière n’ignorait certes pas ces impératifs fondamentaux d’une société démocratique, mais il lui est apparu que le respect effectif, et pas seulement théorique, de la personne passait par la reconnaissance de l’enfant handicapé en tant que sujet de droit autonome et que devait être reconnu son droit propre à bénéficier d’une réparation du préjudice résultant de son handicap – et exclusivement de celui-ci – de façon à lui permettre de vivre dans des conditions conformes à la dignité humaine malgré ce handicap“. Dazu im Originaltext, a.a.O., S. 390: „Mais les inévitables aléas inhérents au versement d'un capital (séparation ou divorce des parents avec partage du capital entre eux, décès qui entraîne aussi un partage dont l’enfant handicapé peut n’avoir qu’une faible part successorale, placement hasardeux, dilapidation …) ne permettent pas d'être certain que l’enfant en sera le réel bénéficiaire sa vie durant. La défense de son intérêt, comme la présentation de la dignité de ses conditions de vie futures, paraissent mieux assurées par l’attribution d’une indemnisation qui lui soit propre“. So z.B. CA Aix-en-Provence, 21. März 2001, JCP G 2001, II, Nr. 10600 mit Anm. Bloch (Entschädigung allein der Mutter und nicht des Kindes). Cass. Ass. plén., 13. Juli 2001, D. 2001, 2325 mit Anm. Jourdain (weitere Nachweise bei Jourdain/Viney, Les conditions de la responsabilité, 3. Aufl. 2006, Rn. 249-6 [dort Fn. 43]).
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teilsmotiv die Rechtsprechung in der Sache Perruche neu formuliert und konkretisiert: „L’enfant né handicapé peut demander la réparation du préjudice résultant de son handicap si ce dernier est en relation de causalité directe avec les fautes commises par le médecin dans l’exécution du contrat formé avec sa mère et qui ont empêché celle-ci d’exercer son choix d’interrompre sa grossesse.“
Nach diesen Folgeentscheidungen ist einerseits erforderlich, dass die dem Kind aus der Behinderung entstehenden Nachteile einen direkten Kausalzusammenhang mit dem ärztlichen Verschulden aufweisen, andererseits muss der Mutter durch die Pflichtwidrigkeit die Wahlmöglichkeit zwischen Austragung des Kindes und Unterbrechung der Schwangerschaft genommen worden sein. In allen drei Urteilen fehlte es an der zweiten Anspruchsvoraussetzung, denn es war nicht bewiesen, dass die Behinderung des Kindes eine Abtreibung nach der zehnten Schwangerschaftswoche gemäß Art. L. 162-12 a.F. Code de la santé publique gerechtfertigt hätte54. In einer weiteren Entscheidung vom 28. November 2001 stellte die Cour de cassation (erneut in der Besetzung der Assemblée plénière) klar, dass die Nachteile des behinderten Kindes nicht aus dem Verlust einer Chance („perte de chance“), sondern aus der Behinderung selbst resultieren. Dementsprechend sei nicht nur anteilig, vielmehr umfassend Schadensersatz zu leisten55. b) Reaktionen auf die Perruche-Rechtsprechung Von Juristen wie von Medizinern, von Behindertenverbänden und von Politikern ist die Perruche-Rechtsprechung heftig kritisiert worden. Die Reaktionen auf die Entscheidung vom 17. November 2000 fielen außergewöhnlich scharf aus. Die Zivilrechtler P. Jourdain und G. Viney sprechen zudem von einer Manipulation der öffentlichen Meinung durch diverse Lobbys, die in Presse und Medien eine verzerrte Darstellung der Entscheidung verbreiteten56.
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Bis zum Ablauf der zehnten (seit dem Gesetz vom 4. Juli 2001: zwölften) Schwangerschaftswoche erlaubt das französische Strafrecht eine Abtreibung, wenn sich die Schwangere in einer Notlage („situation de détresse“) befindet. Danach ist ein Schwangerschaftsabbruch nur dann zulässig, wenn dieser aus therapeutischen Gründen indiziert ist. Siehe oben unter II. 2. a). Hintergrund dieser Entscheidung ist die Rechtsprechung der Cour de cassation, nach der Ersatz für den Verlust einer Chance („perte de chance“) verlangt werden kann. Ist nur für den Verlust einer Chance aufzukommen, so wird lediglich ein Anteil des potentiellen Vorteils entschädigt, s. zu dieser Fragestellung Deutsch, Allg. Haftungsrecht, 2. Aufl. 1996, Rn. 852; Katzenmeier, ZZP 117 (2004), 187 (206 ff.). Jourdain/Viney, Les conditions de la responsabilité, 3. Aufl. 2006, S. 24: „L’arrêt fut mal accueilli par une opinion publique il est vrai largement manipulée par divers lobbies qui en firent dans la presse et sur les medias une présentation déformée. On faisait en effet croire que la Cour de cassation avait indemnisé le fait de vivre“.
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aa) Reaktionen seitens der Rechtswissenschaft In der Rechtswissenschaft wurde beanstandet, die Perruche-Judikatur laufe auf eine Haftung ohne Kausalität hinaus57. In diesem Kritikpunkt spiegeln sich die Ausführungen des Generalanwalts J. Sainte-Rose wider, der bereits in seinem Schlussantrag darauf hinwies, dass die dem Kind aus seiner Behinderung entstehenden Nachteile einzig und allein auf der Krankheit der Mutter, demzufolge auf dem Erbgut beruhen, keinesfalls auf dem Fehlverhalten von Arzt und Labor58. Die Kausalkette zwischen der Krankheit der Mutter und der Behinderung des Kindes sei durch das Verhalten beider Akteure nicht betroffen. Dem wurde entgegnet, dass dies zwar unter rein biologischen Gesichtspunkten zutreffend sei, jedoch neben der angeborenen Behinderung auch andere Umstände für die Nachteile ursächlich sein können, u.a. eben ein ärztlicher Behandlungsfehler. Wenn bewiesen sei, dass ohne das Fehlverhalten die Behinderung hätte vermieden werden können, dann sei das schuldhafte Unterlassen im Sinne der Äquivalenztheorie, welche im französischen Recht vorherrsche59, sehr wohl Ursache für die Nachteile des Kindes. Das französische Haftungssystem der Art. 1382 ff. Code civil erleichtert eine solche Argumentation. Im Unterschied zur Grundnorm des deutschen Deliktsrechts (§ 823 Abs. 1 BGB) verlangt es nicht, dass der Arzt oder das Labor eine Rechtsgutsverletzung (Gesundheit oder körperliche Integrität) verursacht hat. Nach französischem Deliktsrecht kann eine Einstandspflicht bereits dann begründet sein, wenn die Pflichtwidrigkeit von Arzt und Labor für irgendwelche materiellen oder immateriellen Nachteile ursächlich war60. Der zweite Hauptkritikpunkt an der Perruche-Rechtsprechung betrifft den von der Judikatur zugrunde gelegten Schadensbegriff. Vorgebracht wird, das behindert geborene Kind könne keinen Schaden geltend machen, da das Leben an sich kein Nachteil sei und die Alternative zu diesem Zustand, die Nicht-Existenz, rechtlich nicht geschützt werde. Das Kind habe kein Recht darauf, nicht geboren worden zu sein, die menschliche Existenz könne daher nicht als Schaden anerkannt werden61. Darauf wurde erwidert, dass nicht das Leben des Behinderten, sondern die Behinderung oder genauer das Leben mit Behinderung einen ersatzfähigen Schaden darstelle. Zwar werde bei dieser Herangehensweise impliziert, dass das NichtLeben dem Leben als Behinderter vorzuziehen sei, was ethisch in höchstem Maße 57
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Ausführlich zum Problem des Ursachenzusammenhangs zwischen ärztlichem Fehlverhalten und dem Schaden des behinderten Kindes, Winter, „Bébé préjudice“ und „Kind als Schaden“, 2002, S. 55 ff. Siehe II. B. 2. des Schlussantrags. In dieselbe Richtung auch D. Mazeaud, D. 2001, jur. 332 (333). Allgemein zur Frage der Kausalität im französischen Recht Terré/Simler/Lequette, Droit civil – Les obligations, 9. Aufl. 2005, Rn. 858 ff. So Sonnenberger, FamRZ 2001, 1414 (1416). Allgemein zu den Unterschieden zwischen dem deutschen und französischen Deliktsrecht, Berg, „L'influence du droit allemand sur la responsabilité civile française“, RTD civ. 2006, 53 ff. Insoweit scharfe Kritik an dem Perruche-Urteil vom 17. November 2000 findet sich z.B. in den Anmerkungen von Chabas, JCP G 2000, II, Nr. 10438 und Aynès, D. 2001, chr. 492.
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bedenklich sei. Andererseits führe die Ablehnung eines ersatzfähigen Schadens dazu, dass die Behinderung selbst und die damit verbundenen Leiden juristisch nicht erfasst würden. Ferner sei es inkonsistent, einen Schaden der Eltern anzuerkennen und gleichzeitig die Existenz eines Schadens des Kindes zu verneinen. Ein mittelbarer Schaden der Eltern könne nur dann zu einem Ersatzanspruch führen, wenn auch ein unmittelbarer Nachteil des Kindes existiere62. Darüber hinaus spreche für einen eigenen Ersatzanspruch des Kindes, dass eine große Anzahl schwerstbehindert geborener Kinder von ihren Eltern bei oder unmittelbar nach der Geburt verstoßen werde. Erkenne man dem Kind keinen Ersatzanspruch zu63, sei seine Versorgung gefährdet. P. Jourdain und G. Viney äußern gar die Befürchtung, dass ein alleiniger Ersatzanspruch der Eltern zu einer „Plünderung“ („spoliation“) des Kindes führen könne, indem die Eltern ihr Kind verstoßen, nachdem sie ihren Ersatzanspruch gerichtlich geltend gemacht haben64. Kritisiert wurde schließlich, dass die Perruche-Rechtsprechung zu einer Ungleichbehandlung unter behinderten Menschen führe. Kinder mit nicht erkennbaren genetischen Behinderungen, zufälligen Behinderungen oder Behinderungen, bei denen die Eltern nicht an eine Abtreibung denken, blieben ohne Ersatzanspruch, sie können allenfalls die – bis dato unzureichenden – Sozialversicherungsleistungen in Anspruch nehmen65. bb) Reaktionen seitens der Ärzte und der Behindertenverbände Ebenso stark wie die Proteste der Juristen66 fielen die Reaktionen der Ärzteschaft aus. Sie verwiesen auf die Gefahr, dass im Zuge der Perruche-Rechtsprechung die Anzahl der medizinisch indizierten Abtreibungen massiv ansteigen könne. Im Hinblick auf das verschärfte Haftungsrisiko rieten Ärzte verstärkt zu einer Abtreibung, auch in Fällen, in denen sich nach dem Schwangerschaftsabbruch herausstellen sollte, dass die befürchtete Behinderung nicht drohte. Jedenfalls erhöhe die neue Judikatur das Haftungsrisiko erheblich, da zu befürchten sei, dass sich die Rechtsprechung der Cour de cassation zu pränatalen Untersuchungen hin zu einer Erfolgseinstandspflicht („obligation de résultat“) entwickele, bei der der Arzt für jede nicht verhinderte Behinderung gewissermaßen automatisch hafte. Einige Versicherungsunternehmen reagierten umgehend und erhöhten die Prämien der ärztlichen Haftpflichtversicherung betroffener Fachmediziner. Ärzteverbände erwogen die Einstellung der vorgeburtlichen Beratung67. 62
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Hierzu ausführlich Jourdain/Viney, Les conditions de la responsabilité, 3. Aufl. 2006, Rn. 249-6. So allerdings die Position des Conseil d’Etat in seinem Quarez-Urteil, s. oben II. 2. Jourdain/Viney, Les conditions de la responsabilité, 3. Aufl. 2006, Rn. 249-6: „Une telle position, soi-disant inspirée de considérations morales, pourrait même conduire à spolier l’enfant au profit des parents qui l’abandonneraient après avoir reçu l’indemnité“. So Rebhahn, ZEuP 2004, 794 (805 f.) m.w.N. aus der französischen Literatur. Siehe nur die öffentliche Protestnote „La vie humaine comme préjudice?“ von 30 prominenten Rechtsgelehrten (abgedruckt in Le Monde, 24. November 2000, S. 20). Siehe Blanchard, „Après l’arrêt Perruche, des obstétriciens abandonnent leur métier“, Le Monde, 31. Januar 2002.
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Behindertenverbände forderten – angesichts der ihrer Auffassung nach lebensfeindlichen und diskriminierenden Rechtsprechung der Cour de cassation –, dass künftig der Staat die finanziellen Lasten der Pflege behinderter Menschen trage. Die Forderung wurde nicht nur für pränatal Geschädigte erhoben, vielmehr müsse in Anbetracht der unzureichenden finanziellen Hilfen die Versorgungssituation aller Menschen mit Behinderung verbessert werden68. Einige wenige Interessenvertretungen behinderter Menschen werteten die umstrittene Rechtsprechung differenzierter. Sie sahen in dem Urteil vom 17. November 2000 eine strikte Anwendung des Rechts ohne jedweden Anspruch auf eine ethische Wertung, mahnten jedoch ebenso, dass die Rechtsprechung zu einer Inanspruchnahme der Eltern durch ihr behindert geborenes Kind führen könne69.
3. Das Gesetz vom 4. März 2002 und das „amendement antiPerruche“ Im ersten Halbjahr 2001 befasste sich der Nationale Ethikrat (Comité consultatif national d’éthique pour les sciences de la vie et de la santé) mit der Frage der Entschädigung behindert geborener Menschen. Er veröffentlichte am 29. Mai 2001 eine Stellungnahme70, in der er sich zwar jeder Kritik an Rechtspositionen enthielt, aber deutlich machte, dass eine Versorgung der Kinder durch Haftungsklagen eine Diskriminierung gegenüber anderen behinderten Menschen impliziere. Vorzugswürdig sei eine Verbesserung der Versorgung durch die Solidargemeinschaft. Die Lage der Menschen mit Behinderung dürfe nicht von Entschädigungsklagen abhängig sein, sondern müsse Ausdruck der kollektiven Verantwortung der Gesellschaft gegenüber seinen schwächsten Mitgliedern sein71. Angesichts der scharfen Reaktionen auf das Perruche-Urteil vom 17. November 2000 verwundert es, dass die damalige Regierung unter Premierminister L. Jospin lange Zeit keinen Anlass für eine Intervention des Gesetzgebers sah. Die 68
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Vgl. nur die Stellungnahme der Vorsitzenden der „Association des paralysés de France“ (APF), Desaulle, abgedruckt in Labrusse-Riou, Naissances handicapées et responsabilité (Forschungsbericht Université Paris 1), 2005, S. 42 ff. Die staatliche finanzielle Hilfe an eine Familie mit behindertem Kind betrug zum damaligen Zeitpunkt zwischen 700 und 6.000 Francs im Monat (umgerechnet 110 bis 900 Euro). So die Pressemitteilung der „Union Nationale des Associations de Parents et Amis de Personnes Handicapées Mentales“ (UNAPEI) vom 22. November 2000, abgedruckt in Labrusse-Riou, Naissances handicapées et responsabilité (Forschungsbericht Université Paris 1), 2005, S. 40 f. Vgl. auch den Standpunkt der Regierungskommisarin Pécresse im Quarez-Urteil, s. unter II. 2. Stellungnahme Nr. 68 vom 29. Mai 2001 „Handicaps congénitaux et préjudice“, abrufbar unter http://www.ccne-ethique.fr. In der Originalfassung: „La reconnaissance d’une responsabilité humaine, individuelle ou collective, dans la survenue d’un handicap peut légitimement conduire à des réparations, dans le cadre de recours judiciaires. Le sort de la personne handicapée ne doit cependant pas dépendre de celles-ci. Il doit être assuré indépendamment d’elles comme la manifestation de la responsabilité collective de la société envers ses membres fragilisés“ (S. 7).
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erste Initiative für eine legislative Lösung der Problematik wurde bereits am 10. Januar 2001 von einem Vertreter der damaligen Opposition, J.-F. Mattei, in Form eines Änderungsantrags („amendement“) zum Gesetz über die soziale Modernisierung vorgebracht72, dieser fand jedoch nicht die nötige Zustimmung. Ein in dieselbe Richtung gehender zweiter Gesetzesvorschlag von Mattei und anderen Abgeordneten der Oppositionspartei UMP vom 3. Dezember 2001 sah vor, Artikel 16 Code civil um einen weiteren Absatz zu ergänzen: Schadensersatzklagen behindert Geborener sollten ausgeschlossen werden, ausgenommen die Fälle, in denen die Behinderung direkte Folge einer Pflichtwidrigkeit ist73. Auch wenn dieser Vorschlag ebenfalls nicht die erforderliche Mehrheit fand, so beeinflusste er doch maßgeblich die endgültige Fassung des Gesetzes vom 4. März 2002. Nach der parlamentarischen Debatte über den Antrag von Mattei ergriff die sozialistische Regierung Jospins Ende des Jahres 2001 schließlich doch die Initiative und brachte einen Änderungsantrag zu einem bereits in parlamentarischer Beratung befindlichen Gesetz über das Gesundheitswesen ein. Dieser lehnte sich nach Diskussion in der Nationalversammlung (Assemblée nationale) stark an den Antrag von Mattei an und wurde fast einstimmig von den zuständigen Ausschüssen angenommen. Entgegen dem Drängen der Ärzteverbände wurde keine Haftungsfreistellung der Ärzte vorgesehen. Der an den Senat verwiesene Text sah vielmehr vor, dass die Eltern eines behindert geborenen Kindes dann Entschädigung für die ihrem Kind entstehenden Nachteile erhalten können, wenn eine besonders schwere Behinderung wegen groben Fehlverhaltens nicht erkannt wurde74. Daraufhin kündigten im Januar 2002 die betroffenen Ärzte einen Streik an und drohten, keine pränatalen Untersuchungen mehr durchzuführen. Als Reaktion beschloss der Senatsausschuss für soziale Fragen („commission des affaires sociales“) einstimmig einen veränderten Gesetzesentwurf, der die Frage der Haftung der Ärzte bewusst weitaus restriktiver beantwortete als der ursprüngliche, vom Rechtsausschuss („commission des lois“) verabschiedete Entwurf. Dieser zweite Gesetzesentwurf kam zur Abstimmung vor den Senat und wurde fast einstimmig verabschiedet. Wegen der unterschiedlichen Auffassungen der Assemblée nationale und des Senats tagte eine „commission mixte paritaire“ (in der Funktion mit dem deutschen Vermittlungsausschuss vergleichbar), in der sich der vom Senat verabschiedete Text durchsetzte. Dieser wurde in der Folge als Artikel 1 des Gesetzes über die Patientenrechte und die Qualität des Gesundheitssystems („loi relative aux droits des malades et à la qualité du système de santé“) am 4. März 2002 vom Parlament beschlossen.
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Amendement au projet de loi de modernisation sociale du 10 janvier 2001. Ein Überblick über die Gesetzgebungsgeschichte bietet das vom französischen Senat zusammengestellte „dossier législatif“ unter http://www.senat.fr/evenement/dossier_perruche. html. In deutscher Sprache siehe Rebhahn, ZEuP 2004, 794 (807 ff.), aus der französischen Literatur Jourdain, D. 2002, 891. Im Originaltext: „Nul n’est recevable à demander une indemnisation du fait de sa naissance. Lorsqu’un handicap est la conséquence directe d’une faute, il est ouvert droit à réparation dans les termes de l’article 1382 du présent code“. Zu diesem Entwurf, siehe Rehbahn, ZEuP 2004, 794 (808 f.).
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Analysiert man den Inhalt dieser Regelung, so zeigt sich der Wille des Gesetzgebers, dem Wunsch der Behindertenverbände und der Position des Ethikrates Rechnung zu tragen und die Versorgung der Menschen mit Behinderung vom Haftungsrecht in das Sozialrecht zu verlagern. Die Fürsorge für das behinderte Kind obliegt – nach dem Wortlaut des Gesetzes – nunmehr der nationalen Solidarität („solidarité nationale“). Im Gegenzug wurden die Ansprüche von Kind und Eltern radikal beschnitten (sub a)). In Anbetracht der wiederholten Anwendung der durch die PerrucheRechtsprechung entwickelten Grundsätze durch die Cour de cassation75 fügte der französische Gesetzgeber in das Gesetz vom 4. März 2002 eine Regelung ein, nach der die neuen Grundsätze auch auf bereits anhängige Verfahren anzuwenden seien. Damit sollte dem Kassationsgerichtshof die Möglichkeit genommen werden, nach In-Kraft-Treten des Gesetzes noch auf einen Schadensersatzanspruch zugunsten des Kindes zu entscheiden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte jedoch in zwei Entscheidungen aus dem Jahre 2005 klar, dass diese Vorschrift mit dem Ersten Zusatzprotokoll zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1. ZP zur EMRK) unvereinbar ist (sub b)). a) Inhalt des Gesetzes Die endgültige Fassung von Artikel 1 des Gesetzes vom 4. März 2002 (nunmehr in Art. L. 114-5 C. act. soc. fam. kodifiziert) sieht folgende Regelung vor: „(1) Niemand kann einen Schaden allein daraus geltend machen, dass er geboren wurde. (2) Eine Person, die mit einer auf einem ärztlichen Fehler beruhenden Behinderung geboren wurde, kann Schadensersatz erhalten, wenn das Fehlverhalten die Behinderung unmittelbar verursacht oder verschlimmert hat oder das Fehlverhalten verhindert hat, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Behinderung zu lindern. (3) Wenn die Haftung eines Fachkundigen oder einer Gesundheitseinrichtung gegenüber den Eltern eines Kindes besteht, welches mit einer Behinderung geboren wurde, die während der Schwangerschaft auf Grund eines qualifizierten Verschuldens nicht entdeckt wurde, so können die Eltern Entschädigung lediglich ihres eigenen Schadens verlangen. Dieser Schaden umfasst nicht die Mehraufwendungen, die dem Kind lebenslang aus seiner Behinderung entstehen. Der Ausgleich dieser Behinderung unterliegt der Zuständigkeit der nationalen Solidarität.“76
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Cass. Ass. plén., 13. Juli 2001 und 28. November 2001. Siehe oben, II. 2. a). In französischer Sprache heißt es: „Nul ne peut se prévaloir d’un préjudice du seul fait de sa naissance. La personne née avec un handicap dû à une faute médicale peut obtenir la réparation de son préjudice lorsque l’acte fautif a provoqué directement le handicap ou l’a aggravé, ou n’a pas permis de prendre les mesures susceptibles de l’atténuer. Lorsque la responsabilité d’un professionnel ou d’un établissement de santé est engagée vis-à-vis des parents d’un enfant né avec un handicap non décelé pendant la grossesse à la suite d’une faute caractérisée, les parents peuvent demander une indemnité au titre de leur seul préjudice. Ce préjudice ne saurait inclure les charges particulières découlant, tout au long de la vie de l’enfant, de ce handicap. La compensation de ce dernier relève
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Die ersten beiden Absätze des Artikels betreffen den Schadensersatzanspruch des behindert geborenen Kindes. Die Regelung beginnt mit dem „dispositif antiPerruche“, demzufolge niemand die alleinige Tatsache seiner Geburt als Schaden geltend machen kann. Die politische Absicht des Gesetzgebers ist eindeutig: Klagen nach dem Muster der Perruche-Rechtsprechung sollen nicht mehr angenommen werden dürfen. Streng genommen unterbindet der Wortlaut des Abs. 1 dies nicht, hatte die Cour de cassation doch stets präzisiert, dass sie nicht die Behinderung selbst als ersatzfähigen Schaden erkennt, sondern allein die sich daraus ergebenden Nachteile. Es erschließt sich aber aus den Gesetzesmaterialien und aus dem Zusammenhang mit Abs. 2, dass „wrongful life“-Klagen behindert geborener Kinder fortan nicht mehr zulässig sind77. Nur in den Fallkonstellationen des Abs. 2 (also einer Behinderung, die direkt durch ärztliches Fehlverhalten verursacht oder verschlimmert wird oder deren Behandlung pflichtwidrig unterlassen wird) bleibt dem Kind der Ersatzanspruch erhalten. Demnach werden Fehler im Rahmen einer Pränataldiagnose nur dann mit einem deliktischen Schadensersatzanspruch sanktioniert, wenn die Fehlbildung noch während der Schwangerschaft hätte behandelt werden können, jedoch nicht wenn die drohende Behinderung weder durch medikamentöse Behandlung noch durch eine sonstige medizinische Maßnahme hätte beeinflusst werden können. Diese Regelung knüpft an die vormalige Rechtsprechung des Conseil d’Etat und der Cour de cassation78 an und erweitert die Haftung auf die Fälle, in denen der Mediziner es schuldhaft unterlässt, eine therapierbare Fehlbildung zu diagnostizieren und zu behandeln79. Abs. 3 betrifft den Ersatzanspruch der Eltern. Sah der von der Assemblée nationale verabschiedete Gesetzentwurf noch vor, dass die Eltern Entschädigung für die besonderen Lasten („charges particulières“) verlangen können, die sich aus der Behinderung ihres Kindes ergeben, so hat der Senat dies entscheidend verändert. Nach langer Diskussion80 bestimmt Abs. 3 nunmehr, dass der Anspruch der Eltern einzig und allein den Ersatz ihres eigenen Schadens abdeckt, der aber eben nicht den Mehraufwand für Pflege und Erziehung des behinderten Kindes umfasst, sondern anscheinend nur den immateriellen Schaden („préjudice moral“) anspricht, der den Eltern durch die Geburt des behinderten Kindes entsteht81. Unter
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de la solidarité nationale“. So die ganz h.M., vgl. nur Jourdain/Viney, Les conditions de la responsabilité, 3. Aufl. 2006, Rn. 249-7; a.A. aber etwa Radé, „La réforme de la responsabilité médicale après la loi du 4 mars 2002“, Responsabilité civile et assurances (Resp. civ. et assur.) 2002, chr. Nr. 8. S. oben unter II. 1.: CE, 27. September 1989 und Cass. Civ. 1, 16. Juli 1991. Diese Neuregelung ist bereits zur Anwendung gekommen, u. a. in einem Urteilsspruch der Cour d’appel de Versailles vom 28. November 2003 (D. 2004, 2814 mit Anm. Hennion-Jacquet), die auf einen Ersatzanspruch des Kindes erkannte, da der behandelnde Arzt es unterließ, bei einer Zwillingsschwangerschaft zu untersuchen, ob es sich um eine mono- oder bichoriale Schwangerschaft handelte, was eine Verhinderung von Gehirnschäden durch die Einleitung einer Frühgeburt ausschloss. Hierzu ausführlich in deutscher Sprache, Rebhahn, ZEuP 2004, 794 (810 f.). Vgl. Cour administrative d’appel (CAA) Paris, 13. Juni 2002, D. 2002, 2156 mit Anm. de Montecler. Viney/Jourdain, Les conditions de la responsabilité, 3. Aufl. 2006, Rn.
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Umständen kann auch das entgangene Gehalt eines Elternteils, der für die Pflege des Kindes seine berufliche Tätigkeit aufgibt, unter den Schadensbegriff subsumiert werden82. Die ersten zu Art. L. 114-5 Abs. 3 C. act. soc. fam. ergangenen Urteile zeigen, dass die Instanzgerichte diese Regelung eher restriktiv auslegen und die zugesprochenen Schadensersatzbeträge recht gering ausfallen83. Eine Entschädigung ist überdies an den Beweis qualifizierten Verschuldens („faute caractérisée“) des Arztes geknüpft. Dieser im französischen Zivilrecht bis dato unbekannte Rechtsbegriff impliziert einen besonderen Schweregrad der Pflichtverletzung und ist wohl mit dem schweren Verschulden („faute lourde“) und der „faute caractérisée“ des französischen Strafrechts gleichzusetzen84. Der letzte Satz des dritten Absatzes, nach dem der Ausgleich der Behinderung in jenen Fällen Aufgabe der nationalen Solidarität ist, kündigt zwar ein Auffangen durch das Fürsorgerecht an. Kommentatoren sprachen seiner Zeit jedoch von „leeren Verheißungen“85, da mangels Konkretisierung des Begriffs der „solidarité nationale“ durch Sondergesetze oder Ausführungsverordnungen keine konkreten Leistungsansprüche gegen die Sozialversicherungsträger entstanden. Festzuhalten bleibt: Art. 1 des Gesetzes vom 4. März 2002 weicht ab von dem im französischen Haftungsrecht verankerten Prinzip der „réparation intégrale“, der Entschädigung sämtlicher Nachteile, die durch das Fehlverhalten eines Schädigers verursacht wurden86. Die Neuregelung stellt aus Sicht der Eltern einen unerwarte-
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249-7 sprechen von dem Schaden, der der genommenen Möglichkeit zur Abtreibung, der fehlenden Vorbereitung auf die Geburt eines Kindes mit Behinderung sowie dem Erblicken des behinderten Kindes bei der Geburt entspricht. So jedenfalls CA Metz, 21. September 2004, JCP G 2005, IV, Nr. 1142. In diesem Sinne auch Tribunal administratif Paris, 25. November 2003; vorsichtiger aber noch CA Aix, 19. September 2002; beide Entscheidungen sind auszugsweise abgedruckt bei Labrusse-Riou, Naissances handicapées et responsabilité (Forschungsbericht Université Paris 1), 2005, S. 128 ff. Siehe die Nachweise von Urteilen, die einem Elternteil lediglich 3.000 bis 15.200 Euro zusprechen, bei Labrusse-Riou, Naissances handicapées et responsabilité (Forschungsbericht Université Paris 1), 2005, S. 132 (dort Fn. 123). Auf ein qualifiziertes Verschulden erkennend CE, 19. Februar 2003, JCP G 2003, II, Nr. 10107 mit Anm. Mistretta. Die CAA Lyon definiert in einer Entscheidung vom 11. Februar 2003 (Revue Droit&Santé 2004, 26 mit Anm. Lambert-Garrel) die „faute caractérisée“ durch die Intensität und die Evidenz des Fehlverhaltens („le fait d’avoir nettement manqué au devoir d’information constitue une faute qui par son intensité et son évidence doit être regardée comme caractérisée“). Für eine Auslegung zugunsten einer Verschuldensvermutung, Deguergue, Anm. zu CE, 19. Februar 2003, AJDA 2003, 855. Siehe auch die ausführliche Erörterung dieser Frage bei Labrusse-Riou, Naissances handicapées et responsabilité (Forschungsbericht Université Paris 1), 2005, S. 122 ff. Vgl. nur Durry, „Responsabilité médicale et solidarité nationale“, Risques 2002, 113 ff. (115 f.): „La solidarité nationale n’est, pour l’heure, qu’une espérance […]. On verra ce qu’il adviendra de ces bonnes intentions“. Dieses Prinzip kommt indirekt schon in der zentralen Haftungsnorm des französischen Zivilrechts (Art. 1382 Code civil) zum Ausdruck: „Tout fait quelconque de l’homme qui cause un dommage à autrui oblige celui par la faute duquel il est arrivé à le réparer“ (jede Handlung eines Menschen, von welcher Art sie auch sei, die einem anderen Schaden verursacht, verbindet denjenigen, durch dessen Verschulden der Schaden entstan-
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ten Rückschritt dar87. Erhielten sie zuvor nach den Regeln der QuarezRechtsprechung des Conseil d’Etat neben einer Entschädigung für ihren eigenen immateriellen Schaden auch Ersatz des Mehraufwands für Pflege und Erziehung des behinderten Kindes88, ohne dass dies auf Widerstand in der Öffentlichkeit stieß, so wird ihnen nach Art. L. 114-5 C. act. soc. fam. nur eine partielle und äußerst niedrige Entschädigung zugestanden. Daher überraschte es nicht, dass schon wenige Monate nach Inkrafttreten der Regelung Behindertenverbände eine gemeinsame Protestnote gegen das „Anti-Perruche-Gesetz“ dort veröffentlichten, wo zwei Jahre zuvor die Perruche-Rechtsprechung auf das Schärfste kritisiert worden war89. b) Zeitlicher Anwendungsbereich Nach Art. 1, I Abs. 4 des Gesetzes vom 4. März 2002 erstrecken sich die neuen Grundsätze auf Verfahren, die zum Zeitpunkt der Verkündung des Gesetzes anhängig und noch nicht endgültig entschieden waren. Wie bereits erwähnt, sollte damit der Cour de cassation die Möglichkeit genommen werden, auch nach dem 4. März 2002 noch auf einen Schadensersatzanspruch zugunsten des Kindes zu erkennen. Mit zwei Urteilen vom 8. Oktober 200590 haben die Richter des EGMR diese Regelung für unvereinbar mit Art. 1 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK91 erklärt und auf eine Verletzung des darin enthaltenen Eigentumsschutzes erkannt. Die den Urteilen des EGMR zugrunde liegenden Beschwerden wurden jeweils von Elternehepaaren eines behinderten Kindes eingebracht. In beiden Fällen wurden während der Schwangerschaft Anomalien der Entwicklung der Leibesfrucht übersehen, die sich kurz nach der Geburt als erhebliche körperliche Behinderungen herausstellten. Beide Ehepaare reichten daraufhin Klage beim Verwaltungsgericht gegen den Krankenhausträger ein und forderten insbesondere Ersatz für die auf Grund der Behinderung erlittenen materiellen und immateriellen Schäden92. Unter Verweis auf das neu in Kraft getretene Gesetz wurde zwar auf Ersatz der ihnen entstandenen Schäden erkannt, die durch die Pflege des behinderten Kindes
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den ist, denselben zu ersetzen). Deutsch, NJW 2003, 26 (27) spricht insoweit von einem „eher kleinkarierten Gesetz“. Anders als im deutschen Recht erhalten die Eltern allerdings nur Ersatz des Mehraufwands und nicht Entschädigung für sämtliche Kosten für die Pflege des Kindes, vgl. hierzu Demme/Lorentz, RID comp. 2005, 103 ff. (129 f.). Siehe Blanchard, „Les associations exigent l’abrogation de la loi «anti-perruche»", Le Monde, 26. Juni 2002. EGMR, 6. Oktober 2005, JCP G 2006, II, Nr. 10061 mit Anm. Zollinger. Siehe hierzu auch die Urteilsanalyse in deutscher Sprache von Knetsch, „Entwicklungen der „Kindals-Schaden“-Problematik in Frankreich“, VersR 2006, 1050. Nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK hat „jede natürliche oder juristische Person […] ein Recht auf Achtung ihres Eigentums“. Ferner darf „niemandem […] sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen“. CE, 6. Dezember 2002, AJDA 2003, 283 mit krit. Anm. Donnat/Cassas.
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entstandenen Mehrkosten (Umbau des Hauses, Anschaffung eines geeigneten Kraftfahrzeugs etc.) wurden aber nicht ersetzt. Mit ihren Beschwerden beim EGMR warfen die Ehepaare dem französischen Staat unter anderem vor, dass sie durch das am 4. März 2002 in Kraft getretene Gesetz in ihrem Eigentumsrecht verletzt worden seien. Die Beschwerdeführer machten geltend, dass sie nach der ständigen Rechtsprechung des Conseil d’Etat93 auf eine wesentlich höhere Entschädigungssumme hatten vertrauen dürfen. Durch die Rückwirkung des Gesetzes vom 4. März 2002 sei ihnen dieser Anspruch genommen worden, ohne dass ihnen der Gesetzgeber einen angemessenen Ausgleich zugebilligt habe. Die Regierung Frankreichs hatte ein öffentliches Interesse an der Regelung und zur Begründung drei Argumentationslinien angeführt: Das Gesetz habe ethischen Bedenken gegen die Rechtsprechung der Cour de cassation und des Conseil d’Etat Rechnung tragen wollen. Es sei zudem als Ergebnis eines wesentlichen Entscheidungsprozesses der französischen Gesellschaft zu verstehen. Ferner seien auch Gesichtspunkte der Gerechtigkeit und der zweckmäßigen Organisation des französischen Gesundheitssystems beim Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt worden. Die Straßburger Richter überzeugte dieses Vorbringen nicht. Dabei respektiert der EGMR die Entscheidung des französischen Gesetzgebers, den Protesten der Öffentlichkeit gegen die Perruche-Judikatur mit einem umfassenden Gesetz entsprechen zu wollen. Jedoch sei der Eingriff in die Rechtsposition der Eltern, die noch vor Inkrafttreten des Gesetzes auf Schadensersatz geklagt hatten, unverhältnismäßig. Die Anwendbarkeit eines Gesetzes auf anhängige Zivilverfahren begründe zwar nicht per se die Unverhältnismäßigkeit der staatlichen Maßnahme, jedoch sprächen in den vorliegenden Fällen die Höhe des jeweils weggefallenen Anspruchs auf Entschädigung sowie die nur unzureichenden Ausgleichsmaßnahmen (Rückgriff auf die „solidarité nationale“) gegen die Proportionalität des Eingriffs durch das Gesetz vom 4. März 2002. Die Urteile des EGMR kommen nur denen zugute, die ihr Schadensersatzbegehren noch vor In-Kraft-Treten des Gesetzes vom 4. März 2002 gerichtlich geltend gemacht haben. Für diese Altfälle wird die Perruche-/Quarez-Judikatur angewandt und den Eltern Ersatz sämtlicher Schadenspositionen inklusive Mehraufwand für die Pflege ihres Kindes (Position des Conseil d’Etat) oder dem Kind ein eigener umfassender Ersatzanspruch (Position der Cour de cassation) zugesprochen94. In zwei Entscheidungen vom 30. Oktober 2007 und vom 8. Juli 2008 erkannte der Kassationsgerichtshof darauf, dass auch in Fällen, in denen das Kind zwar vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 4. März 2002 geboren wurde, aber erst nach diesem Zeitpunkt eine Schadensersatzklage anhängig gemacht wurde, die Perruche93 94
Zur Quarez-Rechtsprechung, siehe oben II. 2. Siehe die drei Entscheidungen Cass. Civ. 1, 24. Januar 2006, JCP G 2006, II, Nr. 10062 mit Anm. Gouttenoire/Porchy-Simon sowie in der Folge auch 21. Februar 2006, Revue de droit sanitaire et social (RDSS) 2006, 357 mit Anm. Hennion-Jacquet. Vgl. auch CE, 24 janvier 2006, Resp. civ. et assur. 2006, comm. Nr. 127 mit Anm. Radé. Weitere Nachweise bei Knetsch, VersR 2006, 1050 (dort Fn. 10).
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Judikatur weiterhin Anwendung findet95. In der Urteilsbegründung stellen die Zivilrichter wie schon das EGMR auf eine Verletzung des Eigentumsschutzes nach Art. 1 Abs. 1 1. ZP zur EMRK ab, da die Kläger im Moment des Schadenseintritts – der nach Lesart des Gerichts auf den Zeitpunkt der Geburt des Kindes fällt – auf eine umfassende Entschädigung nach den Grundsätzen der Rechtsprechung der Cour de cassation hätten vertrauen dürfen96.
4. Sozialversicherungs- und fürsorgerechtliche Regelungen Die Verurteilung des französischen Staates durch die Richter des EGMR stützte sich auf die unzureichende Absicherung behinderter Menschen nach französischem Sozialrecht. Zwar wurden durch Gesetz vom 11. Februar 2005 die fürsorgerechtlichen Leistungen für Menschen mit Behinderung umfassend reformiert, jedoch war zum Zeitpunkt der Entscheidungen der tatsächliche Nutzen der Neuregelungen für die Beschwerdeführer nicht ersichtlich (sub a)). Erst mit Gesetz vom 19. Dezember 2007 ist der neu geschaffene Ausgleichsanspruch („prestation de compensation“) auf behinderte Menschen unter 20 Jahren und damit auf die typischen Geburtsschadensfälle ausgeweitet worden. Behinderte Kinder, deren Versorgung vormals durch die Perruche- oder Quarez-Rechtsprechung abgesichert war, haben nunmehr das – zumindest theoretische – Recht auf vollen Ersatz der durch die Behinderungen bedingten Mehrbelastungen (sub b)). a) Das Gesetz vom 11. Februar 2005 über die Chancengleichheit und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung Mit Gesetz vom 11. Februar 2005 hat der französische Gesetzgeber die vormaligen Regeln zur Versorgung behinderter Menschen (Gesetz vom 30. Juni 1975) einer weitreichenden Reform unterzogen. Neben der Schaffung neuer Institutionen wie der Nationalen Solidaritätskasse für Autonomie („Caisse nationale de solidarité pour l’autonomie“) sind auch die Mechanismen der finanziellen und materiellen Versorgung behinderter Menschen grundlegend neu gestaltet worden. Die Entschädigung jener Schadenspositionen, die nach Art. 1 des Gesetzes vom 4. März 2002 nicht durch das allgemeine Haftungsrecht erfasst werden dürfen, wird nunmehr durch das Sozialversicherungsrecht übernommen. Diese Verlagerung von der haftungsrechtlichen Verantwortung Einzelner hin zur sozialrechtlichen Versorgung nach dem Solidarprinzip gilt hinsichtlich aller Schäden, die durch das Gesetz vom 4. März 2002 ausgeklammert worden sind. Nach allgemeinem zivil- oder öffentlich-rechtlichem Haftungsrecht wird fortan nur noch der eigene, ungleich niedrigere Schaden der Eltern ersetzt, der, wie bereits erwähnt, nach Art. L. 114-5 Abs. 3 S. 2 C. act. soc. fam. ausdrücklich nicht den Mehraufwand für die Versorgung des behinderten Kindes umfasst97. 95
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Cass. Civ. 1, 30. Oktober 2007, Gaz. Pal. 2008, 975 mit Anm. Cerveau, und 8. Juli 2008, JCP G 2008, I, Nr. 186, mit Anm. Stoffel-Munck. Hierzu kritisch Marais, Revue des contrats 2008, 909. Siehe oben II. 3. a). Im Falle der Haftung öffentlicher Krankenhausträger leistet nach
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Art. L. 114-1-1 C. act. soc. fam. proklamiert seit der Neufassung durch das Gesetz vom 11. Februar 2005, dass jeder behinderte Mensch Anspruch auf den Ausgleich der Folgen seiner Behinderung hat, unabhängig von Ursache und Art der Behinderung, Alter oder Lebensumständen des Betroffenen98. Dieser neue Ausgleichsanspruch ist Element einer weitreichenden Sozialreform, die behinderten Menschen nicht nur die Verwirklichung eines frei gewählten „Lebensprojekts“ („projet de vie“) ermöglichen soll, sondern auch deren Teilnahme am sozialen Leben sowie eine als Service verstandene Betreuung gewährleisten und die Vorsorge und Früherkennung von Behinderungen verbessern soll99. Kernstück der Reform ist gleichwohl die Kompensation der Behinderung („compensation du handicap“), die verschiedentlich als Ausdruck einer „philosophischen und politischen Revolution“ verstanden wird100. Das Gesetz differenziert hierbei zwischen einem kollektiven und einem individuellen Kompensationsaspekt. Das Recht auf Kompensation („droit à compensation“) richtet sich an die Solidargemeinschaft und mahnt an, den Bedürfnissen behinderter Menschen in allen Lebenslagen Rechnung zu tragen, sei es bei der Kinderbetreuung, der Schulbildung, der beruflichen Integration und anderen in Art. L. 114-1-1 C. act. soc. fam. aufgezählten Bereichen. Hierbei kommt den französischen Gebietskörperschaften („collectivités territoriales“, d.h. Départements und Regionen) durch neu geschaffene Kompetenzen eine besondere Bedeutung zu101. Der Ausgleichsanspruch („prestation de compensation“) ist nach der Vorstellung des Gesetzgebers das finanzielle und individuelle Äquivalent zu diesem Recht auf Kompensation. Hatten Personen mit Behinderung bislang lediglich Anspruch auf eine (in der Regel niedrige) pauschalierte Leistung des Sozialträgers zur Übernahme einiger weniger Pflegekosten102, so sieht Art. L. 245-1 C. act. soc. fam. nunmehr einen umfassenden Kompensationsanspruch zugunsten des behinderten Menschen vor. Diese Ausgleichsleistung kann sowohl Natural- als auch
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wie vor der Staat die entsprechende Entschädigung, anderenfalls der Schädiger nach den Regeln des allgemeinen Deliktsrechts. Art. L. 114-1-1 Code de l’action sociale et des familles: „La personne handicapée a droit à la compensation des conséquences de son handicap, quels que soient l’origine et la nature de sa déficience, son âge ou son mode de vie“. Zwar kündigte der französische Gesetzgeber dies bereits im Gesetz vom 17. Januar 2002 (Art. 53) an, jedoch wurde diese programmatische Formel seinerzeit kaum mit Leben erfüllt. Zu diesen vier Zielen des Gesetzes s. die detaillierte Analyse bei Borgetto/Lafore, Droit de l’aide et de l’action sociales, 6. Aufl. 2006, Rn. 405 ff. Siehe nur Triomphe, RDSS 2005, 371: „Il n’empêche que l’inscription du «droit à la compensation» dans la loi du 11 février 2005 constitue une double révolution: philosophique et politique“. Andere Kommentatoren sind skeptischer, vgl. Everaert-Dumont, La semaine juridique – Social (JCP S) 2006, Nr. 1040. Zu diesem Aspekt eingehend Chabrol, Droit social 2004, 993 (997 f.) und EveraertDumont, JCP S 2006, Nr. 1040, Rn. 6. Diese „allocation forfaitaire compensatrice pour tierce personne“ ermöglichte in der Regel lediglich die Finanzierung einer Pflegeperson während drei bis vier Stunden am Tag. Die restlichen Bedürfnisse wurden üblicherweise durch nicht gesetzlich vorgesehene Fürsorgeleistungen der Départements oder der Régions („collectivités territoriales“) abgedeckt.
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Geldleistungen umfassen und soll sämtliche Mehrkosten, die der Person durch ihre Behinderung entstehen, unabhängig davon abdecken, ob eine häusliche oder stationäre Pflege besteht103. Der Gesetzestext spricht von einer „prestation universelle“, also einem universellen Anspruch. Allerdings wird die Leistung durch eine Ausführungsverordnung104 auf Personen beschränkt, deren Behinderung einen besonderen Schweregrad aufweisen105. Umfang und Art der Ausgleichsleistung bestimmen sich nach einem personalisierten Kompensationsplan („plan personnalisé de compensation“), der von einer interdisziplinären Kommission anhand ministeriell festgelegter Sätze aufgestellt wird106. Das Verfahren orientiert sich dabei an den Regelungen für die durch Gesetz vom 20. Juli 2001 geschaffene „allocation personnalisée d’autonomie“ für pflegebedürftige alte Menschen. Finanzielle Leistungsfähigkeit des behinderten Menschen und seiner Familie ist kein Versagungsgrund für den Kompensationsanspruch, allerdings variieren die dem Kompensationsplan zugrunde liegenden Höchstsätze je nach Liquidität des Betroffenen107. Angesichts der Beschränkung des Kompensationsanspruchs auf besonders schwere Behinderung und der Variation der Höchstsätze je nach Vermögensverhältnissen stellt sich die Frage, ob die Neuerung in das Fürsorgerecht oder in das Sozialversicherungssystem zu integrieren ist108. Obwohl im französischen Sozialhilfegesetzbuch (Code de l’action sociale et des familles) verankert, orientieren sich die Neuregelungen am sozialversicherungsrechtlichen Prinzip der Universalität der Leistung und weisen der das Fürsorgerecht kennzeichnenden Bedürftigkeit nur eine untergeordnete Rolle zu. Das spricht für eine Annäherung an versicherungsrechtliche Regeln („attraction vers l’assurantiel“)109. In Anbetracht des nach Willen des Gesetzgebers umfassenden Anspruchs ist jedoch erstaunlich, dass die durch das Gesetz vom 11. Februar 2005 geschaffenen „maisons départementales des personnes handicapées“ (zentrale Anlaufstellen für behinderte Menschen in jedem Département) nicht nur für die Auszahlung des Kompensationsanspruchs zuständig sind, sondern auch für die Einrichtung eines „fonds départemental de compensation du handicap“, eines Kompensationsfonds auf Département-Ebene. Dieser soll laut Art. L. 146-5 C. act. soc. fam. bedürftigen behinderten Menschen finanzielle Unterstützung gewähren, um die Kosten zu decken, die durch den
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Art. L. 245-1, I C. act. soc. fam. Décret Nr. 2005-1591 vom 19. Dezember 2005, JO v. 20. Dezember 2005, 19598. Art. D. 245-4 C. act. soc. fam. stellt auf eine „difficulté absolue“ bei der Verrichtung mindestens einer im Anhang des Gesetzes aufgeführten Tätigkeit bzw. eine „difficulté grave“ bei der Verrichtung von mindestens zwei dieser Tätigkeiten ab. Dies entspricht etwa einer Erwerbsunfähigkeit von mindestens 80 %. Zu den Einzelheiten der Bearbeitung des Antrags durch die Sozialverwaltung, siehe Borgetto/ Lafore, Droit de l’aide et de l’action sociales, 6. Aufl. 2006, Rn. 444 f. Art. L. 245-6 C. act. soc. fam. Kritisch dazu Everaert-Dumont, JCP S 2006, Nr. 1040, Rn. 13. Allgemein zu dieser Abgrenzung im französischen Recht, siehe Borgetto, Droit social 2003, 115 sowie Borgetto/Lafore, Droit de l’aide et de l’action sociales, 6. Aufl. 2006, Rn. 85 ff. So jedenfalls Everaert-Dumont, JCP S 2006, Nr. 1040, Rn. 7 f.
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(eigentlich umfassend verstandenen) Kompensationsanspruch nicht erfasst werden110. Die sozialversicherungsrechtliche Versorgung durch die neu geschaffene Nationale Solidaritätskasse für Autonomie (CNSA) bezieht ihr Budget nicht allein aus Umlagen der staatlichen Krankenversicherung, sondern auch aus allgemeinen Steuergeldern. Die Zuwendung von jährlich zwei Milliarden Euro, die durch die Einführung eines zusätzlichen Arbeitstags, dem „Tag der Solidarität“ (journée de solidarité), erwirtschaftet werden111, unterstreicht die Absicht, die Versorgung von Menschen mit Behinderung zukünftig stärker auf die Schultern der Allgemeinheit zu verteilen. b) Die Rechtslage nach dem Gesetz vom 19. Dezember 2007 Der Kompensationsanspruch war zunächst nur Menschen mit Behinderung zwischen 20 und 60 Jahren vorbehalten (Art. L. 245-1, I Abs. 1 C. act. soc. fam.). Für aktuell behindert geborene Kinder sowie ältere Menschen galt – auch nach dem Gesetz vom 11. Februar 2005 – das bisherige Sozialrecht fort, welches von den Richtern in Straßburg in den Urteilssprüchen vom 8. Oktober 2005 als unzureichend qualifiziert wurde112. Die Ankündigung des Gesetzgebers, die Ausgleichsleistung binnen drei Jahren auf behinderte Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren auszuweiten113, wurde mit Gesetz vom 19. Dezember 2007 umgesetzt. Seit dem 1. April 2008 können Eltern für ihre behinderten Kinder die „prestation de compensation“ beantragen und nunmehr zwischen dem personalisierten Kompensationsanspruch des Kindes und der bisherigen Beihilfe zur Erziehung des behinderten Kindes („allocation d’éducation de l’enfant handicapé“ [AEEH])114 wählen. Der feste Sockelbetrag der AEEH (ungefähr 120 Euro pro Monat) ist zwar mit der „prestation de compensation“ kumulierbar, nicht aber die je nach Schwere der Behinderung variierende, deutlich höhere Ergänzungsbeihilfe („complément d’AEEH“)115. Durch das Wahlrecht soll gewährleistet werden, dass infolge der Ausweitung des Kompensationsanspruchs auf Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren niemand schlechter gestellt 110
Art. L. 146-5 C. act. soc. fam.: „Chaque maison départementale des personnes handicapées gère un fonds départemental de compensation du handicap chargé d’accorder des aides financières destinées à permettre aux personnes handicapées de faire face aux frais de compensation restant à leur charge, après déduction de la prestation de compensation“. 111 Gemäß Art. 2 der Loi n° 2004-626 du 30 juin 2004 relative à la solidarité pour l'autonomie des personnes âgées et des personnes handicapées verfügt nunmehr Art. L. 212-6 des Code du travail die unbezahlte Werktätigkeit an einem zusätzlichen Arbeitstag. Wenn nicht anders im Tarifvertrag geregelt, fällt dieser Tag auf den Pfingstmontag. 112 Siehe oben II. 3. b). 113 Art. 13 des Gesetzes vom 11. Februar 2005: „Dans les trois ans à compter de l’entrée en vigueur de la [loi du 11 février 2005], la prestation de compensation sera étendue aux enfants handicapés“ ; kritisch Bacache, Gaz. Pal. 2006, 2046 (2050). 114 Ausführlich zur „allocation d’éducation de l’enfant handicapé“, s. Morvan, Droit de la protection sociale, 3. Aufl. 2007, Rn. 380 f. m.w.N. 115 Zu den genauen Modalitäten des Wahlrechts, siehe Art. L. 245-1, III C. act. soc. fam. in der seit dem 1. April 2008 gültigen Neufassung.
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ist als zuvor. Der Berichterstatter H. Féron führte dazu im Gesetzgebungsverfahren aus, dass es zumindest für behinderte Menschen, deren Pflege nicht ausschließlich durch die Eltern, sondern durch eine dritte Person gewährleistet wird, regelmäßig günstiger sein werde, die „prestation de compensation“ zu beziehen116. Die Neuregelungen vom 19. Dezember 2007 und insbesondere die Modalitäten der Kumulierung von AEEH und „prestation de compensation“ sind derweil durch Ausführungsverordnungen („décrets d’application“) ergänzt worden117.
III. Bewertung der Rechtsentwicklung in Frankreich Die Rechtsentwicklung in Frankreich zeigt mehrere neue Ansätze, das komplexe Problem der Schäden im Zusammenhang mit fehlerhafter Pränataldiagnostik und unterbliebenem Schwangerschaftsabbruch zu bewältigen. Die Cour de cassation hatte die Verbesserung der finanziellen und materiellen Versorgung behindert geborener Menschen im Blick und versuchte dies über das allgemeine Haftungsrecht zu erreichen. Letztlich gab sie damit den Anstoß zu einer Verbesserung der Lage aller behinderten Menschen. Diese Rechtsprechung führte aber auch dazu, dass Schäden im Zuge der Geburt eines behinderten Kindes nunmehr nach sozialrechtlichen Regelungen ersetzt werden. Einzig der Anspruch der Eltern auf Ersatz ihres immateriellen Schadens verbleibt beim Haftungsrecht. Warum Schadensersatzansprüche gegen den Arzt nahezu komplett abgeschnitten wurden und warum man sich für eine Kompensation durch Leistungen der Solidargemeinschaft entschieden hat, lässt sich nicht allein durch die Gesetzgebungshistorie118 erklären. Der Übergang zur allgemeinen Fürsorge gegenüber Menschen mit Behinderung scheint Ausdruck des Strebens, von einer als lebensfeindlich wahrgenommenen Rechtsprechung abzurücken, die sich der im französischen Recht besonders formbaren Rechtsbegriffe des Schadens und der Kausalität bedient hatte. Dass dabei der Einfluss der Gesellschaft auf die Rechtsentwicklung bedeutender war als die zum Teil heftigen Reaktionen aus juristischen Fachkreisen, verstärkt den Eindruck, dass es sich bei der Verdrängung des Deliktsrechts um eine rechtspolitische Entscheidung handelt119, die vor allem den vorgetragenen ethischen Bedenken Rechnung trägt.
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Féron, in: Rapport sur le projet de loi de financement de la sécurité sociale pour 2008 (Drucksache Nr. 295 der Assemblée nationale, abrufbar unter http://www.assembleenationale.fr/13/pdf/rapports/r0295-tIII.pdf), Bd. III, S. 61; skeptisch Martin, Gaz. Pal. 2008, 7. Juni 2008, 45. Décrets Nr. 2008-450 und 2008-451 v. 7. Mai 2008, JO v. 11. Mai 2008, 7832 sowie Décrets Nr. 2008-530 und 2008-531 v. 4. Juni 2008, JO v. 6. Juni 2008, 9332. S. oben II. 3. Strukturelle Schwächen des Haftungsrechts, komplexe Schadensfälle einer juristisch und politisch akzeptablen Lösung zuzuführen, benennen Guégan-Lécuyer, Dommages de masse et responsabilité civile, 2006 und Lacroix, La réparation des dommages en cas de catastrophes, 2007 sowie allgemein Viney, Introduction à la responsabilité, 3. Aufl. 2008, Rn. 57 ff.
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Mit dem Gesetz vom 11. Februar 2005, welches behinderten Menschen einen umfassenden Kompensationsanspruch einräumt, hat sich der französische Gesetzgeber auch gegen die Einrichtung eines Entschädigungsfonds entschieden. Dies obwohl Fondslösungen u.a. im Nachfeld des Skandals um HIV-verseuchte Blutkonserven oder zugunsten der Opfer von Asbestschäden geschaffen120 und auch im vorliegenden Kontext diskutiert wurden121. Der französische Gesetzgeber zog die Einrichtung eines Entschädigungsfonds wohl deshalb nicht in Betracht, da in der parlamentarischen Debatte von Anfang an eine umfassende Lösung des Problems der Versorgung von Menschen mit Behinderung angestrebt wurde. Das Parlament orientierte sich hier an den Empfehlungen des Nationalen Ethikrates122. Mit den Gesetzen vom 11. Februar 2005 und vom 19. Dezember 2007 verbesserte es die Versorgungslage aller behinderter Menschen und nicht nur jener, deren Nachteile vormals durch die Perruche- oder Quarez-Rechtsprechung ausgeglichen wurden. Man entschied sich bewusst gegen eine Sonderlösung der Geburtsschadensfälle. Zwar wurden nach neuem Recht die „fonds départementaux de compensation du handicap“ eingerichtet, welche für die Mehrkosten aufkommen, die durch den Ausgleichsanspruch nicht abgedeckt werden, jedoch kommt diesen Hilfsfonds nur eine untergeordnete Rolle zu123. Ob sich die neue Lösung über den sozialrechtlichen Ausgleichsanspruch bewährt, wird die Zukunft zeigen. Es scheint, als sei die „Kind als Schaden“Problematik nach jahrelangem Ringen nun einer allgemein akzeptierten Lösung zugeführt. Angesichts des auch in Frankreich knappen Sozialhaushalts124 ist allerdings eine gewisse Skepsis angezeigt, ob die seit 1. April 2008 auf Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren ausgedehnte „prestation de compensation“ wirklich umfassend ist. Die Deckelung des Anspruchs durch einkommensabhängige Höchstsätze, die Beschränkung auf besonders schwere Behinderungen sowie die Existenz der subsidiär eingreifenden „fonds départementaux de compensation du handicap“125 deuten an, dass das haftungsrechtliche Prinzip der Totalreparation die Verlagerung in das Sozialversicherungsrecht wohl nicht unbeschadet überstanden 120 121
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Hierzu Brun, Responsabilité civile extracontractuelle, 2005, Rn. 1024 ff. Siehe z.B. Blanc, Rapport d’information sur la politique de compensation du handicap (Drucksache Nr. 369 des Sénat, abrufbar unter http://www.senat.fr/rap/r01-369/r013691.pdf), 2002, S. 183. Der Nationale Ethikrat wies in seiner Stellungnahme Nr. 68 vom 29. Mai 2001 „Handicaps congénitaux et préjudice“, S. 7, abrufbar unter http://www.ccne-ethique.fr. (siehe III. 3.) darauf hin, dass die Pflicht zur Solidarität („devoir de solidarité“) gegenüber behinderten Menschen unabhängig von der Ursache der Behinderung bestehe und dass eine Privilegierung der Fallkonstellationen, in denen die Behinderung auf einen ärztlichen Fehler zurückzuführen ist, zu inakzeptablen Diskriminierungen führe („Privilégier les situations où le handicap pourrait être attribué à une faute médicale et relever d’une responsabilité individuelle introduirait d’inacceptables discriminations entre les personnes handicapées“). Siehe oben II. 4. a). Die französische Sozialversicherung wies allein für das Jahr 2007 ein Defizit von etwa 10,5 Milliarden Euro auf. Vgl. Commission des comptes de la sécurité sociale (Hrsg.), Rapport „Les comptes de la sécurité sociale“, 2007, S. 10. Zu den verschiedenen Elementen siehe oben II. 4. a).
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hat und der französische Gesetzgeber auch durch die Gesetze vom 11. Februar 2005 und 19. Dezember 2007 kein vollwertiges Pendant für die Ersatzansprüche geschaffen hat, die dem Kind im Rahmen der Perruche-Rechtsprechung sowie den Eltern durch die Quarez-Judikatur zugesprochen wurden.
IV. Perspektiven im deutschen Recht Der Blick auf die Rechtsentwicklung in Frankreich regt dazu an, auch im deutschen Recht neue Wege zu beschreiten, um die bis heute nicht befriedigend gelöste Problematik des Ersatzes angeborener Schäden endlich angemessen zu bewältigen. Dabei verdeutlicht der arrêt Perruche die Schwierigkeiten, die Gerichte angesichts der Fortentwicklungen der modernen Medizin mit den überlieferten Regeln des privaten Haftungsrechts haben. Indem er bewusst und grundsätzlich von den bisher vorliegenden Entscheidungen der Obergerichte anderer Staaten126 einschließlich des BGH abweicht, hat er die Diskussion über die Sicherung der Existenzgrundlagen der betroffenen Kinder auch hierzulande wieder eröffnet127.
1. Schadensersatz für „wrongful life“? a) Der Standpunkt der Rechtsprechung Die Frage, ob neben den Eltern wegen „wrongful birth“ das Kind selbst Ansprüche gegen den Arzt wegen „wrongful life“ hat, lag dem BGH erst ein einziges Mal zur Entscheidung vor. Sie wurde vom VI. Zivilsenat mit solcher Entschiedenheit verneint128, dass keine weiteren Fälle an das Gericht herangetragen wurden. Die Richter begründen ihren Standpunkt damit, dass zum einen dem Beratungsvertrag zwischen Arzt und Patient die erforderliche Schutzwirkung für Dritte (nämlich für das ungeborene Kind) nicht zu entnehmen sei; denn das geltende Recht gewähre der Mutter die rechtfertigende Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch ausdrücklich nur in ihrem eigenen Interesse. Vor allem aber sei in diesem Bereich eine rechtliche Regelung der Verantwortung für weitgehend schicksalhafte und natur126
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Koziol/Steininger, European Tort Law 2006, S. 70 ff. u. 74 ff. (Österreich), 122 (Belgien), 355 f. (Niederlande), 384 ff. (Polen) und 441 ff. (Spanien); Überblick von Koch, in: Koziol/Steininger, European Tort Law 2002, S. 523 ff.; Stürner, JZ 1998, 317 (321 ff.); v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. I, 1996, S. 576 ff.; Picker, AcP 195 (1995), 483 ff.; ders., Schadensersatz für das unerwünschte eigene Leben – „Wrongful life“, 1995, S. 1 ff.; Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, 1993, S. 270 ff. Vgl. Sonnenberger, FamRZ 2001, 1414; Winter, JZ 2002, 330; Spickhoff, NJW 2002, 1758 (1764); Deutsch, NJW 2003, 26 (27); Stürner, JZ 2003, 155; SchimmelpfengSchütte, MedR 2003, 401; Rebhahn, ZEuP 2004, 794; Arnold, VersR 2004, 309; Mörsdorf-Schulte, NJW 2006, 3105 (3108); Spickhoff, VersR 2006, 1569 (1570 f.); Brüggemeier, Haftungsrecht, 2006, S. 258 f. – Der Argumentation der Cour de cassation ist fünf Jahre später das oberste Gericht der Niederlande gefolgt, vgl. Hohe Raad, 18.3.2005, RvdW 2005/42; dazu Koziol/Steininger, European Tort Law 2005, S. 421 ff. BGHZ 86, 240 (250 ff.).
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bedingte Verläufe nicht mehr sinnvoll und tragbar, weil der Mensch grundsätzlich sein Leben so hinzunehmen habe, wie es von Natur gestaltet sei, und ihm kein Anspruch auf seine Verhütung oder Vernichtung zustehe129. b) Argumente für einen eigenen Schadensersatzanspruch des Kindes Die bedenkliche Folge dieser Ansicht, dass behinderten Kindern nach dem Ableben der Eltern nichts mehr zugute kommt, ihr Elend sich also gerade dann noch verschärft, wenn sie einer Versorgung wegen des Wegfalls der Unterhaltspflichtigen am meisten bedürfen, führt dazu, dass sich auch im deutschen Schrifttum die Stimmen mehren, die eine „wrongful life“-Klage bejahen wollen130. So heißt es etwa in der letzten Auflage eines führenden Werkes zum Schadensrecht131, es sei „noch einmal nachzufragen, ob nicht doch eine Zurechnung des Behindertenzustandes des Kindes selbst denkbar ist“132. Gewiss lasse sich für die konkrete Existenz des behinderten Menschen dessen „Schaden“ nicht wegdenken, ohne dass sein Leben und somit seine Möglichkeit, überhaupt Ansprüche zu haben, entfiele. Dies sei aber „eine reine Kausalbetrachtung, die der Zurechnungsfrage als einer vom Gleichbehandlungsgebot bestimmten Bewertung der beteiligten Interessen nicht gerecht wird“. Die hier zu erörternde Problematik sei von derjenigen vorgeburtlicher und vor allem noch vor oder in der Zeugung liegender Schädigungen nicht so weit entfernt, dass deshalb eine grundlegend andere Bewertung angebracht wäre133. Das für die Entscheidung ausschlaggebende Interesse des Kindes sei freilich ein „lebenskonträres“134: Grundlage seines Anspruchs sei die Abwägung, dass es sich – wenn ihm die Entscheidung möglich wäre – eher gegen sein Leben überhaupt entscheiden würde. Da es aber lebt, könne und dürfe die Rechts129
S. auch Franzki, VersR 1990, 1181 (1184); G. Müller, NJW 2003, 697 (699): Das ist der tragende Gedanke, der auch etwaige Ansprüche des Kindes gegen seine Eltern ausschließt, wie sie gelegentlich erwogen werden. 130 Früh bereits Deutsch, VersR 1995, 609 (614); außer den in den nachfolgenden Fußnoten Genannten noch etwa Spickhoff, VersR 2006, 1569 (1570 f.), auf der Grundlage des Arztvertrages; MünchKomm-Wagner, BGB, Ergänzungsband, 2. Lfg. 2005, § 823, Rn. 90, auf der Grundlage von § 823 Abs. 1 BGB; für einen Anspruch auf Schmerzensgeld C. Junker, Pflichtverletzung, Kindesexistenz und Schadensersatz, 2002, S. 597 ff. 131 Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl. 2003, § 6 IX 7., S. 336 f., anders noch in der 2. Auflage 1990. 132 Mit Hinweis auf zwei frühe Entscheidungen kalifornischer Gerichte Curlender v. BioScience-Laboratories 165 Cal. Rptr. 477 (App. 1980) und Turpin v. Sortini 643 P. 2d 954 (Cal. 1982), angeführt von Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, 1993, S. 283 ff. (dort S. 280 ff. auch zu entgegengesetzten anglo-amerikanischen Entscheidungen). Ausführlich zur U.S.-amerikanischen Rechtslage C. Junker, Pflichtverletzung, Kindesexistenz und Schadensersatz, 2002, S. 45 ff. 133 Zur vorgeburtlichen Schädigung BGHZ 8, 243; 58, 48; 106, 153; s. auch Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, 1993, S. 284 ff. Gegen die Anknüpfung hieran aber Picker, Schadensersatz für das unerwünschte eigene Leben – „Wrongful life“, 1995, S. 20 f. mit Fn. 51. 134 Dazu genauer Picker, Schadensersatz für das unerwünschte eigene Leben – „Wrongful life“, 1995, S. 106 ff.
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ordnung diese Entscheidung nicht mehr von ihm verlangen. Gerade deshalb müsse sie als ein Gebot der Humanität anerkennen, dass die konkrete Form seiner Existenz einem Dritten zuzurechnen sei135. Im Verhältnis zwischen dem Kind und seinen leiblichen Eltern möge man dies aus familienrechtlichen Gründen anders sehen. Gegenüber dem verantwortlichen Dritten, insbesondere dem Arzt, stehe dem Kind ein Anspruch auf Ersatz des behinderungsbedingten Mehrbedarfs zu136. Erwin Deutsch und Andreas Spickhoff postulieren eine „allgemeine deliktische Rechtspflicht des beruflich Tätigen gegenüber dem Ungeborenen, dessen Eltern die Entscheidung zu ermöglichen, dass er nicht ein behindertes Leben führt“, wobei als Schutzgut „das potentielle Persönlichkeitsrecht des Nasciturus“ in Betracht kommen soll137. Die Entscheidung der Mutter für den Schwangerschaftsabbruch beende zwar sein Leben, bewahre ihn jedoch „vor Behinderungen, die jedenfalls belastend sind“. Diese Haftung entspreche auch der Idee der Berufshaftung, nämlich Einstehen für Nichterreichen des Standards des Berufskreises durch Übernahme der typischen Folgen. Es dürfe nicht übersehen werden, dass auf der einen Seite ein Fehler vorliegt, auf der anderen Seite ein daraus hervorgegangener erheblicher Mehrbedarf. Beides soll unter dem Aspekt gerechter Schadenstragung dazu führen, dass das Kind selbst gegen den Arzt vorgehen kann. Der Nasciturus sei zumindest auch in den Schutzbereich des zwischen dem Arzt und der Mutter geschlossenen Vertrages einbezogen138. Wiederholt betont das Schrifttum den Respekt vor der Person des Kindes. Vom BGH als Argument gegen eine Qualifizierung behinderten Lebens als „Schadensfall“ verwendet, bedeutet dieser Gesichtspunkt der Cour de cassation im arrêt Perruche den tieferen Grund für die Gewähr einer Entschädigung. Im Vorfeld der Entscheidung stellte der Referent P. Sargos139 die Frage: „Wo ist der wirkliche Respekt vor der menschlichen Person und dem Leben: in dem abstrakten Zurückweisen jeder Entschädigung oder im Gegenteil in ihrer Anerkennung, die es dem Kind wenigstens materiell erlauben wird, unter der menschlichen Würde eher entsprechenden Bedingungen zu leben, ohne den Zufällen familiärer, privater oder öffentlicher Hilfen ausgesetzt zu sein?“140 Der Schadensersatzanspruch 135
So auch wenigstens als denkbare Alternative Picker, Schadensersatz für das unerwünschte eigene Leben – „Wrongful life“, 1995, S. 116 f. 136 Ebenso Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, 1993, S. 284 ff.; Brüggemeier, Haftungsrecht, 2006, S. 258 f.; Soergel-Mertens, BGB, 12. Aufl. 1990, vor § 249, Rn. 47; Erman-Schiemann, BGB, 12. Aufl. 2008, § 823, Rn. 22. 137 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 446; s. auch bereits Deutsch, VersR 1995, 609 (614), der dabei auch auf „den Aspekt der rechtsverfolgenden Funktion des Haftungs- und Schadensrechts“ hinweist; dagegen etwa Backhaus, MedR 1996, 201 (205): „sehr kühn“. 138 Deutsch, NJW 2003, 26 (27); ders., VersR 1995, 609 (614); Spickhoff, VersR 2006, 1569 (1570 f.); Soergel-Spickhoff, 13. Aufl. 2005, § 823 Anh I, Rn. 176 ff. (192 ff.); Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 446; dafür auch Staudinger-Hager, BGB, 13. Bearb. 1999, § 823, Rn. B 51. 139 Zu dessen Bericht, siehe oben unter II. 2. a). 140 Sargos, JCP G 2000, II, Nr. 10438: „Où est le véritable respect de la personne humaine et de la vie : dans le refus abstrait de toute indemnisation, ou au contraire dans son admission qui permettra à l’enfant de vivre, au moins matériellement, dans des conditions
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wird so zum Ausdruck altruistischer Humanität. Vertreter des Standpunktes, das Kind als unmittelbar Betroffener der ärztlichen Sorgfaltswidrigkeit dürfe nicht rechtlos gestellt werden, nehmen ihrerseits ein moralisch hoch stehendes Prinzip für sich in Anspruch141. c) Hindernisse Nicht wirklich abschließend beurteilen lässt sich, ob den divergierenden Entscheidungen des BGH und der Cour de cassation einfach nur unterschiedliche policy considerations zugrunde liegen oder ob sich hier ein weiteres Mal der Umstand auswirkt, dass man es in Deutschland mit einem mehr analytischen und in Frankreich mit einem offenen Haftungskonzept zu tun hat142. Der in mehrfachem Sinne undogmatische Ansatz der Cour de cassation ist erkennbar von dem Bemühen geprägt, den praktischen Bedürfnissen des Lebens näher zu kommen143. Dabei erweist sich die Berufung auf das verfassungsmäßige Prinzip effektiven Schutzes menschlichen Lebens zur Begründung privater Schadensersatzansprüche durchaus als zweifelhaft und insbesondere mit Blick auf die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung als problematisch. Der BGH hat einen offenen Bruch mit dem geltenden Haftungsrecht nicht gewagt, sondern war stets darauf bedacht, die Grundkonzeption des zivilen Schadensersatzrechts zu wahren144. Ein eigener Schadensersatzanspruch des Kindes setzt einen eigens erlittenen Schaden voraus. Ein solcher kann nicht in der – isoliert betrachteten – Behinderung (oder den Nachteilen aus der Behinderung) gesehen werden, sondern lässt sich nur anhand der Differenzhypothese ermitteln145. Die Frage, ob ein nachteiliger Zustand hervorgerufen worden ist, erfordert einen Vergleich des jetzigen Zustandes mit dem, der ohne schädigendes Ereignis bestehen plus conformes à la dignité humaine sans être abandonné aux aléas d’aides familiales, privées ou publiques?“; ihm ausdrücklich folgend Jourdain, Anm. in D. 2001, 336 (338). 141 Vgl. Winter, JZ 2002, 330 (336). 142 Hierzu eingehend v. Bar, Das deutsche Deliktsrecht in gemeineuropäischer Perspektive, 1999; speziell zur Haftung für neues Leben Winter, „Bébé préjudice“ und „Kind als Schaden“, 2002. 143 Vgl. bereits v. Bar, ZEuP 2001, 121 (124), Anm. zu zwei Urteilen der Cour de cassation v. 26.3.1996; Hinweis auch von Stürner, JZ 1998, 317 (323), dass in Frankreich (und einigen US-Staaten) beim eigenen Anspruch des Kindes „pragmatisches Denken rechtsphilosophische und dogmatische Skrupel überwiegt“. 144 Sonnenberger, FamRZ 2001, 1414 (1416) weist darauf hin, dass Art. 1382 C. civ. die Begründung eigener Ansprüche des Kindes erleichtere, da er im Unterschied zu § 823 Abs. 1 BGB nicht das Vorliegen einer Körper- oder Gesundheitsverletzung verlangt, vielmehr ausreichen lässt, dass eine Pflichtwidrigkeit ursächlich für irgendwelche materiellen oder immateriellen Nachteile ist (s. bereits unter II. 2. b) (1)). Indes bereitet die Feststellung eines vom behandelnden Arzt verursachten Schadens in beiden Rechtsordnungen die gleichen Probleme. 145 Grdl. Mommsen, Lehre vom Interesse, 1855; zum Schadensbegriff Deutsch, Allg. Haftungsrecht, 2. Aufl. 1996, Rn. 781 ff.; Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl. 2003, § 1, S. 26 ff., zur Differenzhypothese s. dort § 1 III. 4., S. 43 f. sowie Deutsch, a.a.O., Rn. 867 f.
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würde. In den hier zu beurteilenden Fällen bot sich die Alternative eines Lebens ohne Behinderung zu keinem Zeitpunkt, bei einer korrekten Durchführung der medizinischen Maßnahme wäre das Kind nicht zur Welt gekommen. Die Nichtexistenz als Folge sorgfältigen ärztlichen Tuns wird jedoch allgemein nicht als taugliche oder auch nur zulässige Vergleichsbasis angesehen. Der begrenzten menschlichen Erkenntnisfähigkeit entzieht sich ein Urteil darüber, ob ein Leben mit schweren Behinderungen gegenüber dem Nichtleben ein Nachteil ist oder nicht eine immer noch günstigere Lage146. An dem Ergebnis, dass dem Kind kein eigener Schadensersatzanspruch gegen den behandelnden Arzt zusteht, ändert sich selbst im Falle grober Fahrlässigkeit des Berufstätigen nichts, denn das auf Ausgleich angelegte Haftungsrecht ist verletzungs- und nicht verhaltensorientiert147. Mitleid mit dem Kind und Empörung über die Nachlässigkeit des Arztes machen zwar Hilfebemühungen verständlich, sind jedoch angesichts der „kühlen Rationalität des Haftungs- und Schadensrechts“ nicht maßgebend. Das Haftungsrecht verschafft dem Kind keinen Anspruch gegen den Arzt und der Rechtsanwender sollte der Versuchung widerstehen, durch dessen Überdehnung nach einer Versorgung und Absicherung des behindert geborenen Kindes zu streben148.
2. Versicherungsrechtliche Vorsorge In Frankreich schließt das Gesetz vom 4. März 2002 nicht nur Ansprüche des auf Grund genetischer Fehldisposition behindert geborenen Kindes gegen den Arzt explizit aus und verkürzt außerdem die Ansprüche der Eltern149, sondern es rückt einen Gedanken in den Mittelpunkt, der in der öffentlichen Diskussion hierzulande bislang zu kurz kam: die Verantwortung der Allgemeinheit. Das Gesetz bestimmt, dass der Ersatz des durch die Behinderung des Kindes anfallenden Unterhaltsmehraufwands Sache der „solidarité nationale“ sei. Zu dieser Klarstellung sah sich der Gesetzgeber angesichts einer für unzureichend erachteten fürsorge- und sozialversicherungsrechtlichen Lage veranlasst, und eben darin liegt die wichtigste Anregung für unsere Diskussion. Seit Inkrafttreten des Gesetzes vom 11. Februar 2005 und der Ausweitung des Ausgleichsanspruchs auf Kinder und Jugendliche unter zwanzig Jahre durch den Legislativakt vom 19. Dezember 2007 wird der Versorgungsbedarf behindert
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BGHZ 86, 240 (253); Winter, JZ 2002, 330 (333) m.w.N. und einer Auseinandersetzung mit Merkel, in: Neumann/Schulz, Verantwortung in Recht und Moral, 2000, S. 173 ff., der darauf hinweist, dass ein Zustand denkbar ist, jenseits dessen Grenzen menschliches Leben als definitiv unerträglich und für seinen Träger unzumutbar ist. Winter, JZ 2002, 330 (336). Zum Erfordernis einer „faute caractérisée“ im arrêt Perruche vgl. unter II. 3. a). Treffend Winter, JZ 2002, 330 (331 ff.); s. auch Stürner, JZ 1998, 318 (325); Bernat, in: Festschrift für Krejci, 2001, S. 1041 (1057); Coester-Waltjen, Reproduktionsmedizin 2002, S. 183 (188 f.); G. Müller, NJW 2003, 697 (706). Vgl. unter II. 3. a).
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geborener Kinder durch sozialrechtliche Fürsorgeleistungen abgedeckt150. Mit dieser Neuregelung beabsichtigt der französische Gesetzgeber gerade auch, die Öffentlichkeit für die Belange behinderter Menschen zu sensibilisieren und durch die Einführung eines zusätzlichen Arbeitstags (journée de solidarité), der neben Umlagen der staatlichen Krankenversicherung und allgemeiner Steuergelder zur Finanzierung der Leistungen beiträgt151, in die Pflicht zu nehmen. Dabei sind die Fürsorgeleistungen nicht auf Fälle fehlerhaft durchgeführter Pränataldiagnostik oder fehlgeschlagener Schwangerschaftsabbrüche beschränkt, die Neuregelung versteht sich vielmehr als umfassende Reform zugunsten hilfsbedürftiger Menschen ohne Rücksicht auf Art und Hintergrund der Behinderung152. Art. L. 114-5 Abs. 3 C. act. soc. fam. verweist bzgl. des Ersatzes des Mehraufwands für Pflege und Erziehung des infolge einer ärztlichen Pflichtverletzung behindert geborenen Kindes auf die „Zuständigkeit der nationalen Solidarität“. Seinerzeit als „leere Verheißung“ kritisiert, nimmt der Begriff der „solidarité nationale“ für die Fälle von „wrongful life“ durch die Einführung des Ausgleichsanspruchs („prestation de compensation“) nun konkrete Gestalt an. Wenn auch zögerlich, so beginnt sich doch auch hierzulande das Bewusstsein zu entwickeln, dass die Gesellschaft die Eltern behinderter Kinder nicht alleine lassen darf, sondern in wesentlich stärkerem Maße als bisher die Verantwortung für ihre schwachen Mitglieder übernehmen und deren Existenz in angemessener Weise sicherstellen muss153. Vorsorge für den behindert geborenen Menschen lässt sich sachgerecht nur im (Sozial-) Versicherungsrecht ansiedeln, welches Leistungen an der Bedürftigkeit ausrichtet und nicht von dem Verhinderungswillen und damit Schaden der Eltern abhängig macht154. a) Bestehende Vorsorgeregelungen Derzeit ist der krank geborene, behinderte Mensch über die gesetzliche Krankenund Pflegeversicherung abgesichert155. Vor einigen Jahren wurde für Kinder, die als behinderte Menschen i.S.v. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX außer Stande sind, sich selbst zu unterhalten, ein eigener Anspruch auf Pflege und ärztliche Betreuung begründet, und zwar durch die öffentliche Leistungspflicht der Familienversiche150 151 152 153
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S. unter II. 4. Vgl. unter II. 4. a). Zu den Einschränkungen siehe allerdings oben unter II. 4. a). Vgl. den Schlussbericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ v. 14.5.2002 in BT-Dr. 14/9020, S. 82 mit Kritik an einem „lebensfeindlich wirkenden Haftungsrecht“; s. auch C. Wagner, NJW 2002, 3379 (3381); G. Müller, NJW 2003, 697 (706); Mörsdorf-Schulte, NJW 2006, 3105 (3108) und bereits BGHZ 86, 240 (255). Stürner, JZ 1998, 317 (325), mit Kritik an der haftungsrechtlichen Lösung, welche vor allem behinderte und kranke Menschen aus dem „finanziellen Surrogat des Verhinderungsanspruchs“ der Eltern gegen den Arzt versorge und damit das falsche Signal setze. Vgl. §§ 4 Abs. 2, 21 SGB I, 10, 27 ff. SGB V; §§ 21a SGB I, 1, 20, 25 Abs. 2 Nr. 4 SGB XI. Entsprechende Regelungen sind im Privatversicherungsrecht vorgesehen, vgl. § 192 VVG und § 4 AVB für Krankheitskosten- und Pflegekrankenversicherung. Die Sozialhilfe gewährt komplementäre Leistungen.
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rung – einem Kernstück des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung156 – nach § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V. Die Leistungspflicht besteht gegenüber dem Kind selbst157. Damit ist in gewissem Umfang eine Verpflichtung der Solidargemeinschaft begründet worden, für ein behindertes Kind aufzukommen. Allerdings knüpft die Versicherung des Familienangehörigen hinsichtlich Beginn und Ende an die Mitgliedschaft des Stammversicherten158 und deckt auch nur bestimmte Ansprüche ab. b) Einrichtung eines „pränatalen Hilfsfonds“ Zur Schließung verbleibender Versorgungslücken und zur Abmilderung der „Kind als Schaden“-Problematik ist ein originärer sozialversicherungsrechtlicher Anspruch des Kindes159 oder die Einrichtung eines speziellen Entschädigungsfonds in Betracht zu ziehen160. Dadurch ließe sich zum einen eine adäquate Versorgung behinderter Menschen auch nach dem Tode ihrer Eltern über den bisherigen sozialrechtlichen Sockelbetrag hinaus erreichen. Zum anderen wäre der Mehraufwand der Eltern auch dann abgedeckt, wenn diese das behinderte Kind von vornherein angenommen haben. Sie bräuchten nicht mehr den Willen zur Lebensverhinderung durch Abtreibung vorzutragen, um finanzielle Unterstützung zu erhalten. Freilich wirft eine Fondslösung neben der (unter vorgenannten Aspekten positiv zu bescheidenden) Legitimationsfrage eine Reihe von Organisations- und Finanzierungsfragen auf. Klärung bedarf zudem die Frage nach dem Verhältnis zum Haftungsrecht. Ein formeller Ausschluss zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche (nach dem Vorbild bisheriger Fondslösungen auf dem Gesundheitssektor161, nunmehr nicht der Ansprüche des unmittelbar Betroffenen, sondern seiner Eltern) 156
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Vgl. KassKomm-Peters, 57. Aufl. 2008, § 10 SGB V, Rn. 2; Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl. 2007, § 8, Rn. 56; Fuchs, in: Preis/Fuchs, Sozialrecht, 2005, § 18 III; Rust, Familienlastenausgleich in der gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, 1990, S. 317 ff. Vgl. BSG, SozR 3-2500, § 10 Nr. 16; BGH, VersR 2002, 192 im Anschluss an OLG Naumburg, VersR 2001, 341. Da dem infolge fehlerhafter ärztlicher Diagnose unerwünscht geborenen behinderten Kind Schadensersatzansprüche gegen den Arzt nicht zustehen, findet auch kein Forderungsübergang gem. § 116 SGB X auf den leistenden Sozialversicherungsträger statt; krit. Spickhoff, NJW 2002, 1758 (1764). Es besteht ein abgeleiteter Versicherungsschutz, vgl. § 19 Abs. 3 SGB V. Während des Bestehens der Stammversicherung ist dieser jedoch rechtlich selbstständig. In einem Satz auch erwogen von Deutsch, NJW 2003, 26 (28): „Ob der Anspruch gegen den schuldhaft handelnden Arzt oder gegen eine öffentlich-rechtliche Versicherungseinrichtung geht, ist vielleicht nicht so wichtig, wenn denn die Höhe der Ansprüche ungefähr gleich ist“. Vgl. auch den Schlussbericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ v. 14. Mai 2002 in BT-Dr. 14/9020, S. 82; dafür Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2003, 401 ff.; Stürner, JZ 2003, 155 (157); auch bereits ders., JZ 1998, 317 (325 f.); abl. Riedel, „Kind als Schaden“, 2003, S. 111 ff. So im Falle der Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“, eingerichtet als Reaktion auf die Contergan-Katastrophe durch Ges. v. 17. Dezember 1971, BGBl. I 2018; Stiftung „humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen“, eingerichtet durch Ges. v. 24. Juli 1995, BGBl. I 972; dazu Deutsch, NJW 1996, 755.
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oder eine Beschränkung (nach dem Vorbild des französischen Rechts162) bedeutete einen empfindlichen Einschnitt in das System des Haftungsrechts und empfiehlt sich schon deshalb nicht. Statt dessen sollte eine Fondslösung darauf zielen, dass die zivilrechtlichen Schadensersatzregeln in der Praxis faktisch weitgehend verdrängt werden, indem Leistungen des Fonds einfacher zu erhalten sind als ein stattgebendes Urteil im streitigen Verfahren gegen den Arzt. Da dieser weiterhin vertraglichen Rückabwicklungsansprüchen der Eltern und dem Anspruch vor allem der Mutter auf billige Entschädigung für die abverlangte Umstellung ausgesetzt ist, halten sich befürchtete Präventionsverluste163 in Grenzen und lassen sich durch verstärkte Maßnahmen der Qualitätssicherung sowie berufsrechtliche Sanktionen kompensieren. Dass die Frage der Haftung für die Geburt ungewollter gesunder Kinder bestehen bleibt (solange man diese nicht mit einbezieht164), spricht nicht gegen den hier unterbreiteten Vorschlag. Eine Fondslösung kann sich darauf beschränken, in den dringendsten Fällen Hilfe zu leisten, ohne dass sie damit gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstieße165. Hinsichtlich der Finanzierung sind unterschiedliche Modelle denkbar. Ein Fonds zur Entschädigung aller behindert geborenen Kinder wäre mit staatlichen Geldern zu speisen166. Wollte man sich darauf beschränken, einen Fonds nur zur Entschädigung der infolge eines ärztlichen Fehlers anlagebedingt behindert geborenen Kinder zu etablieren, ließe dieser sich aus privaten Mitteln der medizinischen Leistungsträger finanzieren167, auch Formen der Mischfinanzierung sind möglich. Einzelfragen der Einrichtung und Ausgestaltung des Fonds (Berechtigung zur Inanspruchnahme, Kriterien der Hilfsbedürftigkeit, Verteilungsschlüssel etc.) müssen der weiteren Diskussion vorbehalten bleiben.
V. Ergebnis Die Judikatur zum „Familienplanungsschaden“, welche sich als das Ergebnis einer pragmatischen, in sich schlüssigen Dogmatik präsentiert, kann den Eltern eines 162 163 164
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Vgl. unter II. 3. a). Dazu Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 249 ff.; ders., VersR 2007, 137 (140 f.). Dafür Stürner, JZ 1998, 317 (325). Eine Minderung der durch Unterhaltszahlungen entstehenden wirtschaftlichen Belastungen der Eltern lässt sich mit Hilfe des Familienleistungsausgleichs (§ 6 SGB I, vormals „Familienlastenausgleich“) erreichen. – Keine Notwendigkeit einer Fondslösung besteht bei Schädigungen der Leibesfrucht durch Fehler des Arztes bei seiner prä- oder perinatalen Tätigkeit. Dafür haftet der Arzt dem Kind nach allgemeinen Grundsätzen, vgl. BGHZ 8, 243; 58, 48; 106, 153. Zur sozialpolitischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Sachs-Osterloh, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 3, Rn. 176. Vgl. auch BVerfGE 42, 263 (297 ff.) (Contergan) zur sozialstaatlich motivierten Entscheidung, die Abwicklung von Schadensfälle aus der privatrechtlichen Ordnung in eine gesetzliche Stiftungslösung zu verlagern. Kritisch aber Riedel, „Kind als Schaden“, 2003, S. 111. Dafür Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2003, 401 (403). Dafür Stürner, JZ 1998, 317 (325).
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ungewollt geborenen Kindes dann nichts gewähren, wenn diese sich des Kindes von Anfang an angenommen haben. Auch kann sie dem Kind gerade dann nicht helfen, wenn es der Versorgung am meisten bedarf: beim Wegfall des Unterhaltsverpflichteten. Zugunsten des vorgeschädigten Kindes selbst lassen sich zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gegen den Arzt nicht begründen. Die gebotene Hilfe und überdies eine Entschärfung der „Kind als Schaden“-Problematik verspricht der Ausbau öffentlicher Leistungen. Ausgleichsansprüche blieben vom Gedanken fortdauernder Kompensation eines Anspruchs auf Verhinderung menschlichen Lebens frei. Sie wären stattdessen geprägt vom Gedanken der Vorsorge für den Fall planwidriger Geburt, wie er humaner Rechtskultur besser entspricht.168
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Stürner, JZ 1998, 317 (326). Ob ein Fortpflanzungsmedizingesetz, wie es der Nationale Ethikrat in seiner Sitzung vom 23. Januar 2003 für erforderlich hielt, über die Fragen der Reproduktionsmedizin hinaus auch die ärztliche Haftung regelte (dafür bereits Laufs, NJW 1998, 796 (798)), bleibt weiter ungewiss; vgl. auch G. Müller, NJW 2003, 697. Zu dem Gesetzesvorhaben i.ü. Laufs, Auf dem Weg zu einem Fortpflanzungsmedizingesetz?, 2003.
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I. Medizinrecht: Eine (etwas personalisierte) Genealogie eines Rechtsgebietes Das juristische Universalgenie gibt es nicht und hat es vermutlich auch nie gegeben. Aber könnte man nicht zumindest von Rechtswissenschaftlern erwarten, dass sie alle Rechtsgebiete wenigstens dem Namen nach kennen? Vielleicht war das noch so, als sich zu Beginn der Neuzeit die das kontinentaleuropäische Rechtsdenken bis heute prägende Unterteilung der Rechtsordnung in das Bürgerliche und das Öffentliche Recht durchzusetzen begann. Diese Unterscheidung ist allerdings historisch, aber, wie andere Rechtskreise belegen,1 nicht apriorisch.2 Allenfalls steht sie für unterschiedliche Funktionsbedingungen der auf der Privatautonomie ihrer Mitglieder beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und des mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten Staates. Von Rechtsgebieten zu sprechen, die etwas gegenständlich oder räumlich Abgegrenztes assoziieren, fällt angesichts dieser eher funktionalen Kategorisierung von Bürgerlichem und Öffentlichem Recht schwer. So kommt es nicht von ungefähr, dass sich viele den Titel des Rechtsgebiets beanspruchende Teilmaterien der Rechtsordnung wie das Bau-, das Sport-, das Umwelt-, das Kartell- und das noch näher zu behandelnde Sozialrecht einer klaren Zuordnung entziehen, und sich Generationen von Studierenden mit einer Vielzahl von Abgrenzungstheorien quälen, die dann doch nicht einzuhalten vermögen, was sie versprechen: eine klare Abgrenzung. Was wäre etwa die bürgerliche (!) Ehe, die das Bürgerliche Gesetzbuch mit einem gewissen Recht an die Spitze seines Vierten Buches (Familienrecht) stellt, ohne den staatlichen (!) Beamten? Ohne ihn und die sein Handeln regulierenden öffentlich-rechtlichen Regeln entsteht (§ 1310 Abs. 1 BGB) und endet (§ 1564 BGB) sie ebenso wenig wie der öffentlichrechtliche Vertrag ohne die Normen des bürgerlichen Rechts (§ 61 S. 2 VwVfG). Rechtsgebiete, so muss man daraus wohl schließen, beinhalten regelmäßig öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Bestimmungen und lassen sich daher in vielen Fällen nicht in das binäre System des bürgerlichen oder des öffentlichen Rechts pressen. Überhaupt gibt es kein besonderes Zertifizierungsverfahren dafür, 1 2
Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 177ff. Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2005, Rn. 3.
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dass eine Gruppe von Normen zu einem Rechtsgebiet wird. Das begünstigt natürlich die Tendenz zur Atomisierung der Rechtsordnung. Schon frühzeitig hat sich im Sachenrecht das Bienenrecht als eigenständiges Rechtsgebiet profiliert, ohne indes jemals eine Gerichtsentscheidung produziert zu haben; anders als übrigens das Katzen-, Hunde- und das Pferderecht, die Rechtsanwälte ausweislich einer Internetrecherche als Beratungsschwerpunkte ausweisen. Ein Pflanzenrecht scheint sich ausweislich dieser Quelle indes erst in der Schweiz als selbständige Rechtsmaterie zu entwickeln. Ob diese Rechtsgebiete mit der gleichen Nachhaltigkeit zu schützen sind wie ihre Gegenstände? Manchem Rechtsgebiet droht sicherlich das Schicksal der Eintagsfliege. Es gibt aber prominente Gegenbeispiele. Sie belegen, dass der Aufstieg in den Kanon der anerkannten Rechtsgebiete von der gesellschaftlichen Bedeutung und der inneren Komplexität der sozialen Subsysteme abhängt, die in einem eigenständigen Rechtsgebiet zusammengefasst werden, ferner von einem Minimum an politischer Bereitschaft zu kodifikatorischer Zusammenfassung und nicht zuletzt von der Überzeugungskraft ihrer rechtswissenschaftlichen Protagonisten. Das Medizinrecht ist ein Beleg für diese These und Erwin Deutsch ohne Zweifel einer seiner wissenschaftlichen Väter. Aber auch das Medizinrecht ist nicht das Resultat eines rechtswissenschaftlichen Urknalls, sondern es steht am (naturgemäß nur vorläufigen) Ende eines wissenschaftlichen Prozesses: dem „Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe“3. Die Entwicklung des mittlerweile in Co-Autorenschaft mit seinem Schüler und meinem Regensburger Kollegen Andreas Spickhoff verfassten und seit Anfang 2008 in 6. Auflage vorliegenden Grundlagenwerks „Medizinrecht“ steht paradigmatisch für dieses allmähliche Wachsen eines Rechtsgebietes. Erstmals erscheint 1983 „eine zusammenfassende Darstellung mit Fallbeispielen und Texten“ zum „Arztrecht und Arzneimittelrecht“. Ausweislich des Vorworts sieht der Jubilar in ihnen „zwei wesentliche Aspekte des Gesundheitsrechts“; vom Medizinrecht ist noch nicht die Rede. Das Problem der kategorialen Zuordnung ist aber schon vor über 25 Jahren deutlich: „Das Arzt- und Arzneimittelrecht ist ein neuer Begriff, der die herkömmlichen Unterteilungen in Zivilrecht, öffentliches Recht und Strafrecht überwindet.“4 Im Arztrecht, das er als „Zusammenfassung der Rechtsverhältnisse, die zwischen jedem den Arztberuf privat ausübenden oder im Krankenhaus tätigen Mediziner und dem Patienten sowie der Gesellschaft bestehen“ definiert, habe, so beklagt er, bis vor etwa 20 Jahren „die Kriminalistik“ den Ton angegeben; ihr Hauptproblem sei die Frage gewesen, ob der ärztliche Heileingriff tatbestandsmäßig als Körperverletzung anzusehen sei. Schon 1983 vermerkt er aber, dass nunmehr Straf-, Zivil- und öffentliches Recht „gleichbeteiligt nebeneinander“ stehen und damit der Anschluss an ausländische Rechtsordnungen hergestellt sei.5 Im Arzneimittelrecht sieht er die These bestätigt, dass Rechtsgebiete auf einigermaßen zusammenhängende Normkomplexe angewiesen sind: „Erst die Gesetze, die gegen Ende des letzten Jahrzehnts erlassen wurden, das Arzneimittelgesetz von 1976 und das Heilmittelwerbegesetz von 3 4 5
BVerfGE 47, 327 (367). Deutsch, Arztrecht und Arzneimittelrecht, 1. Aufl. 1983, Rn. 1. Deutsch, Arztrecht und Arzneimittelrecht, 1. Aufl. 1983, Rn. 3.
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1978, geben die Grundlage zu einer umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung.“6 1991 sollte eine 2. Auflage mit dem gleichen Titel folgen, die Arztrecht und Arzneimittelrecht als nach wie vor neue Begriffe bezeichnet, aber die Gegenständlichkeit der Rechtsgebiete deutlicher heraushebt.7 Einen für die Genealogie des Rechtsgebietes bedeutenden Einschnitt bringt erst die 1997 erscheinende 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Denn die Klammer für die bislang behandelten Rechtsgebiete ist gefunden: Das Buch heißt nun und fortan Medizinrecht. Das Arztrecht und das Arzneimittelrecht sind in den Untertitel gerutscht, zu ihnen gesellt sich seither das Medizinprodukterecht, das in einem eigenständigen Abschnitt behandelt wird, auch dies übrigens als Folge einer, europarechtlich veranlassten, Kodifikation im Gesetz über Medizinprodukte (MPG) im Jahre 1994.8 Man kann es als Beleg für das allmähliche Herantasten an das Rechtsgebiet ansehen, dass Deutsch die drei genannten Rechtsgebiete zwar im Vorwort nicht mehr als wesentliche Aspekte des Gesundheitsrechts, sondern des Medizinrechts bezeichnet, auf eine Definition des Medizinrechts aber in dieser und übrigens auch noch in der 1999 erscheinenden 4. Auflage9 meint verzichten zu können. Bescheiden erwähnt er im Vorwort lediglich, er sei mit dem Oberbegriff Medizinrecht nur dem allgemeinen Sprachgebrauch gefolgt. Es sind eben immer noch die Glieder, die das Ganze prägen, und es reicht daher aus, diese zu definieren – staatstheoretisch gewendet ein eher staatenbündischer als bundesstaatlicher Zugang. In der 5. Auflage (2003) tritt dann nicht nur Andreas Spickhoff als Co-Autor, sondern auch das Transfusionsrecht als neue Teilmaterie des Medizinrechts hinzu. Das Medizinrecht wird nun auch im Textteil als Oberbegriff für das Arztrecht, das Arzneimittel-, das Medizinprodukte- und das Transfusionsrecht bezeichnet.10 Es ist sicherlich richtig, dass ein Oberbegriff für sich gesehen noch keine Definition ist, sondern nur eine Zusammenfassung von Unterbegriffen.11 Aber die Definition dessen, was das Medizinrecht ausmacht, ist auch nicht einfach. In der mittlerweile auf über 1000 Seiten angewachsenen 6. Auflage (2008) wagen die Autoren erstmals eine inhaltliche Umschreibung, ohne aber deren Charakter als definitorische Probebohrung zu verschweigen: Danach umfasst „das Medizinrecht, das in den Randbereichen nach wie vor durchaus uneinheitlich definiert wird, die Gesamtheit der Regeln, die sich auf die Ausübung der Heilkunde beziehen.“12 Das ist eine durchaus weiterführende und ausbaufähige Definition. Nach § 1 Abs. 2 des Gesetzes über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) ist Heilkunde jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden 6 7 8 9 10
11 12
Deutsch, Arztrecht und Arzneimittelrecht, 1. Aufl. 1983, Rn. 4. Deutsch, Arztrecht und Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 1991, Rn. 1. Deutsch, Medizinrecht, 3. Aufl. 1997, Rn. 978ff. Deutsch, Medizinrecht, 4. Aufl. 1999. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl. 2003, Rn. 1; ähnlich etwa (unter Einbeziehung „weiterer Vorschriften im Dienste der Gesundheit“) Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 5 Rn. 2. Vgl. auch Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2005, § 1 Rn. 11. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 1.
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oder Körperschäden beim Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird. Dieser Heilkundebegriff ist von der Rechtsprechung erweitert worden, um möglichst auch jede nichtärztliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Heilkunde zu erfassen.13 Einbezogen werden müsste darüber hinaus die Prävention, die ein zunehmend wichtiges Handlungsfeld auch für die Heilkunde ist (vgl. §§ 20ff. SGB V). Zu eng ist die Definition allenfalls noch insoweit, als sich auch das Lehrbuch nicht nur mit der Ausübung der Heilkunde, sondern, wenn auch nur knapp, auch mit dem Zugang zu den Heilkundeberufen befasst, etwa mit dem vertragsärztlichen Zulassungsrecht (§§ 95ff. SGB V).14 Die Entwicklung des Lehrbuches von Erwin Deutsch steht damit paradigmatisch für das lernende Entwickeln und die allmähliche Konturierung eines Rechtsgebietes, dem diesen Charakter heute niemand mehr streitig machen würde. Das neue Rechtsgebiet zeigt sich in einer bereits seit 1983 erscheinenden Zeitschrift, in Universitätslehrstühlen und -instituten, seit 2005 in einem Fachanwalt für Medizinrecht und seit 2007 auch in einer Vereinigung der Medizinrechtslehrer und Medizinrechtslehrerinnen.
II. Ein neues Geschwisterchen: Gesundheitsrecht / Recht des Gesundheitswesens Die in der 6. Auflage des Lehrbuchs erstmals enthaltene Definition dessen, was das Medizinrecht inhaltlich ausmacht, ist vermutlich auch der Tatsache geschuldet, dass mit dem Gesundheitsrecht eine neue Gebietsbezeichnung am Horizont aufzieht, die den Charakter als Rechtsgebiet beansprucht. Das ist eine neue Herausforderung, der sich die Verfasser auch stellen:15 Es bedarf der Abgrenzung oder zumindest der Unterscheidung.
1. Die sozialrechtlichen Wurzeln Um den Standort des Gesundheitsrechts in der Rechtsordnung und sein Verhältnis zum Medizinrecht zu klären, muss man etwas ausholen. Die Wurzeln des Gesundheitsrechts liegen im Sozialrecht und damit im öffentlichen Recht. Das Sozialrecht hatte, ebenso wie das Medizinrecht, zunächst gewisse Orientierungsschwierigkeiten in der dualen Welt des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts.16 Seine Herkunft aus dem „Recht der Arbeiterversicherung“17, auf das sich das Sozialversicherungsrecht bis zur Einführung der Angestelltenversicherung im 13 14 15 16 17
BVerfGE 78, 179 (192); 106, 62 (107). Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 30ff. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 1; dazu unten 2. c). Rode, Was ist Sozialrecht?, ZSR 1969, 641 (643ff.). Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. 1, 1893; zu Rosins Rolle als Pionier des Sozialversicherungsrechts Mikešic, Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin, 2002, S. 40 ff.
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Jahre 1911 beschränkte, begründete seine Nähe zum Arbeitsrecht;18 zu sehr erinnerte zudem die äußere Regelungsform der Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetze an die Strukturen des zivilistisch geprägten Privatversicherungsrechts. Diese Scheinaffinität des durch öffentlich-rechtliche Institutionen und Handlungsformen geprägten Sozialversicherungsrechts zum bürgerlichen Recht ist schon früh kritisiert und der „überwiegend staats- und verwaltungsrechtliche Charakter“19 des Sozialrechts betont worden. Die Einordnung des Sozialrechts in das besondere Verwaltungsrecht wird daher schon seit längerem nicht mehr bestritten.20 Noch 1969 wird ihm aber attestiert, gerade erst aus dem rechtswissenschaftlichen Dornröschenschlaf zu erwachen.21 Es gilt, fälschlicherweise, als Materie der vom gehobenen Verwaltungsdienst beherrschten Verwaltungspraxis mit geringem dogmatischen Anspruch und erzeugt daher nur geringe disziplininterne Reputation. Protagonisten der Profilierung des Sozialrechts als rechtswissenschaftliche Disziplin sind nach 1945 Walter Bogs,22 der langjährige Präsident des Bundessozialgerichts Georg Wannagat,23 ferner Wilhelm Wertenbruch als Gründungsdirektor des Bochumer Instituts für Sozialrecht24 und, last but not least, Hans F. Zacher, der Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht mit seinen bedeutenden Beiträgen zur Systematisierung des Sozialrechts.25 Ein wichtiger politischer Anstoß für die weitere Konturierung des Rechtsgebiets geht zudem von der in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begonnenen kodifikatorischen Zusammenfassung des Sozialrechts im Sozialgesetzbuch aus. Insbesondere entsteht seit Beginn der 80er Jahre eine Fülle von Lehrbüchern.26 Die deutlich veränderte Wahrnehmung zeigt sich zudem in der Fülle der allein in den letzten 10 Jahren erschienenen sozialrechtlichen Habilitationsschriften.27 18 19 20
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Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 3, 5. Aufl. 1913, S. 290. Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. 1, 1893, Vorwort, S. V. Dazu näher Kingreen/Rixen, Sozialrecht – ein verwaltungsrechtliches Utopia? Ortsangaben zur (Wieder-)Entdeckung einer Referenzmaterie des öffentlichen Rechts, DÖV 2008, 741 (741 f.). Rode, Was ist Sozialrecht?, ZSR 1969, 641 (643). Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit, 1955. Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts Bd. 1, 1965. Wertenbruch, Begriff und Bedeutung des Sozialrechts, 1968, S. 385ff. Zusammengetragen in Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht, 1993. Bley/Kreikebohm/Marschner, Sozialrecht, 9. Aufl. 2007; Eichenhofer, Sozialrecht, 6. Aufl. 2007; Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, 2005; Igl/Welti [begr. von Schulin], Sozialrecht, 8. Aufl. 2007; Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl. 2007; Waltermann, Sozialrecht, 7. Aufl. 2008. Aus dem öffentlichen Recht: Axer, Normsetzung in der Sozialversicherung, 2000; Becker, Transfergerechtigkeit und Verfassung, 2001; Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001; Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000; Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003; Lenze, Staatsbürgerversicherung und Verfassung, 2005; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005; Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, 2005. Aus dem Zivilrecht: Boerner,
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Kontakte zum Medizinrecht hat das Sozialrecht in dieser Zeit kaum, obwohl es in Gestalt des Krankenversicherungsrechts durchaus Ansätze dafür gegeben hätte. Hintergrund ist die traditionelle Fokussierung des Krankenversicherungsrechts auf das Versicherungs-, das Leistungs-, das Organisations- und das Finanzierungsrecht. Hingegen wird das Leistungserbringungsrecht, das die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern betrifft, vergleichsweise stiefmütterlich behandelt. Das mag auch daran gelegen haben, dass die Sozialversicherungsgesetzgebung zum Ende des 19. Jahrhunderts in erster Linie, und dies mit Recht, den Hilfebedürftigen und Versicherten im Blick hatte, den Erbringer der notwendigen Leistungen aber eher als Reflex des sozialen Leistungsrechts ansah. Der entscheidende Grund für die Randstellung des Leistungserbringungsrechts war aber die geringe Regelungsdichte. Hintergrund der gesetzgeberischen Zurückhaltung waren massive Konflikte zwischen Krankenkassen und Ärzten im Vorfeld der 1911 verabschiedeten Reichsversicherungsordnung. Beide Seiten hatten, teils auch durch Streik- und Boykottmaßnahmen, auf die gesetzliche Ausgestaltung ihrer Rechtsbeziehungen Einfluss zu nehmen versucht, um die Machtstellung in den Verhandlungen mit der anderen Seite zu verbessern. Da es zu keiner Einigung kam und das ganze Gesetzeswerk zu scheitern drohte, regelten schließlich kümmerliche acht Normen (§§ 368-375 RVO) „das Verhältnis zu Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern und Apotheken“.28 Die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu den nichtärztlichen Leistungserbringern hatten sogar bis 1989 überhaupt keine hinreichenden gesetzlichen Grundlagen.29 Das war insgesamt zu wenig für eine vertiefte rechtswissenschaftliche Befassung. Das Recht der krankenversicherungsrechtlichen Leistungserbringung wurde daher, wenn überhaupt, nicht in den sozialrechtlichen,30 sondern in den arzt- und medizinrechtlichen Lehrund Handbüchern behandelt, allerdings auch dort nur äußerst knapp.31 Dieses Mauerblümchendasein fristete das krankenversicherungsrechtliche Leistungserbringungsrecht bis vor etwa 20 Jahren. Erst mit der 1989 einsetzenden ausführlicheren Kodifizierung der Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu den verschiedenen Leistungserbringern im Sozialgesetzbuch V rückte es vom Rand in die Mitte des Krankenversicherungsrechts. Es war die Zeit der ersten Kostendämpfungsgesetze, die naturgemäß auch die Leistungserbringer in den Blick nehmen mussten. Prompt erschien 1994 der erste Band des von Bertram Schulin herausgegebenen Handbuchs des Sozialversicherungsrechts, das sich erstmals
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Normenverträge im Gesundheitswesen, 2003; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001; Rolfs, Das Versicherungsprinzip im Sozialversicherungsrecht, 2000. Goldammer, Die Beziehungen zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen, 1964; Zschiegner, Das Friedensabkommen zwischen Ärzten und Krankenkassen vom 23. Dezember 1913, 1919. Vgl. nur zum Heil- und Hilfsmittelrecht Kranig, in: Hauck/Noftz, SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung, Loseblattslg, § 124 [11/2007] Rn. 2 und § 126 [8/2005] Rn. 2. Komplette Fehlanzeige etwa im grundlegenden Werk von Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965. Vgl. bereits Deutsch, Arztrecht und Arzneimittelrecht, 1. Aufl. 1983, S. 10f.
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systematisch mit den Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu allen Leistungserbringern befasste.32 Diese verstärkte Wahrnehmung des Leistungserbringungsrechts ist nicht nur der enormen praktischen Bedeutung der Materie geschuldet. Sie ist auch rechtsdogmatisch zwingend, weil das Leistungserbringungsrecht mit dem Leistungsrecht durch ein Geflecht von Normen und Verträgen untrennbar verbunden ist. Das im Leistungserbringungsverhältnis von Kassen und Leistungserbringern Geregelte und Vereinbarte konkretisiert nämlich zugleich den Leistungsanspruch, der im Sozialgesetzbuch V nur dem Grunde nach kodifiziert ist. Im Zentrum dieses Getümmels von Rechtsquellen stehen die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, der neben drei unparteiischen Mitgliedern aus insgesamt zehn vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen, den Kassenärztlichen Vereinigungen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft benannten Mitgliedern besteht (§ 91 Abs. 2 S. 1 SGB V). Ihre enorme Bedeutung verdanken die Richtlinien dem erst 1997 entwickelten sog. Rechtskonkretisierungskonzept des Bundessozialgerichts: Danach sind die Leistungsansprüche der §§ 27ff. SGB V nicht als Leistungsrechte im Vollsinne zu begreifen, sondern als ausfüllungsbedürftige Rahmenrechte.33 Dem trage das SGB V dadurch Rechnung, dass es mit den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses einen Konkretisierungsmechanismus vorsehe, der das gesetzliche Rahmenrecht zum durchsetzbaren Einzelanspruch verdichte.34 Zwischen Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht bestehe daher ein „unmittelbarer sachlogischer Zusammenhang“35: Denn der Umfang der zu gewährenden Krankenversorgung könne im Verhältnis der Versicherten zu den Krankenkassen kein anderer sein als im Verhältnis der ärztlichen Leistungserbringer zu den Krankenkassen. Die Richtlinien haben also die Funktion, die Verpflichtung der Leistungserbringer zu einer medizinisch ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Behandlungs- und Verordnungsweise mit den Ansprüchen der Versicherten zu koordinieren. Bereits aus der gesetzlichen Ermächtigung in § 92 Abs. 1 S. 1 SGB V folge daher, dass die Richtlinien nicht nur die im Bundesausschuss vertretenen Parteien binden, sondern verbindliches außenwirksames Recht enthalten.36 Leistungen, die in den Richtlinien nicht anerkannt sind, darf der Arzt grundsätzlich nicht erbringen/verordnen und der Versicherte grundsätzlich nicht beanspruchen. Eine Ausnahme erkennt das Bundessozialgericht nur bei einem sog. Systemversagen an, das es beim indikationsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln (sog. off label use),37 bei einzigartigen Erkrankungen, zu denen der Bundesausschuss mangels generalisierbarer Erkenntnisse nicht Stellung nehmen kann,38 und bei einer, trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen, nicht zeitgerechten Entscheidung des
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Schulin (Hrsg), Handbuch des Sozialversicherungsrechts Bd. I, 1994, §§ 28-46. BSGE 73, 271 (279ff.); 78, 70 (75ff.); 81, 54 (59ff.); 81, 73 (76ff.). BSGE 81, 54 (61). BSGE 78, 70 (77). BSGE 81, 54 (63). BSGE 89, 184ff. BSG, NZS 2005, 589 (593).
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Bundesausschusses annimmt.39 Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Ausnahmekatalog in seinem viel diskutierten Nikolaus-Beschluss dezent erweitert, indem es bei schweren Krankheiten, für die keine schulmedizinischen Behandlungsmethoden existieren, bislang noch nicht anerkannte Methoden in die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung einbezieht, wenn eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.40
2. Typologie und Rechtsquellen des Gesundheitsrechts Die in den letzten etwa 10 Jahren rechtspraktisch und -dogmatisch gestiegene Bedeutung des Leistungserbringungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung ist nun auch der Hintergrund für die Entstehung des Gesundheitsrechts. a) Das Leistungserbringungsverhältnis zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern Das in den §§ 69-140 SGB V geregelte Leistungserbringungsverhältnis vervollständigt das Krankenkassen, Versicherte/Mitglieder und Leistungserbringer verbindende Beziehungsdreieck, bestehend aus dem Mitgliedschafts-/Versicherungsverhältnis (unter Einschluss des Leistungsverhältnisses) zwischen den Versicherten und der Krankenkasse, dem Erfüllungsverhältnis zwischen dem Versicherten und dem Leistungserbringer und eben dem Leistungserbringungsverhältnis zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern.41 Diese drei Rechtsverhältnisse hängen aufs Engste miteinander zusammen: Das Mitgliedschafts/Versicherungsverhältnis beinhaltet, neben der Beitragspflicht des Mitglieds, vor allem das Leistungsversprechen der Krankenkasse. Die Krankenkassen erbringen aber nur die wenigen Geldleistungen (Krankengeld, Mutterschaftsgeld) selbst. Sach- und Dienstleistungen hingegen gewähren sie, indem sie im Leistungserbringungsverhältnis Vereinbarungen mit selbständigen Leistungserbringern treffen. Diese Vereinbarungen dienen dazu, die Leistungsberechtigung im Mitgliedschafts- bzw. Versicherungsverhältnis und den Umfang der gegenüber den Krankenkassen abzurechnenden Leistungen zu koordinieren. Denn das, was der Versicherte von seiner Krankenkasse erwarten darf, soll grundsätzlich dem entsprechen, was der Arzt oder ein anderer Leistungserbringer gegenüber der Krankenkasse abrechnen darf. Im Einzelnen kann man in Anlehnung an die verwaltungsrechtliche Zwei-Stufen-Lehre zwei Regelungsebenen im Leistungserbringungsverhältnis ausmachen:42 Auf der Begründungsebene geht es um die Frage, wie der Status des Leistungserbringers begründet wird, der entweder selbst oder durch seine Verbände 39 40 41
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BSG, NZS 2004, 99 (101). BVerfGE 115, 25 (49ff.). Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung, 2008, § 69 Rn. 4ff. Becker/Kingreen, in: Das Recht des öffentlichen Gesundheitswesens, dtv-Textausgabe, 2008, Einführung, S. XXI-XXIV.
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zur Partei von Rechtsbeziehungen wird; es geht also um das „Ob“ der Leistungserbringung. Statusbegründender Akt ist dabei entweder ein Verwaltungsakt (so im Vertragsarzt- und im Heilmittelrecht, §§ 95 Abs. 3 S. 1, 124 Abs. 4 S. 2 SGB V), oder ein Versorgungsvertrag (neuerdings insbesondere im Hilfsmittelrecht, § 126 Abs. 1 S. 2 SGB V), wobei der Trend derzeit weg von dem durch Verwaltungsakt geregelten Über-/Unterordnungsverhältnis hin zu dem durch Versorgungsvertrag ausgestalteten Kooperationsverhältnis zwischen Kassen und Leistungserbringern geht („from status to contract“).43 Zu einigen Leistungserbringern gibt es nach wie vor keine statusbegründenden Rechtsbeziehungen, so zu den Apotheken (§ 129 SGB V), den pharmazeutischen Unternehmern (§ 131 SGB V) und den Hebammen (§ 134 SGB V). Der Systemzugang richtet sich hier also allein nach dem einschlägigen Berufs- und Gewerberecht (§ 2 ApoG, § 2 HbG, § 13 AMG). Die Statusbegründung ist, wenn auch in unterschiedlicher Verdichtung, jeweils überformt durch verbindliche Kollektivvereinbarungen, im Vertragsarztrecht etwa durch die Bundesmantelverträge (§ 82 SGB V) und die Gesamtverträge (§ 83 SGB V), sowie durch unverbindliche Rahmenempfehlungen (vgl. etwa § 125 SGB V in der Heilmittelversorgung). Auf der Ausgestaltungsebene geht es nicht um das „Ob“, sondern um das „Wie“ der Leistungserbringung. Die ausgestaltenden Rechtsbeziehungen haben dabei nicht nur Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, sondern wirken sich aufgrund der Interdependenz zwischen Leistungs- und Leistungserbringungsrecht teilweise unmittelbar auf das Leistungsrecht aus. Die Ausgestaltungsebene ist geprägt durch Verträge und Vereinbarungen, an denen zumeist Verbände, seltener aber auch einzelne Leistungserbringer beteiligt sind. b) Die eigenständige Funktion des Gesundheitsrechts Die Entdeckung des Leistungserbringungsverhältnisses allein würde es noch nicht rechtfertigen, von einem neuen Rechtsgebiet Gesundheitsrecht zu sprechen. Denn diese Rechtsbeziehungen dienen dazu, den Leistungsanspruch des Versicherten näher auszugestalten, und könnten daher nach wie vor als Bestandteil des Rechtsgebiets Gesetzliche Krankenversicherung angesehen werden. Das Recht der Leistungserbringung besteht aber nicht nur aus den Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, sondern umfasst insgesamt die materiellen, verfahrens- und organisationsrechtlichen Regeln für die Erbringung von Gesundheitsleistungen. Dazu gehören vor allem die aus dem krankenversicherungsrechtlichen Kontext gelösten berufs-, gewerbe- und ordnungsrechtlichen Vorschriften in den einzelnen Sektoren der Leistungserbringung, vom Arzneimittel- über das Medizinproduktegesetz bis hin zur Handwerksordnung, in der sich die berufsrechtlichen Voraussetzungen für die sog. Gesundheitshandwerker befinden. Diese Rechtsquellen haben vielfältige Bezüge zum Sozialgesetzbuch V, und zwar nicht nur zum Leistungserbringungsrecht, sondern auch zum Leistungsrecht. So knüpfen etwa die Leistungsansprüche im Bereich der Arzneimittelversorgung (§§ 31-34 SGB V) an die arzneimittelrechtliche Systema43
Vgl. Kingreen, Das Sozialvergaberecht, SGb 2008, 437 (438f.).
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tik (§ 43 AMG)44 an. Ferner sind die §§ 107ff. SGB V zur Regelung der Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu den Krankenhäusern eng mit den planungs-, finanzierungs- und vergütungsrechtlichen Bestimmungen des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) und des Krankenhausentgeltgesetzes (KHEntgG) sowie den Krankenhausgesetzen der Länder verzahnt. Überhaupt baut die sozialversicherungsrechtliche Statusbegründung45 weitgehend auf dem Berufsrecht für die einzelnen Leistungserbringungsbereiche auf, etwa bei den Voraussetzungen für die Eintragung ins Arztregister (§ 95a Abs. 1 SGB V), die gemäß § 95 Abs. 2 S. 1 SGB V Voraussetzung für die sozialversicherungsrechtliche Zulassung ist, oder im Heilmittelrecht, wo § 124 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB V an die für die Leistungserbringung erforderliche Ausbildung sowie eine entsprechende zur Führung der Berufsbezeichnung berechtigende Erlaubnis anknüpft, deren Voraussetzungen sich aus dem Masseur- und Physiotherapeutengesetz (MPhG), dem Podologengesetz (PodG), dem Logopädengesetz (LogP) und dem Ergotherapeutengesetz (ErgThG) ergeben. c) Begriff: Gesundheitsrecht oder Recht des öffentlichen Gesundheitswesens? Alle vorstehend genannten Gesetze gehen nun aber in ihren Rechtswirkungen über das Krankenversicherungsrecht weit hinaus. Auf die Idee, sie zum Bestandteil des Krankenversicherungsrechts zu erklären, käme daher niemand. Würde man sie aber zusammenfassen, bildeten sie ein Gesundheitsgesetzbuch, in dessen Mitte das Sozialgesetzbuch V steht, um das sich die genannten Gesundheitsgesetze als Nebengesetze gruppieren.46 Da es ein solches Gesundheitsgesetzbuch auf absehbare Zeit nicht geben wird, und zwar auch und gerade wegen der Zentrifugalkraft der Nebengesetze, ist es zumindest wichtig, ihr Zusammenwirken auf einen Begriff zu bringen: „Jede wissenschaftliche Begriffsbildung ist mehr oder weniger ein dezisiver Prozess. Man entscheidet sich zu Zwecken der wissenschaftlichen Verständigung zu einem möglichst bestimmten Bedeutungsinhalt eines Wortes, um in der wissenschaftlichen Diskussion nicht aneinander vorbeizureden.“47 Diese Funktion der Verständigung hat die Bezeichnung Gesundheitsrecht: Es beinhaltet die Gesamtheit der öffentlich-rechtlichen Normen über die krankenversicherungsrechtliche Stellung der Versicherten, die Organisation und Finanzierung der Krankenkassen und den berufs- und sozialversicherungsrechtlichen Status der in der Gesundheitsversorgung tätigen Personen und Einrichtungen. Vergleichbar mit dem Medizinrecht, macht auch das Gesundheitsrecht mittlerweile Karriere. Es ziert eine Fachzeitschrift ebenso wie Lehrstühle und Institute an den Universitäten. Diese Verselbständigung des Gesundheitsrechts könnte darüber hinaus eine auch interdisziplinäre Verständigung ermöglichen. In den Sozialwissenschaften bilden sich mit der Gesundheitspolitik und den Gesund44 45 46
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Dazu Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 1221ff. Vgl. oben a). Vgl. die Zusammenstellung in der Textausgabe „SGB V, Öffentliches Gesundheitswesen“, 2008. Rode, Was ist Sozialrecht?, ZSR 1969, 641 (646f.).
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heitswissenschaften („Public Health“) und in der Wirtschaftswissenschaft mit der Gesundheitsökonomie zunehmend verselbständigte Diskurse und Wissenschaftseinrichtungen heraus,48 die belegen, dass Gesundheit und Gesundheitssysteme Gegenstände einer multidisziplinären Betrachtung sein müssen.49 An den Rändern sind die Konturen allerdings hier wie dort noch unscharf. Erwin Deutsch und Andreas Spickhoff greifen den Begriff des Gesundheitsrechts in der neuesten Auflage ihres Lehrbuches erstmals auf. Das Gesundheitsrecht schließe alle Normen ein, die der Gesundheit in einem sehr weiten Sinne dienen: „Es befasst sich demgemäß mit dem Gesundheitssystem an sich, namentlich dem Recht der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung, aber auch öffentlich-rechtlichen Aspekten wie der Gefahrenabwehr, etwa im Bereich des Seuchen-, Hygiene- oder Lebensmittelrechts, ja sogar des Umweltrechts.“50 Die Verfasser erkennen das Problem der weiten Definition, wenn sie bemerken, dass das Gesundheitsrecht in den letztgenannten Bereichen das Medizinrecht verlässt. Eben diese Anbindung ist aber der Sinn des Gesundheitsrechts, das, wie gleich noch zu zeigen sein wird, der öffentlich-rechtliche Partner des zivil- und strafrechtlich geprägten Medizinrechts ist.51 Es kann, sollen die Konturen klar bleiben, nicht um eine Zusammenfassung aller Normen gehen, die irgendwie mit der Gesundheit des Menschen zusammenhängen; sonst müsste man auch die §§ 223ff. StGB und eben auch das ganze Umweltrecht zum Gesundheitsrecht zählen. Das Gesundheitsrecht wird vielmehr seinen Wurzeln im Sozialrecht nur gerecht, wenn es seinen Ausgang im durch das Sozialgesetzbuch V geprägten, öffentlichen Gesundheitssystem nimmt. Nur dann kann der Begriff die ihm zugedachte Funktion wahrnehmen, zur engeren Verzahnung zwischen zivil-, straf- und öffentlichrechtlichen Normen im Bereich der medizinischen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung beizutragen. Nur dann spricht er übrigens auch bestimmte Ziel- und Berufsgruppen an, die sich mit den wirtschaftlichen, rechtlichen oder ethischen Fragen der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung befassen. Wer käme auf die Idee, einer gesundheits- und medizinrechtlich ausgewiesenen Rechtsanwaltskanzlei ein umweltrechtliches Mandat zu übertragen? Über die Begrifflichkeiten kann man sicherlich streiten. Man könnte etwa auch von einem Gesundheitsrecht im von Erwin Deutsch und Andreas Spickhoff definierten weiteren Sinne und einem Gesundheitsrecht im hier beschriebenen engeren Sinne sprechen und letzteres als Recht des öffentlichen Gesundheitswesens bezeichnen. Denkbar ist schließlich auch die Bezeichnung öffentliches Medizinrecht,52 das – ähnlich wie etwa im Baurecht – vom privaten Medizinrecht unter-
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Vgl. Rosenbrock/Gerlinger, Gesundheitspolitik, 2. Aufl. 2005, S. 11ff. Dazu die Beiträge in: Kingreen/Laux (Hrsg.), Gesundheit und Medizin im interdisziplinären Diskurs, 2008. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 1; in diesem Sinne etwa auch Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2005, § 1 Rn. 2, 11ff. Auch die von Francke und Hart eingeführte Textsammlung „Gesundheitsrecht“, 2003, verlässt den durch das Gesundheitssystem hergestellten Zusammenhang. Vgl. unten III. Dafür Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2005, § 1 Rn. 19.
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schieden wird. Entscheidend sind nicht die Begriffe, sondern eine Verständigung über den Inhalt des neuen Rechtsgebiets.
III. Medizinrecht und Gesundheitsrecht als komplementäre Rechtsgebiete Die soeben herausgearbeitete Funktion und Definition des Gesundheitsrechts ermöglicht es, Medizinrecht und Gesundheitsrecht als komplementäre Rechtsgebiete anzusehen, die sich mit dem rechtlichen Rahmen für die Erbringung und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen beschäftigen. Für die Erfassung dieses Zusammenwirkens hilft wiederum zunächst das Denken in Rechtsverhältnissen.53 Rechtliche Beziehungen bestehen zwischen Versicherten und Krankenkassen bzw. Krankenversicherungsunternehmen (Versicherungsverhältnis), zwischen Krankenkassen/Krankenversicherungsunternehmen und Leistungserbringern (Leistungserbringungsverhältnis) und schließlich zwischen den Leistungserbringern und den Versicherten (Erfüllungsverhältnis), die in diesem Verhältnis allerdings den Status des Patienten und/oder Kunden haben. Diese Rechtsbeziehungen steuern die Zuordnung der Rechtsgebiete. Das Versicherungsverhältnis der Krankenkasse zu ihrem Versicherten ist ohne Zweifel öffentlich-rechtlicher Natur. § 69 SGB V stellt zudem seit 2000 klar, dass für die Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern primär das öffentlich-rechtliche Sozialgesetzbuch V maßgebend ist; damit soll insbesondere die Geltung des Wettbewerbs- und Kartellrechts ausgeschlossen und auch das allgemeine Zivilrecht nur dosiert (§ 69 S. 4 SGB V) angewendet werden.54 Die Rechtsnatur des Erfüllungsverhältnisses ist zwar nach wie vor umstritten, weil insbesondere die Vertreter des öffentlichen Rechts auf die öffentlich-rechtliche Überformung dieses im Kern zivilrechtlichen Rechtsverhältnisses hinweisen. Doch ändert diese Überformung an der privatrechtlichen Natur der Dienst- bzw. Werkverträge (§§ 611, 631 BGB) nichts; der Öffentlich-Rechtler reiht sich insoweit gerne in den Kreis der herrschenden Ansicht im zivilrechtlichen Schrifttum ein.55 Die beiden zuerst genannten Rechtsverhältnisse betreffen also das öffentlich-rechtlich geordnete Gesundheitssystem und sind daher dem Gesundheitsrecht in dem oben definierten Sinne zuzuordnen. Das Medizinrecht ist demgegenüber die Gesamtheit der zivil- und strafrechtlichen Regeln, die das Verhältnis zwischen Versicherten/Patienten und Leistungserbringern, also im sozialversicherungsrechtlichen Sinne: das Erfüllungsverhältnis, betreffen. Wichtige Schwerpunkte sind insoweit das Vertrags- und das Haftungsrecht, aber auch das Recht der medizinischen Forschung und der Biomedizin.
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Vgl. bereits oben II. 2. a). Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung, 2008, § 69 Rn. 34ff. Zu dieser Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 79.
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Medizin- wie Gesundheitsrecht gehen aber, wie gesagt,56 in ihrer Bedeutung über die im Sozialgesetzbuch V angelegten Rechtsverhältnisse hinaus, indem sie insgesamt die Erbringung medizinischer Sach- und Dienstleistungen für die Bevölkerung (auch ihren nicht sozialversicherten Teil) betreffen. Hier greifen, etwa bei der ärztlichen Berufsausübung oder bei der Arzneimittelversorgung, privates Vertrags- und Haftungsrecht und öffentlich-rechtliche Regeln (etwa bei der Zulassung von Arzneimitteln oder der Verteilung von Organen nach § 12 TPG) eng ineinander. Es bleibt die abschließende Kontrollüberlegung, ob diese Abgrenzung zwischen Medizin- und Gesundheitsrecht nicht den intradisziplinären rechtswissenschaftlichen Zugriff, den der Jubilar bereits in der 1. Auflage von „Arztrecht und Arzneimittelrecht“ berechtigterweise betont,57 in Frage stellt. Die Entwicklungsgeschichte sowohl des Gesundheits- als auch des Medizinrechts belegt indes, dass diese Befürchtung nicht begründet ist. Das Medizinrecht hat zwar ursprünglich den Anspruch erhoben, auch das öffentliche Recht einzuschließen, doch ist es von seinen Ursprüngen und seinen Schwerpunkten her eine zivil- und strafrechtliche Materie, die sich eher am Rande mit sozialrechtlichen Fragestellungen befasst hat. Die Wurzeln des Gesundheitsrechts hingegen liegen im Sozialrecht, aus dem es sich, als Folge einer verspäteten öffentlich-rechtlichen Wahrnehmung des Leistungserbringungsrechts, als selbständiges Rechtsgebiet abgespalten hat.58 Das intradisziplinäre Potential des Medizin- und Gesundheitsrechts liegt daher wohl weniger darin, dass Gesundheitsrechtler Beiträge zur zivil- und strafrechtlichen Dimension des Lebensbereiches leisten und Medizinrechtler die Sozialrechtsdogmatik bereichern werden. Profitieren können das Medizin- und das Gesundheitsrecht aber von den Anschlüssen an die jeweiligen „Mutterdisziplinen“ und einen daran anschließenden Austausch untereinander. Die Komplexität der neu entstehenden Rechtsgebiete verführt nämlich allzu leicht dazu, sich in diesen gleichsam zu vergraben und den Kontakt mit der Außenwelt des Allgemeinen abzubrechen. Indes setzt gute Medizinrechtswissenschaft eine solide Basis im allgemeinen Straf-, Vertrags- und Haftungsrecht ebenso voraus wie die Wissenschaft vom Gesundheitsrecht Anschlüsse herstellen muss an die Handlungsformen und Denkfiguren des allgemeinen (deutschen und europäischen) Verfassungs- und Verwaltungsrechts. Zu Recht wird daher in der Verwaltungsrechtswissenschaft das Ziel betont, durch die Arbeit mit Referenzgebieten „die Spezialdiskurse des Besonderen Verwaltungsrechts entgegen dem sonstigen Trend wieder stärker für allgemeine Fragestellungen zu öffnen“59, zugleich aber auch die Relevanz allgemeiner Fragestellungen am Maßstab der Einzeldisziplinen kritisch zu untersu-
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Vgl. oben II. 2. b). Vgl. oben I. Hänlein, Sozialrecht als Wirtschaftsrecht, NZS 2003, 617ff.; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 6ff. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann /Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2006, § 1 Rn. 44.
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chen.60 Diese Rückkoppelung verhindert das Entstehen rechtswissenschaftlicher Parallelwelten, in denen sich das Allgemeine vom Besonderen und dieses von jenem abkoppelt. So kann man, um nur ein Beispiel zu nennen, die Existenz eines Gemeinsamen Bundesausschusses, der weitgehend unbeeinflusst durch parlamentsgesetzliche Steuerung außenverbindliches Recht setzt,61 wohl nur damit erklären, dass das Gesundheitsrecht der verfassungsrechtlichen Welt von Demokratieprinzip und Parlamentsvorbehalt partiell entrückt ist.62 Dass eine Synthese von Allgemeinem und Besonderem möglich ist, beweist Erwin Deutsch. Er steht mit der Kombination von haftungsrechtlicher Grundlagenforschung63 und medizinrechtlicher Pionierarbeit, die auch in der Gliederung der zu seinem 70. Geburtstag herausgegebenen Festschrift zum Ausdruck kommt,64 beispielhaft für die Profilierung des Medizinrechts als bedeutendem Referenzgebiet des allgemeinen Zivilrechts.
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Kingreen/Rixen, Sozialrecht – ein verwaltungsrechtliches Utopia? Ortsangaben zur (Wieder-)Entdeckung einer Referenzmaterie des öffentlichen Rechts, DÖV 2008, 741 (745 ff.). Vgl. oben II. 1. Kingreen, Legitimation und Partizipation im Gesundheitswesen. Verfassungsrechtliche Kritik und Reform des Gemeinsamen Bundesausschusses, NZS 2007, 113ff. Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, 1. Aufl. 1963 und 2. Aufl. 1995; ders., Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl. 1996 (1. Aufl. 1976 unter dem Titel Haftungsrecht, Allgemeine Lehren). Ahrens/von Bar/Fischer/Spickhoff/Taupitz (Hrsg.), Festschrift für Erwin Deutsch zum 70. Geburtstag, 1999.
Zur Lage der embryonalen Stammzellen in Österreich
Christian Kopetzki
I. Einleitung Mit Verzögerung hat die bioethische Debatte über die Legitimität der Forschung mit embryonalen Stammzellen auch Österreich erfasst. Die Frontlinien dieser Auseinandersetzungen verlaufen ganz ähnlich wie in Deutschland und brauchen hier nicht neuerlich skizziert zu werden.1 In manchen Punkten weist die österreichische Entwicklung allerdings Besonderheiten auf: Zum einen findet Forschung mit embryonalen Stammzellen in Österreich tatsächlich statt, ohne dass dieser Befund Gegenstand besonderer öffentlicher Wahrnehmung oder gar Erregung geworden wäre.2 Und zum anderen unterscheidet sich das rechtliche – vor allem das verfassungsrechtliche – Umfeld doch erheblich von jenem in Deutschland, wenngleich diese Divergenzen gerade am Beispiel der Stammzellforschung nicht auf den ersten Blick sichtbar werden.
II. Regelungen über die Gewinnung und Verwendung embryonaler Stammzellen „Embryonale Stammzellen“ sind in der österreichischen Rechtsordnung als Rechtsbegriff unbekannt. Es gibt zwar eine wachsende Zahl an Regelungen über die therapeutische Nutzung von Zellen, die sich entweder explizit auf alle Arten von Stammzellen beziehen3 oder die deren Verwendung beim Menschen mittelbar 1
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Für eine aktuelle Bestandsaufnahme vgl. die Beiträge in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Stammzellforschung. Ethische und rechtliche Aspekte (2008). Vgl. Derka, Der Exodus der klugen Köpfe, Die Zeit Nr. 32 vom 31. 7. 2008, S. 10 A. Etwa für die finanzielle Förderung und Koordination der Stammzelltransplantation (§ 59d Krankenanstalten- und KuranstaltenG – KAKuG, BGBl. 1957/1 i.d.F. BGBl. I 2008/49; §§ 4, 15 BG über die Gesundheit Österreich GmbH, BGBl. I 2006/132) oder die Ausbildung der Ärzte auf dem Gebiet der Stammzelltransplantation (Anl. 5, 15, 17 zur Ärzte-AusbO 2006, BGBl. II 2006/286).
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über das Arzneimittelrecht4 und das neue Gewebesicherheitsrecht5 normativ erfassen. Spezifische Bestimmungen für embryonale Stammzellen existieren aber ebenso wenig wie Regelungen für die Forschung mit (embryonalen oder adulten) Stammzellen.6 Insbesondere gibt es kein dem deutschen Rechtsbestand entsprechendes „Embryonenschutzgesetz“ oder „Stammzellgesetz“. Schranken für die Gewinnung und Verwendung embryonaler Stammzellen können sich daher nur mittelbar aus Gesetzen ergeben, die primär andere Sachverhalte regeln, wegen ihrer systematischen Nahebeziehung aber Ausstrahlungswirkungen auf die hier zu beurteilenden Fragestellungen entfalten. Bleibt die Suche nach einschlägigen Verbotsnormen erfolglos, dann ist die fragliche Tätigkeit eben rechtlich erlaubt, ohne dass es hiefür einer expliziten gesetzlichen „Zulassung“ bedürfte.7
1. Gewinnung embryonaler Stammzellen Als sedes materiae für die Ableitung gesetzlicher Schranken für die embryonale Stammzellforschung kommt im Wesentlichen nur das Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG)8 in Betracht. Es regelt die „medizinisch unterstützte Fortpflanzung“, d.h. die „Anwendung medizinischer Methoden zur Herbeiführung einer Schwangerschaft auf andere Weise als durch Geschlechtsverkehr“ (§ 1 Abs. 1 FMedG). § 9 Abs. 1 FMedG enthält in diesem Zusammenhang Bestimmungen für die „Verwendung, Untersuchung und Behandlung von Samen, Eizellen und entwicklungsfähigen Zellen“: Danach dürfen „entwicklungsfähige Zellen … nicht für andere Zwecke als für medizinisch unterstützte Fortpflanzungen verwendet wer4
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Arzneimittelgesetz – AMG, BGBl. 1983/185 i.d.F. BGBl. I 2008/52. Wegen des weiten, alle Körperbestandteile umfassenden Stoffbegriffs des § 1 Abs. 4 Ziff. 3 AMG sind auch Stammzellen als Arzneimittel zu qualifizieren, wenn sie zu (im weitesten Sinn) therapeutischen Zwecken verwendet werden. Durch die europäische VO (EG) Nr. 1394/2007 vom 13. 11. 2007 über Arzneimittel für neuartige Therapien (ABl. L 324/121 vom 10. 12. 2007) wurden auch somatische Zelltherapeutika und biotechnologisch veränderte Gewebsprodukte als „Arzneimittel für neuartige Therapien“ eingeordnet und besonderen Regelungen unterworfen. Vgl. das GewebesicherheitsG – GSG, BGBl. I 2008/49, das die europäische RL 2004/23/EG vom 31. 3. 2004 zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Spende, Beschaffung, Testung, Verarbeitung, Konservierung, Lagerung und Verteilung von menschlichen Geweben und Zellen (ABl. L 102/48 vom 7. 4. 2004) umsetzt. Auch embryonale Zellen unterliegen dem GSG, sofern es um ihre (im weitesten Sinne therapeutische) Verwendung beim Menschen geht. Die Stammzellforschung scheint lediglich – aber immerhin – als Inhalt der Lehrpläne für den Biologieunterricht an Schulen auf (vgl. die Anlagen A und D BGBl. 1985/88 i.d.F. BGBl. II 2006/321). Vor dem Hintergrund der prinzipiellen Freiheitsvermutung der Bundesverfassung kann alles als erlaubt gelten, was rechtlich nicht verboten ist. Zu diesem „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip“ m.w.N. Kopetzki, Rechtliche Aspekte des Embryonenschutzes, in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz – Hemmschuh für die Biomedizin? (2003) 51. BGBl. 1992/275 i.d.F. BGBl. I 2008/49.
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den. Sie dürfen nur insoweit untersucht und behandelt werden, als dies nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft und Erfahrung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft erforderlich ist“. Aus dieser Bestimmung wird unter anderem ein Verbot der Forschung mit menschlichen Embryonen abgeleitet, das vom Gesetzgeber auch beabsichtigt war.9 Das Verwendungsverbot des § 9 Abs. 1 FMedG schließt somit auch die Gewinnung embryonaler Stammzellen aus in-vitro-Embryonen („entwicklungsfähigen Zellen“) zu Forschungszwecken aus.10 Anders als in Deutschland sind die Verbote des FMedG allerdings nur verwaltungsstrafrechtlich sanktioniert, wobei die Höchststrafe von 36.000 € eher moderat bemessen ist. Ein justizstrafrechtlicher Schutz des extrakorporalen Embryos besteht nicht.11 Diese Regelung führt einerseits dazu, dass der Schutz des Embryos in vitro stärker ausgeprägt ist als der Schutz des Embryos in vivo in der Frühphase seiner Entwicklung – denn die strafgesetzlichen Bestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch (§§ 96 ff. StGB) schützen den Embryo in vivo vor der Nidation (also vor Beginn der Schwangerschaft) noch gar nicht. Andererseits wird mit der Entscheidung zugunsten des Verwaltungsstrafrechts, der zahmen Strafdrohung sowie der Zurückhaltung gegenüber dem Einsatz justizstrafrechtlicher Sanktionen eine deutlich geringere Schutzwürdigkeit früher extrakorporaler Embryonen zum Ausdruck gebracht, die mit dem Lebensschutz Geborener nicht einmal ansatzweise vergleichbar ist.
2. Forschung mit embryonalen Stammzellen Ob neben der Gewinnung embryonaler Stammzellen aus befruchteten Embryonen auch die Forschung mit bereits auf legalem Weg (im Ausland) gewonnenen humanen embryonalen Stammzellen verboten ist, hängt davon ab, ob diese Zellen für sich genommen vom Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 FMedG erfasst sind oder nicht, ob es sich also um „entwicklungsfähige Zellen“ im spezifischen Sinne des FMedG handelt. Träfe dies zu, wäre eine Verwendung zu anderen Zwecken als zur Herbeiführung einer Schwangerschaft unzulässig. Ist dies nicht der Fall, so fände § 9 FMedG auf den Umgang mit diesen Zellen überhaupt keine Anwendung. Die Antwort auf diese Frage erschließt sich aus dem Gesetz nicht auf den ersten Blick. Für vernünftige Zweifel bleibt aber dennoch kein Raum: Nach ganz herrschender Auffassung verbietet § 9 Abs. 1 FMedG lediglich die Gewinnung von Zellen aus einem Embryo zu Forschungszwecken, nicht hingegen die Verwendung von pluripotenten embryonalen Stammzellen, die in zulässiger Weise bereits entnommen worden sind – etwa weil ihre Gewinnung im Ausland außerhalb des örtlichen Geltungsbereiches des FMedG erfolgte.12 9 10
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Vgl. 216 BlgNR 18. GP 20. Näher Kopetzki in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz 52 ff.; Mayrhofer, Reproduktionsmedizinrecht (2003) insb. 97 ff. M.w.N. E. Köck, Der (Straf)rechtliche Schutz des Embryos, ÖJZ 2006, 631 ff. Kopetzki in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz 56 ff.; Mayrhofer, Reproduktionsmedizinrecht 105 ff.
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Dieses Ergebnis hat mit dem eigentümlichen Begriff der „entwicklungsfähigen Zelle“ zu tun, an dem die Verbote des § 9 FMedG anknüpfen und an dessen Reichweite sich daher die Anwendbarkeit des FMedG insgesamt entscheidet: Zunächst stiftet die Legaldefinition der „entwicklungsfähigen Zelle“ freilich eher Verwirrung: Der Wortlaut des § 1 Abs. 3 FMedG, wonach als entwicklungsfähige Zellen befruchtete Eizellen „und daraus entwickelte Zellen anzusehen“ sind, scheint auch eine viel weitere Auslegung zu tragen. Würde man diese Legaldefinition wörtlich nehmen, dann wären nicht nur die befruchtete Eizelle und die totipotenten Stammzellen als „entwicklungsfähige“ Zellen anzusehen, sondern darüber hinaus auch alle Zellen, die sich im Lauf der Embryonalentwicklung herausbilden. Bei einem solchen Verständnis müsste man sowohl den Fötus in utero als auch jede einzelne Körperzelle des geborenen Menschen der Legaldefinition des § 1 Abs. 3 FMedG zuordnen, weil sich letztlich jede humane Zelle aus der befruchteten Eizelle „entwickelt“ hat. Diese Lesart würde die umfassenden Verbote des FMedG etwa auf den Problembereich des Schwangerschaftsabbruchs und der Verwendung menschlicher Zellen insgesamt ausdehnen. Eine derart absurde Konsequenz ist dem FMedG nicht zu unterstellen und war auch nicht beabsichtigt. Auf diese Weise würden völlig unterschiedliche (und mit der Reproduktionsmedizin in keinem sachlichen Zusammenhang stehenden) Rechtsgebiete wie z.B. das Abtreibungsrecht oder Teile des Arzneimittelrechts in den Geltungsanspruch des FMedG einbezogen und durch dieses letztlich auch erheblich modifiziert werden. Das stünde in evidentem Widerspruch zur Umschreibung des Regelungsgegenstandes des FMedG, wie er insbesondere in der Überschrift sowie in § 1 Abs. 1 des Gesetzes zum Ausdruck kommt: Dieser Regelungsgegenstand ist aber (nur) die (medizinisch unterstützte) „Herbeiführung einer Schwangerschaft“ (§ 1 FMedG). Auch aus den Erläuterungen ergeben sich keinerlei Hinweise darauf, dass mit dem FMedG so entfernte Sachverhalte wie die Verwendung von sämtlichen humanen Zellen erfasst werden sollten, sofern diese nicht ihrerseits in einem Kontext zur Fortpflanzung stehen. Sowohl aus historischen als auch aus systematischen und teleologischen Gründen muss dem FMedG daher ein restriktives Verständnis zugrunde gelegt werden, das den Rechtsbegriff der „entwicklungsfähigen Zelle“ auf totipotente Zellen beschränkt. Vom Geltungsbereich erfasst sind somit nur (befruchtete) Zellen, die sich noch zu einem ganzen Menschen entwickeln können, nicht jedoch pluripotente Zellen, deren Entwicklungspotenzial auf die Fähigkeit zur Ausbildung unterschiedlicher Gewebstypen etc. beschränkt ist.13 Dies entspricht auch der in Deutschland überwiegenden Auffassung, die den Rechtsbegriff des „Embryos“ im Sinne des (deutschen) Embryonenschutzgesetzes ebenfalls nur auf totipotente Zellen bezieht.14 13
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Wie hier auch Mayrhofer, Reproduktionsmedizinrecht 105 ff.; Eder-Rieder, Aspekte der Stammzelltechnologie, ZfRV 2007, 18 (22 ff.); J. Wallner, Health Care zwischen Ethik und Recht (2007) 229; Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt, Stellungnahme zu Fragen der Stammzellforschung im Rahmen des 6. Rahmenprogramms der EU im Bereich der Forschung vom 3. 4. und 8. 5. 2002; Taupitz, Rechtliche Regelung der Embryonenforschung im internationalen Vergleich (2003) 161. Vgl. z.B. von Bülow, Embryonenschutzgesetz, in Winter/Fenger/Schreiber (Hrsg.), Genmedizin und Recht (2001) 127 (143 f.) Rz. 348; Schroth, Forschung mit embryona-
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Dass in manchen Medien beharrlich das Gegenteil zu lesen ist15 und sich die österreichische Rechtslage hinsichtlich der Forschung mit pluripotenten embryonalen Stammzellen aus der Perspektive ausländischer Beobachter mitunter (zu Unrecht) als umstritten darstellt,16 bleibt als irritierende Eigentümlichkeit der Stammzelldiskussion zu verbuchen. Dies dürfte aber eher Ausdruck einer unkritischen Vermischung ethischer, rechtlicher und rechtspolitischer Betrachtungsebenen sein als das Ergebnis einer abweichenden juristischen Analyse.
3. Import embryonaler Stammzellen Anders als in Deutschland, wo der Import von embryonalen Stammzellen durch das Stammzellgesetz beschränkt und die Zulässigkeit der Einfuhr vom Gewinnungszeitpunkt abhängig gemacht worden ist,17 enthält das FMedG weder ein Verwendungs- oder Überlassungsverbot noch Importbeschränkungen für pluripotente embryonale Stammzellen. Auch Importverbote in anderen Gesetzen sind nicht ersichtlich.18 Im Ergebnis besteht somit in Österreich eine Rechtslage, die jener in Deutschland vor dem Inkrafttreten des Stammzellgesetzes und der damit eingeführten „Stichtagsregelung“ vergleichbar ist: Die Forschung mit und die Einfuhr von embryonalen Stammzellen sind zulässig, solange nur die verpönte Gewinnung nicht in Österreich erfolgt. Der Gewinnungsvorgang im Ausland ist für sich genommen nicht nach den Maßstäben des FMedG zu beurteilen, weil sich der örtliche Geltungsbereich von Bundesgesetzen gem. Art. 49 Abs. 1 B-VG auf das Bundesgebiet beschränkt. Dazu kommt als Folge der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung, dass auch die Mitwirkung österreichischer Forscher an Gewinnungsvorgängen im Ausland
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len Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik im Lichte des Rechts, in Oduncu/ Schroth/Vossenkuhl (Hrsg.), Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen (2002) 252 (= JZ 2002, 170); Brewe, Embryonenschutz und Stammzellgesetz (2006) 32 f. Statt aller z.B. N.N., EU-Geld für Stammzellen, Salzburger Nachrichten 17. 6. 2006, 9 („Wie in den meisten Mitgliedstaaten ist diese Forschung in Österreich und Deutschland verboten“). Vgl. z.B. Heyer/Dederer, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung, Klonen. Ein vergleichender Überblick zur Rechtslage in ausgewählten Ländern (2007) 47 ff. Die in der Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgestellte Behauptung, in Österreich sei neben der Gewinnung auch der Import embryonaler Stammzellen und „somit die Forschung an HES-Zellen insgesamt untersagt“, bleibt einen näheren Nachweis schuldig (DFG, Stammzellforschung in Deutschland – Möglichkeiten und Perspektiven, Oktober 2006, 52, unter www.dfg.de). Gesetz vom 28. 6. 2002 zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit der Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG), dBGBl. I 2002, 2277 i.d.F. der vom Bundestag beschlossenen Novellierung vom 11. 4. 2008. Zur mangelnden Anwendbarkeit des Arzneiwareneinfuhrgesetzes auf dem Import zu Forschungszwecken vgl. Kopetzki, Stammzellforschung in Österreich – eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts, in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Stammzellforschung (2008) 269 (277 ff.).
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nicht mit der Gefahr einer Kriminalisierung einhergeht: Eine verwaltungsstrafrechtlich relevante Beteiligung (Beihilfe, Anstiftung) an Auslandstaten kommt wegen § 7 VStG nicht in Betracht, weil es an der Verwirklichung des objektiven Verwaltungsstraftatbestandes durch den „unmittelbaren Täter“ fehlt. Umso weniger sind Einzelaspekte im Kontext oder im Vorfeld der Stammzellgewinnung im Ausland – etwa die Frage eines ausreichenden „informed consent“ der „Eltern“ oder der Eizellspenderinnen – hinsichtlich ihrer Zulässigkeit einer Beurteilung nach den Maßstäben österreichischen Rechts zu unterziehen.
4. Das „therapeutische Klonen“ Ob die Manipulationsverbote des § 9 Abs. 1 FMedG auch für Zellen gelten, die ihre „Entwicklungsfähigkeit“ anderen Vorgängen als der Befruchtung verdanken,19 ist umstritten und inzwischen zu einem Testfall für die Bedeutung der juristischen Methodenwahl auch und gerade bei weltanschaulich kontroversen Fragen geworden. Auch hier hängt die Antwort wieder von der Auslegung des Begriffs der „entwicklungsfähigen Zelle“ ab: Der nüchterne Blick auf die Legaldefinition in § 1 Abs. 3 FMedG legt den Schluss nahe, dass sich auch das Verbot von Eingriffen an entwicklungsfähigen Zellen gem. § 9 Abs. 1 FMedG nur auf „befruchtete Eizellen und daraus entwickelte Zellen“ bezieht. Eben dies trifft auf Methoden des Kerntransfers oder der „Reprogrammierung“ jedoch nicht zu, da hier keine Befruchtung stattfindet.20 Der Versuch des Gesetzgebers, dem Begriff der „entwicklungsfähigen Zellen“ durch eine exakte Legaldefinition klare Konturen zu geben und damit ideologisch motivierte Auslegungskontroversen bereits im Keim zu ersticken, führte durch die Kunstfertigkeit der Interpreten allerdings genau zu jenem Problem, das durch diese Definition beseitigt werden sollte. So hat etwa Bernat wiederholt vorgeschlagen, unter „befruchteten“ Zellen jeden Zellverband zu verstehen, „der ge19
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In Betracht kommt insbesondere die Herstellung von embryonalen Stammzellen durch den Transfer somatischer Zellkerne in entkernte Eizellen, die unter dem Schlagwort des „therapeutischen Klonens“ bzw des „Forschungsklonens“ diskutiert wird. Auch eine „Reprogrammierung“, also eine Rückentwicklung differenzierter somatischer Zellen in pluripotente Zellstadien (sog. „induzierte pluripotente Stammzellen“ – IPS) oder gar totipotente Zellen liegt nicht mehr außerhalb des Spektrums biotechnischer Möglichkeiten. In diesem Sinn Kopetzki in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz 59 f.; insoweit zustimmend auch Mayrhofer, Reproduktionsmedizinrecht 101 f.; ebenso Miklos, Rechtliche Überlegungen zum Klonen menschlicher Zellen, in: Kopetzki/Mayer (Hrsg.), Biotechnologie und Recht (2002) 119 (142 ff.); H. G. Koch, Embryonenschutz ohne Grenzen? FS Eser (2005) 1091 (1107); Taupitz, Embryonenforschung im internationalen Vergleich 159; Weschka, Die Herstellung von Chimären und Hybridwesen, RdM 2007, 164 (167 f.); wohl auch Eder-Rieder, ZfRV 2007, 23; ohne klare Stellungnahme E. Köck, ÖJZ 2006, 632. Für die Ableitung eines Verbots des therapeutischen Klonens aus dem FMedG hingegen Eder-Rieder, Vorbem zu §§ 96-98 StGB, in Höpfel/Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum StGB2 (WK) Rz. 19; Pernthaler, Menschenrechte und Schutz des Embryos, Imago hominis 2005/2, 117 (123).
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wöhnlich das Potenzial hat, sich zum geborenen Menschen zu entwickeln“.21 Die Folge dieser Auffassung ist, dass auch die unter dem Begriff des „therapeutischen Klonens“ bekannten Techniken der Züchtung embryonaler Stammzellen mit Hilfe der „Dolly-Methode“ in den Einzugsbereich des § 9 Abs. 1 FMedG gelangen und somit verboten wären. Bemerkenswert an dieser Auslegung ist nicht nur, dass sie die Aussagekraft der Legaldefinition von „entwicklungsfähigen Zellen“ zu einer sinnentleerten Tautologie macht.22 Sie muss sich auch über den äußerst möglichen Wortsinn des Begriffs „Befruchtung“ hinwegsetzen, worunter seit Jahrhunderten sowohl im allgemeinen als auch im fachspezifischen medizinisch-biologischen Sprachgebrauch die Verschmelzung von männlichen und weiblichen Keimzellen23 verstanden wird, die sich von anderen – nicht mit einer „Befruchtung“ einhergehenden – Formen der ungeschlechtlichen Fortpflanzung unterscheidet.24 Die Einbeziehung sämtlicher Varianten der ungeschlechtlichen Herbeiführung von „Entwicklungsfähigkeit“ in den Rechtsbegriff der „Befruchtung“ ist keine methodisch vertretbare Auslegung25 mehr. Sie ist auch aus verfassungsrechtlichen Gründen bedenklich: Dass der Interpret eines Gesetzes nur berücksichtigen darf, was der authentische Text nach den Kommunikationsregeln als möglichen Sinn trägt,26 ist zugleich Element des rechtsstaatlichen, demokratischen und gewaltentrennenden Prinzips der Bundesverfassung, die damit die Beliebigkeit der Methodenwahl begrenzt:27 Die Bürger müssen keine staatlichen Eingriffe in ihre Handlungsfreiheiten hinnehmen, die sich nach den Regeln sprachlicher Kommunikation nicht auf eine nachvollziehbare Rechtsgrundlage des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zurückführen lassen. Ziel der Auslegung ist nicht der „wahre“ Wille
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So z.B. Bernat, Wer oder was sind „entwicklungsfähige Zellen“? in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Stammzellforschung (2008) 372 ff., insbesondere 390 f. § 1 Abs. 3 FMedG definiert die „Entwicklungsfähigkeit“ im Umweg über die Befruchtung. Definiert man nun mit Bernat die Befruchtung wieder unter Rückgriff auf die „Entwicklungsfähigkeit“, dann entsteht eine Zirkeldefinition ohne jeden normativen Aussagewert. Statt vieler Christ/Wachtler, Medizinische Embryologie (1998) 17 ff.; NüssleinVolhard, Das Werden des Lebens (2004) 30 ff.; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch258 (1998) 180 f.; Zetkin/Schaldach, Wörterbuch der Medizin I (1974) 164; Langman, Medizinische Embryologie3 (1974) 23. Z.B. Nüsslein-Volhard, Das Werden des Lebens, 33; umfassend zu der seit jeher üblichen Unterscheidung zwischen geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung Czihak/Langer/Ziegler (Hrsg.), Biologie (1976) 201-240. Zum äußerst möglichen Wortsinn als Grenze der Auslegung z.B. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1982) 467 f. Zur Wortlautgrenze als Grenze der Interpretation im Kontext von strafbewehrten Verbotsnormen vgl. hier nur Höpfel in WK2 § 1 StGB Rz. 51 m.w.N. Erhellend zum Ganzen auch Rill, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, ZfV 1985, 461 (466 f.). Rill, ZfV 1985, 466 f. Zu diesen Zusammenhängen Rüthers, Rechtstheorie (1999) Rz. 705 ff.; Rill, ZfV 1985, 588 f.
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oder der „Ordnungsplan“ des Gesetzgebers, sondern die Ermittlung dessen, was der Rechtssetzer „als von ihm gemeint gegen sich gelten lassen muss.“28 Dazu kommt, dass der von Bernat gegen den Wortlaut des Gesetzes ausgespielte „Ordnungsplan des Gesetzgebers“ auch in den Materialien keine Deckung findet. Der Regelungsanspruch des FMedG war bewusst auf Fragen der medizinisch unterstützen Fortpflanzung begrenzt. Ausdrücklich von einer Regelung „ausgeklammert“ werden sollten all jene Fragen, „die die Nutzung und den möglichen Missbrauch der Erkenntnisse von Biologie und Genetik aufwerfen“, namentlich „die in diesem Zusammenhang immer wieder angeführten Möglichkeiten des Klonens“.29 Deutlicher lässt sich die Herausnahme der – für Zwecke der Stammzellgewinnung und nicht der Reproduktion angewandten – Klonierungstechniken aus der historischen Regelungsabsicht nicht formulieren. Spätere Ansätze im Vorfeld der FMedG-Novelle 2004, das Verbot des § 9 FMedG auch auf Zellen auszudehnen, die durch Kerntransfer erzeugt wurden, konnten sich politisch nicht durchsetzen.30 Doch selbst wenn der Nachweis gelänge, dass die Formulierung des FMedG in „planwidriger Weise“ hinter der Regelungsabsicht und dem „Ordnungsplan“ des Gesetzgebers zurück bleibt, könnte man damit allenfalls die Existenz einer Gesetzeslücke, nicht jedoch die Zulässigkeit der Lückenschließung durch Analogie begründen. Da die Verbote des § 9 FMedG (einschließlich der mittelbar verwiesenen Legaldefinition des § 1 Abs. 3) den Tatbestand einer Verwaltungsstrafbestimmung (§ 22 Abs. 1 FMedG) bilden, steht einer „sinngemäßen“ Anwendung der Manipulationsverbote des § 9 Abs. 1 FMedG das – auch im Verwaltungsstrafrecht beachtliche und durch Art. 7 Abs. 1 EMRK verfassungsrechtlich verbürgte – strafrechtliche Analogieverbot entgegen.31 Die mangelnde explizite Verpönung eines bestimmten Verhaltens stellt dann eben keine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes, sondern allenfalls eine rechtspolitische Lücke dar.32 Blickt man genauer hin, so verbirgt sich hinter der Auseinandersetzung zum Verbot des „therapeutischen Klonens“ wohl eine viel tiefer gehende methodische Divergenz: Bernat räumt selbst ein, dass ein im Wege der Dolly-Methode geklonter Embryo sein Dasein nicht jenem Vorgang verdankt, den man „im landläufigen, aber auch im biologisch-technischen Sinn“ als Befruchtung bezeichnet.33. Dieses Auslegungsergebnis ist also offenkundig nicht durch den Sprachgebrauch gedeckt, es beruht methodisch vielmehr – folgt man dem Autor – auf einer „objektiv28 29 30 31
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Rill, ZfV 1985, 466. 216 BlgNR 18. GP 10. Dazu Kopetzki in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Stammzellforschung 288 ff. M.w.N. Kopetzki in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz 59 f.; vgl. im vergleichbaren deutschen Kontext auch BT-Drucksache 13/11263 v 26. 6. 1998; Keller, Klonen, Embryonenschutzgesetz und Biomedizin-Konvention, FS Lenckner (1998) 477 (485); Schroth, Forschung mit embryonalen Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik im Lichte des Rechts, JZ 2002, 170 (172). Rill, ZfV 1985, 590. Bernat in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Stammzellforschung 377; noch deutlicher 390: „Dieser Vorgang entspricht ganz eindeutig nicht dem Begriff der Befruchtung, wie er bislang definiert worden ist.“
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teleologischen Interpretation“. Der auf diese Weise ermittelte „wahre Sinn“ wird dann in der Folge in den Wortlaut des – völlig neu und entgegen dem tradierten Sprachgebrauch umdefinierten – Begriffs der „Befruchtung“ rücktransferiert. Mit dieser Neudefinition des Begriffs „Befruchtung“ wird zur „wortlautkonformen“ Auslegung, was unter Zugrundlegung des „landläufigen“ und „biologischtechnischen“ Sprachgebrauchs eine – unzulässige – Analogie gewesen wäre. Im Ergebnis führt diese „objektiv-teleologische“ und auf einen Bedeutungswandel des Begriffs „Befruchtung“ abzielende Auslegung also zu einer gänzlichen Abkoppelung vom Text des Gesetzes und den vom historischen Gesetzgeber verfolgten Zielsetzungen. Wenn diese „objektiv-teleologische“ Auslegung tatsächlich zu leisten vermag, was Bernat von ihr erwartet, dann bestätigt sich freilich einmal mehr der Verdacht, den diese Methode immer schon auf sich gezogen hat: Dass es sich dabei um keine Auslegung, sondern um ein Mittel der Gesetzeskorrektur unter dem Deckmantel der Interpretation handelt.34 Im Gegensatz zur Analogie ist sie mit dem Mehrwert verbunden, dass sie den Interpreten auch noch vom strafrechtlichen Analogieverbot befreit.35 Bei aller Anerkennung, die die „objektivteleologische“ Methode in manchen Rechtsbereichen verdienen mag: Bei der Sinnermittlung grundrechtseingreifender gesetzlicher Verbotsnormen führt ihre Anwendung indes zu einer rechtsstaatlich bedenklichen Entfernung des Interpreten – und letztlich auch der vollziehenden Behörden – vom positiven Recht und damit zugleich zu einer Aushöhlung des Legalitätsprinzips und der Gewaltentrennung. Auch das dem Art. 7 Abs. 1 EMRK innewohnende Bestimmtheitsgebot („nulla poena sine lege“) richtet sich im Kern gegen derart virtuose „korrigierende“ Interpretationen, die den äußerst möglichen Wortsinn weit hinter sich lassen oder die, was auf dasselbe hinausläuft, die verba legalia mit einem neuen und unvorhersehbaren „objektiven Sinngehalt“ aufladen. Wenn die Verfassung den Gesetzgeber zur möglichst klaren und vorhersehbaren Formulierung von „eingriffsnahen“ Verbotsnormen verhält,36 dann kann es nicht angehen, eine – diesen Vorgaben durchaus entsprechende – präzise Legaldefinition auf Sachverhalte auszudehnen, die den verwendeten Rechtsbegriffen „ganz eindeutig“37 nicht entsprechen. Andernfalls werden die Normadressaten von einem Begriffsverständnis überrumpelt, mit dem sie vor der Lektüre Bernats beim besten Willen nicht rechnen mussten.38 34
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Z.B. Rüthers, Rechtstheorie 441 ff. Rz. 796 ff. (insbesondere 808, 810); kritisch auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre (1982) 169 f.; Walter/Mayer/KucskoStadlmayer, Bundesverfassungsrecht10 (2007) Rz. 131 f.; m.w.N. und Diskussion auch bei Rill, ZfV 1985, 468, 584 f. Rüthers, Rechtstheorie 316 Rz. 544. Dazu nur Berka, Das „eingriffsnahe“ Gesetz und die grundrechtliche Interessenabwägung, FS Walter (1991) 37. Vgl. Fn. 33. Zur Bedeutung der Wortlautbindung und zur Problematik korrigierender Auslegung im Lichte des Art. 7 EMRK m.w.N. Höpfel in WK2 § 1 StGB Rz. 46 ff., insbesondere 52, 54 und 57 (dort auch zur gebotenen Differenzierung zwischen Zivilrecht und öffentlichem Recht im Hinblick auf die Intensität der Wortlautbindung). Zur Frage einer bereichsspezifischen Methodenwahl Rüthers, Rechtstheorie Rz. 674; zur Funktion des Art. 7 EMRK bei der Begrenzung der Auslegung von Strafbestimmungen und zum
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5. „Reprogrammierung“ Mit der Beschränkung des Begriffs der „entwicklungsfähigen Zellen“ auf (totipotente) befruchtete Eizellen bzw. deren Folgezellen fallen auch andere – absehbare oder noch unbekannte – Techniken zur „Rückdifferenzierung“ somatischer Zellen in frühere Entwicklungsstadien aus dem Anwendungsbereich des FMedG heraus.39 Ob die Anwendung solcher Techniken nur zu „pluripotenten“ Stammzellen („induzierte pluripotente Stammzellen“) führen oder ob dabei möglicherweise sogar das Stadium der Totipotenz überschritten wird, macht rechtlich keinen Unterschied. Die „Totipotenz“ stellt nach österreichischem Recht für sich genommen kein relevantes Kriterium dar, solange keine „Entwicklungsfähigkeit“ im spezifischen Sinn des FMedG (Befruchtung) vorliegt. Daher wäre die „reprogrammierte“ Zelle auch dann keine „entwicklungsfähige Zelle“, wenn sie totipotent ist oder durch zusätzliche Manipulationen in diesen Zustand versetzt werden könnte.40 Unzulässig ist im Hinblick auf das Verbot des reproduktiven Klonens41 lediglich die Implantation und die Herbeiführung einer Schwangerschaft.
III. Wen oder was schützt das Fortpflanzungsmedizingesetz? Alle Bestrebungen, das FMedG und einen ihm unterstellten „Ordnungsplan“ des Gesetzgebers zu einer Rechtsgrundlage für den umfassenden Schutz extrakorporaler Embryonen hochzustilisieren, sehen sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, überhaupt einen in sich konsistenten gesetzlichen Schutzzweck auszumachen.42 Die Hoffnung, man könnte den normativen Inhalt des FMedG mit moralischen Forderungen nach einem umfassenden „Lebensschutz von Anfang an“ zur Deckung bringen, findet weder in der Entstehungsgeschichte des Gesetzes noch in seinen Detailbestimmungen eine Stütze:
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Schutzzweck der Vorhersehbarkeit aus der Perspektive des betroffenen Normadressaten Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 (2007) 374, 377. Sofern diese Techniken nicht wieder zur Entstehung von Keimzellen führen, die für medizinisch unterstützte Fortpflanzungen verwendet werden sollen; vgl. § 9 Abs. 1 letzter Satz FMedG. Umso weniger bestehen gesetzliche Verbote der Gewinnung oder Nutzung pluripotenter „reprogrammierter“ Zellen zu Forschungszwecken. Anders in Deutschland, wo die Differenzierung nach dem Kriterium der „Potenz“ relevant sein kann. Auch dort sprechen aber gute Gründe dafür, somatische Zellen auch dann nicht als totipotent zu qualifizieren, wenn es möglich wäre, sie in einen solchen Zustand zu reprogrammieren; m.w.N. Kersten, Das Klonen von Menschen (2004) 548 ff. Zur Begründung Miklos, Das Verbot des Klonens von Menschen in der österreichischen Rechtsordnung, RdM 2000, 35. Dazu und zum Folgenden näher Kopetzki, Der Status des extrakorporalen Embryos – Landesbericht Österreich, in: Eser/Koch/Seith (Hrsg.), Internationale Perspektiven zu Status und Schutz des extrakorporalen Embryos. Rechtliche Regelungen und Stand der Debatte im Ausland (2007) 215 (237 ff.).
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Schon die Entstehungsgeschichte des FMedG zeigt, dass es dem Gesetzgeber nicht um die Erfüllung bestimmter moralischer oder religiöser Grundsätze ging, sondern um den Versuch, unter Berücksichtigung der „der Rechts- und Gesellschaftsordnung zugrunde liegenden, allgemein anerkannten Wertentscheidungen“ und „auf breiter Grundlage einen Ausgleich der verschiedenen Wertungen und Interessen“ 43, kurz: einen Kompromiss44 zu finden. In einer „wertpluralistischen Gesellschaft“ dürfe, so der damals amtierende Justizminister, der Gesetzgeber nur „so wenig Normadressaten wie möglich in ihrer Wertüberzeugung überfordern. Das nötigt, wenn es um die Rechtssetzung geht, zum Ausgleich auf möglichst breiter Basis statt zur weitestmöglichen Durchsetzung einzelner Grundprinzipien.“45 Obgleich das FMedG trotz dieses Bekenntnisses zu einem Interessenausgleich eine auffallend restriktive Grundtendenz aufweist, spielte der Embryonenschutz als eigenständiges Motiv kaum eine Rolle. Der Schutz „entwicklungsfähiger Zellen“ vor medizinischen Zugriffen stellt sich viel eher als eine – auf Missbrauchsabwehr zielende – Nebenwirkung der reproduktionsrechtlichen Bestimmungen des FMedG dar, deren primäre ratio legis nicht im Substanzschutz des Embryos, sondern in der Verhinderung anderer unerwünschter Folgen (Embryoselektion, Forschung, Generationensprünge etc.) zu sehen ist. Das in § 9 Abs. 1 implizierte Verbot, überzählige Embryonen aus der Reproduktionsmedizin für die Forschung zu verwenden, zielte auf die Verhinderung von „Missbräuchen“, der Vermeidung „schwieriger Abgrenzungsfragen“ sowie dem Ausschluss jeder Form der „Genmanipulation“46 als Ausdruck des Würdeschutzes.47 Nur beiläufig wird dieses Forschungsverbot und die damit einhergehende Beschränkung der Wissenschaftsfreiheit auch mit den „Rechten anderer, auch der Rechte des Ungeborenen“ begründet und angefügt, dass dies „überdies aus ethischen und moralischen Gründen weitgehend abgelehnt“ werde.48 Besonders deutlich wird die Nachrangigkeit des Embryonenschutzes darin, dass der Gesetzgeber die (durch eine längere Kryokonservierung wachsende) Gefahr von „Missbräuchen“ mit der absoluten Begrenzung der Aufbewahrungsdauer von Embryonen auf maximal zehn Jahre49 – und das heißt: mit einem gesetzlichen Gebot der fristgerechten „Entsorgung“ überzähliger Embryonen nach Erreichen des rechtlichen „Ablaufdatums“ – zu lösen trachtete. Hier wird der angestrebten Vermeidung von „Generationensprüngen“ und der durch die „Würde der Beteiligten“ gebotenen Beschränkung von Eingriffen in das „natürliche Zeugungsgeschehen“ ein ausreichendes Gewicht beigemessen, um die Vernichtung 43
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216 BlgNR 18. GP 10. Ebenso der damalige Justizminister Michalek, StProtNR 18. GP 7471 („Ausgleich der gesellschaftlichen Gruppen und Teilinteressen“). Abg. Hlavac, StProtNR 18. GP 7463 („einen Kompromiss, mit dem die meisten der Betroffenen leben können“). Bundesminister Michalek, StProtNR 18. GP 7472. 216 BlgNR 18. GP 12. Abg. Leiner, StProtNR 18. GP 7466. 216 BlgNR 18. GP 14. § 17 Abs. 1 FMedG i.d.F. der Novelle BGBl. I 2004/163. Die ursprüngliche Fassung sah eine Frist von nur einem Jahr vor.
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„überzähliger“ Embryonen nach Fristablauf zu legitimieren. Auch die „Absicherung des Forschungsverbotes“ wird als Motiv für die gesetzlich gebotene Vernichtung überzähliger Embryonen erwähnt.50 Wenn aber der Embryo zum Zweck der Absicherung des Forschungsverbotes in toto geopfert wird, dann steht nicht das Forschungsverbot im Dienst des Embryonenschutzes, sondern die Embryovernichtung im Dienst des Forschungsverbotes. Das eigentliche Ziel der Regelung ist nicht der Schutz des Embryos, sondern die Verhinderung der Forschung mit „österreichischen“ Embryonen. Die unter dem Aspekt des embryonalen Lebensschutzes schon während der Begutachtung wiederholt geforderten „embryonenschützenden“ Regelungsalternativen, entweder die Kryokonservierung überhaupt zu verbieten, die Frau zur Duldung der Implantation zu verpflichten, oder nach Ablauf der Frist wenigstens die Spende der Embryonen zuzulassen, wurden ausdrücklich abgelehnt, da dies zu einem Unterlaufen des Verbots der „Leihmutterschaft“ führen könnte.51 So intensiv der Aspekt des Embryonenschutzes in Teilen der Literatur52 sowie von der katholischen Kirche auch in den Vordergrund gerückt wurde – im Konzept des FMedG spielt er kaum eine Rolle. Wo der Schutz des extrakorporalen Embryos mit anderen Rechten und Interessen kollidiert, fiel die Entscheidung des Gesetzgebers regelmäßig zugunsten der gegenläufigen Interessen aus. Ein besonderes verfassungsrechtliches Problem sah man in dieser Preisgabe der Embryonen schon deshalb nicht, weil sich das Grundrecht auf Leben nur auf das „geborene Leben“ beziehe.53
IV. Die embryonale Stammzelle im Verfassungsrecht Während der Schutz extrakorporaler Embryonen auf einfachgesetzlicher Ebene und trotz einer anders gelagerten Regelungssystematik noch gewisse Parallelen zwischen der österreichischen und der deutschen Rechtslage aufweist, zeigt sich auf der Ebene des Verfassungsrechts ein deutlich anders Bild: Das hat sowohl mit einer abweichenden Tradition der Verfassungsdogmatik54 als auch mit Unterschieden in den Verfassungen selbst zu tun:
1. Allgemeines Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), das auf das Jahr 1920 zurückgeht, enthält – abgesehen von einigen verstreuten Einzelgrundrechten – 50 51 52
53 54
Eder-Rieder, WK2 Vorbem §§ 96-98 StGB Rz. 20. Vgl. 216 BlgNR 18. GP 22. Vgl. z.B. Lewisch, Leben und sterben lassen. Zur Frage verbrauchender Forschung an Embryonen, ÖJZ 1990, 133. 216 BlgNR 18. GP 13; Posch,10. ÖJT (1988) I/5, 26 f. Dazu erhellend Wiederin, Denken vom Recht her. Über den modus austriacus in der Staatsrechtslehre, Die Verwaltung, Beiheft 7 (2007) 293.
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keinen eigenen Grundrechtskatalog; der österreichische Grundrechtsbestand ist vielmehr auf mehrere Dokumente unterschiedlicher Herkunft zersplittert. Die wichtigsten Grundlagen sind das aus der Monarchie stammende Staatsgrundgesetz 1867 sowie die (seit 1964 auf Verfassungsstufe stehende) Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Biomedizinkonvention des Europarats und ihre Zusatzprotokolle wurden bisher von Österreich weder unterzeichnet noch ratifiziert. Dennoch ist die österreichische Verfassungsrechtsprechung wegen des Verfassungsranges der EMRK seit jeher viel stärker durch das internationale Recht des Europarates beeinflusst als die deutsche Judikatur. Vom Konzept her ist das österreichische Verfassungsrecht – nicht zuletzt bedingt durch die positivistische „Grundstimmung“ des B-VG 1920 und die historischen Erfahrungen mit dem kulturellen Pluralismus im Vielvölkerstaat der Monarchie – eher dem nüchternen Typus der „Spielregelverfassung“ zuzuordnen, deren Schwerpunkte in der Regelung der Staatsorganisation, des staatlichen Willensbildungsprozesses bzw. dessen rechtsstaatlicher Kontrolle und weniger in inhaltlichen Zielsetzungen für die Gesetzgebung liegen. Punktuelle Staatszielbestimmungen, verfassungsrechtliche Grundprinzipien sowie die Grundrechte stellen zwar materielle Determinanten für den Gesetzgeber dar, deren Einhaltung vom Verfassungsgerichtshof auch überprüft werden kann. Funktional werden die Grundrechte aber von der herrschenden Auffassung primär als Quelle subjektiver Rechte der Bürger gedeutet55 und nicht als Ausdruck einer „objektiven Wertordnung“ nach dem Muster der deutschen Lehre. Das schließt eine – durch die Möglichkeit einer Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch den VfGH schon früh prozessual abgesicherte – Bindung des Gesetzgebers (und insofern eine „objektive“ Grundrechtswirkung) keineswegs aus, ebenso wenig die Ableitung von staatlichen Schutzpflichten aus Grundrechten. All diese Grundrechtsfunktionen bleiben aber auf den Schutz der „subjektiven“ verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte bezogen und entfalten kein normatives „Eigenleben“ im Sinne eines von individuellen Grundrechtspositionen losgelösten Schutzes von „Werten“ oder anderen abstrakten oder kollektiven Interessen. Die deutsche Wertordnungsdebatte löst im österreichischen Schrifttum eher den kritischen Hinweis aus, dass die Grundrechte ihre Schutzfunktion gegenüber individuellen Rechten gerade auch gegen die herrschenden Werturteile der Epoche entfalten können.56 In diesem Punkt unterscheidet sich die österreichische Verfassungstradition ganz erheblich von jener Deutschlands, wenngleich sich auch hier für fast jede abweichende Meinung eine Belegstelle finden lässt. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass das österreichische Verfassungsrecht keine spezifischen Aussagen zum Embryonenschutz – weder in vitro noch in vivo – enthält. Es sind auch kaum Normen ersichtlich, denen sich solche Aussagen mit anerkannten Auslegungsmethoden interpretativ abgewinnen lassen:
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Das B-VG spricht daher auch nicht von „Grundrechten“, sondern von „verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten“ (vgl. Art. 144 B-VG). Walter, Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle in Österreich, in Vogel (Hrsg.), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle (1971) 1 (20).
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2. Der Embryo und das Grundrecht auf Leben Die (in Deutschland zumindest nicht für abwegig gehaltene) Vorstellung einer subjektiven Grundrechtsberechtigung von Embryonen57 ist für das österreichische Verfassungsverständnis ebenso wenig plausibel wie die Annahme einer „überschießenden“ objektiven grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates ohne ein korrespondierendes subjektives Recht.58 Das gilt nicht nur, aber insbesondere für die Reichweite des Grundrechts auf Leben, das im Wesentlichen durch die genuin völkerrechtliche Norm des Art. 2 EMRK garantiert wird und dessen Auslegung im Lichte eines „europäischen Standards“ partikulären nationalen Sonderwegen weitgehend entzogen ist: Nach herrschender Verfassungsrechtslehre59 und einhelliger Rechtsprechung des VfGH60 und des OGH61 ist das Grundrecht auf Leben erst ab der Geburt anwendbar: Der VfGH hat eine Überprüfung der strafrechtlichen Freigabe der „Fristenlösung“ am verfassungsrechtlichen Lebensschutz explizit abgelehnt, da Art. 2 EMRK das „keimende Leben“ nicht erfasse. Auch unter Aspekten des Gleichheitssatzes hat das Höchstgericht ein stufenweise ansteigendes Schutzkonzept ausdrücklich akzeptiert und betont, dass die menschliche Leibesfrucht während der verschiedenen Entwicklungsphasen nicht unter ein einheitliches Schutzniveau gestellt werden muss. Man könne die Zulässigkeit der „Fristenlösung“, so das Höchstgericht in sehr deutlicher Unterscheidung zwischen ethischen und verfassungsrechtlichen Beurteilungen weiter, zwar rechtspolitisch unterschiedlich bewerten,62 doch ändere dies nichts an ihrer Verfassungsmäßigkeit. Diese Entscheidung des VfGH bezog sich zwar auf den Embryo in vivo; es besteht aber kein Zweifel daran, dass nach der Argumentation des VfGH auch der extrakorporale Embryo in der Frühphase der Entwicklung nicht unter einem spezifischen Schutz der Verfassung steht. Das Fristenlösungserkenntnis des VfGH ist zwar bis heute umstritten; ein verfassungsrechtliches Lebensrecht extrakorporaler Embryonen wird aber auch im Schrifttum nur ganz selten – und dann eher mit moralischen als mit verfassungsrechtlichen Argumenten – bejaht.63 Für die ganz herrschende Auffassung liegt der Embryonenschutz außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs.64 Anzufügen 57
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Zum weiten Spektrum deutscher Auffassungen Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht6 (2008) Rz. 726. Eingehend Kopetzki in Kopetzki/Mayer (Hrsg.), Biotechnologie und Recht 24 ff. Umfassende Nachweise bei Kopetzki in Kopetzki/Mayer (Hrsg.), Biotechnologie und Recht 19 ff. VfSlg. 7400/1974 (Fristenlösung). OGH SZ 72/91 (Schadenersatz für unerwünschte Geburt wegen fehlerhafter Pränataldiagnose). VfSlg. 7400/1974: „Wie immer die getroffene Regelung in rechtspolitischer Hinsicht beurteilt werden mag – je nach dem religiösen, weltanschaulichen oder auch wissenschaftlichen Standpunkt des Betrachters kann sie abgelehnt oder auch gutgeheißen werden –, eine den Gleichheitsgrundsatz verletzende Unsachlichkeit kann in der Regelung nicht erkannt werden.“ Z.B. Lewisch, ÖJZ 1990, 141. Nachweise der Diskussion bei Kopetzki in Kopetzki/Mayer (Hrsg.) Biotechnologie und Recht 19 ff.; ders, Art. 2 EMRK, in Korinek/Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bun-
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bleibt, dass auch die (inzwischen erfolglos beendete) rechtspolitische Diskussion im Verfassungskonvent über eine umfassende Verfassungs- und Grundrechtsreform keinerlei Anzeichen erkennen ließ, den grundrechtlichen Lebensschutz de lege ferenda auf die vorgeburtliche Phase (oder gar auf die Phase in vitro) auszudehnen.65 Dieser verfassungsrechtliche Befund macht zugleich klar, weshalb dem Argument eines verfassungsrechtlichen Lebensschutzes extrakorporaler Embryonen schon bei der Ausarbeitung des FMedG keinerlei Bedeutung zukam. Die amtlichen Erläuterungen halten dazu lapidar fest, dass durch das Recht auf Leben nur das geborene Leben geschützt werde und daher „zu dem Phänomen der überzähligen entwicklungsfähigen Zellen, die im Zusammenhang mit einer In-vitroFertilisation entstehen können, ... aus diesem Grundrecht nichts abgeleitet werden“ könne.66 Pointierter lässt sich der Kontrast zur deutschen Diskussion nicht formulieren. Daran dürfte sich wohl auch künftig nichts ändern.
3. Der Embryo und die Menschenwürde Im Ergebnis ähnlich stellt sich die Situation unter dem Aspekt des Schutzes der Menschenwürde dar. Da die österreichische Bundesverfassung – anders als das deutsche Grundgesetz – keine ausdrückliche Menschenwürdeklausel enthält, ist bereits unklar, ob es de constitutione lata überhaupt einen – über die durch die Einzelgrundrechte verbürgten Schutzgüter hinausgehenden – verfassungsrechtlichen Würdeschutz gibt. Es besteht zwar Einigkeit darüber, dass den verfassungsrechtlich verankerten Grundrechten der Leitgedanke des Würdeschutzes „zugrunde liegt“, der in den einzelnen Grundrechtsformulierungen zum Ausdruck kommt. Strittig ist hingegen, ob es sich bei der Menschenwürde um ein – zu den Einzelgrundrechten hinzutretendes bzw. diese ergänzendes – eigenständiges Recht oder Schutzgut im Verfassungsrang handelt.67 Der VfGH hat die Menschenwürde als „allgemeinen Wertungsgrundsatz unserer Rechtsordnung“ anerkannt (VfSlg.
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desverfassungsrecht 5. Lfg. (2002) Rz. 14 ff. Die fehlende Anwendbarkeit des Art. 2 EMRK auf das ungeborene Leben hat nun auch der EGMR bestätigt: Denn die im Fall Evans (EGMR 7. 3. 2006, Appl. 6339/05 = EuGRZ 2006, 389) getroffene Aussage, dass die Festlegung des Beginns des grundrechtlichen Lebensschutzes mangels eines europäischen Konsenses in den Beurteilungsspielraum der Nationalstaaten falle (Ziff. 45), läuft im Ergebnis darauf hinaus, dass die Reichweite der Schutzgewährung gem. Art. 2 EMRK zur Gänze den Vertragsstaaten der EMRK anheim gestellt bleibt. Die EMRK entfaltet also insofern keine eigenständige Bindungswirkung. Vgl. den Bericht des Ausschusses 4 (Grundrechtskatalog) vom 4. 6. 2004, 20 zum Recht auf Leben: „Der vorgeschlagene Artikel bezieht sich – wie schon Art. 2 EMRK (in der Rechtsprechung des VfGH und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte) – auf das geborene Leben“. 216 BlgNR 18. GP 13. Verneinend z.B. Kopetzki in Kopetzki/Mayer (Hrsg.), Biotechnologie und Recht 44 ff.; Eisenberger, FS Funk 2003, 181; bejahend Pernthaler, Ungeschriebene Grundrechte und Grundrechtsprinzipien in der österreichischen Rechtsordnung, FS Öhlinger (2004) 447 ff.; Mayrhofer, Reproduktionsmedizinrecht 113 ff., jeweils m.w.N.
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13635/1993), jedoch offen gelassen, ob dieser Grundsatz auch auf Verfassungsebene besteht. In der Literatur werden zwar wiederholt Würde-Argumente aus der deutschen Verfassungsdiskussion „importiert“, doch sind diese Versuche dem Einwand ausgesetzt, ethische Überlegungen in ein Verfassungssystem zu projizieren, das für die Entwicklung ungeschriebener „Wertungsgrundsätze“ denkbar schlechte Voraussetzungen bietet.68 Doch auch unter jenen Autoren, die einen eigenständigen Schutz der Menschenwürde auf Verfassungsstufe bejahen, besteht nicht einmal ansatzweise Konsens darüber, welche Tragweite dieses Prinzip für den Umgang mit Embryonen aufweist. Die vertretenen Standpunkte sind in dieser Frage ebenso divergent wie in Deutschland, auch die vorgebrachten Argumente unterscheiden sich kaum.69 Soweit die Menschenwürde mittelbar als Schutzgut des Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) von verfassungsrechtlicher Relevanz ist, scheitert dessen Anwendbarkeit schon an der fehlenden Qualifikation embryonaler Zellen als Grundrechtssubjekte. Art. 3 EMRK gibt keine Antwort auf Fragen der Stammzellforschung.70 Auch dieser Bestimmung können keine über den individuellen Grundrechtsschutz (Geborener) hinausgehenden Folgerungen – etwa im Sinne der weitergehenden Menschenwürdegarantie des deutschen Grundgesetzes – entnommen werden. De lege ferenda gehört die Forderung nach einer ausdrücklichen Verankerung der Menschenwürde in der Verfassung zu den „Dauerbrennern“ der verfassungspolitischen Diskussion. Der Grundrechtsentwurf des Österreich-Konvents, der sich eine – inzwischen gescheiterte – Totalreform der Bundesverfassung zum Ziel gesetzt hatte, sah eine solche Garantie vor. Welche Folgerungen sich daraus – sollte der Vorschlag in die Verfassung Eingang finden – für den Embryonenschutz ergeben könnten, ist freilich völlig offen, da sämtliche grundrechtsdogmatischen Streitfragen (Wer ist „Subjekt“ des Würdeschutzes? Drittwirkung unter Privaten? Bedeutung des Würdebegriffs etc.) auch in diesem Zusammenhang neuerlich und unvermindert aufbrechen würden, ohne dass sich daraus ein Gewinn an verfassungsrechtlicher Problemlösungskapazität ergäbe. Die aporetische Würde- und Statusdiskussion hätte dann neben einer ethischen und religiösen Ebene auch noch eine verfassungsrechtliche Dimension, aber vermutlich kaum neue Argumente. Mit Sicherheit kann lediglich gesagt werden, dass eine derart unbestimmte und wertausfüllungsbedürftige Verfassungsbestimmung zu einem beträchtlichen Kompetenzzuwachs des Verfassungsgerichtshofes – und damit zur einer Verschiebung der Gewaltenbalance vom demokratisch legitimierten parlamentarischen Gesetzgeber zum kontrollierenden Verfassungsgericht – führen würde. Ob diese Verschiebung des Entscheidungsgewichts vom Parlament zur Justiz erwünscht ist71 oder ob die anstehenden „biopolitischen Jahrhundertfragen“ nicht 68 69
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Eingehend Kopetzki in Kopetzki/Mayer (Hrsg.), Biotechnologie 44 ff. Vgl. etwa – ein „Instrumentalisierungsverbot“ gegenüber extrakorporalen Embryonen aus dem Grundsatz der Menschenwürde bejahend – Mayrhofer, Reproduktionsmedizinrecht 120. M.w.N. Kneihs, Art. 3 EMRK, in Rill/Schäffer (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht. Kommentar, 5. Lfg. (2007) Rz. 17. Bejahend etwa – schon zur geltenden Rechtslage – Mayrhofer, Reproduktionsmedizinrecht 123.
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doch eher vom (abwählbaren) Parlament getroffen (und bei geänderten Mehrheitsverhältnissen allenfalls wieder revidiert) werden sollten, wird wieder unterschiedlich bewertet. Aus rechts- und demokratiepolitischer Sicht (Vorhersehbarkeit des Entscheidungsverhaltens staatlicher Organe; Festhalten am parlamentarischen Mehrheitsprinzip gerade bei moralisch strittigen Wertungsfragen) sprechen – entgegen dem gegenläufigen „Zeitgeist“ – gute Gründe gegen eine explizite verfassungsrechtliche Menschenwürdegarantie, weil dadurch im Ergebnis hochpolitische Entscheidungen als verfassungsrechtlicher „Wertvollzug“ deklariert und der einfachen Parlamentsmehrheit entzogen werden. Das spricht im Übrigen auch gegen ausdrückliche verfassungsrechtliche Festlegungen in moralisch strittigen Grenzfragen: Die Schwelle für eine rechtliche Neubewertung kontroversieller bioethischer Probleme durch künftige Generationen würde dadurch markant erhöht, da jeder Eingriff in geltendes Verfassungsrecht der Zweidrittelmehrheit im Nationalrat bedarf.
4. Stammzellforschung und grundrechtliche Schutzpflichten Da sich nach österreichischem Verfassungsrecht ein eigenständiger Embryonenschutz als Schranke der Forschung mit embryonalen Stammzellen nicht begründen lässt, gewinnen jene Grundrechte an Gewicht, die für die Zulassung dieser Forschung bzw. der Gewinnung der Stammzellen sprechen. Auf der anderen Seite der verfassungsrechtlichen Waagschale stehen zunächst grundrechtliche Schutzpflichten aus dem Recht auf Privatleben gem. Art. 8 EMRK, die jede staatliche Einschränkung der Entwicklung neuer medizinischer Therapieverfahren unter Nutzung embryonaler Stammzellen an den Nachweis binden, dass das Verbot der Gewinnung oder Verwendung von Stammzellen im Lichte des Art. 8 Abs. 2 EMRK zum Schutz eines der dort genannten Rechtsgüter unbedingt erforderlich ist. Dass eine solche Begründung gelingen könnte, ist angesichts der weitaus liberaleren Rechtslage in den übrigen Vertragsstaaten der EMRK höchst zweifelhaft.72
5. Forschungsfreiheit Noch viel schwerwiegendere Einwände gegen die restriktive Rechtslage in Bezug auf die Gewinnung embryonaler Stammzellen ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Garantie der Forschungsfreiheit gem. Art. 17 StGG.73 Forschungen an diesen Zellen stehen ungeachtet der dagegen erhobenen ethischen Einwände unter dem Schutz dieses Grundrechts. Das hinter der Forschungsfreiheit stehende 72
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Zuletzt kritisch wieder Stelzer, Völker- und gemeinschaftsrechtliche Aspekte embryonaler Stammzellforschung, in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Stammzellforschung 250 (261 f.); ausführlich Kopetzki in Körtner/Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz 64; ders, in Kopetzki/Mayer (Hrsg.), Biotechnologie und Recht 55 ff. Dazu und zum Folgenden m.w.N. Kopetzki in Kopetzki/Mayer (Hrsg.), Biotechnologie und Recht 53 ff.
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Schutzgut ist nicht eine auf künftige Therapien gerichtete „Ethik des Heilens“, sondern das menschliche Streben nach Erkenntnis. Folglich wird die Berufung auf die Forschungsfreiheit nicht dadurch desavouiert, dass die „Heilsversprechungen“ der Embryonenforschung noch ungewiss sind. Ob die damit verbundenen Hoffnungen begründet sind oder nicht, wird die Zukunft zeigen. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung spielt dieser Aspekt keine Rolle, weil der Sinn der Forschungsfreiheit gerade darin liegt, der Wissenschaft das Tor in die – notorisch ungewisse – Zukunft offen zu halten. Für den Schutz der Forschungsfreiheit kommt es auch nicht darauf an, wie „hochrangig“ die angestrebten Ergebnisse sein werden, wie schnell mit ihnen zu rechnen ist, welche therapeutischen Erfolge bereits vorzuweisen sind und welche Alternativen möglicherweise zur Verfügung stehen. Solche – von den Gegnern der embryonalen Stammzellforschung regelmäßig vorgebrachten – Argumente74 mögen für einzelne Forscher oder Institutionen ein mehr oder weniger gutes Motiv für oder gegen die Beteiligung an dieser Forschung abgeben; sie können auch bei der Frage nach der Bereitstellung öffentlicher Fördermittel eine Rolle spielen. Ein legitimer Grund für ein staatliches Verbot solcher Forschungen ergibt sich daraus aber ebenso wenig wie aus dem steten Hinweis auf moralische Bedenken. Wer die Freiheit der Wissenschaft oder auch der Kunst an eine „ethische Unbedenklichkeitsprüfung“ knüpfen möchte, richtet sich im Kern gegen den Wesensgehalt dieser Grundrechte – weder Galileo Galilei noch Arthur Schnitzler hätten diesen zeitgenössischen Ethik-Test bestanden. Gewiss stünde es dem Gesetzgeber auch in Österreich frei, die Forschungsfreiheit zum Zweck des Embryonenschutzes gewissen Einschränkungen zu unterwerfen, solange er dies in allgemeiner, verhältnismäßiger und in sich konsistenter Weise tut. Davon kann hier aber – wie gezeigt – keine Rede sein. Dazu kommt, dass das aus § 9 FMedG ableitbare Verbot der Gewinnung embryonaler Stammzellen aus Embryonen, die ohnehin der Vernichtung preisgegeben sind, primär auf eine Verhinderung der Forschung (und nicht auf den Existenzschutz des Embryos) abzielt75 und daher von einem „intentionalen Eingriff“ in die Forschungsfreiheit gesprochen werden muss. Ein solcher intentionaler Eingriff müsste nach der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes durch ein gegenläufiges – auf den Embryonenschutz gerichtetes – Verfassungsrechtsgut legitimiert werden. Eben dafür ist aber keine verfassungsrechtliche Grundlage in Sicht. Im Ergebnis steht § 9 Abs. 1 FMedG daher im begründeten Verdacht der Verfassungswidrigkeit.76
74 75 76
Statt vieler z.B. L. Kenner, Der Stichtag kann bleiben, FAZ 1. 4. 2000, 35. RV 216 BlgNR 18. GP 20. Näher Kopetzki in Kopetzki/Mayer (Hrsg.), Biotechnologie und Recht 53 ff. Ebenso (zur Verfassungswidrigkeit des Verbots bestimmter Zweige der embryonalen Stammzellforschung) Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht10 Rz. 1507.
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V. Rechtspolitischer Ausblick Aus der Perspektive des Verfassungsrechts sprechen in Österreich also gute Gründe für eine weitgehende Liberalisierung, insbesondere für eine Zulassung der Gewinnung embryonaler Stammzellen aus „überzähligen“ Embryonen aus der Reproduktionsmedizin. Zu welchen rechtspolitischen Ergebnissen die gerade in Gang gekommene öffentliche Diskussion führen wird – und ob es konkrete Ergebnisse überhaupt geben wird –, ist derzeit nicht abzuschätzen. Dass sich anlässlich einer internationalen Tagung des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien im Jänner 2008 die Vertreter aller fünf im Parlament vertretenen politischen Parteien für eine deutliche Liberalisierung ausgesprochen haben, sei angemerkt,77 lässt jedoch keine voreiligen Schlüsse auf die Meinungsbildung in den relevanten politischen „Lagern“ zu. Ein umfangreicher Bericht der Bioethikkommission ist geplant und soll den Boden für eine umfassende Neuregelung aufbereiten. Die Hoffnung, dass sich dabei ein breiter moralischer oder zumindest rechtspolitischer Konsens abzeichnen könnte, ist freilich nicht realistisch. Für das österreichische Rechts- und Verfassungssystem, das in der Befriedung moralischer Dissense in einem pluralistischen Gemeinwesen mit den Instrumenten des positiven Rechts eine gewisse Tradition hat, könnte das aber auch als Herausforderung angesehen werden.
77
Vgl. Der Standard vom 19./20. 1. 2008, 39 („Stammzellen: Parteien für Neuregelung – Bestimmungen sollen gelockert werden“) und Die Presse vom 30. 1. 2008 („Stammzellen: Rot-weiß-rote Grauzone“).
Versicherungsschutz während Krankenhausbehandlung und medizinischer Rehabilitation durch die gesetzliche Unfallversicherung
Otto Ernst Krasney
I. Versicherungsschutz bei Folgen von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten Bei Gesundheitsschäden aufgrund eines Versicherungsfalls der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) haben die Versicherten Anspruch u.a. auf Heilbehandlung, die neben der ambulanten Behandlung auch die Krankenhausbehandlung sowie die ambulanten und stationären Leistungen der medizinischen Rehabilitation erfasst (s. §§ 26, 27 SGB VII, § 26 SGB IX). Kraft besonderer gesetzlicher Regelung sind als mittelbare Folgen des Versicherungsfalls (Arbeitsunfall und Berufskrankheit, s. § 7 Abs. 1 SGB VII) Gesundheitsschäden oder der Tod von Versicherten u.a. „infolge der Durchführung einer Heilbehandlung“ in die Entschädigungspflicht der UV bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten einbezogen (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Komplikationen, die im Ablauf des Behandlung und Rehabilitation selbst auftreten, bereits unmittelbare Unfallfolgen sind. Bei mittelbaren gesundheitlichen Unfallfolgen „infolge“ der „Durchführung“ der Heilbehandlung im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII muss somit ein weiteres Geschehen von außen, außerhalb des reinen Behandlungs- und Rehabilitationsablaufs eintreten. Der Versicherungsschutz erstreckt sich auf alle Verrichtungen, die dazu bestimmt sind, der Behandlung in dem Krankenhaus oder den Rehabilitationsmaßnahmen wesentlich zu dienen. Deshalb sind – um nur einige Beispiele zu nennen – die Patienten oder Rehabilitanden versichert, wenn sie sich auf Wegen zur Teilnahme an Untersuchungen, Behandlungen oder einzelnen Rehabilitationsmaßnahmen befinden. Gleiches gilt für die Wege nach und von den Toiletten oder Badeeinrichtungen. Mit in den Versicherungsschutz einbezogen sind die einzelnen Verrichtungen bei der Durchführung von Behandlungs- oder Rehabilitationsmaßnahmen. Der Versicherungsschutz besteht, wenn der Versicherte z.B. bei der Behandlung vom Behandlungstisch fällt oder der Rehabilitand sich bei einem Rehabilitationstraining verletzt.
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Entsprechend den anderen den Versicherungsschutz in der UV begründenden Verrichtungen ist dabei nicht Voraussetzung, dass die Verrichtungen im Rahmen der medizinischen Behandlung oder medizinischen Rehabilitation von Ärzten oder von den maßgebenden Therapeuten im Einzelnen angeordnet sind. Entscheidend ist auch hier, dass nach der maßgebenden Handlungstendenz der Versicherte aufgrund von objektiven Anhaltspunkten davon ausgehen konnte, die von ihm durchgeführte Verrichtung sei geeignet1, dem Behandlungs- und Rehabilitationserfolg zu dienen. Begibt sich z.B. der Versicherte zum Schwesternzimmer seiner Station, um seinen gelockerten Verband erneuern zu lassen, braucht aber nach der Beurteilung der Schwester der Verband nicht erneuert zu werden, so war der Weg nach und von dem Schwesternzimmer vom Unfallversicherungsschutz erfasst, weil aufgrund des objektiven Bildes (gelockerter Verband) der Versicherte davon ausgehen konnte, zumindest den Rat einer Schwester einzuholen. Gleiches gilt, wenn eine speziell angeordnete Behandlungs- oder Rehabilitationsmaßnahme tatsächlich nicht zu einem Erfolg führt. Der Versicherte ist aber bei einer stationären Behandlung nicht nur bei Wegen zu bestimmten medizinischen Leistungen versichert, sondern ebenso dann, wenn er den alltäglichen Bedürfnissen entsprechende Verrichtungen vornehmen muss, dabei aber durch die besonderen räumlichen Umstände der stationären Einrichtungen verunglückt. Nicht versichert ist der Patient oder Rehabilitand aber, wenn es so genannte wesentlich allein eigenwirtschaftlichen Zwecken zu dienende Verrichtungen sind, wie z.B. der Kauf von Zeitungen im Kiosk des Krankenhauses oder der Rehabilitationseinrichtung. Kraft Gesetzes sind ausdrücklich in den Versicherungsschutz bei Durchführung der Heilbehandlung einbezogen schon die Wege, die der Versicherte unternimmt, um auf Aufforderung des Unfallversicherungsträgers diesen oder eine von ihm bezeichnete Stelle zur Vorbereitung von Maßnahmen der Heilbehandlung, der Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben oder von Maßnahmen nach § 3 der Berufskrankheiten-Verordnung aufzusuchen (s. § 11 Abs. 2 SGB VII). Der Versicherungsschutz umfasst ebenso das Risiko der ärztlichen Behandlung. Liegt ein Behandlungsfehler oder eine unsachgemäße Rehabilitationsmaßnahme vor, so sind die dadurch bedingten gesundheitlichen Schäden Folgen des Versicherungsfalls der UV2. Hier zeigt sich einer der Unterschiede zwischen der für die UV geltenden Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung und der Adäquanztheorie im Zivilrecht. In der UV werden atypische Schadensverläufe aus dem Schutzbereich nicht ausgeschieden. Deshalb erstreckt sich der Versicherungsschutz auch auf außergewöhnliche oder grob fahrlässige Behandlungsfehler 1
2
BSGE 91, 293, 294; BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 19; Krasney in Brackmann/Krasney/ Becker/Burchardt/Kruschinksky, Handbuch der Sozialversicherung, Band 3, Gesetzliche Unfallversicherung, § 8 RdNr 27; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, § 8 RdNr 17; Schwerdtfeger in Lauterbach, Unfallversicherung, § 8 RdNr 31; Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 8 SGB VII RdNr 6.2. BSGE 46, 283, 284; BSG SozR 2200 § 548 Nr 49; Krasney aaO § 11 RdNr 9; Keller aaO § 11 RdNrn 10, 11; Mehrtens aaO § 11 SGB VII RdNr. 4; Ricke in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 11 SGB VII RdNr. 6; Schmitt, SGB VII, 3. Aufl., § 11 RdNr 8; Rapp in LPK-SGB VII, 2. Aufl., § 11 RdNr. 3.
Versicherungsschutz durch die gesetzliche Unfallversicherung
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des Arztes3. Damit ist das Haftungsrisiko des Arztes oder des Krankenhausträgers sowie der nichtärztlichen Therapeuten nicht auf die von den Arbeitgebern finanzierte UV übertragen. Der Träger der UV nimmt im Rahmen des § 116 SGB X Regress. Der Verletzte verliert seine Schadenersatzansprüche wegen fehlerhafter Behandlung oder Rehabilitationsmaßnahmen gegen den Arzt oder den nichtärztlichen Therapeuten nur insoweit, wie seine Ansprüche auf den Träger der UV übergegangen sind. Darüber hinausgehende Ansprüche – z.B. die auf Schmerzensgeld – sind nicht durch die §§ 104 bis 105 SGB VII beschränkt.
II. Behandlung von Gesundheitsstörungen, die keine Folgen eines Versicherungsfalls der UV sind 1. Allgemeine Gesetzeslage Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit sind im Rahmen der UV grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen. Sie dienen, soweit sie nicht für eine unmittelbare oder mittelbare Folge eines Versicherungsfalls der UV getroffen werden (s. I), zwar zugleich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft und damit auch den Interessen des Unternehmens; jedoch sind sie aus der Sicht des Versicherten regelmäßig dazu bestimmt, wesentlich allein der eigenen Gesundheit zu dienen4. Dies ergibt sich auch aus dem vorstehend schon behandelten § 11 SGB VII, der nicht erforderlich wäre, wenn nicht nur die Behandlung von zumindest mittelbaren Folgen eines Versicherungsfalls der UV erfasst sein sollte. Deshalb sind Unfälle während der nicht durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit erforderlichen Krankenhausbehandlung oder einer medizinischen Rehabilitation keine Versicherungsfälle der UV, sofern nicht die Voraussetzungen der unter 2 dargestellten speziellen Regelung erfüllt sind. Das BSG hat selbst beim Besorgen eines Krankenscheines jedenfalls dann, wenn die Behandlungsbedürftigkeit des Kranken nicht auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen ist, regelmäßig keinen Versicherungsschutz angenommen5. Allerdings wurde der Versicherungsschutz beim Aufsuchen des Arztes bejaht, wenn der Besuch wesentlich betrieblichen Interessen diente, z.B. um danach trotz seiner während der Dienstzeit aufgetretenen Gesundheitsstörung weiterhin betriebliche Arbeiten verrichten zu können6. Gleiches gilt für die Wege zum Besorgen eines Arzneimittels, um dadurch die während der versicherten Tätigkeit aufgetretenen gesundheitlichen Störungen wenigstens soweit mildern zu 3 4
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S. hier Fußn. 2, einschränkend Rapp aaO. BSGE 4, 219, 223; 9, 222, 225; 23, 139, 140; SozR 4-2700 § 8 Nr 6; Krasney aaO § 8 RdNr 171: Stichwort: Gesundheitliche Betreuung; Keller aaO § 8 RdNrn 111, 114; Mehrtens § 8 SGB VII RdNr 7.23; Ricke aaO § 8 SGB VII RdNr 80; Ziegler in LPK.SGB VII, § 8 RdNr 128 ff. BSGE 17, 11. BSG SozR 2200 § 548 Nr 31.
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können, dass die aus betrieblichen Gründen erforderliche weitere Tätigkeit im Betrieb ermöglicht wird7. Ein wesentliches betriebliches Interesse und damit Versicherungsschutz hat das BSG beim Aufsuchen einer Werksambulanz angenommen. Es begründete diese Erstreckung des Versicherungsschutzes mit den Vorteilen für das Unternehmen, die nicht nur die Beschäftigten durch die Behandlung befähigen sollen, unmittelbar weiterzuarbeiten. Es hat den inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit außerdem deshalb als gegeben angesehen, weil durch das Aufsuchen der Werksambulanz regelmäßig weniger Arbeitszeit verloren geht sowohl durch die kürzeren Wege als auch dadurch, dass genauere Termine festgelegt werden können als beim Besuch eines Arztes außerhalb des Betriebes. Ebenso hat das BSG die Interessen des Versicherten und des Unternehmens bei Schutzimpfungen abgewogen. Deshalb hat es bei Grippeschutzimpfungen den wesentlichen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit darin gesehen, wenn sie einer besonderen, in der Betriebstätigkeit begründenden Ansteckungsgefahr begegnen sollen8, was z.B. bei Fahrern von öffentlichen Verkehrsmittels oder bei Bediensteten im Gaststättengewerbe ebenso der Fall sein kann wie bei den Tetanusimpfungen der Gärtner. Eine allgemeine Grippeschutzimpfung steht aber nicht schon deshalb im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, weil sie vom Unternehmen empfohlen und sogar finanziert worden ist. Eine Impfung kann jedoch dann wesentlich durch betriebliche Umstände bedingt sein, wenn sie vor einer Dienstreise ins Ausland erfolgt, wo eine besondere Ansteckungsgefahr besteht9.
2. Gesetzliche Sonderregelung a) Geschichtliche Entwicklung Durch § 21 Nr. 13 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974 (RehaAnglG)10 wurde in § 539 Abs. 1 RVO die Nr. 17 u.a. mit dem Buchst. a eingefügt. Danach waren Personen versichert, „denen von einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung oder der gesetzlichen Rentenversicherung oder einer landwirtschaftlichen Alterskasse stationäre Behandlung iS von § 559 gewährt wird“. Vorsorglich sei erwähnt, dass die Verweisung auf § 559 RVO, also eine Vorschrift der UV, lediglich zur Begriffsbestimmung der stationären Behandlung erfolgte und nicht einen Versicherungsfall der UV voraussetzte. Durch Urteil vom 23. Februar 198311 entschied das BSG, dass die von einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung gewährte teilstationäre Behandlung in einer Tagesklinik keinen Unfallversicherungsschutz des Behandelten nach 7
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BSG SozR 2200 § 548 Nr 31; abgrenzend BSG SozR 3-2200 § 548 Nr 43 und SozR 42700 § 8 Nr 6. BSG SozR 2200 § 548 Nr 2. Krasney aaO § 8 RdNr 171: Stichwort: Gesundheitliche Betreuung; Ziegler aaO § 8 RdNr 132 – aber einschränkend auf dem Weg zur und von der Impfung. BGBl I 1881. SozR 2200 § 539 Nr 88.
Versicherungsschutz durch die gesetzliche Unfallversicherung
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§ 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a RVO begründe. Daraufhin ergänzte der Gesetzgeber durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Verbesserung der ambulanten und teilstationären Versorgung psychisch Kranker vom 26. Februar 198612 § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a RVO dahin, dass stationäre Behandlung im Sinne dieser Vorschrift auch die teilstationäre Behandlung in einem Krankenhaus sei. Die Verweisung auf § 559 RVO sicherte zugleich, dass die stationäre Behandlung nicht nur in einem Krankenhaus, sondern auch in „einer Kur- oder Spezialeinrichtung“ erfasst wurde. Es ist den Materialien sowohl des RehaAnglG als auch des Gesetzes vom 26. Februar 1986 nicht zu entnehmen, aufgrund welcher Erwägungen der Gesetzgeber den Versicherungsschutz in der UV auf die stationäre und später teilstationäre Behandlung und Rehabilitation von Gesundheitsstörungen erstreckt hat, die nicht Folge eines Versicherungsfalls der UV sind. Gesprächen mit Vertretern der Gewerkschaften konnte allerdings entnommen werden, dass diese zunächst eine entsprechende Erstreckung des Versicherungsschutzes lediglich auf die Wege nach und von Rehabilitationseinrichtungen vorbrachten, da diese sich regelmäßig anders als z.B. Krankenhäuser nicht in der näheren Umgebung von Rehabilitanden befanden. Ein gewisser Anhaltspunkt hierfür kann sich aus der amtlichen Begründung zum Entwurf des RehaAnglG13 ergeben, wonach der Versicherungsschutz nach der neuen Nr. 17 „sich aufgrund von § 550 RVO auch auf die Wege beziehe, die mit der Krankenhausbehandlung oder berufsfördernden Maßnahme zusammen hängen“. Eine weitere Ausdehnung des Kreises der versicherten Personen iS des § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a RVO erfolgte bei der Überleitung des Rechts der UV in das SGB mit Wirkung vom 1. Januar 1997 und danach durch Art. 7 Nr. 2 Buchst. b des SGB IX vom 19. Juni 200114. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII sind versichert „Personen, die auf Kosten einer Krankenkasse oder eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder einer landwirtschaftlichen Alterskasse stationäre oder teilstationäre Behandlung oder stationäre, teilstationäre oder ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erhalten“. Die Erweiterung des versicherten Personenkreises liegt darin, dass nunmehr auch die Personen versichert sind, die „ambulante“ Leistungen „zur medizinischen Rehabilitation“ erhalten. Die von der Vorschrift des § 539 Abs. 1 Nr. 17 RVO und nunmehr des § 2 Abs. 1 Nr. 15 SGB VII erfassten Personen waren und sind keiner der sonst in § 2 SGB VII aufgeführten Personengruppen zuzurechnen. Es sind dies in erster Linie Versicherte, die eine berufliche Tätigkeit ausüben oder eine vorbereitende Ausbildung durchlaufen, wie z.B. die Beschäftigten sowie die selbständig Tätigen und deren mitarbeitenden Angehörigen, oder die Personengruppen, bei denen die Abgrenzung zwischen Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit sehr schwierig erscheint und die jedenfalls gleich sozial schutzbedürftig sind in der UV wie die Beschäftigten (s. § 2 Abs. 1 Nrn. 1 bis 8 SGB VII), oder Personen, die Tätigkeiten für das – im weitesten Sinne – Gemeinwohl verrichten oder zur Entlastung öffent-
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BGBl I 324. BT-Drucks 7/1237 Seite 66. BGBl I 1046.
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licher Kassen tätig sind (§ 2 Abs. 1 Nrn. 10 bis 13, 16 SGB VII)15. Der Versicherungsschutz nach nunmehr § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII ist dagegen von keinerlei beruflicher oder ehrenamtlicher Tätigkeit abhängig. Die gesundheitsstärkenden Maßnahmen der Behandlung und der Rehabilitation dienen wesentlich allein den persönlichen Interessen der Versicherten und haben auch keinerlei öffentlich anzuerkennende Handlungstendenz. b) Versicherte Personen Es mag rückschauend schon fast seltsam erscheinen, dass nach Einfügung der Nr. 17 Buchst. a in § 539 Abs. 1 RVO zunächst nicht nur vereinzelt die Auffassung vertreten wurde, dass diese Vorschrift lediglich für Behinderte gelte16. Dies beruhte wohl darauf, dass die vorstehend angeführte Ergänzung des § 539 Abs. 1 durch das RehaAnglG erfolgte. Das BSG ist dieser Auffassung nicht gefolgt17. Ihm ist nunmehr wohl das gesamte Schrifttum beigetreten. Maßgebend war, dass das RehaAnglG nicht nur Vorschriften zur Rehabilitation enthielt. Außerdem hat die oben angeführte einschränkende Auffassung im Wortlaut des Gesetzes keinen Ausdruck gefunden. Gerade mit Rücksicht auf die Beschränkung des § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. b und c RVO auf Rehabilitanden hätte es nahe gelegen, die in Buchst. a dieser Vorschrift enthaltene Regelung ebenfalls entsprechend zu fassen. Vor allem aber war Sinn und Zweck dieser Vorschrift nicht zu entnehmen, dass sie nur für behinderte Versicherte oder behinderte Familienversicherte gelten sollte. Untere Berücksichtigung des Gleichheitssatzes wäre zudem zu prüfen gewesen, warum den Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a RVO nur diejenigen Personen erhalten sollten, die bei Beginn der stationären Behandlung zu den Behinderten gehören, während die Personen keinen Versicherungsschutz hätten, bei denen sich erst aus dem Verlauf der Krankheit ergibt, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende wesentliche Beeinträchtigung ihrer Gesundheit handelt. Weder § 539 RVO noch das RehaAnglG enthielt ausreichende Kriterien für eine Abgrenzung zwischen Behinderten und Kranken. Der Krankheitsbegriff der gesetzlichen Krankenversicherung gilt gleichfalls für beide Fälle, für diejenigen, in denen eine Behinderung bereits vor der Behandlung eingetreten war, und für die Fälle, in denen die Behinderung erst drohte oder sich im Laufe der Behandlung ergab. Schließlich wäre die Verweisung auf § 559 RVO kaum verständlich gewesen, wenn nur Behinderte in den Versicherungsschutz einbezogen worden wären. Diese Vorschrift umfasste sowohl Krankenhäuser als auch „Kur- oder Spezialeinrichtungen“. Es muss sich jedoch um Personen handeln, die entweder in der gesetzlichen Kranken- oder der gesetzlichen Rentenversicherung oder landwirtschaftlichen 15
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S. zur so genannten „unechten“ Unfallversicherung Krasney in Ruland/von Maydell/Papier, Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, Festschrift für Hans F. Zacher, Seite 407. U.a. OLG München NJW 1979, 606; OLG Frankfurt/Main VersR 1979, 1025; LG Darmstadt NJW 1979, 605; Ahrends/Udsching NJW 1978, 1666, 1668; Hamacher Die Berufsgenossenschaft 1977, 567; Spitzenverbände der Rehabilitationsträger Die Betriebskrankenkasse 1975, 221, 222. BSG SozR 2200 § 539 Nrn 71, 72.
Versicherungsschutz durch die gesetzliche Unfallversicherung
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Alterskasse pflichtversichert oder freiwillig versichert sind. Dies könnte zu der Frage führen, weshalb die bei einem privaten Krankenversicherer versicherten Personen in § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII nicht mit aufgenommen wurden. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes dürfte jedoch ausscheiden, weil sachliche Gründe für die Beschränkung auf die in der Sozialversicherung versicherten Personen anzuführen sind. Die UV ist Teil der Sozialversicherung. Die bei ihr – der Sozialversicherung – versicherten Personen sollen im Rahmen des § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII den Versicherungsschutz erhalten. Zwar scheiden in der Krankenversicherung versicherte Personen aus diesem Versicherungsschutz grundsätzlich aus, wenn sie die Versicherungspflichtgrenze (nunmehr) gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V mehr als drei Jahre überschreiten. Sie können sich danach jedoch im begrenzten Rahmen des § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V freiwillig weiter versichern. Wer diese Möglichkeit nicht wahrnimmt, sondern sich in eine private Krankenversicherung begibt, der entscheidet sich hinsichtlich des Versicherungsschutzes nach § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII ebenfalls gegen den Schutz der Sozialversicherung. Entsprechendes gilt für die Personen, die nicht oder nicht ausreichend lange in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert waren und sich deshalb nicht freiwillig weiterversichern können. Umstritten ist, ob Versicherte, die gemäß § 13 SGB V Kostenerstattung anstelle der Sach- und Dienstleistungen gewählt haben, ebenfalls zu den nach § 8 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII versicherten Personen gehören18. Hiergegen wird vorgebracht19, dass der Sozialversicherungsträger mit den Behandlungseinrichtungen jederzeit und ausnahmslos alle Bedingungen vertraglich festlegen könne, die die Behandlung derjenigen Patienten betreffen, denen er die entsprechende Sachleistung gewährt20. Der Versicherungsschutz der von § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII erfassten Personen wirkt sich, wie unter 4 noch näher dargelegt wird, vornehmlich bei Unfällen aus, die durch die Besonderheiten der Behandlungsoder Rehabilitationsstätte verursacht sind. Insoweit ist aber eine Einflussnahme der Krankenkassen kaum rechtlich, jedenfalls aber tatsächlich nicht nennenswert gegeben. Sie haben weder auf die räumliche Gestaltung noch auf die jeweils anfallenden Verrichtungen der Versicherten einen nennenswerten Einfluss. Ebenso ist zu beachten, dass jeweils im Regelfall der weitaus überwiegende Teil der Patienten und Rehabilitanden die Krankenhausbehandlung und die medizinische Rehabilitation durch die Krankenkassen oder sonstigen Rehabilitationsträger in der Form von Sach- und Dienstleistungen erhalten. Die den Krankenkassen vielleicht mögliche Einflussnahme auf die Behandlungseinrichtungen wirkt sich dann ebenso zugunsten der Versicherten aus, welche die Kostenerstattung gewählt haben. Der Einbeziehung der Versicherten in den Schutz des § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII, die gemäß § 13 SGB V Kostenerstattung gewählt haben, steht nicht die
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Schlegel in Schulin Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2 Unfallversicherungsrecht, § 18 RdNr 32; Riebel in Hauck/Noftz, SGB VII, § 2 RdNr 221. Mehrtens aaO § 2 SGB VII RdNr 29.6; zweifelnd Kruschinsky, aber wohl verneinend aaO § 2 RdNr 712a; Ricke aaO § 2 SGB VII RdNr 82; Richter in LPK-SGB VII § 2 RdNr 171. Kruschinsky aaO § 2 RdNr 712a.
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Entscheidung des BSG vom 22. März 198321 entgegen. In diesem Urteil hatte das BSG § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a RVO für nicht anwendbar angesehen, wenn der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung seinem Mitglied zu einer von diesem mit einem Spezialinstitut vereinbarten stationären Behandlung nur einen Zuschuss aus Mitteln der Gesundheitsfürsorge zubilligt. Insoweit ist zu beachten, dass § 13 SGB V – anders als die Mittel aus der Gesundheitsfürsorge – Regelleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung betrifft und der Gesetzgeber es in die Entscheidungsfreiheit des Versicherten gestellt hat, ob er Sach- und Dienstleistung oder Kostenerstattung wählt. Zwischen der Krankenkasse und dem Spezialinstitut, in dem die für die Entscheidung des BSG maßgebende Behandlung stattgefunden hatte, waren keine „Vereinbarungen“ getroffen. Hinsichtlich der gesetzlich vorgesehenen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen jedoch für alle in den Krankenhausplan aufgenommene oder für die von den Krankenkassen zugelassenen Krankenhäuser Vereinbarungen. Und soweit sich diese Vereinbarungen in für den Unfallversicherungsschutz wesentlichen Bereichen auswirken, sind sie generell getroffen und unterscheiden nicht zwischen Versicherten, welche die Krankenhausbehandlung als Sach- und Dienstleistung erhalten und solchen, welche sie zunächst persönlich finanzieren und dann Kostenerstattung verlangen.
3. Behandlungsarten Unter II 2 wurde bereits darauf hingewiesen, dass die von § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a RVO erfassten Behandlungsarten sich zunächst auf die stationäre und später auch auf die teilstationäre Behandlung erstreckten. Zur stationären und teilstationären Behandlung gehören nicht nur therapeutische sondern ebenso vorangehende oder ihr zwischengeschaltete oder ihr folgende diagnostische Maßnahmen22. Dagegen fällt eine rein pflegerische Betreuung nicht unter § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII23. Nunmehr sind in § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII die „ambulanten Leistungen zur medizinischen Rehabilitation“ mit enthalten. Diese Erweiterung wurde nicht auf die „ambulante Behandlung“ im Sinne dieser Vorschrift erstreckt. Insoweit kann man unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes doch schon von einem gewissen verfassungsrechtlichen Restrisiko sprechen. Es ist nicht leicht verständlich, weshalb ein Versicherter, der sich vor der ambulanten medizinischen Leistung zur Rehabilitation in die erforderliche ambulante medizinische Behandlung begibt, den Versicherungsschutz nach bei dieser Vorschrift nicht erhalten soll. Ohne eine noch als erforderlich angesehene vorangehende ambulante medizinische Behandlung wären die Leistungen der medizinischen Rehabilitation nicht möglich gewesen. Die Erweiterung des Versicherungsschutzes auf ambulante medizinische Leistungen der Rehabilitation war zwar schon im Regierungsentwurf
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SozR 2200 § 539 Nr 89. BSG Urteil vom 29. 2. 1984 – 2 RU 25/83 – Die Betriebskrankenkasse 1984, 445; Kruschinsky aaO § 2 RdNr 717. Mehrtens aaO § 2 SGB VII RdNr 29.6; Kruschinsky aaO § 2 RdNr 713.
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zum SGB IX vorgesehen, aber eine Begründung24 enthält der Entwurf nicht. Der Versicherungsschutz bei der – zunächst nur – stationären Behandlung war im Rahmen des § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a iVm § 548 RVO von Rechtsprechung und Schrifttum (s. unter 4 Buchst.a) vornehmlich damit begründet, dass der Versicherte sich in eine besondere Einrichtung begeben müsse und dort überwiegend anderen Risiken als zu Hause ausgesetzt sei. Dies gilt aber nicht nur, wie nunmehr allgemein festgelegt ist, für die stationäre und teilstationäre Behandlung, sondern letztlich auch für ambulante Behandlungen, die jedoch anders als ambulante medizinische Leistungen zur Rehabilitation nicht die Zugehörigkeit zum versicherten Personenkreis begründen können. Außerdem besteht hinsichtlich des Behandlungserfolges oder Behandlungsmisserfolges kein wesentlicher Unterschied zwischen Kranken, die stationär oder teilstationär behandelt werden, und denen, deren Behandlung ambulant durchgeführt wird. Man könnte zur Begründung des Ausschlusses der ambulanten Behandlung vom Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII anführen, bei der stationären und teilstationären Behandlung sowie bei den stationären, teilstationären und ambulanten medizinischen Leistungen zur Rehabilitation seien regelmäßig die Zeitpunkte für den Beginn und das voraussichtliche Ende der Leistungen im Voraus bestimmt, während ambulante Behandlungen sehr häufig von Versicherten in Anspruch genommen werden, ohne vorher mit dem Arzt einen Termin zu vereinbaren. Abgesehen davon, dass damit auch die Fälle einer festen Terminabsprache mit ausgeschlossen bleiben, erscheint es nicht überzeugend als tragenden Gesichtspunkt für eine unterschiedliche Behandlung lediglich Beweisschwierigkeiten anzuführen. Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass in den Fällen, in denen eine vorherige Terminabsprache für die ambulante Behandlung nicht stattgefunden hat, aus dem Verlauf der Erkrankung häufig Anhaltspunkte dafür gewonnen werden können, ob der oder die Versicherte sich tatsächlich auf dem Wege zu einer ambulanten Behandlung befunden hat. Man wird aber die unterschiedliche Regelung für die ambulante Behandlung einerseits und die ambulante Leistung der Rehabilitation andererseits doch noch dem Entscheidungsfreiraum des Gesetzgebers zuordnen können.
4. Versichertes Risiko a) Verrichtungen der Versicherten Für die nach § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII versicherten Personen ist ein Unfall nur dann ein Arbeitsunfall, wenn er „infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit)“ eingetreten ist (s. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Verrichtung, bei welcher der Versicherte verunglückt ist, muss der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sein. Das ist der Fall, wenn ein „innerer Zusammenhang“ zwischen der zum Unfall führenden Verrich-
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BT-Drucks 14/5074 zu Art 7 Nr 2; Gleiches gilt – da kein Änderungsvorschlag – für den Ausschussbericht BT-Drucks 14/5800.
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tung und der versicherten Tätigkeit besteht25. Anders als überwiegend sonst in der UV, bei der es insoweit nicht wesentlich allein auf Ort oder Zeit der Verrichtung ankommt, ist im Rahmen der vorstehend angeführten Vorschrift der Versicherungsschutz davon abhängig, dass die Verrichtung örtlich und zeitlich während einer stationären oder teilstationären Behandlung oder einer stationären, teilstationären oder ambulanten Leistung der medizinischen Rehabilitation stattgefunden hat. Aber allgemein ist – wie sonst in der UV – wertend zu entscheiden, ob das Handeln der Person zur versicherten Tätigkeit gehört. Ebenso wie die Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Bedingung im Rahmen der Kausalität ist die Entscheidung über den inneren Zusammenhang eine Wertentscheidung, die eine wesentliche Verknüpfung der infrage stehenden Verrichtung mit der versicherten Tätigkeit voraussetzt. Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenzen liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der UV reicht. Trotz aller wegen der maßgeblichen Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls unvermeidlichen Kasuistik haben Rechtsprechung und Schrifttum allgemeine Kriterien und Grundsätze für die Wertung herausgearbeitet. Es ist jedoch nicht möglich, einheitliche Zurechnungskriterien für alle nur möglichen Verrichtungen oder wenigstens für sämtliche Betätigungsbereiche zu entwickeln, wohl aber beschränkt auf jeweils einige Tätigkeitsfelder. Für die Tätigkeit im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses wird als kennzeichnend angesehen, dass sie den Zwecken des Unternehmens zu dienen bestimmt ist. Es kommt somit auf die Handlungstendenz des Versicherten an. Dieses Kriterium ist aber insoweit für den Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII nicht tauglich, als es auf die Zwecke des Unternehmens abstellt. Entscheidend ist es vielmehr im Rahmen dieser Vorschrift, ob die Verrichtung dazu bestimmt war, den Zwecken der Behandlung oder der medizinischen Leistung zu dienen. Ebenso wie allgemein in der UV beurteilt sich dies nicht danach, ob die Verrichtung der Behandlung oder medizinischen Leistung der Rehabilitation hinsichtlich der einzelnen, zum Unfall führenden Verrichtung speziell angeordnet und ob sie tatsächlich objektiv dienlich war. Vielmehr ist im Rahmen des § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII ausreichend, dass der Versicherte von seinem Standpunkt aus aufgrund objektiver Anhaltspunkte der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, der Behandlung oder Rehabilitation zu dienen. Deshalb hat das BSG einen Spaziergang während der Behandlung der medizinischen Leistung zur Rehabilitation nicht deshalb vom Versicherungsschutz ausgenommen, weil er im Rahmen der Behandlungen oder medizinischen Leistungen nicht ausdrücklich zu einem bestimmten Zeitpunkt und für einen bestimmten Weg vorgeschrieben oder angeordnet war26. Allerdings wird der Versicherungsschutz insoweit nicht begründet, wenn die beteiligten Personen lediglich der rechtlichen Auffassung sind, bei der Tätigkeit bestehe Versicherungsschutz. Davon zu trennen ist die Sachlage, dass der Versicherte aufgrund objektiver Anhaltspunkte davon ausgehen konnte, die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen des Versicherungsschutzes seien gegeben. Der Versicherungsschutz ist auch 25 26
U.a. BSGE 58, 76, 77; 93, 279, 280; BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 19. BSG Urteil vom 17. 10. 1990 – 2 RU 61/89; BSG SozR 2200 § 539 Nrn 48, 84.
Versicherungsschutz durch die gesetzliche Unfallversicherung
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im Rahmen des § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII nicht ausgeschlossen, wenn die Verrichtung – z.B. der Spaziergang – objektiv keinen Nutzen für die Behandlung oder die Rehabilitation gebracht hat, z.B. weil der Versicherte sich dabei zu sehr angestrengt hat oder umgekehrt eine Wegstrecke gewählt hat, bei der nicht die optimale Belastung für ihn erreicht wurde. Dagegen sind allein privaten Interessen zu dienen bestimmte Verrichtungen wie u.a. Besuch eines Cafés oder einer kulturellen oder geselligen Veranstaltung nicht mit in den Versicherungsschutz einbezogen27. Ähnlich wie bei Dienstreisen besteht jedoch Versicherungsschutz, wenn der Versicherte in der stationären Einrichtung einer mit ihr verbundenen besonderen Gefahr erlegen ist. Die Rechtsprechung hat dies u.a. für das Ausrutschen beim Waschen eines Fußes in einem hoch angebrachten Waschbecken28, beim Einstellen eines auf den Schrank im Krankenzimmer bestehenden Fernsehgerätes29, für den Sturz beim Duschen nach dem Thermalbad30 oder für den Weg zum gemeinsamen Essen im Speiseraum bejaht31. Keinen Versicherungsschutz hat die Rechtsprechung angenommen beim Sturz in der Nasszelle ohne durch den stationären Aufenthalt bedingte räumliche Besonderheiten32. Im Ergebnis orientiert sind das BSG an seiner Rechtsprechung zum Versicherungsschutz während Dienst- und Geschäftsreisen33. Versicherungsschutz besteht auch auf dem Wege nach und von dem Ort der stationären oder teilstationären Behandlung. b) Risiko der ärztlichen Behandlung nicht erfasst Schon bald nach Inkrafttreten des § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a RVO war umstritten, ob auch das Risiko der ärztlichen Behandlung selbst Gegenstand des Versicherungsschutzes ist34. Sowohl nach der Rechtsprechung des BSG35 als auch des Bundesgerichtshofes (BGH)36 ist dies jedoch nicht der Fall. Dabei konnte dahinstehen, ob eine aus welchen Gründen auch immer misslungene ärztliche Behandlung überhaupt ein Unfall i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist. Die gesetzliche Definition des Unfalls entspricht der, wie sie vor Inkrafttreten des SGB VII von der Rechtsprechung unter einhelliger Zustimmung des Schrifttums entwickelt wurde. Das BSG nahm zu dieser Frage deshalb keine abschließende Stellung, weil es die Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes
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BSG SozR 2200 § 539 Nr 84. BSG SozR 2200 § 539 Nr 72. BSG Urteil vom 12. 5. 1981 – 2 RU 7/80. BSG Urteil vom 17. 10. 1990 – 2 RU 61/89. BSG Urteil vom 17. 10. 1990 – 2 RU 61/89. BSG Urteil vom 22. 11. 1984 – 2 RU 43/83. Gitter, Die Sozialgerichtsbarkeit, 1982, 221. Bejahend u.a. OLG Frankfurt/Main NJW 1978, 1203; Sanftleben VersR 1978, 403; Küchenhoff, Die Sozialgerichtsbarkeit, 1978, 457. BSGE 46, 283, 284; BSG SozR 2200 § 539 Nrn 56, 71, 72, SozR 2200 § 548 Nr 59, SozR 3-2200 § 539 Nr 2. Vgl. BGHZ 79, 216; bei einer Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des BSG hätte der BGH den Gemeinsamen Senat angerufen.
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vermeiden wollte. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG)37 hatte entschieden, dass ein missglückter ärztlicher Eingriff als Unfall angesehen werden könne. Die Auffassung, dass die ärztliche Behandlung mit zum versicherten Risiko der in § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII aufgeführten Personen gehöre, hätte dazu geführt, dass die UV für jeden Misserfolg einer stationären Behandlung oder einer medizinischen Leistung der Rehabilitation einzustehen hätte, soweit das ärztliche Missgeschick bei der Behandlung die Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfüllt hätte. Eine Beschränkung des Versicherungsschutzes auf ärztliche Kunstfehler wäre schon deshalb nicht in Betracht gekommen, weil die Entschädigung aus der UV nicht auf Unfälle beschränkt ist, bei denen den Verursacher ein Verschulden trifft. Ein so weitgehender Versicherungsschutz mit den damit zwangsläufig verbundenen Rechtsfolgen war und ist der gesetzlichen Regelung zum Versicherungsschutz während der Behandlungen und der medizinischen Leistungen zur Rehabilitation iS des § 2 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. a SGB VII nicht zu entnehmen. Die Einbeziehung des ärztlichen Risikos in den Versicherungsschutz bei stationärer und teilstationärer Behandlung hätte zudem dazu geführt, dass sowohl die Ärzte als auch die Patienten einer an sich aus ärztlicher Sicht möglichen ambulanten Behandlung doch, soweit die irgendwie möglich, eine stationäre oder teilstationäre vorgezogen hätten. Allerdings wird man davon ausgehen müssen, dass auch eine Einbeziehung des Risikos der ärztlichen Behandlung in den Versicherungsschutz nicht zu einer Haftungsminderung der Ärzte nach den §§ 104 ff. SGB VII (vormals §§ 636 ff. RVO) führen würde38. Dennoch wäre es nicht überzeugend, zunächst einmal mit den Beiträgen der Krankenversicherung, die wiederum durch die Versicherten und die Unternehmer aufgebracht werden, das Risiko der ärztlichen Behandlung mit in der UV abzusichern. Zwar wäre es den Trägern der UV unbelassen geblieben, bei schuldhaften Behandlungsfehlern Rückgriff bei den Ärzten zu nehmen, jedoch erscheint dies im Hinblick auf die damit verbundenen und vom Träger der UV zu tragenden Verwaltungskosten und nicht selten ebenso die Prozesskosten nicht angemessen. Das BSG hat seiner Grundentscheidung folgend den Versicherungsschutz in einem Fall versagt, in dem nach einer Meniskusoperation eine Wundinfektion eingetreten war, da zur ärztlichen Behandlung auch die erforderliche sterile Durchführung der Operation gehöre39. Ferner hat es die mit der Entwicklung und dem Verlauf der zur stationären Behandlung führenden Erkrankung selbst verbundenen Risiken nicht zum Gegenstand des Versicherungsschutzes gerechnet40. Die Abgrenzung des ärztlichen Risikos gegenüber anderen Maßnahmen während der stationären oder teilstationären Behandlung oder der stationären, teilstationären oder ambulanten medizinischen Leistung zur Rehabilitation von dem auf allgemeine oder spezielle Anordnung tätig werdenden nichtärztlichen Personal, schien zunächst zahlreiche weitere Entscheidungen vorauszusagen. Dies dürfte 37 38
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BVerwGE 23, 201, 204. BSG SozR 2200 § 639 Nr 1: Keine Haftungsbeschränkung für Träger des Krankenhauses; BGHZ 79, 216. BSG Urteil vom 31. 10.1978 – 2 RU 70/78. BSG SozR 2200 § 539 Nrn 56, 71, SozR 3-2200 § 539 Nr 2.
Versicherungsschutz durch die gesetzliche Unfallversicherung
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wohl deshalb nicht eingetreten sein, weil auch das Tätigwerden des nichtärztlichen Personals aus entsprechenden Erwägungen wie das Risiko der ärztlichen Behandlung nicht vom Versicherungsschutz umfasst wird. Insoweit wird ebenfalls eine Haftungsminderung im Rahmen der vorstehend aufgeführten Vorschriften nicht anzunehmen sein, da das Krankenhaus gegenüber dem behandelten Versicherten weder Unternehmer i.S. des § 104 ist, noch das nichtärztliche Personal Personen i.S. des § 105 SGB VII sind, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebes verursachen. Schließlich fällt auch das nichtärztliche Personal nicht unter die in § 106 SGB VII aufgeführten Personen. Im Hinblick auf die detaillierte Bestimmung der „anderen Personen“, die in die Haftungsbeschränkung durch § 106 SGB VII einbezogen sind, kommt eine analoge Anwendung jedenfalls auf im Zeitpunkt des Inkrafttretens des SGB VII bereits bekannte Personengruppen nicht in Betracht. Damit verbleiben den infolge der stationären oder teilstationären Behandlung oder der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gesundheitlich geschädigten Versicherten alle zivilrechtlichen Ansprüche gegenüber den Trägern des Krankenhauses sowie den ärztlichen und nichtärztlichen Therapeuten, soweit die Schadenersatzansprüche – wie insbesondere das Schmerzensgeld – nicht auf den Träger der UV gemäß § 116 SGB X übergegangen sind.
Überwachung und Prüfung der Transplantationsmedizin
Hans Lilie In vielfältiger Weise hat Erwin Deutsch seine Skepsis gegenüber dem Transplantationsgesetz vom 5. November 19971 zum Ausdruck gebracht. Viele Einzelregelungen waren mit seinem Verständnis von Medizinrecht nicht vereinbar2, in Gesprächen und Diskussionen hat er seine Bedenken gegenüber zentralen Regelungen des TPG zum Ausdruck gebracht. Vielleicht bietet deshalb dieser Beitrag dem Urgestein des deutschen und europäischen Medizinrechts weitere Einblicke in die komplexen Probleme, die sich aus dem praktischen Umgang mit dem Transplantationsgesetz in jüngster Zeit ergeben haben. In den legendären von den beiden Freunden Erwin Deutsch und Hans-Ludwig Schreiber schon in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts veranstalteten medizinrechtlichen Seminaren hat man damals als Student bei den Vorbesprechungen gelernt, dass komplexe Probleme durch vorangestellte Beispiele anschaulich gemacht werden können. Es geht darum, wie mit Verstößen gegen das Transplantationsgesetz oder den auf der Basis des Transplantationsrechts verabschiedeten Richtlinien in der Lebenswirklichkeit der Transplantationsmedizin umzugehen ist, wie man diese Verstöße aufklären kann und welche Sanktionsmöglichkeiten überhaupt bestehen, wenn sich Ärztinnen und Ärzte, aber auch andere Organisationen wie Eurotransplant oder die DSO nicht an die Regeln des Transplantationsgesetzes halten. Vor wenigen Jahren erregte ein besonders dramatischer Fall, der kein Einzelfall geblieben ist, das Aufsehen der Presse und der an der Transplantationsmedizin Interessierten: In Berlin wurde bei einem Mann der Hirntod festgestellt und seine Angehörigen in der Folge um eine Organspende nachgefragt. Die Angehörigen zeigten sich von vornherein aufgeschlossen, machten aber ihre Zusage zur Organentnahme davon abhängig, dass die Ehefrau des Verstorbenen, die auf der Warteliste für eine Nierentransplantation stand, eine der beiden Nieren ihres Ehemanns zur Transplantation zur Verfügung gestellt bekomme. Hintergrund dieses Anliegens war die Tatsache, dass bereits vor längerer Zeit zwischen dem Ehepaar Einigkeit darüber erzielt worden war, dass angesichts der hoffnungslos langen Wartezeit eine Lebendspende des Ehemanns für die Ehefrau eine bessere Lösung sei.
1 2
BGBl. I Nr. 74, S. 2631 f. Deutsch, Erwin, Das Transplantationsgesetz vom 5.11.1997, NJW 1998, S. 777; ders. Zum geplanten strafrechtlichen Verbot des Organhandels, ZRP 1994, S. 179.
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Hans Lilie
Die Verantwortlichen von Eurotransplant, DSO, der Bundesärztekammer und des Transplantationszentrums haben intensiv miteinander diskutiert und dem menschlich nachvollziehbaren Anliegen zugestimmt. So kam es zur Multiorganspende, wobei eine der Nieren auf die Ehefrau transplantiert wurde. § 12 Abs. 3 des Transplantationsgesetzes regelt, dass die Niere, ein vermittlungspflichtiges Organ, von der Vermittlungsstelle nach den Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit für geeignete Patienten zu vermitteln ist . Dabei sind die Wartelisten der Transplantationszentren als einheitliche Liste zu behandeln. Das Transplantationsgesetz sieht also keine gerichtete Transplantation von Organen von Verstorbenen an einzelne Personen vor. Vielmehr sind die medizinischen Kriterien nach Maßgabe des Standes der bundeseinheitlichen Warteliste maßgeblich. Die Kritik an dieser Entscheidung ging so weit, dass aus der Presse der Vorwurf erhoben wurde, dass sich einige ältere Herren selbstherrlich über das Transplantationsgesetz hinweggesetzt hätten. Diese hatten freilich die Situation juristisch sorgfältig geprüft und sich auf die Notstandsregeln berufen. 3 Zur Begründung wurde angeführt, dass die gerichtete Organspende sichergestellt hat, dass alle übrigen Organe überhaupt für Patienten auf Wartelisten zur Verfügung gestanden hätten. Hätte man sich nicht zu dem Verstoß gegen das Transplantationsgesetz entschieden, wären die Organe für alle anderen Patienten verloren gewesen. Angesichts dieser Rettungschancen für die Empfänger von Herz, Lunge, Leber, Niere und Pankreas war die Zustimmung zur Transplantation der einen Niere an die Ehefrau des Verstorbenen ethisch vertretbar und juristisch gerechtfertigt. Ein zweiter Fall beschreibt mögliche Verstöße durch Transplantationszentren selbst. Ein deutsches Transplantationszentrum unterhielt Kooperationen mit einem Krankenhaus im Ausland und hatte eine Reihe von Patienten aus diesem ausländischen Krankenhaus auf der einheitlichen Warteliste bei Eurotransplant gemeldet. Als einem der ausländischen Patienten auf der Warteliste ein Organ zugeteilt wurde, befand sich dieser Patient aber entgegen der Bekundung des Transplantationszentrums nicht in dieser Klinik, sondern hielt sich in seinem Heimatland auf. Gegenüber der Vermittlungsstelle erweckte das Transplantationszentrum den Eindruck, dass sich der Patient in Deutschland aufhielt und akzeptierte für ihn das Organ. Tatsächlich reiste ein Team dieser Klinik nach Entnahme des Spenderorgans mit dem Spendeorgan ins Ausland und transplantierte dort den Patienten, der zu allem Unglück auch unmittelbar nach der Transplantation verstarb, als das deutsche Transplantationsteam schon wieder die Rückreise angetreten hatte. Zunächst einmal ist es grundsätzlich möglich, ausländische Patienten auf die Wartelisten zu melden. Nach der so genannten Non-ET-Resident-Regel, einer freiwilligen Vereinbarung aller Transplantationszentren, die vom Transplantationsgesetz nicht vorgeschrieben ist, haben sich diese Transplantationszentren gegenüber Eurotransplant verpflichtet, nicht mehr als 5 % der transplantierten Patienten des Vorjahres als Ausländer auf der Warteliste anzumelden.4 Auf der Basis 3
4
Ausführlich zur Anwendbarkeit der Notstandsvorschriften auf das Transplantationsgesetz, vgl. Diettrich, Organentnahme und Rechtfertigung durch Notstand? S. 65 ff. Ausführlich zu den Problemen der so genannten Non-ET-Residents, Lautenschläger,
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der von der Bundesärztekammer verabschiedeten Richtlinien nach § 16 TPG ist davon auszugehen, dass Organe grundsätzlich nur auf Patienten übertragen werden sollen, deren Aufenthaltsort im Geltungsbereich des TPG ist. Damit stellt sich die Frage, wie mit einem Transplantationszentrum umzugehen ist, das gegenüber Eurotransplant vorgaukelt, dass die entsprechenden Patienten in Deutschland behandelt würden, obwohl sie sich in Wirklichkeit im Ausland aufhalten und dort auch transplantiert werden sollen. Sicherlich gibt es keine Zweifel daran, dass eine sorgfältige und zuverlässige Kontrolle des Verhaltens aller Beteiligten am Transplantationssystem sichergestellt werden muss. Neben den Straf- und Bußgeldvorschriften der §§ 18 bis 20 TPG enthält das Transplantationsgesetz darüber hinaus einige, wenn auch nur sehr schwach ausgebildete, weitere Kontrollmechanismen. Insbesondere ist auffällig, dass das Transplantationsgesetz nicht über tiefer gehende Kontrollmechanismen, wie sie etwa in § 52 Bundesimmissionsschutzgesetz oder in den §§ 9 und 21 WHG vorgesehen sind, verfügt. Die in § 11 Abs. 3 Satz 1 und § 12 Abs. 5 Satz 1 TPG vorgesehenen Genehmigungen helfen für die oben geschilderten Fallkonstellationen nicht weiter. Konkretere Aussagen zu Kontrollen findet man erst in den §§ 11 Abs. 3 Satz 3 und 12 Abs. 5 Satz 3 TPG, die gleich lautend regeln, dass die Spitzenverbände der Krankenkassen mit der Bundesärztekammer und der Deutschen Krankenhausgesellschaft gemeinsam die Einhaltung der Vertragsbestimmungen überwachen. In der Praxis des Alltags der Transplantationsmedizin haben die so genannten Auftraggeber, also die Spitzenverbände der Krankenkassen, die Bundesärztekammer und die Deutsche Krankenhausgesellschaft auf der Basis der Verträge nach § 11 und 12 TPG die dort geregelten Überwachungsaufgaben in § 4 ihres gemeinsamen Vertrages der so genannten Prüfungs- und der Überwachungskommission übertragen. So ist diesen beiden Kommissionen, die aus Praktikabilitätsgründen bei der Bundesärztekammer angesiedelt sind, praktisch die Kontrolle des Transplantationssystems übertragen. Gemäß § 11 Abs. 3 und § 12 Abs. 5 bedürfen die Verträge über die Zusammenarbeit mit der Koordinierungsstelle und der Vermittlungsstelle der Genehmigung durch das Bundesministerium für Gesundheit und sind im Bundesanzeiger bekannt zu machen. Eine weitere direkte Beteiligung seitens des Staates ist im Transplantationsgesetz nicht vorgesehen, sodass die Kontrolle der Beteiligten an der Organspende und Organtransplantation sowie der Organallokation der Überwachungs- und Prüfungskommission überlassen bleibt. Eine weitere Möglichkeit zur Einflussnahme besteht nur sehr indirekt, nämlich im Wege der staatlichen Aufsicht über die Landesärztekammern, die wiederum der Bundesärztekammer angehören.5 Will man die oben genannten Beispiele als Verstöße gegen das Transplantationsgesetz untersuchen, so bleibt – abgesehen von strafrechtlichen Verstößen, an die man möglicherweise bei dem ersten Fall denken könnte – keine andere Kontrollmöglichkeit als die durch die Überwachungs- bzw. Prüfungskommission.
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Der Status ausländischer Personen im deutschen Transplantationssystem. Zu den Einzelheiten siehe ausführlich Berger, Bundesärztekammer, Eine verfassungsrechtliche Studie zu Status, Organisation und Aufgaben, S. 63 f.
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I. Die Überwachungskommission Mangels konkreter gesetzlicher Regelungen haben die Auftraggeber in ihrer Vereinbarung mit der DSO die Zusammensetzung und Aufgabenstellung der Überwachungskommission vertraglich geregelt. Auf der Basis der in § 4 Abs. 2 des Vertrages getroffenen Regelungen hat die Überwachungskommission eine zugegebenermaßen sehr knappe und wenig inhaltsreiche Geschäftsordnung verfasst. Die Überwachungskommission setzt sich aus neun Mitgliedern zusammen, die für eine Amtszeit von drei Jahren benannt werden. Auf der Basis des gleichen Vertrages darf jeder der Vertragspartner jeweils drei Mitglieder für die Kommission benennen. Die Kommission wählt ihren Vorsitzenden, der der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer und den Auftraggebern berichtet. Interessant ist, dass in dem Vertag geregelt ist, dass jede der Vertragsparteien nur über eine Stimme verfügt und die Beschlüsse einvernehmlich zu fassen sind. Schon diese Regelung zeigt recht anschaulich, dass die beteiligten Parteien, also die DSO und die übrigen Auftraggeber, oder wie sie gelegentlich genannt werden Vertragspartner, von vornherein wohl – und das muss man heute sagen – irrtümlicher Weise davon ausgegangen sind, dass alle Beschlüsse und die ganze Arbeit der Kommission nur in großer Harmonie erfolgreich sein würde.
II. Die Prüfungskommission Die Prüfungskommission, die auf der gleichen Basis wie die Überwachungskommission zu Stande gekommen ist, setzt sich freilich etwas anders zusammen. Das erklärt sich aus der Tatsache, dass die zu prüfende Stiftung Eurotransplant für die Organallokation zuständig ist und damit auch in die unterschiedlichen Fächer der Transplantationsmedizin eingreift. Aus dieser Tatsache heraus ist es notwendig, dass die Überwachung der Tätigkeit der Vermittlungsstelle auch fachspezifisch erfolgt. Hier geht es also nicht wie bei der Überwachungskommission um die sorgfältige Beobachtung der gesamten Tätigkeit der Koordinierung der Organspende generell, sondern es geht um die Überprüfung der einzelnen Allokationsentscheidungen, die zwangsläufig organabhängig sind. Schließlich gibt es für unterschiedliche Organe unterschiedliche Allokationsrichtlinien.6 Deshalb setzt sich die Prüfungskommission aus acht Mitgliedern, die wiederum für drei Jahre benannt werden, zusammen. Wichtig ist aber, dass darüber hinaus zwei in der Transplantationsmedizin tätige Ärzte aus der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer in die Prüfungskommission entsandt werden. Auch hier schreibt die Geschäftsordnung möglichst eine einvernehmliche Beschlussfassung vor, lässt aber anders als bei der Überwachungskommission auch eine Entscheidung auf der Basis der Mehrheit der Stimmen zu.
6
Vgl. www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.45.3263.3264.
Überwachung und Prüfung der Transplantationsmedizin
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III. Strukturprobleme Dieses Modell der transplantationsmedizinischen Binnenkontrolle wird in der Literatur teilweise kritisch gesehen. Abgesehen von schon frühen kritischen Anmerkungen im Gesetzgebungsverfahren7 wird gegenwärtig insbesondere der Vorwurf erhoben, dass beide Kommissionen von einer weit reichenden Untätigkeit geprägt seien, wobei sich das auf die Auftraggeber, aber auch auf die Überwachungskommission bezieht.8 Weiter wurde formuliert, dass hier “kontrolliert kontrolliert“ werde9. Diese aus der Außensicht formulierte Kritik ist gerade in ihren Schwächen dadurch geprägt, dass Außenstehende im Alltag recht wenig von der Tätigkeit der Überwachungs- und Prüfungskommission wahrnehmen können. Zum einen sind die Sitzungen der Kommission grundsätzlich vertraulich, und ihre vertraulichen Berichte erfolgen auf der Grundlage des Vertrages zwischen den Beteiligten eben nur gegenüber den Vertragspartnern und der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer, wo die Mitteilungen ebenfalls vertraulich behandelt werden. Von einer weit reichenden Untätigkeit zu sprechen, wie es Breyer und andere tun, zeugt freilich von mangelnder Information. Beide Kommissionen treten regelmäßig alle zwei Monate zusammen und diskutieren intensiv die problematischen Fälle, die im Bereich der Überwachungskommission aufgetreten sind. Seit ihrer Einsetzung können beide Kommissionen inzwischen auf fast fünfzig Sitzungen (in der Regel ganztags) zurückblicken. Ebenso kritisch wird in der Prüfungskommission die Tätigkeit von Eurotransplant überprüft. Die Unauffälligkeit und Lautlosigkeit der Tätigkeit beider Kommissionen liegt im Wesentlichen daran, dass in der ersten und zweiten Periode dieser Kommission nach Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes praktisch keine schwerwiegenden Vorfälle aufgetreten sind. Allerdings sollte man nicht unterschätzen, dass es gerade die Tätigkeit der Prüfungskommission gewesen ist, die dazu geführt hat, dass auf der Arbeitsebene bei Eurotransplant ganz erhebliche Personalveränderungen eingetreten sind. Schon vor diesem Hintergrund kann man wohl nicht von weit reichender Untätigkeit sprechen. Aktiv und konstruktiv tätig geworden sind die Kommissionen aber gerade vor dem Hintergrund der in jüngerer Zeit gehäuft auftretenden Auffälligkeiten in der Transplantationsmedizin. Der erste größere Fall, der die Überwachungskommission sehr umfassend und nachhaltig befasst hat, war der in der Öffentlichkeit bekannte Tollwut-Fall aus Rheinland-Pfalz. Hier hat die Kommission besonders gründlich und nachhaltig ermittelt, wobei sie ihre Arbeitsergebnisse nicht nur der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer und dem Vorstand der Bundesärztekammer zur Kenntnis gegeben hat. Vielmehr ist der dazugehörige Abschlussbericht ebenfalls den Verantwortlichen in der Landesregierung Rheinland-Pfalz 7 8
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Holznagel, Ausschussdrucksache 601/13, S. 2, 12. Gutmann, in: Schroth u. a. § 12 Rn. 55; Breyer u. a., Organmangel: Ist der Tod auf der Warteliste vermeidbar?, S. 103. Conrads, Organallokation S. 205; Rechtliche Grundsätze der Organallokation; Verteilung des Mangels oder Mängel der Verteilung?
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sowie der zuständigen Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt worden. Die Arbeit der Ständigen Kommission Organtransplantation ist auf diesen schwerwiegenden Zwischenfall eingegangen und hat eine umfassende Richtlinie nach § 16 Abs. 1 Nr. 4a verabschiedet, die bis dahin fehlte. In dieser Richtlinie sind gerade die Erfahrungen aus diesem folgenreichen und unglücklichen Zwischenfall eingearbeitet worden. Insofern hat auch die Arbeit der Überwachungskommission zu besonders wichtigen Veränderungen geführt. Dem Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer für die Jahre 2006 und 2007 ist darüber hinaus zu entnehmen, dass die Prüfungskommission bis zum Jahre 2007 insgesamt 93 auffällige und klärungsbedürftige Vorgänge im Bereich der Organallokation untersucht hat. In Einzelfällen wurden die Landesministerien und die Landesärztekammern unterrichtet.10 Diese Tätigkeit, insbesondere der Überwachungskommission, hat freilich gezeigt, dass die der Kommission gesetzlich zur Verfügung stehenden Kontrollbefugnisse und Eingriffsrechte nur sehr mangelhaft ausgestaltet sind. Insbesondere fehlt es an einer klaren gesetzlichen Aufgabe, auch im Einzelfall konkret das Verhalten der Transplantationszentren selbst zu überprüfen. Die Tätigkeit von Prüfungs- und Überwachungskommission ist ausgerichtet auf das Geschehen bei der DSO und Eurotransplant. Das Kernproblem für die Tätigkeit von Prüfungs- und Überwachungskommission liegt praktisch darin, dass sie zwar die Tätigkeit der genannten Institutionen kontrollieren sollen, dass ihnen aber keinerlei Kontrollmechanismen zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben zur Verfügung stehen. Gesetz und Vertrag schweigen hierzu. Dem steht die oben und auch in der Kritik formulierte hohe Erwartung der Öffentlichkeit gegenüber, dass gerade in dem sensiblen Bereich der Organtransplantation, wo es wie einmal formuliert wurde, im Wesentlichen um die Zuteilung von Lebenschancen geht, gerade besonders genau zu regeln ist, welche Eingriffsbefugnisse die Kommissionen benötigen, um ihrer Überwachungs- und Prüfungspflicht detailliert und konkret nachkommen zu können. Stellt man einmal die rechtliche Grundlage für die Kontrollmaßnahmen der beiden Kommissionen zurück,11 so bleibt trotzdem die Frage, ob es für die verantwortungsvolle Tätigkeit beider Kommissionen tatsächlich ausreichen kann, dass einerseits keinerlei rechtliche Befugnisse vom Gesetzgeber den Kommissionen zur Verfügung gestellt wurden und dass andererseits praktisch jede staatliche Einflussnahme auf die Kontrolltätigkeit dieser wichtigen Kommissionen ausgeschlossen bleibt.12 Überlässt man den Vertragspartnern selbst die Ausgestaltung der Kontrolle und die Regelung der dazu notwendigen Eingriffsrechte, so mag man das tolerieren, wenn es den Vertragsparteien gelungen ist, ein für alle Bedürfnisse hinreichendes Kontrollsystem mit der dazugehörigen notwendigen Zuverlässigkeit zu etablieren. Genau an diesem Punkt scheinen die Regeln und Befugnisse der Überwachungskommission unzureichend zu sein. Die DSO hat gegenüb